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German Pages 1131 [1132] Year 2018
Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 143 herausgegeben von Rolf Stürner
Matthias Wendland
Mediation und Zivilprozess Dogmatische Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Mohr Siebeck
Matthias Wendland, geboren 1975; Studium der Rechtswissenschaft in Berlin und Leuven (Belgien); Masterstudium an der Harvard Law School; 2006–07 Visiting Researcher an der Harvard Law School; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Internationales Recht der LudwigMaximilians-Universität München; 2015 Promotion.
ISBN 978-3-16-154129-2 / eISBN 978-3-16-154583-2 ISSN 0722-7574 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Meinen Eltern und Maria
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wagt sich an eine der zentralen und dennoch weitgehend ungeklärten Fragen des Zivilverfahrensrechts: Das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess und ihre Stellung im System der Konfliktbehandlung. Der Untersuchungsgegenstand wirft vor allem deshalb besondere Schwierigkeiten auf, weil er notwendig die Frage nach Natur, Funktion und Struktur beider Verfahren berührt. Sind diese Fragen für den Zivilprozess bislang hinreichend beantwortet, so beschreitet die Prozessualistik mit Blick auf das Mediationsverfahren dagegen noch weitgehend terra incognita. Dies gilt erst Recht für das Verhältnis beider Verfahren zueinander und ihre Einbettung in ein allgemeines System der Konfliktbehandlung. Phänomenologie, ontologische Grundstrukturen und selbst die Begriffe einer die klassische Prozessualistik übersteigenden Dogmatik sind ebenso ungeklärt wie die praktischen Konsequenzen einer allgemeinen Verfahrenslehre. Auf die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Durchdringung der Alternativen Streitbeilegung hatte daher zuletzt der Herausgeber dieser Reihe, Herr Professor Dr. Dres. h.c. Rolf Stürner, mit Nachdruck hingewiesen.1 Mit dieser Schrift soll nun ein erster Schritt in diese Richtung getan und der Ansatz einer Dogmatik der Alternativen Streitbeilegung als Teil einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre vorgelegt werden. Wenn dieses Vorhaben gelingt, so wäre der Nutzen erheblich: Es könnte die nach wie vor bestehende Sprachlosigkeit zwischen „Mediationscommunity“ und Prozessualistik überwinden, die Mediation vom Nimbus des Exotischen und Unjuristischen befreien und eine deutlich präzisere Verfahrenszuweisung in der Praxis ermöglichen. Wer sich eingehend mit der Mediation auseinandersetzt oder selbst als Mediator tätig ist läuft schnell Gefahr, pauschal der „Mediationscommunity“ und damit dem Lager der vermeintlichen „Prozessskeptiker“ zugerechnet zu werden. Auch wenn die Lektüre dieser Schrift eine solche Annahme schnell widerlegt, so sei das Ergebnis schon vorweggenommen: Die vorliegende Untersuchung ist ein leidenschaftliches Plädoyer für den Zivilprozess. Und sie ist zugleich ein leidenschaftliches Plädoyer für die Mediation. Sie ist die neugierige Reise eines überzeugten Prozessualisten in die ganz andere Welt der Alternativen Streitbeilegung. Und sie ist zugleich der Versuch eines rechtsphilosophischen Blicks auf ein Phänomen, in dem uns beständig Altbekanntes in neuem Gewand begegnet. Die Mediation besser zu verstehen, den Blick über den Zivilprozess hinaus auf das gesamte Spektrum der Konfliktbehandlungsverfahren zu weiten, die rechtsphilosophischen Grundlagen des Mediationsverfahrens freizulegen und damit verfahrensrechtliche Grundlagenforschung im besten Sinn zu betreiben ist zentrales Anliegen der Arbeit. 1
Stürner, ZZP 127 (2014), 271, 318 ff., 322 ff.
VIII
Vorwort
Diese Schrift wurde von der Juristischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München im Sommersemester 2015 als Dissertation angenommen. Eine Einreichung als Habilitationsschrift – beide Gutachter sahen die entsprechenden Anforderungen als erfüllt an – wurde zwar erwogen, jedoch schnell wieder verworfen. Denn bald wurde klar, dass das nun in Angriff genommene zweite Werk, das den verfahrensrechtlichen Ansatz dieser Arbeit auf der Ebene des materiellen Rechts weiterentwickelt und für die Fortbildung des SchmidtRimpler’schen Vertragsmodells fruchtbar macht, noch grundlegendere Fragen aufwirft, die das Gefüge der Gestaltungskräfte des Privatrechts selbst betreffen (Matthias Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit, Mohr Siebeck, Jus Privatum, Tübingen 2018). Zuvorderst gebührt mein Dank meiner verehrten Doktormutter Frau Professorin Dr. Beate Gsell, die diese Arbeit betreut und tatkräftig gefördert hat. Mein Dank gilt meinem verehrten akademischen Lehrer und Habilitationsvater Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Peter Kindler für die vielfältige persönliche und fachliche Förderung, für die großzügige Gewährung des für ein Werk dieses Umfangs notwendigen zeitlichen Freiraums am Lehrstuhl sowie für die Erstattung eines engagierten Zweitgutachtens. Schließlich gilt mein Dank Herrn Professor Dr. Horst Eidenmüller, der mich nach meinem zweijährigen Forschungsaufenthalt in den USA nach München geholt und überhaupt erst den Anstoß für diese Arbeit gegeben hat. Danken möchte ich aber auch all jenen, die mich während meiner Zeit an der Harvard Law School auf der Entdeckungsreise in die Welt der Mediation begleitet und gefördert haben. Dank gilt hier vor allem meinem Mentor Herrn Professor Frank E.A. Sander, der mir neue Perspektiven auf die Mediation eröffnet und den Anstoß für die gemeinsame Arbeit am Mediation Receptivitx Index gegeben hat. Danken möchte ich Herrn Professor Robert C. Bordone vom Program on Negotiation (PON) an der Harvard Law School für die guten Gespräche, die großzügige Unterstützung und die Offenheit mit Blick auf den Aufbau transatlantischer Projekte. Mein Dank gilt schließlich Bruce Patton vom PON für den inspirierenden Austausch. Herrn Professor Dr. Dres. h.c. Rolf Stürner danke ich herzlich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht. Schließlich gilt mein Dank all jenen, die unmittelbar und auf besondere Weise zur Entstehung der Schrift beigetragen haben. Ganz herzlich sei Frau Katharina Koch, Frau Mira Jahani, Frau Stefanie Nitsche sowie Frau Carolin Scheuer vom Passauer Team für die exzellente Unterstützung bei der Erstellung des Registers gedankt. Mein tiefer Dank gilt meinen Eltern, ohne deren Unterstützung diese Untersuchung nicht möglich gewesen wäre. Besonders danken möchte ich schließlich Maria, die diese Arbeit auf die ihr eigene Weise begleitet, unterstützt und inspiriert hat und der ich diese Schrift widme. Ohne sie wäre diese Arbeit nicht das, was sie ist. Passau, im November 2017
Matthias Wendland
Inhaltsübersicht Vorwort ............................................................................................. VII Inhaltsübersicht ................................................................................. IX Inhaltsverzeichnis .............................................................................. XV Abkürzungsverzeichnis ..................................................................... XXXIII
Einführung .....................................................................................
1
§ 1 Grundlagen und Begründung der alternativen Streitbeilegung ..............................................................................
11
I. Rechtstheorie: Die Grenzen gerichtlicher Streitentscheidung ....
14
1. Die Pound Conference und ihre Folgen ................................. 2. Die systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses .............. 3. Zusammenfassung .................................................................
14 18 43
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts .................................
45
1. Wandel des Rechts: Vom formal-rationalen zum materiellrationalen Recht .................................................................... 2. Wandel staatlichen Handelns: Der kooperative Staat ............. 3. Wandel der Konfliktkultur: Von der Konfrontation zur Kooperation .......................................................................... 4. Zusammenfassung ................................................................. III. Rechtsphilosophie .....................................................................
46 51 82 89 93
1. Die Dichotomie zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch der Privatrechtsordnung 93 2. Kritik des prozeduralen Gerechtigkeitsparadigmas ................ 108 3. Relativismus und Naturrecht.................................................. 109 4. Zusammenfassung ................................................................. 126
X
Inhaltsübersicht
§ 2 Mediation und Zivilprozess ...................................................... 131 I. Typologie der alternativen Streitbeilegung ................................ 131 II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse..................... 138 1. Fullers Verfahrenslehre als dogmatischer Ausgangspunkt ..... 2. Wesen.................................................................................... 3. Struktur ................................................................................. 4. Sachentscheidung .................................................................. 5. Verfahrensgegenstand ........................................................... 6. Verfahren .............................................................................. 7. Verfahrensergebnis ................................................................
145 159 166 167 172 175 181
III. Mediation und Zivilprozess: Einheit in der Komplementarität ... 184 IV. Zusammenfassung ..................................................................... 189
§ 3 Mediation und Recht ....................................................... 192 I. Antinomie von subjektivem Parteirecht und objektiver Rechtsordnung? ......................................................................... 192 II. Das Grundproblem: Privatautonomie und positives Recht in der Mediation ........................................................................ 195 III. Mediation als Verhandlungssystem: Die Konstituierung autonomer Ordnungen durch Mediation? ................................... 196 1. Der Begriff des Rechts .......................................................... 197 2. Mediation und Gerechtigkeit ................................................. 203 IV. Zusammenfassung ..................................................................... 210
§ 4 Mediation und Gerechtigkeit ................................................... 214 I. Mediation und Gerechtigkeit: Von Aristoteles zum HarvardModell ....................................................................................... 216 1. Interessenorientierung und der Grundsatz des suum cuique tribuere ................................................................................. 218 2. Objektive Kriterien und das Äquivalenzprinzip der iustitia commutativa .......................................................................... 220 3. Kooperationsgewinne und Thomas von Aquins utilitas .......... 220 II. Recht und Gerechtigkeit: Antinomie, Kongruenz oder Identität? 222 1. Mediation als Billigkeit ......................................................... 225
Inhaltsübersicht
XI
2. Zur rechtsphilosophischen Begründung des Mediationsverfahrens ............................................................................. 228 III. Grundbedingungen der Gerechtigkeit: Mediation als gerechtes Verfahren .................................................................................. 230 1. Gerechtigkeit als Tugend: Der Grundsatz der Intersubjektivität ..................................................................................... 230 2. Das Maß der Gerechtigkeit: Gleichheit .................................. 233 IV. Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren 234 1. Das Dreieck der Gerechtigkeit ............................................... 2. Verfahrensgerechtigkeit (iustitia legalis) ............................... 3. Austauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) ...................... 4. Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) ...................... 5. Billigkeit: Mediation als New Equity ..................................... 6. Die Goldene Regel (regula aurea) ......................................... 7. Zusammenfassende Betrachtung: Die Rolle der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren ......................................
235 238 263 276 292 299 340
V. Zusammenfassung ...................................................................... 349
§ 5 Mediation und materielles Recht ............................................ 353 I. Recht als prozedurale Rahmenregelung: Recht der Mediation ... 354 II. Recht als materieller Maßstab: Recht in der Mediation .............. 356 1. Das Verhältnis von objektivem Gesetzes- und subjektivem Individualvertragsrecht.......................................................... 2. Funktionen des materiellen Rechts in der Mediation.............. 3. Wirkbereiche des materiellen Rechts in der Mediation .......... 4. Gefahren der Thematisierung des Rechts ...............................
357 358 378 380
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren .................................................................. 388 1. Das Rollenverständnis des Mediators nach dem klassischen Riskin-Grid ........................................................................... 388 2. Die Rolle des Mediators in der vertragsautonomen Mediation ................................................................................. 417 3. Die Rolle des Mediators in der gerichtsverbundenen Mediation .............................................................................. 479
XII
Inhaltsübersicht
IV. Zusammenfassung ..................................................................... 532
§ 6 Mediation und Verfahrensrecht ....................................... 537 I. Rechtliche Grundlagen: Das Recht der Mediation ..................... 538 1. Vertragliche Verfahrensregelungen ....................................... 2. Gesetzliche Verfahrensregelungen......................................... 3. Verhaltenskodizes ................................................................. 4. Rechtsprechung .....................................................................
539 546 553 554
II. Verfahrensgrundsätze ................................................................ 558 1. Verfassungsrechtliche Verfahrensgrundsätze......................... 560 2. Grundsätze des Mediationsverfahrens ................................... 571 3. Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses in der Mediation? .. 599 III. Verfahrensintegration: Mediation und Zivilprozess ................... 611 1. Dogmatische Grundlagen ...................................................... 612 2. Gestaltung des Verfahrensübergangs ..................................... 617 3. Durchsetzung des Verfahrensergebnisses .............................. 641 IV. Zusammenfassung ..................................................................... 642
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre 646 I. Ziele einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre .................... 647 1. Analyse, Dogmatik und Verfahrensdesign ............................. 647 2. Abgrenzung zur „allgemeinen Prozessrechtslehre“ ................ 650 II. Anforderungen an eine allgemeine Konfliktbehandlungslehre ... 660 III. Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre.......... 662 1. Der interdisziplinäre Befund .................................................. 662 2. Fullers Verfahrenslehre als dogmatischer Ausgangspunkt ..... 667 IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre .......... 669 1. Das Prinzip des Verfahrenspluralismus ................................. 670 2. Die Prinzipien der strukturellen Verfahrensintegrität und der Rollentrennung...................................................................... 677 3. Das Prinzip funktionaler Differenzierung: Verfahrenswahl auf der Grundlage der Funktion............................................. 682
Inhaltsübersicht
XIII
4. Das Prinzip qualitativer Differenzierung: Verfahrenswahl auf der Grundlage der Verfahrenseignung ............................. 874 5. Das Prinzip hierarchischer Differenzierung: Das Primat der Mediation und die Subsidiarität des Zivilprozesses ............... 901 V. Zusammenfassung ..................................................................... 1009
§ 8 Gesamtergebnis und Thesen..................................................... 1015 I. Ausgangslage ............................................................................ 1015 1. ADR-Bewegung und Rechtswissenschaft .............................. 1015 2. Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes ................... 1016 II. Mediation und Zivilprozess: Wesentliche Ergebnisse ................ 1017
§ 9 Ausblick ........................................................................... 1027 Literaturverzeichnis ................................................................................. 1029 Sachregister ............................................................................................. 1068 Personenregister ...................................................................................... 1092
Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................................. VII Inhaltsübersicht ................................................................................. IX Inhaltsverzeichnis .............................................................................. XV Abkürzungsverzeichnis ..................................................................... XXXIII
Einführung ...........................................................................................
1
§ 1 Grundlagen und Begründung der alternativen Streitbeilegung ..............................................................................
11
I. Rechtstheorie: Die Grenzen gerichtlicher Streitentscheidung ....
14
1. Die Pound Conference und ihre Folgen ................................. 2. Die systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses .............. a) Komplexitätsreduktion durch Verrechtlichung .................. b) Transformation in einen Metakonflikt ............................... c) Retrospektivität ................................................................. d) Binärer Schematismus....................................................... e) Eskalation ......................................................................... f) Kontradiktorischer Rollenzwang ....................................... g) Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit .. 3. Zusammenfassung .................................................................
14 18 18 18 28 29 32 34 39 43
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts .................................
45
1. Wandel des Rechts: Vom formal-rationalen zum materiellrationalen Recht .................................................................... a) Entformalisierung und Materialisierung ............................ b) ADR und die Krise des formal-rationalen Rechts .............. 2. Wandel staatlichen Handelns: Der kooperative Staat ............. a) Verrechtlichung................................................................. aa) Vergesetzlichung: Normenflut und „cultural lag“ ....... bb) Juridifizierung: Prozessflut und „vanishing trial“ ....... cc) Folgen: Konfliktenteignung und Kolonialisierung der Lebenswelt ............................................................
46 48 49 51 52 53 54 65
XVI
Inhaltsverzeichnis
b) Materialisierung ................................................................ c) Die These von der Krise des Rechts .................................. d) Entformalisierung ............................................................. aa) Mediatisierung und Prozeduralisierung ....................... bb) Rücknahme des Befehlscharakters des Rechts ............ e) Reflexives Recht ............................................................... 3. Wandel der Konfliktkultur: Von der Konfrontation zur Kooperation .......................................................................... a) Die ADR-Bewegung ......................................................... b) Entwicklung der zivilgerichtlichen Vergleichsquote ......... 4. Zusammenfassung .................................................................
82 82 86 89
III. Rechtsphilosophie .....................................................................
93
1. Die Dichotomie zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch der Privatrechtsordnung a) Materielle Gerechtigkeit im Privatrecht............................. b) Das Spannungsverhältnis zwischen formalem Geltungsund materiellem Gerechtigkeitsanspruch und seine Auflösung ......................................................................... c) Die Unterscheidung zwischen formellem Wirksamkeitsund materiellem Gerechtigkeitsanspruch .......................... d) Die Auflösung der Dichotomie formaler und materieller Wertungen im Privatrecht ................................................. e) Die Grenzen der Gerechtigkeitsvermutung des Rechts ...... f) Die sittliche Bindung des Einzelnen als Begrenzung der Privatautonomie ................................................................ 2. Kritik des prozeduralen Gerechtigkeitsparadigmas ................ 3. Relativismus und Naturrecht ................................................. a) Motive und Wirkungen des Werterelativismus .................. b) Mediation und Relativismus.............................................. c) Naturrecht als Grundparadigma der objektiven Rechtsordnung .................................................................. d) Formale und materielle Gerechtigkeit als Ausprägungen des naturrechtlichen Rechtsparadigmas ............................. e) Mediation und Naturrecht ................................................. 4. Zusammenfassung .................................................................
66 70 74 75 76 77
93 94 96 98 100 102 105 108 109 111 113 114 118 122 126
§ 2 Mediation und Zivilprozess ...................................................... 131 I. Typologie der alternativen Streitbeilegung ................................ 131 II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse..................... 138
Inhaltsverzeichnis
1. Fullers Verfahrenslehre als dogmatischer Ausgangspunkt ..... a) Prozedurales Naturrecht .................................................... b) Verfahrenspluralismus ...................................................... c) Struktur und Wesen ........................................................... d) Das Prinzip der strukturellen Integrität.............................. e) Kapazität zur gesellschaftlichen Ordnung ......................... f) Die Bedeutung Lon L. Fullers für die Dogmatik des Verfahrensrechts ............................................................... 2. Wesen .................................................................................... a) Das Wesen der Mediation ................................................. b) Das Wesen des Zivilprozesses .......................................... 3. Struktur ................................................................................. 4. Sachentscheidung .................................................................. a) Die Rolle des Richters im Zivilprozess ............................. b) Die Rolle des Mediators im Mediationsverfahren ............. 5. Verfahrensgegenstand ........................................................... a) Streitgegenstand des Zivilprozesses .................................. b) Streitbehandlungsgegenstand der Mediation ..................... 6. Verfahren .............................................................................. a) Verfahrensstruktur der Mediation ...................................... b) Verfahrensstruktur des Zivilprozesses ............................... 7. Verfahrensergebnis ................................................................ a) Struktur und Wirkung des zivilprozessualen Urteils .......... b) Struktur und Wirkungen des Mediationsvergleichs ...........
XVII 145 146 148 149 150 152 155 159 161 165 166 167 167 168 172 172 174 175 175 180 181 181 183
III. Mediation und Zivilprozess: Einheit in der Komplementarität ... 184 IV. Zusammenfassung ..................................................................... 189
§ 3 Mediation und Recht .................................................................. 192 I. Antinomie von subjektivem Parteirecht und objektiver Rechtsordnung? ......................................................................... 192 II. Das Grundproblem: Privatautonomie und positives Recht in der Mediation .................................................................................. 195 III. Mediation als Verhandlungssystem: Die Konstituierung autonomer Ordnungen durch Mediation? ................................... 196 1. Der Begriff des Rechts .......................................................... 197 a) Materialisierung und Deregulierung .................................. 197 b) Historische Entwicklung ................................................... 199 c) Antinomie zwischen Normen- und Verhandlungssystemen? 200
XVIII
Inhaltsverzeichnis
d) Private ordering als Modell .............................................. 2. Mediation und Gerechtigkeit ................................................. a) Theorien und Ziele der Mediation ..................................... b) Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses ................
201 203 204 207
IV. Zusammenfassung ..................................................................... 210
§ 4 Mediation und Gerechtigkeit ................................................... 214 I. Mediation und Gerechtigkeit: Von Aristoteles zum Harvard-Modell ......................................................................... 216 1. Interessenorientierung und der Grundsatz des suum cuique tribuere ................................................................................. 218 2. Objektive Kriterien und das Äquivalenzprinzip der iustitia commutativa .......................................................................... 220 3. Kooperationsgewinne und Thomas von Aquins utilitas .......... 220 II. Recht und Gerechtigkeit: Antinomie, Kongruenz oder Identität? 222 1. Mediation als Billigkeit ......................................................... 225 2. Zur rechtsphilosophischen Begründung des Mediationsverfahrens ............................................................................. 228 III. Grundbedingungen der Gerechtigkeit: Mediation als gerechtes Verfahren .................................................................................. 230 1. Gerechtigkeit als Tugend: Der Grundsatz der Intersubjektivität..................................................................................... 230 2. Das Maß der Gerechtigkeit: Gleichheit .................................. 233 IV. Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren 234 1. Das Dreieck der Gerechtigkeit ............................................... 2. Verfahrensgerechtigkeit (iustitia legalis) ............................... a) Rechtliche Dimension: iustitia legalis ............................... b) Rechtsphilosophische Dimension: Prozedurale Gerechtigkeitstheorien ...................................................... aa) Vertrags- und Diskurstheorien .................................... bb) Mediation als Verfahren prozeduraler Gerechtigkeit? . c) Rechtssoziologische Dimension: Ergebnisakzeptanz durch Verfahrensfairness ............................................................ aa) Der Procedural Justice effect ...................................... bb) Verfahrens- und Ergebnisgerechtigkeit ....................... cc) Kontext und Kritik der Procedural JusticeForschung ...................................................................
235 238 240 245 245 246 247 247 248 250
Inhaltsverzeichnis
dd) Die Procedural Justice Forschung und Luhmanns Theorie der Legitimation durch Verfahren .................. ee) Empirische Untersuchungen der Verfahrensgerechtigkeit im Mediationsverfahren ......................... ff) Prozessuale und rechtssoziologische Schlussfolgerungen ................................................................. 3. Austauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) ...................... a) Die ausgleichende Gerechtigkeit nach Aristoteles ............. b) Ausgleich austauschbedingter Wertverschiebungen .......... c) Kriterien zur wertmäßigen Bestimmung der objektiven Äquivalenz........................................................................ d) Der Marktpreis als Maßstab des Leistungswertes .............. 4. Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) ...................... a) Die Rolle der iustitia distributiva in der Normenhierarchie ................................................................................... 277 b) Die Rolle der iustitia distributiva im Mediationsverfahren und im Zivilprozess .......................................................... c) Die Verteilungsgerechtigkeit nach Aristoteles ................... d) Materielle Kriterien der Gerechtigkeit............................... aa) Die Quelle materieller Kriterien im Mediationsverfahren ..................................................................... bb) Der Standort materieller Kriterien im Mediationsverfahren ..................................................................... cc) Die Priorität materieller Kriterien im Mediationsverfahren ..................................................................... (1) Der konflikttheoretische Ansatz ............................ (2) Der rechtsphilosophische Ansatz .......................... e) Das Verhältnis von iustitia commutativa und iustitia distributiva.................................................................. 5. Billigkeit: Mediation als New Equity ..................................... a) Billigkeit im Zivilprozess und in der Mediation ................ b) Das Verhältnis der Billigkeit zu Recht und Gerechtigkeit . c) Billigkeit als Maßstab der Gerechtigkeit ........................... d) Das Primat gegenseitiger Interessen als Billigkeitskriterium ........................................................................... e) Die Konkretisierbarkeit des Billigkeitsbegriffs.................. 6. Die Goldene Regel (regula aurea) ......................................... a) Bedeutung für Mediation und Recht .................................. b) Ursprünge und Rezeptionsgeschichte ................................ c) Inhalt, Struktur und Interpretation ..................................... aa) Wirkung: Gegenseitige Daseinserhaltung, Intersubjektivität, Überwindung reziproken Denkens ..
XIX
252 256 259 263 266 268 271 273 276
281 281 283 283 286 287 288 289 291 292 293 294 294 295 297 299 300 303 306 308
XX
Inhaltsverzeichnis
bb) Wesen und Inhalt: Gleichheit der Personen und eigene Interessen als Maßstab ..................................... cc) Methode: Das Gedankenexperiment des multilateralen Rollentauschs .............................................................. d) Kohlbergs Stufenmodell moralischer Urteilsfähigkeit ....... e) Die Goldene Regel und das Harvard-Modell ..................... f) Die Goldene Regel als Rechtsprinzip ................................. g) Rezeption, Kritik und Renaissance der Goldenen Regel .... h) Die Kritik Kants und ihre Bewertung ................................ aa) Schuldige Pflichten gegen andere: Das RichterDilemma ..................................................................... bb) Exkurs: Von den Positionen zu den Interessen ............ cc) Liebespflichten gegen andere: Das MisanthropenDilemma ..................................................................... dd) Pflichten gegen sich selbst: Das TrunkenheitsfahrtDilemma ..................................................................... i) Die Goldene Regel und der kategorische Imperativ ........... 7. Zusammenfassende Betrachtung: Die Rolle der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren .............................................
311 315 317 320 322 324 327 327 330 332 334 336 340
V. Zusammenfassung ..................................................................... 349
§ 5 Mediation und materielles Recht ............................................ 353 I. Recht als prozedurale Rahmenregelung: Recht der Mediation ... 354 II. Recht als materieller Maßstab: Recht in der Mediation .............. 356 1. Das Verhältnis von objektivem Gesetzes- und subjektivem Individualvertragsrecht...................................... 2. Funktionen des materiellen Rechts in der Mediation ............. a) Inhaltskontrolle: Gesetzesrecht als verbindliche Entscheidungsgrundlage ................................................... aa) Das Verhandlungsdilemma ......................................... bb) Das Wertschöpfungsdilemma ..................................... cc) Praktische und dogmatische Konsequenzen ................ dd) Materielles Recht als objektives Kriterium nach dem Harvard-Konzept ........................................................ b) Orientierungsmaßstab: Gesetzesrecht als unverbindlicher normativer Maßstab .......................................................... c) Information: Objektivierung irrealer Rechtsvorstellungen (reality check) ................................................................... d) Akzeptanz: Legitimation durch objektive Kriterien ...........
357 358 361 362 363 364 366 369 371 373
Inhaltsverzeichnis
e) Fairness: Ausgleich von Machtasymmetrien und Sicherung gerechter Ergebnisse ......................................................... f) Formeller Rahmen: Leitplankenfunktion und Typenzwang ..................................................................... g) Rechtsschutz: Recht als Rückgriffsordnung ...................... 3. Wirkbereiche des materiellen Rechts in der Mediation .......... 4. Gefahren der Thematisierung des Rechts ............................... a) Auswirkungen rechtlicher Kommunikation im Mediationsverfahren ......................................................... b) Verhandlungsverhalten und Thematisierungsmodus als Risikofaktoren .................................................................. c) Das understanding-based model of mediation als Lösungsansatz...................................................................
XXI
374 375 376 378 380 381 383 384
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren .................................................................. 388 1. Das Rollenverständnis des Mediators nach dem klassischen Riskin-Grid ........................................................................... a) Auswahlkriterien zur Rollendefinition .............................. b) Das Riskin-Grid als idealtypisches Rollenmodell .............. aa) Umfang des Konfliktgegenstandes .............................. bb) Interventionsdichte des Mediators .............................. c) Die verschiedenen Rollen des Mediators ........................... aa) Sachmoderation........................................................... bb) Umfassende Moderation ............................................. cc) Sachbeurteilung........................................................... dd) Umfassende Beurteilung ............................................. d) Bewertung der Rollen nach dem Riskin-Grid .................... aa) Umfang des Konfliktgegenstandes .............................. bb) Interventionsdichte des Mediators .............................. cc) Das kombinierte Rollenmodell .................................... e) Kritik des Riskin-Modells: Die Grenzen des Mediationsbegriffs ............................................................................. aa) Enger Konfliktgegenstand: Verhandlung über Rechte als Mediation?............................................................. bb) Intensität der Interventionsdichte: Zulässigkeit des evaluierenden Mediationsstils? ................................... cc) Bewertung durch die Parteien...................................... 2. Die Rolle des Mediators in der vertragsautonomen Mediation a) Die Funktion des Mediators als Hüter der Verfahrensintegrität ...........................................................................
388 390 392 393 395 396 396 397 398 398 399 399 400 402 406 406 408 414 417 419
XXII
Inhaltsverzeichnis
b) Das Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie und objektiver Gerechtigkeit ................................................... aa) Systemimmanente Risiken des Mediationsverfahrens . bb) Privatautonomie, Neutralitätspflicht und Verfahrensgerechtigkeit .............................................. cc) Eigenverantwortliche Selbstschädigung durch Vertrag? dd) Grenzen privatautonomen Handelns: Drei Fallstudien (1) Woodruff Corp. v. Lacrete .................................... (2) Wright v. Brockett ................................................ (3) Boston Housing Court (BHC) ............................... ee) Schlussfolgerungen ..................................................... (1) Die Fiktion der Privatautonomie in Ungleichgewichtslagen ......................................... (2) Das Phänomen mangelnder self-agency ................ c) Die Konkretisierung der Rolle des Mediators .................... aa) Verfassungsrechtliche Anforderungen......................... bb) Verfahrensimmanente Anforderungen an den Mediator cc) Berufsrechtliche Anforderungen an den Mediator ....... (1) Richtlinien und Verfahrensordnungen der berufsständischen Verbände ................................. (2) Europäische Rahmenreglungen ............................. (3) Nationales Gesetzesrecht ...................................... d) Die Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht des Mediators .......................................................................... aa) Interventionspflicht gegenüber rechtlich vertretenen Parteien ....................................................................... bb) Interventionspflicht gegenüber rechtlich nicht vertretenen Parteien .................................................... (1) Strukturelles Machtungleichgewicht ..................... (2) Informationsasymmetrie ....................................... (3) Unterschiedliches Verhandlungsgeschick ............. (4) Günstigeres Ergebnis eines Gerichtsverfahrens oder einer direkten Verhandlung .......................... (5) Grob unbilliges oder rechtswidriges Ergebnis ....... cc) Besondere Regeln für die Mediation in Ungleichgewichtslagen: Die Notwendigkeit eines Zwei-PhasenModells ....................................................................... 3. Die Rolle des Mediators in der gerichtsverbundenen Mediation .............................................................................. a) Gerichtsverbundene Mediationsprogramme in Deutschland aa) Praxis vor der Reform des § 278 Abs. 5 ZPO durch das MedFördG 2012 ...................................................
421 422 424 427 429 430 432 433 434 435 436 436 437 440 441 441 443 446 449 451 454 454 463 469 471 472 476 479 481 482
Inhaltsverzeichnis
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bb) Praxis nach der Reform des § 278 Abs. 5 ZPO durch das MedFördG 2012.................................................... b) Richterliche Mediation als Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG ........................................................................ aa) Interdisziplinärer Befund als Rahmen ......................... bb) Mediation als Annex zur richtenden Tätigkeit? ........... cc) Der Rechtsprechungsbegriff des Art. 92 GG ............... (1) Der formelle Rechtsprechungsbegriff.................... (2) Der materielle Rechtsprechungsbegriff ................. (3) Der funktionelle Rechtsprechungsbegriff .............. c) Verfassungsrechtliche Anforderungen an den Güterichter . aa) Richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) ....... bb) Anspruch auf ein faires Verfahren (Rechtsstaatsprinzip iVm. Art. 2 Abs. 1 GG) .............. cc) Gleichbehandlungsgrundsatz und Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 2 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip) ....... dd) Anspruch auf Wahrung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) .................................................. ee) Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) .................................................... ff) Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) ........................................... gg) Bindung des Güterichters an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) ................................... (1) Die Bedeutung richterlicher Gesetzesbindung ....... (a) Materielle Inhaltsbindung: Anwendungsgebot und Abweichungsverbot .................................. (b) Prozedurale Berücksichtigungsgebote: Kenntnisnahme- und Darlegungspflicht .......... d) Die Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht des Mediators .......................................................................... aa) Die Ausgangslage ....................................................... (1) Die Struktur der gerichtsverbundenen Mediation .. (2) Unvollständiger Rollenwechsel des Güterichters .. (3) Der dogmatische und empirische Befund .............. (4) Das Spannungsverhältnis zwischen privatautonomer Einigung und richterlicher Gesetzesbindung .. bb) Umfang der Gesetzesbindung des Güterichters ........... cc) Konkretisierung der Gesetzesbindung durch ein Überund Untermaßverbot ................................................... (1) Untermaßverbot: Informations- und Mitwirkungspflichten ........................................... (a) Rechtswidriges oder grob unbilliges Ergebnis .
484 484 487 487 489 491 492 494 498 499 500 501 502 504 504 505 505 505 506 507 507 507 508 510 512 512 514 514 515
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(b) Umfassende Informationspflicht ...................... 515 (c) Günstigerer Ausgang eines nachfolgenden Gerichtsverfahrens .......................................... 516 (d) Strukturelle Machtungleichgewichte und Informationsasymmetrien ................................ 517 (2) Übermaßverbot: Unzulässiger Einigungsdruck des Güterichters .......................................................... 518 (a) Rechtsgeschichtlicher Befund: Einigungsdruck als Teil richterlichen Handelns ........................ 519 (b) Rechtspraktischer Befund: Risiken in der aktuellen Rechtspraxis .................................... 522 (c) Abgrenzungskriterien: Der Güterichter zwischen Vergleichsförderung und Vergleichszwang ..... 524 (d) Pauschalkompromisse: Zurückhaltung bei Abweichungen von der Rechtslage.................. 525 (3) Verhaltensanforderungen an den Güterichter ........ 529 IV. Zusammenfassung ..................................................................... 532
§ 6 Mediation und Verfahrensrecht ............................................... 537 I. Rechtliche Grundlagen: Das Recht der Mediation ..................... 538 1. Vertragliche Verfahrensregelungen ....................................... a) Mediationsvereinbarung und Mediatorvertrag ................... b) Verfahrensordnungen ........................................................ c) Sonderfall: Collaborative Law-Vereinbarung .................... 2. Gesetzliche Verfahrensregelungen......................................... a) Internationale Regelungen ................................................. b) Europäische Rahmenregelungen ....................................... c) Einzelstaatliche Regelungen .............................................. 3. Verhaltenskodizes ................................................................. 4. Rechtsprechung .....................................................................
539 539 542 543 546 547 548 550 553 554
II. Verfahrensgrundsätze ................................................................ 558 1. Verfassungsrechtliche Verfahrensgrundsätze......................... a) Gerichtsverbundene Mediation.......................................... aa) Anspruch auf ein faires Verfahren (Rechtsstaatsprinzip iVm. Art. 2 Abs. 1 GG) .............. bb) Gleichbehandlungsgrundsatz und Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 2 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip)....... cc) Anspruch auf Wahrung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ..................................................
560 561 561 562 562
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dd) Richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) und Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) . b) Vertragsautonome Mediation ............................................ aa) Mittelbare Drittwirkung von Grundrechten ................. bb) Verfahrensfairness ...................................................... cc) Gleichbehandlungsgrundsatz und Waffengleichheit570 dd) Rechtliches Gehör....................................................... 2. Grundsätze des Mediationsverfahrens.................................... a) Privatautonomie ................................................................ aa) Begriffsbestimmung .................................................... bb) Voraussetzungen: Information und self-agency........... cc) Privatautonomie und Freiwilligkeit: Zulässigkeit der obligatorischen Mediation ........................................... b) Kooperation ...................................................................... aa) Ursprung und Struktur des Kooperationsgebotes ......... bb) Wirkungen des Kooperationsgebotes .......................... cc) Implementierung kooperativen Verhandlungsverhaltens in das Mediationsverfahren ........................ c) Interessenorientierung ....................................................... aa) Begriff der Interessen .................................................. bb) Der multilaterale Perspektivwechsel nach der regula aurea .......................................................................... cc) Interessen und Rechte ................................................. d) Beziehungsorientierung .................................................... aa) Die Bedeutung der Parteibeziehung für den Konflikt .. bb) Störungen der Parteibeziehung als Konfliktursache .... cc) Vom homo oeconomicus zur behavioral economicsForschung ................................................................... dd) Transformation der Beziehung als Strategie der Konfliktbeilegung ....................................................... e) Vertraulichkeit .................................................................. f) Informalität ........................................................................ g) Neutralität ......................................................................... 3. Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses in der Mediation? .. a) Dispositionsgrundsatz ....................................................... b) Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz ....................... c) Richterliche Prozessleitung ............................................... d) Beschleunigungs- bzw. Konzentrationsmaxime ................ e) Mündlichkeitsgrundsatz .................................................... f) Unmittelbarkeitsgrundsatz ................................................. g) Öffentlichkeitsgrundsatz ...................................................
563 563 563 569 570 571 572 572 574 575 575 576 578 582 583 584 584 585 586 586 588 589 591 593 594 596 599 600 603 606 607 609 610 610
III. Verfahrensintegration: Mediation und Zivilprozess ................... 611
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1. Dogmatische Grundlagen ...................................................... a) Fullers Verfahrens- und Institutionenlehre ........................ b) Die Prinzipien der Verfahrensintegrität und der Rollentrennung ................................................................. c) Das Primat der Mediation als Grundlage der Verfahrenswahl .................................................................................. 2. Gestaltung des Verfahrensübergangs ..................................... a) Strukturtypen .................................................................... aa) Gerichtsexterne Mediation: Mediation vor Klageerhebung ..................................................................... (1) Vorsorgende Mediationsvereinbarung ex ante ...... (2) Nachsorgende Mediationsvereinbarung ex post..... bb) Gerichtsverbundene Mediation: Mediation im Rahmen des Zivilprozesses ......................................... (1) Gerichtsnahe Mediation: Mediation durch externe Mediatoren ........................................................... (2) Gerichtsinterne Mediation: Mediation durch Güterichter ........................................................... cc) Das Multi-Door Courthouse ........................................ b) Verfahrensförderung ......................................................... aa) Prüfungspflicht der Parteien und der Anwälte ............. bb) Mediations-Koordinatoren .......................................... cc) Kostenanreize ............................................................. c) Verfahrenseinleitung ......................................................... aa) Verfahrenseinleitung vor Klageerhebung: Mediation als obligatorisches Vorschaltverfahren ........................ bb) Verfahrenseinleitung nach Klageerhebung: Verfahrenssteuerung durch das Gericht ....................... (1) Bindende gesetzliche Verweisung ......................... (2) Freiwillige Durchführung des Mediationsverfahrens ............................................................. (3) Bindende Verweisung durch das Gericht .............. 3. Durchsetzung des Verfahrensergebnisses ..............................
612 612 613 615 617 617 617 617 618 620 623 625 627 629 629 632 632 633 634 635 635 636 638 641
IV. Zusammenfassung ..................................................................... 642
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre 646 I. Ziele einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre .................... 647 1. Analyse, Dogmatik und Verfahrensdesign ............................. 647 2. Abgrenzung zur „allgemeinen Prozessrechtslehre“ ................ 650 a) Ziele .................................................................................. 651
Inhaltsverzeichnis
XXVII
b) Methoden .......................................................................... c) Hintergrund ....................................................................... d) Bewertung......................................................................... e) Abgrenzung .......................................................................
652 653 655 656
II. Anforderungen an eine allgemeine Konfliktbehandlungslehre ... 660 III. Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre .......... 662 1. Der interdisziplinäre Befund .................................................. 662 2. Fullers Verfahrenslehre als dogmatischer Ausgangspunkt ..... 667 IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre .......... 669 1. Das Prinzip des Verfahrenspluralismus ................................. a) Das Kontinuum der Streitbehandlungsformen: Eine Verfahrenstypologie.......................................................... b) Verfahrenspluralismus als rechtshistorischer und empirischer Befund ........................................................... c) Von der Verfahrenstrias zum Dualismus von Mediation und Zivilprozess ............................................................... 2. Die Prinzipien der strukturellen Verfahrensintegrität und der Rollentrennung ...................................................................... a) Strukturelle Verfahrensintegrität ................................... b) Rollentrennung ............................................................. 3. Das Prinzip funktionaler Differenzierung: Verfahrenswahl auf der Grundlage der Funktion ............................................. a) Die Owen M. Fiss-Debatte als Ausgangspunkt .................. aa) Against Settlement: Die klassische Kritik der Mediation .................................................................... bb) For Settlement: Die Kritik des Zivilprozesses ............. b) Das Mediationsverfahren: Funktion, Struktur und Wirkungen ........................................................................ aa) Funktion ...................................................................... (1) Konfliktbeilegung: Service Delivery Project ......... (a) Effektive Konfliktbeilegung ............................ (b) Objektive Gerechtigkeit und Interessenverwirklichung ................................................ (c) Entlastung der Justiz ........................................ (2) Gewährung des Zugangs zum Recht: Access to Justice Project ...................................................... (a) Verringerung der Zugangsbarrieren zum Recht (b) Stärkung strukturell schwächerer Parteien ....... (c) Schutz subjektiver Rechte ................................
670 672 674 675 677 678 679 682 683 688 689 691 692 694 694 695 696 697 697 699 701
XXVIII
Inhaltsverzeichnis
(3) Ermöglichung privatautonomen Handelns: Individual Autonomy Project ................................ (a) Persönliches Wachstum der Parteien (empowerment) ............................................... (b) Ausgleich von Machtungleichgewichten ......... (c) Effektive Konfliktbeilegung ............................ (4) Versöhnung und Befriedung: Reconciliation Project.................................................................. (a) Wahrnehmung und Verfahrenswirkung ........... (b) Kooperation durch implizite Rollenübernahme (c) Der Begriff der Versöhnung ............................ (d) Das Maß der Versöhnung ................................ (e) Risiko des Einigungsdrucks ............................. (5) Social Transformation Project .............................. (a) Gesellschaftliche Reform ................................. (b) Stärkung des Community-Gedankens .............. (c) Veränderung der Konfliktkultur ....................... bb) Struktur ...................................................................... (1) Privatautonomie .................................................... (2) Kooperation .......................................................... (3) Orientierung an Parteiinteressen ........................... (4) Beziehungsorientierung ........................................ (5) Vertraulichkeit ...................................................... (6) Informalität des Verfahrens .................................. (7) Vermittlung durch neutralen Dritten ..................... cc) Wirkungen .................................................................. (1) Parteien ................................................................. (2) Konflikt ................................................................ (3) Gesellschaft .......................................................... dd) Risiken ....................................................................... (1) Parteien ................................................................. (a) Machtungleichgewichte und Informationsasymmetrien .................................................... (b) Einigungsdruck ............................................... (c) Verletzung der Vertraulichkeit? ....................... (d) Erschwerung des Zugangs zur Justiz? .............. (e) Verfahrensverzögerung durch fehlende Einigung? ........................................................ (2) Konflikt ................................................................ (3) Gesellschaft .......................................................... (a) Wertewandel durch Privatisierung der Justiz ... (b) Schwächung der sozialen Funktion der Rechtsprechung ...............................................
702 702 704 705 705 706 707 709 711 713 717 717 719 723 725 725 729 730 732 734 736 738 738 739 742 742 747 747 747 748 750 751 752 752 754 754 755
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XXIX
(c) Relativierung rechtlicher Normen .................... 757 c) Der Zivilprozess: Funktion, Struktur, Wirkungen und Risiken.............................................................................. 760 aa) Funktion ...................................................................... 761 (1) Die klassische Prozesszwecklehre als Grundlage .. 762 (a) Prozesszwecklehre und allgemeine Verfahrenslehre ............................................... 763 (b) Individualrechtsschutz und Rechtsbewährung . 764 (c) Die Prozesszwecklehre im Licht der ADR-Kritik Fissʼ ................................................................ 765 (2) Konflikt ................................................................ 768 (a) Effektiver Schutz subjektiver Rechte ............... 768 (aa) Individualrechtsschutz als primäre Aufgabe des Zivilprozesses ...................... 768 (bb) Verfassungsrechtlicher Schutz des Justizgewährungsanspruchs ...................... 769 (cc) Zivilprozess als ultima ratio und das Primat der außergerichtlichen Streitbeilegung ........................................................... 769 (dd) Effektivität als Kriterium der Verfahrenswahl ........................................ 770 (ee) Von der Justiz- zur Mediationsgewährungspflicht? .................................. 772 (b) Konfliktlösung ................................................. 774 (aa) Konfliktbeilegungsfunktion als Schnittstelle zwischen Mediation und Zivilprozess 775 (bb) Risiken richterlicher Konfliktmittlung ...... 776 (cc) Privatautonomie als Legitimation ............. 777 (dd) Grenzen richterlicher Vermittlungstätigkeit 778 (ee) Konfliktmittlung als Gebot der Gerechtigkeit............................................ 780 (c) Rechtsgewissheit ............................................. 781 (d) Wahrheit .......................................................... 782 (e) Gerechtigkeit ................................................... 786 (3) Rechtsordnung ...................................................... 787 (a) Bewährung der objektiven Rechtsordnung ....... 788 (aa) Rechtsbewährung durch Mediation? ......... 788 (bb) Mediation und die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilprozesses ...................... 790 (cc) Rechtsbewährung vor dem Hintergrund der Fiss’schen ADR-Kritik....................... 791 (dd) Grenzen der der Fiss’schen ADR-Kritik ... 793
XXX
Inhaltsverzeichnis
(ee) Mediation und Zivilprozess im Rechtssystem ........................................... (b) Konkretisierung des Rechts ............................. (c) Sicherung der Rechtsfortbildung ...................... (d) Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtseinheit................................................... (4) Gesellschaft .......................................................... (a) Herstellung und Wahrung des Rechtsfriedens .. (aa) Beendigung des Rechtsstreits ................... (bb) Partizipatives und faires Verfahren .......... (cc) Materiell rechtmäßige Entscheidung ......... (b) Verhaltenssteuerung ........................................ (aa) Verhaltenssteuernde Mechanismen im Zivilprozess ............................................. (bb) Möglichkeiten und Grenzen der Verhaltenssteuerung durch Mediation ...... (cc) Verlust der Steuerungsfunktion des Rechts durch Mediation? ..................................... (c) Soziale Funktion des Zivilprozesses? ............... (aa) Die „soziale“ Reformgesetzgebung der ZPO-Novellen .......................................... (bb) Herstellung tatsächlicher Waffengleichheit (cc) Die Berücksichtigung außerrechtlicher Gesichtspunkte ......................................... (dd) Die sozialpolitisch motivierte richterliche Entscheidung............................................ (ee) Die Förderung der konsensualen Konfliktbeilegung .................................... bb) Struktur ...................................................................... (1) Heteronomie ......................................................... (2) Konfrontation ....................................................... (3) Orientierung an Rechtsansprüchen ........................ (4) Ergebnisorientierung ............................................. (5) Öffentlichkeit........................................................ (6) Formalität des Verfahrens ..................................... (7) Entscheidung durch neutralen Dritten ................... cc) Wirkungen .................................................................. (1) Konflikt ................................................................ (a) Eigennütziges Handeln und die Wehrhaftigkeit des Rechts ....................................................... (b) Interessenausgleich als Gebot materieller Gerechtigkeit...................................................
798 800 804 806 807 807 807 809 811 818 818 819 824 825 825 827 828 829 831 832 833 839 842 845 847 849 850 851 852 853 854
Inhaltsverzeichnis
XXXI
(c) Zivilprozessualer Rechtsschutz als Grundbedingung der Mediation ....................... (2) Rechtsordnung ...................................................... (3) Gesellschaft .......................................................... dd) Risiken ....................................................................... (1) Konflikt ................................................................ (a) Ineffektive Beilegung des Konfliktes ............... (b) Eskalation des Konfliktes ................................ (c) Zerstörung der Parteibeziehung ....................... (d) Höherer Zeit- und Kosteneinsatz ..................... (2) Rechtsordnung ...................................................... (3) Gesellschaft .......................................................... d) Mediation und Zivilprozess: Ein funktionales Verhältnis symbiotischer Komplementarität ...................................... 4. Das Prinzip qualitativer Differenzierung: Verfahrenswahl auf der Grundlage der Verfahrenseignung ............................. a) Methodische Herausforderungen der Konfliktzuweisung .. b) Fitting the forum to the Fuss: Das Sander-GoldbergModell der Verfahrenswahl ............................................... c) Kritik des Sander-Goldberg-Modells ................................ aa) Materielle Leistungsfähigkeit des Mediationsverfahrens ................................................................... bb) Grundverständnis der ADR-Prinzipien als notwendige Voraussetzung der Verfahrenswahl? ........ cc) Möglichkeiten und Grenzen der Aufklärung der Parteien ....................................................................... d) Weitere Zuweisungsmodelle ............................................. e) Eigener Ansatz: Verfahrenswahl auf der Grundlage der Verfahrensfunktion und -struktur ...................................... f) Empirische Eignungskriterien der Verfahrenswahl ............ 5. Das Prinzip hierarchischer Differenzierung: Das Primat der Mediation und die Subsidiarität des Zivilprozesses ......... a) Vom Multi-Door Courthouse zum Primat der Mediation .. b) Das Primat der Mediation als Prinzip einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre ................................................. aa) Der Grundsatz des Verfahrenspluralismus................... bb) Der Grundsatz der Verfahrensintegrität ...................... cc) Der Grundsatz der Rollentrennung .............................. dd) Der Grundsatz der Verfahrenshierarchie ..................... ee) Das Primat der Mediation............................................ c) Die Begründung des Mediationsprimats ............................
856 857 858 859 860 861 863 864 867 868 872 873 874 876 877 880 880 882 883 886 888 897 901 901 907 909 909 910 911 912 913
XXXII
Inhaltsverzeichnis
aa) Rechtstheorie: Die systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses ....................................................... bb) Rechtssoziologie: Wandel des Rechts, des staatlichen Handelns und der Konfliktkultur ................................. cc) Rechtsphilosophie: Mediation als gerechtes Verfahren dd) Interdisziplinärer Befund: Das Prinzip der Kooperation ee) Mediation und Zivilprozess: Ein Verhältnis komplementärer Einheit ..............................................
914 936 950 981 989
V. Zusammenfassung ..................................................................... 1009
§ 8 Gesamtergebnis und Thesen .................................................... 1015 I. Ausgangslage ............................................................................ 1015 1. ADR-Bewegung und Rechtswissenschaft .............................. 1015 2. Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes ................... 1016 II. Mediation und Zivilprozess: Wesentliche Ergebnisse ................ 1017
§ 9 Ausblick ........................................................................................ 1027 Literaturverzeichnis ................................................................................. 1029 Sachregister ............................................................................................. 1068 Personenregister ...................................................................................... 1092
Abkürzungsverzeichnis a.A. A.B.A. Rep. a.E. a.F. ABl. Abs. AcP ad ed. ad Sab. ADR ADR Currents ADR-Richtlinie
AG AGB Ala.Code Alternatives to High Cost Litig. Am. Econ. Rev. Am. J. Comp. L. Am. Soc'y Int'l L. Proc. AnwBl. AÖR ArbG ARSP Art. AT Aufl. BB Bd. BeckOK Begr. Beil. BGB BGBl. BGH BGHZ BORA BRAO Bsp.
andere Ansicht American Bar Association Reports am Ende alte Fassung Amtsblatt Absatz Archiv für die civilistische Praxis ad edictum ad Sabinum Alternative Dispute Resolution ADR Currents: The Newsletter of Dispute Resolution Law and Practice Richtlinie 2013/11/EU v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. EU L 165 v. 18.6.2013, S. 63. Amtsgericht, Die Aktiengesellschaft (Zeitschrift) Allgemeine Geschäftsbedingungen Code of Alabama Alternatives to High Cost Litigation American Economic Review American Journal of Comparative Law American Society of International Law Proceedings Anwaltsblatt Archiv für öffentliches Recht Arbeitsgericht Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Allgemeiner Teil Auflage Betriebs-Berater Band Beck‘scher Online-Kommentar Begründer Beilage Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Berufsordnung der Rechtsanwälte Bundesrechtsanwaltsordnung Beispiel
XXXIV
Abkürzungsverzeichnis
BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BVerwG bzw.
Drucksache des Deutschen Bundestages Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht beziehungsweise
C. ca. cap. Cir. Ct. Colo. Lawer CPR C.R.C.
Codex Iustinianus circa caput (Kapitel) Circuit Court The Colorado Lawyer Civil Procedure Rules (UK) California Rules of Court
D. d.h. DJZ DRiG DRiZ DRJ
Digesten das heißt Deutsche Juristen-Zeitung Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung Dispute Resolution Journal
Ed. EG EGMR Einl. EMRK endg. etc. EU EuGRZ EuZW EWiR EWS
Edition Europäische Gemeinschaft; Einführungsgesetz Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einleitung Europäische Menschenrechtskonvention Endgültig et cetera Europäische Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Entscheidungen Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht
f. ff. FGO Fla. Dist. Ct. App. Fla. L. Weekly Supp. Fn. FPR Front. Hum. Neurosci. F.S. FS
folgende fortfolgende Finanzgerichtsordnung Florida District Court of Appeals Florida Law Weekly Supplement Fußnote Familie – Partnerschaft – Recht Frontiers in Human Neuroscience Florida Statutes Festschrift
GG ggf. GVBl.
Grundgesetz gegebenenfalls Gesetz- und Verordnungsblatt
Abkürzungsverzeichnis
XXXV
Harv. L. Rev. Harv. Negot. L. Rev. HdbVerfR HGB h.M. H.R.S. Hrsg. hrsg. HS. HThK
Harvard Law Review Harvard Negotiation Law Review Handbuch des Verfassungsrechts Handelsgesetzbuch herrschende Meinung Hawaii Revised Statutes Herausgeber herausgegeben Halbsatz Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament
IDR Ind. & Lab. Rel. Rev. Inst. iSd. iSv. iVm. iwS.
Journal of International Dispute Resolution Industrial and Labor Relations Review Institutionen im Sinne des im Sinne von in Verbindung mit im weiteren Sinn
JAG JAPO J. Confl. Resol. J. Econ. Behav. Organ. J. Econ. Perspect. J. of Soc. and Pers. Relationships J. Pers. Soc. Psychol. Jkb. JR JRE JuS JZ
Juristenausbildungsgesetz Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen Journal of Conflict Resolution Journal of Economic Behavior and Organization Journal of Economic Perspectives Journal of Social and Personal Relationships
KG KJ KOM Kor. KritV
Kammergericht Kritische Justiz Dokument der Europäischen Kommission Korintherbrief Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
KZfSS
LG lib. Lk. LSG
Journal of Personality and Social Psychology Jakobusbrief Juristische Rundschau Jahrbuch für Recht und Ethik Juristische Schulung Juristenzeitung
Landgericht Liber (Buch) Lukasevangeliun Landessozialgericht
XXXVI
Abkürzungsverzeichnis
MDR MedG MedFördG
MünchKomm mwN.
Monatsschrift für Deutsches Recht Mediationsgesetz Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung (Mediationsförderungsgesetz) Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3. Massachusetts Local Bankruptcy Rules Motive zu dem Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Bd. 1-5, 1888. Mediation Quarterly Maine Revised Statutes Matthäusevangelium Mugdan, Benno (Hrsg.), Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. 1 Einführungsgesetz und Allgemeiner Theil, 1899. Münchener Kommentar mit weiteren Nachweisen
Nature Comm. n. Chr. Nev. L.J. n.F. NJ NJW NJW-RR No. Nr. N.R.S. N.S.
Nature Communications nach Christus Nevada Law Journal neue Fassung Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift NJW-Rechtsprechungsreport Number Nummer Nevada Revised Statutes New Series
ÖAR ODR-Verordnung
Ökonomische Analyse des Rechts Verordnung Nr. 524/2013 v. 21.5.2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten v. 21.5.2013, ABl. EU L 165 v. 18.6.2013, S. 1. Ohio State Journal on Dispute Resolution Oberlandesgericht Organizational Behavior and Human Decision Processes Oberverwaltungsgericht
Mediationsrichtlinie
M.L.B.R. Motive M.Q. M.R.S. Mt. Mugdan
Ohio St. J. on Disp. Resol. OLG Organ. Behav. Hum. Decis. Process. OVG PL pr. Psychol. Bull. Psychol. Public Policy Law
Migne, Jacques Paul (Hrsg.), Patrologiae cursus completus (Series latina), 1844-1855. principium Psychological Bulletin Psychology, Public Policy and Law,
Abkürzungsverzeichnis
XXXVII
q.
quaestio
RabelsZ
Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Rechtsdienstleistungsgesetz Religion, Brain & Behavior Recht der Internationalen Wirtschaft Randnummer Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes Gesetz über die Vergütung von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz)
RDG Religion. Brain. Behav. RIW Rn. RsprEinhG RVG
S. Sächs. S. Cal. L. Rev. SchiedsVZ sec. SGB SGG SJP SJZ sog. Stan. L. Rev.
Satz, Seite Sächsisches Southern Californian Law Review Zeitschrift für Schiedsverfahren Section Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz Southern Journal of Philosophy Süddeutsche Juristen-Zeitung sogenannte Stanford Law Review
TKG Tob. Tx. CPRC
Telekommunikationsgesetz alttestamentliches Buch Tobit Texas Civil Practice & Remedies Code
u.a. übers. UMA
und andere übersetzt Uniform Mediation Act (USA)
v. v. Chr. v.a. VersR VerwArch vgl. Vor Vorb. VS
vom, von vor Christus vor allem Versicherungsrecht Verwaltungsarchiv vergleiche Vorbemerkung Vorbemerkung Vorsokratiker, in: Diels, Hermann/Kranz, Walther (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker: griechisch und deutsch, Band. 1-3, 6. Aufl., 1951-1952
Wis. L. Rev. WM
Wisconsin Law Review Wertpapier-Mitteilungen
XXXVIII z.B. ZEuP ZfRV ZGS ZHR ZKM ZphF ZPO ZRG Rom. Abt. ZRP
Abkürzungsverzeichnis zum Beispiel Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Europarecht Zeitschrift für das gesamte Schuldrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Konfliktmanagement Zeitschrift für Philosophische Forschung Zivilprozessordnung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, romanistische Abteilung Zeitschrift für Rechtspolitik
Einführung Der Ausgleich gegensätzlicher Interessen, der Weg vom Konflikt zum Konsens, gehört zu den zentralen Dimensionen menschlichen Zusammenlebens. Jede Gesellschaft und jede Zeit hat sich auf die ihr eigene Weise um die Lösung dieser fundamentalen Herausforderung menschlicher Gemeinschaft bemüht. Konsensuale Formen der Streitbelegung waren dabei von jeher wesentlicher Bestandteil menschlicher Konfliktbewältigung. Dennoch hatte sich in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis der Blick zuletzt weitgehend auf das institutionalisierte Instrumentarium rechtlicher Streitbeilegung und hier vor allem auf die streitige Entscheidung durch den Richter im Rahmen des Zivilprozesses verengt. Die Beschränkungen einer solchen Engführung sind in den letzten Jahren indes immer deutlicher zutage getreten: Ein durch die zunehmende Globalisierung eingeleiteter gesellschaftlicher Wandel, eine Rechtswirklichkeit, die durch immer komplexere, in hohem Maße dynamische und multipolare Rechtsbeziehungen geprägt ist und die systemimmanenten Schwächen heteronomer Streitbeilegung haben zu einem Umdenken und zu tiefgreifenden Veränderungen im Umgang mit Konflikten geführt. Es ist die Einsicht gewachsen, dass Verfahren der alternativen Streitbeilegung nicht nur eine angemessene Antwort auf die gegenwärtige institutionelle Krise des herkömmlichen Systems staatlicher Konfliktbewältigung geben können, sondern darüber hinaus wesentlicher Teil menschlichen Konfliktverhaltens sind. Sie ermöglichen nicht nur eine schnellere und effektivere, sondern in der Regel auch eine qualitativ bessere und nachhaltigere Konfliktlösung.1 Entsprechend hat sich die alternative Streitbeilegung – der Entwicklung im anglo-amerikanischen Rechtskreis mit einiger Verzögerung folgend – in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland fest etabliert und ist heute aus der Rechtspraxis nicht mehr wegzudenken. Mit den erfolgreich abgeschlossenen
1 Stellvertretend für das mittlerweile kaum mehr zu überblickende Schrifttum die Beiträge in Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982); Breidenbach, Mediation (1995); Haft/v. Schlieffen, Handbuch Mediation: Methoden und Technik, Rechtsgrundlagen, Einsatzgebiete (3. Aufl. 2016); Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011) mwN. Für den US-amerikanischen Rechtskreis vgl. nur Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012) mwN.
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Modellprojekten zur gerichtsverbundenen Mediation2 ist die Entwicklung mittlerweile in die Phase der Institutionalisierung eingetreten,3 die im Zivilverfahrensrecht durch Kodifikationen wie etwa dem Mediationsgesetz (MedG)4 sowie dem Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG)5 konkrete Gestalt angenommen hat. Damit ist ein Thema angesprochen, das bislang in dogmatischer Hinsicht wenig Beachtung gefunden hat, für das Zivilverfahrensrecht wie für die Rechtspraxis indes von erheblicher Bedeutung ist: das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess. Die durch das Spannungsverhältnis zwischen beiden Formen der Konfliktbewältigung aufgeworfenen Fragestellungen stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung. Im Kern geht es um die Frage, wie sich die alternative Streitbeilegung in das bestehende System der Konfliktbeilegung in einer Weise einfügen lässt, so dass sowohl die den jeweiligen Verfahren eigenen Grundsätze als auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben angemessen Berücksichtigung finden. Dass hier ein Spannungsverhältnis verborgen ist, das der grund-
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Für einen instruktiven Überblick über den aktuellen Forschungstand vgl. Greger, ZKM 2017, 4; Schlehe, ZKM 2017, 61; Bamberger, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 225 ff.; Greger/Gottwald, ZKM 2016, 84. Zu den Modellversuchen gerichtsinterner Mediation eingehend Pitschas/Walther (Hrsg.), Mediation in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (2005); Warwel, Gerichtsnahe Mediation (2007); Pitschas/Walther, Mediation im Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess (2008); v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008); Gottwald, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963; Gläßer/Schroeter (Hrsg.), Gerichtliche Mediation (2011); Greger, AnwBl. 2013, 504; Kaiser/Gabler, ZKM 2014, 180 sowie die jeweiligen Abschlussberichte, z.B. Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006); Greger, Abschlussbericht (2007); Greger, Evaluation der Gerichtsmediation im Land Berlin (2012). Eingehend zum Ganzen unten S. 385 ff., 499 ff. mwN. 3 Eine auch für den deutschen Rechtskreis wertvolle Analyse der Entwicklungsphasen der außergerichtlichen Streitbeilegung findet sich bei Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 f. (2007), der den nächsten Schritt in einer grundsätzlichen, im Einzelfall widerlegbaren Vermutung für die vorrangige Anwendung alternativer Formen der Streitbeilegung sieht. 4 Eingeführt durch Art. 1 des MedFördG (Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung) v. 12.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. Vgl. hierzu Schreiber, KritV 2013, 102, 102 ff. , Thole, ZZP 127 (2014), 339, 339 ff. und monographisch zuletzt Serbu, Mediationsgesetz (2016). Eingehend unten S. 536 f. 5 Gesetz über die alternative Streitbeilegung in Verbrauchersachen. Eingeführt durch Art. 1 des Umsetzungsgesetzes zur ADR-Richtlinie und zur ODR-Verordnung (Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durchführung der Verordnung über Online-Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten) v. 19.2.2016, BGBl. I 2016, 254 ff. Eingehend hierzu unten S. 538 f. mwN.
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legenden Klärung bedarf, hat die US-amerikanische Institutionalisierungsdebatte eindrucksvoll gezeigt.6 Beide Verfahren stehen zueinander in nahezu symmetrischer, gleichsam spiegelbildlicher Komplementarität: Während sich die Parteien bei der Mediation in einem vertraulichen, informalen und kooperativen Verfahren durch die Mitwirkung eines lediglich vermittelnden neutralen Dritten eigenverantwortlich um einen Ausgleich ihrer Interessen bemühen, wird ihnen im Zivilprozess in einem grundsätzlich öffentlichen, formalen und kontradiktorischen Verfahren die an gesetzlich normierten Ansprüchen orientierte Entscheidung eines Dritten durch staatlichen Hoheitsakt heteronom auferlegt. Im Kontext gerichtsverbundener Mediation treffen nun die beiden Systemen immanenten Antinomien wie in einem Brennglas aufeinander. Im Folgenden wird es daher um die Frage gehen, wie ein interessenbezogenes, vertrauliches, kooperatives und prozedural wie materiell autonomes Verfahren wie die Mediation in ein System institutioneller staatlicher Justizgewährung integriert werden kann, das noch weitgehend auf den rechtsbezogenen, grundsätzlich öffentlichen, kontradiktorischen und in Verfahren und Ergebnis formal-heteronomen Zivilprozess als „komfortabel ausgebauten Königsweg“7 ausgerichtet ist. Die Lösung dieses Problems justizieller Institutionenlehre (institutional design) erfordert zunächst eine eingehende Analyse des Verhältnisses von alternativer Streitbeilegung und Zivilprozess, die für die konsensualen Streitbeilegungsverfahren exemplarisch am Beispiel der Mediation vorgenommen wird. Aufgeworfen werden Fragen von grundlegender Bedeutung für die Dogmatik der alternativen Streitbeilegung und ihrer Einbettung in das Zivilverfahrensrecht: Wie verhalten sich Mediation und Zivilprozess zueinander und lassen sich Kollisionen der gegensätzlichen Verfahrensprinzipien mit den Mitteln des geltenden Rechts lösen? Steht einer gleichwohl erforderlichen Änderung zivilprozessualer Vorschriften höherrangiges Recht entgegen? Oder ist umgekehrt eine besondere Ausgestaltung – etwa aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben – sogar geboten? Welche Rolle spielt das materielle Recht in der Mediation und welche gegenseitigen Wechselwirkungen bestehen mit dem Zivilprozess? Sind die für das Zivilverfahren entwickelten Verfahrensmaximen auf die Mediation übertragbar oder bedürfen sie der Ergänzung? Wie sind Wesen, dogmatische Natur und rechtsphilosophische Grundlagen der alternativen Streitbeilegung beschaffen? Und was kann daraus für die Lösung aktueller Rechtsprobleme abgeleitet werden? Wie lassen sich die Erfahrungen mit der gerichtsverbundenen Mediation in den USA für die Institutionalisierung außergerichtlicher 6
Vgl. zur Diskussion nur: Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 7 So Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5.
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Streitbeilegung nutzen und sind die Erträge der rechtsvergleichenden Analyse auf die Situation in Deutschland überhaupt übertragbar? In welche Entwicklungslinien lässt sich das Phänomen der alternativen Streitbeilegung in ihrem Verhältnis zum formalen Zivilprozess ideengeschichtlich einordnen? Und wie verhält sich die im Rahmen der ADR-Bewegung zu beobachtende Tendenz zur Entformalisierung justizieller Konfliktbeilegung mit Blick auf den in anderen Bereichen zu beobachtenden Wandel staatlicher Regulierungsmechanismen? Der Zielsetzung einer grundsätzlichen dogmatischen Klärung folgend, spannt die Untersuchung notwendigerweise einen weiten Bogen. Die Bewältigung des Untersuchungsprogramms erfolgt durch Fokussierung auf die wesentlichen Strukturprinzipien der exemplarisch herangezogenen Verfahren der Mediation und des Zivilprozesses im Schnittpunkt von konsensualer und heteronomer Streitbeilegung. Im Mittelpunkt stehen dabei die Themen, die für Verständnis und Gestaltung des Verhältnisses beider Verfahrensmodelle von zentraler Bedeutung sind: Privatautonomie und Fairness, Natur und Bedeutung der Verfahrensprinzipien, die Rolle des neutralen Dritten, Vertraulichkeitsschutz und die Gestaltung des Übergangs zwischen beiden Verfahrensarten. Die Vielfalt möglicher Verfahren alternativer Streitbeilegung einerseits und die Konzentration der aktuellen Diskussion auf die Mediation andererseits zwingen dabei zu einer typologischen Beschränkung: Im Vordergrund der Darstellung wird daher die Mediation stehen, die den Fokus der gegenwärtigen Diskussion in Wissenschaft, Rechtspraxis und Legislative bildet. Diese Auswahl ist allerdings auch in dogmatischer Hinsicht nicht beliebig: Die Mediation wird im Folgenden pars pro toto als idealtypisches Urbild (είδος), als Grundmuster der konsensualen Verfahren alternativer Streitbeilegung herangezogen. Für die Begriffsbestimmung der Mediation wird dabei auf die gängige Definition des Mediationsverfahrens als drittunterstützte Verhandlung zurückgegriffen: Danach ist unter dem Verfahren der Mediation eine Verhandlung zwischen mehreren Parteien unter der fördernden Mitwirkung eines neutralen Dritten zu verstehen.8 Der Begriff der alternativen Streitbeilegung (Alternative
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Dies entspricht dem weiten Verständnis des Mediationsbegriffs im Schrifttum. Vgl. etwa Breidenbach, Mediation (1995), S. 137 („Ein neutraler Dritter ohne Entscheidungsgewalt oder Zwangsmittel versucht den Parteien auf dem Weg zu einer Einigung zu helfen.”); Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 121 („Mediation is negotiation carried out with the assistance of a third party“) und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 63 („jede Mitwirkung eines Dritten, die über eine rein kommunikative Unterstützung – wie z. B. in einer Moderation – hinausgeht und nicht von vornherein – wie z. B. in einer Schlichtung – auf einen unverbindlichen Vorschlag ausgerichtet ist … wenn sie mindestens die Erörterung der Interessen, Einigungsoptionen und Nichteinigungsalternativen der Beteiligten einschließt”). Vgl. hierzu auch § 1 Abs. 1 S. 1 MedG: „Mediation ist ein vertrauliches und strukturiertes Verfahren, bei dem Parteien
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Dispute Resolution – ADR) verweist dagegen auf das gesamte Spektrum möglicher Verfahren zur Beilegung von Konflikten unter Ausschluss der streitigen Entscheidung durch ein ordentliches Gericht.9 Hierzu gehören neben den Primärverfahren der Verhandlung auf der einen und des Schiedsverfahrens auf der anderen Seite – letzteres als funktionales Äquivalent für den Zivilprozess10 – auch die zahlreichen Hybridverfahren und Mischtypen wie etwa der Mini Trial, Med-Arb, Arb-Med, Neg-Arb, Online Dispute Resolution (ODR), die Schlichtung (etwa durch Schiedsleute)11 oder die neue Methode des Collaborative Law.12 Damit umfasst der Begriff der alternativen Streitbeilegung dogmatisch eigentlich auch die heteronome Drittentscheidung durch einen Schiedsrichter oder einen Schlichter. Allerdings waren für die ADR-Bewegung vor allem die Verfahren der konsensualen Streitbeilegung und hier vor allem Mediation von entscheidender Bedeutung. Denn die rasante Entwicklung der Alternativen
mit Hilfe eines oder mehrerer Mediatoren freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts anstreben.“ Nach der hier vertretenen Ansicht handelt es sich bei Strukturmerkmalen wie Vertraulichkeit, Privatautonomie, Neutralität des Mediators etc. um Verfahrensprinzipien und nicht um begriffsbildende Merkmale. Für eine weite Definition auch Abramson, 10 Harv. Negot. L. Rev. 103 (2005), der zutreffend feststellt: „It is too late to justify a favored, circumscribed definition of mediation.” 9 Vgl. zur Verfahrenstypologie des Kontinuums der Streitbehandlungsformen unten S. 100 ff., 542 ff. sowie eingehend Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 57 ff., 613 ff.; Greger, in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung (2. Aufl. 2016), D. Rn. 1 ff. (S. 270 ff.) und die weiteren Nachweise unten S. 126 Fn. 7. 10 Zur funktionalen Äquivalenz von Zivilprozess und Schiedsverfahren vgl. nur MünchKomm/Münch, ZPO (5. Aufl. 2017), 1032 Rn. 2 („Staats- und Schiedsgerichtsbarkeit erscheinen als äquivalent.”) sowie die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schiedsverfahrens (Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetz – SchiedsVfG) v. 12.2.1997, BT-Drucks. 13/5274, S. 34 („eine der staatlichen Gerichtsbarkeit im Prinzip gleichwertige Rechtsschutzmöglichkeit“). Mit der heteronomen Entscheidungsstruktur – in beiden Fällen entscheidet ein am Konflikt nicht beteiligter Dritter als (Schieds-)Richter – sind beide Verfahrensarten darüber hinaus auch strukturell äquivalent. 11 Für einen Überblick über die Mischformen der alternativen Streitbeilegung vgl. unten S. 100 ff., 542 ff., 736 f. mwN. sowie Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 57 ff., 613 ff.; Risse/Wagner, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 553, 580 ff.; Greger, in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung (2. Aufl. 2016), D. Rn. 1 ff. (S. 270 ff.). 12 Zum Collaborative Law eingehend Engel, Collaborative Law (2010) sowie Greger, in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung (2. Aufl. 2016), D. Rn. 12 (S. 273); Mähler/Mähler, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 667, 704 f.; Engel, ZKM 2013, 170, 170 ff.; Engel, ZKM 2010, 112, 112 ff.; Mähler/Mähler, ZKM 2009, 70, 70 ff.; Bruhn, NJOZ 2008, 1726, 1726 ff.; Leiss, IDR 2005, 174. Näher hierzu unten S. 437 ff. Vgl. auch die Technik des contextuellen KonfliktCoaching, hierzu Riehm, ZKM 2017, 140.
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Streitbeilegung verdankt ihre Dynamik vor allem der Einsicht in die von Roger Fischer, William Ury und Bruce Patton13 aufgezeigten Vorteile privatautonomer konsensualer Konfliktbeilegung: Vergrößerung des Wertkuchens („enlarging the pie“) durch kreative Einigungsoptionen, Realisierung paretooptimaler Kooperationsgewinne und die Wiederherstellung der Beziehung zwischen den Parteien. Insbesondere in der US-amerikanischen Diskussion wird der Begriff der Alternative Dispute Resolution daher vor allem im Sinne der konsensualen Streitbeilegung verwendet. Eine solches eher enges Begriffsverständnis ist indes mit dem für die Entwicklung einer allgemeinen Konfliktbehandlungsbehandlungslehre notwendigen Maß an dogmatischer Präzision nur schwer vereinbar. Daher soll der Begriff der Alternativen Streitbeilegung hier in seinem umfassenden Sinn verwendet werden, allerdings stets unter Berücksichtigung seiner historischen Entwicklung. Geht es um die konsensualen Konfliktbeilegungsverfahren, wird – soweit sich der Bedeutungszusammenhang nicht bereits aus dem Kontext ergibt – der Begriff der konsensualen Streitbeilegung verwendet. Im Übrigen wird auf die Mediation als idealtypisches konsensuales Verfahren alternativer Streitbeilegung verwiesen. Die für die Mediation herausgearbeiteten Grundlagen, ihre dogmatischen Strukturprinzipien, ihre geschichtliche Genese, ihre philosophischen Wurzeln, ihr Standort im Rechtssystem und ihr Bezug zu den bestehenden Institutionen der Streitbeilegung sind für die alternative Streitbeilegung insgesamt von systembildender Bedeutung. Sie bieten Anlass zur Systematisierung und fügen sich so zu einem dogmatischen System einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre. Eine solche allgemeine Konfliktbehandlungslehre beseitigt die Engführung der auf die streitige Drittentscheidung zugeschnittenen zivilverfahrensrechtlichen Dogmatik und setzt die unterschiedlichen Verfahren der Streitbeilegung im Sinne eines abgestuften Verfahrenspluralismus zueinander in Beziehung. Das System staatlicher Konfliktbeilegung, das von einer solchen Verfahrenslehre beschrieben wird, ist indes selbst Teil des hoheitlichen Steuerungsinstrumentariums, das gegenwärtig einen tiefgreifenden Wandel hin zu staatlicher Gewährleistung gesellschaftlicher Selbstregulierung erfährt.14 Die Hinwendung zur alternativen Streitbeilegung lässt sich damit staatsrechtlich auch als Teil einer umfassenden Neuorientierung hoheitlichen Handelns begreifen und fügt sich somit ein in den Prozess der Deregulierung und Entformalisierung des Rechts, der weite Teile staatlicher Steuerung erfasst.15 Indem der Prozess der Institutionalisierung alternativer Streitbeilegung zu den größeren Entwicklungslinien in Staat und Gesellschaft in Beziehung gesetzt wird, lassen sich
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Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991). Dazu näher unten S. 33 ff. 15 Vgl. dazu näher unten S. 35 ff. 14
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wertvolle Einsichten für die Ausgestaltung der ADR-Verfahren und ihre Integration in den Zivilprozess gewinnen. Die Untersuchung berührt mehrere Teildisziplinen des Rechts. In methodischer Hinsicht wurde daher, wie im Bereich der alternativen Streitbeilegung üblich, ein interdisziplinärer Ansatz gewählt, um der Vielgestaltigkeit des Themas angemessen Rechnung zu tragen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Rechtsvergleichung zu: Die wesentlichen Aspekte des Verhältnisses der beiden Verfahrensarten Mediation und Zivilprozess werden in ihrem Wandel vor dem Hintergrund der Bezugsgrößen Raum, Zeit und Kultur in den Blick genommen. Im Hinblick auf die Rechtsvergleichung wurde ein über den institutionellen und empirischen Vergleich hinausgehender Ansatz gewählt: Für die wesentlichen konzeptionellen Fragestellungen wird jeweils auf die außerordentlich ertragreiche US-amerikanische Diskussion zurückgegriffen, um den Stand der Forschung rezipierend für die aktuelle Diskussion in Deutschland zugänglich zu machen. Wo dies möglich und sinnvoll ist, wird zusätzlich aus dem reichen Schatz der weitgehend verschütteten historischen Schlichtungsforschung geschöpft, die sich bereits ausführlich mit den Grundsätzen der amicabilis compositio beschäftigt, aber noch nicht den Weg in die heutige ADR-Diskussion gefunden hat.16 Das ist möglicherweise ein Rückschritt des theoretischen Wissens, das in den letzten Jahrzehnten erst mühsam, gleichsam neu, aber in gewisser Hinsicht vielleicht auch unbelastet von dogmatischen Beschränkungen erarbeitet worden ist. Licht in die überaus reichhaltige Rechtsgeschichte der alternativen Streitbeilegung zu bringen, die für die aktuelle Forschung noch weitgehend im Dunkeln liegt, sich aber keineswegs lediglich auf die Vermittlung in völkerrechtlichen Streitigkeiten beschränkt,17 ist ein Nebenertrag der vorliegenden Arbeit. Die analytische Untersuchung des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess zum Zweck der Entwicklung institutioneller Designkriterien macht es erforderlich, das Wesen der alternativen Streitbeilegung gleichsam aus mehreren Blickwinkeln zu erfassen, um es dogmatisch zu durchdringen und ein umfassendes Verständnis ihres Ursprungs, ihrer Natur und ihres Standortes im Rechtssystem zu gewinnen. Daher wurde eine Klärung der rechtsphilosophischen Wurzeln unternommen sowie das Modell einer rechtsphilosophischen Begründung der alternativen Streitbeilegung vorgelegt. Die theoretische 16 Im Kontext der aktuellen ADR-Diskussion hat vor allem Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff. eingehend den Blick auf die Entwicklung des Gütegedankens im geschichtlichen Wandel gerichtet und so die Tür zur historischen Schlichtungsforschung geöffnet. Vgl. hierzu auch die Arbeit von Düll, Der Gütegedanke im römischen Zivilprozessrecht (1931). 17 So allerdings der überwiegende Fokus in der bisherigen Forschung, vgl. nur Duss-von Werdt, Homo mediator (2005); Hehn, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 175, 179 ff.
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Grundlagenarbeit erfolgt in der vorliegenden Untersuchung allerdings nicht allein um ihrer selbst willen. Sie steht vielmehr im Dienst der Entwicklung einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre als Versuch einer ADR-Dogmatik und als Voraussetzung eines effektiven Dispute Systems Design.18 Eine eingehende Analyse beider Verfahrensarten soll dabei Berührungspunkte und Verbindungslinien zwischen Mediation und Zivilprozess aufdecken, um auf der Grundlage von Frank E.A. Sanders Modell eines Multi-DoorCourthouse19 und Lon L. Fullers Verfahrens- und Institutionenlehre20 das Grundgerüst einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre als ersten Ansatz einer umfassenden ADR-Dogmatik zu skizzieren. Dabei war es erforderlich, eine die klassische Prozessualistik überschreitende, interdisziplinäre Dogmatik und damit eine dogmatische Sprache zu entwickeln, die einen sinnvollen Dialog zwischen ADR-Dogmatik und zivilverfahrensrechtlicher Dogmatik ermöglicht. Die Entwicklung eines umfassenden dogmatischen Verfahrensmodells bildet die Voraussetzung für die dringend erforderliche Integration der alternativen Streitbeilegung in die klassische Prozessualistik und dürfte die Rezeption und Akzeptanz der alternativen Streitbeilegung im Zivilverfahrensrecht erheblich fördern.21 Aufgrund des hierfür notwendigen hohen Abstraktionsgrades überschreitet das auf diese Weise entstandene dogmatische Modell den verfahrensrechtlichen Rahmen nationaler Rechtsordnungen und bildet auf diese Weise das Grundgerüst eines transnationalen Verfahrensrechts. Im Ergebnis wird es daher darum gehen, ein Verfahrensmodell gerichtsverbundener alternativer Streitbeilegung zu entwickeln, das den Anforderungen von Dogmatik und Rechtspraxis gleichermaßen gerecht wird, die Fehler der Vergangenheit vermeidet und so die dogmatischen Grundlagen für eine syste-
18 Zur Notwendigkeit der systematisierenden dogmatischen Erfassung der ADR-Verfahren und insbesondere der Mediation nachdrücklich Stürner, ZZP 127 (2014), 271, 318 ff., 322 ff. Vgl. zur Problematik ausführlich Ury/Brett/Goldberg, Getting Disputes Resolved (1993); Costantino/Merchant, Designing Conflict Management Systems (1996); Schoen, Konfliktmanagementsysteme für Wirtschaftsunternehmen (2003); Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 325 ff. 19 Grundlegend Sander, 70 F.R.D 111, 131 (1976). Vgl. hierzu eingehend unten S. 12 ff., 608 ff. sowie Stempel, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 297 (1996); Savage/Stuart, 26 Colo. Lawer 13 (1997) Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 440 ff.; Weitz, 14 No. 1 Disp. Resol. Mag. 21 (2007) sowie die Nachweise unten in Fn. 14. Für die Rezeption im deutschsprachigen Schrifttum vgl. nur Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005); Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003) sowie Greger/Gottwald, ZKM 2016, 84, 85; Wendenburg, ZKM 2013, 9, 22; Francken, NJW 2006, 1103, 1103 ff.; Tochtermann, ZKM 2006, 168, 168 ff.; Scherer, ZKM 2003, 227, 227 ff. 20 Vgl. Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff., 27 ff., 36 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381 f., 404 f. (1978) sowie eingehend unten S. 116 f., 135 ff., 538 ff. 21 Zur Dogmenferne der ADR-Verfahren und der Notwendigkeit ihrer systematisierenden dogmatischen Erfassung Stürner, ZZP 127 (2014), 271, 318 ff., 322 ff.
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matische Erschließung des gesamten Spektrums der Konfliktbeilegungsverfahren einschließlich der ADR-Verfahren und des Zivilprozesses schafft. Der durch diese Zielsetzung vorgegebenen Spur folgt die Arbeit auch in ihrem Aufbau: Die Untersuchung des Verhältnisses der beiden Verfahren gibt Anlass, zunächst die Grundlagen der alternativen Streitbeilegung näher zu untersuchen. Eine Lösung praktischer Detailfragen ist ohne ein tieferes Verständnis ihres dogmatischen, theoretischen und rechtsphilosophischen Rahmens kaum möglich. Die Arbeit nähert sich daher der Beantwortung dieser Fragen – der klassischen Bewegung vom Allgemeinen zum Besonderen folgend – in einem Dreischritt: Der erste Teil der Untersuchung (§ 1) erarbeitet im Sinne einer Theorie der alternativen Streitbeilegung die dogmatischen Grundlagen der ADR-Verfahren und bestimmt ihr Verhältnis zum Zivilprozess. Aus der Struktur dieses Verhältnisses heraus wird die Notwendigkeit der Ergänzung des Zivilprozesses durch Verfahren der alternativen Streitbeilegung aus der Perspektive einer Vielzahl unterschiedlicher Teildisziplinen des Rechts und relevanter Grundlagenwissenschaften hergeleitet. Zur Begründung, die sich nun nicht mehr lediglich auf Effizienz- und Flexibilitätsargumente stützt, wird auf rechtstheoretische, rechtssoziologische und rechtsphilosophische Ansätze zurückgegriffen, aus denen zugleich die Grundprinzipien alternativer Streitbeilegung und ihr Standort im System der Konfliktbehandlung hergeleitet werden. Sie ergeben in ihrer Zusammenschau die Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre als differenziertes System zivilrechtlicher Justizgewährung. Auf den Erträgen des ersten Abschnitts (§ 1) aufbauend wird sodann das Verhältnis der Mediation zur objektiven Rechtsordnung in den Blick genommen, indem ihre Beziehung zu den einzelnen Aspekten des Rechts und der Gerechtigkeit nachgezeichnet wird: Ausgehend von einer vergleichenden Strukturanalyse der Verfahren der Mediation und des Zivilprozesses (§ 2) wird zunächst das Verhältnis der Mediation zum Recht (§ 3) und zur Gerechtigkeit (§ 4) untersucht, um schließlich ihre Beziehung zum materiellen (§ 5) und zum Verfahrensrecht (§ 6) zu klären. Dabei geht es zum einen – gleichsam zurückgewandt – um den Abgleich der theoretischen Grundannahmen mit der Rechtspraxis. Zum anderen geht es – gleichsam vorwärtsgewandt – um die Verwertung des Ertrages der Analyse unterschiedlicher Modelle des Verfahrensübergangs für die rechtsgestaltende Konzeption einer effektiven Integration der Mediation in das zivilgerichtliche Verfahren. In einem letzten Schritt (§ 7) wird der Befund schließlich im Rahmen einer synoptischen Gesamtschau zusammengeführt und für die Entwicklung des dogmatischen Modells einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre fruchtbar gemacht, das rechtsgestaltend die Zukunft der alternativen Streitbeilegung in den Blick nimmt und die Mediation in die Dogmatik des Zivilverfahrensrechts integriert.
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Mit diesem Untersuchungsprogramm verfolgt die Arbeit vor allem drei zentrale Ziele: 1) die umfassende interdisziplinäre Analyse und dogmatische Erfassung des bislang nur unklar konturierten Phänomens der Mediation sowie der übrigen ADR-Verfahren. 2) Die Integration aller bekannten Verfahren der Streitbeilegung – einschließlich der Mediation und des Zivilprozesses – in das einheitliche dogmatische System einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre. 3) Und schließlich ein vertieftes Verständnis der Funktion der einzelnen Verfahren im Kontext der Bezugsgrößen Konflikt, Recht und Gesellschaft, das eine effektive Zuweisung zukünftiger Konflikte zu den jeweils passenden Verfahren ermöglicht. Am Ende dieses Weges mag dann die Erkenntnis stehen, dass auch der Mediation – ungeachtet aller Euphorie – nur ein spezifischer, begrenzter Anwendungsbereich zukommt. Und dass der klassische Zivilprozess eine Funktion erfüllt, die weder durch die Mediation noch durch andere ADR-Verfahren ersetzt werden kann. Wenn die Arbeit dazu beiträgt, den bisher doch noch recht schemenhaften Blick auf die beiden Verfahrenswelten dogmatisch zu schärfen, auf beiden Seiten den Blick auf Funktion und Wesen der jeweils anderen Verfahrenswelt zu weiten und beide Welten einander näher zu bringen, ist bereits viel gewonnen.
§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung Konflikte sind seit jeher Teil menschlicher Gemeinschaft. Ihre Bewältigung ist grundsätzlich in zwei Formen denkbar: durch autonome Einigung der Beteiligten oder durch heteronome Entscheidung eines Dritten. Diese beiden Grundformen der Konfliktlösung treten uns in der Rechtswirklichkeit vor allem in Gestalt der konsensualen Streitbeilegung und des streitigen Zivilprozesses gegenüber. Im Austausch miteinander haben sie eine Vielzahl unterschiedlicher Formen der Konfliktlösung hervorgebracht, die in ihrer Gesamtheit als System der alternativen Streitbeilegung, als Alternativen zum Zivilprozess1 ergänzend neben dem ordentlichen gerichtlichen Verfahren stehen. Beide Formen der Streitbeilegung ergänzen sich in komplementärer Weise und bilden gemeinsam ein in sich geschlossenes System der Konfliktbehandlung. Sie werden in ihrem Wesen allerdings von oft gegensätzlichen Prinzipien bestimmt, die dem System seine innere Wirkungskraft und Dynamik verleihen, nicht austariert jedoch zu erheblichen Spannungen und Verwerfungen führen können: Privatautonomie und bindende Entscheidung, Kooperation und Konflikt, Informalität und Formalität, Interessen und Recht, Vertraulichkeit und Öffentlichkeit stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das vor allem dann an Aktualität gewinnt, wenn beide Formen der Konfliktbehandlung – wie es vor allem im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation der Fall ist – in einem einheitlichen Verfahren aufeinandertreffen. Die Wechselwirkungen, die sich aus diesem Spannungsverhältnis ergeben, werfen die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis der Verfahren der Mediation und des Zivilprozesses auf. Die Klärung beginnt mit einer interdisziplinären Untersuchung der Natur und des Wesens des Mediationsverfahrens aus den jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln der Rechtstheorie, der Rechtssoziologie und der Rechtsphilosophie. Die kaleidoskopartig geworfenen Schlaglichter erhellen unterschiedliche Aspekte des Mediationsverfahrens, die in einem zweiten Schritt sodann zu einem einheitlichen Bild des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess, einer Dogmatik der alternativen Streitbeilegung zusammengefügt werden. Die in dieser Weise hergeleiteten Grundlagen liefern zugleich eine Begründung der alternativen Streitbeilegung, die sich gegenüber der in Literatur und Praxis geäußerten Kritik zu bewähren hat. Der Bewegung vom Allgemeinen zum Besonderen folgend, wird die Mediation sodann in ih-
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Unter diesem Stichwort erfolgte in Deutschland bereits in den 1980er Jahren eine intensive Auseinandersetzung mit ADR: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982); Strempel, JZ 1983, 596; Prütting, JZ 1985, 261.
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
rem Verhältnis zum Zivilprozess, zum Recht, zur Gerechtigkeit, zum Verfassungsrecht und schließlich zum materiellen Zivilrecht und zum Zivilverfahrensrecht untersucht. Die Ergebnisse bilden das Grundgerüst für die Entwicklung einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre, die alternative Streitbeilegung und Zivilprozess in ihrem Verhältnis zueinander in das System einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre integriert und in Form, Funktion sowie ihren Wechselwirkungen zueinander beschreibt. Der Begriff der alternativen Streitbeilegung lässt im Verhältnis zum ordentlichen Zivilverfahren nach seinem Wortlaut zunächst ein außerordentliches Verfahren vermuten. Als Alternative zur Ziviljustiz verweist der Begriff auf ein Regel-Ausnahme-Verhältnis: Die alternative Streitbeilegung tritt als zusätzliches, eben alternatives Angebot neben den Zivilprozess als dem ordentlichen Institut zivilrechtlicher Justizgewährung. Sie bedarf daher besonderer Legitimation durch Kosten-, Zeit- und Qualitätsvorteile. Ausdruck gefunden hat dieses Verständnis in den älteren Reformbemühungen des Gesetzgebers, die darauf gerichtet waren, das als „Königsweg“2 verstandene gerichtliche Verfahren durch Güteelemente lediglich zu ergänzen und die weitgehend auf ein obligatorisches Güteverfahren verzichteten. Deutlich wird es aber auch etwa in der Systematik der Vorschrift des § 278 ZPO, die das Verfahren der Güteverhandlung grundsätzlich als Annex zum ordentlichen Zivilprozess ausgestaltet hat, dem lediglich in den Fällen des § 278 Abs. 5 S. 1 und 2 ZPO eine eigenständige Bedeutung zukommt.3 Dass ein derart enges Verständnis dem Wesen und der Bedeutung der alternativen Streitbeilegung nicht gerecht zu werden vermag und sie gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt, wird bereits durch einen Blick auf die überragende praktische Bedeutung des Vergleichs für die Bewältigung rechtlicher Konflikte deutlich.4 Folgt man dieser Spur, die uns die Rechtswirklichkeit weist, so wird
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So Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5. Entsprechend kritisch im Hinblick auf die Effektivität der Regelung im Vergleich zur bisherigen Rechtslage hat sich das Schrifttum geäußert: Schellhammer, MDR 2001, 1081, 1082; Schneider, NJW 2001, 3756, 3757 (der auf die praktischen Hindernisse vor dem Hintergrund der häufig praktizierten Mehrfachterminierung hinweist); Stickelbrock, JZ 2002, 633, 640 f. (die Frage aufwerfend, wodurch – angesichts der mangelnden Durchsetzbarkeit eines separaten Gütetermins in der Praxis – gegenüber dem bisherigen Rechtszustand die gütliche Einigung noch wirklich gefördert wird). 4 Das Verhältnis zwischen der Streiterledigung durch streitiges Urteil und jener durch Vergleich liegt bei erstinstanzlichen Urteilen zwischen rund 1:1 (Landgerichte) und 1:2 (Amtsgerichte), wobei je nach Verfahrensstadium (Eingangsinstanz, Rechtsmittelinstanz), Art des Gerichts und geographischer Lage zum Teil erhebliche Unterschiede bestehen. Während die Vergleichsquote 2015 in erstinstanzlichen Verfahren vor den Amtsgerichten bei nur 14,9 % lag (bei 25,0 % streitigen Urteilen), ist sie an Landgerichten in erstinstanzlichen Verfahren mit 27,0 % (bei 26,3 % streitigen Urteilen) deutlich höher, vgl. Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2015), Tabellen 2.1.2, 5.1.2. 3
I. Rechtstheorie: Die Grenzen gerichtlicher Streitentscheidung
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man unter Rückgriff auf die juristischen Grundlagenwissenschaften, insbesondere die Rechtsphilosophie, schon bald fündig. Zum Vorschein kommt ein Institut der Konfliktbehandlung, dessen Bedeutung durch die Dominanz des Zivilverfahrens als dem maßgeblichen Instrument institutionalisierter Justizgewährung des Staates bislang weitgehend verdeckt worden ist. Relevanz und Tragweite der alternativen Streitbeilegung im Verhältnis zum Zivilprozess sind in den letzten Jahren erst vor dem Hintergrund der durch einen stetigen Materialisierungsschub ausgelösten Krise heteronomer Konfliktlösung vermehrt in das Blickfeld der Rechtswissenschaft getreten. Sie gilt es nun freizulegen und in ihrem Verhältnis zum Zivilprozess in Wesen, Form und Funktion dogmatisch zu erfassen. Die Betrachtung der Grundlagen alternativer Streitbeilegung liefert zugleich einen Schlüssel zu ihrer Begründung. Die Untersuchung wird zeigen, dass die alternative Streitbeilegung keineswegs auf dem unsicheren Sockel einer lediglich effizienzorientierten Legitimation ruht, sondern auf einem wesentlich breiteren, festen Fundament steht. Und sie wird die Frage, ob der Vergleich Urteilssurrogat oder nicht vielmehr das Urteil Vergleichssurrogat5,
Vgl. zu den historischen Daten für den Zeitraum von 1971 bis 1981 Gottwald/Hutmacher/Röhl/Strempel (Hrsg.), Der Prozeßvergleich (1983), S. 282 ff. An bayrischen Amtsgerichten wurde 2015 in erstinstanzlichen Verfahren eine Vergleichsquote von 19,0 % bei einer Urteilsquote von 27,9 %, an den Landgerichten im ersten Rechtszug eine Vergleichsquote von 30,0 % bei einer Urteilsquote von 24,2 % erzielt. Werden die Fälle ausgeschieden, die ohne eine sachliche Regelung, d.h. durch Anerkenntnis, Erledigungserklärung, Klagerücknahme, Säumnis, Verweisung oder in sonstiger Weise erledigt werden, so ergibt sich für alle bayrischen Landgerichte etwa für das Jahr 2013 in erstinstanzlichen Verfahren ein Vergleichsanteil von 54,95 %, dem lediglich 45,05 % streitige Urteile entgegenstehen. Damit wurden mehr Urteile im Wege des Vergleichs als durch streitiges Urteil beigelegt. Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2013, 2015), Tabellen 2.1.2, 5.1.2. Vgl. dazu Greger, Abschlussbericht (2007), S. 70 f. An den Amtsgerichten ist das Verhältnis dagegen umgekehrt: So ergibt sich für die bayrischen Amtsgerichte aus dieser Perspektive für das Jahr 2013 ein Vergleichsanteil von 41,68 % und eine Urteilsquote von 58,32 %. Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2013), Tabellen 2.1.2, 5.1.2. In den USA ist die Vergleichsquote dagegen wesentlich höher: Sie lag 1992 in Zivilsachen für Ansprüche aus unerlaubter Handlung (tort cases) bei 73,4 %, für Ansprüche aus Vertrag (contract cases) bei 49,4 % (contract and tort cases disposed in State courts in the Nation's 75 largest counties). U.S. Department of Justice, Civil Justice Survey of State Courts, 1992 (1996), S. 8. Vgl. zur Vergleichsquote in der US-amerikanischen Ziviljustiz Paulus, ZZP 104 (1991), 397, 400; Heidenberger, RIW 1997, 464, 464 ff. (Vergleichsquote von 96,8 %); Schack, Einführung in das USamerikanische Zivilprozessrecht (4. Aufl. 2011), Rn. 146. Zum Ganzen Greger, in: Höland/Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? (2016), S. 138; Inoue, ZZP 98 (1985), 378, 383 f. 5 Vgl. dazu Giese, in: Bierbrauer/Falke/Giese u.a. (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 117, 121.
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ob die streitige Entscheidung Königsweg oder ultima ratio ist, vor dem Hintergrund der Grundlagenwissenschaften neu beantworten.
I. Rechtstheorie: Die Grenzen gerichtlicher Streitentscheidung Zu Beginn der Untersuchung soll zunächst das Verhältnis zwischen Mediation und Zivilprozess aus rechtstheoretischer Perspektive betrachtet werden, wobei insbesondere die systemimmanenten Grenzen gerichtlicher Streitentscheidung im Mittelpunkt stehen. 1. Die Pound Conference und ihre Folgen Als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis beider Verfahren soll zunächst ein Ereignis in den Blick genommen werden, das wie kein zweites weithin als Beginn der modernen ADR-Bewegung gilt. Als im Jahr 1976 in Minneapolis (Minnesota) U.S. Chief Justice Warren Burger die sog. Pound Conference, die Conference on the Causes of Popular Dissatisfaction with the Administration of Justice, eröffnete,6 griff er eine Problematik auf, die 70 Jahre zuvor der spätere Dekan der Harvard Law School Roscoe Pound in einem berühmten und folgenreichen Aufsatz auf den Punkt gebracht hatte: die ernste und reale Unzufriedenheit weiter Teile der Gesellschaft und des Juristenstandes mit dem herkömmlichen System gerichtlicher Streitentscheidung.7 Als Hauptursache diagnostizierte Pound nicht etwa jene Missstände, die das Gerichtswesen bereits zum damaligen Zeitpunkt erfasst hatten und die – trotz mittlerweile gegenläufiger Tendenzen8 – als Argumentationstopos auch
6 Vgl. zur Pound Conference vor allem die Materialien: Judicial Conference of the United States Conference of Chief Justices, 70 FRD 79 (1976) und Levin/Wheeler, The Pound Conference (1979). Für Analysen zur Nachwirkung der Pound Conference auf das US-amerikanische Justizsystem vgl. Strempel, JZ 1983, 596; Subrin, 59 Brook. L. Rev. 1155 (1993); Stempel, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 297 (1996); Brazil, 18 Ohio St. J. on Disp. Resol 93 (2002); Della Noce, 17 Ohio St. J. on Disp. Resol. 545 (2002). Aus der deutschsprachigen Literatur vgl. Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 44 ff. Zum Projekt der Global Pound Conference, einer vom International Mediation Institute 2016/2017 geplanten weltweiten Reihe von Konferenzen über die Zukunft der alternativen Streitbeilegung vgl. http://www.globalpoundconference.org (zuletzt abgerufen am 27.11.2017) sowie das Interview mit Jeremy Lack in Lack/Wendenburg, ZKM 2016, 70. 7 Pound, 29 A.B.A. Rep. 395 (1906) (abgedruckt in: Pound, in: Levin/Wheeler (Hrsg.), The Pound Conference (1979), S. 377 ff.). Pound warnte vor einer „real and serious dissatisfaction with courts and lack of respect for law which exists in the United States today.” Ebenda, S. 396. 8 Vgl. hierzu unten S. 56 ff., 78 ff.
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in der jüngeren Diskussion immer wieder aufscheinen: eine stetige Zunahme der Klagen, überlange Prozesse und steigende Kosten der Justiz.9 Pound sah über die lediglich symptomatischen Erscheinungsformen unzureichender Justizgewährung hinweg auf ein tieferliegendes Problem, das seine Ursache in der Natur des Rechts selbst hat: die systemimmanenten Grenzen des Gesetzesrechts.10 Diese Grenzen verortete Pound in der notwendigerweise mechanischen Wirkungsweise rechtlicher Normen, die der Preis ist, den wir für die Einheitlichkeit des Rechts zahlen.11 Abstrakt-generelle Regeln erfordern eine Reduktion immaterieller Konfliktebenen, die als Nebenfolge unvermeidbar einen Verlust materieller Konfliktdimensionen mit sich bringt. Es ist die Aufgabe des Richters, diese Verluste an legislatorischer Schärfe in der Rechtsanwendung wieder auszugleichen, wobei ihm von der jeweiligen Verfassungsordnung – je nach Epoche, Rechtsordnung und Kultur – entweder ein enges oder weites Ermessen zugewiesen wird. Die Rechtsgeschichte ist geprägt von einer unaufhebbaren Oszillation zwischen Formalität und Informalität, deren Balance zu finden jeder Generation aufs Neue aufgegeben ist.12 Der Aufruf Pounds blieb nicht ungehört und wurde mit einiger Verzögerung, dafür aber umso wirkungsmächtiger 70 Jahre später mit der Pound Con-
9 Beispielhaft für die Perspektive der Politik insoweit Leeb, BB 1998, Beilage 10, 3. Zum hierzu kontrastierenden Befund stark zurückgehender Eingangszahlen der Zivilgerichte und dem vanishing trial-Phänomen vgl. eingehend unten S. 56 ff., 78 ff. sowie die Beiträge in dem Sammelband von Höland/Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? Der Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz. Mögliche Ursachen und Folgen (2016). 10 Für das deutsche Recht kommen Mähler/Mähler, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 9, 13 zu demselben Befund und sehen in den systemimmanenten Schwächen des Rechts eine der wesentlichen Ursachen für die Enstehung der moderne ADR-Bewegung: „Mediation … hätte sich freilich nicht entwickelt, würde das traditionelle Rechtssystem für die Konfliktbewältigung unserer westlichen Gesellschaften voll ausreichen. Das hängt auch unmittelbar mit Ungerechtigkeiten zusammen, die systemimmanent im Gesetzessystem liegen und entwicklungsbedingt immer sichtbarer werden.“ 11 „The most important and most constant cause of dissatisfaction with all law at all times is to be found in the necessarily mechanical operation of legal rules. This is one of the penalties of uniformity.” Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 397 (1906). Das Resultat sind, so Pound, willkürliche Regelungen, die den moralischen Vorstellungen des Einzelnen widersprechen. „In consequence, the adjustment of the relations of man and man according to these rules will of necessity appear more or less arbitrary and more or less in conflict with the ethical notions of individuals.” Ebenda. Hervorhebungen durch den Verfasser. 12 „Legal history shows an oscillation between wide judicial discretion on the one hand and strict confinement of the magistrate by minute and detailed rules upon the other hand.” Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 397 f. (1906). So auch Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 40.
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ference beantwortet, die zur Geburtsstunde der modernen ADR-Bewegung werden sollte.13 Auf ihr stellte Harvard Law School-Professor Frank E.A. Sander seine Vision vom Gericht als Multi-Door Courthouse vor: „Alternatively one might envision by the year 2000 not simply a court house but a Dispute Resolution Center, where the grievant would first be channeled through a screening clerk who would then direct him to the process (or sequence of processes) most appropriate to his type of case”.14 Die Pound Conference wurde zum folgenreichen Wendepunkt in der Geschichte des US-amerikanischen Zivilverfahrensrechts und sollte im weiteren Verlauf die Rechtsordnungen weltweit nachhaltig prägen.15 Eine neue Epoche, das ADR-Zeitalter, war angebrochen. Es war angebrochen mit einer Erkenntnis, die, wie wir später sehen werden16, so alt ist wie das Gerichtsverfahren selbst: Es ist die Erkenntnis, dass der Konfliktlösungskapazität des streitigen Zivilprozesses Grenzen gesetzt sind, die in der Natur des Zivilprozesses selbst begründet sind. Und dass das herkömmliche Instrumentarium der Konfliktbeilegung der Ergänzung durch informale Verfahren bedarf.
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So ausdrücklich Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007): „The development of ADR since the 1976 Pound Conference – which is often considered the birth of the modern ADR movement … .“ Vgl. zur Geschichte der ADR-Bewegung Stempel, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 297, 309 ff. (1996); Sander, 2000 J. Disp. Resol. 3 (2000); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Barrett/Barrett, A History of Alternative Dispute Resolution (2004); Menkel-Meadow, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 13; Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 4 ff.; Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007); Hehn, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 77, 89 ff. Aus der deutschsprachigen Literatur vgl. Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 27 ff. 14 Sander, 70 F.R.D 111, 131 (1976). Hervorhebungen durch den Verfasser. Aus der wachsenden Literatur zum Multi-Door Courthouse vgl. nur Stempel, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 297 (1996); Savage/Stuart, 26 Colo. Lawer 13 (1997); Goldberg/Sander/ Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 440 ff.; Weitz, 14 No. 1 Disp. Resol. Mag. 21 (2007). Für empirische Studien bestehender und umgesetzter Multi-Door Courthouse Projekte vgl. Kessler/Finkelstein, 37 Cath. U. L. Rev. 577 (1988); Birner, Das MultiDoor Courthouse (2003); Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005). Zur Rezeption in Deutschland vgl. Greger/Gottwald, ZKM 2016, 84, 85; Wendenburg, ZKM 2013, 9, 22; Francken, NJW 2006, 1103, 1103 ff.; Tochtermann, ZKM 2006, 168, 168 ff.; Scherer, ZKM 2003, 227, 227 ff. Ausführlich hierzu unten S. 505, 730 ff. 15 So stellvertretend für die nahezu einhellige Bewertung der Literatur Stempel, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 297, 304 (1996), der die Pound Conference als „watershed and inaugurating event“ würdigt und bereits für die Folgejahre die breite Akzeptanz der alternativen Streitbeilegung in Rechtswissenschaft und -praxis konstatiert: „the arrival of ADR as a fixed part of the legal establishment can perhaps be most clearly marked as the mid-1980s.“ 16 Vgl. hierzu sogleich unten S. 12 ff.
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Wenden wir den Blick auf die Diskussion in Deutschland, so ist eine ähnliche Entwicklung erkennbar. Die Kritik an der herkömmlichen gerichtsförmigen Austragung von Konflikten, die wohl nie vollständig verstummt ist und die in weitem Umfang bereits früh17, dann immer wieder aufflammend18 die Diskussion bestimmte, hat sich in den letzten Jahrzehnten im Gefolge der aus den USA hinüberwirkenden ADR-Bewegung in einer lebhaften Debatte, zunächst unter dem Stichwort „Alternativen zur Ziviljustiz“, niedergeschlagen.19 Unter dem nunmehr auch legislativen Leitmotiv „Schlichten statt Richten“20 ist die alternative Streitbeilegung zum Dauerthema geworden und Ausgangspunkt eines umfassenden Institutionalisierungsprozesses, der gerade erst begonnen hat. Angestoßen wurde die Diskussion auch hier von der Einsicht, dass der Konfliktlösungskapazität des klassischen Zivilprozesses systembedingt enge Grenzen gesetzt sind und dass das herkömmliche System der Streitbeilegung, das noch weitgehend vom Geist der CPO von 1877 geprägt wird, den Anforderungen an ein umfassendes, modernes Konfliktbeilegungssystem nicht gerecht zu werden vermag.21 Verschärft wird die Debatte durch einen verbreitet diagnostizierten Funktionsverlust des Gesetzesrechts, der mit einem zunehmenden Einfluss gesellschaftlichen Rechts, einer Rematerialisierung und einer Zunahme informaler Entscheidungs- und Steuerungsmechanismen einhergeht.22 Insbesondere bei
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Vgl. nur Levin, DJZ 1912, 376; Levin, DJZ 1915, 870. Für eine frühe systematische Erörterung der richterlichen Pflicht, auf die Erledigung des Prozesses durch Vergleich hinzuwirken, vgl. Levin, Richterliche Prozeßleitung und Sitzungspolizei in Theorie und Praxis (1913), S. 201 ff. 18 Zur Diskussion anlässlich der Emminger Novelle 1924 nur Curtius, JW 1924, 354, 359; v. Hodenberg, JW 1924, 364; Heilberg, JW 1924, 361 und zur richterlichen Vergleichstätigkeit als „Friedensaufgabe“ des Richters Weber, DRiZ 1957, 236; Arndt, NJW 1967, 1585; Stürner, DRiZ 1976, 202; Wolf, ZZP 89 (1976), 260. Vgl. zur historischen Diskussion des obligatorischen Güteverfahrens die eingehenden Untersuchungen von Peters, Gütegedanke (2004), S. 76 ff. und Jansen, Die außergerichtliche obligatorische Streitschlichtung nach § 15a EGZPO (2001), S. 63 ff. 19 Den Ausgangspunkt der jüngeren Debatte markiert im Anschluss an erste rechtssoziologische Untersuchungen – v.a. Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen, Zugang zum Recht (1978) – die vom Bundesministerium der Justiz 1981 initiierte Tagung „Alternativen der Justiz“. Vgl. dazu die Tagungsbände Blankenburg/Klausa/Rottleuthner (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht (1980); Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982); Gottwald/Hutmacher/Röhl/Strempel (Hrsg.), Der Prozeßvergleich (1983) sowie die grundlegende Monographie von Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981). 20 Prütting, JZ 1985, 261 mwN. 21 Vgl. nur Greger, JZ 1997, 1077, 1077 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 16 ff.; Katzenmeyer, ZZP 115 (2002), 51, 61 ff. 22 Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 191 ff.; Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 16 ff. Hierzu näher unten S. 50 ff.
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multipolaren und multidimensionalen Konflikten, in denen viele Beteiligte mit höchst unterschiedlichen Interessen um höchst unterschiedliche Positionen streiten, gerät die gerichtliche Streitentscheidung sehr bald an ihre funktionalen Grenzen.23 Diese Krise des Rechts, die umfassend von Günter Hager untersucht worden ist24, manifestiert sich in vielfältiger Weise: in einem Verlust an Steuerungsfähigkeit des Rechts, in einer Überlastung der Gerichte, die mit der prozessualen Verarbeitung des durch den Materialisierungsschub ausgelösten Konfliktstaus überfordert sind, und in einem Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit, der vor dem Hintergrund immer neuer und differenzierterer Regelungen, die gerade der prozessualen Durchsetzung materieller Gerechtigkeit dienen sollen, umso unverständlicher erscheint.25 2. Die systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses Der von der Rechtssoziologie konstatierte Funktionsverlust des Rechts hat schlagartig die systemimmanenten Grenzen des abstrakt-generellen Gesetzesrechts im Hinblick auf seine Konfliktlösungskapazität in das Blickfeld gerückt. Die Ursache dieser funktionalen Grenzen im Innenleben gerichtlicher Konfliktbewältigung, der innere Mechanismus des gerichtlichen Verfahrens, soll nun in gleichsam mikroskopischer Sicht näher untersucht werden, bevor wir sodann den makroskopischen Bereich der äußeren Bedingungen und Auswirkungen dieses Funktionsverlustes in den Blick nehmen. a) Komplexitätsreduktion durch Verrechtlichung Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit den Konflikten ihrer Mitglieder umgeht, wird ganz wesentlich vom Grad ihrer Differenzierung bestimmt.26 In entwickelten Gesellschaften erfolgt die Konfliktlösung nicht mehr lediglich über multifunktionale Institutionen wie die Familie, den Pfarrer oder den Bür-
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Hierzu bereits Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 393 ff. (1978) sowie ebenda, S. 369: „Adjudication is not a proper form of social ordering in those areas where the effectiveness of human association would be destroyed if it were organized about formally defined ‘rights’ and ‘wrongs.’ Und ebenda S. 397 „ … problems sufficiently polycentric are unsuited to solution by adjudication”. Vgl. auch Ritter, NJW 2001, 3440, 3443 ff. 24 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 16 ff. 25 Ebenda. 26 Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 9 f.
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germeister, sondern durch ein dezidiert für die Beilegung von Konflikten bereitgestelltes, ausdifferenziertes Sondersystem.27 Der Zivilprozess28 ist ein solches differenziertes und autonomes Handlungssystem, das den Konflikt aus der Interaktionsebene der Betroffenen herauslöst und ihn dabei transformiert.29 Dieses System ist durch spezifisch organisations- und verfahrensrechtliche Normen und durch eine gesellschaftlich institutionalisierte Rollentrennung ausdifferenziert.30 Und es verfügt über eine ihm eigene Autonomie, d.h. die Fähigkeit, Austauschprozesse mit der Umwelt durch systemeigene Strukturen und Prozesse zu steuern, indem im gerichtlichen Verfahren selbst die Gesichtspunkte erarbeitet werden, die das weitere Verhalten im Verfahren und vor allem das Ergebnis bestimmen.31 Damit es seine Aufgabe – eine Lösung für den Konflikt anzubieten – erfüllt, muss der Konflikt allerdings zunächst kodiert werden, so dass der Mechanismus des gerichtlichen Verfahrens ihn verstehen und verarbeiten kann. Galtung beschreibt das Gerichtsverfahren als eine Art Maschine, in deren Trichter32 der Konflikt durch Kodierung eingefüttert wird und deren Ergebnis dekodiert werden muss, um es für die Beteiligten nutzbar zu machen.33 Der
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Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 9. Vgl. auch Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 59 ff.; Luhmann, Rechtssoziologie (3. Aufl. 1987), S. 132 ff.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53. 28 Mit der Soziologie des Zivilprozesses haben sich insbesondere Aubert, 7 J. Confl. Resol. 26 (1963); Galtung, 2 J. Peace Res. 348 (1965) und Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969) beschäftigt. Für eine deutsche Übersetzung vgl. Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178 ff. und Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113 ff. Vgl. zum Ganzen auch Röhl, Rechtstheorie 8 (1977), 93, 115 ff.; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese u.a. (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff.; Röhl, SchlHA 1979, 134, 135 ff.; Freund, DRiZ 1981, 221, 223 f.; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 11 ff.; Falke/Gessner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 294; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 460 ff. mwN. Vgl. zur Systemtheorie aus jüngerer Zeit Jochens, Mediation, Systemtheorie & Konstruktivismus (2013); Troja, in: Trenczek/Berning/Lenz (Hrsg.), Mediation und Konfliktmanagement (2013), S. 144 sowie Duss-von Werdt, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 251 ff. 29 Galtung, 2 J. Peace Res. 348 (1965). Vgl. auch Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 59 ff., 69 ff. Zum Begriff des sozialen Handlungssystems, den auch Galtung seiner Untersuchung im Folgenden zugrunde legt, vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 16 ff.; Parsons, The Social System (5. Aufl. 1951), S. 4 f., 543. 30 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 120. 31 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 69, 120. 32 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 115. 33 Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 124 ff., 134 f., 137 ff.
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Konflikt wird durch den Kodierungsvorgang dabei nicht beendet, sondern lediglich transformiert: Er erscheint gleichsam in neuen Kleidern, wird durch die Begrenzungen des Verfahrensrechts und die kontrafaktisch stabilisierten Rollenzuweisungen an die Parteien „domestiziert“ und in den institutionell gesicherten Formen des rechtsförmlichen Verfahrens und unter den Augen des verfahrensleitenden Richters fortgeführt.34 Die Kodierung erfolgt durch komplexitätsreduzierende Verrechtlichung: Um den Konflikt für das Verfahren verarbeitbar zu machen, wird das Recht als vereinfachende Schablone von außen an den komplexen Lebenssachverhalt angelegt und die soziale Realität nach juristischen Relevanzkriterien gleichsam mechanisch in eine normative Struktur gepresst.35 Der Konflikt wird dem Mechanismus angepasst, in einen Metakonflikt transformiert36 und damit überhaupt als Recht thematisiert.37 Dieser Prozess beginnt bereits mit dem Rechtsetzungsakt des Gesetzgebers. In einem ersten Schritt der Antizipation werden mögliche Konflikte zunächst gedanklich vorweggenommen und auf ihre Regelungsbedürftigkeit hin untersucht. Im Rechtsetzungsakt selbst werden diese typisiert und sodann durch Abstraktion normativ verdichtet. Der Prozess der Antizipation ist allerdings bereits defizitär: Eigentlich regelungsbedürftige Konflikte werden nicht erfasst, sondern erst auf der Anwendungsebene durch analoge Anwendung näherungsweise passender Vorschriften einer Regelung zugeführt, denn eine vollständige und lückenlose Antizipation sämtlicher denkbarer Fallkonstellationen ist weder möglich noch aus der Perspektive der Rechtsanwendung überhaupt wünschenswert. Der Mechanismus antizipierender Abstraktion wird daher der tatsächlichen Komplexität realer Lebenssachverhalte kaum gerecht, da er den Konflikt durch normative Überdehnung und Zuweisung einer eigentlich nicht passenden Rechtsfolge typisierend und damit nur näherungsweise zu lösen versucht. Die vom Gesetz für typisierte Fallkonstellationen vorgesehene Rechtsfolge muss zwangsläufig unscharf bleiben. Sie bleibt vage und trifft den aktuellen Sachverhalt nur zum Teil. Unvollkommene Regelungen, die den Interessen der Parteien nicht vollständig gerecht werden, sind der Preis, der für die generelle Geltung abstrakter Normen zu zahlen ist.38 Die eigentliche Kodierung des Konfliktes durch Verrechtlichung erfolgt jedoch auf der Ebene der typisierenden Abstraktion. Aus der Vielzahl denkbarer, antizipierter Konflikte, etwa um die Mangelhaftigkeit einer Kaufsache, wird eine mögliche Konfliktkonstellation ausgewählt und typisierend abstrahiert, 34
Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 139. Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 187; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 11. 36 Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 127 ff. 37 Vgl. hierzu eingehend Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 60 ff. 38 So auch Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 397 f. (1906). Zur Antinomie zwischen Formalität und Informalität vgl. eingehend unten S. 68 ff., 143 ff. 35
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wobei der Rechtskern des Konfliktes gleichsam extrahiert und aus dem ihn umgebenden Sachverhaltsstoff herausgeschält wird. Diesem, auf einen nackten Rechtskern reduzierten Konflikt wird eine spezifische Rechtsfolge zugewiesen. Im Wege der Abstraktion werden allerdings viele für die Parteien bedeutsame Konfliktebenen gleichsam weggeschnitten und gehen für die weitere Behandlung des Konfliktes verloren. Die Folge der Transformation des Konfliktstoffs und seiner Reduzierung auf normativ relevante Punkte ist eine selektive Realitätsverarbeitung, bei der die dem Konflikt zugrunde liegenden komplexeren Ursachen des Streits und die für seine Lösung wie auch für die Beteiligten wichtigen Konfliktebenen weitgehend ausgeblendet werden.39 Relevant ist allein, was subsumptionsfähig ist. Der als Streitgegenstand für das Verfahren verbleibende Konfliktausschnitt bildet allerdings oft gar nicht das eigentliche Konfliktthema. Häufig haben die Parteien das Gerichtsverfahren nur deshalb gewählt, weil es die einzige vom Rechtssystem zur Verfügung gestellte institutionalisierte Form der Streitbeilegung war.40 Der Rechtsstreit wird zum Stellvertreterkonflikt für unaufgearbeitetes, aber nicht justiziables Konfliktmaterial.
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Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 124 ff., 137 ff.; Galtung, 2 J. Peace Res. 348, 356 (1965); Gessner, Recht und Konflikt (1976), S. 4; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 12; Breidenbach, Mediation (1995), S. 50 f.; Katzenmeyer, ZZP 115 (2002), 51, 62. Vgl. zur selektiven Wahrnehmung im Kontext von Konflikten eingehend Bazerman (Hrsg.), Negotiation I (2005), S. 329 ff. (individual biases); Bazerman (Hrsg.), Negotiation II (2005), S. 3 ff. (cognitive biases in negotiation and conflict resolution); Bazerman (Hrsg.), Negotiation III (2005), S. 505 ff. (learning and debiasing); Heen/Richardson, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 35, 37 ff.; Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 47; Bühring-Uhle/ Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff.; Montada/Kals, Mediation (3. Aufl. 2013), S. 76 ff.; Thompson/Lucas, in: Marcus/Deutsch/Coleman (Hrsg.), Handbook of Conflict Resolution (3. Aufl. 2014), S. 255, 255 ff.; Klinger/Bierbrauer, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 109, 118 ff. 40 Zur damit verbundenen Problematik der Verlagerung sozialer Konflikte auf die Gerichte aufgrund der Monopolisierung der Streitbeilegung durch die Justiz vgl. U.S. Chief Justice Warren Burger, Burger, 68 A.B.A. J. 274, 275 (1982): „Remedies for personal wrongs that once were considered the responsibility of institutions other than the courts are now boldly asserted as legal ‘entitlements.’ The courts have been expected to fill the void created by the decline of church, family, and neighborhood unity.” Einen Ausweg bieten Verfahren der alternativen Streitbeilegung, worauf der U.S. Chief Justice in einem Kommentar zum 1. Korintherbrief (1 Kor. 6, 1-8) hinweist: „Paul is making two points: first, he says that the mediation of a mutual friend, such as the parish priest, should be sought before parties run off to the law courts . . . . I think we are too ready today to seek vindication or vengeance through adversary proceedings rather than peace through mediation." Scalia, Christian Legal Society Quartely 8 (1987). Vgl. dazu auch Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 13.
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Die den einzelnen konfliktauslösenden Positionen zugrunde liegenden eigentlichen Interessen der Parteien, die von ihnen durchlebten Emotionen und das empfundene Unrecht werden vom Mechanismus des Gerichtsverfahrens in der Regel nicht erfasst, obwohl sie die Beteiligten hauptsächlich beschäftigen. Sie bleiben mit dem, was sie bewegt, ungehört.41 Der mit der abstrahierenden Rechtsetzung einhergehende Verlust an relevanten Konfliktebenen wird auch auf der Ebene der Rechtsanwendung nicht wieder ausgeglichen. Zwar reichert das Gericht die für sich leeren und sterilen Normen mit dem Tatsachenmaterial des konkreten, zur Entscheidung anstehenden Einzelfalles an und erfüllt sie mit Leben. Doch hat der Gesetzgeber mit der Thematisierung des Rechts dem Richter den Rahmen relevanter Konfliktdimensionen vorgegeben. Die Sichtweise des Richters ist notwendigerweise streng normorientiert und selektiv: Relevant ist der Sachverhalt nur insoweit, als er unter den Tatbestand der anzuwendenden Norm subsumierbar ist. Der von Montesquieu mit der Vorstellung des Richters als dem Mund des Gesetzes42 – aus heutiger Sicht freilich überzeichnend – illustrierte Vorrang des Gesetzes prägt die deutsche Rechtspraxis im Gegensatz zum anglo-amerikanischen Rechtskreis bis heute, auch wenn der richterlichen Rechtsfortbildung im deutschen Privatrecht seit jeher eine zentrale Bedeutung zukommt und dem Richterrecht zunehmend ein höheres Gewicht beigemessen wird.43 Generalklauseln wie etwa § 242 BGB sind zum einen durch ihre normative Ausrichtung, zum anderen schon aufgrund ihres Ausnahmecharakters kaum geeignet, den durch die verrechtlichende Transformation eingetretenen Verlust an Konfliktebenen zu kompensieren.
41 Die Folge ist ein Verlust des Vertrauens der Rechtsunterworfenen in die Justiz. Vgl. hierzu plastisch bereits früh Wengler, NJW 1959, 1708: „Wenn man dem Juristen einen Fall unterbreite, und wenn man ihm alle die Gesichtspunkte vortrage, die man für wichtig halte, so erkläre der Jurist einen großen Teil dieser Gesichtspunkte für unwichtig. Der Jurist eliminiere willkürlich, so empfindet es gerade der akademisch gebildete Laie, Dinge, die, um jetzt einmal juristisch zu sprechen, doch in den Tatbestand hineingehören“. Hierzu Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 12 ff. 42 Montesquieu, De l'esprit des lois, (1748), XI 6: „Mais les juges de la nation ne sont que la bouche qui prononce les paroles de la loi: des êtres inanimés qui n’en peuvent modérer ni la force ni la rigueur.“ Vgl. deutsch Montesquieu/Forsthoff, Vom Geist der Gesetze, Band 1 (1951), S. 225. „Aber die Richter sind … nur der Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht, willenlose Wesen … .“ 43 Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 312 mwN.; Kriele, ZRP 2008, 51. Eingehend dazu Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts (3. Aufl. 1974); Kriele, Rechtsgewinnung (2. Aufl. 1976).
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b) Transformation in einen Metakonflikt Die Folgen einer allein auf rechtliche Positionen fokussierten Konfliktbehandlung sind erheblich. Der Konflikt ändert durch die verrechtlichende Transformation seinen Charakter. Ausgetragen wird nicht mehr der ursprüngliche Sachkonflikt. Der Rechtsstreit, der vor Gericht geführt wird, ist ein neuer, abgeleiteter, durch einen Richter entscheidbarer Metakonflikt, der über die Klage als Transformationsmechanismus zwischen Konflikt und Metakonflikt in Gang gesetzt wird.44 Durch die Verrechtlichung wird der ursprüngliche Verteilungsund Interessenkonflikt in einen Wertkonflikt, in einen Dissens über einen bestimmten in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt, über die Anwendbarkeit von Rechtsvorschriften oder beides umformuliert.45 Die hinter den rechtlichen Positionen stehenden Interessen der Parteien, d.h. ihre tatsächlichen Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche, sind für die Lösung des Konfliktes nun nicht mehr relevant.46 Es sind aber gerade die hinter den geltend gemachten Positionen stehenden eigentlichen Interessen der Parteien, die für eine kausale und nachhaltige Lösung des Konfliktes von entscheidender Bedeutung sind.47 Zwar finden Interessen ihren Ausdruck regelmäßig in der Formulierung rechtlicher Ansprüche. Die Übersetzung der Interessen in rechtliche Positionen durch verrechtlichende Komplexitätsreduktion und typisierende Abstraktion führt jedoch notwendigerweise zu einer Verengung und Verkürzung, oft auch zu einer Verfremdung und Verzerrung der eigentlichen Interessen der Beteiligten. Der Schritt von den (Rechts-)Positionen hin zu den Interessen wird daher in der Verhandlungstheorie als wesentlich für eine nachhaltige Konfliktlösung angesehen.48 Er erlaubt
44
Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 139. Aubert, The Hidden Society (1965), S. 98 f.; Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186. Vgl. plastisch auch Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 104: „Vor Gericht geschieht diese Umstrukturierung in der Form, daß der Interessenkonflikt gleichsam sistiert und nur noch als Dissens über Tatsachen oder Rechtsfragen weiterbehandelt wird.“ 46 Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191. Zum Begriff der Interessen vgl. grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41, der Interessen als „silent movers behind the hubbub of positions“ beschreibt: „Your position is something you have decided upon. Your interests are what caused you to so decide.“ Ähnlich auch Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27, 30 (2000): „Interests are the underlying and inescapable human motivators that press us into action.” Vgl. zum Ganzen auch Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff. 47 Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41. 48 Vgl. grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 40 ff. 45
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den Ausweg aus dem Nullsummenspiel des binären Schematismus gerichtlicher Alles-oder-Nichts-Entscheidungen durch die Realisierung wertschöpfender, pareto-optimaler Kooperationsgewinne im Wege der Verhandlung.49 Diese sind indes nur in dem durch Tausch unterschiedlich gewichteter Interessen ermöglichten tradeoff, nicht jedoch im starren Korsett der sich naturgemäß gegenseitig ausschließenden rechtlichen Ansprüche denkbar. Im Gerichtsverfahren wird der Konflikt indes durch Verrechtlichung in exakt die Gegenrichtung, von Interessen hin zu Rechtspositionen verformt. Zwar ist die Berücksichtigung der Parteiinteressen dem Zivilrecht durchaus vertraut und teilweise, etwa in § 573 Abs. 2 BGB, sogar gesetzlich geregelt. Doch handelt es sich hierbei begrifflich um typisierte, rechtliche Interessen meist wirtschaftlicher Natur. Die diesen „Interessen“ im Rechtssinn zugrunde liegenden tatsächlichen Bedürfnisse spielen im Rechtsstreit oft keine Rolle.50 So stellt etwa die Vorschrift des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB zwar klar, dass ein berechtigtes Interesse des Vermieters an der Beendigung des Mietverhältnisses insbesondere dann vorliegt, wenn der dieser die Räume als Wohnung für sich, seine Familienangehörigen oder Angehörige seines Haushalts benötigt. Doch betrifft dieses berechtigte „Interesse“ lediglich das Tatbestandsmerkmal einer rechtlichen Position. Fragt man nach den eigentlichen Interessen des Vermieters, so impliziert dies – wie in dem berühmten, aus der Verhandlungstheorie bekannten Orangenbeispiel51 – die Frage nach dem „Warum“. Auf der Ebene der Interessen kann sich dann beispielsweise ergeben, dass der Vermieter lediglich an irgendeiner preiswerten Wohnung für seine studierende Tochter interessiert ist, der bisherige Mieter aber an ebendieser Wohnung Gefallen gefunden hat und deshalb auch bereit ist, dem Vermieter sein gesteigertes Affektionsinteresse im Wege eines höheren Mietzinses zu vergüten. Trotz identischer rechtlicher Positionen – beide Parteien erheben letztendlich Anspruch auf dieselbe Wohnung – lässt sich das Verteilungsproblem dank unterschiedlicher zugrunde liegender Interessen mühelos zum beiderseitigen Vorteil lösen. Durch die Umwandlung im Wege der Verrechtlichung wird der ursprüngliche Konflikt nicht nur inhaltlich transformiert, sondern erhält auch strukturell ein neues Gepräge: Die grundlegenden Interaktionsbeziehungen wandeln sich von einer Dyade (Zweierbeziehung) in eine Triade (Dreierbeziehung).52 Dies hat wiederum erhebliche Auswirkungen auf die inhaltliche Ausrichtung des 49 Dazu auch Breidenbach, Mediation (1995), S. 72 ff.; Raiffa, The Art and Science of Negotiation (1982), S. 131 ff., 145 f.; Lax/Sebenius, The Manager as Negotiator (1986), S. 88 ff. Zum sog. Verhandlungsdilemma vgl. ebenda, S. 154 ff. Zur Problematik der Nullsummenspiele vgl. unten S. 17, Fn. 59. 50 Zu den Bedürfnissen bzw. tatsächlichen Interessen der Parteien als Streitbehandlungsgegenstand der Mediation vgl. unten S. 168 sowie als Objekt distributiver Gerechtigkeit vgl. unten 212. 51 Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 57. 52 Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 192 ff.
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Konfliktes, denn zwischen beiden Dimensionen besteht eine funktionale Wechselwirkung. Der Ausgangskonflikt wird nicht nur von einem Interessenin einen Rechtskonflikt transformiert, mit der Folge, dass es auf einen Interessenausgleich im Sinne einer Harmonisierung zweier kontrastierender Programme von Bedürfnissen und Zukunftsplänen nicht länger ankommt. Durch die Verlagerung der Entscheidungsgewalt auf den neutralen Dritten ist darüber hinaus der Weg zu einem Interessenausgleich grundsätzlich versperrt. Solange es um den Ausgleich eines reinen Interessenkonfliktes geht, kann kein Außenstehender, keine dritte Person für sich allein zu einer befriedigenden Lösung kommen.53 Sie bedarf des intensiven kommunikativen Austausches mit den Parteien. Die Interessen müssen durch gezielte Fragen aus den Positionen herausgeschält werden.54 Gerade dies ist dem Richter in der Regel aber verwehrt. Aufgrund seiner Bindung an Recht und Gesetz gem. Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG darf er sein Urteil nur auf entscheidungserhebliche, d.h. normrelevante Erwägungen stützen. Auch den Parteien ist im Zivilprozess nach § 130 Nr. 3 ZPO aufgegeben, den Sachvortrag vor dem Hintergrund des geltend gemachten Rechtsanspruchs zu formulieren. Die eigentlichen Interessen der Beteiligten spielen als nicht normrelevant im Gerichtsverfahren grundsätzlich keine Rolle. Verhandelt wird ein Metakonflikt über Rechte. Der rechtliche Entscheidungsmechanismus ist im Gegenteil gerade darauf ausgerichtet und verobjektiviert, dass eine Lösung des Rechtsstreits durch jeden Außenstehenden, der die Regeln kennt, ohne jegliche Kenntnis der eigentlichen Interessen der Parteien im Rahmen der gegebenen normativen Struktur möglich ist.55 Durch Subsumption des Sachverhalts unter eine Rechtsnorm kann jeder Dritte zu einem den Streit formell beendenden Urteil kommen. Aufgabe des Richters ist nicht, eine Beilegung des Konflikts durch Interessenausgleich herbeizuführen oder die Parteien zu versöhnen, sondern die Rechtslage festzustellen und autoritativ zu entscheiden, wer
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Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191. Dies kann sowohl in Dyaden als auch in Triaden durch spezielle Fragetechniken (z.B. offene Fragen, Looping, Rollenwechsel etc.) geschehen, vgl. hierzu Fisher/Kopelman/ Schneider, Beyond Machiavelli (1994), S. 32 ff.; Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27 (2000); Stone/Patton/Heen/Fisher, Difficult Conversations (2000), S. 166 ff.; Kovach, Mediation (3. Aufl. 2004), S. 180 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 144 f., 151 ff., 241 ff.; Kessen, in: Trenczek/Berning/Lenz (Hrsg.), Mediation und Konfliktmanagement (2013), S. 343 ff.; Kessen/Troja, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 329, 339 ff. 55 Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191. 54
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von ihnen im Recht ist.56 Hieraus ergeben sich für das Verständnis der konsensualen Streitbeilegung im Verhältnis zum streitigen Zivilprozess entscheidende Konsequenzen: (1) Eine an den eigentlichen Parteiinteressen orientierte Konfliktlösung ist im Zivilprozess als normorientierten Drittentscheidungsverfahren nur begrenzt möglich, nämlich nur dann, wenn diese mit den von den Parteien geltend gemachten Rechtspositionen identisch sind. Wie die Verhandlungstheorie zeigt, ist dies in der Regel jedoch nicht der Fall. Es gibt deutlich mehr und andere Interessen als jene, die zu subjektiven Rechtspositionen verdichtet sind.57 Aus diesem Grund ist auch der Interessenschutz erheblich breiter als der Rechtsschutz.58 Zudem ist eine Realisierung von Kooperationsgewinnen im Gerichtsverfahren a priori ausgeschlossen. Der binäre Schematismus gerichtlicher Entscheidung kennt nur Gewinner oder Verlierer.59 Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass im Zivilprozess die Möglichkeit des teilweisen Obsiegens und teilweisen Unterliegens besteht, vgl. § 92 ZPO. Denn das (teilweise) Obsiegen der einen bildet gleichsam die Kehrseite des (teilweisen) Unterliegens der anderen Partei. Bei der Entscheidung durch gerichtliches Urteil handelt es sich damit typischerweise um ein Nullsummenspiel, nicht um eine echte win-winLösung. (2) Eine sachgerechte Konfliktbewältigung setzt in der Regel nicht nur die Kenntnis einiger, sondern im Idealfall aller relevanten Aspekte, Informationen und Konfliktebenen sowie ihrer gegenseitigen Wechselwirkungen voraus. Es ist gleichsam ein Eintauchen in die spezifische Lebenssituation der Parteien
56 Eckhoff, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie (2. Aufl. 1971), S. 243, 258. 57 Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421, 430. 58 Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421, 430. 59 Vgl. hierzu Schelling, The Strategy of Conflict (1980), S. 83 ff.; Breidenbach, Mediation (1995), S. 71 ff. Wird die für Zivilprozesse berechtigte Annahme, Konflikte seien spieltheoretisch grundsätzlich als Nullsummenspiele einzuordnen, verallgemeinernd auch auf nicht-rechtliche Konfliktebenen übertragen, kann es zur Blockade sonst ohne weiteres möglicher Einigungen kommen (Nullsummenmythos – zero-sum bias). Vgl. für kognitionspsychologische Untersuchungen, die eine entsprechende Tendenz empirisch nachgewiesen haben Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990) („People frequently fail to attain readily available and mutually beneficial agreements in negotiation.“); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 102, 116 (1990) („a substantial number of negotiators fail to realize when they have interests that are completely compatible with those of the other party and settle for suboptimal agreements“); Thompson/Hrebec, 120 Psychol. Bull. 396, 404 ff. (1996) („People sometimes settle for less favorable outcomes even when they realize they have compatible interests.“). Vgl. hierzu aus dem deutschen Schrifttum nur Klinger/Bierbrauer, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 109, 128 f.; Trötschel/Majer/Höhne, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 163, 179 f.
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erforderlich. Dies kann bis zu einem bestimmten Grad durch Kommunikation erreicht werden. Das intuitive Kommunikationsverhalten des Menschen ist in dieser Hinsicht allerdings defizitär. Die Verhaltenspsychologie hat die Schwierigkeit des Perspektivwechsels nachgewiesen.60 Der durch einen Perspektivwechsel erlangte Erkenntnis- und Verständnisgewinn muss notwendigerweise bruchstückhaft bleiben, da der Konflikt in der Gesamtheit seiner Aspekte, seiner Zusammenhänge und Dimensionen als Lebenswirklichkeit nur von den Parteien selbst vollständig erfasst werden kann. (3) Ein umfassender Interessenausgleich setzt voraus, dass der mit dem Konflikt verwobene Lebenssachverhalt in der Gesamtheit all seiner Facetten erfasst wird. Dies würde im Idealfall auf eine Personenidentität des Entscheidenden mit den Parteien hinauslaufen. An ebendiesem Punkt setzen die Verfahren der alternativen Streitbeilegung an, denn was im herkömmlichen streitigen Gerichtsverfahren ausgeschlossen ist, wird im ADR-Verfahren – unter Einschluss des Prozessvergleichs – nicht nur möglich, sondern ist hier zwangsläufige, systembedingte Konsequenz: Die Verlagerung der Entscheidungsgewalt vom neutralen Dritten auf die Parteien. Diese Erkenntnis hat weitreichende Auswirkungen. Sie liefert nicht nur eine dogmatische Herleitung und Legitimation für die privatautonomen Entscheidungsstrukturen der verschiedenen Methoden alternativer Streitbeilegung, sondern vermag auch die ungebrochene Bedeutung konsensualer Konfliktlösungsmechanismen im Wandel der Zeiten zu erklären. Und auch das Primat der konsensualen Verfahren im Kontinuum der unterschiedlichen Streitbeilegungsverfahren und hier insbesondere der Mediation, das Prinzip der gestaffelten Subsidiarität als Grundlage einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre hat hier seinen Ursprung.61 Sie weist damit zugleich einen Ausweg aus der von der Rechtssoziologie konstatierten Krise des Rechts, die durch Rückgabe des Konfliktes an die Parteien zur Selbstregulierung aufgelöst werden kann.62
60 Vgl. zur Problematik der Wahrnehmungsverzerrungen, insbesondere der selektiven Wahrnehmung Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff.; Montada/Kals, Mediation (3. Aufl. 2013), S. 76 ff.; Thompson/Lucas, in: Marcus/Deutsch/Coleman (Hrsg.), Handbook of Conflict Resolution (3. Aufl. 2014), S. 255, 255 ff.; Klinger/Bierbrauer, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 109, 118 ff. Zur technischen Umsetzung des Perspektivwechsels im Mediationsverfahren vgl. nur Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation (2. Aufl. 2011), S. 159 ff.; Gläßer, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 357, 382 ff. 61 Vgl. dazu eingehend unten S. 110 f., v.a. Fn. 23, 735 ff., 738 ff. Hierzu auch Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32, 41 (2006); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 600 (2007). 62 So Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 39.
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c) Retrospektivität Eine wesentliche Beschränkung der autoritativen Konfliktbewältigung durch gerichtliches Urteil liegt in ihrer Vergangenheitsbezogenheit. Maßstab für die Lösung des Konfliktes sind regelmäßig63 nicht etwa die Interessen und damit die Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen der Parteien für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft, sondern stattdessen ein enger Ausschnitt aus der Vergangenheit.64 Dies hat für den Konflikt und seine Lösung erhebliche Konsequenzen. Zum einen wird den Parteien eine wertende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aufgedrängt, obwohl sie für die Lösung des konkreten Konfliktes ohne Bedeutung ist und die Parteien an ihr im Hinblick auf den Erhalt der Beziehung zueinander oft nicht mehr rühren wollen. Durch die Fixierung auf die retrospektive Bewertung eines isolierten Sachverhalts, dessen Feststellung als Tatbestandsvoraussetzung für die gerichtliche Entscheidung notwendig ist, wird es ihnen verwehrt, die Vergangenheit zu ignorieren und „die Toten ihre Toten begraben“65 zu lassen. Dies allein wäre noch nicht problematisch und im Hinblick auf eine kausale, die Wurzeln des Konfliktes berücksichtigende Aufarbeitung im Einzelfall sogar wünschenswert, wenn es nicht den Blick auf die für die Parteien in erster Linie relevante Zukunftsgestaltung verstellen würde.66 Die Parteien sind nämlich durch die Retrospektivität gerichtlicher Konfliktbewältigung im Kerker des Vergangenen gefangen und der richtenden Gewalt des Gesetzes ausgeliefert, ohne dass ihnen die selbstbestimmte Gestaltung einer neuen, vom Vergangenen unbelasteten Zukunft ohne weiteres möglich ist. Die von den Parteien im Rahmen des Rechtsstreits eingenommenen Positionen, in die sie aufgrund des binären und kontradiktorischen Charakters des Verfahrens gezwängt werden, stehen einem kooperativen, auf die Gestaltung der Zukunft ausgerichteten Verhandeln entgegen.67 Mit der Feststellung eines Rechtsverstoßes in der Vergangenheit, der Zuweisung von Schuld, der Bestimmung
63 Eine Ausnahme bilden etwa familiengerichtliche Entscheidungen, bei denen das Kindeswohl zu berücksichtigen ist (z.B. nach § 1671 BGB) sowie Entscheidungen über Unterhaltsleistungen nach den §§ 1601 BGB ff. 64 Vgl. hierzu Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 194 ff.; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 16 f.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 102. 65 So Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191 unter Verweis auf Mt. 8, 22 und Lk. 9, 60. 66 Zur Bedeutung der Zukunftsorientierung für eine effektive Konfliktbewältigung vgl. auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 24, 32. 67 Die Fixierung im Positionendenken wird von der Verhandlungsforschung einmütig als das zentrale Hindernis für eine interessengerechte Beilegung von Konflikten angesehen. Vgl. hierzu grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41 ff. sowie Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 288 ff.
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eines Siegers und eines Verlierers68 wird das Trennende zementiert, ohne dass die Konsequenzen, die sich aus den verschiedenen alternativen Lösungen ergeben können, berücksichtigt würden.69 Dem Richter ist eine Folgenabschätzung in der Regel verwehrt, er ist an die sich aus dem Gesetz ergebenden typisierten Rechtsfolgen gebunden. Gerichtliche Entscheidungen wirken damit beziehungsschädigend und sind wenig geeignet, Dauerbeziehungen zu regeln, insbesondere, wenn es um die Verpflichtung zu wiederkehrenden Leistungen wie z.B. Unterhaltsverpflichtungen und Rentenzahlungen geht. Hier sind durch eine Anpassung gem. § 323 Abs. 1 ZPO weitere Konflikte vorprogrammiert, die durch gut durchdachte Vergleichsvereinbarungen vermeidbar wären. d) Binärer Schematismus Eine solche Konfliktbewältigung durch einvernehmlichen Vergleich vermeidet zugleich die harten Folgen richterlicher Alles-oder-Nichts-Entscheidungen, des binären Schematismus des Rechts,70 der in der Logik des Gesetzes selbst begründet ist: Ein Vertrag ist entweder zustande gekommen oder nicht, ein Ver-
Aus dem deutschen Schrifttum vgl. nur Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. Instruktiv hierzu das klassische Orangenbeispiel bei Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 57; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff.; Haft, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 99, 104 ff. 68 Zum teilweisen Obsiegen vgl. oben S. 18. 69 Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 17. 70 So plastisch Luhmann, in: Asmussen/Pawlik (Hrsg.), Material über Zukunftsaspekte der Rechtspolitik (1976), S. 67, 69; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. Kritisch gegenüber der Argumentation Luhmanns dagegen Kaupen, in: Blankenburg/Klausa/Rottleuthner (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht (1980), S. 113, darauf hinweisend, dass Luhmann „das Problem der Auseinandersetzung über die Legitimität von Verhalten … mit der in ein binäres Schema gezwängten Selektionsofferte unseres ‚modernen‘ Rechts“ vermischt. Vgl. zur Problematik auch Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Stürner, DRiZ 1976, 202, 203; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff.; Röhl, SchlHA 1979, 134, 138; Stürner, JR 1979, 133, 135; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 18 ff.; Falke/Gessner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 294 ff.; Strecker, DRiZ 1983, 97, 100 f.; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 476; Risse, BB 1999, Beilage 9, 1, 2; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 48; Haft, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 99, 106. Aus der US-amerikanischen Literatur vgl. nur Coons, 58 NW. U. L. Rev. 750, 767 ff., 787 ff. (1964); Eisenberg, 89 Harv. L. Rev. 637, 654 ff. (1976); McEwen/Maiman, 33 Maine Law Rev. 237, 253 (1981); Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1, 7, 18 (1991); Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 361 f. (2005).
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halten rechtmäßig oder rechtswidrig, ein Sachverhalt erwiesen oder nicht, niemals aber beides zugleich.71 Die binäre Struktur gerichtlicher Entscheidungen, das starre Korsett des Rechts, das zur Lösung des jeweiligen Konfliktes nur einen begrenzten Vorrat an schablonenhaften, standardisierten Rechtsfolgen zur Verfügung stellt, vermag den Interessen der Beteiligten und den Besonderheiten des Einzelfalles in seiner Komplexität wie auch den Unwägbarkeiten des Verfahrens in der Regel nicht gerecht zu werden.72 Dies wirkt sich sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenebene aus: Zum einen wird der Konflikt im Wege der Subsumption einem als einschlägig erkannten Tatbestand zugewiesen, obwohl die Sachverhaltsfeststellung oft nur auf Wahrscheinlichkeitsschätzungen oder der Anwendung von Beweislastregeln beruht.73 Die Folge sind nicht selten unrichtige Urteile zu irrealen Sachverhalten mit oft unbilligen Ergebnissen.74 Verstärkt wird dieser Prozess durch die beschränkte Überprüfbarkeit gerichtlicher Entscheidungen durch das Revisionsgericht, das nach § 545 Abs. 1 ZPO keine eigenen Feststellungen treffen darf: Der Prozessstoff entfernt sich dadurch mit zunehmendem Verfahrensaufwand immer weiter vom realen Sachverhalt.75 Darüber hinaus werden auf der Rechtsfolgenseite aufgrund der geringen Sensibilität des gerichtlichen Konfliktlösungsmechanismus Probleme mit einer erheblichen Variationsbreite der gleichen, von vornherein festgelegten und typisierten Lösung zugeführt.76 Das gerichtliche Verfahren dient lediglich dazu, eine zuvor katalogisierte Lösung aufzufinden. Die Erarbeitung einer gemeinsamen, auf den Einzelfall zugeschnittenen Lösung durch die Beteiligten erlaubt es dagegen nicht.77 Aus spieltheoretischer Perspektive liegt ein Nullsummenspiel vor, bei
71 Falke/Gessner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 294. 72 Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 294. Deutlich wird dies insbesondere im deutschen Schadensersatzrecht bei der Anwendung des Prinzips der Totalreparation nach § 249 Abs. 1 BGB, die im Einzelfall zu auch verfassungsrechtlich unangemessenen Ergebnissen führen kann. Vgl. hierzu Bartelt, Beschränkung des Schadensersatzumfangs durch das Übermaßverbot? (2004), S. 135 f., 199 mwN. Weitere anschauliche Beispiele bei Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963) sowie Strecker, DRiZ 1983, 97, 100 f. 73 So ist insbesondere die generelle Umkehrung der Feststellungslast im Arzthaftungsrecht gerade wegen ihres abstrakt-generellen Charakters und des daraus folgenden Allesoder-Nichts-Prinzips als ein zu „grobschlächtiges Instrument“ kritisiert worden, Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß (1997), S. 212; Laumen, NJW 2002, 3739, 3744. 74 So Greger, JZ 1997, 1077, 1082. 75 Anschaulich hierzu Greger, JZ 1997, 1077, 1082. 76 Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 137. 77 Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 108. Hoffmann-Riem verortet die Ursache für die Abbildung von Rechtskonflikten in Wenn-Dann-
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dem der Gewinn der einen die Kehrseite des Verlustes der anderen Partei bildet. Kreative Lösungen, die eine Realisierung von Kooperationsgewinnen und ein den Interessen beider Seiten dienendes, möglichst pareto-optimales Ergebnis fördern (win-win-Lösung), sind dadurch denknotwendig ausgeschlossen.78 Die von § 91 ZPO vorausgesetzte Möglichkeit des teilweisen Obsiegens löst dieses Dilemma nur scheinbar, denn es bleibt bei einem Verteilungsproblem: Die eine Partei obsiegt nur in dem Maße, in dem die andere Partei unterliegt. Der begrenzte „Wertkuchen“ wird im Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens lediglich neu verteilt, nicht jedoch wertschöpfend vergrößert. Besonders deutlich wird die Problematik bei jenen Konflikten, die der USamerikanische Prozessualist und Rechtsphilosoph Lon L. Fuller79 im Anschluss an den ungarischen Chemiker und Philosophen Michael Polanyi80 polyzentrische Konflikte nennt: Hierbei handelt es sich um multipolare und multidimensionale Konflikte, die durch sich wechselseitig beeinflussende Variablen miteinander in einer Weise verflochten sind, dass die Veränderung der einen zu einer direkten Veränderung einer anderen Variablen führt, was sich wiederum auf weitere von der letzten Variable abhängige Faktoren auswirkt.81 Derart komplexe Systeme wechselseitiger Abhängigkeit, die sich dem „eindeutigen Code von Recht und Unrecht“82 entziehen, sind im gerichtlichen Verfahren juristisch kaum mehr beherrschbar.83 Der schematisierende Mechanismus der richterlichen Entscheidung ist mit Konflikten dieser Komplexität regelmäßig überfordert. Die schematisierende Härte gerichtlicher Alles-oder-Nichts-Entscheidungen ist insbesondere auch dann problematisch, wenn es um soziale Dauerbeziehungen geht. Durch die
Beziehungen im linearen Denkmodell von Rechtsnormen, das von klaren Kausalitäten ausgeht und weder Zwischen- noch Netzwerklösungen kennt. Hoffmann-Riem, Modernisierung von Recht und Justiz (2001), S. 63 f. 78 Zur Problematik der Nullsummenspiele vgl. oben S. 17, Fn. 59. 79 Fuller, 54 Am. Soc'y Int'l L. Proc. 1, 2 ff. (1960); Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 393 ff. (1978). 80 Polanyi, The Logic of Liberty (1951), S. 170 ff. 81 Fuller hat die grundlegende Struktur polyzentrischer Probleme plastisch mit der wechselseitigen Verknüpfung und Interdependenz der verschiedenen Teile eines Spinnennetzes verglichen: „We may visualize this kind of situation by thinking of a spider web. A pull on one strand will distribute tensions after a complicated pattern throughout the web as a whole. Doubling the original pull will, in all likelihood, not simply double each of the resulting tensions but will rather create a different complicated pattern of tensions. This would certainly occur, for example, if the doubled pull caused one or more of the weaker strands to snap. This is a ‚polycentric‘ situation because it is ‚many centered‘ – each crossing of strands is a distinct center for distributing tensions”. Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 394 (1978). 82 So plastisch Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 54. 83 Eingehend zum Problem polyzentrischer Konflikte als Anwendungsbereich des Mediationsverfahrens unten S. 51.
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
Thematisierung des Rechts wird die eigentliche Ursache des Konflikts in der Regel nicht behoben, sondern lediglich in einen stellvertretenden Metakonflikt und damit in ein Problem des Gewinners und Verlierers umgewandelt. Die Verrechtlichung des primären Interaktionssystems hat aus der Perspektive der Kommunikationstheorie einen weiteren gravierenden Nebeneffekt, auf den Luhmann hingewiesen hat: Wer sich durch Aufwerfen der Rechtsfrage einer inhaltlichen Auseinandersetzung entzieht und auf Recht als etwas objektiv Feststehendes verweist, die Vorschriften für sich sprechen lässt und diese unter dem Anschein einer Sachlichkeit zitiert, die nur schwer widerlegt oder bestritten werden kann, macht der anderen Partei deutlich, dass man auf die Kommunikation des anderen und seine eigentlichen Motive, auf das, was ihn bewegt, überhaupt nicht einzugehen bereit ist.84 Er schneidet den Prozess der einvernehmlichen Konsensfindung mit der Berufung auf einen scheinbar neutralen binären Formalismus, auf die Entscheidung einer fernstehenden Macht ab, die mit der interaktionell-präsenten, ausspielbaren Verhandlungsmacht der Beteiligten in keinem Zusammenhang steht.85 Wer in dieser Form Recht zu haben beansprucht, braucht nicht zu kommunizieren und sich nicht einmal auf den Streit als solchen einzulassen.86 Insbesondere Interaktionssysteme, die durch soziale Näheverhältnisse oder Dauerbeziehungen geprägt sind, werden eine solche Thematisierung des Rechts nur schwer verkraften.87 e) Eskalation Das Gerichtsverfahren prägt das Verhalten der Parteien nachhaltig hin zu aggressiven Handlungsmustern und fördert damit die Eskalation des Konfliktes.88 Die latente Aggressivität des Prozessverhaltens kommt darin zum Ausdruck, dass sich, wie Greger plastisch formuliert, die Parteien „als Kampfparteien gegenübertreten, daß mit der Klageschrift sozusagen der Fehdebrief zugestellt wird, in den Schriftsätzen sodann die Fronten aufgebaut, mit allen Mitteln der
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Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 62 f. Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 62. 86 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 62. 87 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 62; v. Ihering, Der Kampf um's Recht (1872), S. 62 f.; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 19. 88 Zur eskalierenden Dynamik von Konflikten eingehend Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58; Mischel/Desmet/Kross, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 294, 305 f.; Pruitt, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 849; Glasl, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 67, 67 ff.; Klinger/Bierbrauer, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 109, 134 ff. 85
I. Rechtstheorie: Die Grenzen gerichtlicher Streitentscheidung
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Prozeßstrategie Hinterhalte errichtet, Überraschungsangriffe gestartet, Nebelkerzen gezündet und Nebenkriegsschauplätze eröffnet werden, daß selbst nach der gerichtlichen Entscheidung des Streites der Kampf in weiteren Runden fortgesetzt werden kann – bis schließlich der endgültige Verlierer feststeht (der dann für das ganze Scharmützel Reparationszahlungen leisten muß, § 91 ZPO).“89 Leitbild ist das Kampfmodell als Auseinandersetzung um Recht oder Unrecht, der Iheringsche „Kampf ums Recht“90 der sich vor Gericht im freien Kräftespiel messenden Parteien, in dem derjenige obsiegt, der geschickter, klüger oder vielleicht sogar skrupelloser vorgeht als sein Gegenüber.91 Das rationale Ringen um eine interessengerechte und faire Lösung wird verdrängt durch verselbständigte und reflexartige „Angriffs- und Verteidigungshandlungen“, bei denen es nicht mehr um den eigentlichen Konflikt, sondern nur noch darum geht, aus dem Prozess als abgeleitetem Metakonflikt als Sieger hervorzugehen.92 Ziel ist nicht ein faires Ergebnis, sondern der Prozessgewinn um jeden Preis, für den das Verfahren häufig durch Versuche der Manipulation der übrigen Beteiligten einschließlich des Richters instrumentalisiert wird.93 Die Grenzen des gerichtlichen Verfahrens werden vor allem mit Blick auf die Rolle der Eskalation in der Konfliktgenese deutlich. Konflikte entwickeln sich spiralförmig von niedrigen hin zu höheren Eskalationsstufen. Konfliktbewältigung sollte neben der Konfliktprävention daher vor allem auf die Hemmung der Eskalation und eine möglichst frühzeitige Beilegung des Konfliktes gerichtet sein. Hochgradig eskalierte Konflikte sind nicht nur wesentlich schwerer zu lösen. Sie neigen auch dazu, krebsartig weitere Tochterkonflikte hervorzubringen, die dann ebenfalls der Bewältigung bedürfen und darüber hinaus eskalierend auf den Mutterkonflikt zurückwirken. Die Mechanismen zur Konfliktlösung sollten daher die Natur des Konfliktes adäquat abbilden. Sie müssen hemmend auf den Konflikt einwirken und zudem in einem möglichst frühzeitigen Eskalationsstadium greifen, um zu verhindern, dass sich der Konflikt in immer höhere Eskalationsstufen „aufschaukelt“ und eine Eigendynamik entwickelt, die nur noch schwer beherrscht werden kann. Betrachtet man vor diesem Hintergrund das herkömmliche gerichtliche Zivilverfahren, so wird deutlich, dass es den Anforderungen an eine hemmende, deeskalierende und möglichst frühzeitige Konfliktlösung kaum gerecht wird. Statt frühzeitig vorbeugend greift es lediglich nachsorgend, kurierend und zudem erst in einem vergleichsweise späten Eskalationsstadium ein, wenn der 89
Greger, JZ 1997, 1077, 1078 f. v. Ihering, Der Kampf um's Recht (1872), S. 11, 45. 91 Greger, JZ 1997, 1077, 1078 f. 92 Zum „character contest“ als Metakonflikt eingehend Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff. Vgl. dazu auch Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 sowie unten S. 24 ff. 93 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 48. Vgl. auch Brazil, 3 J. Legal Prof. 107, 109 ff., 114. ff. (1979); Schiltz, 52 Vand. L. Rev. 871, 906 ff. (1999). 90
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Streit „reif“ für die gerichtliche Auseinandersetzung ist. Statt hemmend und deeskalierend wirkt das Ingangsetzen eines Gerichtsverfahrens im Gegenteil streitfördernd und eskalierend. Das streitige gerichtliche Verfahren trägt damit selbst dazu bei, dass sich ein bislang eher auf einem niedrigen Eskalationsniveau stagnierender Streit zu einem ernsthaften Konflikt verschärft. Im deutschen Verfahrensrecht herrscht damit auch prozessual das Alles-oder-Nichts-Prinzip: Der Rechtsuchende hat lediglich die Wahl, den Konflikt entweder auf sich beruhen zu lassen oder sogleich zur schärfsten Waffe, der Einleitung eines Zivilprozesses durch Klageerhebung, zu greifen. Das Defizit wird überdeutlich: Nicht nur ist die Auswahl an Instrumenten zur Konfliktbeilegung, die von der Rechtsordnung bereitgestellt werden, erheblich begrenzt. Das zur Auswahl stehende Instrumentarium ist zeit- und kostenintensiv und zugleich auf die schärfste und eskalierendste prozessuale Waffe reduziert. Weniger eingriffsintensive Verfahren werden vom Justizsystem kaum zur Verfügung gestellt. Eine Alternative bieten Verfahren der konsensualen Streitbeilegung, insbesondere die Mediation, die nicht nur deeskalierend wirken, sondern den Streit bereits in einem niedrigen Stadium der Eskalation aufgreifen. Ihre Vorteile verhalten sich zu den Schwächen des gerichtlichen Verfahrens kongruent.94 Sie erleichtern wesentlich den Erhalt der Beziehungen zwischen den Parteien und stärken das Vertrauen in die Bereitschaft des jeweiligen Konfliktpartners zur tatsächlichen Beilegung des Konfliktes. f) Kontradiktorischer Rollenzwang Die Verrechtlichung des Konfliktes hat allerdings noch sehr viel weitergehendere, subtil wirkende, aber gleichwohl gravierende Auswirkungen, die Luhmann aufgedeckt und aus der Perspektive der Systemtheorie eingehend untersucht hat. Mit dem Aufwerfen der Rechtsfrage, dem Überschreiten der Thematisierungsschwelle, wird ein Kettenprozess in Gang setzt, der eine Eigendynamik entfaltet, der sich die Parteien nun nicht mehr ohne weiteres entziehen können.95 Einmal in den „Trichter des Verfahrens“96 geraten, läuft die rechtliche Kommunikation mit der ihr eigenen Gesetzmäßigkeit auf eine Entscheidung zu, die Recht und Unrecht mit aller Härte entsprechend den gesetzlich
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Die geradezu spiegelbildliche Komplementarität von Mediation und Zivilprozess im Hinblick auf ihre Strukturmerkmale, aber auch ihre Funktionen, Verfahrenswirkungen und Risiken wird in besonderer Weise im Rahmen einer vergleichenden Strukturanalyse beider Verfahren deutlich. Vgl. hierzu näher unten S. 107 ff., 558 ff., 614 ff., 707 ff., 800 ff. 95 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 60, 71. Vgl. auch Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff. 96 So plastisch Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 115.
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katalogisierten, normativen Relevanzkriterien auseinanderlegt, den Beteiligten zuordnet und diesen damit die Rolle des Siegers oder des Verlierers zuweist.97 Mit der Verlagerung des Konfliktes in die Sphäre des Rechts wird die jeweils andere Partei mit der für sich schon unangenehmen Möglichkeit des ImUnrecht-Seins konfrontiert, die sich nun nicht mehr aus der Welt schaffen lässt.98 Aus einem Problem, das eine Mehrzahl unterschiedlicher Lösungen zulässt, ist eine Frage über Recht und Unrecht geworden, die einen Wechsel beider Parteien in die Rolle des Problemlösers versperrt.99 Wir werden später sehen, dass Verfahren der alternativen Streitbeilegung gerade den umgekehrten Weg gehen, um die destruktive Dynamik des gerichtlichen Verfahrens durch eine bewusste Rollentransformation hin zu einem Verständnis des Konfliktes als gemeinsame Problemlösung zu entschärfen.100 Die Annahme der herausgeforderten Partei, dass die andere Seite sie im Unrecht sieht und auch ein Interesse daran hat, dass sich das herausstellt, fordert zum Widerspruch heraus und zwingt sie zur Konfrontation.101 Um die eigentlich im Raum stehende Frage, den primären Konflikt, geht es nun nicht mehr, sondern nur noch darum, aus dem so verschärften Konflikt als Sieger hervorzugehen. Es geht um den Sieg um jeden Preis und damit um einen neuen Typus des Konflikts, einen vom ursprünglichen Streitstoff losgelösten Metakonflikt, aus dem man, wie Luhmann zutreffend bemerkt, „vielleicht im Recht, vielleicht im Unrecht; aber sicher nicht ohne Wunden zurückkehren wird“102. Die auf eskalierende Konfrontation gerichtete Eigendynamik des Verfahrens ergibt sich damit nicht nur materiell als Folge der Thematisierung von Konflikten als Rechtspositionen103, sondern auch prozedural aus der Übersetzung des Konfliktes in kontradiktorische Rollen, die in Form der Kläger- und Beklagtenstellung bereits schablonenhaft institutionalisiert sind.104 Hintergrund ist die innere Struktur des Gerichtsverfahrens als System des Verhaltens in Rollen: Die Konfliktbewältigung im Zivilprozess erfolgt durch Übernahme impliziter kontradiktorischer Rollen, bei denen der Konflikt als solcher zwischen den Parteien anerkannt und gleichzeitig erfasst und begrenzt wird.105 Die
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Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 115. Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 67. 99 Vgl. Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 f. 100 Vgl. hierzu unten S. 235 ff. 101 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 59. 102 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 f. 103 Zur Unterscheidung zwischen Rechtspositionen und Interessen vgl. bereits oben S. 15 f. mwN. 104 Vgl. hierzu Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 100 ff.; Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 318 f. 105 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 88 ff. 98
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Parteien stehen sich im Konflikt als Gleiche gegenüber, erkennen sich wechselseitig in ihren Rollen als Parteien an und erhalten damit gleichsam einen „Freibrief für Gegnerschaft“106. Die Rollenbindung und das Zeremoniell des förmlichen Verfahrens ermöglichen eine Distanzierung der Parteien von ihren individuellen Vorstellungen von Recht und Wahrheit.107 Der zu erwartende existenzielle Konflikt wird vermieden und ein Durchschlagen auf den sozialen Geltungsanspruch verhindert. Durch das Verstricken in ein Rollenspiel als einziger legitimer Äußerungsform des Konfliktes, durch das die Beteiligten den formalen Rahmen, die Ernsthaftigkeit des Geschehens und die Prämissen der gesuchten Entscheidung mit darstellen und damit zugleich bestätigen, werden sie, wenn nicht zur Akzeptanz, so doch zur Hinnahme enttäuschender Entscheidungen motiviert.108 So bedeutsam die Rollenübernahme für die Legitimation des gerichtlichen Verfahrens und seines Ergebnisses ist, so nachteilig sind ihre Auswirkungen auf eine deeskalierende, einvernehmliche Beilegung des Konfliktes, denn die Rollen sind auf Konsistenz und Komplementarität hin ausgerichtet. Rollen normieren Erwartungen an das Handeln anderer und sind mit einer Selbstdarstellung der handelnden Personen verbunden. Sie erfordern daher zunächst ein gewisses Maß an Konsistenz, um als Orientierungsgrundlage für andere dienen zu können. Rechtliche Kommunikation betrifft Themen, die kontrafaktisch stabilisiert sind, die somit auch dann gelten, wenn im Einzelfall gegen sie verstoßen wird.109 Aufgrund der kontrafaktischen Stabilisierung von Erwartungen kommt es zu einer grundsätzlich unwiderruflichen Zementierung der zu Beginn eingenommenen Rechtspositionen. Nicht erst mit der Einleitung der Klage, sondern bereits mit dem Vorbringen einer Rechtsbehauptung legt man sich in seinen eigenen Erwartungen als lernunwillig fest, da man diese – anders als Tatsachenbehauptungen – kaum noch als Irrtum revidieren kann.110 Die Parteien binden sich für die Zukunft und sind bereit, ihre Rechtspositionen notfalls im Streit zu vertreten. Mit dem Aufwerfen der Rechtsfrage, der Thematisierung des Rechts, wird ein point of no return überschritten.111 Es erfolgt eine Richtungsfestlegung, die den Spielraum der Parteien mit zunehmendem Fortgang des Konfliktes trichterförmig verengt und unweigerlich auf eine Konfrontation zusteuert, die am Ende in einer autoritativen Entscheidung eines Dritten, einem
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Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 103. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 105. 108 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 85, 87, 134. Luhmann bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Vermutlich ist dies die heimliche Theorie des Verfahrens: daß man durch Verstrickung in ein Rollenspiel die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren könne.“ Ebenda, S. 87. 109 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 53. 110 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 57 f. 111 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 62 f. 107
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Urteil über Recht und Unrecht der erhobenen Behauptungen mündet. Die Rollenübernahme im Prozess verpflichtet aber auch zur Kontinuität und beschränkt Abweichungen auf das, was man ohne Verlust an Identität plausibel machen kann.112 Wer sich als harter Verhandler, als Kläger oder mit einer bestimmten Rechtsposition eingeführt hat, ist diesem Rollenbild verpflichtet und darf es nicht ohne weiteres aufgeben, jedenfalls nicht ohne eine gute Begründung hierfür abzugeben, die den Verlust an Identität minimiert und klarstellt, dass er im Übrigen weiterhin Gegenstand zuverlässiger Erwartungsbildung bleibt. Das Verfahrensrecht selbst ist darauf angelegt, diese Rollenkonsistenz einzufordern. So kann etwa die Klage nach § 269 Abs. 1 ZPO ohne Einwilligung des Beklagten nur bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung des Beklagten zur Hauptsache zurückgenommen werden, weil der Beklagte in seiner Verhaltenserwartung an den Kläger und in seinem Vertrauen auf die Kontinuität der Klägerrolle geschützt werden soll. Denn diese Erwartung ist Orientierungsgrundlage für sein eigenes Rollenverhalten als Beklagter, für das er bereits Kosten und Mühe aufgewendet hat.113 Wer die ihm im Gerichtsverfahren zukommende Rolle aufgibt, verlässt damit in der Regel das System und kann nicht ohne weiteres und oft nur unter größerem Aufwand zurückkehren. Dabei kommt es nicht so sehr auf die formellen Möglichkeiten an, die vorherige Verfahrensposition wieder einzunehmen, sondern vielmehr darauf, die eigene Geschichte glaubwürdig und ohne Gesichtsverlust weitererzählen, seine Rolle ohne Identitätsverlust aufrechterhalten zu können. In der sanften Macht der Rollenübernahme dürfte die eigentliche Ursache für die in der Praxis wiederholt zu beobachtende mangelnde Akzeptanz gerichtsverbundener Mediationsverfahren zu verorten sein.114 Denn ein Wechsel in die Rolle des Problemlösers ist im Grundsatz mit der von den Parteien eingenommenen Rolle des Klägers bzw. des Beklagten zunächst unvereinbar und würde diese in Widerspruch zu ihrem bisherigen Rollenverhalten setzen. Aus diesem Befund ergeben sich wichtige Erkenntnisse für das Dispute Systems Design, insbesondere für die Gestaltung der Schnittstelle zwischen Zivilprozess und gerichtsverbundener Mediation.115 Diese muss so ausgestaltet sein, dass ein Wechsel zwischen beiden Verfahrensarten mühelos und ohne Bruch der Rollenkohärenz möglich ist. Ob etwa ein Wechsel in das Mediationsverfahren als mit der Kläger- oder Beklagtenrolle kohärent oder vielmehr als Zeichen von Schwäche zu deuten ist, wird – abgesehen von individuellen Faktoren 112
Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 91 f. Musielak/Voit/Foerste, ZPO (13. Aufl. 2016), § 269 Rn. 1. 114 Vgl. nur die Ergebnisse des „Modellversuchs Güterichter“, in dem die Parteien in fast der Hälfte der zugewiesenen Fälle nicht zur Teilnahme an der Mediation bewegt werden konnten, Greger, Abschlussbericht (2007), S. 125. 115 Vgl. zu den verschiedenen Formen des Verfahrensübergangs vom Zivilprozess zur Mediation eingehend unten S. 492 ff., 497 ff. 113
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– vor allem von der generellen Akzeptanz der alternativen Streitbeilegung in einem bestimmten Rechtsraum abhängen. Befindet sich diese noch im Anfangsstadium und sind die verfahrensrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten und Anreizstrukturen zum Abbau von Transferbarrieren bereits ausgeschöpft, so kann zur Lösung des eingetretenen Dilemmas die dem Verfahren eigene Logik des Rollenspiels nutzbar gemacht werden: Das Kohärenzproblem wird vermieden, wenn der Rollenwechsel nicht autonom erfolgt, sondern von außen veranlasst wird. Derselbe Mechanismus, der mit dem Verweis auf das Recht als einer neutralen, unvoreingenommenen Macht eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den eigentlich hinter den geltend gemachten Positionen stehenden Interessen verhindert hat, kann nun mobilisiert werden, um den Parteien durch Verhaltensanreize eine „goldene Brücke“ hin zu ADR-Verfahren zu bauen oder bereits in der Verfahrensordnung einen expliziten Rollenwechsel ipso iure vorzusehen. Verfahrenstechnisch realisiert werden könnte dies entweder durch Kostensanktionen nach dem Vorbild der 1999 reformierten englischen Civil Procedure Rules (CPR)116 oder durch eine verbindliche Verweisung entweder nach dem Vorbild des § 15a EGZPO unmittelbar kraft Gesetzes oder durch verbindliche Ermessensentscheidung des Gerichts117, wie es nunmehr auch § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO für das Güterichterverfahren vorsieht.118
116 Diese enthalten die Möglichkeit, im Fall der verweigerten Teilnahme an einer Mediation einer Partei die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Mediationskosten auch dann aufzuerlegen, wenn sie in der Sache obsiegt, Rule 44.3. (2) (b), (4) (a), (5) (a) iVm. Rule 1.3, 1.4 (1), (2) (a) (e) (f) CPR. Vgl. dazu Greger, JZ 2002, 1020, 1021 ff.; Wagner, ZKM 2004, 100, 102 f.; Althammer, JZ 2006, 69, 69 ff. Umfassend Engelhardt, Die Woolf-Reform in England (2007). 117 So Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2742. Zur Problematik der verbindlichen Verweisung in die Mediation vgl. eingehend unten S. 462 ff., 512 ff. 118 Die Verweisung an den Güterichter nach § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO ist – wie bereits die amtliche Begründung des Vorentwurfes der Vorschrift zeigt, BT-Drucks. 17/5335, S. 20 – auch ohne Zustimmung der Parteien zulässig, was jedoch verbreitet kritisch gesehen wird, vgl. nur die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages zur Reform des § 278 Abs. 5 ZPO, BT-Drucks. 17/8058, S. 21; MünchKomm/Prütting, ZPO (5. Aufl. 2016), § 278 Rn. 36 (darauf hinweisend, dass eine verbindliche Verweisung gegen den Wunsch der Parteien nicht sinnvoll ist); Musielak/Voit/Foerste, ZPO (13. Aufl. 2016), § 278 Rn. 14; Zöller/Greger (31. Aufl. 2016), § 278 Rn. 27; Greger/Weber, MDR (Sonderheft) 8/2012, 1, 9; Dürschke, NZS 2013, 41, 46; Diop/Steinbrecher, BB 2012, 3023, 3025. Für eine verbindliche Verweisung auch ohne Einwilligung der Parteien dagegen Henssler/Deckenbrock, DB 2012, 159, 162; Steffek, ZEuP 2013, 528, 540 sowie bereits Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2742 unter Verweis auf die Erfahrungen der Modellprojekte der gerichtsverbundenen Mediation in Deutschland sowie die Praxis in den USA. Die Möglichkeit einer verbindlichen Verweisung gegen den Willen der Parteien ablehend Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), § 278 Rn. 19 sowie Fritz/Pielsticker/Fritz, MedG (2013), § 278 ZPO Rn. 50, contra legem zu Unrecht ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der „Freiwilligkeit“ annehmend. Dagegen überzeugend die Rechtsprechung, die von der
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g) Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit Die Erfassung und Begrenzung des Konfliktes durch Übernahme implizierter, verfahrensrechtlich vorkonstitutionalisierter Rollen im Zivilprozess bestimmt und begrenzt die Kommunikation der Parteien und ihre Mitwirkung im weiteren Verfahren. Die Beziehung zwischen den Parteien richtet sich nun nicht mehr nach den Regeln alltäglicher Kommunikation, sondern nach den formalisierten Vorgaben des Verfahrensrechts, mit denen die Parteien, sofern sie nicht über Prozesserfahrung verfügen, regelmäßig überfordert sind.119 Sie führt zur Sprachlosigkeit der Parteien, die mit dem, was sie bewegt, nicht gehört werden.120 Bildet die dem gerichtlichen Verfahren eigene Atmosphäre, ihre Professionalisierung und Sondersprache, eine Zugangsbarriere zur Justiz, von der vor allem der geschäftlich weniger gewandte und wirtschaftlich weniger leistungsfähigere Teil der Bevölkerung betroffen ist, so wird das Kommunikationsdefizit des Zivilprozesses auch zum rechtspolitischen Problem.121 Abhilfe können hier informale Verfahren der alternativen Streitbeilegung schaffen. Entsprechend bildet die Erleichterung des Zugangs zur Justiz vor allem im Kontext der US-amerikanischen Diskussion eines der zentralen Ziele der ADRBewegung.122 Im Hinblick auf den Modus der Kommunikation kommt es im gerichtlichen Verfahren zu einem Wechsel der Kommunikationsrichtung und der an der Kommunikation beteiligten Personen. Da die Parteien regelmäßig mit der für sie fremden hochformalisierten Verfahrenssituation überfordert sind, geht die
Möglichkeit einer verbindliche Verweisung in das Güterichterverfahren ausgeht Bay LSG, Beschl. v. 5.9.2016 – L 2 P 30/16 B; LSG Hessen ZKM 2014, 134; Sächs. OVG ZKM 2014, 135, ArbG Hannover, ZKM 2013, 130. Es handelt sich um eine prozessleitende Verfügung, gegen die keine Beschwerde statthaft ist, Bay LSG, Beschl. v. 27.9.2013 – L 2 P 45/13 B. Zum Verweisungsverfahren i.Ü. Ahrens, NJW 2012, 2465, 2469; Klowait/Gläßer/Löer, MedG (2014), § 278 ZPO Rn. 19 ff. 119 Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 15. 120 Röhl, SchlHA 1979, 134, 140; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 14 f.; Falke/Gessner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 305; Gottwald, ZZP 95 (1982), 245, 248. Vgl. dazu auch Hegenbarth/Scholz, Informationsbrief für Rechtssoziologie 15 (1979), 88, 105 ff. und Rottleuthner, KJ 1971, 60, 81 ff., die das Gerichtsverfahren als „Schauplatz verzerrter Kommunikation“ bzw. als „Organisation der Sprachlosigkeit“ kennzeichnen. Kritisch hierzu Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 319. Vgl. zur Kommunikation im Gerichtsverfahren Laumen, Das Rechtsgespräch im Zivilprozess (1984), S. 39 ff., 92 ff., 263 ff.; Hoffmann, Rechtsdiskurse (1989); Henkel, ZZP 110 (1997), 91, 98 ff. 121 Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 319. 122 Zum sog. Access-to-Justice Project als Ziel der ADR vgl. Breidenbach, Mediation (1995), S. 12 f., 232 ff. Vgl. hierzu eingehend unten S. 563 ff. mwN.
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weitere Bewältigung des Konflikts in die Hände der Anwälte als professionellen Parteivertretern über.123 Es kommt zu einer dreifachen Delegation von Autonomie von den Parteien auf Dritte: einer Delegation der Entscheidungsbefugnis auf den Richter, einer Delegation des Entscheidungsmaßstabes an das Gesetz124 und einer Delegation der unmittelbaren Partizipation an die Anwälte.125 Mit Beginn der mündlichen Verhandlung verstummt das direkte Gespräch zwischen den Parteien. Kommunikation findet nur noch mit und über den Richter statt, dem die Führung des (Rechts-)Gesprächs obliegt und der Zeitpunkt, Dauer und inhaltlichen Rahmen der Redebeiträge der Parteien und ihrer Vertreter bestimmt.126 Die Parteien sprechen nun nicht mehr mit-, sondern weitgehend nur noch übereinander. Durch die Umwandlung der grundlegenden Interaktionsbeziehungen von der Dyade in eine Triade werden die Kommunikationsströme gleichsam umgelenkt und nun nahezu ausschließlich über den Richter als filterndem und wertendem „Relais“ geführt. Dabei unterscheidet sich die Rolle des Richters grundlegend von der des neutralen Dritten in vermittelnden Dreierbeziehungen wie der Mediation. Während sich die Rolle des Mediators127 auf eine reine Hilfsfunktion beschränkt und in ihrem Wesen gerade darauf ausgerichtet ist, die direkte Kommunikation der Parteien mit dem Ziel der Streitbeilegung zu fördern, ist der Richter – vom Prozessvergleich abgesehen – Mittel- und Endpunkt jeglicher Kommunikation im Gerichtsverfahren. Grundmuster gerichtlicher Kommunikation ist somit Tripolarität, wobei ein Austausch zwischen den Parteien regelmäßig nur indirekt über das Gericht erfolgt. Die Mediation hingegen folgt trotz ihres triadischen Gepräges einer bipolaren Kommunikationsstruktur, wobei dem Mediator die Aufgabe zukommt, die direkte Kommunikation der Parteien gerade zu ermöglichen und zu fördern.128 Führt er mit den Parteien ausnahmsweise Einzelgespräche, etwa im Rahmen der Caucus-Mediation, so sollen durch sie gerade die Offenlegung der
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Gottwald, ZZP 95 (1982), 245, 248. Allerdings bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass das Recht in Verfahren der alternativen Streitbeilegung, wie etwa der Mediation, keine Rolle spielt und nicht als Entscheidungsmaßstab herangezogen werden könnte. Vgl. eingehend zur Rolle des Rechts im Mediationsverfahren unten S. 188 ff., 347 ff., 352 ff, 371. ff., 381 ff., 528 ff. 125 So plastisch Mähler/Mähler, FPR 1996, 16. 126 Peters, Gütegedanke (2004), S. 35. 127 Zur Rolle des Mediators eingehend unten S. 163 ff., 380 ff. 128 Deutlich insoweit auch die Empfehlung 2001/310/EG (Abl. EG 2001 L 109, S. 56, 59), wonach Verfahren zur außergerichtlichen Streitbeilegung dadurch gekennzeichnet sind, dass in ihnen „versucht wird, eine Streitigkeit dadurch zu beenden, dass die Parteien zusammengebracht und dazu veranlasst werden, im gegenseitigen Einvernehmen eine Lösung zu finden.“ Zur Kommunikation in der Mediation und zur Rolle des active listening vgl. Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 335 ff. 124
I. Rechtstheorie: Die Grenzen gerichtlicher Streitentscheidung
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für die Konfliktbeilegung erforderlichen Informationen erleichtert und Kommunikationshindernisse ausgeräumt werden.129 Das Gerichtsverfahren verformt die Kommunikation der Parteien allerdings nicht nur in ihrer Struktur, sondern auch in ihrem Inhalt. Da sich die gerichtliche Entscheidung durch die Verrechtlichung des Konfliktes als Ergebnis einer wertenden Subsumtionsarbeit auf der Grundlage von Fakten und Normen ergibt, muss sie wie etwas schon Feststehendes, aber noch nicht Bekanntes behandelt werden.130 Den Parteien kann daher nicht die Rolle zukommen, die Entscheidung zu finden oder zu legitimieren: Sie verlieren ihre Initiative bei der Behandlung des Konflikts und werden stattdessen – mit Ausnahme des Austauschs juristischer Argumente – lediglich als Informationsträger, nicht dagegen als Mitwirkende an der Erarbeitung eines Einigungsvorschlages behandelt.131 Diese Rollenverschiebung ergibt sich notwendig aus der Normbewährungsfunktion des Zivilprozesses und dem Verhältnis von Recht und Rechtssubjekt innerhalb jeder Ordnung des Rechts. Sie ist zwar für das Gerichtsverfahren konstitutiv, für eine Konfliktbeilegung indes nicht unabdingbar notwendig. Bewegen sich die Parteien in dem von der Rechtsordnung vorgegebenen Rahmen und entsprechend den hinter den geltenden Normen stehenden Wertentscheidungen132, so steht es ihnen beispielsweise im Rahmen einer Mediation frei, sich gleichsam im „Schatten des Rechts“133 aus dem Fundus der Vielzahl rechtlich möglicher Einigungsalternativen eine für sie passende Lösung herauszusuchen und sie zur Grundlage ihrer privatautonomen Einigung zu machen.134 Verfahren der alternativen Streitbeilegung vermeiden damit die Verzerrungen der Kommunikation in Konfliktsituationen, und zwar auch unter den Bedingungen einer objektiv bewährten Rechtsordnung. Sie umgehen damit zugleich eine der zentralen Schwächen des gerichtlichen Verfahrens: die mangelnde Partizipation der Parteien als eine der zentralen Ursachen für die im Vergleich zur konsensualen Streitbeilegung geringere Akzeptanz gerichtlicher Urteile.135 129 Vgl. zur sog. Caucus-Mediation eingehend Calkins, 54 Drake L. Rev. 259 (2006); Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 355 ff. 130 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 109. 131 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 109. 132 Zum Inhalt materieller Gerechtigkeit als gemeinsamen Maßstab für die Einigungsentscheidung der Parteien und die Kodifizierung des positiven Rechts vgl. die Untersuchung des Verhältnisses von Mediation und Gerechtigkeit aus rechtsphilosophischer Perspektive unten S. 102 ff., 269 ff. 133 Vgl. zu diesem Bild Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). 134 Zu dieser Funktion des Rechts als „Schatzkammer“ zu Rechtsnormen verdichteter Lebenserfahrung eingehend unten S. 293 ff. 135 Vgl. zur Procedural Justice Forschung die empirischen Studien von McEwen/Maiman, 18 L. & Soc’y Rev. 11, 44 f. (1984) („Our data suggest that the personal and immediate commitments generated by consensual processes bind people more strongly
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
Ob eine Partei auch ein für sie nachteiliges gerichtliches Urteil annimmt, hängt maßgeblich davon ab, ob das Verfahren selbst von ihr als gerecht empfunden wird. Dies ist nach neueren empirischen Untersuchungen umso eher der Fall, je mehr sie am Verfahren aktiv beteiligt ist, zu ihrem Fall gehört und vom Richter als Person ernst genommen wird.136 Umgekehrt wird sich der Widerstand des „Prozess-Verlierers“ umso mehr verhärten, je weniger er auf den Verlauf und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen konnte. Die Entscheidung bezieht ihre faktische Geltungskraft dann aus der thematischen und sozialen Isolierung des Unterlegenen, dessen Protest folgenlos bleibt.137 Er wird durch das Zeremoniell des Gerichtsprozesses, an dem er zusammen mit allen übrigen Beteiligten selbst mitgewirkt hat, als Problemquelle isoliert und die Sozialordnung von seiner Zustimmung oder Ablehnung unabhängig gestellt.138 Die Öffentlichkeit des Verfahrens und die Rationalität der gerichtlichen Entscheidung, die sich auf allgemeinverbindliche Rechtsprinzipien stützt, machen das Urteil für Unbeteiligte nachvollziehbar und zustimmungsfähig.139 Der uneinsichtige Verlierer wird sozial isoliert.140 Ein Aufbegehren gegen die Entscheidung und auch der Weg in die Rolle des moralischen Siegers sind ihm versperrt, da ihm seine Niederlage selbst zugerechnet wird.141 Findet er sich mit seiner Niederlage nicht ab, so wird der Konflikt über die Rechtsmittelinstanzen und gegebenenfalls durch passiven Widerstand gegen das rechtskräftige Urteil fortgesetzt, das schließlich der Durchsetzung im Wege der Zwangsvollstreckung bedarf. Dies ist umso dramatischer, als die Niederlage mit ihren sozialen Kosten vermeidbar und eine beiderseits vorteilhafte Einigung, aus der beide Parteien als Sieger hervorgehen könnten, häufig möglich gewesen wäre. Eine zentrale Funktion des Zivilverfahrens, die Befriedung der Parteien, wird damit ebenso verfehlt wie die Umsetzung der vom Gericht mandatierten Konfliktlösung.
to compliance than the relatively distant, impersonal obligations imposed by authorities.”) und Vidmar, 18 L. & Soc’y Rev. 515, 544 ff. (1984) („Compliance was thus higher in cases that were settled than in cases that went to trial.”). Für einen Überblick über die empirische Forschung in den USA vgl. Wissler, 29 Law & Soc'y Rev. 323, 324 ff. (1995). 136 Thibaut, Procedural Justice (1975), S. 77 ff., 95 ff.; Vidmar, ZfRSoz 1993, 35, 40 ff.; Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 318 f. Vgl. zur Procedural Justice Forschung eingehend unten S. 192 ff. 137 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 121. 138 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 121. 139 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 124. 140 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 117, 119. 141 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 117, 123.
I. Rechtstheorie: Die Grenzen gerichtlicher Streitentscheidung
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3. Zusammenfassung Der Zivilprozess wurde in einer gleichsam mikroskopischen Nahschau aus der Perspektive der Rechts- und Systemtheorie auf seine Tauglichkeit zur nachhaltigen Beilegung von Konflikten hin untersucht und zur Mediation als Verfahren der alternativen Streitbeilegung in Beziehung gesetzt. Die Analyse hat dabei erhebliche systemimmanente Defizite herkömmlicher streitiger Konfliktlösung aufgedeckt. 1. Komplexitätsreduktion durch Verrechtlichung. Streitige Konfliktbeilegung im Wege des Zivilprozesses erfordert aufgrund der Notwendigkeit der Subsumption abstrakt-genereller Normen eine Transformation des Interessenkonfliktes in einen abgeleiteten Wertkonflikt durch Reduzierung des mehrdimensionalen Konfliktstoffes auf einen rechtlichen Kern. Die Folge ist eine selektive Realitätswahrnehmung, bei der die für die Beteiligten bedeutsamen Konfliktebenen weitgehend ausgeblendet werden. Die durch Abstraktion typischer Konfliktsituationen gewonnenen Rechtsnormen können den Konflikt sowohl auf Tatbestands- als auch auf Rechtsfolgenseite nur unscharf erfassen. 2. Transformation in einen Metakonflikt. Die Transformation von grundsätzlich dem Ausgleich zugänglichen Interessen in einander ausschließende Rechtsansprüche macht eine Realisierung von Kooperationsgewinnen unmöglich. Durch die Verlagerung der Entscheidungsgewalt von den Parteien auf den Richter wird der Weg zu einem Interessenausgleich versperrt. 3. Retrospektivität. Gerichtliche Entscheidungen sind grundsätzlich auf die rechtliche Bewertung vergangener Sachverhalte, nicht jedoch auf die zukünftige Gestaltung der Beziehung zwischen den Parteien auf der Grundlage ihrer Interessen gerichtet. Den Parteien wird eine wertende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aufgedrängt, die das Trennende zementiert und eine Wiederaufnahme oder Fortsetzung ihrer Beziehung behindert. 4. Binärer Schematismus. Die binäre Struktur des Rechts zwingt die Gerichte, Konflikte grundsätzlich im Wege von Alles-oder-Nichts-Entscheidungen und damit spieltheoretisch im Rahmen von Nullsummenspielen beizulegen, die aufgrund der Unschärfe der Rechtsfolgen und der Unsicherheit der Tatsachenfeststellung weder den Interessen der Parteien noch den Anforderungen an das Verfahren gerecht werden. Der gerichtliche Entscheidungsmechanismus ist vor allem mit der Beilegung polyzentrischer Konflikte und mit Konflikten in sozialen Dauerbeziehungen regelmäßig überfordert. 5. Eskalation. Der Zivilprozess fördert aggressives Parteiverhalten und trägt durch den mit ihm in Gang gesetzten „Kampf ums Recht“142 im freien Spiel der Kräfte zur weiteren Eskalation des Konfliktes bei. Im Hinblick auf den Konflikt wirkt er reaktiv statt präventiv, eskalierend statt hemmend und greift erst in einem späten Konfliktstadium mit hohem Eskalierungsgrad ein. 142
v. Ihering, Der Kampf um's Recht (1872), S. 11, 45.
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
Das Instrumentarium staatlicher Justiz ist durch seine Ausrichtung auf den Zivilprozess als „schärfster Waffe“ auf das Verfahren mit der höchsten Eingriffsintensität und Eskalationstendenz beschränkt. Deeskalierende Verfahren mit niedriger Eingriffsintensität stehen nur in Ausnahmefällen zur Verfügung. 6. Kontradiktorischer Rollenzwang. Der Zivilprozess zwingt die Parteien in die kontradiktorische Rolle von Gegnern und prägt damit das Parteiverhalten hin zu aggressiven Handlungsmustern. Die auf Konsistenz und Kontinuität ausgerichteten Rollenerwartungen verpflichten die Parteien auf ein aggressives Rollenbild und erschweren eine Rückkehr in die Rolle des Problemlösers. Die Parteien gleiten in einen vom Streitstoff losgelösten Metakonflikt ab, in dem es primär um das Obsiegen im aktuellen Rechtsstreit geht. 7. Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit. Kommunikation findet im Zivilprozess nicht mehr nach den Regeln des Alltags, sondern entsprechend der formalisierten Vorgaben des Verfahrensrechts statt. Die Verfremdung der Kommunikation hat die Sprachlosigkeit der mit der juristischen Sondersprache überforderten Parteien zur Folge. Die bipolare Kommunikation der Parteien wird durch tripolaren Austausch über den Richter und die Anwälte ersetzt. Die lediglich marginale Partizipation der Parteien und die soziale Isolierung des Verlierers führen zu geringer Akzeptanz und Befolgungsrate gerichtlicher Urteile. Die systembedingten Defizite des Zivilprozesses werden durch die Mediation gleichsam spiegelbildlich in komplementärer Weise ausgeglichen: Die durch Verrechtlichung erfolgte Umwandlung der Interessen in Rechtspositionen wird umgekehrt und das Herausarbeiten der den Rechtspositionen zugrunde liegenden Interessen in den Mittelpunkt gerückt. Die selektive Realitätswahrnehmung und die mit dem binären Schematismus der Normen verbundene Beschränkung auf ein Nullsummenspiel werden durch die Erweiterung des Fokus vom nackten Rechtskern auf die Gesamtheit der Konfliktebenen überwunden. Dadurch wird der Weg zur Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne geebnet. Gleichzeitig eröffnet die Orientierung auf die Zukunft hin die Möglichkeit einer proaktiven Gestaltung der Beziehung zwischen den Parteien. ADR-Verfahren wirken präventiv statt reaktiv, hemmend statt eskalierend und greifen bereits in einem frühen Konfliktstadium mit niedrigem Eskalationsgrad ein. Sie prägen das Parteiverhalten gezielt hin zu kooperativen Handlungsmustern und ermöglichen eine aktive Kommunikation und Partizipation der Parteien. Da sich das Verfahrensergebnis der Mediation aus den privatautonomen Einigungsbemühungen der Parteien selbst ergibt, weist es eine entsprechend hohe Akzeptanz, Befolgungsrate und Befriedungswirkung auf.
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
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II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts Nachdem wir in gleichsam mikroskopischer Nahschau Natur und innere Funktionsweise des Zivilprozesses im Vergleich zur Mediation als Verfahren der alternativen Streitbeilegung in den Blick genommen haben, soll nun in einer gleichsam makroskopischen Fernsicht die Perspektive um die äußeren Rahmenbedingungen erweitert und das Verhältnis der beiden Verfahrensarten zueinander vor dem Hintergrund der größeren Entwicklungslinien des Rechts näher untersucht werden. Ziel ist es, die hinter der Hinwendung zur alternativen Streitbeilegung stehenden Entwicklungsströmungen aufzuspüren, um so zu einem vertieften Verständnis der Form, Funktion und Grenzen des Mediationsverfahrens zu gelangen und seinen Standort im Gesamtsystem der Rechtsordnung sowie sein Verhältnis zum Zivilprozess näher zu bestimmen. Betrachten wir die Entwicklung der formellen Qualitäten des Rechts in den vergangenen Jahrzehnten, so ist das als weltweites Phänomen zu beobachtende, rasante Wachstum der konsensualen Konfliktlösungsverfahren im Zuge der seit den 1970er Jahren einsetzenden ADR-Bewegung143 nicht überraschend. Es fügt sich ein in einen Trend, der durch weitreichende Entformalisierung und Privatisierung staatlichen Handelns geprägt ist, in einen grundlegenden Strukturwandel staatlicher Steuerungstätigkeit, in eine zunehmende Abkehr von traditioneller Staatlichkeit, die auch den Bereich der bisher weitgehend staatlich monopolisierten Konfliktbeilegung erfasst hat. Liberalisierung, Deregulierung, Delegation von Verantwortung, Selbststeuerung, Kooperation als Prinzip des Staatshandelns, der kooperative und schließlich der Verhandlungsstaat sind Erscheinungsformen eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchs, der letztlich selbst Ausdrucksform eines Wandels des Verständnisses vom Wesen des Rechts und seiner Rolle in Staat und Gesellschaft ist. Erkennbar wird ein deutlicher Trend hin zur Betonung materialer Rationalität des Rechts, der begleitet ist von einer Tendenz, das formale Recht zugunsten anderer Steuerungsinstrumente in seiner Bedeutung deutlich zurückzustufen.144 Das Recht wird, wie bereits Max Weber vorausahnte, „in antiformale Bahnen gedrückt“,
143
Vgl. zur Entwicklung der ADR-Bewegung eingehend oben S. 14 ff., 82 ff. sowie Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 1 ff. (2000); Gray, 22 Neg. J. 445, 445 ff. (2006); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). Zur Pound Conference eingehend oben S. 14 ff. sowie Judicial Conference of the United States Conference of Chief Justices, 70 FRD 79 (1976) und Levin/Wheeler, The Pound Conference (1979) sowie Strempel, JZ 1983, 596; Subrin, 59 Brook. L. Rev. 1155 (1993); Stempel, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 297 (1996); Brazil, 18 Ohio St. J. on Disp. Resol 93 (2002); Della Noce, 17 Ohio St. J. on Disp. Resol. 545 (2002); Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 44 ff. 144 So insbesondere: Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 192. Vgl. dazu auch Ritter, AÖR 104 (1979), 389; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 561; Voigt (Hrsg.), Der kooperative Staat (1995); Schneider, VerwArch 87 (1996), 38 ff.; Frick, Der freundliche Staat (2001).
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
so dass „ … unter allen Umständen … als Konsequenz der technischen und ökonomischen Entwicklung … die unvermeidlich zunehmende Unkenntnis des an technischem Gehalt stetig anschwellenden Rechts auf Seiten der Laien … und die zunehmende Wertung des jeweils geltenden Rechts als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparats sein unvermeidliches Schicksal [ist].“145 Im Kern geht es um den uralten Widerspruch zwischen Formalität und Informalität, Normativität und Faktizität, Materialisierung und Selbstbeschränkung und letztlich Freiheit und Gerechtigkeit, der dem Recht seit jeher innewohnt. Die Entwicklung des Rechts wird getragen durch die Oszillation zwischen diesen beiden Polen. Die Suche nach einer gelungenen Balance zwischen diesen beiden Erscheinungsformen materieller Gerechtigkeit ist die zentrale Aufgabe, zu der jede Generation aufs Neue berufen ist.146 Die Antinomie von Formalität und Informalität, die auch dem Verhältnis von Mediation und Zivilprozess zugrunde liegt, hat im Gang der Geschichte auf ihre jeweils eigene, ihrer Zeit entsprechende Weise Ausdruck gefunden: in der Dichotomie von ius civile und ius honorarium, common law und equity, Begriffsjurisprudenz und Freirechtsschule, Mechanical Jurisprudence und Legal Realism, Positivismus und Interessenjurisprudenz.147 Von der Diskussion praktischer Alltagsfragen im Umgang mit ADR-Verfahren verdeckt, ist es dieser Dualismus zwischen Formalem und Informalem, der als bestimmendes Strukturmerkmal dem Verhältnis von Mediation und Zivilprozess eigentlich zugrunde liegt und der für das Verständnis, für die dogmatische Durchdringung und schließlich für die praktische Umsetzung beider Formen der Konfliktbehandlung von zentraler Bedeutung ist. Auf ihn wird an gegebener Stelle vertieft einzugehen sein148, und er wird uns im Lauf der Untersuchung in unterschiedlicher Form als wiederkehrendes Motiv immer wieder begegnen.149 1. Wandel des Rechts: Vom formal-rationalen zum materiell-rationalen Recht Die Hinwendung zu Verfahren der alternativen Streitbeilegung vollzieht sich vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Wandels vom formal-rationalen zum
145
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 512 f. Vgl. hierzu nur Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 397 (1906) und Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 40. Dazu auch unten S. 145 und Fn. 221. 147 Vgl. hierzu die instruktive Darstellung bei Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 18 ff. 148 Vgl. hierzu unten S. 68 ff. 149 So etwa unten S. 34 ff., 68 ff., 143 ff., 230 ff. 146
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
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materiell-rationalen Recht. Formalität und Rationalität sind dabei die zentralen Vergleichsdimensionen, an denen nach Max Weber Rechtsschöpfung und Rechtsfindung erfolgen.150 Formalität bedeutet, dass die Entscheidungskriterien für die Rechtsanwendung intrinsisch sind, also dem Rechtssystem selbst entstammen.151 Rationalität bedeutet, dass die Entscheidungskriterien auf allgemeinen, über den Einzelfall hinausgehenden Prinzipien, den Rechtssätzen, beruhen.152 Zusammen mit den entgegengesetzten Polen der Materialität und Irrationalität sind damit die wesentlichen idealtypischen Erscheinungsformen des Rechts typologisch erfasst. Materiell im Sinne Max Webers ist das Recht dann, wenn die Entscheidungskriterien nicht mehr allgemein, sondern lediglich für den Einzelfall gelten und jeweils unterschiedlich angewendet werden.153 Irrational wird das Recht, wenn sich die Entscheidungskriterien nicht mehr aus dem Rechtssystem selbst ergeben, sondern sich aus außerrechtlichen Quellen, etwa aus ethischen, religiösen, sozialen, kulturellen, ökonomischen, politischen oder pragmatischen Überlegungen speisen.154 Die vier logisch denkbaren Kombinationen dieser Begriffspaare ergeben als idealtypische Kennzeichnung155 die vier Rationalisierungsphasen, in denen sich das Recht entwickelt
150
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396 ff., 504 ff. Vgl. hierzu auch die instruktiven Betrachtungen von Schluchter, Rationalismus (1979), S. 129 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 14 ff. 151 So Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 15. Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396: „‚Formal‘ aber ist ein Recht insoweit, als ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale materiell-rechtlich und prozessual beachtet werden.“ 152 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 15. Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396: „Ein Recht kann aber in sehr verschiedenem Sinne ‚rational‘ sein, je nachdem, welche Richtungen der Rationalisierung die Entfaltung des Rechtsdenkens einschlägt. Zunächst: im Sinne der (scheinbar) elementarsten Denkmanipulation: des Generalisierens, was in diesem Fall bedeutet: der Reduktion der für die Entscheidung des Einzelfalls maßgebenden Gründe auf ein oder mehrere ‚Prinzipien‘: diese sind die ‚Rechtssätze‘.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 153 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396. Vgl. auch Weber zum materiell-irrationalen Recht: „Materiell sind sie irrational insoweit, als ganz konkrete Wertungen des Einzelfalls, seien sie ethische oder gefühlsmäßige oder politische, für die Entscheidung maßgebend sind, nicht aber generelle Normen.“ Ebenda. 154 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396. Vgl. auch Weber zum formell-irrationalen Recht: „Irrational sind sie formell dann, wenn für die Ordnung von Rechtsschöpfung und Rechtsfindungsproblemen andere als verstandesmäßig zu kontrollierende Mittel angewendet werden, z.B. die Einholung von Orakeln oder deren Surrogaten.“ Ebenda. 155 Weber weist darauf hin, „dass die hier theoretisch konstruierten Rationalitätsstufen in der historischen Realität weder überall gerade in der Reihenfolge des Rationalitätsgrades aufeinander gefolgt“ oder auch nur „selbst im Okzident, alle vorhanden gewesen sind oder auch nur heute sind“. Ebenda, S. 505.
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hat: formal-irrational (Orakel, Gottesurteil), materiell-irrational (politische Entscheidung), materiell-rational (Kadijustiz, Billigkeitsrechtsprechung, Generalklauseln, Verbraucherschutzrecht, alternative Streitbeilegung) und formal-rational (gemeinrechtliche Jurisprudenz).156 a) Entformalisierung und Materialisierung Dieser Rationalisierungsprozess, der im 17. Jahrhundert vor allem durch das klassische Naturrecht einen deutlichen Schub erfahren hatte, fand seinen vorläufigen Endpunkt im 19. Jahrhundert mit dem endgültigen Durchbruch des formal-rationalen Rechts und der liberal-bürgerlichen Gesellschaftsordnung.157 Parallel zu dieser Entwicklung ist jedoch schon früh eine gegenläufige Tendenz erkennbar, die „mechanische Härte“ des formal-rationalen Rechts durch materielle Finalprogramme zu korrigieren. Motor dieser Materialisierungsbewegung sind zum einen die Anforderungen des wirtschaftlichen Rechtsverkehrs an ein hinreichendes Maß an Flexibilität, soweit, so Weber, „die logische Sinninterpretation des Parteiwillens oder die in der Richtung eines ‚ethischen Minimums‘ gedeutete ‚gute Verkehrssitte‘ es bedingen.“158 Zum anderen die materiellen Gerechtigkeitsforderungen zunächst der Arbeiterschaft, später die Anforderungen des sozialen Rechts- und Verfassungsstaats, der mit dem Prinzip der Menschenwürde als Inbegriff materieller Normprogramme dem rein formal-rationalen Recht von Verfassung wegen klare materielle Schranken auferlegt. In der Gegenwart sind es vor allem der Umwelt- und Verbraucherschutz, Praktikabilitäts- und Effizienzerwägungen sowie ein verstärktes Bemühen um Einzelfallgerechtigkeit, die als treibende Kräfte die fortschreitende Materialisierung des Rechts tragen. Hinzugekommen ist seit den 156 Vgl. hierzu Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 504 f.: „Die allgemeine Entwicklung des Rechts und des Rechtsgangs führt, in theoretische ‚Entwicklungsstufen‘ gegliedert, von der charismatischen Rechtsoffenbarung durch 'Rechtspropheten' zur empirischen Rechtsschöpfung und Rechtsfindung durch Rechtshonoratioren (Kautelar- und Präjudizienrechtsschöpfung), weiter zur Rechtsoktroyierung durch weltliches imperium und theokratische Gewalten und endlich zur systematischen Rechtssatzung und zur fachmäßigen, auf Grund literarischer und formal logischer Schulung sich vollziehenden ‚Rechtspflege‘ durch Rechtsgebildete (Fachjuristen). Die formalen Qualitäten des Rechts entwickeln sich dabei aus einer Kombination von magisch bedingtem Formalismus und offenbarungsmäßig bedingter Irrationalität im primitiven Rechtsgang, eventuell über den Umweg theokratisch oder patrimonial bedingter materialer und unformaler Zweckrationalität, zu zunehmend fachmäßig juristischer, also logischer Rationalität und Systematik und damit – zunächst rein äußerlich betrachtet – zu einer zunehmend logischen Sublimierung und deduktiven Strenge des Rechts und einer zunehmend rationalen Technik des Rechtsgangs.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 157 Hierzu Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 36 ff., 542 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 14 ff. 158 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 512.
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1960er und 1970er Jahren „die Forderung der ‚Laien‘ nach einer ihnen verständlichen Justiz“159 sowie nach einer interessengerechten und nachhaltigen Konfliktlösung und damit die Suche nach „Alternativen zur Ziviljustiz“160. Die ADR-Bewegung stellt sich damit als eine der vielfältigen Erscheinungsformen der modernen Materialisierungstendenz des Rechts dar, die als notwendiges Korrektiv die Antwort des Rechts auf eine durch wachsende Komplexität, Gerechtigkeitssensibilität, Multipolarität, Technisierung, Globalisierung und zunehmende Ausdifferenzierung charakterisierte Gesellschaft ist.161 Die Tendenzen zur Rationalisierung und Materialisierung verlaufen dabei nicht nur gegenläufig, sondern auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Während sich die Rationalisierung des Rechts kontinuierlich verlangsamt und mit den großen Kodifikationen Ende des 19. Jahrhundert vorerst einen Schlusspunkt erreicht hat, hat sich der Prozess der Materialisierung in einer Weise kontinuierlich beschleunigt, dass er mittlerweile zu der die gegenwärtige Zeit prägenden Entwicklungsströmung geworden ist.162 Mit der aktuellen Rechtsentwicklung hat der Trend zur Materialisierung nun eine kritische Masse erreicht, die der alternativen Streitbeilegung im Schub der aktuellen Tendenzen zur Entformalisierung als Korrektiv rein formaler Rationalität auch institutionell zum Durchbruch verholfen hat. b) ADR und die Krise des formal-rationalen Rechts Nachdem wir den Wandel des Rechts von formaler zu materialer Rationalität und das Phänomen der weltweiten Institutionalisierung der alternativen Streitbeilegung als Ausprägung des allgemeinen Materialisierungstrends in den Blick genommen haben, sind die Grundlagen gelegt, um eingehender den möglichen Ursachen für den weltweiten Siegeszug163 der alternativen Streitbeilegung nachzuspüren. Günter Hager begreift die Hinwendung zur alternativen Streitbeilegung als eine notwendige Reaktion auf die tiefgreifende Krise formal-rationalen Rechts, das die Grenze seiner Steuerungskapazität überschritten habe.164 Was
159 So schon sehr viel früher Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 512 f. 160 So das Thema einer 1981 vom Bundesministerium der Justiz initiierten Tagung. Vgl. zum Beginn der ADR-Diskussion in Deutschland oben Fn. 19. Zum Konzept des Wechsels von (Rechts-)Positionen zu (Sach-)Interessen und zum Konzept der interessengerechten Streitbeilegung vgl. grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991) und oben Fn. 46. 161 Vgl. Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 18. 162 So vorausahnend schon Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 512. Vgl. auch Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 542, 558 ff.; Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 67 ff.; Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 368 ff. 163 So Stickelbrock, JZ 2002, 633, 641. 164 Zum Ganzen Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 16 ff.
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sich, so Hager, in „anderen Kulturen um des vordringlichen Zieles der Versöhnung willen gleichsam naturwüchsig entwickelt hat, ist nun bewusst ins Werk gesetztes Programm zur Ergänzung und Entlastung eines durch Verrechtlichung überlasteten Systems.“165 Verschärft wird diese Entwicklung durch die zunehmende Materialisierung des Rechts. Die Struktur des Staates (Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip) und der gesellschaftliche Wandel (Industrialisierung, technologische Revolution, Europäisierung, Globalisierung und Umweltschutz) würden zu einer zunehmenden Materialisierung führen, die von einer massiven Verrechtlichung begleitet werde.166 In struktureller Hinsicht sei daher eine Hyperkomplexität, in qualitativer Hinsicht ein die Lebensverhältnisse verformender Zugriff durch rechtliche Finalprogramme, in quantitativer Hinsicht eine Überlastung zu konstatieren.167 Die strukturelle Zunahme der Komplexität äußere sich danach in einer überbordenden Kasuistik und in einer immer feiner gesponnenen Dogmatik (Beispiele bilden die immer feineren Verästelungen des Bereicherungsrechts, ein sich ausdehnendes Haftungsrecht und höchst ausdifferenzierte Regelungswerke, etwa die auf EU-Richtlinien beruhenden Verbraucherschutzgesetze).168 Die qualitative Instrumentalisierung des Rechts werde deutlich in einer alle Lebensverhältnisse unterwerfenden „Kolonialisierung der Lebenswelt“169 und einem Wandel des Rechts von einem Mittel zur Abgrenzung von Freiheitssphären zu einem regulatorischen Steuerungsinstrument.170 Die qualitative Überlastung werde sichtbar in einem durch Hyperkomplexität und Überregulation ausgelösten explosionsartigen Anstieg gerichtlicher Streitigkeiten und einer Überlastung der Gerichte, die mit der prozessualen Verarbeitung des durch den Materialisierungsschub ausgelösten Konfliktstaus überfordert seien.171 Die Steuerungsfähigkeit des Rechts sei erschöpft, die erwünschten Ziele werden nicht oder nur um den Preis dysfunktionaler Nebeneffekte erreicht, so dass die Notwendigkeit einer Neuorientierung des Rechts außer Frage stehe, die in einem rechtlich geordneten Modell der alternativen Streitschlichtung bestehe.172 Der Analyse Hagers ist teilweise zuzustimmen, wenngleich im Detail – etwa mit Blick auf die Diagnose der Erscheinungsformen der beschriebenen Krise –
165
Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 40. Hervorhebungen durch den Verfasser. Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17. 167 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 39. 168 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17. 169 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (1981), S. 522 ff. 170 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17. 171 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17. 172 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 16 ff. 166
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
51
zu differenzieren ist. So findet die Annahme eines „explosionsartigen Anstieg[s]“173 gerichtlicher Verfahren jedenfalls für die Gegenwart im empirischen Befund keine Grundlage.174 Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Der Rückgang der Fallzahlen an den Zivilgerichten hat mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das Rechtspraxis und Prozessualistik gleichermaßen vor nicht unerhebliche Herausforderungen stellt.175 Auch wenn der Materialisierungsschub des Rechts unübersehbar ist, so wird die Entwicklung doch im Detail von gegensätzlichen und heterogenen Erscheinungsformen gekennzeichnet, die nicht für alle Bereiche des Rechts oder des staatlichen Handelns gleichermaßen gelten und die oft allein aufgrund ihrer Novität verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sind. Die aktuellen Entwicklungstendenzen des Rechts sind daher mit der Formel von der „neuen Unübersichtlichkeit“176 zutreffend umschrieben, soweit die Entwicklung in den einzelnen Teilbereichen des Rechts näher in den Blick genommen wird. Im Folgenden wollen wir daher beginnen, ein differenziertes Bild der formellen Qualitäten des Rechts in den einzelnen Erscheinungsformen staatlichen Handelns zu zeichnen und aus ihnen die zentralen Entwicklungslinien zu destillieren, um vor diesem Hintergrund den Standort der alternativen Streitbeilegung im Verhältnis zum Zivilprozess näher zu bestimmen. 2. Wandel staatlichen Handelns: Der kooperative Staat Staat und Recht sind gegenwärtig einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Der traditionelle Eingriffsstaat alter Prägung wandelt sich in vielen Bereichen zum kooperativen, zum Verhandlungsstaat.177 Kennzeichen dieser Entwicklung sind eine zunehmende Informalisierung, Materialisierung und Privatisierung staatlichen Handelns als Reaktion auf eine massive Verrechtlichung.
173
Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17. Vgl. zum empirischen Befund eingehend unten S. 40 ff. 175 Zur Problematik eingehend Hau, ZZP 129 (2016), 133, 135 ff.; Wolf, NJW 2015, 1656 sowie die Beträge im Sammelband Höland/Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? Der Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz. Mögliche Ursachen und Folgen (2016), insbesondere Höland, in: Höland/Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? (2016), S. 11 ff. und Schubert, in: Höland/Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? (2016), S. 21 ff. Vgl. auch Callies, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), Verhandlungen des 70. DJT (2014), S. A 22 ff.; Hirtz, NJW 2014, 2529. 176 So in anderem Zusammenhang Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit (1985). 177 So schon Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 558 ff. Vgl. hierzu grundlegend Ritter, AÖR 104 (1979), 389 und auch v. Alemann/Heinze, Kooperativer Staat (1981); Voigt (Hrsg.), Der kooperative Staat (1995); Böhret, in: Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung (1997), S. 119, 126 ff.; Treutner, Verhandlungsstaat oder kooperativer Staat? (1999); Baer, Bürger im Verwaltungsrecht (2006), S. 93 f., 130 ff.; Pöllmann, Kooperativer Staat (2007). 174
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
a) Verrechtlichung Die Verrechtlichung des gesellschaftlichen Lebens – die quantitative Zunahme positiver Rechtsnormen und ihre qualitative Expansion in immer neue Lebensbereiche – steht als auslösendes Moment im Zentrum des gegenwärtigen Strukturwandels der Staatlichkeit und insbesondere der Institutionalisierung der alternativen Streitbeilegung innerhalb der Organisationsformen staatlicher Justiz.178 Sie ist allerdings keineswegs neu, sondern wurde in der Rechtssoziologie bereits um die Jahrhundertwende von Adolph Wagner als „Gesetz der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen bzw. Staatstätigkeiten“ formuliert.179 Und auch Max Weber stellte bereits vorausahnend die Prognose, dass das Recht „in technischem Gehalt“ stetig anschwellen und die Laien ihm mit „unvermeidlich zunehmende(r) Unkenntnis“ gegenüberstehen werden.180 Diese Prognose hat sich nach fast 100 Jahren erfüllt. Rechtschöpfung und Rechtsanwendung leiden unter einer zunehmenden „Hyperlexis“,181 einer „Hypertrophie des Rechts“182, die nicht nur auf Deutschland beschränkt ist, sondern auch im anglo-amerikanischen Rechtsraum als „legal explosion“183, „regulatory crisis“184 oder gar als „legal pollution“185 beklagt wird. Die Ursachen liegen in der zunehmenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, dem
178 Dazu grundlegend Kübler/Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984); Teubner, in: Kübler/Zacher/Simitis u.a. (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289; Teubner, Verrechtlichung (1997). Instruktiv hierzu Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 550 ff. und Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 363 ff. mwN. Vgl. auch die empirische Untersuchung zur Normen- und Prozessflut von Rottleuthner, ZfRSoz 1985, 206. 179 Wagner, Grundlegung der politischen Oekonomie I 1 (3. Aufl. 1893), S. 892 ff. 180 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 513: „Wie immer aber sich unter diesen Einflüssen das Recht und die Rechtspraxis gestalten mögen, unter allen Umständen ist als Konsequenz der technischen und ökonomischen Entwicklung, allem Laienrichtertum zum Trotz, die unvermeidlich zunehmende Unkenntnis des an technischem Gehalt stetig anschwellenden Rechts auf Seiten der Laien, also Fachmäßigkeit des Rechts, und die zunehmende Wertung des jeweils geltenden Rechts als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparats sein unvermeidliches Schicksal.“ Hervorhebung auch im Original. 181 So etwa Manning, 71 NW. U. L. REV. 767 (1977). Vgl. zur US-amerikanischen Diskussion auch Barton, 27 Stan. L. Rev. 567 (1975); Trubek/Sarat/Felstiner/Kritzer/Grossman, 31 UCLA L. Rev. 72, 83 ff. (1983) und zum Ganzen Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 333 (2005). 182 So Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 16, 39. 183 Barton, 27 Stan. L. Rev. 567 (1975). 184 So als Vertreter eines weitgehenden Rechtspluralismus Zumbansen, 56 Am. J. Comp. L. 769 (2008 ). Zur Kritik an der These der Krise des Rechts vgl. Rottleuthner, 17 Int'l J. Soc. L. 273 (1989) und unten S. 50 f. 185 Ehrlich, N.Y. Times Mag., 8. Februar 1976, 17, zitiert nach Teubner, in: Kübler/Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289, 290.
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
53
Wegfall traditioneller Formen der sozialen Konfliktlösung,186 einem Verlust an Selbstregulationsvermögen durch Bewusstmachung und Infragestellen bislang spontan befolgter Normen,187 einer Erweiterung der Staatsaufgaben vor allem auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge, einem gestiegenen Bedarf an rechtlichen Regelungen in der Folge der Technisierung und Industrialisierung (v.a. Regelungen zum Gefahren-, Daten-, Strahlen- und Umweltschutz) sowie in der wachsenden Bedeutung des internationalen Rechts und des Europarechts.188 Ausdruck findet die Verrechtlichung danach in einer angeblich stetig anschwellenden Normenflut (Vergesetzlichung), Prozessflut (Justizialisierung) und zunehmender Bürokratisierung. Entsprechende Argumente sind ein immer wiederkehrendes Motiv in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion um Alternativen zur Ziviljustiz und die Informalisierung staatlichen Handelns.189 Sie halten einer empirischen Überprüfung indes nicht in allen Punkten stand, sondern müssen differenziert bewertet werden. aa) Vergesetzlichung: Normenflut und „cultural lag“ Es ist das Verdienst Hubert Rottleuthners, die quantitative Entwicklung von Gesetzgebung und Judikatur in Deutschland seit 1871 systematisch untersucht zu haben.190 Die Ergebnisse zwingen zu einer deutlichen Relativierung der allgemeinen Sorge über eine explosionsartige Vermehrung des positiven Normbestandes. Zwar zeigt sich in der langfristigen Tendenz ein Anstieg sowohl in der Zahl als auch im Umfang neu erlassener Rechtsvorschriften. Jedoch wird dieses Ergebnis durch die später nicht wieder erreichten Höchststände Anfang
186 Betroffen sind vor allem Kirche, Familie und die Nachbarschaftsgemeinschaft, die bisher wesentliche Funktionen der Streitbeilegung übernommen haben. Vgl. hierzu den ehemaligen US Chief Justice Warren E. Burger: „Remedies for personal wrongs that once were considered the responsibility of institutions other than the courts are now boldly asserted as legal ‘entitlements.’ The courts have been expected to fill the void created by the decline of church, family, and neighborhood unity.“ Burger, 68 A.B.A. J. 274, 274 (1982). Eine eindrucksvolle Untersuchung der Funktion katholischer Priester als Konfliktmittler in Mexiko gibt die Untersuchung von Gessner, Recht und Konflikt (1976), S. 137 ff. („Ein Pater berichtete, daß er jährlich einige hundert Male angegangen werde, um familiäre Konflikte schlichten zu helfen.“). Vgl. zu den Folgen der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der Auflösung konfliktbewältigender Sozialbeziehungen Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 9 f.; Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 191. 187 Stürner, JR 1979, 133, 134; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 552. 188 Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 551 f. 189 Vgl. nur Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17; Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 191; Greger, ZKM 2004, 196. Differenzierend zur Normenflut: Eder, ZfRSoz 1987, 193, 198 ff. Zur empirischen Kritik der Prozessflut vgl. unten S. 40 ff. 190 Rottleuthner, ZfRSoz 1985, 206, 212 ff.
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
der 1920er Jahre und 1939 relativiert.191 Zu bedenken ist allerdings, dass der Normbestand insgesamt schon deshalb über das von Rottleuthner untersuchte Maß hinaus angewachsen ist, weil bestehendes Recht nicht im selben Umfang aufgehoben wurde.192 Eindeutig nachweisbar ist dagegen eine steigende Regelungsdichte und Regelungstiefe des Rechts, das immer neue, bislang der sozialen Selbstregulierung überlassene Bereiche erfasst und an Komplexität stetig zunimmt. Vom Individuum als Beschneidung seiner Privatautonomie beklagt, vom Staat dagegen als vermehrter Regelungsbedarf aufgrund des technischen und wirtschaftlichen Wandels der Gesellschaft beansprucht, ist die Bewertung des Verrechtlichungsschubs ambivalent. Zum Problem wird diese Entwicklung dann, wenn die Steuerungsfähigkeit des Rechts durch Hypertrophie beeinträchtigt wird. Verschärft wird die Problematik durch das dem Recht eigene, mitunter schwerfällige, zugleich indes stabilisierende Beharrungsvermögen, das zu einer Phasenverzögerung in der Steuerung sich stetig beschleunigender gesellschaftlicher Prozesse führen kann (cultural lag).193 Symptome eines entsprechenden Trends sind Ausweich- und Vermeidungstendenzen hin zu informalen und außerrechtlichen Steuerungsinstrumenten, und zwar sowohl aufseiten des Staates (z.B. informales Verwaltungshandeln) als auch aufseiten Privater (z.B. außergerichtliche Mediation). Das rasante Wachstum der alternativen Streitbeilegung ist daher durchaus als Reaktion auf zwei scheinbar gegenläufige Tendenzen erklärbar: der zunehmenden Verrechtlichung der Gesellschaft und der kulturellen Verspätung des Rechts in einer sich rasant beschleunigenden globalisierten Welt. bb) Juridifizierung: Prozessflut und „vanishing trial“ Von besonderer Bedeutung für die Untersuchung der Entwicklungsbedingungen der alternativen Streitbeilegung ist die Frage nach der empirischen Bestätigung der sogenannten Prozessflut und das damit verbundene Problem der Legitimität einer zweckhaften Instrumentalisierung von ADR-Verfahren zur Staatsentlastung. Sowohl in Deutschland als auch in den USA wird die Diskussion um Alternativen zur Ziviljustiz begleitet von Hinweisen auf einen vermeintlichen explosionsartigen Anstieg gerichtlicher Streitigkeiten und eine stetig steigende Überlastung der Gerichte. Gewarnt wird vor einer die Gerichte
191 Rottleuthner, ZfRSoz 1985, 206, 212 ff. In diesem Sinne auch Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 555; Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 367. 192 So Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 368. 193 Grundlegend: Ogburn, Kultur und sozialer Wandel (1969), S. 134 ff. Vgl. dazu auch Werner, Über Tendenzen der Entwicklung von Recht und Gericht in unserer Zeit (1965); Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 530 f. mwN.
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II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
überschwemmenden Prozessflut, in der die Justiz zu ertrinken droht und die zu ihrer Eindämmung des Rückgriffs auf ADR-Verfahren als kosten- und zeitsparender Alternative bedarf.194 2.500.000 2.000.000 1.500.000 1.000.000
Neuzugänge Gesamt
500.000
Erledigungen Gesamt
2015
2012
2009
2006
2003
2000
1997
1994
1991
1988
1985
1981
1978
1975
0
Abbildung 1: Neuzugänge und Erledigungen in erstinstanzlichen Verfahren in Zivilsachen vor den Amts- und Landgerichten 1975-2015195 Betrachtet man allerdings die tatsächliche Entwicklung des Geschäftsanfalls bei den Zivilgerichten, so wird dieses Bild deutlich relativiert.196 Seit dem Höhepunkt 1995 sind die Neueingänge an erstinstanzlichen Zivilsachen bei den
194 Vgl. nur Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17, der neben zunehmender Komplexität und Überregulation einen „explosionsartigen Anstieg gerichtlicher Streitigkeiten mit der bekannten Folge der Überlastung der Gerichte“ beklagt. Ähnlich Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 190 ff. („Damit droht die Justiz in einer Prozeßflut zu ertrinken.“) und Greger, ZKM 2004, 196 („Der Anlass zur stärkeren Inanspruchnahme außergerichtlicher Streitbeilegungsverfahren ergibt sich aus mehreren Gründen. Einer von ihnen ist die zunehmende Belastung der Gerichte mit zivilrechtlichen Streitigkeiten. Die Zahl der neu anhängig werdenden Zivilprozesse hat in Bayern innerhalb der letzten zwei Jahre um mehr als 10 % zugenommen.“). Differenzierend die Untersuchungen in Blankenburg (Hrsg.), Prozessflut (1989). 195 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1975-2004). Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2005-2015), Tabellen 1.1, 4.1. 196 Für die Untersuchung wurde folgendes Datenmaterial zugrunde gelegt: für den Zeitraum 1975-2015 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1975-2004) und Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2005-2015), Tabellen 2.1.2, 5.1.2. Für den Zeitraum 1881 – 1975 wurde auf die Daten bei Rottleuthner, ZfRSoz 1985, 206, 236 f., 238 und Röhl,
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
Amts- und Landgerichten deutlich rückläufig und insgesamt von 2,2 Millionen im Jahr 1995 auf 1,4 Millionen im Jahr 2015 und damit um 36,4 % gefallen.197 Ein ähnliches Ergebnis ergibt sich, wenn man Amts- und Landgerichte gesondert betrachtet: So ist bei den Amtsgerichten die Zahl der Neuzugänge in Verfahren erster Instanz seit 1995 von 1,8 auf 1,1 Millionen im Jahr 2015 zurückgegangen und damit um 38,9 % eingebrochen.198 2.000.000 1.600.000 1.200.000 AG Neuzugänge AG Erledigungen LG Neuzugänge LG Erledigungen
800.000 400.000
2015
2012
2009
2006
2003
2000
1997
1994
1991
1988
1985
1981
1978
1975
0
Abbildung 2: Neuzugänge und Erledigungen in erstinstanzlichen Verfahren vor den Amts- und Landgerichten 1975-2015199
Rechtssoziologie (1987), S. 556 zurückgegriffen. Vgl. zur Problematik auch Hau, ZZP 129 (2016), 133, 135 ff.; Wolf, NJW 2015, 1656; Callies, in: Deutscher Juristentag (Hrsg.), Verhandlungen des 70. DJT (2014), S. A 22 ff.; Hirtz, NJW 2014, 2529 sowie die Beträge im Sammelband Höland/Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? Der Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz. Mögliche Ursachen und Folgen (2016), insbesondere Höland, in: Höland/Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? (2016), S. 11 ff. und Schubert, in: Höland/Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? (2016), S. 21 ff. 197 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1975-2004). Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2015), Tabelle 1.1. 198 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1995); Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2015), Tabelle 1.1. 199 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1975-2004). Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2005-2015), Tabelle 1.1., Tabelle 4.1.
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II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
Und auch bei den Landgerichten ist der Rückgang erheblich, wenn auch nicht im gleichen Umfang, wie dies bei den Amtsgerichten der Fall ist. Hier ist die Anzahl der Verfahren im gleichen Zeitraum lediglich um 21,2 % gesunken: Lag die Zahl der Neueingänge in Zivilsachen erster Instanz bei den Landgerichten 1995 noch bei 418.807 Verfahren, so ist diese Zahl im Jahr 2015 bereits auf 330.035 und damit auf das Niveau von 1984 zurückgegangen.200 Dieser Befund wird durch eine Langzeitbetrachtung bestätigt. Bei einer Analyse der Entwicklung der Prozessrate in Deutschland seit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze wird deutlich, dass die Gerichte zwischen 1881 und 1933 wesentlich häufiger in Anspruch genommen wurden, als dies in der Bundesrepublik seit 1950 der Fall ist.201 6.000.000
Zivilprozesse insgesamt
4.000.000
Zivilprozesse vor dem LG Zivilprozesse vor dem AG
2.000.000
1985
1983
1981
1979
1977
1975
1973
1971
1969
1967
1965
1930
1920
1910
1900
1890
1881
0
Abbildung 3: Anhängige Verfahren in Zivilsachen vor den Amts- und Landgerichten 1881-1985202 Zwar ist für die Bundesrepublik seit ihrer Gründung ein kontinuierlicher Anstieg der Zivilverfahren nachweisbar – mit Rückläufen 1975, 1986 und jüngst wieder seit 1995 –, doch lag die Prozessrate bei ihrem Höhepunkt 1931 mit 200
Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1984, 1995); Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2015), Tabelle 4.1. Im Jahr 1984 lag die Zahl der Neuzugänge in erstinstanzlichen Verfahren vor den Landgerichten bei 331.589. 201 Vgl. Rottleuthner, ZfRSoz 1985, 206, 236 f., 238; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 556. 202 Der Darstellung wurden die Zahlen bei Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 556 zugrunde gelegt. Für den Zeitraum von 1881-1970 wurden die Daten in Fünfjahresschritten, ab 1975 in Ganzjahresschritten erhoben und die X-Achse entsprechend skaliert. Der Zeitraum zwischen 1930 und 1957 wurde hier nicht berücksichtigt.
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
über 4 Millionen erstinstanzlichen Zivilprozessen bei 63,5 Millionen Einwohnern dreimal höher als heute in der Bundesrepublik. Deutliche Anstiege waren lediglich in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit sowie bei den Familiengerichten203 zu verzeichnen, wobei sich die Situation bei den Verwaltungsgerichten seit 2014 mit etwas rückläufigen Eingangszahlen mittlerweile wieder etwas entspannt hat.204 Neuzugänge Verwaltungsgerichte
400.000
Erledigungen Verwaltungsgerichte Gesamtzahl Verwaltungssachen
300.000 200.000 100.000
2015
2013
2011
2009
2007
2005
2003
2001
1999
0
Abbildung 4: Neuzugänge und Erledigungen in erstinstanzlichen Verfahren vor den Verwaltungsgerichten 1999-2015205
203 Vgl. Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Familiengerichte: Fachserie 10 Reihe 2.2 (1992-2015), Tabelle 1.1. So stieg die Anzahl der Neuzugänge bei erstinstanzlichen Verfahren vor den Familiengerichten von 393.245 im Jahr 1992 auf 654.382 im Jahr 2015 und damit um 66,4 % an. Allerdings haben sich aufgrund des Inkrafttretens des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 17.12.2008 (BGBl. I S. 2586, 2587) erhebliche Veränderungen des Geschäftsanfalls für Familiensachen ergeben, so dass die Jahresergebnisse vor und nach Inkrafttreten des Gesetzes nur bedingt vergleichbar sind und auf eine grafische Darstellung verzichtetet wurde. 204 So ist die Zahl der Neuzugänge bei erstinstanzlichen Verfahren vor den Verwaltungsgerichten von 151.463 im Jahr 2013 auf 142.947 im Jahr 2014 gesunken. Ob der leichte Anstieg auf 144.628 Neuzugänge im Jahr 2015 anhält, bleibt abzuwarten. Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Verwaltungsgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.4 (2013-2015), Tabelle 1.1.1. Für die Familiengerichtsbarkeit Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Familiengerichte: Fachserie 10 Reihe 2.2 (2013), Tabelle 1.1. 205 Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Verwaltungsgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.4 (1999-2015), Tabelle 1.1.1.
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
59
So waren von 1999 bis 2011 die Eingangszahlen bei den Verwaltungsgerichten ebenfalls rückläufig. Entsprechend ist von 1999 bis 2011 die Zahl der Neuzugänge bei erstinstanzlichen Verfahren an den Verwaltungsgerichten von 190.946 auf 119.531 und damit um 37,4 % gesunken.206 Erst seit 2012 ist mit 132.789 Verfahren wieder ein leichter Anstieg der Neuzugänge zu verzeichnen, der für den Zeitraum bis 2015 mit 17,35 % indes vergleichsweise gering ausfällt.207 Die Zahl der anhängigen Verwaltungsverfahren ist von 2005 bis 2015 kontinuierlich um insgesamt 42,33 % gesunken.208 Insgesamt erlebt die Bundesrepublik mit Blick auf die Prozesshäufigkeit im Vergleich zur Entwicklung vor 1950 damit eine deutlich ruhigere Phase, so dass die Warnungen im Schrifttum vor einer drohenden Prozessflut differenziert betrachtet werden müssen. Für die Zivilgerichtsbarkeit der Gegenwart dürfen sie als widerlegt gelten. Angesichts der Parallelen in Entwicklung und Diskussion lohnt ein rechtsvergleichender Blick in die USA. Hier lässt sich eine ähnliche Tendenz beobachten, die jedoch – im Gegensatz zur deutschen Prozessualistik, die sich erst in jüngerer Zeit der Thematik intensiver zugewandt hat209 – vom Schrifttum bereits seit längerem intensiv aufgegriffen und lebhaft diskutiert wird.210 Auch hier ist ein dramatischer Rückgang der Zivilprozesse in einem derart erheblichen Ausmaß zu verzeichnen, dass mittlerweile vom Phänomen des „schwindenden Prozesses“ die Rede ist (vanishing trial phenomenon). So ist nach einem kontinuierlichen Anstieg mit einem Höhepunkt im Jahr 1985 die Zahl der Zivilverfahren vor den US-District Courts, welche das Stadium der Hauptverhandlung (trial stage) erreicht haben, seitdem bis 2016 um insgesamt
206
Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Verwaltungsgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.4 (1999-2015), Tabelle 1.1.1. 207 Im Jahr 2015 lag die Zahl der Neuzugänge bei den Verwaltungsgerichten bei 144.628 erstinstanzlichen Verfahren. Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Verwaltungsgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.4 (2011-2015), Tabelle 1.1.1. 208 Von 217.075 anhängigen Verwaltungsverfahren im Jahr 2005 auf 125.197 im Jahr 2015 (jeweils zum Jahresbeginn). Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Verwaltungsgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.4 (2005, 2015), Tabelle 1.1.1. 209 Vgl. hierzu aus jüngerer Zeit etwa Hau, ZZP 129 (2016), 133, 135 ff.; Wolf, NJW 2015, 1656 sowie die Tagungsbeiträge in Höland/Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? Der Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz. Mögliche Ursachen und Folgen (2016). 210 Aus dem umfangreichen Schrifttum zum vanishing trial vgl. nur die grundlegenden Untersuchungen von Galanter, 1 J. Empirical Legal Stud. 459 (2004) und Ostrom/ Strickland/Hannaford-Agor, 1 J. Empirical Legal Stud. 755 (2004). Vgl. zur Diskussion ferner Luban, 83 Geo. L.J. 2619 (1995); Kritzer, 1 J. Empirical Legal Stud. 735 (2004); Landsman, 1 J. Empirical Legal Stud. 973 (2004); Resnik, 1 J. Empirical Legal Stud. 783 (2004); Stipanowich, 10 No. 4 Disp. Resol. Mag. 7 (2004); Kovach, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 27 (2005).
60
§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
77,8 % gesunken.211 Eine ähnliche Entwicklung lässt sich für die State Courts nachweisen.212 10.000
Bench Trials Jury Trials
8.000 6.000 4.000 2.000
2016
2013
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2007
2004
2001
1998
1995
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1986
1983
1980
1977
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1968
1965
1962
0
Abbildung 5: Klagen im Stadium der Hauptverhandlung (trial stage) vor USDistrict Courts 1962-2016213 Gleichzeitig ist die Zahl der eingereichten Klagen von 1962 bis 2016 um 534,38 % und damit um mehr als das Fünffache gestiegen,214 ein Phänomen,
211
Von insgesamt 12.529 Verfahren im Jahr 1985 (davon 6.253 bench trials und 6.276 jury trials) auf 2.781 Verfahren im Jahr 2016 (davon 816 bench trials und 1.965 jury trials), Administrative Office of the U.S. Courts, Annual Report of the Director (1962-2016), Table C-4 (U.S. District Courts – civil cases terminated, by nature of suit and action taken, during the 12-month period ending September 30, 1985-2016). Ein beträchtlicher Teil der Verfahren, die das Stadium der Hauptverhandlung erreichen, wird während und damit noch vor Abschluss des Prozesses beendet, 1988 zu einem Anteil von 24 %, 2002 zu einem Anteil von 18 %. Davon zu unterscheiden sind die Verfahren, die bereits während des Vorverfahrens beendet werden. Sie sind für den dramatischen Einbruch der Anzahl der verhandelten Prozesse verantwortlich. Vgl. unten Abbildung 5. Galanter, 1 J. Empirical Legal Stud. 459, 461 (2004). 212 Ostrom/Strickland/Hannaford-Agor, 1 J. Empirical Legal Stud. 755 (2004). 213 Datenbasis: Administrative Office of the U.S. Courts, Annual Report of the Director (1962-2016), Table C-4 (U.S. District Courts – civil cases terminated, by nature of suit and action taken, during the 12-month period ending September 30). Zur Interpretation des Befundes vgl. die eingehende Analyse von Galanter, 1 J. Empirical Legal Stud. 459, 461 ff., 464 ff., 515 ff., 532 (2004). 214 Von 54.615 Verfahren im Jahr 1962 auf 291.851 Verfahren 2016. Administrative Office of the U.S. Courts, Annual Report of the Director (1962-2016), Table C (U.S. District
61
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
das mit den Besonderheiten des US-amerikanischen Zivilprozesses, seinem umfangreichen Vorverfahren (pretrial discovery) und der hohen Vergleichsrate zu erklären ist. 350.000 300.000 250.000 200.000 150.000 eingereichte Klagen
100.000 50.000
2016
2013
2010
2007
2004
2001
1998
1995
1992
1989
1986
1983
1980
1977
1974
1971
1968
1965
1962
0
Abbildung 6: Eingereichte Klagen in Zivilsachen vor US-District Courts 1962-2016215 Die diskutierten Ursachen für den Rückgang der Zivilprozesse sind vielfältig: Sie reichen von mangelhafter Qualität der Justizgewährung durch Überforderung der Gerichte, der Komplexität heutiger Verfahren vor allem vor dem Hintergrund des technischen Fortschritts, einer Abnahme der allgemeinen Klagefreudigkeit, hohem Kosten- und Zeitaufwand, einer geringen Klageneigung der
Courts – civil cases commenced, terminated, and pending during the 12-month periods ending September 30). Vgl. Galanter, 1 J. Empirical Legal Stud. 459, 516 (2004). Selbst unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums beträgt die Steigerung immer noch das 3Fache: So betrug die Anzahl der Neuzugänge in Zivilsachen pro 1.000 Einwohner im Jahr 1962 0,29, im Jahr 2016 dagegen 0,90, was einer Steigerung um 32,22 % entspricht. Table C (U.S. District Courts – civil cases commenced, terminated, and pending during the 12month periods ending September 30, 1962-2016). Datenbasis für die US-Bevölkerung: U.S. Bureau of the Census, Total Population: All Ages including Armed Forces Overseas [POP], abgerufen am 10.4.2017 von FRED, Federal Reserve Bank of St. Louis; https://fred.stlouisfed.org/series/POP (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 215 Datenbasis: Administrative Office of the U.S. Courts, Annual Report of the Director (1962-2016), Table C (U.S. District Courts – civil cases commenced, terminated, and pending during the 12-month periods ending September 30). Zum Befund eingehend Galanter, 1 J. Empirical Legal Stud. 459, 485 ff., 501 f., 510 ff., 515 ff., 546 (2004).
62
§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
Käufer als one-shotters in Verbraucherstreitigkeiten, einer gestiegenen Bereitschaft zur Kulanz bei Einzelhändlern und Dienstleistern, psychologischen Mechanismen wie der diffusen Angst vor dem Ungewissen, einer verbreiteten Neigung zur Dissonanzreduktion, einer gestiegenen Bereitschaft zum „Abhaken“ zur Vermeidung von Unannehmlichkeiten („Hazzle-Faktor“), nicht unerhebliche Gerichtsgebühren und Anwaltskosten, eine „Mittelstandsklemme“ mit Blick auf die Prozessfinanzierung, Scheu vor dem Prozessrisiko bis hin zu einer verstärkten Nutzung der Verfahren der alternativen Streitbeilegung.216 Auffallend ist in der Tat die zeitliche Korrelation zwischen dem Auftreten der ADR-Bewegung, die sich seit Mitte der 80er Jahre als fester Bestandteil des US-amerikanischen Justizsystems etabliert hat, und dem Rückgang der Zivilverfahren, die bis zum Stadium der Hauptverhandlung gelangt sind. Vor dem Hintergrund der gleichzeitig deutlich gestiegenen Zahl der Klagen liegt es nahe, hier einen vergleichsfördernden Effekt gerichtsverbundener ADR-Programme und des außergerichtlichen ADR-Angebots zu sehen.217 Ob dies auch für Deutschland gilt, muss indes bezweifelt werden. Die vergleichsweise niedrige Zahl der Anträge auf Schlichtung bei den gesetzlich anerkannten Schlichtungsstellen – sie lag 2015 bei rund 60.000 Anträgen218 – ist in diesem Zusammenhang hier nur begrenzt aussagekräftig, weil sie ADR-Verfahren außerhalb institutionalisierter Schlichtungsangebote – etwa freie Mediatoren sowie sonstige informelle ADR-Angebote – nicht erfasst. Allerdings dürfte der Anteil der im Wege der ADR-Verfahren beigelegten Streitigkeiten in Deutschland im Vergleich zu den USA insgesamt keine nennenswerte Größe erreicht haben. Der signifikante Rückgang der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten muss daher auf anderen Ursachen beruhen. Wir haben gesehen, dass das Argument der Prozessflut weder für die Situation in Deutschland noch für jene in den USA zur Begründung der alternativen Streitbeilegung herangezogen werden kann. Damit ist zugleich die Frage nach der Legitimität einer rein zweckrational motivierten Förderung von ADR-Verfahren aufgeworfen, die im Mittelpunkt der Einrichtung gerichtsnaher Mediationsprogramme steht. Wie wir später mit Blick auf die US-amerikanische Diskussion sehen werden, ist ein rein staatsökonomisch motivierter Zugang zu Verfahren der alternativen Streitbeilegung problematisch, nicht allein aus rechtspolitischen, sondern mehr noch aus dogmatischen Gründen, die letztlich das Verhältnis, die Form und die Funktion der Verfahren der alternativen 216 Hau, ZZP 129 (2016), 133, 136 ff. m.w.N.; Kovach, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 27, 33 ff. (2005). 217 Kovach, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 27, 34 (2005). 218 Streitbeilegungsanträge von Verbrauchern, die bei bestehenden Schlichtungsstellen in den Bereichen Versicherung, Energieversorgung, öffentlicher Personenverkehr, Telekommunikation und Finanzdienstleistungen eingehen, BT-Drucks. 18/5089, S. 42. Hierzu Hau, ZZP 129 (2016), 133, 136.
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
63
Streitbeilegung wie auch des Zivilprozesses im System der Konfliktbehandlung berühren. In dieser Argumentationslinie wird die konsensuale Konfliktbeilegung zu einem Instrument staatlichen case managements mit dem Ziel der Entlastung der Justiz.219 Ihre Förderung erfolgt insoweit nicht mehr allein aufgrund des „eigenen Wert[es] als Streitschlichtungsverfahren“,220 aufgrund ihrer Eignung zu einer interessengerechten und den Rechtsfrieden ermöglichenden Konfliktbeilegung, sondern erscheint nun vor allem aus äußeren Gründen der „Verfahrenseffizienz“ im Sinne einer Kosten- und Zeitersparnis geboten. So folgerichtig das Ergebnis – die Förderung der alternativen Streitbeilegung als notwendige Ergänzung staatlicher Justizgewährung – ist, so bedeutsam ist jedoch auch der Verzicht auf jegliche Instrumentalisierung der alternativen Streitbeilegung durch den Staat. Wie wesentlich eine klare Absage an eine rein staatsökonomisch motivierte Zweckrationalität für ein gelungenes Verhältnis von alternativer Streitbeilegung und Zivilprozess ist, zeigt ein Blick auf die US-amerikanische Institutionalisierungsdebatte: Die Instrumentalisierung der Mediation durch die Gerichte hat hier die intensiv diskutierte Frage aufgeworfen, inwieweit der Institutionalisierungsprozess zum einen die Kernprinzipien der Mediation, wie die Verfahrensherrschaft durch die Parteien und die privatautonome Entscheidungsfindung, zum anderen die Rechtsschutzfunktion der Gerichte auszuhöhlen droht.221 Denn anstatt das Justizsystem zu verändern, hätten sich die ADRVerfahren selbst verändert.222 Die Integration in gerichtsverbundene ADR-Programme hätte zu einer Transformation der ADR-Verfahren selbst geführt, die
219
Dazu Prütting, JZ 1985, 261, 263 f.; Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 190; Katzenmeyer, ZZP (115) 2002, 51, 55. Die Einschätzung des damaligen Präsidenten des BVerfG Ernst Benda auf dem Deutschen Richtertag 1979 in Essen, die Rechtsgewährung sei ein „knappes Gut“, wirkte als Initialzündung und trug erheblich dazu bei, die Diskussion um Alternativen zur Ziviljustiz einzuleiten. Vgl. hierzu Deutscher Richterbund, Kurskorrekturen im Recht (1980), S. 357 ff.; Katzenmeyer, ZZP 115 (2002), 51, 55 Fn. 23. 220 So die Begründung des Vorschlags der Europäischen Kommission zur Mediationsrichtlinie v. 22.10.2004 (Begründung), KOM(2004) 718 endg., S. 4. Hervorhebungen durch den Verfasser. 221 So Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1, 39 (1991): „To what extent will courts lose their legitimacy as courts if too many other forms of case-processing are performed within their walls? If the ‘other‘ processes are not considered legitimate within public institutions, they will be legally challenged and transformed so that they will no longer be ‘alternatives‘, but only watered-down versions of court adjudication. These watered-down versions may be violative of the legal rights and rules our courts are intended to safeguard.“ Vgl. hierzu die US-amerikanische Institutionalisierungsdebatte, Nachweise oben S. 2, Fn. 6. 222 Vgl. nur Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1, 32 (1991): „As advocates have grabbed hold of ADR, they have transformed it into another arena of battle.“ sowie ebenda, S. 39: („but only watered-down versions of court adjudication“).
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
– der Geltung ihrer Kernprinzipien beraubt – zu verwässerten Nachbildungen gerichtlicher Verfahren mutiert seien.223 Die alternative Streitbeilegung müsse sich daher entweder von den Gerichten lösen, sich aus der Vereinnahmung durch die Justiz befreien („liberate itself from the courts“)224 oder sich selbst grundlegenden Verfahrensgarantien unterwerfen.225 Auch wenn dieser Befund aufgrund der Unterschiede im Gerichtssystem und in der Gestaltung gerichtsverbundener Mediationsprogramme nicht ohne weiteres auf die Situation in Deutschland übertragbar ist, so werden doch die Gefahren deutlich, die mit einer rein zweckorientierten Institutionalisierung der alternativen Streitbeilegung verbunden sind. Die Dass die Gefahr einer Verwässerung der ADR-Verfahren, einer Transformation in gerichtsähnliche Verfahren zweiter Klasse, letztlich die Schaffung einer Paralleljustiz im Gewand der Alternativen Streitbeilegung nicht ganz unrealistisch ist, hat die Einführung des Verbraucherstreitbeilegungsverfahrens durch das 2016 in Kraft getretenen VSBG gezeigt.226 Vorzugswürdig ist daher ein Ansatz, der mit der Kapazität der Mediation zur nachhaltigen, kausalen und interessengerechten Konfliktbehandlung einen Aspekt als „wichtigste[n] Gesichtspunkt“227 in den Blick nimmt, der den Kern des Mediationsverfahrens betrifft und der zunehmend auch von den übrigen Beteiligten in der Rechtsgemeinschaft akzentuiert wird: Die Erkenntnis, dass „die Mediation einen eigenen Wert als Streitschlichtungsverfahren [besitzt]“228 und sie daher „unabhängig von der Entlastung der Gerichte gefördert werden sollte.“229
223
Ebenda. Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929, 1015 (2004). 225 In diese Richtung Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929, 1015 (2004) im Anschluss an Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003): „ …if mediation is to survive as a conciliatory ADR process, it must ‘liberate itself from the courts;’ otherwise, it simply capitulates to an adjudicative routine.”; Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002): „Thus, the institutionalization of Procedural Justice in mediation, rather than the abandonment of this consensual process … will respond more accurately to the preferences of disputants …”. 226 Zur Diskussion vgl. nur Halfmeier, VuR (Sonderheft) 2016, 17, 18 ff., 21 ff.; Wendland, KritV 2016, 301 ff.; Althammer, in: Althammer (Hrsg.), Verbraucherstreitbeilegung (2015), S. 9, 15 ff.; Eidenmüller, ZKM 2015, 131 (131); Eidenmüller/Engel, ZZP 128 (2015), 149 (153); Engel, NJW 2015, 1633 (1634 ff.); Grupp, AnwBl. 2015, 186; Hess, JZ 2015, 548 (551 ff.); Hess, FS Müller-Graff (2015), S. 390 ff.; Roth, DRiZ 2015, 24 (25 ff.); Schulte-Nölke, EuCML 2015, 135 (137 ff.); MellerHannich/Höland/Krausbeck, ZEuP 2014, 8 (31 ff.); Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (320 f.); Wagner, CMLR 2014, 165 (171); Eidenmüller/Engel, ZIP 2013, 1704 (1705 ff.); Roth, JZ 2013, 637 (641 ff.); Stürner, GPR 2014, 122 (123); Wagner, ZKM 2013, 104 (105 ff.) sowie Berlin, Alternative Streitbeilegung in Verbraucherkonflikten (2014), S. 41 ff., 283 ff. 227 Begründung des Vorschlags der Kommission zur Mediationsrichtlinie v. 22.10.2004 (Begründung), KOM(2004) 718 endg., S. 4. 228 KOM(2004) 718 endg., S. 4. Hervorhebungen durch den Verfasser. 229 Ebenda. 224
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cc) Folgen: Konfliktenteignung und Kolonialisierung der Lebenswelt Verrechtlichung tritt in der Gesellschaft vorwiegend als Normenflut (Vergesetzlichung) und Bürokratisierung, zumindest seit 1995 jedoch kaum noch als Prozessflut in Erscheinung. Die Folgen sind dennoch erheblich: Sie werden als Konfliktenteignung und weitgehende „Kolonialisierung der Lebenswelt“230 erlebt. Konfliktenteignung betrifft die Bereitstellung rechtsförmiger Verfahren zur Konfliktbeilegung, die die Streitbeilegung von den Betroffenen weg auf Dritte verlagern. Die Folge ist zum einen eine Eskalation durch den kontradiktorischen Charakter des Zivilprozesses selbst,231 zum anderen eine die eigentlichen Interessen der Parteien nur unzureichend berücksichtigende, defizitäre Konfliktbehandlung.232 Verfahren der alternativen Streitbeilegung setzen an diesem Punkt an: Sie ersetzen die heteronome Konfliktlösung im Rahmen des Zivilprozesses durch privatautonome ADR-Verfahren und sind damit Reaktion auf die negativen Begleiterscheinungen der Verrechtlichung. Die Habermasʼsche Formel von der Kolonialisierung der Lebenswelt233 beschreibt die Folgen der Verrechtlichung für die Sozialbeziehungen des Individuums, dem durch die Systemzwänge einer ökonomischen und bürokratischen Rationalität eine von gemeinsamen kulturellen Werten und Normen zunehmend entbundene Handlungslogik aufgezwungen wird.234 Sie verweist auf die völlige Unterwerfung der Lebenswelt unter systemische Imperative, mit der Folge, dass das gesellschaftliche Zusammenleben verkümmert und die Kraft integrierender lebendiger Kommunikation zunehmend ermattet.235 Es sind vor allem die Verfahren der alternativen Streitbeilegung, hier insbesondere die Mediation, die in besonderer Weise auf die Wiederherstellung der Kommunikation in der Konfliktbehandlung ausgerichtet sind. Die ADR-Bewegung ist damit als notwendige Gegenbewegung zur zunehmenden Verrechtlichung der Gesellschaft begreifbar. Sie reagiert auf die negativen Auswirkungen einer stetigen Verrechtlichung weiter Teile der menschlichen Lebenswelt und erfüllt damit eine zentrale sozialintegrative Funktion.
230 Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 533 f.; Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (1981), S. 522 ff. 231 Vgl. dazu eingehend oben, S. 24. 232 Oben, S. 15. 233 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (1981), S. 522 ff. 234 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (1981), S. 522 ff. 235 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (1981), S. 522 ff.
66
§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
b) Materialisierung Die Institutionalisierung der alternativen Streitbeilegung vollzieht sich vor dem Hintergrund einer weitgehenden Materialisierung des Rechts, die zu einem prägenden Merkmal der aktuellen Rechtsentwicklung geworden ist.236 Der Begriff der Materialisierung im Sinne Max Webers beschreibt die Herauslösung des Rechts aus blinder Zweckverfolgung durch inhaltliche Ausrichtung anhand scheinbar außerrechtlicher Entscheidungskriterien.237 In der Privatrechtstheorie tritt sie uns leicht abgewandelt in Form der materiellen Vertragsgerechtigkeit und der materiellen Vertragsfreiheit gegenüber.238 Materielle Vertragsgerechtigkeit239 – nach Ludwig Raiser das „Herzstück einer juristischen Vertragslehre“240 – betrifft die Frage der inhaltlichen Angemessenheit und Gleichgewichtigkeit des vertraglichen Leistungsaustausches, materielle Vertragsfreiheit241 zielt auf die vom Vertragsinhalt zu unterscheidende Möglichkeit der Parteien, von ihrer rechtlich gewährleisteten Abschluss- und Inhaltsfreiheit auch tatsächlich Gebrauch zu machen. Dem steht als Kehrseite ein formales Verständnis beider Kategorien gegenüber, nach dem es für die formale Vertragsgerechtigkeit nicht auf den Inhalt einer Vereinbarung, sondern allein auf die freie Willensbetätigung der Vertragsparteien ankommt, und das Vereinbarte somit unabhängig von seinem Inhalt allein aufgrund seiner Frei-
236
So übereinstimmend das Urteil der Rechtssoziologie, vgl. nur Eder, ZfRSoz 1987, 193, 206; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 542, 558; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 16 ff.; Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 64 ff., 67; Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 373 ff. 237 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396 f., 468 ff., 504 f. 238 Zum Zusammenhang von Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit vgl. näher Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit (2018), S. 174 ff., 247 ff., 293; Remien, Zwingendes Vertragsrecht (2003), S. 150 ff. 239 Hierzu eingehend unten S. 69 ff. sowie Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit (2018), S. 112 ff., 166 ff.; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 23 ff. 240 Raiser, FS 100 Jahre DJT (1960), S. 101, 129. Zustimmend Schmidt-Rimpler, FS Raiser (1974), S. 3, 24. 241 Hierzu eingehend Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit (2018), S. 104 ff.; Hellwege, AGB und Rechtsgeschäftslehre (2010), S. 5 ff; Denkinger, Verbraucherbegriff (2007), S. 35, 37; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 23 ff.; Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277 f; Heinrich, Formale Freiheit (2000), S. 54 mwN; Hönn, Vertragsparität (1982), S. 298 f. Zum Verhältnis von formaler und materieller Vertragsfreiheit im Verbraucherrecht vgl. auch Gsell, JZ 2012, 814, 815.
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willigkeit als gerecht und bindend anzuerkennen ist. Für die formale Vertragsfreiheit242 kommt es allein auf die Feststellung der abstrakt-rechtlichen Gleichheit der Parteien an. Ob diese über gleiche vertragliche Partizipationschancen verfügen und auch tatsächlich in der Lage sind, ihre Interessen im Rahmen der Vertragsverhandlungen durchzusetzen, ist dabei unerheblich. Dieses formale Verständnis der Vertragsgerechtigkeit und der Vertragsfreiheit prägt das für die liberale Grundkonzeption des geltenden deutschen Privatrechts zentrale Prinzip der Privatautonomie.243 Gleichwohl hat sich bereits um 1900 die Einsicht durchgesetzt, dass ein überwiegend formales Verständnis von Vertragsgerechtigkeit und Vertragsfreiheit der oft mangelnden Entscheidungsfreiheit der faktisch unterlegenen Vertragspartei nicht gerecht wird und des Ausgleichs bedarf.244 Daher wird die ursprünglich weitgehend formale Ausrichtung des deutschen Privatrechts vielfach durch materielle Wertungen durchbrochen. Im Rahmen der Vertragsfreiheit durch systemkonforme Bestimmung ihrer Grenzen, „weil Privatautonomie auf dem Prinzip der Selbstbestimmung beruht, also voraussetzt, daß auch die Bedingungen freier Selbstbestimmung tatsächlich gegeben sind.“245
242 Hierzu eingehend Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit (2018), S. 104 ff.; Hellwege, AGB und Rechtsgeschäftslehre (2010), S. 5 f; Denkinger, Verbraucherbegriff (2007), S. 35 ff; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 25 ff; Becker, Der unfaire Vertrag (2003), S. 41 ff; Heinrich, Formale Freiheit (2000), S. 53 f; Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277 ff; Busche, Privatautonomie (1999), S. 99 ff; Drexl, Selbstbestimmung (1998), S. 293 ff; Lorenz, Schutz (1997), S. 498; Oechsler, Gerechtigkeit (1997), S. 127 f; Bydlinski, System und Prinzipien (1996), S. 93 f; Höfling, Vertragsfreiheit (1991), S. 20 ff., 44 ff; Hönn, Vertragsparität (1982), S. 289 ff; Kramer, Krise (1974), S. 20 ff; Wolf, Entscheidungsfreiheit (1970), S. 101 ff., 125 ff., 146 ff., 195 ff; Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 19 ff. Vgl. Auch Singer, Selbstbestimmung (1995), S. 8 ff., 18 ff., 27 ff; Fastrich, Inhaltskontrolle (1992), S. 36 ff., 44 ff. ; Fischer, Vertragsfreiheit (1952), S. 55. 243 Zum Ausdruck kommt der formale Gerechtigkeitsbegriff des deutschen Privatrechts etwa in der Ablehnung eines materiellen Verständnisses vertraglicher Äquivalenz zugunsten eines rein formalen Äquivalenzprinzips. Vgl. hierzu Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit (2018), S. 105, 174 ff.; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 25; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967), S. 478 ff., 480 f. Zur frühen Kritik am liberalen Vertragsdenken vgl. Knobel, Wandlungen (2000), S. 25 ff. sowie Hönn, Vertragsparität (1982), S. 5, 16 Fn. 72. Zur zeitgenössischen Diskussion Hofer, Freiheit ohne Grenzen (2001), S. 13 ff., 49 ff., 74 ff., 132 ff., 275 ff. 244 Zu dieser Entwicklung eingehend eingehend Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit (2018), S. 180 ff.; Denkinger, Verbraucherbegriff (2007), S. 38 f.; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 45; Wieacker, Sozialmodell (1953), S. 18; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967), S. 586 ff. 245 BVerfGE 81, 242, 254 f. (Handelsvertreter).
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Im Rahmen der Vertragsgerechtigkeit durch inhaltliche Wertungen als Ausdruck einer Antinomie zwischen einem bloß formellen und einem weitergehenden materiellen Gerechtigkeitsbegriff, die auf der Ebene der Rechtsdogmatik in einer Vielzahl von Kompromisslösungen zum Ausgleich gebracht worden ist. Beispiele für diese Rematerialisierungstendenz bilden die Rückkehr vom formalen Konsensprinzip des Vertragsrechts zum materiellen Äquivalenzprinzip im Rahmen der nach dem ersten Weltkrieg entwickelten Aufwertungsrechtsprechung des Reichsgerichts,246 die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Nichtigkeit wucherähnlicher Ratenkreditverträge (§ 138 Abs. 1 BGB),247 die Kasuistik zu den Generalklauseln der §§ 242, 138 BGB als den „Einfallstore[n] für materielle Wertungen“248, die Inhaltskontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen (§§ 305 ff. BGB) sowie die weitgehend auf EU-Richtlinien beruhenden verbraucherrechtlichen Bestimmungen (§§ 312 ff., 355 ff., 481, 491 ff. BGB). Im Zivilverfahrensrecht kam es im Anschluss an die Rechtsprechung des BVerfG zur Sittenwidrigkeit von Angehörigenbürgschaften249 zu einer prozessualen Verlängerung der im Schuldvertragsrecht sichtbaren Materialisierungstendenzen.250 Auch im öffentlichen Recht ist die Funktion des Rechts nicht mehr nur auf die Abgrenzung der Freiheitssphären autonomen Handelns beschränkt, sondern wird zunehmend zum regulatorischen Steuerungsinstrument des Staates. Deutlich wird diese Entwicklung durch die wachsende Anzahl von Generalklauseln, Ermessensvorschriften, Wertungsspielräumen und unbestimmten Rechtsbegriffen,251 einem Wandel von der allgemeinen Kodifikations- zur
246
RGZ 107, 78, 87 ff. Ständige Rechtsprechung: BGHZ 98, 174, 178 = NJW 1986, 2564; BGHZ 104, 102, 107 = NJW 1988, 1659. 248 So Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 61. 249 Vgl. die „erste“ und die „zweite“ Bürgschaftsentscheidung: BVerfG vom 19.10.1993 = BVerfGE 89, 214 und BVerfG vom 6.12.2005 = BVerfGE 115, 51. Eingehend hierzu Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit (2018), S. 402 ff. 250 Dies betrifft die Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Vollstreckungsabwehrklage des Bürgen gegenüber Titeln über Bürgschaftsforderungen gegen nahe Familienangehörige, die vor dem 19.10.1993 erlassen worden sind, gem. § 79 Abs. 3 BVerfGG iVm. § 767 ZPO, die Einschränkung der Möglichkeit, gegen den Bürgen ein Versäumnisurteil nach § 331 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 ZPO zu erlassen und den Ausschluss des Mahnverfahrens gem. 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO analog für Forderungen aus Bürgschaftsverträgen mit nahen (vermögenslosen) Familienangehörigen. Hierzu eingehend Vollkommer/Vollkommer, FS Canaris (2007), S. 1243 ff. 251 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat? (2. Aufl. 1998), S. 95, 112 f. Zur Entwicklung der Generalklauseln im deutschen Privatrecht eingehend Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 102 ff. 247
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Maßnahmegesetzgebung252 und einer zunehmenden Aufwertung des Richterrechts. Insgesamt ist eine verstärkte Tendenz zu einer rational orientierten zweckhaften Instrumentalisierung des Rechts für wechselnde politische Zwecke erkennbar, die in der Gesetzgebung in der vermehrten Hinwendung zu Finalprogrammen, in Verwaltung und Rechtsprechung in verstärkter Einzelfallorientierung deutlich wird.253 Ob die verstärkte Nutzung der alternativen Streitbeilegung selbst Erscheinungsform der Materialisierung oder ihr als ausgleichende Gegenströmung vielmehr entgegengesetzt ist, hängt von der jeweiligen Betrachtungsweise ab. Vor dem Hintergrund eines die Realität durch überbordende Kasuistik verregelnden Fallrechts254, eines Rationalisierungsprozesses, der sich „gleichsam in zu vielen Seitenkanälen verästelt [hat] und … der Eindämmung und Rückführung in einen großen Strom [bedarf]“,255 stellt sich der Einsatz der alternativen Streitschlichtung verfahrensmäßig als Korrektiv dar, das den „zum Verwalter denaturierte[n] Rechtsanwender“256 wieder zum Hüter des Rechts werden lässt, und zwar durch Rückführung des Rechts auf sein angemessenes Maß und durch Rückgabe der Konflikte an die Betroffenen zur Selbstregulierung.257 Die zweckhafte Instrumentalisierung des Rechts durch den Staat im Wege des regulativen Eingriffs wird durch Deregulierung und Delegation an die Betroffenen entschärft. Legt man als Maßstab dagegen Max Webers Verständnis der materiellen Rationalität als eines auf außerrechtliche Quellen zurückgreifenden Entscheidungsprogramms zugrunde, so erweist sich der Einsatz der alternativen Streitbeilegung geradezu als Paradefall materialisierter gesellschaftlicher Steuerung. Dagegen mag man zwar einwenden, dass sich etwa die Mediation lediglich als besonderes Verfahren zur Erarbeitung eines Verhandlungsergebnisses darstellt, das in der Form des Vergleichs nach § 779 BGB rechtlich Gestalt annimmt und dessen Inhalt sich sehr wohl an rechtlichen Gesichtspunkten orientiert.258 Eine solche Sicht verkennt jedoch, dass sich der Inhalt des Mediationsvergleichs regelmäßig an den Interessen und nicht zwangsläufig an den Rechten der Parteien orientiert und das materielle Recht insoweit lediglich als ermöglichender Rahmen und nicht als Entscheidungskriterium selbst relevant
252 Hierzu Vgl. Schulze-Fielitz, in: Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat? (2. Aufl. 1998), S. 95, 101 f. 253 Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 67, 192. 254 So plastisch Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17 f. 255 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 18. 256 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 39. 257 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 39. 258 Zur Bedeutung des materiellen Rechts für die Einigungsentscheidung der Parteien im Mediationsverfahren eingehend unten S. 343 ff.
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wird.259 Dem Mediationsverfahren ist damit die formale Abkehr von dem sonst im Wege des Zivilprozesses eingreifenden Mechanismus rechtlich-normativer Entscheidung eigen, der jedenfalls im Grundsatz durch außerhalb des Rechts stehende Entscheidungskriterien ersetzt wird.260 Im Hinblick auf den durch die Kategorien der Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit ausdifferenzierten engeren Materialisierungsbegriff des Privatrechts liegt den Verfahren der alternativen Streitbeilegung dagegen ein materielles Verständnis zugrunde.261 Die alternative Streitbeilegung ist damit zugleich Reaktion auf und selbst Ausprägung der Materialisierungstendenz als der die aktuelle Rechtsentwicklung maßgeblich prägenden Entwicklungsströmung. c) Die These von der Krise des Rechts Die Diskussion um Alternativen zur Ziviljustiz, die Neubestimmung des Verhältnisses von alternativer Streitbeilegung und Zivilprozess, wurde schon früh im Kontext eines allgemein konstatierten Funktionsverlustes des Rechts als staatlichem Steuerungsinstrument geführt. Danach kommt es durch die Ausdehnung des regulatorischen Rechts über die Grenzen seiner Steuerungskapazität hinaus zu einer Überlastung der Steuerungsfähigkeit des Rechts, das aufgrund der hieraus folgenden Vollzugsdefizite mit Blick auf seine Regulierungsfunktion jedenfalls im Bereich der Konfliktlösung der Entlastung durch Rückgriff auf Verfahren der alternativen Streitbeilegung bedarf.262
259
Die Mediation vollzieht sich so gleichsam im „Schatten des Rechts“, Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). Zum Verhältnis von Mediation und Recht eingehend unten S. 188 ff., 347 ff., 352 ff, 371. ff., 381 ff., 528 ff. 260 Mit dem Begriff der Abkehr vom Gesetzesrecht ist das komplexe Verhältnis von Mediation und Zivilprozess indes nur unvollkommen beschrieben. Als klassisches Instrument informaler Gerechtigkeit, das den Parteien vermittelt durch das lumen rationis und die regula aurea einen unmittelbaren Zugriff auf die der Rechtsordnung insgesamt zugrunde liegenden Wertpostulate des ius naturae erlaubt, stehen Mediation und Zivilprozess wie auch die formale und die informale Seite materieller Gerechtigkeit – im amerikanischen Rechtskreis common law und equity – in Wirklichkeit im Verhältnis komplementärer Einheit. Vgl. hierzu näher unten S. 68 ff., 88 ff., 143 ff., 230 ff., 284 ff., 558 ff., 614 ff., 707 ff., 800 ff. 261 Der Grundsatz der informierten, privatautonomen Einigung (informed consent) und die damit verbundene Vorstellung, dass ein faires Verfahren auch zu fairen Ergebnissen führt, ist für die Mediation geradezu prägend. Die Bedeutung der Verfahrensgerechtigkeit für die Akzeptanz der Verfahrensergebnisse ist in anderem Zusammenhang umfassend empirisch untersucht worden. Vgl. nur Thibaut, Procedural Justice (1975), S. 77 ff., 95 ff. Zur Procedural Justice Forschung und ihrer Kritik vgl. unten S. 192 ff. 262 Vgl. nur Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 190 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 18 ff., 40; Ritter, NJW 2001, 3440, 3443 ff.
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In der Tat wirft die zunehmende Verrechtlichung im Zusammenspiel mit den durch den gesellschaftlichen Wandel einhergehenden tiefgreifenden Veränderungen des Staats- und Wirtschaftssystems die Frage nach den Grenzen rechtlicher Steuerungsfähigkeit auf. Die Problemverarbeitungskapazität des Staates scheint in vielen Bereichen erschöpft.263 Aufgrund steigender Komplexität der zu regelnden Sachverhalte nimmt die Wahrscheinlichkeit adäquater Entscheidungen tendenziell ab. Die daraus resultierenden normativen Vollzugsdefizite sind von der Implementationsforschung vor allem für das Verwaltungsrecht eindrucksvoll belegt worden.264 Die Ursachen hierfür sind vielfältig und liegen vor allem im tiefgreifenden Wandel des Wirtschafts- und Sozialsystems begründet, das am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr dasselbe ist wie zur Zeit der Reichsjustizgesetze. Fortdauerndes Wachstum der Staatsaufgaben vor allem in der Planungs- und Leistungsverwaltung, eine vermehrte Vernetzung der Wirtschaftsstrukturen und ein damit verbundenes rapides Anwachsen an Komplexität der zu verarbeitenden Sachprobleme sowie ein verstärkter Wettbewerb der Rechtssysteme als Folge einer zunehmenden Europäisierung und Globalisierung lassen das Recht als Handlungsinstrument des intervenierenden Wohlfahrtsstaates an seine Grenzen stoßen.265 Das Justizsystem als auf Konfliktverarbeitung spezialisiertes Teilsystem staatlicher Ordnung ist von der Krise der Steuerungsfähigkeit des Staates in besonderer Weise betroffen. Das auf bipolare synallagmatische Austauschbeziehungen ausgerichtete materielle Zivilrecht und das kontradiktorische Zweiparteienmodell, das der ZPO zugrunde liegt, sind in vielen Bereichen kaum noch in der Lage, die tatsächlichen Wirtschaftsbeziehungen adäquat abzubilden.266 Unternehmen agieren vor allem bei Großprojekten in zunehmendem Maße in polyzentrischen267 Produktions- und Leistungsverbünden mit einer Vielzahl von Beteiligten, die langfristige geschäftliche Dauerbeziehungen unterhalten.268 Die geschlossenen komplexen Langzeitverträge (relational contracts) stellen sich nicht mehr als punktueller Leistungsaustausch, sondern
263
Hierzu Grimm, in: Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben (1990), S. 291 sowie die übrigen Beiträge in Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben (1990). 264 Vgl. dazu Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 250 mwN. 265 Hierzu ausführlich Ritter, NJW 2001, 3440, 3443 ff. Zum Problem der sinkenden Steuerungsfähigkeit infolge wachsender Staatsaufgaben vgl. die Beiträge in Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben (1990). 266 Wendehorst, NJW 2016, 2609, 2610; Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund (2004), S. 35 ff, 109 ff.; Ritter, NJW 2001, 3440, 3443. 267 Zum Begriff Fuller, 54 Am. Soc'y Int'l L. Proc. 1, 2 ff. (1960); Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 393 ff. (1978) im Anschluss an Polanyi, The Logic of Liberty (1951), S. 171. Dazu eingehend oben S. 21. 268 Grundlegend hierzu Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund (2004), S. 35 ff, 109 ff. Vgl. auch Wendehorst, NJW 2016, 2609, 2610; Ritter, NJW 2001, 3440, 3443.
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als Kontinuum dar, in denen oft keine direkten synallagmatischen Austauschverhältnisse herrschen, sondern sich die gegenseitigen Vorteile oft nur mittelbar und über eine Kette mehrerer Beteiligter ergeben.269 Verschärft wird die Problematik durch die Tendenz zu aggregierten Gesellschaftsstrukturen, einer in Gruppen organisierten Wirtschaftsgesellschaft, in der individuelle Interessen zu artikulations- und verhandlungsfähigen Gruppierungen gebündelt werden.270 Diese Interessenverbände sind als aggregierte Akteure eher an einer kollektiven Partizipation an der Gesellschaftssteuerung durch Verhandlung als an einer Verfolgung ihrer individuellen Interessen im Wege des Rechtsschutzes interessiert.271 Die Verarbeitung der mit der fortschreitenden Technisierung und Industrialisierung verbundenen Risiken und Folgeprobleme stellt stetig neue Anforderungen an das Recht und hat die Entstehung neuer Normenkomplexe und Rechtsgebiete zur Folge, was aufgrund des cultural lag, der Phasenverzögerung des Rechts in der Steuerung stark beschleunigter Prozesse, zu Steuerungsdefiziten führt.272 Europäisierung und Globalisierung verstärken den Wettbewerb zwischen den nationalen Rechtsordnungen und ihren Justizsystemen.273 Die durch eine wachsende internationale Verflechtung der Wirtschaftstätigkeit getragene Zunahme grenzüberschreitender Konflikte lässt die Hemmnisse bei Verfahren mit Auslandsbezug – Zustellung im Ausland, internationale Zuständigkeit, Parteiund Prozessfähigkeit ausländischer Beteiligter, Einlassungsfrist, Prozesskostensicherheit des ausländischen Klägers –, die das europäische Zivilverfahrensrecht nur mit Hilfe feinsinniger und für die Rechtspraxis oft zu schwerfälliger Differenzierungen bewältigen kann, offen zutage treten.274 Infolge der Defizite in der Rechtsdurchsetzung behilft sich die Rechtspraxis mit vielfältigen Schieds- und Schlichtungsklauseln.275 So entsteht ein internationales Konfliktlösungssystem, eine „lex mercatoria“ privater Ordnung, die eines Rückgriffs auf die staatliche Justiz in der Regel nicht mehr bedarf.276
269
Vgl. hierzu auch Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 53 f. Ritter, NJW 2001, 3440, 3444. Vgl. auch Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 562. 271 So Ritter, NJW 2001, 3440, 3444. 272 Zur Theorie von der Phasenverzögerung des Rechts vgl. oben S. 40 mwN. 273 Dazu eingehend Ritter, NJW 2001, 3440, 3444. 274 Vgl. Hess, JZ 2005, 540, 544. Hierzu auch Ritter, NJW 2001, 3440, 3445. 275 Eindrücklich Ritter, NJW 2001, 3440, 3445: „Heute wird praktisch kein internationaler Handelsvertrag mehr ohne dahin gehende Klauseln geschlossen.“ 276 Ritter, NJW 2001, 3440, 344. Systemtheoretisch lässt sich die Problematik als regulatorisches Trilemma beschreiben, wonach die moderne Gesellschaft aufgrund ihrer Gliederung in gleichgeordnete, selbstreferentielle Teilsysteme eine zentrale Steuerung nicht mehr zulässt, da diese jeweils nur nach ihrer internen Logik reagieren können und daher gegenüber Steuerungsimpulsen von außen teilweise immun sind. Eingehend dazu unten, S. 56. 270
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Überlagert wird diese Entwicklung von Tendenzen einer Abwertung der normativen Verbindlichkeit des positiven Gesetzesrechts und dem zunehmenden Rückgriff auf soziale Normen oder das Rechtsgefühl.277 Diese Krise der Rechtsnorm hat vielfältige Ursachen: Den Verlust einer gemeinsamen Werteordnung in der pluralistischen Gesellschaft der Postmoderne, eine gesteigerte Betonung der Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit der Rechtsnormen, die im Zusammenspiel mit einer wachsenden Bereitschaft zu Kritik und Hinterfragung den Regelungsgehalt gesetzlicher Normen sich „ins Nichts“ verflüchtigen lässt, die Wandlung des Richterbildes vom Rechtsanwender zum Rechtsschöpfer und die Psychologie und Pädagogik der Gegenwart, die Rechtsbrüche nicht sanktionieren, sondern sie stattdessen mit einem Appell an die Einsichtsfähigkeit beantworten.278 Hinter dieser Strömung steht eine schleichende Abkehr vom monistisch-etatistischen Rechtsmodell als eines sich gegenüber anderen sozialen Ordnungen und Ansprüchen durchsetzenden staatlichen Rechtsgefüges hin zu einem vagen Rechtspluralismus, der in seiner entschiedensten Form die Gleichrangigkeit aller gesellschaftlichen Rechte propagiert.279 Auf dieser Grundlage nehmen gesellschaftliche Akteure, von politischen Aktivisten bis hin zu multinationalen Unternehmen, für sich ein anderes, aus ihrer Perspektive „besseres“ Recht in Anspruch und durchbrechen mit einem politischen, ethischen oder auch nur pragmatischen Überlegenheitsanspruch das Geltungsmonopol des staatlichen Rechts.280 Seine ideologische Grundlage findet ein solcher Ansatz im postmodernen Denken, das sich im Wesentlichen gegen jene Ideen wendet, die unter anderem mit dem Begriff der Moderne verbunden werden: Rationalität, Objektivität, Fortschritt, absolut geltende universelle Werte und die Anerkennung einer objektiven Wahrheit. Auswirkungen hat dies vor allem für die juristische Methodenlehre: Der Richtigkeitsanspruch des geltenden Rechts droht ins Wanken zu geraten, wenn nahezu alle Positionen mit hinreichendem Begründungsaufwand als vertretbar erscheinen.281 Mit dem durch einen weitgehenden Norm- und Werterelativismus selbst geschaffenen Verlust der Gewissheiten einher geht ein Verlust des Vertrauens in das Rechtssystem und die Justiz. Zur äußeren Krise ist die – freilich von den Akteuren selbst verursachte – innere Krise des Rechts hinzugetreten, die die Skepsis gegenüber der Steuerungsfähigkeit des staatlichen Rechts weiter verstärkt.
277 Zu dieser Problematik: Stürner, JR 1979, 133, 134 f.; Eder, ZfRSoz 1987, 193. Zum Rückgriff auf das Rechtsgefühl Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 34 ff. 278 Stürner, JR 1979, 133, 134 f. 279 Dazu Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161, 1162 ff. 280 Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161, 1165. 281 Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161, 1166.
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d) Entformalisierung Das Rechtssystem reagiert auf die durch Verrechtlichung und Materialisierung induzierte Krise mit einer verstärkten Hinwendung zu informalen, kooperativen Interaktionsformen, die nicht nur auf die Konfliktlösung beschränkt ist, sondern weite Bereiche staatlicher Steuerungstätigkeit umfasst. Sie ist gekennzeichnet durch vermehrtes staatliches Handeln im Schatten des Rechts, eine Zunahme informaler Entscheidungs- und Steuerungsmechanismen und die Ergänzung des staatlichen Handlungsinstrumentariums durch informale, nichtrechtliche Steuerungsformen.282 Deutlich wird diese Entwicklung im Zivilrecht durch die Renaissance der Handelsusancen gem. § 346 HGB, indirekt wirkende Verhaltenskodizes und die Entstehung eines Soft Law, das in seiner Geltung vom Vorhandensein des autoritativen Durchsetzungsmechanismus der staatlichen Justiz unabhängig ist.283 Im öffentlichen Recht vollzieht sich eine vergleichbare Entwicklung, die erkennbar wird in der Aufwertung des öffentlich-rechtlichen Vertrages und des informativen Staatshandelns, der Ergänzung staatlicher Gesetzgebung durch private Rechtsetzung sowie in der Zunahme rechtsvertraglicher oder informaler Kooperation, etwa durch öffentlich-rechtliche Verträge, informale gesetzesabwendende, normvertretende oder normergänzende Absprachen sowie Vereinbarungen unternehmerischer Selbstverpflichtung.284 In allen Fällen zielt das informelle Verfahren darauf ab, eine formelle Bindung zu vermeiden und die Probleme unter Vermeidung des Rechtsweges mit seinen aufwendigen Aufklärungspflichten, Anhörungs- und Mitwirkungsrechten, Fristen und Kosten flexibel zu lösen.285 Seine deutlichste Ausprägung hat die Tendenz hin zu informalen, kooperativen Handlungsstrukturen durch die weltweite Hinwendung zur alternativen Streitbeilegung erfahren. Kommunikation und Kooperation treten als Instrumente der Konfliktbeilegung verstärkt neben das Recht, Schlüsselqualifikationen wie etwa die Mediation und das Verhandlungsmanagement sind nach der Reform der Justizausbildungsgesetze fester Bestandteil der Juristenausbildung geworden.286 Dieser paradigmatische Wandel spiegelt sich im
282
Vgl. hierzu Ritter, AÖR 104 (1979), 389; Voigt (Hrsg.), Der kooperative Staat (1995); Schneider, VerwArch 87 (1996), 38 ff.; Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421; Frick, Der freundliche Staat (2001). Einen Überblick bietet Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 561 mwN. 283 Ritter, NJW 2001, 3440, 3444. 284 Schulze-Fielitz, in: Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat? (2. Aufl. 1998), S. 95. 285 Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 561. 286 Vgl. nur § 5a Abs. 3 S. 1 DRiG und § 2 der bayrischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) vom 13. Oktober 2003 (GVBl. Bayern 2003, S. 758); § 7 Abs. 2 Juristenausbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen (JAG NRW) vom 11. März 2003 (GVBl.
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beruflichen Handeln des Juristen wieder: Es wird zunehmend von einer Materialisierung und Abschwächung der Bedeutung des Rechts geprägt sein. Stattdessen wird die Bedeutung von Kooperation, Kommunikation und der Orientierung am Einzelfall zunehmen.287 aa) Mediatisierung und Prozeduralisierung Die Entformalisierung, die zunehmende Ablösung der Staatsintervention durch wirtschaftliche und soziale Selbstverwaltung, ist die Erscheinungsform, in der uns die Materialisierung immer häufiger gegenübertritt. Sie erfolgt im Gewand der Mediatisierung und der Prozeduralisierung. Mediatisierung bedeutet, dass das Recht nicht mehr mit einer unmittelbar steuernden Wirkung ausgestattet wird, sondern vielmehr indirekt, vermittelnd, gleichsam mediatisiert gesellschaftliche Prozesse und Zustände regeln will.288 Prozeduralisierung bedeutet, dass die Wirkung des Rechts vor allem durch die Verfahrensweisen vermittelt wird, die es vorgibt.289 Das Recht stellt oft nur noch den Rahmen und das Forum bereit, in dem Entscheidungen erarbeitet werden. Durch prozedurale Normen wird es möglich, dass das Recht seine eigenen Entstehungs- und Verwendungsbedingungen normieren kann.290 Prozeduralisierung ist damit ein Versuch, die Autorität und Anerkennung des Rechts auf die Behauptung prozeduraler Rationalität zu gründen und vor dem Hintergrund einer ausdifferenzierten Gesellschaft zu sichern.291 Das Problem der Legitimation wird durch Selbstlegitimierung gelöst. Sie ist gekennzeichnet durch einen verstärkten Rückgriff auf Verhandlungssysteme und die Aufwertung informaler Einigung und Schlichtung. Alternative Streitbeilegung und Zivilprozess markieren dabei vor dem Hintergrund des Formalismus-Informalismus-Paradigmas zwei diametral entgegengesetzte Pole: Während der Zivilprozess gerade auf die unmittelbare Steuerung rechtlicher Konflikte durch Produktion eindeutiger Ergebnisse ausgerichtet ist, begnügt sich das Recht etwa im Hinblick auf die Mediation mit einer lediglich dienenden und ermöglichenden Rolle292, indem es den für das Verfahren notwendigen Rahmen zur Verfügung stellt und sich inhaltlich auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt. Im Bereich der Konfliktlösung vermei-
Nordrhein-Westfalen 2003, S. 135); § 2 Abs. 2 des Landesgesetzes über die juristische Ausbildung (JAG RP) vom 23. Juni 2003 (GVBI. 2003, S. 116 ff.). 287 So Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 68. 288 Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 559 f. 289 Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 559 f. 290 Eder, ZfRSoz 1987, 193, 217. 291 Eder, ZfRSoz 1987, 193, 194. 292 Zu den Funktionen des Rechts im Mediationsverfahren vgl. eingehend unten S. 280, 284 ff.
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det es damit die systemimmanenten Schwächen kontradiktorischer Streitbeilegung, die wir im vorangegangenen Kapitel betrachtet haben. Ihre deutlichste Ausprägung hat die mediatisierende Entformalisierung in den gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen erfahren, in denen anstelle einer heteronomen Drittentscheidung durch den Richter die Parteien die Lösung ihres Konfliktes selbst erarbeiten. Hinzu kommen die Regelungen des Tarifvertragsgesetzes, das eine intensive Beteiligung der Betroffenen an der Normsetzung vorsieht. Eine Vermittlung der Wirkung des Rechts erfolgt aber auch über nichtstaatliche technische Normen unterhalb der Ebene eines förmlichen Gesetzes, auf die es verweist, oder durch ethische Standards, die von Experten oder den Beteiligten selbst entwickelt werden.293 bb) Rücknahme des Befehlscharakters des Rechts Der Prozess der Entformalisierung ist damit geprägt von einer Rücknahme des Befehlscharakters des Rechts und einer Ersetzung unmittelbarer Staatsintervention durch indirekt eingreifende Steuerungsformen der Selbstverwaltung und Kooperation.294 Legislative Konditionalprogramme werden zunehmend durch Finalprogramme ersetzt.295 Statt klar umrissener Rechtsfolgen beschreiben diese nur die intendierten Wirkungen und überlassen es dem Rechtsanwender, die zur Erreichung der angestrebten Zwecke geeigneten Verhaltensweisen zu wählen. Adressaten der Rechtsnormen sind oft nicht mehr individuelle Personen, sondern Organisationen, Betriebe und Verbände, so dass der kooperative Staat zugleich ein korporativer Staat ist.296 Durch das Zusammenwirken mehrerer Organisationen bei Entscheidungs- und Planungsprozessen und die Möglichkeit der Partizipation der Betroffenen werden eine Realisierung von Kooperationsgewinnen und eine größere Kapazität für die Verarbeitung von Komplexität erwartet.297
293 Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 559. Wie wir später im Rahmen unserer Untersuchung des Verhältnisses von Mediation und Gerechtigkeit sehen werden, kann die sinnvolle Entwicklung ethischer Standards nur dann gelingen, wenn diese auch tatsächlich mit den durch das lumen rationis vermittelten Grundpostulaten des ius naturae als den der Rechtsordnung immanenten Wertvorstellungen übereinstimmen. Vgl. hierzu eingehend unten S. 72 ff., 77 ff., 85 ff., 173 ff., 657 ff., 682 ff., 691 ff., 769 ff. 294 Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 65. 295 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17. 296 So Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 562. In den USA ist unter dem Stichwort der Quango-Explosion, des massiven Bedeutungszuwachses von „Quasi-non-governmental-Organizations“, eine vergleichbare Entwicklung erkennbar. Vgl. dazu Holland/Fallon, The Quango Explosion (1978); Flinders/Smith, Quangos, Accountability and Reform (1999); Flinders, Delegated Governance and the British State (2008). Dazu auch Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 562. 297 Hierzu Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 210.
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e) Reflexives Recht Theoretisch verdichtet wurde die Idee von der Prozeduralisierung des Rechts durch das maßgeblich von Gunther Teubner und Helmut Wilke entwickelte Konzept der gesellschaftlichen Selbststeuerung durch „reflexives Recht“.298 Im Kern geht es dabei um die legislatorische Selbstbeschränkung durch Verzicht auf Außensteuerung und um die Delegation der Normsetzungsbefugnis auf unmittelbar betroffene Teilsysteme: Anstatt die regulatorische Verantwortung für die Steuerung bestimmter gesellschaftlicher Prozesse zu übernehmen, beschränkt sich das reflexive Recht auf die Einrichtung, Korrektur und Neudefinition demokratischer Selbststeuerungsmechanismen.299 Die zentrale Aufgabe des reflexiven Rechts besteht damit in einem Verzicht des Staates, substantielle Entscheidungskriterien für die Regulierung gesellschaftlicher Konflikte bereitzustellen.300 Die entstehende Lücke wird durch die Schaffung von Verhandlungssystemen aufgefüllt, in deren Rahmen eine autonome Regulierung der Konflikte durch die hiervon betroffenen gesellschaftlichen Teilsysteme erfolgt.301 Ziel ist die Entlastung des Staates von Regulierungsaufgaben durch dezentrale Selbststeuerung und die Gesamtsteuerung durch Nutzung des Selbstregulierungsvermögens von Subsystemen.302 Den Hintergrund bildet die These vom „regulatorischen Trilemma“, die davon ausgeht, dass die moderne Gesellschaft aufgrund ihrer angeblich nicht mehr hierarchischen, sondern vielmehr gleichgeordneten, selbstreferentiellen und korporativen Verfasstheit in Teilsystemen eine zentrale Steuerung nicht mehr zulasse und sich staatliches Handeln auf Anstöße zur Selbstregulierung beschränken müsse.303 Danach hat sich die Gesellschaft zu einem polyzentrischen und heterarchisch organisierten Kommunikationsnetzwerk entwickelt,
298
Teubner, ARSP 68 (1982), 13; Teubner/Wilke, ZfRSoz 1984, 4; Teubner, in: Kübler/Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289; Rosewitz/Schimank, in: Mayntz/Rosewitz/Schimank u.a. (Hrsg.), Differenzierung und Verselbständigung (1988), S. 295; Teubner, Recht als autopoietisches System (1989). Vgl. auch Calliess, Prozedurales Recht (1999); Calliess, in: Micklitz (Hrsg.), Verbraucherrecht in Deutschland (2005), S. 65 299 Teubner, ARSP 68 (1982), 13, 59. 300 Rosewitz/Schimank, in: Mayntz/Rosewitz/Schimank/Stichweh (Hrsg.), Differenzierung und Verselbständigung (1988), S. 295, 303. 301 Rosewitz/Schimank, in: Mayntz/Rosewitz/Schimank/Stichweh (Hrsg.), Differenzierung und Verselbständigung (1988), S. 295, 303. 302 Vgl. Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 564. 303 Teubner, in: Brüggemeier/Joerges (Hrsg.), Postinterventionistisches Recht (1984), S. 94. Hierzu instruktiv Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 562 ff. Vgl. auch Eder, ZfRSoz 1987, 193, 202; Calliess, Prozedurales Recht (1999), S. 125; Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 43.
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das in operativ geschlossene Teilsysteme ausdifferenziert ist.304 Recht, Politik und andere gesellschaftliche Subsysteme nehmen an der funktionellen Differenzierung der Gesellschaft teil und haben trotz ihrer gegenseitigen funktionalen Abhängigkeit ihre Autonomie soweit ausgebildet, dass von einem selbstreferentiellen autopoietischen System gesprochen werden kann.305 Autopoiesis bedeutet dabei, dass sich diese Systeme aus ihrer kodierten Kommunikation in einem nicht zielgerichteten autokatalytischen Prozess gleichsam aus sich selbst heraus ständig neu herstellen und reproduzieren und damit selbstbezogen sind.306 Sie bilden intern konstruierte Teilrationalitäten, die gegenseitig nicht zwangsläufig kompatibel sind, so dass jedes System auf die Anfragen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme nicht nach dem Stimulus-Response-Schema, sondern jeweils nur nach seiner internen Logik reagieren kann und umgekehrt.307 Die Folge ist ein regulatorisches Trilemma: Eine Steuerung gesellschaftlicher Prozesse durch Recht und Politik bleibt zwar möglich, jedoch nur nach der Eigenlogik des jeweiligen Teilsystems, also nur innerhalb der internen Grenzen der Selbststeuerung und Selbsterhaltung.308 Jeder diese Grenzen überschreitende regulatorische Eingriff resultiert entweder in 1) wechselseitiger Indifferenz, 2) gesellschaftlicher Desintegration durch Recht oder 3) rechtlicher Desintegration durch Gesellschaft.309 Wechselseitige Indifferenz betrifft etwa die mangelnde Justiziabilität moderner Gesetze aufgrund nicht verarbeitbarer politischer Vorgaben oder ständiger Novellierungen, die eine dogmatische Klärung obsolet werden lassen.310 Sie betrifft aber auch die mangelnde Steuerungswirkung des Rechts auf gesellschaftliche Lebensbereiche, etwa wenn sich bestimmte Teilsysteme gegenüber rechtlichen Änderungen als resistent erweisen und Gesetzeswerke wirkungslos verpuffen. Zur gesellschaftlichen Desintegration kommt es durch nichtintendierte Nebenwirkungen rechtlicher Steuerung, die verformend auf die sie regelnden gesellschaftlichen Prozesse einwirken.311 Umgekehrt kann in einem
304
Calliess, Prozedurales Recht (1999), S. 125. Teubner/Wilke, ZfRSoz 1984, 4, 8. Dazu Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 563. 306 Teubner, in: Kübler/Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289, 314 bringt es treffend auf den Punkt, wenn er bemerkt: „Ein autopoietisches System produziert und reproduziert sich selbst.“ Vgl. zu den gravierenden Einwänden sogleich unten S. 58. 307 Teubner, ARSP 68 (1982), 13, 21. 308 Teubner, in: Kübler/Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289, 316. 309 Teubner, in: Kübler/Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289, 317. 310 Vgl. hierzu eingehend Teubner, in: Kübler/Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289, 317 ff. 311 Teubner, in: Kübler/Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289, 321 ff. 305
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Prozess rechtlicher Desintegration das Recht verformenden Anforderungen aus Politik und Gesellschaft ausgesetzt sein, so dass es sich der Eigenlogik der Systeme anpasst, die es eigentlich regeln will.312 Als Ausweg wird das beschriebene Konzept reflexiven Rechts als regulierte Autonomie vorgeschlagen, das den jeweiligen Teilsystemen Mechanismen für Verfahren der Selbststeuerung bereitstellt, die ihre Eigendynamik respektieren, zugleich jedoch gesellschaftliche Restriktionen auferlegt, die sich aus den Erfordernissen des Zusammenwirkens der jeweiligen Teilsysteme untereinander ergeben. Das Steuerungsproblem wird durch externe Dezentralisierung und die Rücknahme der politischen Gesamtverantwortung auf eine rechtliche Rahmenregelung gelöst, wobei dem Rechtssystem die politische Letztverantwortung und der Rückgriff auf eine jederzeit mögliche Korrektur der getroffenen institutionellen Regelungen verbleiben.313 Das Konzept dezentraler gesellschaftlicher Selbststeuerung durch „reflexives Recht“ ist jedoch problematisch und begegnet erheblichen Bedenken. Abgesehen von den offenen Fragen der tatsächlichen Effizienz, der ökonomischen Kosten314 und der Legitimation von Wechselwirkungen auf andere autonome Teilsysteme, denen eine Partizipation am Interventionsmechanismus des eingreifenden Systems versagt ist, stellt sich die Frage, ob durch die Delegation der Normsetzungsbefugnis von der demokratisch legitimierten Zentralgewalt auf lokale Autoritäten nicht einer neuen Form der Entmündigung durch Selbstorganisation315 die Tür geöffnet wird, die lokalen Eliten neuartige Formen der Machtausübung an die Hand gibt, die weder in gleicher Weise legitimiert noch rechtlich angreifbar sind.316 Ein weiteres Problem besteht in der drohenden normativen Fragmentierung, die den für das Zusammenspiel aller Teilsysteme notwendigen gesellschaftlichen Grundkonsens gefährdet. Im besten Fall führt reflexives Recht im Sinne einer regulatorischen Subsidiarität zur Entlastung des Staates von zentraler Steuerung durch Gewährung regulativer Autonomie für klar umgrenzte Körperschaften bei gleichzeitiger Beibehaltung regulatorischer Hoheit durch klar umgrenzte Befugnisgrenzen, wie dies etwa im Rahmen der universitären Selbstverwaltung oder der kirchlichen Selbstverwaltungskörperschaften der Fall ist. Im schlimmsten Fall droht ein nicht mehr steuerbares, asynchrones Nebeneinander verschiedener Teilsysteme mit jeweils unterschiedlichen normativen Standards und Verfahren, das eine die einzelnen Systeme umklammernde Normenhierarchie und eine Gesamtsteuerung durch den Staat nicht mehr zulässt. Es droht ein auf die Spitze getriebener postmoderner 312 Teubner, in: Kübler/Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289, 323 ff. 313 Hierzu eingehend Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 562. 314 Eder, ZfRSoz 1987, 193, 196 Fn. 6. 315 So Eder, ZfRSoz 1987, 193, 196 Fn. 6. 316 Eder, ZfRSoz 1987, 193, 196
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
Relativismus der Werte und Normen, in dem sich die zur Entscheidung befugten und mangels zentraler Regulierung jeweils selbst berufenden Glieder der Teilsysteme unabhängig von übergeordneten Grundnormen ihre eigenen Verfahren, Normen und Verhaltensmaßstäbe aushandeln, sich also ihr eigenes Recht schaffen. Am Ende eines solchen Prozesses steht notwendig der Verlust jeder normativen Ordnung als konstituierende Grundlage jeder Staatlichkeit und damit der Verlust staatlicher Ordnung selbst. Es droht das Chaos divergierender Interessen, Werte und Normen, deren Geltung die jeweils beteiligten Akteure mit zunehmender Intensität einzufordern suchen. Die – auch in der gegenwärtigen Diskussion an Boden gewinnende – Vorstellung, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure das Gefüge der den Staat konstituierenden normativen Ordnung auf informellem, letztlich durch gesellschaftliche Einflusssphären bestimmten Weg unter Umgehung der hierfür vorgesehenen rechtsstaatlichen Institutionen immer wieder neu „aushandeln“, verdeckt dabei nur notdürftig die Tatsache, dass es hierbei im Grunde um die normative Umgestaltung staatlicher Ordnung geht, bei der sich letztlich nur die durchsetzungsstärksten Akteure zu behaupten vermögen. Mit den Grundsätzen des demokratischen Verfassungsstaates ist die Vorstellung eines selbstreferentiellen autopoietischen Systems des reflexiven Rechts nicht vereinbar. Als rechtspolitische Option ist Teubners Modell daher ungeeignet. Allerdings ist der Ansatz für die Beurteilung der die gegenwärtige Rechtsentwicklung prägenden Grundtendenzen nicht ohne Nutzen. Denn das Modell des reflexiven Rechts beschreibt einen Trend, der – von der wissenschaftlichen Diskussion weitgehend unbemerkt – rechtstatsächlich immer mehr an Boden gewinnt und unter jenen gesellschaftlichen Akteuren zunehmend Zuspruch findet, deren spezifische Interessen mit der normativen Werteordnung kollidieren und die daher – aus ihrer Perspektive folgerichtig – um eine Umgestaltung des normativen Koordinatensystems des Verfassungsstaates und damit die Durchsetzung eigener partikularer Norm- und Wertesysteme bemüht sind. Den rechtsphilosophischen Hintergrund der Konzepte zur dezentralen Selbststeuerung autopoietischer Systeme bildet in der Tat ein postmoderner Denkansatz, der der absoluten Geltung zentraler, übergeordneter Grundnormen widerspricht und sie als Diskussions- und Verhandlungsmasse der freien Verfügung der bislang normativ gebundenen Rechtssubjekte unterstellt und damit einer Diktatur des Relativismus Tür und Tor öffnet. Soweit der Gedanke, ein autopoietisches System produziere und reproduziere sich selbst317, im Sinne eines prozeduralen Gerechtigkeitsmodells gedeutet wird, bei dem sich die Inhalte materieller Wertungen angeblich aus dem Verfahren selbst ergeben, stößt die Idee des reflexiven Rechts bereits an grundsätzliche dogmatische und 317
So Teubner, in: Kübler/Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289, 314.
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rechtslogische Grenzen: Dass dies a priori nicht funktioniert, denknotwendig nicht funktionieren kann, dass die Inhalte angeblich prozedural generierter materieller Wertungen keinesfalls einem besonderen, verborgenen prozeduralen Mechanismus, sondern in Wirklichkeit den Wertvorstellungen der Beteiligten entspringen und damit gleichsam „erschlichen“318 sind, hat Arthur Kaufmann überzeugend nachgewiesen.319 Die Verträglichkeit des Paradigmas des reflexiven Rechts hängt damit ganz entscheidend von Maß und Struktur der Delegation der Regulationsbefugnis ab, ein Problem, das im Zusammenhang mit der alternativen Streitbeilegung etwa als Problem der „Rolle des Rechts in der Mediation“ diskutiert wird.320 Im Schrifttum geäußerte Befürchtungen, dass etwa mit der Förderung der Mediation ein neuer Begriff des Rechts, ein neues Recht Raum greife, das von den Parteien selbst geschaffen werde,321 verweisen auf eine Problematik, die den Kern des zu klärenden Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess betrifft: Es geht um Form, Funktion und Grenzen der Mediation im Verhältnis zum Zivilprozess und ihren Standort im Rechtssystem.322 Relevant werden diese Fragen mit Blick auf verschiedene Einzelprobleme, die im Schrifttum lebhaft diskutiert werden: die Zulässigkeit und Erforderlichkeit des Ausgleichs von Informations- und Machtasymmetrien der Parteien323, die Rolle des Mediators324, die Möglichkeit einer Verfahrens- und Ergebniskontrolle325 durch den Mediator selbst sowie Umfang und Reichweite der Nachprüfbarkeit von Mediationsvergleichen durch die ordentlichen Gerichte.326 Konsensuale Verfahren der alternativen Streitbeilegung lassen sich daher nur insoweit als Ausdruck eines reflexiven Rechtsparadigmas deuten, als es formal um die Selbstregulierung von Konflikten durch die unmittelbar Konfliktbeteiligten und damit um die Entlastung des Staates durch dezentrale Selbststeuerung geht. Im Übrigen handelt es sich bei der einvernehmlichen Beilegung von Konflikten um originäre Ausübung privatrechtlicher Rechtsgestaltungsbefugnis,
318
Insoweit deutlich Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 20. Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 20. Hierzu näher unten S. 80 ff., 194 ff. 320 Hierzu eingehend unten S. 344 ff. m.w.N. 321 Spellbrink, DRiZ 2006, 88, 90. Zu dieser Problematik näher unten S. 153 ff., 612 ff. 322 Vgl. hierzu auch die zwei grundlegenden Analysen der Mediation und des Zivilprozesses von Lon L. Fuller: Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305 (1971) und Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353 (1978). 323 Hierzu eingehend unten S. 344 ff., 365 ff., 416 ff., 568 ff., 604 ff. 324 Vgl. hierzu unten S. 130 ff. (zur grundsätzlichen Rolle des Mediators), S. 309 ff. (zur Rolle des Mediators nach dem Riskin-Grid), S. 333 ff. (zur Rolle des Mediators in der vertragsautonomen Mediation), S. 385 ff. (zur Rolle des Mediators in der gerichtsverbundenen Mediation). 325 Vgl. unten S. 130 ff., 309 ff. 326 Hierzu unten S. 88 ff., 341 ff., 365 ff., 380 ff., 412 ff. 319
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
der auch von Verfassung wegen Vorrang vor hoheitlicher Konfliktentscheidung zukommt327, und damit keineswegs um eine Abkehr vom traditionellen Rechtsverständnis. Und auch in materieller Hinsicht ist die privatautonome Konfliktbeilegung – wie wir im weiteren Gang unserer Untersuchung sehen werden – keineswegs Ausdruck inhaltlicher Beliebigkeit im Sinne einer „autonomen Rechtsetzungsbefugnis“ der Parteien.328 Im Gegenteil greifen die Parteien idealiter auf dieselben überpositiven Wertgrundsätze des ius naturae zurück, die „auch der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind“329. Darüber hinaus wirkt auch das materielle Recht der objektiven Rechtsordnung auf vielfältige Weise auf die Einigungsentscheidung der Parteien im Rahmen der Mediation ein.330 Mediation und materielles Recht sind damit auf das Engste miteinander verknüpft, so dass sich der Gedanke des reflexiven Rechts nicht ohne weiteres auf das Mediationsverfahren übertragen lässt. 3. Wandel der Konfliktkultur: Von der Konfrontation zur Kooperation In den vorangegangenen Abschnitten haben wir holzschnittartig den Wandel des Rechts und den Wandel staatlichen Handelns als Rahmen für die zu untersuchende Frage des Verhältnisses von alternativer Streitbeilegung und Zivilprozess nachvollzogen: Recht entwickelt sich von formaler hin zu materialer Rationalität, der Eingriffsstaat alter Prägung wandelt sich zunehmend zum kooperativen Verhandlungsstaat. Die Entwicklungstendenz von formal-rationaler hin zu informal-materieller Steuerung, von Konfrontation zur Kooperation, setzt sich im Bereich der Konfliktregulierung fort: Kontradiktorisch strukturierte heteronome Außensteuerung von Konflikten wird zunehmend durch gütliche Einigung, durch autonome Selbstregulierung im Wege der Kooperation ersetzt. a) Die ADR-Bewegung Der Modus der Konfliktbewältigung einer Gesellschaft wird von den kulturellen Traditionen und der Verfügbarkeit der Konfliktlösungsmechanismen bestimmt. Der Gütegedanke ist – in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung
327
Vgl. nur BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). Vgl. hierzu näher unten S. 109, 192 ff., 296, 466. 329 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebungen durch den Verfasser. Dazu näher unten S. 75 f., 85 ff., 173 ff., 659 ff., 682 ff., 691 ff., 774 f., 806 f. 330 Vgl. zu den Funktionen des Rechts und insbesondere der Rolle des materiellen Rechts in der Mediation S. 280, 284 ff. 328
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– seit jeher fester Bestandteil der westlichen Rechtstradition und – wie rechtsanthropologische Untersuchungen nahelegen331 – wohl Teil jeder entwickelten Rechtskultur gewesen.332 Mit den hierfür maßgeblichen rechtsphilosophischen Gründen werden wir uns später noch eingehender befassen.333 Die Verfügbarkeit konsensualer Streitbeilegungsverfahren war jedoch nicht immer einheitlich, sondern hat sich vor allem seit Mitte der 1970er Jahre grundlegend gewandelt. Ausgehend von wissenschaftlichen Durchbrüchen in der Verhandlungsforschung,334 die mit dem Konzept interessenorientierter Verhandlung (interestbased / principled negotiation) zur Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne (win-win-Lösungen) die theoretische Grundlage für die nachfolgende ADR-Bewegung335 legten, hat sich im Laufe des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts die konsensuale Streitbeilegung und hier vor allem die Mediation
331
Vgl. hierzu nur Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 510 ff. mwN; Klock, 15 Temp. Int'l & Comp. 275 (2001); Barrett/Barrett, A History of Alternative Dispute Resolution (2004), S. 2 ff.; Nader, The Life of the Law (2005). Exemplarisch hierfür ist die klassische Untersuchung Gibb's zum afrikanischen Kpelle Moot, der auch für die ADR-Bewegung von inspirierender Bedeutung war und vermittelt durch die Beiträge Danzigs – Danzig, 26 Stan. L. Rev. 1, 41 ff. (1973) und Danzig/Lowy, 9 L. & Soc'y Rev. 675, 689 (1975) – die Diskussion um die Einrichtung von Neighborhood Justice Centers entscheidend beeinflusst hat. Vgl. Gibbs, 33 Africa 1 (1963), zugleich Gibbs, in: Black/Mileski (Hrsg.), The Social Organization of Law (1986), S. 368. So wurde etwa das Community Justice Center Projekt in Kalifornien explizit dem afrikanischen Kpelle Moot nachempfunden. Vgl. hierzu Klock, 15 Temp. Int'l & Comp. 275, 282 (2001). Zum Einfluss der Rechtsanthropologie auf die ADR-Praxis Solomon/Richards, 27 DePaul L. Rev. 1 (1977); Merry, 21 Annu. Rev. Anthropol. 359, 367 (1992) („Community justice institutions in the United States were originally modeled on prototypes from Africa, Mexico, and Asia“); Robert/Barton, 12 Ga. St. U. L. Rev. 623 (1996). Skeptisch im Hinblick auf die Übertragung tribaler Konfliktbehandlungsformen auf komplexe westliche Gesellschaften Merry, in: Abel (Hrsg.), The Politics of Informal Justice (1982), S. 17 ff. und Auerbach, Justice without law (1984), S. 119 („Although the Kpelle process sounded sufficiently alluring for the Danzig Proposal to be cited in virtually every subsequent plan for community dispute settlement, it was precisely the differences between Kpelle culture and to American cities that made it impossible to replicate here.”). 332 Vgl. zu Geschichte des Gütegedankens Düll, Der Gütegedanke im römischen Zivilprozessrecht (1931); Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff.; Peters, Gütegedanke (2004). Zum Ursprung des germanischen Prozesses in einem Sühne- und Vergleichsverfahren Peters, Gütegedanke (2004), S. 22, 58 mwN. 333 Dazu näher unten S. 68 ff., 167 ff., 769 ff. 334 Grundlegend: Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991). Vgl. auch Raiffa, The Art and Science of Negotiation (1982); Lax/Sebenius, The Manager as Negotiator (1986). 335 Vgl. hierzu eingehend oben S. 9 ff. sowie unten S. 60 ff.
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
international in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens als effektive Alternative zum streitigen Zivilprozess fest etabliert.336 In den USA hat die Institutionalisierung der alternativen Streitbeilegung 2001 mit dem Uniform Mediation Act (UMA) als bundesstaatlichem Modellgesetz337, in England 1999 mit der Reform der Civil Procedure Rules (CPR)338 einen Höhepunkt erreicht. Auf internationaler Ebene liegen mit den UNCITRAL Model Law on International Commercial Conciliation339 (2002), auf europäischer Ebene mit der Mediationsrichtlinie340 (2008), der ADR-Richtlinie341 (2013) sowie der ODR-Verordnung342 (2013) umfangreiche Regelungswerke zur konsensualen Konfliktregulierung vor. Mit dem österreichischen Zivilrechtsmediationsgesetz (ZivMediatG)343 und dem deutschen Mediationsgesetz
336
Die Verbreitung der Mediation ist dabei freilich geographisch wie auch im Hinblick auf die betroffenen Lebensbereiche durchaus unterschiedlich, wobei der anglo-amerikanische Rechtskreis und hier vor allem die USA eine internationale Vorreiterrolle einnehmen. Insgesamt lässt sich die ADR-Bewegung und die mit ihr verbundene Institutionalisierung des Mediationsverfahrens jedoch als eine weltweite Entwicklung charakterisieren, die jedenfalls einen erheblichen Teil der westlichen Industriestaaten und hier neben der Rechtspflege weite Teile des gesellschaftlichen Lebens (Schulen, Unternehmen, Politik) betrifft. Vgl. für die geographische Verbreitung der Mediation in den USA auf der Grundlage des Mediation Receptivity Index (MRI) vgl. oben S. 64. Zur internationalen Entwicklung der Mediation vgl. grundlegend Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008). 337 Der Text des Modellgesetzes ist abrufbar unter http://www.uniformlaws.org/shared/docs/mediation/mediat_am00.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). Vgl. hierzu Hilber, BB 2003, Beilage 5, 9; McCabe, 3 Pepp. Disp. Resol. L. J. 317 (2003). 338 Vgl. hierzu aus dem deutschsprachigen Schrifttum Greger, JZ 2002, 1020, 1021 ff.; Wagner, ZKM 2004, 100, 102 f.; Althammer, JZ 2006, 69 ff.; Engelhardt, Die WoolfReform in England (2007). 339 UN-Doc. A/57/17, Annex I, S. 54–58. Abrufbar unter http://www.uncitral.org/pdf/english/texts/arbitration/ml-conc/03-90953_Ebook.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). Vgl. hierzu auch die weiterführenden Nachweise unten S. 440, Fn. 31. 340 Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivilund Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3. Vgl. hierzu Duve, BB 2000, Beilage 7 zu Heft 46/2002, 6; Duve/Prause, IDR 2004, 126; Bercher, IDR 2005, 169; Eidenmüller, SchiedsVZ 2005, 124; Mayr/Weber, ZfRV 2007, 163; Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737; Wagner/Thole, ZKM 2008, 36. 341 Richtlinie 2013/11/EU v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 63. 342 Verordnung Nr. 524/2013 v. 21.5.2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten v. 21.5.2013, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 1. 343 ZivMediatG v. 6.6. 2003, BGBl I, 29. Vgl. hierzu Oberhammer/Domej, ZKM 2003, 144.
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(MedG)344, das durch die Regelungen des 2016 in Kraft getretenen Verbraucherstreitbeilegungsgesetzes (VSBG)345 flankiert wird, ist das Mediationsverfahren nun auch im deutschsprachigen Rechtsraum Gegenstand einzelstaatlicher Sonderkodifikationen.346 In Deutschland hat der Vorrang konsensualer ADR-Verfahren vor der streitigen Konfliktlösung durch gerichtliches Urteil in § 15a EGZPO, § 278 Abs. 2, 5 ZPO, § 54 ArbGG, §§ 89, 114 SGB V sowie im Angebot der verschiedenen gerichtsverbundenen Mediationsprogramme seinen normativen und institutionellen Ausdruck gefunden. Kern und Ausgangspunkt der ADR-Bewegung waren sowohl im anglo-amerikanischen Raum als auch – dieser Entwicklung folgend – in Kontinentaleuropa die staatlichen Zivilgerichte. Anders als in den USA, wo sich schon bald auch außerhalb der ordentlichen Gerichte ein blühendes ADR-Angebot entwickeln konnte, hat die alternative Streitbeilegung in der sehr viel stärker vom ordentlichen Zivilprozess geprägten Konfliktkultur Deutschlands vor allem durch die gerichtsverbundenen Mediationsprogramme und die zivilgerichtliche Güteverhandlung Bedeutung erlangt. Die fortschreitende Institutionalisierung von ADR-Verfahren geht für den kontinental- wie für den anglo-amerikanischen Rechtskreis mit einem tiefgreifenden Funktionswandel des Richters einher, dem zunehmend gleichsam „rechtssetzende“, rechtsgestaltende und auf einen sozialen Ausgleich gerichtete Aufgaben zugeschrieben werden. Zur Diskussion steht der Richter als „Sozialtherapeut“, der im managerial judge347 sein zwar weniger sozialstaatlich 344 Eingeführt durch Art. 1 des MedFördG (Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung) v. 12.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 345 Gesetz über die alternative Streitbeilegung in Verbrauchersachen. Eingeführt durch Art. 1 des Umsetzungsgesetzes zur ADR-Richtlinie und zur ODR-Verordnung (Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durchführung der Verordnung über Online-Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten) v. 19.2.2016, BGBl. I 2016, 254 ff. Hierzu eingehend unten S. 538 f. mwN. 346 Zu den rechtlichen Rahmenregelungen des Mediationsverfahrens vgl. näher unten S. 439 ff. 347 Hierzu ausführlich Breidenbach, Mediation (1995), S. 18 ff. Grundlegend: Resnik, 96 Harv. L. Rev. 374, 445 (1982), die eine öffentliche Debatte über Art und Umfang von judicial management techniques fordert: „I fear that, as it moves closer to administration, adjudication may be in danger of ceasing to be.“ Ebenda. Vgl. zuletzt auch Gavin, 234 F.R.D. 196, 218 (2006) („The confluence of judicial activism, lenient abuse of discretion standard of review, and heightened substantive standard of causation, largely insulates the reliability determination from meaningful appellate review.”), Resnik, 86 B.U. L. Rev. 1101, 1140 (2006) („ … bargaining is increasingly a requirement of the law of conflict resolution … As a consequence, the distinctive character of adjudication as a specific kind of ‘social ordering’ … is diminishing.”) sowie die Beiträge zu dem am 21. und 22. April 2006 an der Boston University School of Law veranstalteten Symposium „The Role of the Judge in the TwentyFirst Century”, vgl. zusammenfassend Nilsen, 86 B.U. L. Rev. 1037 (2006).
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orientiertes, jedoch gleichfalls aktiv in den Prozess eingreifendes Äquivalent im anglo-amerikanischen Rechtskreis gefunden hat.348 Zusammenfassend ist für die westlichen Gesellschaften ein tiefgreifender Wandel der Konfliktkultur feststellbar, der in Umfang und Ausmaß jedenfalls für die jüngere Rechtsgeschichte historisch singulär ist.349 b) Entwicklung der zivilgerichtlichen Vergleichsquote Der paradigmatische Wandel der Streitkultur ist auch empirisch belegbar. Betrachtet man das Verhältnis von Vergleichs- und Urteilsquote350 in Zivilsachen vor den Amts- und Landgerichten über einen längeren Zeitraum, so ist bis 2015 eine deutliche Zunahme der Vergleichs- und eine entsprechende Abnahme der Urteilsquote nachweisbar, die bei den Landgerichten mit einem Zuwachs an Vergleichen von 1975 bis 2015 um 163,93 % – d.h. um mehr als das Dreifache – und einem Rückgang an streitigen Urteilen im gleichen Zeitraum um 43,01 % stärker ausfällt als bei den Amtsgerichten (von 1975 bis 2015 Anstieg der Vergleichsquote um 24,36 % sowie Rückgang der Urteilsquote um 17,76 %).351 Die Entwicklung verläuft dabei nicht geradlinig, aber signifikant:
348 Vgl. hierzu Baur, FS 500 Jahre Juristenfakultät Tübingen (1977), S. 159; Dütz, ZZP 87 (1979), 361. Für maßvolle richterliche Aktivität unter weitgehender Beachtung prozessualer Grundsätze Stürner, DRiZ 1976, 202 und Stürner, JR 1979, 133. 349 Auch die Initiativen zur Förderung der gütlichen Einigung, etwa durch die Einführung eines obligatorischen Güteverfahrens bei erstinstanzlichen Klagen vor dem Amtsgericht im Rahmen der Emminger-Novelle von 1924 (§ 495a ZPO), eingeführt durch die „Verordnung über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ vom 13.2.1924, RGBl. I, 135) sind in Wirkung und Breite in keiner Weise mit der internationalen ADR-Bewegung der Gegenwart vergleichbar. 350 Der Begriff der Vergleichsquote verweist im Folgenden auf den prozentualen Anteil von Prozessvergleichen, der Begriff Urteilsquote auf den prozentualen Anteil streitiger Urteile an der Gesamtzahl aller erledigten erstinstanzlichen Zivilsachen vor dem Amts- bzw. Landgericht. Dabei dürfte die tatsächliche Anzahl einvernehmlicher Erledigungen noch höher liegen, da sich Klagerücknahmen, Erledigungen der Hauptsache und Anerkenntnisurteile oft aus einer gütlichen Einigung während des Zivilverfahrens ergeben. So auch für die bayrischen Modellgerichte im Rahmen des Modellversuchs Güterichter Greger, Abschlussbericht (2007), S. 70 Fn. 2. 351 Der Untersuchung wurden die amtlichen Erhebungen in Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1975-2004) und Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2004-2013), Tabellen 2.1.2, 5.1.2. zugrunde gelegt: Vergleichsquote in erstinstanzlichen Verfahren vor den Amtsgerichten 1975 = 11,27 % und 2015 = 14,9 % sowie vor den Landgerichten 1975 = 16,47 % und 2015 = 27,0 %. Urteilsquote in erstinstanzlichen Verfahren vor den Amtsgerichten 1975 = 29,62 % und 2015 = 25,0 % sowie vor den Landgerichten 1975 = 46,15 % und 2015 = 26,3 %.
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
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Bei den Landgerichten kommt es 1977 innerhalb eines Jahres zu einem schlagartigen Anstieg der Vergleichsquote um 57 % von 11,5 % auf 18 %, die jedoch kurz darauf wieder abfällt, um dann 1986 und wiederum ab 1996 anzusteigen, so dass sich im Jahr 2014 Vergleichs- und Urteilsquote mit 26,0 % zu 26,2 % nahezu angeglichen haben und im Jahr 2015 die Vergleichsquote mit 27,0 % die Urteilsquote von 26,3 % sogar übersteigt.352 Die gegenüber den Amtsgerichten um rund 60 % höhere Vergleichsquote bei den Landgerichten bei annähernd gleicher Urteilsquote353 ist mit dem am Landgericht grundsätzlich höheren Zeitbudget für die mündliche Verhandlung und der intensiveren Erörterung der Sache erklärbar, die sich offensichtlich deutlich vergleichsfördernd auswirken.354
352 Die Entwicklung der Urteilsquote läuft dazu spiegelbildlich: Nach einem rapiden Rückgang 1977 um 24 % steigt sie 1986 und 1996 wieder an und liegt 2015 bei 25,00 %. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (19752004); Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2014, 2015), Tabelle 5.1.2. 353 So lag die Urteilsquote 2015 bei erstinstanzlichen Verfahren vor den Amtsgerichten bei 25,0 %, vor den Landgerichten bei 26,3 %. Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2015), Tabellen 2.1.2, 5.1.2. 354 Die Vergleichsquote unterliegt dabei bundesweit regionalen Schwankungen. Sie lag 2015 für alle bayrischen Landgerichte bei 26,7 % bei einer Urteilsquote von 21,9 %, Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2015), Tabelle 5.1.2., so dass durchgehend mehr Zivilprozesse durch Vergleich als durch streitiges Urteil erledigt wurden. Im OLG Bezirk Bamberg lag die Vergleichsquote mit 33,7 % dagegen überdurchschnittlich höher (allerdings bei einer ebenfalls höheren Urteilsquote von 24,9 %). Ebenda. An den Modellgerichten des bayrischen Modellversuchs Güterichter ist eine deutliche Tendenz zur überdurchschnittlichen Zunahme der Vergleichsabschlüsse bei den Modellgerichten feststellbar, die indes nicht ausschließlich auf Vergleiche der Güterichter zurückgeführt werden kann. Vgl. hierzu eingehend Greger, Abschlussbericht (2007), S. 69 ff.
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
50 % 40 %
Vergleichsquote AG
Vergleichsquote LG
Urteilsquote AG
Urteilsquote LG
30 % 20 %
2015
2012
2009
2006
2003
2000
1997
1991
1988
1985
1981
1978
1975
0%
1994…
10 %
Abbildung 7: Vergleichs- und Urteilsquote in erstinstanzlichen Verfahren bei den Amts- und Landgerichten 1975-2015355 Darüber hinaus konnte ein Wandel der Konfliktkultur, der allgemeinen Praxis der Konfliktlösung, empirisch auch im Rahmen der Begleitforschung gerichtsverbundener Mediationsprogramme nachgewiesen werden.356 Für den anglo-amerikanischen Rechtskreis357 liegen entsprechende Ergebnisse vor: So hat in England die Gewährung von Kostenanreizen bei der Nutzung von ADRVerfahren zu einer deutlichen Veränderung der Konfliktkultur geführt, in den
355 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1975-2004); Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2004-2013), Tabellen 2.1.2., 5.1.2. 356 Für den bayrischen Modellversuch Güterichter vgl. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 76 ff., 108, der für das Güterichtermodell einen wichtigen, wenn auch begrenzten Beitrag zur Förderung der konsensualen Streitbeilegung und darüber hinaus eine deutliche Offenheit gegenüber konsensualen Konfliktbeilegungsmethoden nachweist. So werden ADR-Verfahren von den Parteien zunehmend als Alternativen zum Zivilprozess betrachtet und auch bei den Prozessrichtern vollzieht sich ein Wandel des Verhandlungsstils im Sinne einer stärkeren Partei- und Konsensorientierung. Vgl. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 108. 357 So legt eine nach Einführung der neuen Civil Procedure Rules (CPR) in England durchgeführte Erhebung nahe, dass durch die Neuregelung eine neue Konfliktkultur entstanden ist, die in der einfacheren Beilegung von Konflikten durch einvernehmliche Lösungen, der Verbesserung des außergerichtlichen Umgangs zwischen den Konfliktparteien und einer größeren Offenheit gegenüber konsensualen Streitbeilegungsformen in der Rechtsverfolgung deutlich wird. Vgl. Goriely/Moorhead/Abrams, More Civil Justice? (2002), S. xiii, xxxv ff.
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
89
USA hat der Mediation Receptivity Index (MRI) den Nachweis einer signifikanten, wenngleich geographisch unregelmäßig verteilten Verbreitung der Mediation erbracht.358 4. Zusammenfassung In einer gleichsam makroskopischen Fernschau wurde das Verhältnis von alternativer Streitbeilegung und Zivilprozess vor dem Hintergrund ihrer äußeren Entwicklungsbedingungen untersucht und in den Zusammenhang der sie formenden Entwicklungslinien des Rechts eingeordnet. 1. Wandel des Rechts: Die Hinwendung zu Verfahren der alternativen Streitbeilegung vollzieht sich vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Wandels des Rechts, des staatlichen Handelns und der Konfliktkultur hin zu informalen und kooperativen Handlungsstrukturen als Ausdruck eines formal-materiellen Rechtsverständnisses. a) Die alternative Streitbeilegung ist eine der vielfältigen Erscheinungsformen der durch wachsende Gerechtigkeitssensibilität, Technisierung, Globalisierung und zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft getragenen Materialisierungstendenz des Rechts. Mit der aktuellen Rechtsentwicklung hat der Trend zur Materialisierung eine kritische Masse erreicht, die der alternativen Streitbeilegung auch institutionell zum Durchbruch verholfen hat. b) Die These, dass die Hinwendung zur alternativen Streitbeilegung als Reaktion auf die Krise des formal-rationalen Rechts verstanden werden kann, das die Grenze seiner Steuerungskapazität überschritten habe, kann – wie auch die These von einer angeblichen „Krise des Rechts als Steuerungsinstrument“ – insgesamt weder empirisch noch indiziell bestätigt werden. 2. Wandel des Staates: Der traditionelle Eingriffsstaat klassischer Prägung wandelt sich in vielen Bereichen zum kooperativen Verhandlungsstaat. Kennzeichen dieser Entwicklung sind eine zunehmende Informalisierung und Privatisierung staatlichen Handelns als Reaktion auf eine massive Verrechtlichung und Materialisierung des Rechts. a) Verrechtlichung: Die Verrechtlichung des gesellschaftlichen Lebens findet ihren Ausdruck in einer durch quantitative Zunahme und qualitative Expansion positiver Rechtsnormen geprägten Normenflut und zunehmender Bürokratisierung und hat die Konfliktenteignung der Beteiligten sowie die Unterwerfung der Lebenswelt unter systemische Imperative zur Folge (Kolonialisierung der Lebenswelt). Die im früheren Schrifttum verbreitet vertretene These, dass die Zivilgerichtsbarkeit in Deutschland in ihrer Funktionsfähigkeit durch eine rasante Zunahme des Fallaufkommens (Prozessflut) beeinträchtigt werde, 358 Für eine empirische Untersuchung zur Verbreitung der Mediation in den USA und den Mediation Receptivity Index (MRI) vgl. Prause, 13 Harv. Negot. L. Rev. 131 (2008); vgl. dazu auch die theoretischen Vorarbeiten bei Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599 (2007); Prause, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 610 (2007).
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
ist mittlerweile überholt und durch den rechtstatsächlichen Befund widerlegt. Danach ist die Zahl der Neuzugänge bei erstinstanzlichen Zivilsachen vor den Amts- und Landgerichten seit 1995 deutlich rückläufig und im Zeitraum von 1995 bis 2015 insgesamt um 34,41 % gefallen.359 Eine entsprechende Entwicklung lässt sich auch für die USA nachweisen. Die für die USA zu beobachtende Besonderheit, dass die sinkende Zahl von Prozessen (von 1985 bis 2016 um 77,8 %, vanishing trial phenomenon) mit einer gleichzeitig steigenden Anzahl der Klageeingänge einhergeht (von 1962 bis 1985 um 470 %), ist mit einer stetig steigenden Vergleichsrate im zivilprozessualen Vorverfahren (pre-trial stage) erklärbar. b) Materialisierung: Die Institutionalisierung der alternativen Streitbeilegung vollzieht sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Re-Materialisierung des Rechts, die durch die wachsende Bedeutung von Generalklauseln, Ermessensvorschriften, unbestimmten Rechtsbegriffen und hyperkomplexen Einzelvorschriften geprägt ist. Die alternative Streitbeilegung stellt sich dabei – je nach Perspektive – sowohl als Erscheinungsform der als auch als Gegenströmung zur allgemeinen Materialisierungstendenz des Rechts dar. c) Die im Wachstum der ADR-Bewegung sichtbare Hinwendung zu Verfahren der Alternativen Streitbeilegung erfolgt vor dem Hintergrund einer zunehmenden äußeren und inneren Krise des Rechts. Wachsende Komplexität der zu regelnden Sachprobleme, ein tiefgreifender Wandel des Wirtschafts- und Sozialsystems, polyzentrische Produktions- und Leistungsbeziehungen, fortdauerndes Wachstum der Staatsaufgaben sowie zunehmende Verrechtlichung führen zu einer Ausdehnung des regulatorischen Rechts über die Grenzen seiner Steuerungsfähigkeit hinaus und haben einen weitgehenden Funktionsverlust des Rechts als staatliches Steuerungsinstrument zur Folge. Europäisierung, Globalisierung, der Wettbewerb der Rechtsordnungen und die Zunahme grenzüberschreitender Konflikte verstärken dabei die äußere Krise des regulatorischen Rechts. Überlagert wird diese Entwicklung von einer tiefgreifenden inneren Krise des Rechts, die durch eine Abwertung der normativen Verbindlichkeit staatlichen Gesetzesrechts, den Rückgriff auf soziale Normen oder das Rechtsgefühl, die Betonung der Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit der Rechtsnormen sowie den bewussten Verzicht auf die Sanktionierung von Rechtsverletzungen und den Wechsel zu Dialog und Verhandlung als Antwort des Staates auf Rechtsbrüche gekennzeichnet ist. Ihre Ursache findet diese Entwicklung im fortschreitenden Werterelativismus postmoderner Gesellschaften, der mit dem Richtigkeitsanspruch und dem Geltungsmonopol des staatlichen Rechts zunehmend in Konflikt gerät. d) Entformalisierung: Staatliches und privates Handeln sind zunehmend von informalen, kooperativen Interaktionsformen und dem Bemühen geprägt, 359
Von 2.170.255 Neuzugängen im Jahr 1995 (erstinstanzliche Verfahren vor den Amtsund Landgerichten gemeinsam ) auf 1.695.752 Neuzugänge 2015.
II. Rechtssoziologie: Der Wandel des Rechts
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Sachprobleme unter Vermeidung des Rechtsweges flexibel zu lösen. Diese Entwicklung erfolgt durch Mediatisierung und Prozeduralisierung und insgesamt eine Rücknahme des Befehlscharakters des Rechts. e) Reflexives Recht: Der Prozess der Entformalisierung durch Prozeduralisierung ist im Konzept der gesellschaftlichen dezentralen Selbststeuerung durch „reflexives Recht“ verdichtet worden. Die Verträglichkeit des Paradigmas des reflexiven Rechts hängt entscheidend von Maß und Struktur der Delegation der Regulationsbefugnis ab und wird für die Bestimmung der Grenzen der alternativen Streitbeilegung relevant. Als rechtspolitische Option ist das Modell eines selbstreferentiellen autopoietischen Systems des reflexiven Rechts mit den Grundsätzen des demokratischen Verfassungsstaates nicht vereinbar. Soweit es im Sinne eines prozeduralen Gerechtigkeitsmodells gedeutet wird, stößt es an dogmatische und rechtslogische Grenzen. 3. Wandel der Konfliktkultur: Seit Mitte der 1970er Jahre ist sowohl in Deutschland als auch in England und den USA ein deutlicher Wandel der Konfliktkultur von kontradiktorisch strukturierter heteronomer Außensteuerung hin zu autonomer Selbstregulierung im Wege der Kooperation erkennbar. Aufbauend auf den wissenschaftlichen Durchbrüchen in der Verhandlungsforschung haben sich konsensuale Verfahren der Streitbeilegung international in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens fest etabliert und sind inzwischen auch gesetzlich institutionalisiert (UMA360, UNCITRAL Model Law on International Commercial Conciliation361, europäische Mediationsrichtlinie362,
360 http://www.uniformlaws.org/shared/docs/mediation/mediat_am00.pdf (abgerufen am 31.8.2017). Vgl. hierzu Hilber, BB 2003, Beilage 5, 9; McCabe, 3 Pepp. Disp. Resol. L. J. 317 (2003). 361 UN-Doc. A/57/17, Annex I, S. 54–58. Abrufbar unter http://www.uncitral.org/pdf/english/texts/arbitration/ml-conc/03-90953_Ebook.pdf (abgerufen am 31.8.2017). Vgl. hierzu auch die weiterführenden Nachweise unten S. 440, Fn. 31. 362 Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivilund Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3. Vgl. hierzu auch die Nachweise oben S. 61, Fn. 340.
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
ADR-Richtlinie363 und ODR-Verordnung364, CPR365, ZivMediatG366, MedG367, VSBG368, §§ 15a EGZPO, 278 Abs. 2, 5 ZPO, 54 ArbGG, 89, 114 SGB V sowie das VSBG)369. Der rechtstatsächliche Befund belegt diese Entwicklung und weist für Zivilsachen vor den Amts- und Landgerichten einen signifikanten Anstieg der Vergleichsquote (vor dem LG von 1975 bis 2015 um 163,93 %) und einen deutlichen Rückgang der Urteilsquote (vor dem LG von 1975 bis 2015 um 43,01%)370 mit der Folge nach, dass sich Vergleichs- und Urteilsquote bereits im Jahr 2014 nahezu angeglichen haben und im Jahr 2015 die Vergleichsquote mit 27,0 % die Urteilsquote von 26,3 % sogar übersteigt.371
363
Richtlinie 2013/11/EU v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 63. 364 Verordnung Nr. 524/2013 v. 21.5.2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten v. 21.5.2013, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 1. 365 Vgl. hierzu Greger, JZ 2002, 1020, 1021 ff.; Wagner, ZKM 2004, 100, 102 f.; Althammer, JZ 2006, 69, 69 ff.; Engelhardt, Die Woolf-Reform in England (2007). 366 ZivMediatG v. 6.6. 2003, BGBl I, 29. Vgl. hierzu Oberhammer/Domej, ZKM 2003, 144. 367 Eingeführt durch Art. 1 des MedFördG (Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung) v. 12.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 368 Gesetz über die alternative Streitbeilegung in Verbrauchersachen v. 19.2.2016, BGBl. I 2016, 254 ff. Vgl. hierzu eingehend unten S. 538 f. mwN. 369 Gesetz über die alternative Streitbeilegung in Verbrauchersachen. Eingeführt durch Art. 1 des Umsetzungsgesetzes zur ADR-Richtlinie und zur ODR-Verordnung (Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durchführung der Verordnung über Online-Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten) v. 19.2.2016, BGBl. I 2016, 254 ff. Vgl. hierzu eingehend unten S. 538 f. mwN. 370 Vgl. hierzu die Nachweise oben S. 83 bei Fn. 351. 371 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1975-2004); Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2014-2015), Tabelle 5.1.2.
III. Rechtsphilosophie
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III. Rechtsphilosophie 1. Die Dichotomie zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch der Privatrechtsordnung Den Ausgangspunkt des rechtsphilosophischen Zugriffs auf das Mediationsverfahren bildet zunächst das Verhältnis zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch der liberalen Privatrechtsordnung und damit der Zusammenhang von Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit, der zunächst holzschnittartig skizziert werden soll.372 Wenn das Privatrecht den Gerechtigkeitsgehalt von Rechtsgeschäften anhand inhaltlicher Kriterien beurteilt, damit also grundsätzlich einen materiellen Gerechtigkeitsanspruch anerkennt, bedeutet das zunächst nicht, dass damit das auf einem formalen Geltungsverständnis basierende liberale Grundmodell des geltenden Privatrechts aufgehoben wäre. Im Gegenteil sind formaler Geltungs- und materieller Gerechtigkeitsanspruch untrennbar miteinander verknüpft. Dass das Privatrecht sowohl formalen als auch materiellen Prinzipien folgt, ist unbestritten: Selbstverständlich ist in einer liberalen Privatrechtsordnung ein privatautonom geschlossener Vertrag zwischen zwei frei handelnden Privatrechtssubjekten grundsätzlich wirksam, und zwar zunächst völlig unabhängig seines materiellen Inhaltes. Die Rechtsprechung hat die Vertragsfreiheit der Parteien zu respektieren, was eine umfassende, allfällige richterliche Inhaltskontrolle auf inhaltliche Angemessenheit jeglicher Vereinbarungen ausschließt.373 Selbstverständlich ist indes auch, dass Vereinbarungen, die eine Seite in unverhältnismäßigem Maße benachteiligen, nicht allein deshalb als gerecht angesehen werden können, weil sich die Parteien hierauf formal geeinigt haben.374 Es gibt angemessene und es gibt unangemessene, grob unbillige und schlechthin ungerechte Vereinbarungen, die im Übrigen regelmäßig dadurch zustande kommen, dass sich die intellektuell oder sonst strukturell überlegene oder erfahrenere Partei gegenüber der schwächeren durchsetzt, also gerade
372
Zu dieser Problematik eingehend Canaris, AcP 200 (2000), 273, 278 ff., 299 ff.; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 60 ff. 373 Daher ist die materielle richterliche Inhaltskontrolle formal gültiger Verträge auf die gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen beschränkt (§§ 138, 242, 305, 312 ff., 355 ff., 481, 491 ff. BGB). Vgl. hierzu oben S. 49 ff. 374 So hat das BVerfG klargestellt, dass ein ausschließlich formales Gerechtigkeitsverständnis den rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügt: BVerfG NJW 1994, 36, 38 f.: „Heute besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs taugt und daß der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört. … Im Sinne dieser Aufgabe lassen sich große Teile des BGB deuten.“
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
keine tatsächliche Privatautonomie besteht.375 Die aus der Euphorie der Gründerzeit und dem rasanten Fortschritt der sich entfesselnden Industrialisierung verständliche, dem BGB zugrunde liegende Vorstellung frei handelnder Privatrechtssubjekte, die in einem fairen Wettstreit ihrer Interessen Vereinbarungen mit einer stets erfüllten Richtigkeitsgewähr treffen, ist durch die Rechtsentwicklung schon bald überholt worden. Aufgrund der zutage getretenen Missstände erwiesen sich materielle Korrekturen als unerlässlich. Gesetzgeber, Rechtsprechung und nicht zuletzt auch die Privatrechtswissenschaft haben in der Folge vielfältige Mechanismen zur Korrektur formal wirksamer, jedoch als unbillig empfundener Vereinbarungen entwickelt.376 Diese Materialisierung war kein Fremdkörper, keine dem formal-liberalen Privatrecht fremde, systemwidrige Entwicklung, sondern markierte letztlich eine Rückkehr zu dem im Recht stets gegenwärtigen Dualismus von Recht und korrigierender Billigkeit. Die Billigkeit, die Equity, die in der Euphorie des insoweit selbst radikalen liberalen Grundanspruchs des BGB der Jahrhundertwende in den Hintergrund gedrängt worden ist, wurde wiederentdeckt und an den ihr angestammten Platz innerhalb des Rechts gestellt.377 Das Pendel schlug gleichsam zurück, das Gleichgewicht war wieder hergestellt. a) Materielle Gerechtigkeit im Privatrecht Der Aspekt der Billigkeit, die Korrektur als ungerecht empfundener formal wirksamer Vereinbarungen oder Entscheidungen begleitet die Geschichte des Rechts seit ihren Anfängen, über Epochen und Kulturen hinweg bis heute. Es sei hier nur auf den bereits erwähnten Dualismus von ius honorarium und ius civile, equity und common law, strengem und billigem Recht, in Minne und Recht des Mittelalters verwiesen, der sich prozessual in der Antinomie von Vergleich und Urteil des modernen Rechts wiederfindet. Der Anspruch materieller Gerechtigkeit ist, so etwa Gustav Radbruch zur objektiven Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung, „ein absoluter, durch nichts weiter begründbarer Wert“378, und auch nach Claus-Wilhelm Canaris ist er so evident, dass er
375
Vgl. zu den Grenzen privatautonomen Handelns und dem Problem mangelnder selfagency die Fallstudien unten S. 344 ff. Zum Spannungsverhältnis zwischen rechtlicher und tatsächlicher Entscheidungsfreiheit eingehend Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277 f. 376 Zur Materialisierung des Rechts eingehend oben S. 48 ff. und Canaris, AcP 200 (2000), 273, 278 ff. sowie Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 23 ff. 377 Eingehend zur Mediation als Ausprägung materieller Billigkeit vgl. unten S. 230 ff. 378 Radbruch/Kaufmann, Vorschule der Rechtsphilosophie (1965), S. 25.
III. Rechtsphilosophie
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eigentlich gar keiner Begründung bedarf.379 Neben das in der Tat offensichtliche Evidenzurteil sowie die rechtsgeschichtliche und rechtsvergleichende Empirie tritt schließlich die Rechtswirklichkeit der Judikatur: Billigkeitserwägungen, das Bemühen um Einzelfallgerechtigkeit sowie die Korrektur grob unbilliger Ergebnisse sind die Rechtsprechung seit jeher prägendes Wesensmerkmale, die dem Bedürfnis der Recht- und damit Gerechtigkeitsuchenden nach Gewährleistung materieller Gerechtigkeit entspringen.380 Es erweist sich damit einmal mehr, dass die Rechtspraxis und das Rechtsgefühl des Einzelnen in der Rechtsgemeinschaft häufig die verlässlichsten Indikatoren für einen unverfälschten, unbestechlichen Blick auf die Wirklichkeit, die reale und nicht die nur gewünschte Wirklichkeit der Rechtsordnung in ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit sind.381 Das häufig vorgetragene Argument, der Begriff der Gerechtigkeit sei leer, weil schließlich nicht konkret bestimmt werden könne,382 welche Vereinbarung denn eigentlich als gerecht und welche als ungerecht angesehen werden kann und es damit weder gerechte noch ungerechte Inhalte gäbe, geht am entscheidenden Problem vorbei.383 Denn zum einen setzt es sich über die nicht zu ignorierende Tatsache hinweg, dass bestimmte Vereinbarungen von den Gliedern
379 Canaris, FS Steindorff (1990), S. 519, 423 („Das bedarf – wie jedes Evidenzurteil – eigentlich gar keiner Begründung.“). Vgl. hierzu eingehend Oechsler, Gerechtigkeit (1997), S. 55 ff. 380 Vgl. etwa die Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Angehörigenbürgschaften (BVerfGE 89, 214 und BVerfGE 115, 51), zur Nichtigkeit wucherähnlicher Ratenkreditverträge (BGHZ 98, 174, 178 = NJW 1986, 2564; BGHZ 104, 102, 107 = NJW 1988, 1659) und zur Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Näher hierzu oben S. 49 f. Darüber hinaus hat das BVerfG klargestellt, dass „der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört.“ Dass das Recht darauf gerichtet ist „die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen ... echte Gerechtigkeitspostulate verwirklichen [zu] wollen“ (BVerfGE 6, 132 = NJW 1957, 579, 583), hat das BVerfG bereits früh klargestellt. 381 Zur Bedeutung des Rechtsgefühls als Orientierungsmaßstab vgl. Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 34 ff. 382 Vgl. hierzu den Aufsatz von Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953), S. 23 ff., den Adomeit/Hähnchen, Rechtstheorie (5. Aufl. 2008), S. 182 als den destruktivsten der gesamten Rechtstheorie bezeichnete, und Kelsen, Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960), S. 366. Vgl. dazu auch aus dem neuerem Schrifttum etwa Berger, RIW 2000, 1, 6, der bei der Interpretation von Sprechklauseln im Rahmen von Neuverhandlungen im internationalen Wirtschaftsvertragsrecht („fairness and equity“, „Treu und Glauben“, „contractual equilibrium as intended by and in the initial spirit of the contract“) indes zwischen „‘hic et nunc‘-gerechte[n] Entscheidung[en]“ und den ursprünglichen Äquivalenzerwartungen der Parteien differenziert. 383 Vgl. hierzu eingehend Waldstein, FS Verdross (1980), S. 179; Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 24 f.; Walter, FS Mayer-Maly (1996), S. 207, 231 ff.; Zöller, FS Mayer-Maly (1996), S. 1297, 1298 f.; Canaris, Iustitia distributiva (1997),
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der Rechtsgemeinschaft, und zwar von den Rechtsunterworfenen, um die es ja eigentlich geht, wie auch von Gesetzgeber und Rechtsprechung eben doch als ungerecht und unbillig angesehen werden und die Rechtsordnung zum Einschreiten veranlassen. Zum anderen ist die Existenz eines Abgrenzungsproblems nichts dem Recht völlig Fremdes, sondern vielmehr juristisches Alltagsgeschäft.384 Zwar ist eine trennscharfe Aussage etwa über die Angemessenheit einer Gegenleistung nicht auf „Heller und Pfennig“ genau möglich, aber auch nicht nötig, da es mit dem Marktpreis bzw. den Ertrags- und Gestehungskosten bei nicht marktfähigen Gütern sehr wohl Anhaltspunkte gibt, welche ohne weiteres die Bestimmung von Ober- und Untergrenzen für die Angemessenheit einer Gegenleistung zulassen.385 Dies ist bei anderen Prinzipien uneingeschränkt anerkannt und steht einer Anwendung durch Konkretisierung nicht entgegen.386 Den Parteien steht damit ein sehr weiter Einigungsbereich zur Verfügung, innerhalb dessen eine Gegenleistung als angemessen zu bewerten ist und bei dessen Überschreiten einschließlich eines Unschärfebereiches die Grenze zur Unangemessenheit evident durchbrochen wird. Damit sind beide Aussagen möglich, nämlich dass eine bestimmte Gegenleistung billig oder aber unbillig ist. Dass die Bestimmung der Billigkeit einer Gegenleistung nicht punktgenau, sondern nur innerhalb eines Einigungsbereiches möglich ist, liegt – was oft übersehen wird – in der Natur der Sache: Den Parteien kommt innerhalb bestimmter Grenzen tatsächlich eine weitgehende Autonomie zu, weil etwa innerhalb eines bestimmten Schwankungsbereiches jeder mögliche Preis als gerecht anzusehen ist. b) Das Spannungsverhältnis zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch und seine Auflösung Damit sind wir bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch der deutschen Privatrechtsordnung angelangt. Wie wir gesehen haben, stehen sich formale und materielle Grundwertungen des Privatrechts in einem Spannungsverhältnis gegenüber. Entsprechend der liberalen Vorstellung des Privatrechts als Raum der Freiheit S. 18 f. Zur Problematik der „Leerformeln“ als wissenschaftstheoretischem Problem vgl. Topitsch, FS Kraft (1960), S. 233. 384 Treffend insoweit Bydlinsky, FS Heldrich (2005), S. 1091, 1093: „Da die Voraussetzungen voraussehbarerweise verhältnismäßig vage bleiben müssen, droht ja der Allerweltseinwand ‚Leerformel‘, den man bekanntlich außerhalb streng formaler Wissenschaften ohne Rücksicht auf die Präzision des eigenen Kritikerstandpunktes gegen alles erheben kann, was einem nicht passt, ohne eine sachlich ebenso zutreffende und zugleich präzisere Alternative bieten zu müssen.“ 385 Larenz, Richtiges Recht (1979), S. 72. 386 So Larenz, Richtiges Recht (1979), S. 72.
III. Rechtsphilosophie
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folgt es zunächst einem formalen Grundverständnis: Privatautonom geschlossene Verträge werden grundsätzlich unabhängig ihres Inhaltes als Akt eigenverantwortlichen Handelns der Parteien als wirksam anerkannt. Der Anerkennungsgrund ist rein formal und letztlich in der Privatautonomie der Parteien begründet: Das Vereinbarte soll nicht deshalb gelten, weil es inhaltlich von der Rechtsordnung gebilligt wird, sondern weil sich die Parteien hierauf geeinigt haben. Gleichzeitig wird dieser Grundsatz jedoch durch eine Vielzahl materieller Wertungen durchbrochen: Die Rechtsordnung versagt formal ordnungsgemäß zustande gekommenen Verträgen ihre Billigung und damit ihre Anerkennung als geltendes Individualvertragsrecht, wenn sie in einem erheblichen Missverhältnis zu inhaltlichen Kriterien materieller Gerechtigkeit stehen, sie sich etwa als grob unangemessen erweisen. Entsprechende Regelungen finden sich etwa im Tatbestand des Wuchers gem. § 138 Abs. 1 BGB, dem Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen gem. §§ 305 ff. BGB sowie in den Vorschriften über den Wegfall der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB. Im Schrifttum hat sich in jüngerer Zeit vor allem Marietta Auer mit der dem Privatrecht immanenten Dichotomie formaler und materieller Wertungsstrukturen auseinandergesetzt und sie in einer überzeugenden Untersuchung auf den ihr zugrunde liegenden, grundsätzlich unauflöslichen Wertungsgegensatz zwischen Individualismus und Kollektivismus zurückgeführt.387 Danach ist eine systemkonforme Harmonisierung materialer Gerechtigkeitsstrukturen mit der formalen Grundorientierung des liberalen Privatrechtsmodells nicht möglich. Der Konflikt zwischen beiden Wertungsstrukturen ist unauflösbar: Die Grundgedanken von Individualismus, Selbstbestimmung, Selbstbindung und Selbstverantwortung sind mit den Geboten fremdverantwortlicher Rücksichtnahme weder auf der Grundlage des Verfahrensgedankens noch des Gedankens der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus noch mit Hilfe der Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit in systemkonformer Weise in Einklang zu bringen.388 Die Unvereinbarkeit beider Wertungsmodelle ist in der Tat zwingend: Formale und materielle Gerechtigkeitsvorstellungen schließen sich als Kehrseite der jeweils anderen gegenseitig logisch aus und können auch nicht durch ergänzende Erwägungen wie etwa den Verfahrensgedanken zu einem einheitlichen System verbunden werden. Beide Gerechtigkeitsmodelle sind nur als absolute Systeme denkbar: Geht die Rechtsordnung von der Existenz absolut geltender, unverfügbarer materieller Wertungen aus, erkennt sie also an, dass der Inhalt von Verträgen anhand inhaltlicher Kriterien einem Billigkeitsurteil zugänglich ist, ist sie mit einem Wort also der Ansicht, dass es durchaus inhaltlich
387 388
Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 25 ff. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 25 ff., 27 ff., 41.
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
unangemessene, unfaire Verträge geben kann, dann bleibt für die inhaltliche Indifferenz eines rein formalen Gerechtigkeitsmodells kein Raum. Wenn ein Vertrag seinem Inhalt nach ungerecht sein kann, weil eine Partei unangemessen benachteiligt wird, so kann er nicht gleichzeitig als inhaltlich gerecht angesehen werden, nur weil sich die Parteien auf diesen Inhalt geeinigt haben. Die Form – die privatautonome Einigung – vermag den Unrechtsgehalt ihres Inhaltes nicht aufzuheben. Umgekehrt ist die Möglichkeit jedweder inhaltlicher Bewertung eines Vertrages bereits dann von vornherein abgeschnitten, wenn die Vereinbarung allein schon deshalb als gerecht angesehen werden soll, weil sich die Parteien darauf geeinigt haben. In dieser unauflösbaren Dichotomie formaler und materieller Gerechtigkeit spiegelt sich eine altbekannte Diskussion: Im Kern geht es um den Widerstreit zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht, um den Anspruch der Geltung von – auch individualvertraglich geschaffenem – Recht allein aufgrund seiner positiven Setzung und um den Anspruch der Geltung dieses Rechts in Abhängigkeit von der Übereinstimmung mit übergeordneten, überpositiven Wertmaßstäben. c) Die Unterscheidung zwischen formellem Wirksamkeits- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch Der Widerspruch beider Gerechtigkeitsmodelle ist zwar unauflösbar, bedarf jedoch auch nicht der Auflösung. Denn die Antinomie zwischen formalem und materiellem Gerechtigkeitsdenken entsteht für das Privatrecht erst gar nicht, wird für das dogmatische System des deutschen Privatrechtsmodells gar nicht erst relevant, wenn man das der Privatrechtsordnung zugrunde liegende Gebot der Formalität und damit letztlich der Privatautonomie richtigerweise nicht als Gerechtigkeits-, sondern als Wirksamkeitspostulat versteht. Denn wenn wir den Inhalt des Grundsatzes der selbstverantwortlichen Gestaltung der Rechtsverhältnisse durch den Willen der Parteien näher betrachten, so stellen wir fest, dass dieser Grundsatz liberal-formaler Freiheitsethik gerade kein inhaltliches Gerechtigkeitsurteil, sondern lediglich eine formelle Wirksamkeitsaussage trifft.389
389 In diesem Sinne auch Canaris, Iustitia distributiva (1997), S. 44 f., der mit Flume und Hayek darauf hinweist, dass es im Hinblick auf das Fundament der Privatautonomie und damit auch auf die Vertragsfreiheit „grundsätzlich nur auf den Willen der Vertragsparteien und nicht auf die Vernünftigkeit des Vertragsinhalts ankommt“, zugleich jedoch darauf hinweist, dass sich davon völlig unberührt die Frage nach der Vereinbarkeit der rechtlichen Ordnung als solcher mit den Postulaten der Gerechtigkeit stellt.
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Werner Flume bringt diese Erkenntnis mit der verwegenen Maxime des stat pro ratione voluntas auf den Punkt:390 Es gilt – jedenfalls zunächst – der freie Wille, ungeachtet seiner Vernünftigkeit oder – so können wir ergänzen – seiner Gerechtigkeit, die quasi lumen rationis naturalis391 durch die Vernunft erkannt werden kann. Deutlich wird die Beschränkung des Formalitätsanspruches des Grundsatzes der Privatautonomie auf die bloße Wirksamkeit des Vereinbarten als „Rechtsfolge“ etwa durch die Begründung Flumes, der argumentiert, dass eine privatautonome Vereinbarung auch dann gilt, wenn sie als ungerecht erscheint: „Wenn ein Vater in seinem Testament ungleich bedenkt, so gilt dies als Rechtens, auch wenn für die ungleiche Behandlung keine Gründe ersichtlich sind und sie als ‚ungerecht‘ erscheinen. … Der Richter kann ein Testament nicht als unrichtig behandeln, weil er es für ungerecht hält“392. Der Geltungsgrund liegt allein im Willen der Beteiligten: „Die privatautonome Gestaltung von Rechtsverhältnissen bedarf, soweit sie vom Recht anerkannt wird, keiner anderen Rechtfertigung, als dass der einzelne sie will.“393 Dass die dem Grundsatz der Privatautonomie zugrunde liegende Idee der Wirksamkeit von Verträgen allein aufgrund formeller Kriterien – nämlich einer von den Parteien in Ausübung ihres freien Willens herbeigeführten Einigung – trennscharf zwischen der rechtlichen Anerkennung und dem Gerechtigkeitsgehalt von Rechtsgeschäften unterscheidet, macht Flume deutlich, wenn er im Anschluss an Kurt Ballerstedt formuliert: „Idealiter ist die Freiheit der privatautonomen Gestaltung zwar, wie Ballerstedt mit Recht hervorgehoben hat, ‚als Freiheit im Sinne sittlicher Bindung‘ zu verstehen, ‚als eine Freiheit mithin, die als ethische die Sittlichkeit, als rechtliche die Rechtlichkeit sich selbst zum Gesetz macht‘. Die rechtliche Anerkennung der privatautonomen Gestaltung ist aber davon unabhängig, ob die Freiheit in diesem idealen Sinne ausgeübt wird.“394 Sittlichkeit und rechtliche Anerkennung sind damit zwei klar voneinander getrennte Kategorien, von denen die Privatautonomie nur die rechtliche Anerkennung von Rechtsgeschäften betrifft.
390
Vgl. hierzu Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6. Flume spricht in diesem Zusammenhang von der Selbstherrlichkeit in der schöpferischen Gestaltung von Rechtsverhältnissen: „Die Geltung des Grundsatzes der Privatautonomie bedeutet die Anerkennung der ‚Selbstherrlichkeit‘ des einzelnen in der schöpferischen Gestaltung der Rechtsverhältnisse. Für den Bereich der Privatautonomie gilt der Satz: stat pro ratione voluntas“. Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6. 391 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu unten S. 101, Fn. 405. 392 Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6. 393 Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6. 394 Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6 f.
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
Die Sittlichkeit steht außerhalb der Verfügbarkeit privatautonomen Handelns, sie ist dem Zugriff des Einzelnen entzogen. Im Gegenteil ist es die Sittlichkeit, die das privatautonome Handeln der Parteien bestimmt, denn die Freiheit des Einzelnen unterliegt der zwar nicht immer rechtlich durchsetzbaren, aber doch jedem menschlichen Handeln immanenten Bindung an die Gebote der Gerechtigkeit. Die Freiheit der privatautonomen Gestaltung ist, so Flume, „als Freiheit im Sinne sittlicher Bindung“ zu verstehen.395 Weil diese Bindung aber eine moralische und grundsätzlich keine rechtliche ist, deshalb versagt die Rechtsordnung privatautonom geschlossenen Rechtsgeschäften auch dann die Anerkennung nicht, wenn ihr Inhalt der sich aus dem Gebot sittlicher Bindung ergebenden materiellen Gerechtigkeit nicht entspricht, sofern sie sich innerhalb der Grenzen des vom zwingenden Recht Tolerierten bewegt. Die rechtliche Anerkennung dieser Rechtsgeschäfte, so noch einmal deutlich Flume, „ist aber davon unabhängig, ob die Freiheit in diesem idealen Sinne ausgeübt wird.“396 Die klare Unterscheidung zwischen Wirksamkeit und materieller Gerechtigkeit, „rechtliche(r) Anerkennung“397 und „Sittlichkeit“398 hat weitreichende Konsequenzen. Sie führt zum einen zur Auflösung der Dichotomie formaler und materieller Wertungen im Privatrecht.399 Sie ist darüber hinaus nicht nur mit einer materiellen Grundorientierung des Privatrechts vereinbar, sondern setzt diese geradezu voraus.400 d) Die Auflösung der Dichotomie formaler und materieller Wertungen im Privatrecht Die Unterscheidung zwischen Wirksamkeit und materieller Gerechtigkeit führt zunächst zu einer systemkonformen Harmonisierung formaler und materieller Wertungen innerhalb der bestehenden Privatrechtsordnung. Denn die Antinomie von Formalität und Materialität betrifft mit den Kategorien der formellen Wirksamkeit bzw. rechtlichen Anerkennung auf der einen und der materiellen Gerechtigkeit auf der anderen Seite zwei klar voneinander getrennte Ebenen, so dass die Spannungen des formal-materiellen Gegensatzes gleichsam aneinander vorbeilaufen und nicht miteinander kollidieren. Dabei handelt es sich nicht um ein materiell irrelevantes „Spiel mit Begriffen“, sondern um eine Präzisierung zweier deutlich voneinander getrennter Kategorien, denen ein klar
395
Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6 f. Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6 f. 397 Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6. 398 Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6. 399 Hierzu eingehend sogleich S. 74 ff. 400 Hierzu näher sogleich unten S. 77 ff. 396
III. Rechtsphilosophie
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umgrenzter Aussagegehalt und eine jeweils eigene Funktion innerhalb der Privatrechtsordnung zukommen. Der Begriff der Wirksamkeit401 ist ein rein formaler, rechtstechnischer Begriff, der bestimmte natürliche Handlungen als dem Recht zugehörig qualifiziert. Er ist ein Abgrenzungsbegriff, der eine Aussage darüber trifft, ob eine natürliche Handlung als im rechtlichen Sinne existent anerkannt und so zum Rechtsgeschäft wird, das in das Gefüge des Rechts eingegliedert ist und bestimmte Rechtsfolgen hervorbringt. Rechtliche Wirksamkeit ist ein Akt distributiver, hoheitlicher „Beleihung“, als dessen Ergebnis bestimmte Handlungen Privater als Recht anerkannt werden. Aus Gründen der Rechtssicherheit und Praktikabilität und weil – wie wir später sehen werden – zugunsten der Parteien von der Verwirklichung der sittlichen Bindung privatautonomer Freiheit ausgegangen wird, lässt die Rechtsordnung die Tatsache, dass sich die Parteien aus freiem Willen auf eine bestimmte Vereinbarung geeinigt haben, als Wirksamkeitsvoraussetzung genügen. Damit wird jedoch noch kein Werturteil über die materielle Gerechtigkeit, in anderen Worten über die Billigkeit oder Angemessenheit des Rechtsgeschäfts getroffen.402 Dies ist etwa für den Praktiker und rechtsanwendenden Richter ohne weiteres klar: Selbstverständlich ist ein privatautonom abgeschlossenes Rechtsgeschäft ungeachtet seines Inhaltes grundsätzlich wirksam. Die Rechtsordnung ist allein schon aus Gründen der Rechtssicherheit gehalten, auf die Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus, d.h. darauf zu vertrauen, dass unter den Bedingungen tatsächlicher Vertragsparität grundsätzlich ausgewogene und damit gerechte Vereinbarungen getroffen werden. Sie wäre ohnehin mit einer vorgelagerten Inhaltskontrolle und einer „Genehmigung“ inhaltlich angemessener Rechtsgeschäfte überfordert. Eine solche staatliche Kontrolle liefe zudem Gefahr, schnell in eine zensorische Diktatur umzuschlagen, die ein Einfallstor für sachfremde Partikularinteressen des Staates bilden und so erhebliche Missbrauchsgefahren in sich bergen würde. Formell ordnungsgemäß abgeschlossene Rechtsgeschäfte werden daher grundsätzlich von der Rechtsordnung als Recht anerkannt. Dies bedeutet indes nicht, dass sie jedes Rechtsgeschäft unbesehen mit dem Siegel der Gerechtigkeit versieht und als billig anerkennt, nur weil die Parteien sich hierauf geeinigt haben. Auf den Punkt gebracht: Selbstverständlich ist nicht jede vertragliche Vereinbarung angemessen, billig und gerecht. Dies wäre aber die Konsequenz eines rein formalen Gerechtigkeitsverständnisses. Die Annahme eines entsprechenden Gerechtigkeitspostulates ist eine reine Fik-
401
Kantorowicz, Begriff des Rechts (1963), S. 87 ff.; Ryffel, Rechtssoziologie (1974), S. 245 ff.; Rehbinder, in: Rehbinder (Hrsg.), Abhandlungen zur Rechtssoziologie (1995), S. 31, 56. 402 Zum Verhältnis von formellere Wirksamkeit und Gerechtigkeit vgl. schon Meyer, Grundsätze (1868), S. 99 f.
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tion, die in der Rechtswirklichkeit keine Grundlage findet. Das eigentlich treibende Motiv hinter dem formalen Gerechtigkeitsmodell dürfte tatsächlich in dem berechtigten Bemühen um den Schutz der Privatautonomie liegen, die gegen eine übermäßige staatliche, insbesondere richterliche Kontrolle verteidigt wird. Hierfür bedarf es indes keines Rückgriffs auf die Kategorie der Gerechtigkeit, die letztlich nur fingiert, nicht jedoch gegen die gelebte Realität der Rechtspraxis behauptet werden kann. Denn tatsächlich geht es bei dem der Privatautonomie zugrunde liegenden Formalitätspostulat nicht um ein sittliches Werturteil, sondern um die schlichte Anerkennung eines Rechtsgeschäfts als geltendes Recht. Dies ist indes mit dem materiellen Gerechtigkeitsverständnis der Lebenswirklichkeit, das in den materiellen „Durchbrechungen“ des Privatrechts seinen Ausdruck findet, mühelos vereinbar. Der formale Geltungsanspruch des liberalen Privatrechtsmodells ist damit ohne weiteres mit den in ihm gegenwärtigen materiellen Wertungen in Einklang zu bringen. Wie wir im Folgenden sehen werden403, haben diese materiellen Wertungen nicht nur Ausnahmecharakter, sondern entsprechen der auf unverfügbaren, objektiven Gerechtigkeitspostulaten gegründeten materiellen Wertordnung, der das Privatrecht als Teil der objektiven Rechtsordnung angehört. e) Die Grenzen der Gerechtigkeitsvermutung des Rechts Unser Befund, dass die formale Grundorientierung der Privatrechtsordnung tatsächlich auf die rechtliche Anerkennung von Rechtsgeschäften und nicht auf ihre ethische Qualifikation vor dem Hintergrund eines formalen Gerechtigkeitsbegriffs gerichtet ist, bedarf in einem Aspekt noch der Erläuterung. Denn die Qualifizierung bestimmter Handlungen als Recht, die „Beleihung“ mit rechtlicher und damit staatlich garantierter und im Ernstfall auch hoheitlich durchsetzbarer Wirksamkeit, impliziert jedenfalls indirekt, dass die zum Status des Rechts erhöhten natürlichen Handlungen von der Rechtsordnung jedenfalls in gewissem Umfang sittlich gebilligt werden. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus der Natur und Funktion des Rechts selbst: Wie wir im Gang unserer Untersuchung gesehen haben, wird das Recht erst durch seine Gerechtigkeit als solches konstituiert. Ziel des Rechts ist es, „die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen ... echte Gerechtigkeitspostulate verwirklichen [zu] wollen“404. Da das menschliche, objektive Recht (lex humana) nach der klassischen aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie aus dem überpositiven, natürlichen Recht (lex naturae) hervorgeht, das wiede-
403 404
Vgl. hierzu unten S. 77 ff. BVerfGE 6, 132 = NJW 1957, 579, 583.
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rum nichts anderes ist als die durch den Verstand vermittelte Teilhabe des Menschen am ewigen Recht (lex aeterna) und damit an der Gerechtigkeit405, verfügt das objektive Recht überhaupt nur in dem Maß seiner Teilhabe an den überpositiven Normen des natürlichen Rechts über Rechtsqualität. In einem Wort: Recht ist nur insoweit Recht, als es gerecht ist, als es die Postulate materieller Gerechtigkeit verwirklicht. Recht, das seines Gerechtigkeitsgehalts beraubt ist, das sich seiner „Substanz entleert hat … kann nicht als Recht … angesehen werden.“406 Es kann, wenn es „mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit“407 behaftet ist, dass ihm „jede Geltung als Recht abgesprochen werden muß“408, nicht länger als Recht, sondern nur noch als corruptio des Rechts angesehen werden. Ungerechtes Recht kann es deshalb nicht geben, dies wäre ein Widerspruch in sich, wohl aber ungerechte Normen oder Vereinbarungen, die Rechtsqualität, verbindliche Autorität und damit den Schutz des Staates beanspruchen. Es liegt auf der Hand, dass diese unserer Rechtsordnung zwar idealiter zugrunde liegende, aber unter den Bedingungen dieser Welt noch nicht in dieser Weise zu verwirklichende Struktur der Harmonie und Identität von Recht und Gerechtigkeit der rechtspraktischen Beschränkung bedarf. Die Rechtsphilosophie hat dies – wie wir bereits gesehen haben409 – mit Hilfe der Radbruchʼschen Formel geleistet: aus Gründen der Rechtssicherheit toleriert die Rechtsordnung innerhalb bestimmter Grenzen ungerechtes, gerechtigkeitswidriges „Recht“, solange dies nicht zu einem „unerträglichen Widerspruch[s] des positiven Rechts zur Gerechtigkeit“410 führt. Nur im Falle eines „offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit ... müsse das positive Recht der Gerechtigkeit weichen.“411 Die Rechtsordnung ist zur Erhal-
405
Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co: „Unde patet quod lex naturalis nihil aliud est quam participatio legis aeternae in rationali creatura.“ Nach Thomas ist daher das natürliche Recht nichts anderes als ein Abdruck des göttlichen Lichts in uns. Denn durch das Licht der natürlichen Vernunft kann der Einzelne die Maßstäbe gerechten Handelns erkennen und damit erfassen, was gut und böse ist. Hierin besteht letztlich die Funktion des natürlichen Rechts: „Cui quaestioni respondens, dicit, signatum est super nos lumen vultus tui, domine, quasi lumen rationis naturalis, quo discernimus quid sit bonum et malum, quod pertinet ad naturalem legem, nihil aliud sit quam impressio divini luminis in nobis.“ Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. 406 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 95 a. 2 co.: „Unde omnis lex humanitus posita intantum habet de ratione legis, inquantum a lege naturae derivatur. Si vero in aliquo, a lege naturali discordet, iam non erit lex sed legis.“ 407 BVerfGE 6, 132 = NJW 1957, 579, 583. 408 BVerfGE 6, 132 = NJW 1957, 579, 583. 409 Vgl. oben S. 86 f. 410 BVerfGE 95, 96 = NJW 1997, 929, 931 (Mauerschützen). 411 BVerfGE 95, 96 = NJW 1997, 929, 931 (Mauerschützen). Hervorhebungen durch den Verfasser.
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tung ihrer Funktionsfähigkeit daher in gewissem Umfang fehlertolerant, da ungerechte Ergebnisse als Abweichung von dem optimalen, eigentlich gewünschten Zustand in dem auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit ausgerichteten System des Rechts als unerwünschte, gleichwohl unvermeidbare Nebenfolge innerhalb gewisser Grenzen in Kauf genommen werden. Gleichzeitig ist sie zur Erhaltung ihrer Integrität jedoch um die nachträgliche Bereinigung ungerechter und damit systemwidriger, fehlerhafter Ergebnisse bemüht. Die Rechtsordnung, die als letztes Ziel auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit, die Herstellung gerechter Zustände gerichtet ist, kann nicht ohne Schaden für die eigene Integrität ausnahmslos jedes ohne Willensmängel zustande gekommene Rechtsgeschäft unbesehen mit der Autorität des Rechts ausstatten. Sie muss korrigierend eingreifen, will sie nicht das sie selbst konstituierende Ziel verfehlen. Die Korrektur erfolgt durch die Rechtsprechung, der die Aufgabe zukommt, die Wertungen des überpositiven, natürlichen Rechts (lex naturae), d.h. die „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren.“412 Als Instrumente stehen ihr dabei eine Reihe von Einfallstoren materieller Wertungen in das Privatrecht zur Verfügung, die sich etwa im Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§§ 305 ff. BGB), des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB), des Wuchers und des wucherähnlichen Geschäfts (§ 138 BGB) sowie der Generalklausel des § 242 BGB finden. Der Eingriff rechtfertigt sich daraus, dass die Vermutung der Richtigkeit des Vertragsmechanismus, die Vermutung der Billigkeit des abgeschlossenen Rechtsgeschäfts widerlegt worden ist, und die Parteien ihrer Verantwortung zum Abschluss billiger Rechtsgeschäfte, die sich trotz ihrer Privatautonomie aus der, wie Flume es formuliert, „sittliche(n) Bindung“413 der Parteien ergibt, nicht nachgekommen sind.414 Denn wie jede Freiheitsgewährung ist auch die Vertragsfreiheit eine Freiheit, die verpflichtet, „eine Freiheit mithin, die als ethische die Sittlichkeit … sich selbst zum Gesetz macht“415. Den korrigierenden Eingriff der Rechtsordnung in ihre Privatautonomie haben die Parteien damit selbst verschuldet, er ist ihnen selbst zuzurechnen, da sie zwar keiner rechtlichen, doch einer sittlichen Pflicht unterliegen, die Gebote der Billigkeit auch im privaten Rechtsverkehr zu verwirklichen, und dieser Verpflichtung nicht nachgekommen sind. Sie haben damit gezeigt, dass sie dem ihnen von der 412
BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebungen durch den Verfasser. 413 Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6. 414 Vgl. hierzu unten S. 89. 415 Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6.
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Rechtsordnung eingeräumten Freiheitsraum, jedenfalls soweit es das infrage stehende Rechtsgeschäft betrifft, nicht gewachsen, ihn verantwortungsbewusst auszufüllen nicht in der Lage waren, so dass die Rechtsordnung die ihnen eingeräumte, staatlich verliehene Autonomie jedenfalls in dem Maße wieder entzieht, als dies zur materiellen Korrektur des Rechtsgeschäfts erforderlich ist. Diese sittliche Bindung als Begrenzung der Privatautonomie, die etwa in der Generalklausel des § 242 BGB zum Ausdruck kommt, ist kein Gebot mit Ausnahmecharakter, sondern stellt vielmehr ein die Rechtsordnung insgesamt prägendes Prinzip dar. f) Die sittliche Bindung des Einzelnen als Begrenzung der Privatautonomie Wir haben gesehen, dass das liberale Privatrechtsmodell von einer grundsätzlich freien rechtlichen Anerkennung willensmängelfrei abgeschlossener Rechtsgeschäfte ausgeht. Zugleich haben wir indes festgestellt, dass damit noch keine Aussage über den Gerechtigkeitsgehalt des mit rechtlicher Wirksamkeit ausgestatteten Rechtsgeschäfts getroffen wird. Stattdessen wird deutlich zwischen der formell zu beurteilenden rechtlichen Wirksamkeit und der materiell zu beurteilenden Gerechtigkeit des Rechtsgeschäfts unterschieden. Dies macht insbesondere Flume deutlich, wenn er formuliert: „Der Vertrag ist ‚richtig‘, weil und soweit er von der beiderseitigen Selbstbestimmung der Vertragschließenden getragen ist. ... Darüber hinaus wäre das Urteil des ‚richtig‘ oder ‚unrichtig‘ als rechtliches Urteil über den Inhalt der privatautonomen Gestaltung ein Widerspruch in sich. Denn, soweit die Privatautonomie wirkt, gibt es gerade keine rechtliche Norm, an welcher die privatautonome Gestaltung der Rechtsverhältnisse gemessen werden könnte. Die Gestaltung aus Selbstbestimmung in einem Rahmen, der nach der Rechtsordnung der Selbstbestimmung überlassen ist, ist einem rechtlichen Urteil, ob sie ‚richtig‘ ist, unzugänglich.“416 Formelle Wirksamkeit und materielle Billigkeit gehören damit zwei klar voneinander getrennten Sphären an, die Flume indes durch die sittliche Bindung des Einzelnen miteinander verknüpft. Der Einzelne ist zwar in der Ausübung seiner in der Privatautonomie begründeten Befugnis zum Abschluss von Rechtsgeschäften rechtlich frei. Als soziales, in eine Wertegemeinschaft eingebettetes Individuum, das zudem die Anerkennung seiner Geschäfte durch die Rechtsgemeinschaft beansprucht, ist der Einzelne jedoch sittlich an die dieser Rechts- und Wertegemeinschaft zugrunde liegenden Wertvorstellungen gebunden, so dass er sich diese freiwillig „selbst zum Gesetz macht“417. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Perspektive ergeben, sind erheblich: Zum einen setzt auch das liberale Privatrechtsmodell offensichtlich das Bestehen einer ob416 417
Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6. Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6.
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jektiven, überpositiven Werteordnung voraus, die auch im Bereich des Privatrechts Geltung beansprucht. Zum anderen geht es zwar nicht von einer rechtlichen, jedoch von einer sittlichen Bindung des Einzelnen an diese Werteordnung aus, die zu einer selbstbeschränkenden sittlichen Begrenzung der Privatautonomie führt. Die erste Schlussfolgerung, die auf die Anerkennung einer objektiven Werteordnung zielt und ohne die Kategorien der Richtigkeit, Gerechtigkeit oder Billigkeit überflüssig wären, entspricht dem bereits herausgearbeiteten Befund, dass auch der Privatrechtsordnung ein naturrechtlich geprägtes Gerechtigkeitsverständnis zugrunde liegt. Anders gewendet stellt auch die Privatrechtsordnung als Ordnungssystem einer Wertegemeinschaft selbstverständlich keinen wertfreien Raum dar, sondern dient gerade der Verwirklichung jener Grundwerte, welche der „verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent“418 sind. Diese Grundwerte sind weder das Ergebnis gesetzgeberischen Handelns, noch eines gesellschaftlichen Konsenses, sondern als lex naturae intrinsisch und damit sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft als Ganzes unverfügbar. Die zweite Schlussfolgerung betrifft die Mitwirkung des Einzelnen an der Verwirklichung dieser grundlegenden Gerechtigkeitspostulate. Wie das Recht insgesamt auf die Verwirklichung von Gerechtigkeit hin ausgerichtet ist, so ist auch das Privatrecht, will es seine Integrität als Recht bewahren, von seiner Bindung an den Gerechtigkeitsanspruch nicht dispensiert. Diese Bindung erfolgt durch die Wertungen des dispositiven Privatrechts, die vielfältigen materiell wirkenden Normen des verbindlichen Gesetzesrechts sowie durch die korrigierende Inhaltskontrolle der Rechtsprechung, die sich aus der Bindung der rechtsprechenden Gewalt an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG ergibt. Trotz der ihm zustehenden Privatautonomie ist der Einzelne daher auf vielfältige Weise in seinem Handeln an die Postulate materieller Gerechtigkeit gebunden. Es wird erwartet, dass das von den Parteien Vereinbarte wie auch das vom Einzelnen vorgenommene einseitige Rechtsgeschäft inhaltlich gerecht und angemessen ist. Auf den Punkt gebracht wurde dieser Gedanke von Walter Schmidt-Rimpler in seiner Lehre von der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus.419 Danach bedingt der durch den Vertragsmechanismus ausgelöste Zwang zum wechselseitigen Entgegenkommen zweier Vertragsparteien zwar nicht die unbedingte Gewähr, aber doch die Wahrscheinlichkeit, dass die Vereinbarung auch inhaltlich den Anforderungen materieller Gerechtigkeit entspricht. 418
BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Grundlegend Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 149 ff., 156 ff., 165 ff. Ergänzend hierzu Schmidt-Rimpler, FS Raiser (1974), S. 3, 5 ff; Schmidt-Rimpler, FS Nipperdey (1955), S. 1. Vgl. eingehend zur Thematik Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit (2018), § 4 III. 5. 419
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Schmidt-Rimpler ging es nicht darum, formell gültige Rechtsgeschäfte zugleich als materiell gerecht zu legitimieren, sondern er beurteilte privatautonome Rechtsgeschäfte auf der Grundlage eines objektiven, externen Gerechtigkeitsmaßstabs. Der Vertragsmechanismus gewährleistet, dass die Parteien eine Vereinbarung herbeiführen, die regelmäßig auch anhand objektiver Gerechtigkeitsmaßstäbe nicht schlichtweg unbillig, sondern vielmehr als angemessen, richtig und materiell gerecht anzusehen ist. Dieser Mechanismus wird durch das Mediationsverfahren noch verstärkt: Die Mediation ist nämlich wie kein anderes System von seiner Struktur als gerechtes Verfahren420 her darauf ausgerichtet, ein beiderseits interessengerechtes Ergebnis herbeizuführen. Die Mediation steigert damit die Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus. Erreicht wird diese Wirkung durch die Optimierung der Privatautonomie, indem die Mediation die Parteien oft erst in die Lage versetzt, von dieser auch tatsächlich Gebrauch zu machen und ihren Konflikt eigenverantwortlich beizulegen.421 Hieraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass der Gewährung tatsächlicher Privatautonomie eine dienende Gerechtigkeitsfunktion zukommt, weil sie die Parteien befähigt, objektiv materiell gerechte Vereinbarungen herbeizuführen. Die Idee der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus darf indes nicht entgegen Schmidt-Rimplers Intention422 im Sinne eines prozeduralen Gerechtigkeitsmodells missverstanden werden. Die Gerechtigkeit der Einigung ergibt sich nicht prozedural aus dem Vertragsmechanismus selbst. Dies ist nicht denkbar, da Form allein keine Inhalte hervorzubringen vermag. Die inhaltliche Gerechtigkeit der Einigung ergibt sich vielmehr aus der Übereinstimmung mit den der Rechtsordnung immanenten und ihr zugrunde liegenden unverfügbaren Geboten materieller Gerechtigkeit. Die Parteien als rechtsunterworfene Privatrechtssubjekte, die rechtssetzende gesetzgebende und die rechtsanwendende rechtsprechende Gewalt schöpfen damit aus derselben, ihnen allen gemeinsamen normativen Quelle. Wie aber kann der Einzelne diese Gebote erkennen und seiner sittlichen Pflicht zur Verwirklichung der objektiven Werteordnung nachkommen? Er vermag dies durch das lumen rationis, die durch die Vernunft vermittelte Erkenntnisfähigkeit des Einzelnen, durch die er Zugang zu den Inhalten der grundlegenden Normen materieller Gerechtigkeit erhält. Das Licht der Vernunft als – impressio divini luminis in nobis423 – der Abdruck des göttlichen Lichtes in uns versetzt uns in die Lage, ethische Werturteile zu treffen
420 Zu dieser Begrifflichkeit und der strukturellen Gerechtigkeit als Wesensmerkmal des Mediationsverfahrens vgl. unten S. 179 ff. 421 Vgl. hierzu eingehend unten S. 109 ff. 422 Vgl. nur Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 165. 423 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 101, Fn. 405.
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und gerechte von ungerechten Zuständen zu unterscheiden – quasi lumen rationis naturalis, quo discernimus quid sit bonum et malum.424 Dass die Anerkennung einer solchen Erkenntnisfähigkeit nicht auf das Privatrecht beschränkt ist, zeigt ein Blick auf das Strafrecht und die rechtliche Relevanz des Gewissens.425 2. Kritik des prozeduralen Gerechtigkeitsparadigmas So leiden die Theorien des Gesellschaftsvertrages wie Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit als Fairness426 an dem Mangel der konstruktiven Beliebigkeit, der in einem Zirkelschluss dazu führt, dass das Ergebnis bereits durch die Gestaltung der Entscheidungssituation präjudiziert ist, wie dies etwa bei der nicht begründeten Präferenz der Individuen für Risikoscheu erkennbar wird. Deutlich wird dieser Zirkelbezug jedoch Gedankenexperiments vorstellt: Eine Gerechtigkeitskonzeption, die letztlich der seiner eigenen Gesellschaft, der USamerikanischen Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts entspricht – ein liberaler, sozialer und demokratischer Rechtsstaat mit einer auf Marktwirtschaft basierenden Wirtschaftsordnung. Dass die materiellen Wertungen der Vertragstheorien nicht allein dem Verfahrensmechanismus entstammen können, sondern verfahrensexterne Ursprünge haben müssen, zeigt sich, wie etwa die Diskussion um die Zulässigkeit der Todesstrafe demonstriert, schon in den durch sie hervorgebrachten Ergebnissen, die einander widersprechen und zum Teil weit auseinanderfallen. Und wie die Vertragstheorien das real nicht existierende „kluge und sehr eigennützige Individuum“427 als reines Vernunftwesen fingieren, so ist auch der behauptete Konsens der Diskurstheorie nicht einholbar, sondern lediglich fingiert. Und da Habermas die Frage, worauf sich das für die Erreichung des Konsenses ausschlaggebende beste Argument gründet, nicht beantwortet, es anders als bei Rawls keine Prioritätskriterien gibt428, bleibt das Diskursverfahren ohne greifbares Ergebnis, ein leeres Prinzip ohne Inhalt. Erst wenn man die Erfahrungen und das Wissen der Diskursteilnehmer einbezieht, werden inhaltliche Aussagen möglich. Damit ist beiden Theorien prozeduraler Gerechtigkeit gemeinsam, dass die Inhalte materieller Wertungen gleichsam „erschlichen“ sind429, weil sie nicht
424 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 101, Fn. 405. 425 Vgl. hierzu Kölbel, FS Roxin (2011), S. 1913, 1914 ff. 426 Rawls, Theory of Justice (1971); Rawls/Kelly, Justice as Fairness (2001). 427 Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 13. 428 Vgl. zum Problem des Konsenses im Rahmen der Diskurstheorie Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973), S. 140 ff., 147 ff. 429 So deutlich Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 20. Vgl. auch ebenda, S. 15 ff.
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dem Verfahren selbst, sondern in Wirklichkeit der konkreten, gelebten Erfahrung des Individuums und seiner Intuition, letztlich seiner praktischen Vernunft entstammen, durch deren Licht wir, wie Thomas von Aquin es ausdrückt – quasi lumen rationis naturalis, quo discernimus quid sit bonum et malum430 – den Inhalt der Gerechtigkeit, wenngleich an seinen Rändern oft nur in unscharfen Konturen, in seinem Kern jedoch unverkennbar deutlich, erkennen können. Eine solche Erkennbarkeit überindividueller, objektiv existierender Normen der Gerechtigkeit wird von der prozeduralen Gerechtigkeitstheorie indes geleugnet und durch die individuelle Konstruktion subjektiver Gerechtigkeitspostulate ersetzt. Deutlich sichtbar ist das Bemühen, die Anerkennung absolut geltender und damit verbindlicher Normen materieller Gerechtigkeit zu vermeiden und diese durch die Konstruktion von Verfahrensmechanismen zur Generierung verhandelter Gerechtigkeit entbehrlich zu machen. Geprägt ist diese Entwicklung von einer Verlagerung der Gerechtigkeitspostulate von der Sphäre absoluter und universaler Geltung, objektiver Bestimmtheit und Unverfügbarkeit in die Sphäre des rein Privaten, der relativen, auf das Verhältnis zwischen den Parteien beschränkten Geltung, ihrer subjektiven Bestimmung und daher auch Verfügbarkeit. Die mit einer derartigen Postulierung eines prozeduralen Rechtsparadigmas einhergehende Monopolisierung des Verfahrensgedankens hat Canaris zu der Feststellung veranlasst, dass damit „illusionäre Erwartungen an die Leistungsfähigkeit eines ‚prozeduralen Rechtsparadigmas‘ verbunden sind, weil zu Unrecht die Verzichtbarkeit von verfahrensunabhängigen inhaltlichen Gerechtigkeitspostulaten insinuiert oder gar behauptet wird.“431 Damit sind wir auf das eigentliche Meta-Problem gestoßen, das der Diskussion um prozedurale Gerechtigkeitsmodelle und damit um den rechtsphilosophischen Standort des Mediationsverfahrens zugrunde liegt: die Problematik des Werterelativismus und seine Auseinandersetzung mit dem Naturrecht. 3. Relativismus und Naturrecht In der Tat liegt den prozeduralen Gerechtigkeitstheorien ein relativistisches Normverständnis zugrunde und sie sind in ihrer modernen Spielart – etwa bei John Rawls oder Jürgen Habermas – als Ausdruck postmodernen Denkens insoweit ein Kind ihrer Zeit. Es liegt daher nahe, auch das Mediationsverfahren als Ausprägung des allgemeinen Trends der Informalisierung und Materialisierung zur Implementierung eines relativistischen Rechtsparadigmas – etwa im
430
Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 76, S. 101, Fn. 405. 431 Canaris, AcP 200 (2000), 273, 278 ff., 291.
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Sinne eines autonom agierenden autopoietischen Systems432 des „Verhandlungsrechts“ – in Dienst zu nehmen. Eine solche Sichtweise geht indes am Wesen des Mediationsverfahrens und an der Lebenswirklichkeit vorbei, da – wie wir im Gang unserer Untersuchung gesehen haben – eine Generierung materieller Normen allein aus dem Verfahren, also die „Urzeugung des Stoffs aus der Form“433, nicht möglich ist. Inhaltliche Gerechtigkeitspostulate haben ihren Ursprung nicht im Mediationsverfahren als solchem, sondern werden von den Parteien in die Mediation hineingetragen. Das bedeutet freilich nicht, dass die Mediation nicht im Sinne eines relativistischen Grundverständnisses instrumentalisiert werden kann. Das im Schrifttum bisweilen deutlich werdende Unbehagen an der Steuerung der Gesellschaft durch abstrakt-generelle Normen, die Gesetzesverdrossenheit, das Verlangen danach, die Geltung der objektiven Rechtsordnung zu suspendieren und diese jedenfalls für den Bereich des aktuellen Konfliktes durch selbst geschaffenes Recht zu ersetzen, weist in diese Richtung. Wir werden allerdings im Gang unserer Untersuchung anhand der vielfältigen Verflechtungen der Mediation mit dem materiellen Recht sehen, dass ein derartiges relativistisches Grundverständnis keineswegs zwangsläufig oder gar die Regel ist. Die Parteien schöpfen auch im Mediationsverfahren, das nicht im normfreien Raum, sondern im Schatten, d.h. unter der Autorität des Rechts und unter seiner Vermittlung erfolgt434, aus dem normativen Vorrat des objektiven Rechts und der ihm zugrunde liegenden Wertentscheidungen. Das Mediationsverfahren ist hinsichtlich der Herkunft der in ihm verhandelten Normen neutral. Es bietet lediglich ein verfahrensmäßiges Gerüst für die Verarbeitung verfahrensexterner Wertungen, seien diese dem objektiven Recht oder den subjektiven Gerechtigkeitsempfindungen der Parteien entnommen.435 Die Media-
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Vgl. hierzu eingehend Teubner, in: Brüggemeier/Joerges (Hrsg.), Postinterventionistisches Recht (1984), S. 94 ff.; Teubner/Wilke, ZfRSoz 1984, 4 ff.; Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), passim. Kritisch Luhmann, ZfRSoz 1985, 1 ff. Hierzu im Kontext der Mediation Haffke, in: Duss-von Werdt/Mähler/Mähler (Hrsg.), Mediation (1995), S. 65 ff. 433 Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 18. 434 Vgl. zur Rolle des materiellen Rechts in der Mediation eingehend unten S. 199 ff., 358 ff. sowie zur Bedeutung der materiellen Gerechtigkeit als Einigungsmaßstab im Mediationsverfahren unten S. 223 ff., 288 ff., 344 ff. 435 Zur Bedeutung sog. objektiver Kriterien eingehend unten S. 171 ff. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 81 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 78 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 64, 223 ff. Zur Bedeutung der subjektiver Parteiinteressen unten S. 170 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff.
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tion ist weder ein Instrument zur Schaffung vom Recht abgekoppelter autonomer Ordnungen ausgehandelten Individualrechts noch ein dem Gerichtsverfahren funktional entsprechendes Instrument der Verwirklichung der objektiven Rechtsordnung. Die in ihm durch Verhandlung herbeigeführten Mediationsvergleiche beruhen vielmehr auf materiellen Wertungen, die in der praktischen Vernunft und der erlebten Erfahrung der Parteien ihren Ursprung haben. Damit sind wir wieder bei Thomas von Aquin und der klassischen Gerechtigkeitstheorie angelangt und wollen uns auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen nun der Antinomie zwischen Werterelativismus und Naturrecht zuwenden. Wir haben gesehen, dass das Modell einer prozeduralen Gerechtigkeitstheorie aufgrund des unvermeidbaren Zirkelbezuges zu verfahrensexternen Norminhalten nicht aufgehen kann und als Gerechtigkeitstheorie untauglich ist.436 In einem weiteren Schritt haben wir festgestellt, dass ihnen ein werterelativistisches Normverständnis zugrunde liegt, das einer alle normativen Gewissheiten verneinenden postmodernen Strömung der Gegenwart entspricht. Aufgrund der Untauglichkeit der prozeduralen Gerechtigkeitsmodelle kann auch das Mediationsverfahren nicht als prozedurales Instrument der Normgewinnung verstanden werden. Es ist hinsichtlich der Herkunft der in ihm verarbeiteten Normen neutral. Es kann sowohl zur Verarbeitung universal geltender, absoluter wie auch nur zwischen den Parteien gültiger, relativer Normen herangezogen werden. In einem ersten Schritt soll daher nun vor dem Hintergrund des Rechts das Verhältnis zwischen Werterelativismus und Naturrecht geklärt werden437, um sodann den Ursprung der in das Mediationsverfahren eingeführten Normen näher zu bestimmen.438 a) Motive und Wirkungen des Werterelativismus Es ist Teil der erfahrbaren Lebenswirklichkeit, dass die Inhalte materieller Gerechtigkeitspostulate kultur- und zeitenübergreifend zwar benannt, aber nicht nach ihrer Herkunft bestimmt werden können. Der normative Grundkonsens spiegelt sich in den allgemeinen Menschenrechten, aber auch in der von der Rechtsvergleichung erkannten Tatsache wieder, dass ähnliche zivilrechtliche Probleme in den Rechtordnungen zwar häufig auf unterschiedlichem Wege, jedoch mit einem vergleichbaren Ergebnis gelöst werden. Das Gerechtigkeitsbewusstein439 ist dem Menschen immanent. Seine Verletzung gehört zu den
436
Vgl. hierzu eingehend oben S. 80 ff. Hierzu unten S. 82 ff. 438 Hierzu unten S. 85 ff. 439 Hierzu eingehend Herrmann, Gerechtigkeit (2012), S. 72 ff. sowie die interdisziplinäre Gerechtigkeitsforschung, insbesondere die empirischen und spieltheoretischen Untersuchungen. Vgl. insoweit grundlegend Ockenfels, Fairneß, Reziprozität und Eigennutz (1999), S. 37 ff., 131 ff. sowie Güth/Kliemt/Ockenfels, 50 J. Econ. Behav. Organ. 465 437
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
stärksten Motivatoren menschlichen Handelns und wird selbst zum Auslöser heftig ausgetragener Konflikte. Daher stehen die Parteien eines Mediationsverfahrens der Gerechtigkeit des Verfahrens wie des Ergebnisses nicht indifferent gegenüber. Sie werden in den meisten Fällen deutlich benennen können, ob ein bestimmtes Ergebnis gerecht oder ungerecht ist, jedoch nicht, warum dies so ist. Es gibt keine mathematische Formel, mit deren Hilfe die Inhalte materieller Gerechtigkeit allein aus der Form generiert werden könnten. Und sie entzieht sich gerade deshalb dem verfahrensmäßig bestimmbaren Zugriff, weil sie eben unverfügbar, dem Individuum immanent und unveräußerlich ist. Auf der anderen Seite liegt die verlockende Faszination prozeduraler Theorien gerade darin begründet, unbeeinträchtigt von den Zwängen unverfügbarer Gerechtigkeitspostulate den Inhalt materieller Gerechtigkeit auf der Grundlage der eigenen Anschauungen individuell zu bestimmen, sie durch den scheinbar neutralen Verfahrensmechanismus zu legitimieren und sie so gegen den Einwand der Willkür und Beliebigkeit abzusichern. Im Kern geht es dabei um das Abschütteln der Autorität des Rechts, das nicht mehr als verbindlich anerkannt wird, weil es den eigenen Individualinteressen widerspricht. Die in jüngster Zeit verstärkt diskutierte Krise der Rechtsnorm440, die bereits früh von Rolf Stürner mit dem Vergleichsgedanken in Zusammenhang gebracht worden ist441 und die wir als Phänomen der Rechtswirklichkeit und als Ausprägung eines durch das postmoderne Denken der Gegenwart begünstigten Werterelativismus bereits kennengelernt haben, hat in ebendiesem Unbehagen seinen Ursprung. Damit einher geht eine Verlagerung der Prioritäten vom Gemeinwohl, dem bonum commune, als ursprünglich für das Individuum als maßgebend anerkanntem Leitbild hin zur Förderung des individuellen Wohls des Einzelnen, wie er für den Individualismus kennzeichnend ist. Entscheidend ist nunmehr, was dem Einzelnen nützt. Es gilt das dem liberalen Vertragsdenken zugrunde liegende Postulat der „aus dem Zusammenwirken aller Egoismen sich ergebende[n] Harmonie.“ Die dem strengen Liberalismus nach Adam Smith zugrunde liegende Vorstellung, dass der enthemmte Egoismus des Einzelnen durch die Wirkung der als „unsichtbare Hand“ begreifbaren Selbstregulationsmechanismen des Marktes gleichsam als unbeabsichtigte Nebenwirkung die Wohlfahrt aller bewirkt, kann als empirisch und theoretisch widerlegt gelten. Prozedural hervorgebrachte Normen sind – sofern man den an der Etablierung des Gesellschaftsvertrages oder dem Diskurs Teilnehmenden nicht eine fiktive Gemeinwohlorientierung (2003); Bolton/Ockenfels, in: Plott/Smith (Hrsg.), Handbook of experimental economics results I (2008), S. 531; Bolton/Ockenfels, in: Baurmann/Lahno (Hrsg.), Perspectives in Moral Science (2009), S. 199; Ockenfels/Raub, KZfSS (Sonderheft 50) 2010, 119. 440 Stürner, JR 1979, 133, 134; Peters, Gütegedanke (2004), S. 53 ff.; Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161 ff. 441 Stürner, JR 1979, 133, 134 ff.
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unterstellt – auf die Maximierung des individuellen, aufgrund der Zustimmungsbedürftigkeit des Konsenses maximal auf die Verwirklichung der gemeinsamen Gruppeninteressen gerichtet, da das Gemeinwohl im privatisierten Diskurs nicht vertreten ist und regelmäßig keine eigenen Fürsprecher hat. Die Etablierung einer Gemeinwohlbindung Privater bedarf der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung und ist in aller Regel selbst nur als verfahrensextern gesetzter, hoheitlicher Akt denkbar. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der dem prozeduralen Gerechtigkeitsdenken zugrunde liegende Werterelativismus mit einer Distanzierung vom objektiven Recht, einem Verlust des Gemeinwohlgedankens und einer vermehrten Priorisierung individueller Einzelinteressen einhergeht und letztlich hieraus seine Motivation bezieht. b) Mediation und Relativismus Übertragen wir diese Überlegungen auf das Mediationsverfahren, so wird deutlich, dass die Mediation durchaus den skizzierten, aus dem prozeduralen Gerechtigkeitsparadigma erwachsenden Gefahren der Entrechtlichung ausgesetzt ist. In der Tat hat etwa Owen M.F. Fiss in einem einflussreichen Aufsatz auf die Gefahren der Deregulierung staatlichen Handelns durch informelle Verfahren hingewiesen, die von der ökonomisch stärkeren Partei zur eigennützigen Verfolgung individueller Interessen ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl missbraucht werden können.442 Die Mediation, die gerade mit dem Ziel der Überwindung des erstarrten regulatorischen Rechts angetreten ist, läuft ohne ein der Deregulierung entgegenwirkendes Korrektiv Gefahr, in einem unkontrollierten Individualismus, in einer entrechtlichten, strukturlosen „Diktatur der Individuen“ oder der jeweils stärkeren Partei zu enden, in der das Gemeinwohl oder die Rechte der schwächeren Partei kaum Geltungskraft beanspruchen können. Ein näherer Blick auf das Mediationsverfahren zeigt indes, dass diese Gefahr der Mediation nicht immanent ist, weil ihr Verfahren – wie wir bereits gesehen haben – normativ neutral ausgestaltet ist. Denn mit dem Prinzip der Kooperation, die das Mediationsverfahren neben der Gleichheit der Parteien als wesentliches Strukturprinzip prägt und das durch die verfahrensleitende Funktion des Mediators gewährleistet wird, existiert ein effektives Korrektiv, das die Parteien im Rahmen des der Mediation eigenen Lern- und Transformationsprozesses wieder aufeinander hin ausrichtet und so bereits im Kern einem Durchbrechen der jeweiligen Egoismen beider Parteien entgegenwirkt. Die Besonderheit der Mediation, die sie von intuitiven Verhandlungen unterscheidet, liegt gerade darin, dass sie von ihrer Struktur her darauf ausgerichtet ist, die Interessen des Verhandlungspartners gerade aus dessen Perspektive in den
442
Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984). Vgl. zu der hierdurch angestoßenen Debatte eingehend unten S. 684 ff. mw.N.
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§ 1 Grundlagen und Begründung der konsensualen Streitbeilegung
Blick zu nehmen („put yourself into their shoes“443) und die Parteien so motiviert, gemeinsam auf die Erarbeitung beiderseits vorteilhafter Einigungen und die Realisierung von Kooperationsgewinnen durch pareto-optimale win-winLösungen hinzuwirken.444 Dem Schutz der schwächeren Partei infolge struktureller Machtungleichgewichte kann seitens des Mediators durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung Rechnung getragen werden. Auf diese Weise ist die aus dem relativistischen Grundparadigma erwachsende Priorisierung der Einzelinteressen jedenfalls im Rechtsverhältnis zwischen den Verhandlungspartnern teilweise neutralisiert. Damit ist freilich noch nichts über die Qualität der ausgehandelten Einigung vor dem Hintergrund des objektiven Rechts, die Berücksichtigung der Rechte Dritter und die Priorisierung von Gemeinwohlbelangen gesagt, doch wird diese Problematik – wie wir im Folgenden sehen werden – durch die Mobilisierung des Rechts im Mediationsverfahren reguliert.445 c) Naturrecht als Grundparadigma der objektiven Rechtsordnung Nachdem wir die Motive und Wirkungen des Werterelativismus, wie er in den prozeduralen Gerechtigkeitstheorien Ausdruck findet, untersucht und aus dieser Perspektive das Mediationsverfahren in den Blick genommen haben, wollen wir uns nun der Frage nach dem Verhältnis zwischen Normrelativismus und Naturrecht zuwenden, das als bestimmendes Thema der Diskussion um die Folgen der Informalisierung, Deregulierung, Entrechtlichung, Materialisierung und letztlich der Krise der Rechtsnorm zugrunde liegt. Dabei wollen wir jedoch nicht in die heftig geführte rechtsphilosophische Diskussion eingreifen, sondern uns dem Thema – dem praxisorientierten Fokus der Untersuchung folgend – aus einer empirischen Perspektive nähern. Anstelle der Frage, wie vor dem Hintergrund der Antinomie zwischen Relativismus und Naturrecht die Rechtsordnung gestaltet werden sollte, steht hier die Frage im Mittelpunkt, wie sich die Rechtsordnung in ihrer Genese tatsächlich darstellt. Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet das bereits dargestellte Grundverhältnis von Recht und Gerechtigkeit, wie es vom BVerfG im SorayaUrteil im Gleichklang mit der klassischen thomistischen Gerechtigkeitstheorie formuliert worden ist446. Das Recht ist auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit gerichtet. Anders gewendet ist es mit dem BVerfG Ziel des Rechts, „die
443
Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23. Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23 f. Zum Perspektivwechsel BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. 445 Vgl. eingehend hierzu unten S. 364 ff., 383 ff., 393 ff. 446 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 444
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Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen ... echte Gerechtigkeitspostulate verwirklichen [zu] wollen“447. Die Quellen des Rechts bilden die „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent“448 und die im positiven Recht entweder vollkommen oder „nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind.“449 Die Legitimation des Rechts speist sich in einem solchen Maße aus der Identität mit den Postulaten materieller Gerechtigkeit, dass es – aus der Perspektive der aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie betrachtet – jedenfalls im Grundsatz nur insoweit überhaupt Rechtsqualität besitzt, als es auch tatsächlich den Grundwerten materieller Gerechtigkeit entspricht. Weicht die tatsächliche Rechtspraxis von der durch das lex naturae vermittelten Gerechtigkeit ab, so liegt darin – wie es Thomas von Aquin ausdrückt – eine corruptio des Rechts.450 Lex iniusta non est lex.451 Eine solche ungerechte Rechtspraxis452 ist. mit den Worten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), „ihrer Substanz entleert“453 und „kann nicht als ‚Recht‘ iSv. Art. 7 EMRK angesehen werden.“454 Diesem Grundsatz ist auch die höchstrichterliche Rechtsprechung gefolgt: „Das Gesetz findet dort seine Grenze, wo es in Widerspruch zu den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechtes oder zu dem Naturrecht tritt … oder der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“455 Rechtsphilosophisch ergibt sich dieser Zusammenhang zwingend daraus, dass das objektiv gesetzte Recht (lex humana) nur insoweit überhaupt über Rechtsqualität verfügt, als es aus dem natürlichen Recht (lex naturae) hervorgeht. Das natürliche Recht ist die durch Vernunft vermittelte Teilhabe des Menschen an der lex aeterna und damit an der Gerechtigkeit.456 Dieser Dreischritt der klassischen aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie – lex aeterna – lex naturae – lex humana – prägt das Grundverständnis des Rechts
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BVerfGE 3, 225 = NJW 1954, 65, 66 (Gleichberechtigung). BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 449 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 450 Thomas v. Aquin, Summa Theologica, Ia-IIae q. 95 a. 2 co.: „Si vero in aliquo, a lege naturali discordet, iam non erit lex sed legis corruptio.” Hervorhebungen durch den Verfasser. 451 Thomas v. Aquin, Summa Theologica, Ia-IIae q. 95 a. 2 co. im Anschluss an Augustinus. Vgl. hierzu auch Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 351 ff. 452 Eingehend zum unjust law aus neuer Zeit Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 351 ff. 453 EuGRZ 2001, 210 = NJW 2001, 3035, 3040 (Schießbefehl). 454 EuGRZ 2001, 210 = NJW 2001, 3035, 3040 (Schießbefehl). 455 BGHZ 3, 94, 107 (Amtspflichtverletzung). 456 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 101, Fn. 405. 448
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bis zum heutigen Tag. Er bedarf in dieser klaren Form aus Gründen der Rechtssicherheit und weil die Postulate der Gerechtigkeit zwar in ihrem Kern, nicht jedoch an ihren Rändern trennscharf zu bestimmen sind, freilich der Einschränkung. Im Ergebnis toleriert die Rechtsordnung entsprechend der Radbruchʼschen Formel gerechtigkeitswidriges Recht, solange es sich nicht um den Fall „eines unerträglichen Widerspruchs des positiven Rechts zur Gerechtigkeit“457 handelt. Im Übrigen erfolgt eine normative Korrektur durch die Rechtsprechung, die aufgerufen ist, „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren.“458 Die Korrektur der übermäßigen Strenge gesetzlichen Formalrechts durch informale Billigkeit bildet eine dem Recht immanente Grundstruktur, die – wie wir bereits gesehen haben – durch alle Zeiten und Kulturen hinweg nachweisbar ist, von der Antinomie zwischen ius honorarium und ius civile, equity und common law, strengem und billigem Recht, über das Spannungsverhältnis zwischen Begriffsjurisprudenz und Freirechtsschule, Mechanical Jurisprudence und Legal Realism bis zu der die jüngere Diskussion prägenden Dichotomie von Positivismus und Interessenjurisprudenz. Im modernen Privatrecht erfolgt der Einbruch materieller Wertungen über Erwägungen der Einzelfallgerechtigkeit. Gemeinsam ist diesen Instrumenten der Billigkeit, der aequitas wie auch der anglo-amerikanischen equity die ihnen zugrunde liegende Einsicht, dass die von den Parteien in Ausübung ihrer Privatautonomie getroffene Einigung oder die wortlautgemäße Anwendung des Gesetzesrechts der Korrektur bedarf, weil sie zwar den Ansprüchen formaler Gerechtigkeit genügt, aber inhaltlich defizitär ist, sie nicht richtig sein kann, weil sie „nicht der Billigkeit entspricht“459, „mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre“460, zu den „Gerechtigkeitsvorstellungen in einem untragbaren Widerspruch steht“461 oder zu einem „untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit schlechthin nicht mehr zu vereinbarenden Ergebnis führen würde und das Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung für die betreffende Partei deshalb unzumutbar wäre“462 und daher von der Rechtsordnung nicht hinzunehmen ist.
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BVerfGE 95, 96 = NJW 1997, 929, 931 (Mauerschützen). BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebungen durch den Verfasser. 459 BGHZ 41, 271. Zur gerichtlichen Billigkeitskontrolle auch außerhalb des § 315 Abs. 3 S. 1 BGB vgl. BGH NJW 1992, 1043, 1043. 460 BGH NJW 1993, 3204, 3205. 461 BGH NJW 2014, 1597, 1598 (Volltreckbarerklärung inländischer Schiedssprüche). 462 BGH NJW 1993, 1856, 1860. 458
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Dass auch der normativen Privatrechtsordnung letztlich ein naturrechtlich geprägtes Gerechtigkeitsverständnis zugrunde liegt, wird durch die Durchbrechungen rein formaler Vertragsgerechtigkeit durch richterliche Inhaltskontrolle etwa im Rahmen des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§§ 305 ff. BGB), des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB), des Wuchers und des wucherähnlichen Geschäfts (§ 138 BGB) sowie der Generalklausel des § 242 BGB deutlich. Vergleichbare Vorschriften finden sich im Arbeits- und Gesellschaftsrecht und auch das US-amerikanische Recht kennt mit den Rechtsfiguren des economic duress und der contracts of adhesion äquivalente Regelungen. Vor dem Hintergrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des positiven Rechts ist die Antinomie zwischen naturrechtlichem und relativistischem Rechtsparadigma für die deutsche Privatrechtsordnung zugunsten des naturrechtlichen Grundverständnisses entschieden. Der deutschen Privatrechtsordnung liegt in seiner Genese, seinem Wesen und seiner praktischen Ausformung damit deutlich ein naturrechtliches Verständnis von Recht und Gerechtigkeit zugrunde, weil sie – wie bereits in der Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz gem. Art. 20 Abs. 3 GG deutlich wird – das Recht der Autorität der Gerechtigkeit als letzter Instanz und entscheidendem Maßstab unterstellt. Recht ist immer auch Naturrecht, weil es das Prinzip der Billigkeit enthält. Das deutsche Recht erkennt damit absolut geltende, unverfügbare, „jedem geschriebenen Recht vorausliegende[n] überpositive[n] Rechtsgrundsätze“463 und Wertmaßstäbe an, „denen im Sinne des Naturrechts selbstverständliche Geltung zukomm[t] und die überall und für jedermann unabhängig von staatlichen Rechtsnormen verbindlich“464 sind, über die sich weder die Parteien noch der Gesetzgeber hinwegsetzen können und die sich im Konfliktfall gegenüber Vertrags- oder Gesetzesrecht durchsetzen. Auch wenn die Derogation von Gesetzesrecht – aus Gründen der Rechtssicherheit und weil ihm in aller Regel eine sachgerechte und ausgewogene Normentscheidung des Gesetzgebers zugrunde liegt – die Ausnahme bildet, so gehört die Auslegung von Gesetzes- und Vertragsrecht am Maßstab der Billigkeit doch zum Tagesgeschäft rechtsprechender Tätigkeit. Die Billigkeit als das die Rechtsordnung als Ganzes durchdringende Rechtsprinzip ist damit immanenter, wesensmäßiger Teil des Rechts und jeder Rechtsordnung einschließlich der Verfahren alternativer Streitbeilegung. Recht ist damit stets auf die Verwirklichung – nur überpositiv zu denkender, der Verfügung des Staates wie des Einzelnen entzogener – Gerechtigkeit gerichtet. Diese Grundstruktur der Privatrechtsordnung mag Gegenstand von Debatten sein, man kann sie befürworten oder ablehnen. Sie lässt sich aufgrund ihrer empirischen Evidenz jedoch nicht ignorieren. Der Dualismus zwischen formaler und materieller Gerechtigkeit, die Anerkennung von Wertmaßstäben, 463 464
BVerfG NJW 1951, 877, 879. OLG Hamburg v. 16.3.1978, zitiert nach BGH GRUR 1980, 858, 859.
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die weder dem Vertrags- noch dem Gesetzesrecht entnommen sind und die Korrektur von als unbillig empfundenen Ergebnissen auf der Grundlage dieser Wertmaßstäbe ist ein konstitutives Grundprinzip des Rechts, das in den Rechtsordnungen und -kulturen jeder Epoche Ausdruck gefunden hat. Er soll daher zum Ausgangspunkt unserer weiteren Überlegungen gemacht werden. d) Formale und materielle Gerechtigkeit als Ausprägungen des naturrechtlichen Rechtsparadigmas Das dem Recht zugrunde liegende naturrechtliche Grundparadigma bedarf der Umsetzung in anwendbares Recht. „Die Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent … sind“, erfordern eine konkretisierende „Verrechtlichung“, eine Transformation in praktisch anwendbare Rechtsnormen, durch die sie erst operabel werden und verhaltenssteuernde Wirkung entfalten können. Dieser Transformationsschritt von der lex naturae zur lex humana wird vermittelt durch die beiden Kategorien der formalen und materiellen Gerechtigkeit, durch Form und Billigkeit.465 Nach einer rein formalen Gerechtigkeitskonzeption ist der entscheidende Maßstab für die inhaltliche Gerechtigkeit eines Ergebnisses allein die Privatautonomie. Formales Gerechtigkeitsdenken enthält sich jeder inhaltlichen Bewertung eines vereinbarten Verhandlungsergebnisses und erkennt es allein deshalb als gerecht an, weil es von den Parteien in Ausübung der ihnen zukommenden Privatautonomie freiwillig vereinbart worden ist.466 Ein materielles Gerechtigkeitsverständnis lässt dagegen die Tatsache, dass sich die Parteien auf eine bestimmte Regelung ungeachtet ihres Inhalts geeinigt haben, nicht als Gerechtigkeitskriterium genügen. Entscheidend sind vielmehr inhaltliche Kriterien, an denen der Gerechtigkeitsgehalt eines Vertrages zu messen ist, im Rahmen von Austauschverträgen etwa die Gleichwertigkeit der Gegenleistung (iustitia commutativa) oder im Rahmen von Verteilungssituationen die Angemessenheit der zugewendeten Güter (iustitia distributiva). Die Kategorien formaler und materieller Gerechtigkeit bilden damit das Instrumentarium der Transformation überpositiver Wertungen in praktisch anwendbares Recht. Auch wenn auf den ersten Blick eine Verknüpfung dieser beiden Kategorien mit der Antinomie von Relativismus und Naturrecht naheliegt und der Relativismus eher dem formalen, das Naturrecht eher dem materiellen Gerechtigkeitsdenken zustrebt, so ist ein echter Gleichlauf tatsächlich nicht gegeben. Daher ist auch das naturrechtliche Grundverständnis der deutschen Privatrechtsordnung ohne weiteres mit dem ihr gleichfalls zugrunde liegenden formalen Gerechtigkeitsanspruch ohne Systembrüche in Einklang zu bringen. Dies wird deutlich, wenn wir den Transformationsmechanismus von 465 Zur Problematik eingehend Vollkommer, Formenstrenge und prozessuale Billigkeit (1973), passim; Oestmann (Hrsg.), Formstrenge und Billigkeit (2009), passim. 466 Vgl. hierzu Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 23.
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der lex naturae zur lex humana näher in den Blick nehmen. Die Umsetzung überpositiver Wertvorstellungen in praktisch anwendbares Recht erfolgt durch Vermittlung beider Gerechtigkeitskonzepte nach dem Grundsatz der Subsidiarität. Hierfür stehen zunächst die ordentlichen, formalen Instrumente – Gesetzesund Vertragsrecht – zur Verfügung. Ihnen gebührt der Vorrang, weil davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber wie auch die Vertragsparteien in aller Regel billige Norm- bzw. Einigungsentscheidungen treffen werden. Versagt das Instrumentarium formaler Gerechtigkeit, das Gesetzesrecht etwa aufgrund von „Konstruktionsmängeln“, unbeabsichtigten Nebenfolgen, mangelnder Flexibilität oder im Einzelfall auch fehlerhaften Wertentscheidungen des Gesetzgebers, das Vertragsrecht etwa aufgrund fehlender Parität der Parteien und damit eingeschränkter Privatautonomie, so erfolgt erst in einem zweiten Schritt die Korrektur durch das subsidiär eingreifende Instrumentarium materieller Gerechtigkeit, etwa im Wege der Auslegung oder durch Inanspruchnahme von Generalklauseln. Materielle Kriterien werden nur subsidiär im Falle eines Versagens formaler Instrumente zur Anwendung gebracht, weil gerade davon ausgegangen wird, dass die Parteien regelmäßig zu gerechten Ergebnissen gelangen werden. Dem naturrechtlichen Grundparadigma entsprechend wird der Inhalt von Rechtsgeschäften trotz der formalen Grundstruktur der deutschen Privatrechtsordnung also nicht als per se gerecht vorausgesetzt, sondern letztlich anhand inhaltlicher Kriterien auf seinen Gerechtigkeitsgehalt hin überprüft. Dass diese Inhaltskontrolle ihrerseits nicht schrankenlos gilt, sondern zurückhaltend ausgeübt wird und gegenüber der Privatautonomie subsidiär ist, steht der Annahme eines in seinem Wesenskern naturrechtlich geprägten Rechtsparadigmas nicht entgegen. Sie entspricht ihm gerade, weil die Subsidiarität der richterlichen Inhaltskontrolle die „prozedurale“ Ebene der Umsetzung jener Billigkeitserwägungen betrifft, die letztlich im Naturrecht, in den der Rechtsordnung immanenten Wertungen begründet sind. Denn die Rechtsordnung gewährt den Parteien gleichsam einen „Vertrauensvorschuss“. Sie traut ihnen durchaus zu und geht letztlich davon aus, dass die Parteien aus sich selbst heraus zu inhaltlich ausgewogenen, gerechten Ergebnissen gelangen. Es gilt eine Vermutung der Billigkeit zugunsten der Privatautonomie der Parteien: Im Zweifel ist davon auszugehen, dass der von den Parteien im Rahmen freier Vertragsverhandlung autonom vereinbarte Vertrag in seinem Inhalt der Billigkeit entspricht, ausgewogen und gerecht ist. Den Parteien steht nämlich aufgrund ihrer Vernunft alles zur Verfügung, was zur Erzielung gerechter Ergebnisse notwendig ist. Die rechtsphilosophische Begründung ergibt sich aus der Logik der klassischen aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie. Die Parteien haben aufgrund ihrer praktischen Vernunft Zugang zu den Inhalten materialer Gerechtigkeitspostulate. Die Vernunft ist nach Thomas – impressio divini luminis
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in nobis467 – der Abdruck des göttlichen Lichtes in uns, und das Licht der natürlichen Vernunft ist es, durch das wir die Inhalte rechtlicher Billigkeit, in letzter Konsequenz die Gebote gerechten Handelns erkennen – quasi lumen rationis naturalis, quo discernimus quid sit bonum et malum468 –, jedoch keineswegs selbst bestimmen können. Trotz ihres durch die Vernunft vermittelten Zugangs zur Billigkeit können die Parteien allerdings durchaus ein Verhandlungsergebnis erzielen, das aufgrund eines materiellen Wertungsmaßstabes als unbillig anzusehen ist, weil sich etwa die Partikularinteressen einer Partei gegenüber denen der anderen durchgesetzt haben (Machtungleichgewicht), weil die Fähigkeit, das Maß materieller Billigkeit im konkreten Einzelfall zu erkennen, etwa aufgrund mangelnder Information (Informationsasymmetrien) oder Wahrnehmungsverzerrungen (Überoptimismus) eingeschränkt ist, weil das Vereinbarte von der Rechtsordnung an sich missbilligt wird (Sittenwidrigkeit) oder weil in unzulässiger Weise in die Rechte Dritte eingegriffen wird (Drittwirkung). In diesen Fällen ist die Vermutung der Richtigkeit des Vertragsmechanismus469 widerlegt, die Unbilligkeit, d.h. die Unvereinbarkeit des Verhandlungsergebnisses mit den „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent … sind“, festgestellt und die Rechtsordnung zur Korrektur befugt und gem. Art. 20 Abs. 3 GG auch berufen. Das materielle Gerechtigkeitsparadigma tritt somit immer dann an die Oberfläche, wenn Rechtspraxis und Gerechtigkeit in offenen Widerspruch zueinander geraten. Die unweigerlich folgende Auseinandersetzung zwischen unbilligem vertraglichem oder gesetzlichem Recht und den „Grundsätzen der Billigkeit“470, der „Einzelfallgerechtigkeit“471 und den Geboten „materieller Gerechtigkeit“472 ist Gegenstand richterlicher Gestaltungsmacht. Ob und auf welche Weise sie ein unbilliges Ergebnis korrigiert, ist indes Gegenstand einer Abwägungsentscheidung, in die Erwägungen unterschiedlicher Art einfließen können. Grundsätzlich übt die Rechtsordnung aus Gründen der Rechtssicherheit im Hinblick auf Eingriffe in das geltende Recht Zurückhaltung aus und beschränkt Interventionen regelmäßig auf Fälle eines erheblichen Widerspruchs zu den Geboten der Gerechtigkeit. Dies auch deshalb, weil die Klarheit darüber, dass das Vereinbarte tatsächlich der Billigkeit entspricht, zwar in einem Kernbereich klar erkennbar, an seinen Rändern aber verwaschen ist und den Parteien ein ethisch neutraler Einigungsbereich zur Verfügung 467 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. S. 101, Fn. 405. 468 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 101, Fn. 405. 469 Vgl. hierzu Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 151 ff.; Schmidt-Rimpler, FS Raiser (1974), S. 3, 5 ff. 470 BGHZ 94, 145 = NJW 1985, 1701, 1702. 471 BGHZ 160, 83 = NJW 2004, 2751, 2753. 472 BGH NJW 2006, 765, 766.
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steht, im Rahmen dessen sie der Billigkeit entsprechende Vereinbarungen treffen können. Hält sie dagegen eine Korrektur für geboten, so wird diese so weit wie möglich mit den Mitteln der Auslegung bewältigt. Die Derogation positiver Normen stellt die deutliche Ausnahme dar und kommt nur in Fällen eines „offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit“ in Betracht. Fassen wir die Ergebnisse unserer Untersuchung zusammen: 1. Die Antinomie zwischen Relativismus und Naturrecht ist in der Rechtspraxis zugunsten des Naturrechts entschieden. Der deutschen Privatrechtsordnung liegt mit der Anerkennung absolut und universal geltender, unverfügbarer und daher überpositiver Wertentscheidungen der Billigkeit ein naturrechtliches Verständnis zugrunde. Recht ist immer auch Naturrecht, weil es das Prinzip der Billigkeit enthält. Die Billigkeit, das bonum et aequum, stellt ein die Rechtsordnung als Ganzes durchdringendes Rechtsprinzip dar und ist somit immanenter Teil des Rechts und jeder Rechtsordnung einschließlich der Verfahren alternativer Streitbeilegung. 2. Die „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent … sind“, werden – vermittelt durch Konzepte formaler und materieller Gerechtigkeit – in konkretes, praktisch anwendbares Recht transformiert. 3. Dem formalen Gerechtigkeitsdenken kommt dabei aufgrund der Vermutung der Billigkeit des privatautonom Vereinbarten bzw. vom Gesetzgeber Beschlossenen grundsätzlich Vorrang zu. Materielle Gerechtigkeitserwägungen sind demgegenüber subsidiär und greifen nur im Falle eines Versagens formaler Gerechtigkeit ein. Der durch die Vermutung der Billigkeit den Parteien zugebilligte „Vertrauensvorschuss“ findet seine Rechtfertigung in der von der aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie formulierten Erkenntnis, dass die der Verfassungsordnung zugrunde liegenden überpositiven Wertvorstellungen und Gerechtigkeitspostulate dem Einzelnen als autonom handelnder Person vermittelt durch seine Vernunft erkennbar sind.473 Aus diesem Menschenbild, das gegründet ist auf der unverfügbaren Würde des Menschen als Person und seiner darauf gründenden Autonomie zur eigenverantwortlichen Regelung seiner Belange, seiner durch die Vernunft vermittelten Erkenntnisfähigkeit unverfügbarer Wertentscheidungen und der sich daraus ergebenden Verantwortung zur Herstellung einer diesen Wertvorstellungen entsprechenden Ordnung, ergibt sich der formale Gerechtigkeitsanspruch der deutschen Privatrechtsordnung und der durch sie garantierten Vertragsfreiheit. 4. Trotz der durch Vernunft vermittelten Fähigkeit des Einzelnen, die der Rechtsordnung zugrunde liegenden Grundprinzipien zu erkennen, kann der Inhalt vertraglicher Vereinbarungen oder positiver Gesetze – etwa in den Fällen
473 Vgl. hierzu oben S. 72. Zur Relevanz des Gewissens aus strafrechtlicher Sicht vgl. nur Kölbel, FS Roxin (2011), S. 1913, 1914 ff.
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von Machtungleichgewichten, Wahrnehmungsverzerrungen474, der Sittenwidrigkeit des Vereinbarten oder der Beeinträchtigung der Rechte Dritter – zu diesen immanenten Grundsätzen in Widerspruch stehen und als unbillig zu bewerten sein. Die mit diesem objektiven Wertungswiderspruch verbundene Widerlegung der Vermutung der Billigkeit berechtigt und verpflichtet die Rechtsordnung in einem zweiten subsidiären Schritt in Anwendung des materiellen Gerechtigkeitsparadigmas zur Korrektur unbilliger Entscheidungen der Vertragsparteien und ausnahmsweise auch des Gesetzgebers. Ob und in welchem Umfang eine materielle Korrektur unbilliger vertraglicher oder sogar gesetzlicher Regelungen erfolgt, bestimmt sich als Ergebnis einer Abwägungsentscheidung unter Berücksichtigung des Rechtsgutes der Rechtssicherheit nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie erfolgt durch Anwendung gesetzlicher Generalklauseln als Einfallstore materieller Billigkeit, durch ergänzende Vertragsauslegung, Gesetzesauslegung unter Berücksichtigung der Einzelfallgerechtigkeit, richterliche Rechtsfortbildung und in extremen Fällen schließlich durch gerichtliche Derogation positiven Gesetzesrechts.475 e) Mediation und Naturrecht Ausgehend von der rechtsphilosophischen Dimension der Verfahrensgerechtigkeit und den in diesem Zusammenhang diskutierten prozeduralen Gerechtigkeitstheorien haben wir die Antinomie zwischen Relativismus und Naturrecht als die dem untersuchten Themenbereich zugrunde liegende Dichotomie herausgearbeitet und die grundsätzliche Neutralität der Mediation innerhalb dieses Spannungsverhältnisses hergeleitet. Nachdem wir sodann das naturrechtliche Grundparadigma als die dem Privatrecht zugrunde liegende Ordnung sowie die Antinomie formeller und materieller Gerechtigkeitskonzeptionen in den Blick genommen haben, wollen wir den Ertrag unserer Untersuchung nun auf die Mediation als Verfahren privatautonomer Konfliktsteuerung anwenden und ihr Verhältnis zum Naturrecht näher bestimmen. Als drittunterstützte (Vertrags-)Verhandlung476 ist die Mediation Instrument autonomen rechtsgeschäftlichen Handelns von Privatrechtssubjekten und fügt
474 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses eingehend oben S. 160 ff. sowie unten S. 289 f. Hierzu auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279. 475 Zur Problematik der Wahrnehmungsverzerrungen aus verhandlungstheoretischer Perspektive vgl. Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 22 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 29 f., 62 f., 156 ff., 239 ff.; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 10 f., 38 ff., 41 ff., 86; Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 6 ff. 476 Vgl. etwa Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 121; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 148.
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sich somit mühelos in das naturrechtlich geprägte Gefüge der Privatrechtsordnung ein. Wie wir im Rahmen der Strukturanalyse des Mediationsverfahrens sehen werden477, kann sie darüber hinaus geradezu als Idealtyp privatautonomer vertraglicher Rechtsgestaltung angesehen werden478, weil sie aufgrund ihrer triadischen Struktur in besonderer Weise auf die Sicherung der Privatautonomie, der informierten, freiwilligen Entscheidung der Parteien, ausgerichtet ist. Mit dem Mediator steht den Parteien im Mediationsverfahren eine Institution zur Verfügung, die ganz der Sicherung und Verwirklichung der Privatautonomie als Kern des Mediationsverfahrens verpflichtet ist. Denn die Aufgabe des Mediators ist, wie wir gesehen haben479, eine dienende: Er soll die Parteien zu einer eigenverantwortlichen Beendigung ihres Konflikts befähigen, indem er auf die Herstellung und Sicherung der Grundbedingungen privatautonomen Handelns der Parteien hinwirkt.480 Wie für jegliches rechtsgeschäftliche Handeln innerhalb der Privatrechtsordnung, so gilt auch für die Mediation entsprechend der sich aus dem formalen Gerechtigkeitsverständnis ergebenden Vermutung der Billigkeit das Primat der Vertragsfreiheit. Auch hier rechtfertigt sich die grundsätzliche Anerkennung des Mediationsvergleichs und die damit verbundene Vermutung der Richtigkeit des Verhandlungsmechanismus mit der Überlegung, dass die Parteien im Rahmen der Mediationsverhandlung regelmäßig aus den der Rechtsordnung immanenten Wertgrundsätzen schöpfen und ein dieser Wertordnung entsprechendes und damit gerechtes Verhandlungsergebnis herbeiführen. Die Wertmaßstäbe, die der durch Mediation geschaffenen „autonomen“ Ordnung zugrunde liegen, sind daher der Billigkeitsvermutung der Privatrechtsordnung folgend grundsätzlich dem Naturrecht, den überpositiven „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent … sind“481, entnommen. Damit ist die Werteordnung, die durch das Mediationsverfahren konstituiert wird, keinesfalls so autonom, wie sie angesichts der im Schrifttum bisweilen geäußerten Skepsis gegenüber der objektiven Rechtsordnung erscheint. Wie wir im Gang unserer Untersuchung sehen werden, kommt dem positiven Recht und den ihm zugrunde liegenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers im
477
Vgl. hierzu unten S. 1361 ff., 163 ff., 181 ff. Zur Mediation als Urbild (είδος) konsensualer ADR-Verfahren vgl. bereits oben S. 4. 479 Vgl. oben S. 4 ff. Eingehend hierzu unten S. 381 ff., 410 ff., 472 ff. 480 Zur Rolle des Mediators im Mediationsverfahren vgl. auch Breidenbach, Mediation (1995), S. 256 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 75 ff.; Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 66 ff.; v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 27. Aus dem US-amerikanischen Schrifttum vgl. nur: Stempel, 24 Fla. St. U. L. Rev. 949 (1997); Kovach/Love, 3 Harv. Negotiation L. Rev. 71 (1998); Levin, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 267 (2001); Moore, The Mediation Process (3. Aufl. 2003), S. 19 ff. und die Nachweise unten S. 131, Fn. 142. 481 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 478
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Mediationsverfahren vor allem im Rahmen der Generierung und Bewertung der Einigungsoptionen tatsächlich eine erhebliche Rolle zu.482 Auch hier geht – wie bei jeglichem rechtsgeschäftlichen Handeln – die Rechtsordnung aufgrund der vernunftvermittelten Erkennbarkeit immanenter Grundwertungen zugunsten der Parteien davon aus, dass die von ihnen ausgehandelte Vereinbarung auch tatsächlich den Prinzipien der Billigkeit entspricht. Denn aus diesem Vertrauensvorschuss und dem Grundsatz der Rechtssicherheit rechtfertigt sich die dem Prinzip formaler Gerechtigkeit entsprechende Grundentscheidung der Rechtsordnung, das von den Parteien als autonomen Privatrechtssubjekten Vereinbarte unbesehen als verbindliches Recht anzuerkennen und der vollen Exekutivgewalt der Rechtsordnung zur Durchsetzung zu unterstellen. Allein im Fall eines Versagens des vertraglichen Verhandlungsmechanismus ist der Mediator als „allparteilicher Anwalt“ und Hüter der Privatautonomie entsprechend des materiellen Gerechtigkeitsparadigmas zur Intervention befugt und kraft seiner Funktion auch verpflichtet.483 Problematisch sind hier indes Art und Umfang der vermittelnden Intervention des Mediators: Während verfahrenssteuernde Eingriffe – etwa Einzelgespräche (caucus) zum Ausgleich von Machtungleichgewichten – als Maßnahmen zum Schutz der Privatautonomie der Vertragsparteien noch ohne weiteres mit dem formalen Gerechtigkeitsparadigma in Einklang zu bringen sind, ist die Zulässigkeit einer Inhaltskontrolle des Verhandlungsergebnisses durch den Mediator hingegen heftig umstritten.484 Denn dem Mediator kommt aufgrund des Wesens der Mediation als Verhandlung zwischen autonom handelnden Privatrechtsubjekten ausschließlich eine dienende, die Parteien in ihrer Verhandlung unterstützende Funktion zu.485 Die Vereinbarung des Mediationsvergleichs ist ausschließliche Sache der Parteien. Legt man indes die Funktion materieller Gerechtigkeit als Korrektiv unbilliger und in ihrem Wertungsgehalt für die Rechtsordnung nicht mehr hinnehmbarer Vertragsinhalte zugrunde, so kann für Mediationsvergleiche kein geringerer Maßstab als für übrige Rechtsgeschäfte gelten. So wird jedenfalls in den Fällen der §§ 134, 138 BGB eine Intervention des Mediators zu diskutieren sein, um in Fällen nichtiger oder gerichtlich anfechtbarer Mediationsvergleiche
482 Vgl. zur Rolle des materiellen Rechts in der Mediation unten S. 347 ff., 352 ff., 371ff., 381 ff. 483 Zur Rolle des Mediators eingehend unten S. 334 f., 340 f. 484 Vgl. hierzu auch Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 82 f., 127 ff., der jedenfalls für den Fall der Berührung öffentlicher Interessen oder den Schutz Dritter (v.a. von Kindern) eine Intervention der Rechtsordnung durch eine rechtliche Einbindung der Mediation für möglich und geboten hält. Vgl. zum Umfang der Interventionspflicht des Mediators in Fällen der Gefährdung der materiellen Vertragsfreiheit der schwächeren Partei bei strukturellen Machtungleichgewichten sowie im Fall grob unbilliger Ergebnisse unten S. 442 ff., 465 ff. 485 Zur Rolle des Mediators eingehend unten S. 163 ff., 380 ff.
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etwa durch Sensibilisierung der Parteien oder notfalls weitreichendere Maßnahmen eine Korrektur herbeizuführen.486 Sachlich rechtfertigt sich die durch den Mediator vermittelte Intervention der Rechtsordnung nicht nur mit der Funktion des Rechts als Instrument der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit, sondern darüber hinaus aus der Tatsache, dass grob unbilligen Vereinbarungen regelmäßig eine Indizwirkung hinsichtlich der Verletzung der Privatautonomie zukommt. Denn die Vereinbarung wird oft gerade deshalb unbillig sein, weil sie eine Seite in unangemessener Weise übervorteilt und in einer die freie Willensentschließung beeinträchtigenden Weise zustande gekommen ist. Tatsächlich ist das in seiner Struktur gerade auf die Verwirklichung der Privatautonomie der Parteien ausgerichtete Mediationsverfahren den Gefahren einer Verletzung der freien Willensbetätigung der Parteien und daraus folgenden einseitig vorteilhaften Vereinbarungen in besonderer Weise ausgesetzt. Das für Mediationen typische Verhandlungsumfeld der Konfliktsituation, möglicher Einigungsdruck durch den Verhandlungspartner oder sogar durch den Mediator sowie häufig auftretende Asymmetrien in Verhandlungsmacht und zur Verfügung stehenden Informationen machen das Mediationsverfahren für eine Beeinträchtigung der Privatautonomie besonders anfällig.487 Ein Blick auf die Institutionalisierungsdebatte in den USA zeigt, dass die Verletzung der Privatautonomie tatsächlich zu den drängendsten Problemen der Mediationspraxis gerichtsverbundener Mediationsprogramme gehört.488 Insbesondere empirische Untersuchungen zu mietrechtlichen Mediationen an US-amerikanischen small claims courts haben zum Teil erhebliche Defizite in der Gewährleistung tatsächlicher Vertragsfreiheit und der Herbeiführung angemessener Verhandlungsergebnisse aufgezeigt und die Frage nach einer stärkeren Intervention des Mediators aktualisiert.489 Die Vorverlagerung der Befugnis zur materiellen Korrektur unbilliger Verträge von den Gerichten auf den Mediator rechtfertigt sich dabei durch die dem Mediator eigene Funktion als Garant der Privatautonomie. Darüber hinaus liegt es im Interesse der Parteien wie auch der Rechtsordnung insgesamt, die Rechtsscheinwirkung nichtiger bzw. anfechtbarer Verträge zu vermeiden. Die grundlegenden Fragen einer möglichen Inhaltskontrolle des Mediators sind indes noch weitgehend ungeklärt: Steht dem Mediator überhaupt eine Befugnis zur Korrektur materiell unbilliger Mediationsvereinbarungen zu oder bleibt
486
Eingehend zu dieser Fallgruppe unten S. 465 ff. Zu den Grenzen privatautonomen Handelns in der Mediation und entsprechenden Risiken für die Parteien vgl. die Fallstudien unten S. 344 ff. 488 Hierzu Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 489 Eingehend hierzu unten S. unten S. 344 ff. 487
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diese Funktion ausschließlich der Rechtsprechung überlassen? Welche Handlungsoptionen stehen dem Mediator zur Verfügung? Entspricht der Interventionsmaßstab dem der objektiven Rechtsordnung (z.B. §§ 134, 138 BGB) oder ist angesichts der höheren Gefährdung der Privatautonomie im Mediationsverfahren ein der Mediation angemessenerer Maßstab anzuwenden? Den aufgeworfenen Fragen wollen wir im weiteren Gang unserer Untersuchung nachgehen.490 Das normative Bezugssystem, das wir in den vorangegangenen Abschnitten auf der Grundlage des Dualismus der formalen und materiellen Gerechtigkeitskonzeption als Ausprägungen des naturrechtlichen Grundparadigmas der Privatrechtsordnung hergeleitet haben, wird dabei die Grundlage für die Entwicklung möglicher Antworten bilden. Es dient zugleich der kohärenten Integration des Mediationsverfahrens in das Wertungsgefüge der Privatrechtsordnung und zeigt anschaulich, dass eine angemessene Lösung aktueller Probleme der Mediationspraxis der Klärung des dogmatischen Bezugsrahmens aus rechtsphilosophischer Perspektive bedarf. 4. Zusammenfassung 1. Zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch der Privatrechtsordnung besteht eine Dichotomie und zugleich eine untrennbare Verknüpfung. Das Privatrecht folgt dabei sowohl formalen als auch materiellen Prinzipien. 2. Die nur von dem Hintergrund der Euphorie des Zeitalters der Industrialisierung verständliche formal-liberale Grundausrichtung des BGB erforderte schon bald materielle Korrekturen seitens des Gesetzgebers sowie der Rechtsprechung. Diese Materialisierungsentwicklung ist kein Fremdkörper, sondern erweist sich als notwendige Korrektur, um das Gleichgewicht des im Recht stets gegenwärtigen Dualismus von strengem Recht und korrigierender Billigkeit wiederherzustellen. 3. Die Korrektur formal wirksamer, jedoch materiell unangemessener Vereinbarungen durch Instrumente informaler Billigkeit ist eine dem Recht – über Epochen und Kulturen hinweg bis zur Gegenwart – immanente Konstante. Das Spannungsverhältnis zwischen den Prinzipien des Formalen und des Informalen findet sich wieder im Dualismus von ius honorarium und ius civile, equity und common law, billigem und strengem Recht, Minne und Recht des Mittelalters sowie prozessual in der Antinomie von Urteil und Vergleich. Der Begriff materieller Gerechtigkeit ist trotz seiner Unschärfe nicht inhaltsleer. Ihr Inhalt ist bestimmbar, wenngleich nicht punktgenau und lediglich in den Grenzen eines notwendigen Unschärfebereiches.
490 Vgl. zur Rolle des Mediators eingehend unten S. 381 ff. (Riskin-Grid), 410 ff. (vertragsautonome Mediation), 472 ff. (gerichtsverbundene Mediation). Zur Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht des Mediators vgl. eingehend unten S. 442 ff.
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4. Der formale Geltungsanspruch der Privatrechtsordnung wird auf vielfältige Weise durch materielle Wertungen durchbrochen (z.B. §§ 138, 305 ff., 313 BGB). Im Schrifttum wurde die dem Privatrecht immanente Dichotomie formaler und materieller Wertungsstrukturen auf den unauflöslichen Wertungsgegensatz zwischen Individualismus und Kollektivismus zurückgeführt. Allerdings greift dieser Ansatz letztlich zu kurz. Vielmehr dürfte der Dichotomie zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch jenes Spannungsverhältnis zu Grunde liegen, das in dem Widerstreit zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht Ausdruck gefunden hat. 5. Die Antinomie zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch ist zwar unauflösbar, bedarf jedoch auch nicht der Auflösung. Denn sie wird für die Privatrechtsdogmatik gar nicht erst relevant, wenn das ihr zu Grunde liegende Gebot der Formalität nicht als Gerechtigkeits-, sondern als Wirksamkeitspostulat verstanden wird. 6. Im Anschluss an Flume und Ballerstedt erweisen sich Sittlichkeit und rechtliche Anerkennung als klar voneinander getrennte Kategorien. Während die Privatautonomie lediglich die rechtliche Anerkennung von Rechtsgeschäften betrifft, steht die Sittlichkeit außerhalb der Verfügbarkeit privatautonomen Handelns. Die Unterscheidung zwischen Wirksamkeit und materieller Gerechtigkeit, rechtlicher Anerkennung und Sittlichkeit führt zur Auflösung der Dichotomie formaler materieller Wertungen im Privatrecht. Sie ist nicht nur mit einer materiellen Grundorientierung des Privatrechts vereinbar, sondern setzt diese geradezu voraus. 7. Die Unterscheidung zwischen Wirksamkeit und materieller Gerechtigkeit ermöglicht eine systemkonforme Harmonisierung formaler und materieller Wertungen innerhalb der bestehenden Privatrechtsordnung. Der formale Geltungsanspruch des liberalen Privatrechtsmodells kann ohne weiteres mit den in ihm gegenwärtigen materiellen Wertungen in Einklang gebracht werden. Die formale Grundorientierung der Privatrechtsordnung beruht auf der rechtlichen Anerkennung von Rechtsgeschäften und nicht etwa auf ihrer ethischen Qualifikation vor dem Hintergrund eines formalen Gerechtigkeitsbegriffs. 8. Recht und Gerechtigkeit sind konstitutiv und wesenhaft in der Weise miteinander verknüpft, dass das Recht stets auf die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit gerichtet ist. Entsprechend der klassischen aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie geht das objektive Recht (lex humana) aus dem überpositiven, natürlichen Recht (lex naturae) hervor, das nichts anderes ist als die durch den Verstand vermittelte Teilhabe des Menschen am ewigen Recht (lex aeterna) und damit an der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist für das Recht in dem Sinne konstitutiv, dass Recht nur in dem Maße seiner Teilhabe an den überpositiven Normen des natürlichen Rechts und damit an der Gerechtigkeit über Rechtsqualität verfügt. Ist es seines Gerechtigkeitsgehaltes beraubt, handelt es sich um eine corruptio des Rechts, die nicht mehr als Recht angesehen werden kann. Ungerechtes Recht kann es per definitionem nicht geben.
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9. Eine vollkommene Kongruenz von lex naturae und lex humana ist indes in der Lebenswirklichkeit nicht möglich. Die Rechtsordnung ist zur Erhaltung ihrer Funktionsfähigkeit in gewissem Umfang fehlertolerant. Das daraus folgende Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit lässt sich auf der Grundlage der Radbruchʼschen Formel auflösen. Zugleich muss die Rechtsordnung zur Erhaltung ihrer Integrität Möglichkeiten zur nachträglichen Korrektur ungerechter und damit systemwidriger Ergebnisse bereithalten. Entsprechende Instrumente der Inhaltskontrolle finden ihre Rechtfertigung darin, dass die Vermutung der Richtigkeit des Vertragsmechanismus und damit die Vermutung der Billigkeit des abgeschlossenen Rechtsgeschäfts widerlegt worden ist. 10. Der Privatrechtsordnung liegt ein naturrechtlich geprägtes Gerechtigkeitsverständnis zugrunde. Die Durchbrechung des formalen Geltungsanspruchs der Privatrechtsordnung durch materielle Wertungen ist nur vor dem Hintergrund der Anerkennung einer objektiven Werteordnung verständlich. Der Einzelne wirkt an der Verwirklichung der grundlegenden Gerechtigkeitspostulate der Privatrechtsordnung durch Ausübung privatautonomen Handelns mit. Die Gerechtigkeitsbindung der Privatrechtsordnung findet in den Wertungen des dispositiven Privatrechts, den materiell wirkenden Normen des verbindlichen Gesetzesrechts sowie der korrigierenden Inhaltskontrolle der Rechtsprechung Ausdruck. Der Einzelne ist aufgrund der ihm zustehenden Privatautonomie dabei in der Regel nicht rechtlich, sondern lediglich sittlich gebunden. Die Rechtsordnung erwartet von den Parteien, dass sie ihre Rechtsgeschäfte inhaltlich gerecht und angemessen ausgestalten. Wird diese Erwartung durch das Versagen der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus enttäuscht, so greift die Rechtsordnung – innerhalb eines hinreichend weiten Spielraums kontrollfreien privatautonomen Handelns der Parteien – korrigierend ein, indem es ein Mindestmaß an Angemessenheit und gegenseitiger Interessenverwirklichung herstellt. 11. Der durch den Vertragsmechanismus ausgelöste Zwang zum wechselseitigen Entgegenkommen zweier Vertragsparteien begünstigt materiell gerechte Vereinbarungen. Die von Schmidt-Rimpler beschriebene Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus wird durch die Mediation verstärkt, weil sie wie kein anderes Verfahren gerade auf die Herbeiführung eines angemessenen Interessenausgleichs ausgerichtet ist. 12. Schmidt-Rimplers Theorie der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus darf nicht im Sinne eines prozeduralen Gerechtigkeitsmodells missverstanden werden. Aus bloßer Form lassen sich keine Inhalte generieren. Vielmehr sind es die Parteien, die vermittelt durch die Vernunft in die Lage versetzt werden, ethische Werturteile zu treffen sowie gerechte von ungerechten Einigungen zu unterscheiden. Das durch den Vertragsmechanismus bedingte Abschleifen der gegenseitigen Interessen begünstigt dabei materiell angemessene Einigungen.
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13. Theorien prozeduraler Gerechtigkeit sind nicht tragfähig. Konzepte des Gesellschaftsvertrages wie Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit als Fairness leiden an dem Mangel der konstruktiven Beliebigkeit. In einem Zirkelschluss wird dabei das Ergebnis bereits durch die Gestaltung der Entscheidungssituation präjudiziert. Die Inhalte materieller Wertungen sind dabei gleichsam „erschlichen“491. Sie entstammen nicht dem Verfahren selbst, sondern in Wirklichkeit der konkreten, gelebten Erfahrung des Individuums und seiner Intuition, d.h. letztlich seiner praktischen Vernunft. 14. Der Diskussion um prozedurale Gerechtigkeitsmodelle und um den rechtsphilosophischen Standort des Mediationsverfahrens liegt als Metaproblem die Problematik des Werterelativismus und seine Auseinandersetzung mit dem Naturrecht zugrunde. Prozedurale Gerechtigkeitstheorien gehen von einem relativistischen Normverständnis aus und sind als Ausdruck postmodernen Denkens daher stark durch den jeweils herrschenden Zeitgeist beeinflusst. 15. Das Mediationsverfahren kann nicht als Ausprägung des allgemeinen Trends der Informalisierung und Materialisierung zur Implementierung eines relativistischen Rechtsparadigmas im Sinne eines autonom agierenden autopoietischen Systems des „Verhandlungsrechts“ verstanden werden. Die der Einigungsentscheidung zu Grunde liegenden Gerechtigkeitspostulate haben ihren Ursprung nicht im Mediationsverfahren als solchem, sondern werden von den Parteien in die Mediation hineingetragen. 16. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Mediation im Sinne eines relativistischen Grundverständnisses instrumentalisiert wird. Aus seiner Eigenart, die Grenzen des erstarrten regulatorischen Rechts zu überwinden, ergibt sich die Gefahr eines unkontrollierten Individualismus, einer entrechtlichten, strukturlosen „Diktatur der Individuen“ oder der jeweils stärkeren Partei. Auf die Gefahren der Deregulierung staatlichen Handelns durch informelle Verfahren hat insbesondere Fiss492 hingewiesen und im US-amerikanischen Schrifttum eine folgenreiche Diskussion ausgelöst. 17. Diese Gefahr ist dem Mediationsverfahren indes nicht immanent, weil es normativ neutral ausgestaltet ist. Mit dem Kooperationsprinzip existiert ein effektives Korrektiv, das die Parteien in einem Lern- und Transformationsprozesses wieder aufeinander hin ausrichtet und so einem Durchbrechen der jeweiligen Egoismen beider Parteien entgegenwirkt. Indem es beiderseits interessengerechte Einigungen fördert, dient es der Herstellung materieller Gerechtigkeit. 18. Die Kategorien formaler und materieller Gerechtigkeit bilden damit das Instrumentarium der Transformation überpositiver Wertungen in praktisch an-
491 Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 20. Vgl. auch ebenda, S. 15 ff. 492 Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984). Vgl. zur Fiss-Debatte eingehend unten S. 684 ff. mw.N.
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wendbares Recht. Das naturrechtliche Grundverständnis der deutschen Privatrechtsordnung lässt sich mit dem ihr gleichfalls zugrunde liegenden formalen Gerechtigkeitsanspruch ohne Systembrüche in Einklang bringen. 19. Im Rahmen des Mediationsverfahrens schöpfen die Parteien regelmäßig aus den der Rechtsordnung immanenten überpositiven Wertgrundsätzen, um ein dieser Wertordnung entsprechendes und damit materiell gerechtes Verhandlungsergebnis herbeiführen. Die der im Wege der Mediation geschaffenen „autonomen“ Ordnung zugrunde liegenden Wertmaßstäbe sind dem Naturrecht, den überpositiven „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent … sind“493, entnommen. 20. Das Mediationsverfahren dient damit nicht der Errichtung autonomer normativer Ordnungen, deren Inhalt den Wertungen der Privatrechtsordnung widerspricht. Indem die Parteien aus dem Corpus jener Wertpostulate schöpfen, die zugleich auch der Privatrechtsordnung zu Grunde liegen, dient die Mediation idealiter zugleich der Bewährung der Privatrechtsordnung und der Verwirklichung der ihr zu Grunde liegenden Wertungen.
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BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya).
§ 2 Mediation und Zivilprozess In den vorangegangenen Kapiteln haben wir uns dem Verhältnis von Mediation und Zivilprozess aus der Perspektive verschiedener juristischer Teildisziplinen und der Grundlagenwissenschaften genähert, ihre Auswirkungen auf den Konflikt und das Verhalten der Parteien sowie ihre Erscheinungsformen im geschichtlichen Wandel untersucht und sie schließlich in ihren philosophischen und sozialen Kontext wie in die größeren Entwicklungslinien des Rechts eingeordnet. Die Erkenntnisse über die rechtstatsächlichen Erscheinungsformen, Wirkungen und den ideengeschichtlichen Standort beider Verfahrenstypen, die wir aus dem Blickwinkel der Grundlagenwissenschaften herausgearbeitet haben, bilden den Ausgangspunkt für unsere weitere Untersuchung, in der wir die tragenden Prinzipien für die Bestimmung des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess entwickeln wollen. Ziel ist die Erarbeitung der dogmatischen Grundlagen einer einheitlichen Konfliktbehandlungslehre: In einem ersten Schritt werden wir daher die Strukturprinzipien der einzelnen Verfahrensarten in ihrem wechselseitigen Spannungsverhältnis herausarbeiten und ihren funktionalen Standort im Rechtsschutzsystem bestimmen. Sodann werden wir ihr Verhältnis zu Recht1 und Gerechtigkeit2, zum materiellen3 und zum Verfahrensrecht4 näher untersuchen. In einem letzten Schritt werden wir schließlich beide Verfahrensarten vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Konflikttheorie in ein einheitliches System der Konfliktbehandlung integrieren, um so zu einem dogmatischen Modell einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre zu gelangen.5
I. Typologie der alternativen Streitbeilegung Der Begriff der alternativen Streitbeilegung umfasst alle zur Konfliktbeilegung bestimmten Verfahren mit Ausnahme des Zivilprozesses. Neben den Verfahren der Verhandlung, Mediation und dem Schiedsverfahren und ihren jeweiligen Ausformungen6 existiert mit dem Mini Trial, Med-Arb, Arb-Med,
1
Vgl. hierzu unten S. 149. Vgl. hierzu unten S. 167. 3 Vgl. hierzu unten S. 276. 4 Vgl. hierzu unten S. 428. 5 Vgl. hierzu unten S. 518. 6 Für die Verfahren der Verhandlung und der Mediation haben sich entsprechend der ihnen zugrunde liegenden Ziele und „Ideologien“ und der jeweiligen Rolle des Mediators unterschiedliche Untertypen entwickelt. So wird im Bereich der Mediation etwa zwischen 2
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§ 2 Mediation und Zivilprozess
Neg-Arb, Online Dispute Resolution (ODR), der Schlichtung (etwa durch Schiedsleute), dem Ombudsmann, transformativer Mediation und dem Collaborative Law eine kaum noch überschaubare Vielzahl hybrider Verfahrensvarianten.7 Dennoch lassen sich sämtliche Verfahren der Streitbeilegung auf die drei idealtypischen Primärverfahren der Verhandlung, der Mediation und der autoritativen Drittentscheidung (judging) oder kurz auf das Verhandeln, das Vermitteln und das Richten zurückführen.8 Entscheidendes Differenzierungskriterium ist hierbei das Maß der Mitwirkung der Parteien an der Erarbeitung einer
direktiver, vermittelnder, pragmatischer und transformativer Mediation unterschieden. Hierzu eingehend: Alberstein, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 321, 341 ff. (2007). Zur Rolle des Mediators nach dem sog. Riskin-Grid eingehend unten S. 309 ff. sowie in der vertragsautonomen und der gerichtsverbundenen Mediation vgl. unten S. 360 ff., 408 ff. Vgl. hierzu auch die Nachweise unten S. 131, Fn. 142. 7 Für einen Überblick über die Primär- und Hybridverfahren der alternativen Streitbeilegung vgl. eingehend Greger, in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung (2. Aufl. 2016), D. Rn. 1 ff. (S. 270 ff.) sowie MenkelMeadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 57 ff., 613 ff.; Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 3 ff., 418 ff.; Risse/Wagner, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 553, 580 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 66 ff. Zum Collaborative Law eingehend Engel, Collaborative Law (2010) sowie unten S. 437 ff. 8 So die ganz überwiegende Meinung: Sander, 70 F.R.D 111, 114 f. (1976) (der zusätzlich noch die Streitvermeidung als dritte Handlungsalternative – jedoch nicht als Verfahren – benennt); Sander/Goldberg, 10 Neg. J. 49, 51 (1994); Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 29 (2000). Vgl. auch die Vorarbeiten von Lon L. Fuller, der jedoch zwischen Schiedsverfahren, Mediation und Zivilprozess unterscheidet und diese Verfahren in jeweils drei eigenen Werken systematisch untersucht hat: Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3 (1963) (Schiedsverfahren); Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305 (1971) (Mediation) und Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353 (1978) (Schiedsverfahren und Zivilprozess). Gleichwohl differenziert Fuller zwischen einer Vielzahl von Grundprinzipien und Verfahren sozialer Ordnung, die er in einer Reihe unterschiedlicher „Listen“ zusammengefasst hat (Fuller, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 169, 170; Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 338 (1971)), aus denen sich indes fünf „primary processes of social ordering“ ableiten lassen: adjudication, mediation, contract, legislation, managerial direction (Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 27, 34), von denen indes nicht alle gleichermaßen als Primärverfahren der Konfliktlösung gelten können. Dazu eingehend unten S. 114 f. Hierzu auch Doerfer, Die Moral des Rechts (2006), S. 165 ff. Anders dagegen Eckhoff, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie (2. Aufl. 1971), S. 243, 245, 254 ff., der zwischen vermitteln (to mediate), richten (to judge) und anordnen (to administer) unterscheidet und Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/ Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 150, die mit (1) der relativen Kontrolle der streitenden Parteien über Verlauf, Inhalt und Ergebnis des Verfahrens, (2) der Intervention einer dritten Partei, (3) dem Ergebnis des Verfahrens und (4) der Relevanz von Normen
I. Typologie der alternativen Streitbeilegung
133
Sachlösung und damit der Grad der Privatautonomie bei der Entscheidungsfindung.9 Zwar wird im Schrifttum bisweilen auch an andere Unterscheidungsmerkmale wie etwa an die jeweiligen Ziele (Interessenausgleich, Zuweisung von Recht und Unrecht, Bestimmung der tatsächlichen Machtverhältnisse)10 oder den Institutionalisierungsgrad (rein privatautonome Streitschlichtung, institutionalisierte privatautonome Streitschlichtung, rechtliche Verfahren alternativer Streitschlichtung) der jeweiligen Verfahren angeknüpft.11 Durchgesetzt hat sich jedoch zu Recht eine Typologie, die sich von der Art der Entscheidungsfindung als zentralem Ordnungskriterium ableitet und damit dem Kausalitätsverhältnis zwischen Differenzierungskriterium und Strukturmerkmalen folgt, da die Strukturmerkmale der drei Verfahrenstypen auf Sach- und Verfahrensebene – wie etwa die Unmittelbarkeit der Parteipartizipation, die herangezogenen Entscheidungsgrundlagen (Interessen, Rechtsansprüche oder beides) oder etwa die Flexibilität des Verfahrens – vom Maß der Mitwirkung der Parteien an der Erarbeitung einer Sachlösung und damit von der Rolle der Parteien und ggf. des neutralen Dritten bestimmt werden und nicht umgekehrt. Darüber hinaus sind Merkmale wie die Verfahrensziele oder der Institutionalisierungsgrad als Differenzierungskriterium ungeeignet, da sie für die einzelnen Verfahrensarten selbst in einer beträchtlichen Bandbreite variabel sind und zusätzlich erhebliche Schnittmengen untereinander aufweisen, die eine taugliche Differenzierung erschweren.12
für die Bewertung des Ergebnisses fünf verschiedene, idealtypische Verfahrensmethoden auf der Grundlage von vier Strukturkriterien definieren. 9 Ähnlich auch Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 3: „In fact, a critical distinguishing factor among the third-party processes is whether the neutral has power to impose a solution or simply assist the disputants in arriving at their own solution.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 10 So Ury/Brett/Goldberg, Getting Disputes Resolved (1993), der nach drei Verfahrenszielen unterscheidet: „ … to (1) reconcile their underlying interests, (2) determine who is right or wrong, and/or (3) determine who is more powerful.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 11 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 93 ff. 12 So sind etwa die mit der Mediation verfolgten Ziele (Service-Delivery, Access to Justice, Individual Autonomy, Reconciliation, Social Transformation) innerhalb der ADR-Bewegung selbst äußerst umstritten und abhängig von den Interessen der Beteiligten und ihrem jeweiligen Menschen- und Gesellschaftsbild, das durch die Wahl eines bestimmten Verfahrens verwirklicht werden soll. Hierzu eingehend Breidenbach, Mediation (1995), S. 116 ff. Daneben verfolgen alle drei Verfahrenstypen zum Teil dieselben Ziele (Befriedung, Konfliktbeilegung) und treten in jeweils unterschiedlichem Institutionalisierungsgrad auf (z.B. privatautonom initiierte und obligatorische gerichtsverbundene Mediation). Vgl. zu den Zielen und Funktionen des Mediationsverfahrens und des Zivilprozesses eingehend unten S. 158 ff., 558 ff., 615 ff.
134
§ 2 Mediation und Zivilprozess
Die Trias der Primärverfahren der Konfliktlösung ist allerdings nicht ausschließlich Frucht der Bemühungen um eine dogmatische Systematisierung der ADR-Verfahren seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Sie findet sich bereits in ähnlicher Form in der Gemeinderegel Jesu, die im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums überliefert ist13 sowie bei den Naturrechtlern – etwa Pufendorf und Grotius –, die auf die Trias von Freundschaftsgespräch (colloquium), Vergleich (compromissum) und Los (fors) verweisen14: „Tres autem sunt modi quibus vitari potest, ne controversiae in bellum erumpant: Primum est colloquium … alterum est compromissum … tertia ratio est per fortem.“15 Im 20. Jahrhundert hat Lon L. Fuller als Vertreter der Legal Process School16 das Thema erneut aufgegriffen und wesentliche Vorarbeiten17 geleistet, an die sein Schüler, der Harvard Professor Frank E.A. Sander, in seinem folgenreichen
13 Mt. 18,15-17: „Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei Männer mit, denn jede Sache muss durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werden. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner.“ Das hier beschriebene dreistufige Verfahren der Gemeinderegel ist mit dem heutigen Verständnis der Trias von Verhandlung, Mediation und autoritativer Drittentscheidung allerdings nur in seiner Entscheidungsstruktur – bilaterale Einigung, drittunterstützte Einigung, verbindliche Entscheidung eines Dritten – vergleichbar. Denn in der Sache geht es nicht um den Ausgleich der jeweiligen Parteiinteressen zum größtmöglichen Nutzen beider Parteien, sondern vielmehr darum, einen sich gegen andere Gemeindemitglieder verfehlenden Bruder auf möglichst sensible und schonende Weise vom Unrecht seines eigenen Verhaltens zu überzeugen und eine Verhaltenskorrektur herbeizuführen. Vgl. hierzu auch Prause, 13 Harv. Negot. L. Rev. 131, 157 (2008). 14 Das heteronome Drittentscheidungsverfahren (judging) ist aufgrund des Fehlens einer Staatsgewalt im Urzustand durch das Los ersetzt, doch vereint die Losentscheidung gegenüber dem ihr Unterworfenen alle auch der hoheitlichen Gerichtsentscheidung eigenen Qualitäten in sich: es ist eine zwingende, bindende, in ihrem Kern der eigenen Selbstbestimmung entzogene Drittentscheidung. 15 Grotius, De jure belli ac pacis libri tres (1995), S. 395 (lib. 2, cap. 23, § 6-9). Siehe auch v. Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 563 (lib. 5, cap. 13, § 3), der – allerdings mit abweichenden Begriffen (tractatus, transactio) – auf die zitierte Stelle bei Grotius Bezug nimmt. Hervorhebungen durch den Verfasser. Übersetzt bei Grotius/Schätzel, De jure belli ac pacis libri tres (1950), S. 391 f.: „Es gibt nur drei Möglichkeiten, durch die man verhindern kann, daß Streitigkeiten in einen Krieg übergehen. Die erste ist die Besprechung … Die zweite Möglichkeit ist der Kompromiß (Schiedsvertrag) … Die dritte Möglichkeit ist die des Loses.“ Vgl. auch v. Pufendorf/Oldfather/Oldfather, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 826 f. Hervorhebungen durch den Verfasser. 16 Hierzu und zur Abgrenzung von der New Legal Process School Edward L. Rubins vgl. Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 5 f. (2000). 17 Vgl. hierzu die Anmerkungen oben S. 4, Fn. 8.
I. Typologie der alternativen Streitbeilegung
135
Vortrag auf der Pound Conference 1976 anknüpfen konnte.18 Die Trias der „primary processes“, des Verhandelns, Schlichtens und Richtens, hat damit Eingang in die moderne ADR-Forschung gefunden. Bei den drei Primärverfahren handelt es sich um Idealtypen, die in der Praxis unterschiedliche Ausprägungen annehmen können, jedoch in ihren Strukturmerkmalen immer auf ihren jeweiligen Primärprozess zurückzuführen sind. So kann Verhandlungen sowohl ein anspruchsorientiertes, kontradiktorisches Positionsdenken (positional bargaining)19 als auch ein kooperatives Bemühen um einen gegenseitigen Interessenausgleich zugrunde liegen.20 Mediationen können auf die Lösung eines konkreten Sachproblems (principled mediation) oder auf die Erneuerung der Beziehung zwischen den Parteien gerichtet sein (transformative mediation) und dem Mediator entweder eine aktive (evaluative mediation) oder eher passive Rolle (facilitative mediation) bei der Erarbeitung eines Lösungsvorschlags einräumen.21 Und auch die richterliche, autoritative Drittenscheidung findet mit dem Schiedsverfahren, dem private judging22 und dem Zivilprozess in unterschiedlichen Formen statt.
18
Sander, 70 F.R.D 111, 114 f. (1976). Zur Pound Conference vgl. eingehend oben S. 9 ff. 19 Vgl. zum sog. intuitiven Verhandeln und dem damit verbundenen dance of concessions eingehend Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. 20 Zum interessenorientierten Verhandeln nach dem Harvard-Modell vgl. nur Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 23 ff. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 77 ff., 167 ff. 21 Vgl. zu den unterschiedlichen Varianten des Mediationsverfahrens eingehend Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111 (1994); Stulberg, 24 Fla. St. U. L. Rev. 985 (1997); Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1, 33 (2003); Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 302 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 87 ff. Zur transformativen Mediation vgl. Bush/Folger, 13 M.Q. 263 (1996); Bush/Folger, The Promise of Mediation (2. Aufl. 2005), S. 52 f., 65 sowie unten S. 125, Fn. 114. 22 Beim private judging (rent a judge, trial by referee) entscheidet wie beim Schiedsverfahren ein mit besonderer Fachkompetenz für die jeweiligen Sachfragen ausgestatteter neutraler Dritter, jedoch wird das Verfahren in der Regel aus einem laufenden Zivilprozess heraus unter fortbestehender Aufsicht des Gerichts in Gang gesetzt und ist wie das Zivilurteil eines ordentlichen Gerichts mit Rechtsmitteln angreifbar. Einige Jurisdiktionen, etwa Kalifornien, haben entsprechende court rules erlassen, vgl. Cal. R. Ct. 638. Vgl. hierzu und zu den mit dem private judging verbundenen rechtsstaatlichen Problemen Haynes, 17 U.C. Davis L. Rev. 611 (1984); Shapiro, 23 Colum. J.L. & Soc. Probs. 275 (1990); Kramer, Alternative Dispute Resolution in the Work Place (1998); Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 546 ff.
136
§ 2 Mediation und Zivilprozess
Aus der Kombination dieser drei Verfahrenstypen oder ihrer wesentlichen Strukturprinzipen ist eine Vielzahl hybrider Verfahrensvarianten hervorgegangen, so aus der Kombination von Verhandlung und Mediation mit dem Schiedsverfahren die Med-Arb, Arb-Med, Neg-Arb-Verfahren23 oder aus der Mediation und dem Schiedsverfahren die Schlichtung, die mit der Mediation die Autonomie der Letztentscheidung durch die Parteien, mit dem Schiedsverfahren dagegen die Erarbeitung des – hier indes unverbindlichen – Lösungsvorschlags durch einen neutralen Dritten teilt.24 Jedes dieser Verfahren folgt eigenen Strukturprinzipien, mit denen sich insbesondere Fuller intensiv beschäftigt hat. Die drei Verfahrensarten haben, wie Fuller es ausdrückt, „distinct moralities“25. Die Trias der Primärverfahren der Konfliktbehandlung erstreckt sich von der streng privatautonomen, informalen Verhandlung über die Mediation und Schiedsgerichtsbarkeit hin zum spiegelbildlich entgegengesetzten Pol der heteronomen, formalen Gerichtsentscheidung. Das Maß der Selbstbestimmung nimmt dabei in gleichem Maße ab wie der Grad der Formalisierung wächst. In der Gesamtschau ergibt sich eine perfekte Symmetrie, wobei die Mediation gleichsam den Mittelpunkt bildet und von den beiden extremen Polen der Verhandlung bzw. des Pufendorf‘schen „freundschaftlichen Gesprächs“26 auf der einen und dem Zivilprozess bzw. dem „Los“ auf der anderen Seite begrenzt wird. Damit ergibt sich die schon von Grotius und Pufendorf erkannte Trias, die das System der Konfliktbeilegung als organisches und symmetrisch ausgestaltetes einheitliches Ganzes beschreibt.
23
Dazu näher Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 616; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 71, 270 ff. 24 Zur Abgrenzung von Schlichtung und Vermittlung vgl. Prütting (Hrsg.), Außergerichtliche Streitschlichtung (2003), S. 2; Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2739. 25 Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 f (1963). Der von Fuller verwendete Begriff der morality wird erst vor dem Hintergrund seiner Konzeption der morality of the law (Fuller, The Morality of Law (1964)) verständlich und beschreibt das Wesen eines Verfahrens im Sinne seiner dauerhaften Substanz, die bei jeglicher Veränderung gleich bleibt. Vgl. dazu eingehend unten S. 115 ff., 122 ff. 26 Vgl. v. Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 563 (lib. 5, cap. 13, § 3), auf Grotius, De jure belli ac pacis libri tres (1995), S. 395 (lib. 2, cap. 23, § 6-9) Bezug nehmend.
137
I. Typologie der alternativen Streitbeilegung
Verfahrenstyp
Konsensuale Verfahren
Kontradiktorische Verfahren „Judging“
Verhandlung
Mediation
Verfahrensziele
Konfliktbeilegung Interessenausgleich Versöhnung Parteipartizipation
Konfliktbeilegung Interessenausgleich Versöhnung Parteipartizipation
Beteiligtenstruktur
Dyade
Triade
Triade
Rolle des Dritten
–
Vermittlung
Entscheidung
Sachentscheidung
Parteien
Parteien
Schiedsrichter / Richter
Entscheidungsstruktur
konsensual privatautonom
konsensual privatautonom
Drittentscheidung heteronom
Entscheidungsgrundlage
Interessen
Interessen Rechte
Rechte
Sachebene
Struktur
Verfahren
Entscheidungsmodus
Bindungswirkung des Ergebnisses
Rechte
kooperative Problemlösung
kooperative Problemlösung
nicht bindend
nicht bindend
Ausnahme: vertragliche Fixierung
Ausnahme: vertragliche Fixierung
Schiedsverfahren
Zivilprozess
Konfliktbeilegung Durchsetzung subjektiver Rechte Bewährung der objektiven Rechtsordnung rechtliches Gehör
Subsumption des Sachverhalts unter eine Rechtsnorm Austausch juristisch rationaler Argumente bindend durch Rechtsmittel anfechtbar
Verfahrensebene
138
§ 2 Mediation und Zivilprozess Verfahrensleitung
Parteien
Mediator
Schiedsrichter / Richter
Flexibilität des Verfahrens
hoch
mittel
gering
freiwillig
Freiwilligkeit der Verfahrensbeteiligung
freiwillig
Ausnahme: verbindliche Mediation
handelnde Beteiligte
Primär: Parteien Sekundär: Anwälte
Primär: Parteien Sekundär: Anwälte
Vertraulichkeit
hoch
hoch
Kommunikationspartner
Parteien – Parteien
Kommunikationsinhalt
flexibel: Interessen, Rechte
Primär: Parteien – Parteien
freiwillig Ausnahme: bestehende Schiedsklausel
verbindlich für Beklagten
Primär: Anwälte Sekundär: Parteien hoch
gering
Primär: Parteien – Gericht
Sekundär: Parteien – Mediator
Sekundär: Parteien – Parteien
flexibel: Interessen, Rechte
beschränkt: Rechte
Tabelle 1: Vergleichende Systematik der Streitbeilegungsverfahren
II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse Im vorangegangen Abschnitt haben wir die Trias der Primärverfahren der Konfliktbeilegung kennengelernt. Von diesen Verfahrenstypen sollen nun Mediation und der Zivilprozess in ihren Strukturmerkmalen näher untersucht werden. Bei diesen beiden Verfahren handelt es sich nicht nur um die praktisch bedeutsamsten institutionalisierten Formen der Streitbeilegung, sondern sie repräsentieren jeweils auch den Idealtypus eines konsensualen bzw. kontradiktorischen Konfliktbeilegungsverfahrens. Während sich die Wahl des Zivilprozesses als
II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse
139
dem ordentlichen, von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten institutionalisierten Verfahren aus seiner praktischen Bedeutung und den normativen Vorgaben des Zivilverfahrensrechts ergibt, bedarf die Entscheidung für die Mediation aufgrund der derzeit noch vorherrschenden Fokussierung der Rechtspraxis auf den Zivilprozess als dem maßgeblichen Instrument der Konfliktbehandlung noch der näheren Begründung. Sie ergibt sich aus historischen, rechtspolitischen und dogmatischen Gründen. Aus rechtshistorischer Perspektive ist die moderne ADR-Bewegung im Wesentlichen eine Mediations-Bewegung. Die Mediation stand als zentrales Verfahren nicht nur am Beginn der Diskussion um Alternativen zur Ziviljustiz, sondern bildet auch gegenwärtig den Mittelpunkt des Interesses von Forschung und Praxis.1 So konzentrieren sich die in Deutschland in den vergangenen Jahren in nahezu allen Bundesländern eingerichteten gerichtsverbundenen ADRProgramme fast ausschließlich2 auf die Mediation.3 Hybridverfahren wie etwa der Summary Jury Trial oder die Early Neutral Evaluation (ENE) haben in
1
Die praktische Bedeutung der Mediation wird auch durch empirische Daten belegt. Vgl. für die USA nur den Mediation Receptivity Index (MRI): Prause, 13 Harv. Negot. L. Rev. 131 (2008). Hierzu auch Prause, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 610 (2007); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599 (2007). 2 Einige Programme, wie der bayrische Modellversuch Güterichter, verzichten auf die Festlegung eines bestimmten ADR-Verfahrens und überlassen die Verfahrenswahl dem einzelnen Güterichter, der auch zur rechtlichen Bewertung des Konflikts oder zu den Prozessaussichten Stellung nehmen und darüber hinaus schlichtungsähnliche Techniken einsetzen kann. Ganz überwiegend werden jedoch auch hier die Grundsätze der Mediation angewendet. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 3, 37 f., 111, 142 f. 3 Zum aktuellen Forschungstand vgl. Greger, ZKM 2017, 4; Schlehe, ZKM 2017, 61; Bamberger, in: Haft/v. Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (3. Aufl. 2016), S. 225 ff.; Greger/Gottwald, ZKM 2016, 84., S. 6 ff. und v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 70 ff. Zu den einzelnen gerichtsverbundenen Mediationsprojekten in Deutschland vgl. darüber hinaus eingehend Gottwald, AnwBl 2000, 265; Greger, ZKM 2003, 240; v. Olenhusen, ZKM 2004, 104; Ortloff, NVwZ 2004, 385; Niedersächsisches Justizministerium und Konsens e.V., Projektabschlussbericht Gerichtsnahe Mediation (2005); Greger, NJW 2007, 3258; Spindler, ZKM 2007, 79; Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 5, 7 ff.; Gottwald, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963. Grundsätzlich zur gerichtsverbundenen Mediation Bergman/Bickerman, Court-Annexed Mediation (1998); Breidenbach, in: Gottwald/Rechberger (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen des europäischen und internationalen Zivilverfahrensrechts (2002), S. 117; Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003); Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005); Mürner, Gerichtsnahe Zivilmediation (2005); Volkmann, Mediation im Zivilprozess (2006); v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008) sowie Feix, Einvernehmliche Streitbeilegung (2004) und Ferz (Hrsg.), Zivilgerichte und Mediation (2004).
140
§ 2 Mediation und Zivilprozess
Deutschland keine, in den USA nur eine geringe praktische Bedeutung.4 In rechtspolitischer Hinsicht ist die Mediation Ausgangspunkt staatlicher Initiativen zur Förderung der alternativen Streitbeilegung5 und – wie nicht zuletzt die europäische Mediationsrichtlinie6 und das deutsche Mediationsgesetz (MedG)7 zeigen – auf nationaler und europäischer Ebene Anknüpfungspunkt rechtlicher Rahmenregelungen.8 Schließlich ist die Mediation auch aus dogmatischen Gründen nicht nur im Vergleich zu anderen ADR-Verfahren, sondern auch zum Zivilprozess „primus inter pares“.9 Mit dem Übergang von der Verhandlung zur Mediation wandelt sich die dyadische Beziehung zwischen den Parteien in eine Triade, wobei die Entscheidungsgewalt – anders als beim Zivilprozess – bei den Parteien verbleibt. Diese Veränderung der Beteiligtenstruktur ist für das weitere Konfliktverhalten der Parteien und die Implementierung von Konfliktlösungsmechanismen von entscheidender Bedeutung. Fuller hat im Anschluss an Georg Simmel10 zutreffend darauf hingewiesen, dass dyadische Beziehungen nur eingeschränkt 4 So auch Brazil, 14 No. 1 Disp. Resol. Mag. 10, 10 (2007): „Among ADR processes, mediation is sweeping the field. Even when other forms of ADR are available, mediation is the process of choice in the vast majority of circumstances.“ und Engro/Lenihan, 10 No. 3 Lawyers J. 3, 3 (2008) (berichtend, dass ENE deutlich seltener als Mediation und nur in weniger als 25 % aller Fälle alternativer Streitbeilegung genutzt wird). Das Gleiche gilt für den Summary Jury Trial, McAdoo, 25 Hamline L. Rev 401, 447 (2002): „The survey data reveals that there is little use of other ADR processes than mediation and arbitration.“ Die Ursachen werden u.a. in mangelnder Information der Anwälte über die Vorteile der jeweiligen Verfahren gesehen. Ebenda. 5 Vgl. hierzu nur das Mediations-Gutachten zum 67. Deutschen Juristentag: Hess, DJTGutachten (2008). Vgl. auch Hess, NJW 2008, Beilage zu Heft 21/2008, 26. 6 Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivilund Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3. Vgl. hierzu auch die Nachweise oben S. 61, Fn. 340. 7 Eingeführt durch Art. 1 des MedFördG (Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung) v. 12.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 8 Zur europäischen Mediationsrichtlinie (Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3.) vgl. Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737. Zum deutschen Rahmenrecht vgl. nur § 5a Abs. 3 S. 1 DRiG, § 2 RDG Abs. 3 Nr. 4, § 124 TKG und die juristischen Ausbildungsvorschriften, etwa § 5a Abs. 3 S. 1 DRiG und § 2 der bayrischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) vom 13. Oktober 2003 (GVBl. Bayern 2003, S. 758, zuletzt geändert am 28. Januar 2011, GVBl. Bayern 2011, S. 65); § 7 Abs. 2 Juristenausbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen (JAG NRW) vom 11. März 2003 (GVBl. Nordrhein-Westfalen 2003, S. 135, zuletzt geändert am 21. April 2009, GVBl. Nordrhein-Westfalen 2009, S. 224); § 2 Abs. 2 des Landesgesetzes über die juristische Ausbildung (JAG Rheinland-Pfalz) vom 23. Juni 2003 (GVBl. Rheinland-Pfalz 2003, S. 116 ff.). 9 So Kirchhoff, ZKM 2007, 108, 111. 10 Simmel, Soziologie (1908), S. 32 ff., 76 ff.
II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse
141
in der Lage sind, interne Konflikte beizulegen.11 Anders als in Triaden ist den Parteien in einer dyadischen Beziehung die Möglichkeit der Beilegung ihres Konfliktes durch Mehrheitsbeschluss oder durch Vermittlung einer der beteiligten Parteien versperrt. Es bedarf der Erweiterung der Dyade um eine außenstehende dritte Person, die entweder anstelle der Parteien richtend eine heteronome Entscheidung trifft oder die Parteien vermittelnd zur privatautonomen Einigung befähigt. Der Vermittlung durch einen neutralen Dritten kommt dabei häufig nicht nur lediglich unterstützende, sondern regelmäßig auch ermöglichende Funktion zu. Der Mediator erfüllt mit seiner Vermittlungstätigkeit in der Regel nicht etwa substituierend eine Funktion, welche die Parteien auch ohne seine Hilfe ohne weiteres ausüben könnten, sondern er eröffnet ihnen durch seine Tätigkeit konstitutiv erst Einigungsmöglichkeiten, die ihnen ohne fremde Hilfe nicht zur Verfügung stehen würden.12 Dieser Gesichtspunkt bedarf der näheren Erläuterung. Zwar ist die Mediation per definitionem nichts anderes als eine drittunterstützte Verhandlung, bei der der Mediator die Parteien darin „unterstützt“, privatautonom eine Einigung auf dem Verhandlungsweg herbeizuführen.13 Der entscheidende Punkt liegt hier jedoch darin, dass die Parteien dazu in der Praxis, bedingt durch die Auswirkungen intuitiven Verhandlungsverhaltens,14 häufig gerade nicht in der Lage sind und der Mediator seine Existenzberechtigung und seine Autorität gerade aus dem Unvermögen der Parteien bezieht, Einigungsbarrieren privatautonom zu überwinden.15 Seine Tätigkeit ist dann keine lediglich unterstützende, sondern eine konstitutiv ermöglichende, die die Parteien erst in die Lage
11
Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 312 f. (1971). Auf die zentrale, die Privatautonomie der Parteien oft erst ermöglichende Funktion des Mediators haben aus der Perspektive der Praxis bereits Mähler/Mähler, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 9, 17 anschaulich hingewiesen: „Die Konfliktpartner stecken jedoch häufig in einem Dilemma: Sie wollen, können aber nicht. Deshalb die Einschaltung des Dritten, also des Mediators, der Mediatorin: Weil der Mediator keine eigene inhaltliche Entscheidungsbefugnis hat und außerhalb des Konfliktsystems steht, ist es ihm möglich, eine Struktur zu verkörpern, die die Konfliktpartner darin unterstützt, ihre Selbstverantwortung in ihrer Dialog-, Verhandlungs- und Gestaltungsfähigkeit so zu stärken, daß sie fähig werden, ihre Entscheidungen inhaltlich selbstverantwortet zu treffen.“ 13 Vgl. hierzu eingehend oben S. 3 Fn. 8. 14 Hierzu eingehend Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. 15 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 315 (1971) weist im Anschluss an Schelling, The Strategy of Conflict (1980), S. 144 anschaulich auf die Unersetzlichkeit des Mediators als seiner primären Legitimations- und Autoritätsquelle hin: „ … the mediator's ‘power’ may largely derive from the simple fact that he is there and that his help is badly needed.” 12
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versetzt, von ihrer Privatautonomie Gebrauch zu machen und ihren Konflikt eigenverantwortlich beizulegen.16 Die Ursachen hierfür sind intrinsisch durch die dyadische Struktur der Parteibeziehung bedingt und durch die umfangreiche interdisziplinäre Forschung auf dem Gebiet der Verhandlungstheorie belegt.17 So führt etwa das Phänomen der reaktiven Abwertung (reactive devaluation) zu einer reflexartigen Skepsis auch gegenüber für die betreffende Partei objektiv günstigen Angeboten, die allein darin begründet ist, dass ein bestimmtes Angebot von der „gegnerischen“ Partei stammt.18 Ein weiteres häufig auftretendes Einigungshindernis liegt in der Vermischung von Beziehungs- und Sachebene, die oft nur noch durch die vermittelnde Mitwirkung eines neutralen Dritten aufgelöst werden kann.19 Die häufigste Ursache für das Scheitern von Verhandlungen besteht allerdings in der Verstrickung der Parteien in einem Positionsdenken,20 das noch nicht zu einem Ausgleich der dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen vorgedrungen ist.21 In allen genannten Fällen bedarf es in der Regel eines neutralen Dritten, um die Einigungsbarrieren zu überwinden. Das Mediationsverfahren ist hierfür besonders geeignet, da es von seiner Struktur gerade auf den Ausgleich der mit intuitivem Verhandlungsverhalten verbundenen Einigungsblockaden ausgerichtet ist. Daher kommt ihm gegenüber der Verhandlung nicht nur in praktischer, sondern auch in dogmatischer Hinsicht eine besondere Bedeutung zu.22 Sander
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Hierzu und zu dem von der Mediation in Gang gesetzten Lern- und Transformationsprozess eingehend unten S. 567 f., 664 f. und 782 f. 17 Susskind/Cruikshank, Breaking the Impasse: Consensual Approaches to Resolving Public Disputes (1987); Arrow/Mnookin/Ross/Tversky/Wilson, Barriers to Conflict Resolution (1995); Breidenbach, Mediation (1995), S. 84 ff.; Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 5 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 38 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff., 239 f. 18 Ross, 7 Neg. J. 389 (1991); Ross, in: Arrow/Mnookin/Ross u.a. (Hrsg.), Barriers to Conflict Resolution (1995), S. 26, 26 ff. 19 Fisher/Brown, Getting Together (1989); Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 17 ff. („Separate persons from the problem.“). 20 Ein anschauliches Beispiel für den dance of concessions bietet Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279: „’Your lawsuit has no basis in law, but to avoid the costs of litigation we're prepared to offer $50,000.’ ‘We‘d consider $500,000. Have you seen these pictures of my maimed client?’ ‘Perhaps $100,000.’ ‘$300,000.’ ‘$200,000 is the most I can offer.’ ‘Done.’” 21 Grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 40 ff. Vgl. hierzu auch oben S. 15, Fn. 46. 22 Vgl. zur dogmatischen und interdisziplinären Begründung des Mediationsprimats eingehend unten S. 729 ff., 735 ff. und 740 ff.
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geht über die aus den vorangegangenen Überlegungen hergeleitete methodische Vorrangstellung der Mediation gegenüber der Verhandlung noch hinaus und erkennt daneben ein grundsätzliches Primat der Mediation gegenüber sämtlichen Verfahren im Kontinuum der Konfliktbeilegung und damit auch gegenüber dem Zivilprozess an („superior starting process“).23 Mit dem damit angedeuteten Problem der Verfahrenshierarchie werden wir uns in einem späteren Abschnitt eingehend befassen.24 Zunächst wollen wir die hierfür notwendigen Grundlagen durch eine Analyse der Strukturmerkmale von Mediation und Zivilprozess und ihrer gegenseitigen Wechselwirkungen schaffen. Festzuhalten ist als Ergebnis unserer Überlegungen zunächst die methodische Vorrangstellung der Mediation gegenüber der Verhandlung im Spektrum der konsensualen Streitbeilegungsverfahren. Hybridprozessen kommt im Verhältnis zur Mediation eine dienende Funktion zu, da sie in der Regel, wie etwa der Summary Jury Trial oder Early Neutral Evaluation (ENE) als besondere Instrumente der Prozessrisikoanalyse25 die Nichteinigungsoptionen (BATNA)26 der Parteien als wesentlichen Eckpunkt der Mediationsverhandlung präzise bestimmen und damit die informierte Einigungsentscheidung der Parteien in der Mediation vorbereiten. Folgen sie der Mediation zeitlich nach, wie dies etwa in Med-Arb-Verfahren27 der Fall ist, so vollzieht sich die Mediation im Schatten eines sich bei scheiternder Einigung anschließenden Schiedsverfahrens, das als Nichteinigungsoption wiederum auf die Verhandlungsdynamik innerhalb des Mediationsverfahrens zurückwirkt. Die besonderen vergleichsfördernden Qualitäten der Mediation als strukturiertes, auf den Ausgleich gegenseitiger Interessen ausgerichtetes Konfliktbeilegungsverfahren und der sich daraus ergebende Vorrang auch gegenüber anderen alternativen Streitbeilegungsformen sind der Grund, weshalb die klassische Mediation auch tendenziell schlichtenden Vergleichsbemühungen des
23 Vgl. Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32, 41 (2006), die auch darauf hinweisen, dass die Mediation einen Ausgangspunkt für die Einschaltung ggf. weiterer Verfahren bietet: „ … our suggested approach of normally beginning with mediation (a revealing and flexible process that readily opens the way to other processes as needed).“ So auch Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 600 (2007), der von einer grundsätzlichen Vermutung zur Eignung der Mediation ausgeht, solange diese Annahme nicht durch die Besonderheiten des Einzelfalls widerlegt werden: „ … a presumption for exploring the use of mediation unless it is shown to be counterindicated in the particular setting.” Zum Primat des Mediationsverfahrens vgl. auch unten S. 135 ff., 729 ff., 735 ff., 740 ff. 24 Vgl. unten S. 549 ff. und 729 ff. 25 Vgl. hierzu Eidenmüller, ZZP 113 (2000), 5; Aaron, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 202. 26 Best Alternative to a Negotiated Agreement. Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 97 ff. 27 Vgl. hierzu Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 270 f.
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Richters im Rahmen der Güteverhandlung nach § 278 Abs. 2 ZPO vorzuziehen ist. Insbesondere kann auf dieser Grundlage der in der Praxis verbreiteten Behauptung entgegengetreten werden, die Mediation sei kein wesentlich neues Verfahren, sondern werde von den Gerichten im Rahmen ihrer Bemühungen um einen gütlichen Ausgleich der Parteien seit jeher erfolgreich eingesetzt.28 Auf die in diesem Zusammenhang praktisch relevante Frage des unzulässigen Einigungsdrucks werden wir später noch umfassend eingehen.29 Das Mediationsverfahren stellt sich damit als ein strukturiertes Verfahren dar, das in seinen Strukturmerkmalen und seinen Verfahrenswirkungen gerade darauf ausgerichtet ist, typische Einigungshindernisse zu überwinden und die Parteien zu einer eigenverantwortlichen Lösung ihres Konfliktes zu befähigen. In dieser die Parteien im Rahmen eines Lern- und Transformationsprozesses30 zur tatsächlichen Ausübung der ihnen formal zukommenden Privatautonomie befähigenden Funktion unterscheidet sich die Mediation in besonderer Weise von anderen Verfahren der Streitbeilegung, insbesondere der Schlichtung. Ihr kommt daher Vorrang gegenüber den übrigen Konfliktbeilegungsverfahren zu.31 Festzuhalten ist als Ergebnis unserer Überlegungen an dieser Stelle zunächst die dogmatische Vorrangstellung der Mediation gegenüber der Verhandlung im Spektrum der konsensualen Primärverfahren der Streitbeilegung und gegenüber den Hybridverfahren. In gleicher Weise, in der die Mediation in der rechtspolitischen Diskussion zum Synonym für ADR schlechthin geworden ist, soll sie im Folgenden als der Archetyp der konsensualen Konfliktbeilegung im Zivilprozess näher untersucht werden.32
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So auch eindrücklich zur Haltung der Anwälte Trossen, ZKM 2002, 42, 43. Das Gleiche gilt für das obligatorische Schlichtungsverfahren nach § 15a EGZPO iVm. den landesrechtlichen Schlichtungsgesetzen, das Elemente der Mediation, wie etwa die Fokussierung auf Parteiinteressen, in einem rechtsförmig ausgestalteten Verfahren mit zivilprozessualen Elementen, wie etwa dem vom Schlichter erarbeiteten Schlichtungsspruch, allerdings unter Missachtung des den Verfahren jeweils eigenen Wesens, verbindet. Vgl. nur Lauer, NJW 2004, 1280, 1282: „Die obligatorische Streitschlichtung ist kein legitimes Kind des modernen Mediationsgedankens, sondern ein verstorbener Vorfahr.“ 29 Das Problem des unzulässigen Einigungsdrucks bei Vergleichsverhandlungen hat bereits die Rechtsprechung beschäftigt, vgl. nur BGH NJW 1966, 2399 (Anfechtbarkeit eines gerichtlichen Vergleiches wegen Drohung seitens eines Mitgliedes des Gerichtes). Vgl. zur Diskussion die Anmerkungen von Arndt, NJW 1967, 1585; Ostler, NJW 1966, 2400; Schneider, NJW 1966, 2399; Kubisch, NJW 1967, 1605; Wenzel, NJW 1967, 1587. Zur Problematik ausführlich unten S. 417 ff., 576 ff., 605 ff. 30 Hierzu eingehend unten S. 567 f., 664 f., 782 f. 31 Vgl. zum Mediationsprimat eingehend oben S. 110 ff. sowie unten S. 729 ff., 735 ff., 740 ff. 32 Vgl. zur Mediation als Ideal- oder Archetyp der alternativen Streitbeilegung bereits oben S. 92, 103.
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1. Fullers Verfahrenslehre als dogmatischer Ausgangspunkt Als Ausgangspunkt unserer Strukturanalyse von Mediation und Zivilprozess soll zunächst ihr Wesen näher untersucht werden. Die hier gewählte Methode, sich der Struktur der beiden idealtypischen Verfahrensarten von ihrem Wesen her zu nähern, bedarf der näheren Erläuterung, denn sie erfüllt eine für den weiteren Fortgang der Untersuchung bedeutsame Funktion. Die Dogmatik der alternativen Streitbeilegung bzw. der Konfliktbehandlung als einer allgemeinen Verfahrenslehre, zu der diese Arbeit einen Beitrag leisten möchte, steckt noch in den Kinderschuhen. Insbesondere die Mediation ist bislang, der eher pragmatischen, anwendungsorientierten Tradition im anglo-amerikanischen Rechtskreis entsprechend, vorwiegend aus rechtspraktischer Perspektive behandelt worden. Allerdings liegen mit den Werken Henry M. Harts33, Albert M. Sacks‘34 und vor allem Lon L. Fullers35 als Vertreter der Legal Process School sowie des britischen Rechtsphilosophen Herbert L. A. Hart36 wichtige theoretische Vorarbeiten vor, die auf die weitere Entwicklung der Mediation von entscheidendem Einfluss gewesen sind. Durch Frank E.A. Sander, Fullers Schüler an der Harvard Law School, haben die Grundgedanken der Legal Process School und insbesondere Fullers Prozesslehre Eingang in die ADR-Forschung gefunden.37 Sanders Konzept des Multi-Door Courthouse38, das letztlich auch den gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen in Deutschland implizit zugrunde liegt, kann daher als Implementierung und Weiterentwicklung von Fullers Lehre der „Principles of Social Order“39 verstanden werden. Sie bildet auch den Ausgangspunkt unserer Untersuchung und soll, soweit sie das Wesen der einzelnen Verfahrensarten betrifft, im Folgenden kurz skizziert werden.
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Hart/Sacks, Legal Process (1994). Hart/Sacks, Legal Process (1994). 35 Vgl. nur Fuller, The Morality of Law (1964) und Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981) sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3 (1963); Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305 (1971) und Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353 (1978). 36 Hart, The Concept of Law (1960), S. 189 ff. 37 Vgl. hierzu Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 3, 13 ff. (2000). 38 Grundlegend Sander, 70 F.R.D 111, 131 (1976). Zur Rezeption vgl. die Nachweise oben S. 10, Fn. 14. 39 Vgl. hierzu vor allem Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981) sowie Fuller, The Morality of Law (1964). 34
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a) Prozedurales Naturrecht Anknüpfungspunkt für Fullers Lehre der Ordnungsmechanismen40 innerhalb einer Gesellschaft ist Herbert L.A. Harts naturrechtliche Konzeption des Rechts, die er um einen prozeduralen Aspekt erweitert und darauf aufbauend sein System primärer gesellschaftlicher Ordnungsprozesse mit ihren jeweils eigenen internen Verfahrensqualitäten entwickelt.41 Hart geht in seinem Concept of Law von der Grundannahme aus, dass jede menschliche Gesellschaft aufgrund ihrer natürlich gegebenen, intrinsischen Bedingungen über einen Satz an bestimmten rechtlichen Mindestregelungen verfügen muss.42 Dieser Regelungskanon ist für das Bestehen jeder Gesellschaft unabdingbar erforderlich. Dieses Argument entwickelt er in drei Schritten: 1) vorausgesetzt, dass es bestimmte Ziele und bewusste Zwecke menschlichen Lebens gibt, wie etwa das Überleben und 2) vorausgesetzt, dass das menschliche Leben aufgrund seiner natürlichen Eigenschaften in ganz bestimmter Weise determiniert ist, etwa durch seine Verletzlichkeit, dann bestehen 3) zwingende Gründe, dass das Rechtssystem jeder menschlichen Gesellschaft ganz bestimmte rechtliche Regelungen, etwa zur Begrenzung von Gewalt, enthält.43 Die Verknüpfung zwischen dem zweiten und dem dritten Schritt wird durch die Vernunft vermittelt.44 Es ist dieser Endpunkt in Harts Argumentation, den Fuller weiterentwickelt und zum Ausgangspunkt seiner Institutionen- und Verfahrenslehre macht.45 Wenn der Mensch aufgrund seiner Vernunft beginnt, über die durch die Zwecke und natürlichen Bedingungen menschlichen Lebens bestimmten unabdingbaren Regeln einer Gesellschaft nachzudenken, dann wird er auch Überlegungen über Verfahren und ihre Einbettung in gesellschaftliche Institutionen anstellen, mit deren Hilfe ebenjene Regeln zur Entstehung gebracht und die Gesellschaft im Übrigen geordnet werden soll.46 Ebenso wie der materielle Inhalt der Regeln zur Ordnung einer Gesellschaft in seinem Mindestgehalt von den Zwecken und Bedingungen menschlichen Lebens bestimmt wird, so werden auch das Wesen und die Form der prozeduralen Ordnungsmechanismen von den natürlichen Bedingtheiten menschlichen Zusammenlebens determiniert.47
40 Fuller zog in den meisten Fällen den weiteren Begriff der „social processes of ordering“ dem der „legal processes“ vor, da er mit ihnen auch den außerrechtlichen Kontext miterfasst wissen wollte. 41 Vgl. hierzu und zum Folgenden eingehend Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 24 ff. 42 Hart, The Concept of Law (1960), S. 189 ff. („The minimum content of natural law”). 43 Hart, The Concept of Law (1960), S. 189 ff. und Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 24. 44 Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 26. 45 Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 26. 46 Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 26 f. 47 Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 26 f.
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Aus ihnen ergibt sich ein Satz idealtypischer, in jeder entwickelten menschlichen Gesellschaft verfügbarer Verfahren. Indem er der prozeduralen Dimension gesellschaftlicher Ordnung besondere Aufmerksamkeit widmet und, um in seiner Terminologie zu bleiben, Struktur und Verfahren („structure and process“)48 in einer Synthese miteinander verbindet, überwindet Fuller die rein positivistische Analyse des Rechts.49 Statt sich ausschließlich mit dem materiellen Gehalt der Regeln einer Gesellschaft zu beschäftigen, interessierte er sich vor allem für die Verfahren, aus denen diese Regeln überhaupt erst hervorgegangen sind.50 Für Fuller stehen Regel und Verfahren, structure und process, in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung: Die Regeln sind das Produkt der jeweiligen Verfahren und die Verfahren selbst werden durch die existierende Struktur der Regeln geformt.51 So ist etwa das Vertragsrecht des common law als Fallrecht in weitem Umfang das Ergebnis des gerichtlichen Verfahrens, das jedoch wiederum durch die bestehende Struktur des Fallrechts und durch die Spannungen bestimmt wird, die zwischen dem Fallrecht und der Auffassung des Gerichts im Hinblick auf die richtige Entscheidung des konkreten, zur Entscheidung stehenden Einzelfalls bestehen.52 Das tiefere Verständnis der Verfahren ist für Fuller von zentraler Bedeutung, denn dadurch wird es erst möglich, aus der Vielzahl miteinander konkurrierender Formen sozialer Ordnung dasjenige Verfahren auszuwählen, das für die Lösung eines bestimmten Problems besonders geeignet ist.53 Statt danach zu fragen, welche Regeln existieren und welche von ihnen die beste ist, wird die Perspektive gleichsam umgekehrt und mündet in die Frage: „Wie ist das Wesen des Problems beschaffen und nach welchen Kriterien ist zwischen den verschiedenen zur Verfügung stehenden Verfahren gesellschaftlicher Ordnung, die auf dieses Problem angewendet werden, auszuwählen?“54 Die Erforschung von Regel und Verfahren, wie sie in der anglo-amerikanischen case
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Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 305 ff. (1971). Hierzu Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 26 ff. 50 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 306 f. (1971). 51 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 306 (1971). 52 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 307 (1971): „The structure of the law of contracts … is viewed as being in large measure a product of the judicial process. That process is in turn viewed as being shaped by the existing structure of rules …. Thus, structure and process are viewed as interacting, each serving to shape the other.” 53 So Fuller eindringlich Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 307 (1971): „We do not, however, spend much time exploring the social processes by which these various forms of ‘law’ come into being. Because these processes are neglected we inevitably lack a perspective from which to appraise the relative aptness, for solving a given problem, of the various competing forms of social ordering.” 54 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 307 (1971). 49
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method praktiziert wird, war für Fuller der Schlüssel für eine sinnvolle Bestimmung der Prinzipien gesellschaftlicher Ordnung.55 b) Verfahrenspluralismus Mit diesen Überlegungen ist der Boden bereitetet, um uns dem wesentlichen Grundgedanken der Verfahrens- und Institutionenlehre Fullers zu nähern, dem Konzept des Verfahrenspluralismus.56 Fuller unterscheidet fünf primäre Verfahren gesellschaftlicher Ordnung: Gesetzgebung (legislation), Gerichtsverfahren (adjudication), exekutives Verwaltungshandeln (administrative direction), Mediation (mediation) und Vertrag (contractual agreement).57 Bei diesen Verfahren handelt es sich um prozedurale Mechanismen sozialer Ordnung mit unterschiedlicher Funktion, die nicht auf den Zweck unmittelbarer Konfliktlösung beschränkt sind, sondern mit der Gesetzgebung auch ein Verfahren umfassen, das nur mittelbar zur Beilegung von Konflikten in einer Gesellschaft beiträgt, indem es die zur Entscheidung relevanten Kriterien bereitstellt. Wenden wir die im vergangenen Abschnitt entwickelte Trias der Primärverfahren
55 Die anglo-amerikanische case method war für Fuller ein Beispiel einer gelungenen Analyse von structure und process, die indes auch auf andere Gebiete wissenschaftlicher Analyse auszudehnen ist: „The trouble with the case method, for all its explicit and perceptive orientation toward process, is that there is not enough of it.” Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 306 (1971). 56 Dieser Begriff wird von Fuller selbst so nicht verwendet, leistet aber eine präzise Beschreibung seiner Konzeption. Er taucht vor allem im neuerem Schrifttum auf, vgl. nur Bush, 1984 Wis. L. Rev 893, 925 ff. (1984); Galanter/Lande, 12 Stud. in L., Pol., & Soc'y 393, 413 (1992); Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 30 (2000); Kovach, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 27, 72 (2005) und Galanter, 2006 J. Disp. Resol. 7, 21 (2006). 57 Im Verlauf seiner drei Jahrzehnte umfassenden Forschungen hat Fuller eine Vielzahl unterschiedlich langer Listen sozialer Ordnungsprinzipien erstellt, deren kürzeste zwei (reciprocity und organization by common aims, es handelt sich um abstrahierende Grundprinzipien) und deren längste neun Elemente (customary law, contract, property, officially declared law, adjudication, managerial direction, voting, mediation, deliberate resort to chance) umfasst. Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 27 weist zutreffend darauf hin, dass das Gewohnheitsrecht (customary law) keine Strukturmerkmale besitzt, die es von den übrigen von Fuller genannten Ordnungsprinzipien wesentlich unterscheidet und im Gegenteil gerade durch das Fehlen jeglicher Institutionalisierung gekennzeichnet ist. Das Eigentum (property) wurde von Fuller selbst als Annex zum Vertrag angesehen („The institution of property is, in fact, only the static and relatively less important side of the institution of private contract”, zitiert nach Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 27). Die Verfahren der Wahl (voting) und der Losentscheidung (resort to chance) kommen nur bei Fehlen sonstiger Entscheidungskriterien in Betracht und sind im System der Ordnungsprinzipien von sekundärer Bedeutung, da insbesondere die Wahl zusammen mit dem Element des officially declared law im Ordnungsprinzip der Gesetzgebung (legislation) aufgeht. Vgl. hierzu auch Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 27.
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der Konfliktlösung auf Fullers System der Principles of Social Order an, so scheidet dementsprechend das Verfahren der Gesetzgebung (legislation) aus dem Verfahrenskanon aus. In allen übrigen vier Fällen ergibt sich eine Überlappung: Vertrag (contract) und Mediation (mediation) – in der herkömmlichen ADR-Terminologie Verhandlung und Mediation – bilden das Paar konsensualer Primärverfahren, während sich das Gerichtsverfahren (adjudication) und exekutives Verwaltungshandeln (administrative direction) zum Verfahrenstyp des judging zusammenfassen lassen, womit sich wieder die bekannte Trias der Primärverfahren der Konfliktbehandlung ergibt.58 c) Struktur und Wesen Für Fuller hat jedes dieser Verfahren gesellschaftlicher Ordnung seine eigene innere Struktur (design) und sein eigenes Wesen (morality). Diese beiden Elemente sind für jedes Verfahren jeweils einzigartig. Die Struktur eines Verfahrens ist der dem Verfahren jeweils eigene Mechanismus der Entscheidungsfindung im Sinn bestimmter Verfahrensschritte. Das Wesen oder die Moral (morality) eines Verfahrens beschreibt die das Verfahren bestimmenden Grundprinzipien, seinen Zweck, seine Natur. Die volle Bedeutung des Begriffs der morality der einzelnen Verfahren, wie Fuller sie versteht, wird verständlich, wenn wir ihn im Zusammenhang mit dem Begriff der inneren Moral des Rechts (inner morality of law) betrachten. Unter der inneren Moral des Rechts versteht Fuller grundlegende, dem Rechtssystem innewohnende und dieses letztlich konstituierende Prinzipien, deren Einhaltung die Voraussetzung für seine Existenz ist.59 Diese Prinzipien sind prozeduraler Art und materiell neutral. Hierzu zählt Fuller in einem acht Elemente umfassenden Kanon die Abstraktheit der 58 Adjudication (die sowohl Verfahren vor den ordentlichen Gerichten als auch vor den Schiedsgerichten umfasst) und fan ecämanagerial direction unterscheiden sich nicht so sehr in der Entscheidungsstruktur – in beiden Fällen erfolgt eine heteronome Drittentscheidung –, sondern vielmehr in der Art der Entscheidungsfindung, der Beteiligung der Parteien und damit auch der Legitimation ihrer Entscheidungen (zur Legitimationsproblematik grundlegend Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 85 ff., vgl. auch oben, S. 24 ff.). Aus diesem Grund kommt der „echten“ managerial direction nur geringe praktische Bedeutung zu und sie ist letztlich als eine Variante des Kadigerichts anzusehen (zum Begriff der Kadi-Justiz als einer echter Legitimation mangelnden materialen „Justiz“ eingehend Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 1 (5. Aufl. 1976), S. 157 f.; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 407 f., 507 f. Die mit nicht zwangsläufig rechtskundigen magistrates besetzten und für Bagatellsachen zuständigen Small Claims Courts in den USA weisen damit erhebliche Ähnlichkeiten mit dem Verfahren der managerial direction und damit zur Kadi-Justiz auf. Vgl. für die englischen Friedensrichter Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 510: „Dazu tritt die recht summarische, noch heute stark patriarchale und höchst irrationale Art der Behandlung aller alltäglichen Bagatellsachen in der friedensrichterlichen Einzeljurisdiktion in England … .“ 59 Doerfer, Die Moral des Rechts (2006), S. 60, 85.
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Regeln, ihre Bekanntgabe, das Rückwirkungsverbot, Klarheit, Widerspruchsfreiheit, das Verbot der Forderung unmöglichen Handelns, Beständigkeit und die Kohärenz staatlichen Handelns.60 Es handelt sich um Prinzipien prozeduraler Legalität, die für das Zustandekommen rechtlich legitimierter Entscheidungen, seien sie legislativer oder judikativer Art, zwingend erforderlich sind. Übertragen wir unsere Überlegungen auf die innere Moral des Kanons der Verfahren gesellschaftlicher Ordnung, so wird deutlich, dass mit dem Begriff der internal morality der zentrale Wesenskern des Verfahrens selbst angesprochen ist.61 Das Wesen der Verfahren bestimmt ihre Struktur: So sind für die Mediation jene Verfahrensprinzipien angemessen, die geeignet sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis herbeizuführen, das den Interessen beider Parteien gleichermaßen entspricht und sie aufeinander hin ausrichtet.62 Für das Schiedsverfahren sind jene Verfahrensprinzipien geeignet, welche den Parteien die Möglichkeit des Vorbringens von rationalen Argumenten und Beweisen garantieren.63 Da die Strukturprinzipien für die jeweiligen Verfahrensarten wesentlich sind und eine tragende Funktion für die Verwirklichung des jeweiligen Verfahrenszwecks erfüllen, sind sie unverfügbar und unverzichtbar. d) Das Prinzip der strukturellen Integrität Die den unterschiedlichen Verfahren jeweils eigenen Strukturprinzipien schließen sich darüber hinaus oft gegenseitig aus und stehen – wie etwa das Vertraulichkeitsprinzip der Mediation und das Öffentlichkeitsgebot des Zivilprozesses – in einem Spannungsverhältnis zueinander. Fuller hat der Integrität der einzelnen Verfahren stets besondere Aufmerksamkeit gewidmet und ihr Wesen (inner morality) mit, wie Carrie Menkel-Meadow treffend auf den Punkt
60 Fuller, The Morality of Law (1964), S. 47 ff. Dazu auch Doerfer, Die Moral des Rechts (2006), S. 85 ff. 61 Offensichtlich wird die Bedeutung des Begriffs der morality etwa im Zusammenhang mit Fullers Analyse des Wesens der Verfahren der Mediation und des Zivilprozesses. Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 f. (1963): „Mediation and arbitration have distinct purposes and hence distinct moralities. The morality of mediation lies in optimum settlement, a settlement in which each party gives up what he values less, in return for what he values more. The morality of arbitration lies in a decision according to the law of the contract.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. Vgl. hierzu eingehend unten S. 124 ff. 62 Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963): „The procedures appropriate for mediation are those most likely to uncover that pattern of adjustment which will most nearly meet the interests of both parties.” 63 Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963): „The procedures appropriate for arbitration are those which most securely guarantee each of the parties a meaningful chance to present arguments and proofs for a decision in his favor.“
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bringt, „almost theological purity“64 systematisch erschlossen. Er lehnte daher zu Recht eine Kombination der Strukturprinzipien einzelner Verfahrensarten wie auch eine Vermischung der Rollen – etwa des Mediators und des Schiedsrichters – aufgrund der Gefahr einer Verletzung der inneren Integrität der einzelnen Verfahren grundsätzlich ab.65 Die Grundsätze der Rollentrennung und der Verfahrensintegrität gehören damit zu den zentralen Ordnungsprinzipien, die auch das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess bestimmen, und sie haben weitreichende praktische Auswirkungen. So ist nach diesem Grundsatz etwa die Mediation durch den zur Entscheidung berufenen Prozessrichter im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme ebenso ausgeschlossen wie die vertrauliche Konsultation einer der Parteien mit dem Schiedsrichter im Rahmen eines Schiedsverfahrens.66 Hybriden Verfahren, der Vermischung der Primärprozesse durch „mixed, parasitic, and perverted forms of social order“67, stand Fuller aus Sorge um eine Verletzung der ihnen eigenen strukturellen Integrität und inneren Moral skeptisch gegenüber.68 Allerdings weist Fuller selbst darauf hin, dass er hybride Verfahren nicht per se als Abweichung von der „makellosen Reinheit“69 der Primärprozesse ablehnt, sondern sie vielmehr für wertvoll und nahezu unverzichtbar hält, wenngleich sie mit bestimmten Gefahren verbunden sind: „The joining of ‚mixed, parasitic, and perverted‘ forms of adjudication in one title should not mislead the reader into thinking that this paper condemns all 64
Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 14 (2000). Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff., 27 ff., 36 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 382, 405 ff. (1978). So besteht für Fuller beispielsweise eine erhebliche Gefahr für die Integrität des Schiedsverfahrens, wenn der Schiedsrichter im gleichen Streit zuvor in einem Mediationsverfahren als Mediator mitgewirkt hat. „ … he must endeavor to view the facts of the case in a completely new light, as if he had previously known nothing about them. … If he fails in this attempt, the integrity of adjudication is impaired.” Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963). Vgl. hierzu auch Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 19 (2000). 66 Zum letztgenannten Fall vgl. Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963). Ebenso Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999), der vier Einwände gegen die Mediation durch Richter erhebt: 1) unzulässiger Einigungsdruck (undue coercion), 2) die Vermischung der Rollen (role confusion), 3) fehlende Fachkompetenz und Ausbildung (competence und training) und 4) den Anschein der Unzulässigkeit (appearance of impropriety). Zur Inkompatibilität der Rollen des Schiedsrichters und des Mediators Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff. (1963). So auch Eckhoff, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie (2. Aufl. 1971), S. 243, 267. Vgl. hierzu unten S. 116 ff., 132 f., 327, 330, 409 f., 493 f., 548 ff., 737 ff. 67 Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 405 ff. (1978). 68 Vgl. Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff. (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 405 ff. (1978). Relativierend: Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 18 f. (2000) („It would be fascinating to see what Lon Fuller would make of these more flexible procedural institutions as the modern world of social ordering develops increasing complexity … .”). 69 Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 382 (1963) („pristine purity”). 65
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departures of adjudication from a state of pristine purity. Certain mixed forms are valuable and almost indispensable, though their use is often attended by certain dangers.”70 Wendet man Fullers Grundsätze auf hybride Verfahren an, so begegnen sie auch im Hinblick auf die Integrität der Primärprozesse keinen Bedenken, soweit, wie bei den Med-Arb, Arb-Med, Neg-Arb-Verfahren in der Regel üblich, die Besetzung der Mediatoren- und Schiedsrichterposition mit derselben Person vermieden wird.71 e) Kapazität zur gesellschaftlichen Ordnung Fullers Institutionenlehre ist nicht lediglich das Ergebnis rein analytischen Erkenntnisinteresses. Als „reflektierender Praktiker”72, der Fuller neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit stets blieb, war er in Methodik und Zielrichtung seiner Arbeit stets pragmatisch. Ebenso wie er das theoretische Gebäude seiner „Principles of Social Order“ aus konkreten Fallstudien heraus entwickelte, so ging es ihm mit seinen Untersuchungen stets um ein praktisches Ziel: Die für die Lösung eines speziellen Problems jeweils am besten geeigneten Verfahren
70
Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 382 (1963). Die Vermischung der Primärprozesse durch „mixed, parasitic, and perverted forms of social order“ (Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 382, 405 ff. (1978)) ist bereits früh von Fuller mit Hinweis auf die ihnen eigene Integrität und „morality“ kritisiert worden, vgl. Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff. (1963) und Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 396 (1978): „All mixed forms have their dangers, and tripartite arbitration is no exception.” Vgl. hierzu auch Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 382, 405 ff. (1978). Allerdings weist Fuller selbst darauf hin, dass er hybride Verfahren nicht per se als Abweichung von der „makellosen Reinheit“ der Primärprozesse ablehnt, sondern sie z.T. vielmehr für unverzichtbar hält, wenngleich sie mit bestimmten Gefahren verbunden sind. Vgl. Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 382, 405 f. (1978): „It may be well to warn again against the assumption that every mixed or ‘impure’ form of adjudication is here condemned. In the previous discussion of tripartite arbitration, I tried to show how useful this form might be, at the same time calling attention to the dangers contained in it and to the possibilities of its abuse. When I speak of a form of order as being parasitic, I mean merely that, although it seems to possess an original strength of its own, it in fact draws its moral sustenance from another form of order. In labeling it ‘parasitic,’ I intend no more condemnation than when a botanist calls a certain fungus ‘parasitic.’ Just as, from the standpoint of human interest, there are good and bad fungi, so parasitic forms of order may be good or bad.” Hervorhebungen durch den Verfasser. 72 So Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 14 (2000). Fuller war neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in erheblichem Umfang praktisch tätig. So wirkte er während des Zweiten Weltkrieges als Rechtsanwalt in der Kanzlei Ropes & Gray in Boston und war – selbst nach seiner Tätigkeit an der Harvard Law School – als Schiedsrichter tätig. Ebenda. 71
II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse
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zu finden.73 Maßstab waren dabei nicht so sehr die Strukturmerkmale der einzelnen Verfahren, sondern ihr Wesen im Sinne ihres Zweckes.74 Fullers Interesse galt dem institutional design, dem Vergleich der Vor- und Nachteile der miteinander konkurrierenden Prozesse gesellschaftlicher Ordnung, denn er war zutiefst davon überzeugt, dass die Funktion der Gesellschaft nicht nur vom materiellen Gehalt ihrer Regeln, sondern auch vom Design der prozeduralen Mechanismen derjenigen Institutionen abhängt, die diese Regeln hervorbringen oder sonstige Ordnungsfunktionen übernehmen. Fuller ging davon aus, dass jedes der primären Verfahren für die Lösung bestimmter Fälle besonders geeignet ist.75 Denn nicht jedes rechtliche oder gesellschaftliche Problem ist in der gleichen Weise strukturiert und damit den einzelnen Verfahren in gleicher Weise zugänglich. Im Gegenteil ergeben sich aus der inneren Moral und den Strukturmerkmalen der einzelnen Verfahren Grenzen der Anwendbarkeit. So sind etwa polyzentrische Probleme für die Lösung im Wege des Richtens ungeeignet und können stattdessen eher durch Mediationsverfahren bewältigt werden.76 Hier klingen bereits deutlich die Ansätze des von Sander entwickelten Konzepts des Multi-Door Courthouse mit seiner Zuweisung der von den Parteien vorgelegten Fälle zu den jeweils hierfür geeigneten Verfahren an.77 Dabei besteht keine direkte Korrelation zwischen einem bestimmten Verfahren und der sie tragenden Institution: Ein Gericht im institutionellen Sinn kann daher neben seiner Kernaufgabe – der Entscheidung streitiger Fälle im Wege des ordentlichen Zivilprozesses – durchaus auch Mediations-, Schieds- oder Schlichtungsverfahren anbieten.78 Entscheidend ist allein, dass die strukturelle Integrität, die innere Moralität der einzelnen Verfahren gewahrt wird.
73
Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 307 (1971). Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 31 unterscheidet hier plastisch zwischen causal efficacy und animating purpose, wobei letzterer für Fuller von größerem Interesse war. 75 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 307 (1971). 76 Dazu eingehend oben S. 21. Vgl. auch Fuller, 54 Am. Soc'y Int'l L. Proc. 1, 2 ff. (1960); Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 393 ff. (1978). 77 Zum Multi-Door Courthouse vgl. vor allem Sander, 70 F.R.D 111, 131 (1976), Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 51 sowie die Nachweise oben S. 10, Fn. 14. Ausführlich hierzu unten S. 505, 730 ff. 78 Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11. In den USA sind im Anschluss an den 1990 erlassenen Civil Justice Reform Act (CJRA), 28 U.S.C. §§ 471-482, zahlreiche gerichtsverbundene ADR-Programme entstanden, die neben Mediations- und Schiedsverfahren auch Hybridverfahren wie etwa den Early Neutral Evaluation und den Summary Jury Trial anbieten. Zum Ganzen Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003); Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005). Zur Problematik der Einordnung der gerichtsverbundenen Mediation durch Richtermediatoren als Rechtsprechung i.S.v. Art. 92 GG eingehend unten S. 389 ff. 74
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So ist es etwa dem Prozessrichter verwehrt, im anhängigen Streit zwischen den Parteien als Mediator zu vermitteln79, wenngleich es ihm selbstverständlich freisteht, sich im Rahmen der richterlichen Güteverhandlung nach § 278 Abs. 2 ZPO auch mediativer Techniken – etwa dem aktiven Zuhören oder dem Herausarbeiten der hinter den geltend gemachten Positionen stehenden Interessen der Parteien – zu bedienen80. Allerdings muss ihm eine dem Mediator vergleichbare Stellung und Vermittlungstätigkeit schon deshalb verwehrt bleiben, weil die für eine offene Interessenerforschung erforderliche Verschwiegenheitspflicht mit seiner richtenden Rolle unvereinbar ist. Denn als erkennender Richter muss er alle ihm zur Verfügung stehenden Sachverhaltsinformationen bei der Entscheidung des Rechtsstreits verwerten, sofern keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Solange der Prozessrichter in seiner Funktion als erkennender Richter tätig ist, müssen die Parteien daher auch im Rahmen der richterlichen Güteverhandlung stets damit rechnen, dass die von ihnen offenbarten Informationen vom Richter bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden, ja berücksichtigt werden müssen und damit im weiteren Verlauf des Zivilverfahrens auch zu ihrem Nachteil verwendet werden können. Die Modelle der gerichtsnahen Mediation sehen deshalb entweder den Einsatz speziell ausgebildeter „Güterichter“81 – in Deutschland gem. § 278 Abs. 5 ZPO82 – oder
79 Zum Problem der Mediation durch den Prozessrichter Greger, JZ 1997, 1077, 1079 („Der allzu intensiv ‚vermittelnde‘ Richter kann auch leicht in einen Konflikt mit seiner Rolle als neutraler Streitentscheider geraten.“); Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999); Folberg/Golann/Kloppenberg/Stipanowitch, Resolving Disputes (2005). Vgl. hierzu auch Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff., 27 ff., 36 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 382, 405 ff. (1978) sowie oben S. 116, Fn. 65. Aus rechtsgeschichtlicher Perspektive bemerkenswert ist, dass eine derartige Rollenvermischung bereits in früheren Rechtsordnungen ausgeschlossen war. Vgl. zur Schlichtungspraxis des Reichshofrats Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 231: „Die Regel sieben setzt voraus, daß die Parteien dem Schlichter Dinge mitteilen, die nur für ihn bestimmt sind. Insofern knüpft die Regel an den Vertrauensgesichtspunkt aus der vorherigen Regel an: Derartige Mitteilungen kann man nur einer Vertrauensperson machen. Zugleich wird dadurch jedoch zusätzlich die Rolle des Schlichters von der des Richters unterschieden: Mitteilungen der hier angenommenen Art darf es für den Richter nicht geben. Der Richter ist rollenmäßig gerade derjenige, der der einen Partei das zu ‚communiciren‘ hat, was die andere ihm mitteilt. (Das steht mit der Dritten gegenüber bestehenden richterlichen Verschwiegenheitspflicht nicht in Widerspruch.) Ein Schlichter, dem derartige vertrauliche Mitteilungen gemacht worden sind, kann strenggenommen nicht mehr Richter sein. Er gleicht in der Art, wie ihm hier eine Geheimhaltungspflicht auferlegt wird, eher den Personen, denen der Beruf einschränkungslose Verschwiegenheitspflichten auferlegt, die nur mit Zustimmung des Betroffenen ihre Verbindlichkeit verlieren.“ 80 Vgl. zu möglichen Techniken in Vergleichsverhandlungen etwa MünchKomm/ Prütting, ZPO (5. Aufl. 2016), § 278 Rn. 51. 81 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 7 ff., 109. 82 Vor der Reform des § 278 Abs. 5 ZPO durch Art. 2 Nr. 5 MedFördG 2012 wurde der Güterichter analog § 278 Abs. 5 S. 1 iVm. § 362 Abs. 1 ZPO als ersuchter Richter tätig. Zu
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die Verweisung an externe Mediatoren vor, wie dies in den court-annexed mediation programs zahlreicher US-amerikanischer Gerichte der Fall ist. f) Die Bedeutung Lon L. Fullers für die Dogmatik des Verfahrensrechts Fullers Verständnis von der Vielfalt der Verfahren gesellschaftlicher Ordnung, ihrer jeweils spezifischen Struktur und ihres einzigartigen Wesens, seine Einsicht in ihre jeweils unterschiedliche Eignung zur Bewältigung jeweils verschiedenartig gelagerter Probleme, ist aus seiner intensiven historischen Beschäftigung mit den rechtlichen Institutionen des common law und den Kulturen nicht-westlicher Völker, etwa der Ifugao, hervorgegangen.83 Als wissenschaftlich fassbare gesellschaftliche Realität sollten die Grundzüge der Institutionenlehre gerade aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für die sinnvolle Gestaltung gesellschaftlicher Steuerungsprozesse daher eigentlich zum anerkannten Allgemeingut gehören. Fuller selbst weist darauf hin, dass angesichts der im Lauf der Geschichte erfolgten Trennung der einzelnen Verfahren in der Praxis eine intensive wissenschaftliche Diskussion über die ihnen jeweils eigenen Funktionen und spezifischen Anwendungsbereiche zu erwarten gewesen wäre.84 Stattdessen, so Fuller, blieb dieser für die Ordnung des Gemeinwesens zentrale Bereich von der wissenschaftlichen Diskussion erstaunlicherweise weitgehend unbeachtet, oder wie er es treffend ausdrückt: „Instead of this, however, we find the substitution of one simplifying obfuscation for another.“85 Fuller diagnostiziert eine starke Tendenz zu staatszentriertem Denken, in dem jede Form gesellschaftlicher Steuerung als eine einseitig gerichtete Erscheinungsform staatlicher Gewalt interpretiert wird.86 Selbst der privat-
den Rechtsgrundlagen der gerichtsverbundenen Mediation vor der Reform des § 278 Abs. 5 ZPO im Jahr 2012 vgl. Löer, ZZP 119 (2006), 199, 204; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 6 ff., 25 ff.; Greger, Abschlussbericht (2007), S. 2, 8; Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2742; v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 234 ff.; Hess, DJT-Gutachten (2008), S. F 44 ff.; v. Bargen, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 943, 950 ff.; Greger, NJW 2007, 3258, 3258 f. Zu den rechtsgeschichtlichen Grundlagen der Regelung vgl. Peters, Gütegedanke (2004), S. 67 ff. 83 Winston, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 187, 27 (1996). Vgl. beispielhaft nur die Untersuchung von Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 337 ff. (1971), in der er sich intensiv mit dem Amt des monkalun in der Ifugao-Kultur auseinandersetzt. 84 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 339 (1971). 85 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 339 (1971). 86 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 339 (1971): „Now the tendency is to convert every form of social ordering into an exercise of the authority of the state, or, among sociologists, into a projection of ‚norms‘ by an abstract entity called ‚society‘. Legislation, adjudication, and administrative direction, instead of being perceived as distinctive interactional processes, are all seen as unidirectional exercises of state power.“
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rechtliche Vertrag wird nach Fuller kaum als eigenständige Rechtsquelle gesehen, sondern bezieht seine Bedeutung allein aus der Tatsache, dass er zu seiner Durchsetzung des Gewaltmonopols staatlicher Gerichte bedarf.87 Allein die Mediation widersteht jedem Versuch der Einordnung unter die Kategorien staatlicher Gewalt und Autorität.88 Diese in der Tat bestehende und auch aus heutiger Perspektive erstaunliche methodische Engführung in Theorie und Praxis auf den Zivilprozess als „Königsweg“89 und in der Regel einzigem von der staatlichen Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Konfliktlösungsverfahren ist erst in den letzten Jahrzehnten schrittweise überwunden worden. Auf dem Boden der interdisziplinären ADR-Forschung, im Gefolge des weltweiten Trends zur Nutzung der alternativen Streitbeilegung und angesichts der vielfachen Formen staatlicher Förderung ist das Bewusstsein um die Verfahrensvielfalt erkennbar gewachsen. Mit dem Beginn der ADR-Bewegung und der zunehmenden Verbreitung alternativer Streitbeilegungsverfahren in der Rechtspraxis wurde ein Wandel eingeleitet, der die jahrhundertelang bestehende Fokussierung auf den Zivilprozess als rechtsförmigem Verfahren schrittweise überwindet und einer differenzierten Sicht auf Prozesse gesellschaftlicher Konfliktsteuerung Raum gibt.90 Vor diesem Hintergrund wird die – dogmatische wie praktische – Schlagkraft der Institutionenlehre Fullers und der mit ihr einhergehende Paradigmenwechsel in besonderer Weise deutlich. Umso drängender stellt sich nun die Frage nach einer dogmatischen Bestimmung des funktionalen Verhältnisses der heute zur Verfügung stehenden modernen ADR-Verfahren, ihrer jeweiligen Strukturmerkmale, ihres Wesens, ihrer Anwendungsbereiche, aber auch ihrer Grenzen und Risiken.91 Zu untersuchen sind die – oft nicht intendierten – Wechselwirkungen92 dieser Verfahren
87 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 339 (1971): „Contract is perceived, not as a source of ‚law‘ or social ordering in itself, but as something that derives its whole significance from the fact that the courts of the state stand ready to enforce it.“ 88 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 339 (1971). 89 So Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5. 90 Hierzu umfassend oben S. 9 ff. Vgl. zum Wandel der Konfliktkultur und dem entsprechenden empirischen Nachweis im Rahmen der rechtssoziologischen Analyse oben S. 59 ff. 91 Vgl. hierzu die vergleichende Strukturanalyse des Mediationsverfahrens und des Zivilprozesses oben S. 100 ff. und unten S. 558 ff. 92 Vgl. hierzu eindrücklich die Owen M. Fiss-Debatte unten S. 552 ff. und hier insbesondere die Frage, welche Auswirkungen die Mediation auf die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilprozesses ausübt. Dazu eingehend unten S. 611 ff., 638 ff. Zum Problem des Rechtsund Werterelativismus und der Krise der Rechtsnorm durch die mögliche Konstituierung autonomer normativer Ordnungen im Wege der Mediation eingehend oben S. 50 ff., 80 ff. sowie unten S. 149 ff., 153 ff., 156 ff., 612 ff., 638 ff., 803 f.
II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse
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untereinander, ihre Funktion93 innerhalb der Gesellschaft und die Möglichkeit ihrer Kombination und gegenseitigen institutionellen Einbettung94, die gerade angesichts der verschiedenen gerichtsverbundenen Mediationsprogramme besonders dringlich ist. Die Diskussion über diese Fragen steht dabei noch am Anfang. Sie sind Gegenstand der vorliegenden Untersuchung und sollen im Gang der folgenden Überlegungen eingehend betrachtet werden. Für dieses Unternehmen bietet Fullers Institutionenlehre einen sinnvollen Ausgangspunkt. Angesichts der Fortschritte vor allem in der empirischen Forschung bedarf sie allerdings der Weiterentwicklung und der Modifikation. So geht Fuller – anders als Sander – von der Gleichrangigkeit aller gesellschaftlichen Ordnungsverfahren aus.95 Jedes Verfahren ist jeweils für die Lösung bestimmter Sachprobleme besonders geeignet und hat seine eigenen, intrinsischen Grenzen.96 So sind etwa polyzentrische Konflikte einer Bewältigung durch Gerichts- und Schiedsverfahren nur schwer zugänglich.97 Die Mediation findet nach Fuller ihre Grenzen in Konflikten, an denen mehr als zwei Parteien beteiligt sind und in denen ihre gegenseitigen Interessen noch nicht in einer Intensität ineinandergreifen, die erforderlich ist, um sie zu einer kooperativen Zusammenarbeit zu motivieren.98 Vor dem Hintergrund der Fortschritte in der Mediationsforschung, den zu Fullers Zeit kaum entwickelten Möglichkeiten
93 Zu den Funktionen der Mediation vgl. unten S. 558 ff., zu denen des Zivilprozesses vgl. unten S. 615 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch unten S. 158 ff. (Theorien und Ziele der Mediation). 94 Hierzu eingehend unten S. 492 ff. 95 Zu Sanders These des Primats der Mediation vgl. Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32, 41 (2006); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 600 (2007). Hierzu bereits eingehend oben S. 107 ff. (insbesondere Fn. 23) und S. 110 ff. sowie unten S. 729 ff., 735 ff., 740 ff. 96 Die spezifischen Anwendungsbereiche und Grenzen einzelner Verfahrensarten hat Fuller insbesondere für die Mediation und das schieds- wie zivilgerichtliche Verfahren in drei umfassenden Untersuchungen herausgearbeitet: Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3 (1963) (Collective Bargaining and the Arbitrator); Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 330 (1971) (Mediation: Its Forms and Functions) und Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 392 ff. (1978) (The Forms and Limits of Adjudication). Vgl. hierzu auch die vergleichende Strukturanalyse des Mediationsverfahrens und des Zivilprozesses oben S. 100 ff. und unten S. 558 ff. 97 Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 394 (1978): „Here, again, we are dealing with a situation of interacting points of influence and therefore with a polycentric problem beyond the proper limits of adjudication.” Zum Begriff des polyzentrischen Problems vgl. Polanyi, The Logic of Liberty (1951), S. 170 ff. und Fuller, 54 Am. Soc'y Int'l L. Proc. 1, 2 ff. (1960); Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 393 ff. (1978). Vgl. hierzu oben S. 21. 98 Vgl. Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 330 (1971): „Mediation is itself subject to intrinsic limitations; I have discerned two of these: (1) it cannot generally be employed when more than two parties are involved; (2) it presupposes an intermeshing of interests of an intensity sufficient to make the parties willing to collaborate in the mediational effort.“
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der Mehrparteien-Mediation99, der obligatorischen Mediationsverfahren in gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen100 und der in der Verhandlungsforschung gewachsenen Erkenntnis, dass sich in einer Vielzahl von Sachproblemen Kooperationsgewinne jenseits eines Nullsummenspiels realisieren lassen,101 erscheint diese Beschränkung in der Institutionenlehre Fullers immer weniger überzeugend.102 Es wäre, wie auch Menkel-Meadow bemerkt, faszinierend zu sehen, wie Fuller seine Institutionenlehre angesichts der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Strukturen und der Vielfalt neuer, hybrider Formen gesellschaftlicher Steuerung formulieren würde.103 Und zu welchen Schlussfolgerungen er auf dem Boden der Befunde der interdisziplinären Verhandlungsforschung und vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Umwälzungen der weltweiten ADR-Bewegung gekommen wäre. In ihren zentralen Punkten sind Fullers Überlegungen allerdings für die Dogmatik der alternativen Streitbeilegung unverzichtbar. Sie bilden daher auch den Anknüpfungspunkt unserer Überlegungen zur Integration von Mediation und Zivilprozess in das System einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre, die im Folgenden schrittweise entwickelt werden soll. Wo Fullers Konzept entsprechend dem jungen Entwicklungsstand der damals so noch nicht bezeichneten „ADR-Verfahren“ stehen geblieben ist, wollen wir – wie wir es schon im Hinblick auf die Vorrangstellung der Mediation im Kanon der konsensualen Streitbeilegungsverfahren begonnen haben – seine Überlegungen auf der Grundlage der modernen ADR-Forschung weiterentwickeln. Wo wir aus dogmatischen Gründen von Fullers Verständnis der Verfahren gesellschaftlicher Ordnung abweichen, wer-
99
Hierzu Max, 23 Am. J. Trial Advoc. 269 (1999); Menkel-Meadow, Mediation (2001), S. 443 ff.; Robinson, 2003 J. Disp. Resol. 135, 173 ff. (2003); Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 277 ff. 100 Nelle, 7 Ohio St. J. on Disp. Resol. 287 (1992); Menkel-Meadow, Mediation (2001), S. 286 ff.; Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 158 ff.; Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 78 ff. Eingehend hierzu unten S. 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff., 814. 101 Raiffa, The Art and Science of Negotiation (1982), S. 131 ff., 145 f.; Menkel-Meadow, 31 UCLA L. Rev. 754, 783 ff. (1984); Lax/Sebenius, The Manager as Negotiator (1986), S. 88 ff.; Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 57 ff. Zur Problematik eingehend oben S. 17, Fn. 59. 102 So auch Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 14 f. (2000). 103 Vgl. Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 18 f. (2000). Zur Vielfalt hybrider Verfahren Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 615 ff.
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den wir die maßgeblichen Prinzipien im jeweiligen Kontext und vor dem Hintergrund des dogmatischen Modells einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre herleiten.104 2. Wesen Das Weseneines Verfahrens bestimmt die sich aus ihm ergebenden Strukturmerkmale. Wir wollen für unsere Untersuchung an Fullers Verständnis der inneren Moral der Verfahren anknüpfen und unsere Analyse mit einer Bestimmung des Wesens von Mediation und Zivilprozess beginnen. Dabei ist die bei Fuller noch weitgehend unklare Terminologie zunächst zu präzisieren. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist der philosophische Wesensbegriff im Sinne der oὐσία, wie er uns in der platonischen Metaphysik gegenübertritt.105 Das Wesen umfasst hierbei die Natur des Verfahrens, ihre dauerhafte Substanz, die bei jeglicher Veränderung gleich bleibt, ein von den jeweiligen Erscheinungsformen getrenntes, unveränderliches, unauflösliches Urbild (είδος). Das Wesen der Verfahren ist dabei nicht identisch mit ihren Zielen. Ziele sind Anwendungsformen und Funktionen, welche die Verfahren instrumentell erfüllen können. Sie sind aus dem Wesen abgeleitete Eigenschaften und Erscheinungsformen im Sinne der platonischen Ontologie. So kann die Mediation ganz unterschiedlichen Zielen dienen – etwa der Kostenreduzierung, der Verfahrensbeschleunigung, dem Interessenausgleich, der Versöhnung, der Gewährleistung des Zugangs zu den Gerichten, der Befähigung der Parteien zur autonomen Wahrnehmung ihrer Interessen und der Reform der Gesellschaft106 – und auch in ihren Verfahrenseigenschaften entsprechend der verschiedenen Mediationsmodelle – evaluative, facilitative, transformative und caucus mediation107 – unterschiedlich ausgestaltet sein. Ihr Wesen wird von der Veränderung ihrer Erscheinungsformen indes nicht berührt. Da sich die 104 Vgl. zu den dogmatischen Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre eingehend unten S. 518 ff. und hier insbesondere die Untersuchung des Prinzips der funktionalen (S. 551 ff.), der qualitativen (S. 708 ff.) und der hierarchischen Differenzierung (S. 729 ff.). 105 Grundlegend hierzu Seifert, Sein und Wesen (1996). 106 Zu den unterschiedlichen Zielen der Mediation und dem ihnen zugrunde liegenden Menschenbild vgl. Breidenbach, Mediation (1995), S. 116 ff. Vgl. auch Alberstein, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 321, 341 ff. (2007), die auf die den verschiedenen Mediationstypen jeweils zugrunde liegenden Weltanschauungen eingeht. Vgl. zu den Funktionen der Mediation und des Zivilprozesses unten S. 558 ff. und S. 615 ff. 107 Vgl. zu den unterschiedlichen Mediationsmodellen nach dem sog. Riskin-Grid grundlegend: Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7 (1996). Vgl. auch Menkel-Meadow, Mediation (2001), S. 113 ff.; Alfini/Press/Sternlight/Stulberg, Mediation Theory and Practice (2. Aufl. 2006), S. 140 ff. sowie die Nachweise unten S. 131, Fn. 142. Eingehend hierzu auch unten S. 309 ff. Zur Rolle des Mediators vgl. grundlegend S. 130 sowie zu seiner Funktion in der vertragsautonomen und der gerichtsverbundenen Mediation vgl. unten S. 333 ff., 385 ff.
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Strukturmerkmale aber umgekehrt aus dem Wesen des Verfahrens ergeben, ist die Zulässigkeit der Veränderung der jeweiligen Verfahrenseigenschaften an ihrer Kompatibilität mit dem Wesen des betreffenden Verfahrens zu messen. Und auch die Ziele der Mediation müssen sich daran messen lassen, ob sie a priori und in concreto, d.h. in ihrer jeweiligen Umsetzung, mit dem Wesen des Verfahrens, mit seinen grundlegenden Kernprinzipien, in Einklang zu bringen sind. Die klare Differenzierung von Wesen und Struktur der Verfahren und die präzise Bestimmung ihres Inhalts sind von erheblicher praktischer Bedeutung. Relevant wurde diese Frage etwa im Zuge der Institutionalisierung der Mediation im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme in den USA. Die mit der Einbindung der Mediation in die Strukturen der Ziviljustiz verbundenen Rückwirkungen auf die Verfahrensintegrität haben in den USA eine lebhafte Debatte über Form und Grenzen der Institutionalisierung der Mediation ausgelöst.108 Im Zentrum der Diskussion stand die Erkenntnis, dass die Integration der Mediation in die Struktur der Zivilgerichte zu einer Wesensveränderung und einem Verlust ihrer Kernprinzipien führen kann.109 Gegenstand der Debatte war aus der Perspektive der Institutionenlehre die für Fuller zentrale Frage der inneren Integrität der jeweiligen Verfahren. Für die in unserer Untersuchung noch zu diskutierenden Fragen des institutional design im Rahmen der Einbettung der Mediation in den Zivilprozess wie auch für die Untersu-
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Die Kongruenz von Wesen und Struktur kann insbesondere dann problematisch werden, wenn Verfahren für wesensfremde Zwecke instrumentalisiert werden, wie dies etwa beim Einsatz der Mediation zum Zweck der bloßen Kostenreduzierung der Fall ist. So ist im Rahmen der US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte auf das Problem hingewiesen worden, dass die Einbindung der Mediation in den Zivilprozess im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme das Mediationsverfahren in einer Weise verändert, die mit seinen ursprünglichen Kernprinzipien und Grundwerten kaum in Einklang zu bringen ist. Vgl. hierzu eingehend oben S. 2 (Fn. 6), S. 46 sowie im Folgenden. 109 Vgl. zur Diskussion nur: Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991) („watereddown versions of court adjudication“); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001) („the original vision of self-determination is giving way to a vision in which the disputing parties play a less central role”); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002) („ … the institutionalization of mediation … have changed the mediation process so radically that it has lost its core; it has diminished its defining, ‘alternative’ characteristics of the process … threatening its identity as a non-adjudicative process … threatening … the core values of the process.”); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004) im Anschluss an Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003) („ … if mediation is to survive as a conciliatory ADR process, it must ‘liberate itself from the courts;’ otherwise, it simply capitulates to an adjudicative routine.”). Hervorhebungen durch den Verfasser.
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chung des Verhältnisses beider Verfahren vor dem Hintergrund einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre ist daher die Bestimmung des Wesenskerns der Verfahren von entscheidender Bedeutung.110 a) Das Wesen der Mediation Wie bestimmt sich aber das Wesen von Mediation und Zivilprozess? Für Fuller besteht das Wesen der Mediation (morality), wie wir bereits gesehen haben,111 zunächst in einem optimalen Vergleich, bei dem jede Partei für sie geringwertige Positionen aufgibt, um höherwertige zu erhalten.112 Fuller hat dieses ökonomisch-utilitaristische Verständnis der Mediation, das weniger die Wirkung des Verfahrens auf die Beziehung zwischen den Parteien als das Ergebnis, nämlich einen auf einen synallagmatischen Güteraustausch gerichteten und beiderseits vorteilhaften Vergleich, in den Blick nimmt, später aufgegeben. In seiner grundlegenden Analyse der Mediation (Mediation: Its Form and Functions)113 steht nun nicht mehr nur das Ergebnis, sondern die Wirkung, die Qualität des Verfahrens im Hinblick auf die Gestaltung der Parteibeziehung im Mittelpunkt seines Interesses: Die „zentrale Qualität“ der Mediation liegt für ihn in einem relationalen Element. Im Kern geht es in der Mediation darum, die Beziehung zwischen den Parteien zu transformieren und die Parteien durch die Vermittlung einer neuen, gemeinsamen Perspektive ihrer Beziehung wieder aufeinander hin auszurichten: „ … the central quality of mediation, namely, its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.“165 Insoweit weist das Verständnis Fullers erhebliche Parallelen zu dem von Robert A. Baruch Bush und Joseph P. Folger entwickelten Konzept der transformativen Mediation auf. Nach diesem Ansatz geht es bei der Mediation weniger um die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne und die interessengerechte Lösung eines konkreten Konfliktes – wie es etwa das auf den ersten Blick auf dem ökonomischen Verhaltensmodell der Spieltheorie basierende Harvard-Konzept der principled mediation vorzusehen scheint – als darum, die durch den Konflikt eingetretene destruktive Verkümmerung der Beziehung zwischen den Parteien umzukehren und sie durch Anerkennung der
110
Vgl. hierzu eingehend unten S. 492 ff. Oben S. 115, Fn. 61. 112 Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 (1963): „The morality of mediation lies in optimum settlement, a settlement in which each party gives up what he values less, in return for what he values more.” 113 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 111
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§ 2 Mediation und Zivilprozess
gegenseitigen Interessen und Bedürfnisse sowie die Befähigung zu konstruktivem Konfliktverhalten neu zu gestalten.114 Primäres Ziel der aus der psychologischen Forschung und der therapeutischen Praxis schöpfenden transformativen Mediation ist somit nicht die Lösung eines Interessenkonfliktes, sondern die Wiederherstellung oder Neugestaltung der Parteibeziehung. Fuller geht über diesen Zweck jedoch hinaus, indem er den verhaltenspsychologischen Ansatz der transformativen mit dem ökonomisch-spieltheoretischen Ansatz der interessenbasierten Mediation verbindet – und dies lange, bevor diese Konzepte explizit formuliert wurden: Die Transformation der Parteibeziehung und die Ausrichtung der Parteien aufeinander hin durch Vermittlung einer neuen, gemeinsamen Perspektive ihrer jeweiligen Interessen und ihrer Beziehung zueinander sind zwar unabdingbarere Bestandteile und wesentliche Ziele des Mediationsverfahrens. Sie sind jedoch zugleich Instrument einer interessengerechten Beilegung eines konkreten, zwischen den Parteien bestehenden Konflikts und dienen der Realisierung der im Konflikt ruhenden Kooperationsgewinne im Wege einer beiderseits interessengerechten Einigung. Denn die effektive Beilegung des Konfliktes durch den Ausgleich der gegenseitigen Interessen der Parteien und damit die kreative, wertschöpfende Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne setzt bereits eine Transformation der Beziehung zwischen den Parteien voraus, die sich gleichsam unmerklich in jedem Mediationsverfahren im Rahmen eines Lern- und Transformationsprozesses115 vollzieht und die – wie
114 Grundlegend Bush/Folger, 13 M.Q. 263 (1996); Bush/Folger, The Promise of Mediation (2. Aufl. 2005), S. 52 f.: „ … transformative mediation can best be understood as a process of conflict transformation – that is, changing the quality of conflict interaction. … If what bothers parties most about conflict is the interactional degeneration itself, then what they will most want from an intervenor is help in reversing the down ward spiral and restoring constructive interaction.” Bush/Folger, The Promise of Mediation (2. Aufl. 2005), S. 65 f.: „ … in the transformative model Mediation is defined as a process in which a third party works with parties in conflict to help change the quality of their conflict interaction from negative and destructive to positive and constructive, as they explore and discuss issues and possibilities for resolution.” Das zentrale Ziel der transformativen Mediation besteht darin, durch Befähigung zu eigenverantwortlichem Handeln (empowerment) und Anerkennung der eigenen Interessen und die der anderen Partei die Parteien selbst und ihre Beziehung zueinander und nicht lediglich den aus der beschädigten Beziehung folgenden Konflikt zu verändern (changing people, not just situations), Bush/Folger, The Promise of Mediation (2. Aufl. 2005), S. 41 ff. Vgl. auch Franz, 13 Ohio St. J. on Disp. Resol 1039 (1998); Bush/Pope, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 67 (2002); Noce, 19 Ohio St. J. on Disp. Resol. 925 (2004). 115 Vgl. hierzu eingehend unten S. 567 f., 664 f. und 782 f.
II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse
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wir später eingehender sehen werden – das eigentliche Geheimnis des Mediationsverfahrens bildet: Die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit durch die Anwendung der regula aurea.116 Die Richtigkeit der Schlussfolgerung Fullers ergibt sich aus dem Kausalverhältnis zwischen beiden Varianten. So hat jedes kooperativ geführte Verfahren jedenfalls im Grundsatz auch ein den beiderseitigen Interessen weitgehend entsprechendes Ergebnis zur Folge, jedenfalls soweit sich in dem konkreten Fall überhaupt a priori Kooperationsgewinne erzielen lassen. Umgekehrt hat die Verhandlungsforschung eindrucksvoll gezeigt, dass ausschließlich wertbeanspruchend geführte Verhandlungen117 nur selten zu beiderseits interessengerechten Ergebnissen führen und die Parteien stattdessen in diesen Fällen ohne weiteres zugängliche Kooperationsgewinne „verschenken“118. Die Erschließung pareto-optimaler win-win-Lösungen setzt damit zwangsläufig kooperatives Verhandlungsverhalten als conditio sine qua non voraus. Das Mediationsverfahren hat damit eine intrinsische kooperationsfördernde, die Parteibeziehung transformierende Wirkung, die Fuller als Orientierung der Parteien aufeinander hin beschrieben hat119, und zwar selbst dann, wenn diese von
116
Hierzu näher unten S. 235 ff. Intuitives Verhandlungsverhalten ist regelmäßig durch die Dominanz wertbeanspruchender bzw. wertverteilender Strategien geprägt, vgl. nur Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff. sowie Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. Allerdings enthält jede auf die Lösung von Verteilungskonflikten gerichtete Verhandlung oder Mediation, auch wenn der zu verteilende Wert durch kooperative Strategien wertschöpfend vergrößert werden soll, wertbeanspruchende bzw. wertverteilende Komponenten. Aus der Perspektive problemlösender Mediation ist nicht die Präsenz wertverteilender Strategien per se, sondern ihre Qualität und Zulässigkeit sowie die Abwesenheit wertschöpfenden Verhandlungsverhaltens problematisch. Zum Einsatz objektiver Kriterien als Maßstab der Wertverteilung grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 81 ff. Zur wertbeanspruchenden und wertverteilenden Verhandlung vgl. Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff., 64 ff., 81 sowie Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 188 ff., 214 ff. 118 Vgl. nur: Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990) („People frequently fail to attain readily available and mutually beneficial agreements in negotiation.“); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 98 (1990) („a substantial number of negotiators fail to realize when they have interests that are completely compatible with those of the other party and settle for suboptimal agreements“); Thompson/Hrebec, 120 Psychol. Bull. 396, 396 (1996) („People sometimes settle for less favorable outcomes even when they realize they have compatible interests.“). Zu den Begriffen der Wertschöpfung und Wertbeanspruchung Lax/Sebenius, The Manager as Negotiator (1986), S. 88 ff., 117 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff., 64 ff., 81 sowie Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 188 ff., 214 ff. 119 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 117
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den Parteien überhaupt nicht intendiert oder sogar abgelehnt wird.120 Erklären sich die Parteien zur Durchführung eines Mediationsverfahrens bereit oder werden sie gesetzlich hierzu verpflichtet121, so führt eine nach Treu und Glauben durchgeführte Mediation (good faith mediation) zwangsläufig zu einer Veränderung der Parteibeziehung hin zu kooperativem Konfliktverhalten. Ebenso wie die „heimliche Theorie“ des Zivilprozesses nach Luhmann darin besteht, „daß man durch Verstrickung in ein Rollenspiel die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren“122 kann, jedoch um den Preis, „daß man mit der Thematisierung von Rechtsfragen einen Kettenprozeß in Gang setzt, der eine Eigendynamik entfalten wird“123 und der in einem character contest als abgeleitetem Metakonflikt endet124, „aus dem man vielleicht im Recht, vielleicht im Unrecht; aber sicher nicht ohne Wunden zurückkehren wird“,125 so besteht die verborgene Wirkung der Mediation umgekehrt darin, die Parteien neu aufeinander hin auszurichten, ihre Beziehung zu transformieren und auf diese Weise die betroffenen Parteien zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung über die Beilegung ihres Konfliktes zu befähigen (empowerment), die destruktive Dynamik antagonistischen Konfliktverhaltens durch einen Perspektivwechsel zu durchbrechen und über das Vordringen von den Rechtspositionen zu den eigentlichen Interessen der Beteiligten die Voraussetzungen für eine beiderseitig interessengerechte und pareto-optimale Einigung zu schaffen. 120 Diese Wirkung beruht auf dem durch die Operationalisierung der regula aurea in Gang gesetzten Lern- und Transformationsprozess, vgl. hierzu unten S. 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff., 814. 121 Die positiven Wirkungen des Mediationsverfahrens auf das Konfliktverhalten der Parteien sind ein gewichtiges Argument für die zwingende Einleitung des Mediationsverfahrens. Entsprechende Regelungen für das indes von der Mediation zu unterscheidende Schlichtungsverfahren kennt das deutsche Recht etwa nach § 15a EGZPO. Für die Möglichkeit der zwingenden Verweisung in das Mediationsverfahren und eine entsprechende Reform des § 278 ZPO vgl. nur Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2742. Vgl. zur Problematik eingehend unten S. 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff., 717, 814 sowie die Nachweise oben S. 122, Fn. 100. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Befund der empirischen Begleitforschung der gerichtsverbundenen Mediationsprogramme, die den Nachweis erbracht hat, dass auch in den Fällen hohe Einigungsquoten erzielt werden konnten, in denen die Parteien der Mediation zunächst skeptisch gegenüber gestanden hatten, sich die Skepsis der Parteien indes als unbegründet erwies. Hier hat die empirische Forschung gezeigt, dass ein debiasing der Parteien am effektivsten durch konkret erlebtes Erfahrungswissen und nur sehr begrenzt durch informatorische Aufklärung über die Vorteile und Verfahrenseigenschaften der Mediation erzielt werden kann. Vgl. hierzu eingehend unten S. 715 ff. 122 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87. 123 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 60. 124 Vgl. hierzu bereits oben S. 15 ff. 125 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58.
II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse
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Das Wesen der Mediation besteht damit nach Fuller in der Transformation der Parteibeziehung durch Kooperation. Sie erfolgt durch eine gemeinsame Auffassung, ein gemeinsames Verständnis, eine gemeinsame Vision ihrer Beziehung („a new and shared perception of their relationship“), aus der sich eine neue, kooperative und vertrauensvolle Haltung gegenüber der anderen Partei in den jeweiligen Einzelfragen und insbesondere im Hinblick auf den zwischen beiden Parteien schwelenden Konflikt ergibt. Die Transformation erfolgt dabei nicht durch heteronomen Zwang von außen, sondern dadurch, dass die Parteien zu einer neuen Perspektive des Konflikts befähigt werden, die auch die Interessen, Probleme und Handlungszwänge der anderen Partei umfasst. Indem den Parteien ein tieferes Verständnis der jeweiligen Interessen, der Einigungsoptionen (zone of possible agreement = ZOPA) und ihrer Nichteinigungsalternativen (best alternative to a negotiated agreement = BATNA) vermittelt wird, werden sie in die Lage versetzt, eigenverantwortlich eine informierte Entscheidung zur Lösung ihres Konfliktes herbeizuführen. Diese Leistung können die Parteien in der Regel nicht autonom, ohne fremde Hilfe erbringen. Sie bedienen sich hierfür der unterstützenden Vermittlung eines neutralen Dritten. Zusammenfassend lässt sich das Wesen der Mediation daher mit den folgenden sieben Prinzipien beschreiben: Privatautonomie, Kooperation, Orientierung an Parteiinteressen, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität des Verfahrens, Vermittlung durch neutralen Dritten.126 Die Mediation ist danach ein Verfahren, in dem die Parteien durch Vermittlung eines neutralen Dritten im Wege der Kooperation eine Transformation ihrer Beziehung herbeiführen und dadurch befähigt werden, in einem informalen und vertraulichen Verfahren privatautonom eine informierte, ihren jeweiligen Interessen entsprechende Entscheidung über die Beilegung ihres Konflikts zu treffen. b) Das Wesen des Zivilprozesses Für die Bestimmung des Wesens des Zivilprozesses können wir auf die Ausführungen Fullers zur inneren Moral des Schiedsverfahrens zurückgreifen, an dessen Beispiel er die Qualitäten richtender Verfahren untersucht hat.127 Für Fuller besteht das Wesen des Schiedsverfahrens in einer heteronomen Entscheidung nach dem Vertragsrecht: „The morality of arbitration lies in a decision according to the law of the contract.“128 In „Forms and Limits of Adjudication“ präzisiert er seine Überlegungen, indem er dem Modus der Entscheidungsfindung besondere Aufmerksamkeit schenkt.129 Das gerichtliche Verfahren (adjudication) ist danach ein Verfahren gesellschaftlicher Steuerung und Entscheidung, das den Parteien Gelegenheit zur Präsentation von Beweisen 126
Zu den Grundsätzen des Mediationsverfahrens näher unten S. 459 ff. Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 f. (1963). 128 Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 f. (1963). 129 Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353 (1978). 127
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und rationalen Grundsatzargumenten gibt: „Adjudication is, then, a device which gives formal and institutional expression to the influence of reasoned argument in human affairs. … Adjudication is a process of decision that grants to the affected party a form of participation that consists in the opportunity to present proofs and reasoned arguments. … adjudication is a form of social ordering institutionally committed to ‘rational’ decision.”130 Führen wir die Überlegungen Fullers auf seine wesentlichen Elemente zurück, so lassen sich die folgenden Grundprinzipien des zivil- wie des schiedsgerichtlichen Verfahrens (adjudication) bestimmen: Die zentrale Qualität des Richtens liegt in einer heteronomen Entscheidung des Konfliktes durch einen mit – meist staatlicher oder staatlich vermittelter – Autorität ausgestatteten neutralen Dritten. Da kooperative Handlungsstrategien als Modus der Entscheidungsfindung entfallen, können die Parteiinteressen als Entscheidungsmaßstab nicht herangezogen werden. Entscheidungsgrundlage sind stattdessen die Rechtsansprüche der Parteien, deren Anwendbarkeit auf den konkreten Einzelfall in einem kontradiktorischen Verfahren auf der Grundlage rationaler Argumente und der von den Parteien vorgelegten Beweise entschieden wird.131 Zusammenfassend können wir sieben Grundprinzipien festhalten, die das Wesen des gerichtlichen Verfahrens bestimmen: Heteronomie, kontradiktorische Entscheidungsstruktur, Orientierung an Rechtsansprüchen, Ergebnisorientierung, Öffentlichkeit, Formalität des Verfahrens, Entscheidung durch neutralen Dritten. Vergleichen wir die wesensbestimmenden Prinzipien des gerichtlichen Verfahrens mit denen der Mediation, so stellen wir fest, dass sie zueinander im Verhältnis perfekter Komplementarität stehen. Wie sich die Komplementarität der Wesensmerkmale auf die Verfahrenshierarchie auswirkt, werden wir an späterer Stelle eingehend untersuchen.132 Zunächst sollen die Strukturmerkmale analysiert werden, die sich aus dem Wesen der beiden Verfahrensarten ergeben. Da Wesen und Verfahrensmerkmale untrennbar miteinander verbunden sind, werden sie im Folgenden gemeinsam und in ihren Wechselwirkungen zueinander untersucht. 3. Struktur Wie wir bereits bei der Untersuchung der methodischen Vorrangstellung der Mediation gegenüber der Verhandlung gesehen haben, ist die Mediation durch eine triadische Struktur gekennzeichnet, gerade weil die Parteien in einer Dyade, wie wir sie bei reinen Verhandlungen vorfinden, zu einer autonomen
130
Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 366, 369, 380 (1978). Vgl. hierzu näher Eckhoff, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie (2. Aufl. 1971), S. 243, 258 ff. 132 Hierzu näher unten S. 729 ff., 800 ff. 131
II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse
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Beilegung ihrer internen Konflikte nur eingeschränkt in der Lage sind.133 Dieselbe Beteiligtenstruktur finden wir auch im gerichtlichen Verfahren, allerdings ist hier die Rolle des neutralen Dritten eine grundsätzlich andere: Während in der Mediation der zum Streit hinzugezogene Dritte selbst über keinerlei Entscheidungskompetenz verfügt und die Parteien lediglich in der eigenverantwortlichen Beilegung ihres Konflikts vermittelnd unterstützt, ist der neutrale Dritte im Zivilprozess richtend zur heteronomen Entscheidung des Konfliktes befugt.134 4. Sachentscheidung Die unterschiedliche Ausgestaltung der Sachentscheidungskompetenz – eigenverantwortliche Entscheidung der Parteien in der Mediation und heteronome Drittentscheidung im Zivilprozess – folgt aus dem Wesen beider Verfahrensarten als Instrumente der Selbst- und Fremdregulierung. a) Die Rolle des Richters im Zivilprozess Der Zivilprozess ist in Verfahren (process) und materiellem Ergebnis (substance) weitgehend fremdbestimmt. Die Befugnis zur Verfahrensleitung und Sachentscheidung liegt allein beim Richter. Zwar sind die Parteien entsprechend der Dispositionsmaxime des deutschen Zivilprozesses als Ausfluss der verfassungsrechtlich garantierten Privatautonomie Herren des Verfahrens (domini litis). Sie können durch Erhebung der Klage (§ 253 ZPO), Klagerücknahme (§ 269 ZPO), Anerkenntnis (§ 307 ZPO), Verzicht (§ 306 ZPO) oder beiderseitige Erledigterklärung (§ 91a ZPO) das gerichtliche Verfahren in Gang setzen und wieder beenden und auch durch ihren Sach- und Rechtsvortrag einschließlich des Beweisantritts auf die materielle Entscheidung Einfluss nehmen. Ihre Mitwirkung ist allerdings auf ganz bestimmte, in der Verfahrensordnung vorgeschriebene Rechtshandlungen beschränkt, und auch die Sachentscheidung wird maßgeblich durch das anwendbare materielle Recht und die Spruchpraxis des Gerichts bestimmt. Durch ihre Teilnahme am Verfahren werden sie in ein Rollenspiel „verstrickt“, das ihnen die im Verfahrensrecht vorgesehenen Rechte und Pflichten zuweist und dessen Eigengesetzlichkeit sie
133 Vgl. Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 312 f. (1971) und Simmel, Soziologie (1908), S. 32 ff., 76 ff. Vgl. dazu näher oben S. 108. Hierzu auch Aubert, 7 J. Confl. Resol. 26 (1963), S. 24 ff.; Bühl, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 9, 16 ff. 134 Vgl. hierzu und im Folgenden auch Eckhoff, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie (2. Aufl. 1971), S. 243258 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 41 ff.; Hagen/Lenz, Wirtschaftsmediation (2008), S. 4 ff.
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unentrinnbar ausgeliefert sind, wollen sie an dem Verfahren teilhaben.135 Die Mitwirkung an der die Parteien letztlich interessierenden Sachentscheidung ist ihnen verwehrt. Sie sind nicht Subjekt autonomen Handelns, sondern Objekt obrigkeitlicher Entscheidung kraft Hoheitsakts. Allerdings erfolgt die Verlagerung der Entscheidungskompetenz im Zivilprozess von den Parteien weg auf eine neutrale dritte Person ausschließlich aus kompensatorischen Gründen, weil die Parteien zu einer Selbstregulierung gerade nicht in der Lage sind. Streitbeilegung durch Richten ist damit per se subsidiär, weil sie ihre Berechtigung gerade aus der Unfähigkeit der Parteien zur autonomen Konfliktbeilegung bezieht.136 Die Art der Entscheidung ist damit zwangsläufig eine kontradiktorische, die ihre Legitimation, wie Luhmann zutreffend herausgearbeitet hat, aus der Vorstellung bezieht, „dass man durch Verstrickung in ein Rollenspiel die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren könne.“137 Dies hat weitreichende Folgen für die zur Verfügung stehenden Entscheidungsgrundlagen: Da kooperative Einigungsstrategien im idealtypischen Zivilprozess – abgesehen vom Prozessvergleich – als Handlungsoption ausscheiden, können auch die Parteiinteressen nicht als Grundlage der Entscheidung herangezogen werden. Ihre Offenlegung bedarf gerade des vertrauensvollen und kooperativen Mitwirkens der anderen Partei und der Vertraulichkeit des Verfahrens als Schutzraum und setzt damit Bedingungen voraus, die im nach § 169 S. 1 GVG grundsätzlich öffentlichen Zivilprozess nicht gegeben sind.138 Entscheidungsgrundlage im Zivilprozess können nach § 253 Abs. 2 Nr. 2, § 313 Abs. 2 S. 1, Abs. 3, § 322 Abs. 1 ZPO daher nur Rechtsansprüche bilden, die im zivilgerichtlichen Urteil durch Subsumption des konkreten Sachverhalts unter die anwendbaren Rechtsnormen auf der Grundlage des Austauschs rational-juristischer Argumente durch die Parteien autoritativ festgestellt werden. b) Die Rolle des Mediators im Mediationsverfahren Das Mediationsverfahren ist dagegen, seinem Wesen als Instrument privatautonomer Konfliktlösung entsprechend, in Verfahren und Ergebnis selbstbestimmt. Die Sachentscheidungskompetenz liegt bei den Parteien als den „Experten“ in dem beizulegenden Konflikt.139 Dem Mediator kommt lediglich die
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So plastisch Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 85, 87, 134. Zum Legitimationsmechanismus des Zivilprozesses eingehend oben S. 24 ff., 29 f. und unten S. 196 ff., 571 ff., 674 ff. 136 Vgl. zum Mediationsprimat eingehend oben S. 110 ff. und unten S. 729 ff., 735 ff., 740 ff. 137 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87 ff. 138 Hierzu näher unten S. 477 ff., 491 ff. 139 Vgl. oben S. 18 f.
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Aufgabe zu, die Parteien in ihren Einigungsbemühungen zu unterstützen. Er hat insoweit eine rein dienende Funktion, die jedoch, wie wir bereits gesehen haben,140 aufgrund des Unvermögens der Parteien zur selbstständigen Beilegung ihres Konfliktes eine ermöglichende ist. Die Rolle des Mediators im Verfahren sowie Inhalt und Grenzen seiner Tätigkeit ergeben sich aus ebendieser konstitutiven141 und zugleich dienenden Funktion und aus dem Wesen der Mediation als originär privatautonomem Verfahren.142 Die Kernaufgabe des Mediators besteht dementsprechend darin, die Parteien zu einer eigenverantwortlichen Beendigung ihres Konflikts zu befähigen und damit letztlich in der Herstellung der Grundbedingungen privatautonomen Handelns der Parteien. Diese Grundbedingungen, die Gesetzmäßigkeiten menschlichen Konfliktverhaltens sowie die möglichen Strategien der Überwindung von Einigungshindernissen, sind vor allem in den vergangenen Jahrzehnten von der interdisziplinären Verhandlungsforschung eingehend untersucht worden.143 Die Trennung der Sach- von der Beziehungsebene, die Über-
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Oben S. 108 f. So schon DeBono, Konflikte (1987), S. 173: „Zweck der dritten Partei ist es, einen zweidimensionalen Kampf in eine dreidimensionale Erkundung umzuwandeln, die zum Entwurf einer Lösung führt ... Die dritte Partei ist keine Zugabe oder Hilfe, sondern integraler Bestandteil des Entwerfens.“ Vgl. dazu auch oben S. 108, Fn. 12. 142 Die Rolle des Mediators sowie Inhalt und Grenzen seiner vermittelnden Tätigkeit sind in den USA Gegenstand intensiver Diskussion: Love/Boskey, 1 Cardozo Online J. Conf. Res. 1 (1997); Moberly, 38 S. Tex. L. Rev. 669 (1997); Stempel, 24 Fla. St. U. L. Rev. 949 (1997); Kovach/Love, 3 Harv. Negotiation L. Rev. 71 (1998); Levin, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 267 (2001); Moore, The Mediation Process (3. Aufl. 2003), S. 19 ff.; McDermott/Obar, 9 Harv. Negot. L. Rev. 75 (2004);Kovach, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 304, 309 ff.; Alberstein, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 321 (2007); Roberts, 39 Loy. U. Chi. L.J. 187 (2007); Exon, 42 U.S.F. L. Rev. 577 (2008); Goldberg/Shaw, 15 No. 2 Disp. Resol. Mag. 16 (2009). Ausgangspunkt ist die von Leonard Riskin entwickelte Matrix der denkbaren Rollen des Mediators im Spannungsfeld zwischen evaluierender (evaluative Mediation) und moderierender Mediation (facilitative mediation), vgl. Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111 (1994); Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7 (1996); Moore, The Mediation Process (3. Aufl. 2003), S. 19 ff. Aus dem deutschen Schrifttum vgl. nur Breidenbach, Mediation (1995), S. 256 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 75 ff.; Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 66 ff.; v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 27. Vgl. hierzu eingehend unten S. 309 ff. Zu seiner Funktion in der vertragsautonomen und der gerichtsverbundenen Mediation vgl. unten S. 333 ff., 385 ff. 143 Vgl. aus dem umfangreichen Schrifttum nur Lax/Sebenius, The Manager as Negotiator (1986); Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991); Arrow/Mnookin/Ross/Tversky/Wilson, Barriers to Conflict Resolution (1995); Breslin/Rubin, Negotiation Theory and Practice (1993); Raiffa/Richardson/Metcalfe, Negotiation Analysis (2002). Die aktuelle Forschung zusammenfassend: Bazerman, Negotiation, Decision Making and Conflict Management 141
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windung des Positionsdenkens und das Herausarbeiten der dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen der Parteien, die vergleichsfördernde Wirkung eines Informationszuwachses durch Perspektivwechsel, das Durchbrechen des auf Nullsummenspiele hin orientierten Denkens und die gezielte gemeinsame Suche nach wertschöpfenden Kooperationsgewinnen und paretooptimalen win-win-Lösungen, das Ersetzen der kontradiktorischen durch eine kooperative, problemlösungsorientierte Verhandlungsmentalität, das Erkennen von Wahrnehmungsbarrieren und die Schaffung von gegenseitigem Vertrauen als notwendiger Grundlage erfolgreicher Vergleichsverhandlungen und schließlich der Einsatz von Einzelgesprächen (caucus) sind Strategien des Mediators, die letztlich auf ein Ziel hin ausgerichtet sind: die Parteien zu einer informierten, eigenverantwortlichen Entscheidung über die Lösung ihres Konfliktes zu befähigen.144 Dem Mediator steht dabei das gesamte Spektrum möglicher ADR-Instrumente zur Verfügung, etwa die Prozessrisikoanalyse145, aus der Kommunikationspsychologie bekannte Techniken des aktiven Zuhörens (active listening)146 oder die Szenarioanalyse147. Auch kann er entsprechend den Besonderheiten des jeweiligen Konfliktes entweder eine eher aktive (evaluative mediation) oder eine eher passive (facilitative mediation) Rolle einnehmen und sich so entweder selbst an der Erarbeitung von Lösungsvorschlägen wertend beteiligen oder sich unter Verzicht auf eigene Vorschläge oder Bewertungen darauf beschränken, die Einigungsbemühungen der Parteien fördernd
(2005); Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005); Moffitt/Bordone, The Handbook of Dispute Resolution (2005); Thompson, Negotiator (4. Aufl. 2009); Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012). Aus dem deutschen Schrifttum: Breidenbach, Mediation (1995); Haft/Schlieffen, Handbuch Mediation (2009); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009); Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011). 144 Diese Grundsätze des interessenorientierten Verhandelns gehen maßgeblich auf das von Roger Fisher, William Ury und Bruce Patton am PON (Program on Negotiation) der Harvard Law School entwickelte sog. Harvard-Konzept zurück, das für ADR-Forschung wie Praxis bis heute prägend ist, vgl. Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991). Vgl. aus dem deutschen Schrifttum hierzu Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 24 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 58 ff. 145 Eidenmüller, ZZP 113 (2000), 5; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 99 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 243 ff. 146 Hierzu näher Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 335 ff. sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 117 ff. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 147 f. 147 Eingehend Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 99 ff., 107 f. sowie Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 180 f.
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zu unterstützen.148 Aus der dienenden und unterstützenden Funktion des Mediators ergibt sich auch seine Verpflichtung zu absoluter Neutralität gegenüber den Parteien.149 Aus dem Neutralitätsgebot und dem Wesen der Mediation als originär privatautonomen Verfahren folgen zugleich aber auch die Grenzen der vermittelnden Tätigkeit des Mediators.150 So ist es dem Mediator ausdrücklich und ausnahmslos verwehrt, die Parteien zu einem von ihm als sinnvoll erachteten materiellen Ergebnis zu drängen, seine Stellung auszunutzen, um einer der beiden Parteien vertrauliche Informationen zu beschaffen oder durch massiven Einigungsdruck und eigene Bewertungen in der Sache die Parteien an einer privatautonomen Einigung zu den von ihnen gewünschten Bedingungen zu hindern.151 Eine solche Überschreitung des Rahmens rein vermittelnder Tätigkeit und ein Eingreifen in die nur den Parteien oder einem Richter zustehende Sachentscheidung ist mit der unterstützenden Rolle des Mediators nicht vereinbar. Aus der Perspektive der Institutionenlehre Fullers liegen in seinem solchen Fall eine Rollenvermischung (role confusion) sowie eine Verletzung des Prinzips der Verfahrensintegrität vor, die schon deshalb unzulässig sind, weil sie der inneren Moral (inner morality), dem Wesen des jeweiligen Verfahrens diametral widerspricht.152 Versucht der Mediator gegen den erkennbaren oder sogar erklärten Willen der Parteien ein bestimmtes Ergebnis durchzusetzen, so maßt er sich die Befugnisse eines Richters und damit eine usurpierte Stellung an, die weder mit seiner Rolle noch mit dem Wesen des Mediationsverfahrens insgesamt vereinbar ist. Im Kern geht es dann letztlich um richtende Tätigkeit im vermittelnden Gewand, um die Beilegung des Konfliktes mit einem vom Mediator gewünschten Ergebnis, das ohne wesentliche Mitwirkung der Par-
148 Zu den unterschiedlichen Mediationsmodellen nach dem Riskin-Grid eingehend unten S. 309 ff., zur Rolle des Mediators in der vertragsautonomen und der gerichtsverbundenen Mediation unten S. 360 ff., 408 ff. sowie die Nachweise oben S. 131, Fn. 142. 149 Eingehend hierzu unten S. 479 mwN. 150 Vgl. hierzu und zu den Möglichkeiten der verfahrensrechtlichen Absicherung des Neutralitätsgebotes die Untersuchung von Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 95 ff. 151 Zur Problematik des Einigungsdrucks insbesondere durch Güterichter im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme eingehend unten S. 417 ff., 576 ff., 605 ff. 152 Vgl. Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 26 (1963): „What, then, are the objections to an arbitrator’s undertaking mediative efforts after the hearing and before rendering the award, … ? Again, the objection lies essentially in the confusion of role that results. In seeking a settlement the arbitrator turned mediator quite properly learns things that should have no bearing on his decision as an arbitrator.” Zur Problematik des unzulässigen Einigungsdrucks vgl. bereits oben, S. 132 sowie unten S. 417 ff., 576 ff., 605 ff.
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teien und entgegen ihrem Willen zustande gekommen ist und von ihnen lediglich formal autorisiert und in Form eines Vergleichs schriftlich fixiert wird.153 Es handelt sich dabei letztlich um ein „Urteil in Vergleichsform“154, was deshalb problematisch ist, weil ein derartiger Vergleich den Parteien die sonst gegen Urteile zur Verfügung stehende Möglichkeit der Anfechtung durch Rechtsmittel abschneidet.155 Die im Rahmen der Institutionalisierungsdebatte in den USA erhobenen Bedenken, dass gerichtsverbundene Mediationsprogramme die Grundprinzipien der Privatautonomie und der informierten Entscheidung gefährden, hat in ebendieser Überschreitung der Grenzen zulässigen Handelns des Mediators seinen Ursprung.156 Mit den hier angesprochenen Sonderproblemen des Einigungsdrucks, der möglichen Rollenkonflikte bei der Mediation durch Richter und der Abgrenzung der Mediation von Vergleichsbemühungen im Rahmen der richterlichen Güteverhandlung nach § 278 Abs. 2 ZPO werden wir uns im Zusammenhang mit den zu entwickelnden Grundsätzen des Rollenverständnisses des Mediators in gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen eingehend befassen.157 5. Verfahrensgegenstand a) Streitgegenstand des Zivilprozesses Die sich aus dem Wesen der beiden Verfahren ergebende Entscheidungsstruktur bestimmt den Verfahrensgegenstand. Da dem auch gegen den Willen der einzelnen Parteien entscheidenden Richter der Rückgriff auf kooperative Einigungsstrategien und damit auf die hinter dem Konflikt stehenden Parteiinteressen versagt bleibt, kann der Konflikt im Zivilprozess nur auf der Grundlage materieller Rechtsansprüche beigelegt werden. Gegenstand des Zivilprozesses sind Rechtsansprüche und damit nur ein begrenzter Ausschnitt aus der Vielzahl
153 Exemplarisch für die Problematik ist der reale Fall des Abschlusses eines gerichtlichen Vergleiches aufgrund der Drohung seitens eines der Richter, vgl. BGH NJW 1966, 2399, 2400: „Während solche Hinweise des Gerichts berechtigt und in vielen Fällen für die Parteien erwünscht sind, sollte hier der Hinweis des Vorsitzenden auf ein – angeblich – bindendes Beratungsergebnis dazu dienen, den bereits eindeutig geäußerten, auf Ablehnung des Vergleichsvorschlags gerichteten Willen des Beklagten zu beugen, m.a.W. einen Zwang auf seine Entschließung auszuüben.“ Kritisch zu einem solchen „Ersatzurteil“, einem „Urteil in Vergleichsform“ auch Stürner, DRiZ 1976, 202, 204; Stürner, JR 1979, 133, 136. Eingehend hierzu unten S. 417 ff., 576 ff., 605 ff. 154 So plastisch Stürner, JR 1979, 133, 136. Ähnlich Stürner, DRiZ 1976, 202, 204 („Ersatzurteil“). 155 Zu diesem Gesichtspunkt auch BGH NJW 1966, 2399, 2400. 156 Vgl. hierzu eingehend oben S. 2 (Fn. 6), S. 46, 123 (Fn. 109). 157 Zum Problem des Einigungsdrucks eingehend unten S. 417 ff., 576 ff., 605 ff.
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der vorhandenen Konfliktdimensionen.158 Wie wir im Rahmen unserer Untersuchung des Zivilprozesses aus der Perspektive der Rechtstheorie bereits gesehen haben,159 erfordert richtende Streitbeilegung die Umwandlung des Sachkonfliktes in einen Rechtsfall durch komplexitätsreduzierende Verrechtlichung. Relevant ist im Rahmen des Zivilprozesses nur, was entscheidungserheblich und damit subsumierbar ist. Der Konflikt in seiner Genese, seiner Komplexität und in der Vielfalt seiner verschiedenen sachlichen, rechtlichen, wirtschaftlichen, emotionalen und sogar gesellschaftlichen Dimensionen wird im Zivilprozess nur in seinem rechtlichen Kern erfasst.160 Diese Komplexitätsreduzierung durch Verrechtlichung ist entsprechend der Eigenlogik des Zivilprozesses als rationalem Entscheidungsverfahren notwendig, um den Konflikt überhaupt verarbeiten zu können. Der Zivilprozess agiert nach der Eigenart der von Galtung beschriebenen „Maschine“, in deren Trichter der Konflikt durch Kodierung eingespeist und so rechtlich handhabbar wird.161 Das gerichtliche Verfahren ist aufgrund seiner systemimmanenten Beschränkungen jedoch weder von seinen Strukturmerkmalen noch von seinem Wesen her zu einer umfassenden Behandlung des Konfliktes geeignet.162 Die Folgen der Verrechtlichung des Konfliktstoffes – selektive Realitätswahrnehmung, eine unscharfe, typisierende Erfassung des Konfliktes mit der Folge nur unzureichend passender Rechtsfolgen, die Fixierung in Positionsdenken und die Strukturierung des Verfahrens als Nullsummenspiel, das nur Gewinner oder Verlierer kennt, sowie die Blockierung von Kooperationsgewinnen durch die binäre Struktur gerichtlicher Alles-oder-Nichts-Entscheidungen – verhindern einen Ausgleich der
158 Die im Schrifttum äußerst umstrittene Frage der begrifflichen Bestimmung des Streitgegenstandes ist für das hier zu diskutierende Problem der Verformung des mehrdimensionalen Konfliktstoffes durch das Recht nicht relevant, da eine gerichtliche Streitentscheidung durch Urteil unabhängig von dem vertretenen Streitgegenstandsbegriff immer Rechtsqualität aufweist, also eine Zuerkennung geltend gemachter Rechtsansprüche oder die Feststellung eines Rechtsverhältnisses umfasst. Vgl. dazu auch Gottwald/Strempel, Streitschlichtung (1995), S. 11 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 43 f.; Hagen/Lenz, Wirtschaftsmediation (2008), S. 6. 159 Vgl. oben S. 9 ff. 160 Das Mediationsverfahren kann je nach den in Anspruch genommenen Wertvorstellungen und dem jeweiligen Menschenbild zur Realisierung unterschiedlicher Zielvorstellungen mobilisiert werden und damit auch unterschiedliche Konfliktebenen betreffen. Zu den möglichen Zielen der Mediation (Service-Delivery, Access to Justice, Individual Autonomy, Reconciliation, Social Transformation) vgl. ausführlich Breidenbach, Mediation (1995), S. 204 ff., 213 ff. sowie eingehend unten S. 158 ff., 558 ff. 161 Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 124 ff., 134 f., 137 ff. Vgl. auch Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 115 sowie oben S. 12 ff. 162 Dazu ausführlich oben S. 12 ff.
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Parteiinteressen und dürften wesentlich für die Entfremdungserfahrungen der Parteien im Zivilprozess verantwortlich sein.163 b) Streitbehandlungsgegenstand der Mediation Im Mediationsverfahren sind diese den Zivilprozess bestimmenden Beschränkungen auf eine rein rechtliche Bewältigung des Konfliktes dagegen aufgehoben. Gegenstand der Mediation ist der Konflikt in der Gesamtheit seiner Sachdimensionen, seines Kontextes, seiner Genese aber auch seiner Auswirkungen auf die Zukunft.164 Die Konfliktbehandlung ist nicht mehr nur – wie im Zivilprozess – auf die Zu- oder Aberkennung gesetzlich vordefinierter Rechtsansprüche beschränkt, sondern geht über den engeren zivilprozessualen Streitgegenstand hinaus und kann die hinter den geltend gemachten Positionen stehenden Interessen, Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche der Parteien einbeziehen. Das Recht wird als die Beziehung zwischen den Parteien wesentlich formende Grundordnung dabei nicht bedeutungslos.165 Die Mediation erfolgt stets im Schatten des Rechts166 und mündet, vor allem im Bereich der Wirtschaftsmediation, in der Regel in einer rechtlich verbindlichen Vergleichsvereinbarung. Das Recht ist neben den Interessen allerdings nur eines von mehreren möglichen Einigungskriterien. Dieser gegenüber dem Zivilprozess sehr weite „Streitbehandlungsgegenstand“167 der Mediation ergibt sich letztlich aus dem Wesen der Mediation als originär privatautonomem Verfahren und den mit kooperativen Einigungsstrategien verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten, die nicht auf die vom positiven Recht vorgesehenen Ansprüche beschränkt sind, sondern den Konflikt in seiner Mehrdimensionalität erfassen und seine Bewältigung in die eigenverantwortliche und thematisch nicht beschränkte Verfügungsmacht der Parteien stellen.
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Zur Problematik der Entfremdungserfahrungen in Zivilprozessen Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 27 ff.; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 464; Hagen/Lenz, Wirtschaftsmediation (2008), S. 5. 164 Vgl. nur Breidenbach, Mediation (1995), S. 316 f.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 43. 165 Zum Verhältnis der Mediation zu Recht (S. 149 ff.), Gerechtigkeit (S. 167 ff.), materiellem (S. 276 ff.) und Verfahrensrecht (S. 428 ff.) vgl. eingehend unten. 166 Zum Begriff Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). 167 Der Begriff geht auf Breidenbach, Mediation (1995), S. 36 ff. zurück, der ihm den Streitentscheidungsgegenstand gegenüberstellt. Zustimmend Prütting, in: Breidenbach/Henssler (Hrsg.), Mediation für Juristen (1997), S. 57, 72; Althammer, JZ 2006, 69, 75. Ähnlich, jedoch mit abweichender Terminologie („Problembewältigungsgegenstand“) Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421, 425.
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6. Verfahren a) Verfahrensstruktur der Mediation Die Einleitung des Mediationsverfahrens erfolgt grundsätzlich freiwillig durch gegenseitige Absprache der Parteien im Rahmen einer Mediationsvereinbarung, so dass jede Partei auf die Mitwirkung der jeweils anderen angewiesen ist. Daneben kann die Durchführung einer Mediation als zwingendes Vorverfahren zu einem nachfolgenden Zivilprozess jedoch auch gesetzlich vorgesehen168 oder – wie dies etwa im Rahmen US-amerikanischer Mediationsprogramme oder bei der Verweisung an den Güterichter nach § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO der Fall ist169 – vom Gericht verbindlich angeordnet werden.170 Da der Konflikt im Mediationsverfahren nicht von einem unbeteiligten Dritten, sondern von den Parteien selbst beigelegt wird, entfällt die Notwendigkeit einer rein formal-rationalen Entscheidung nach generell-abstrakten Rechtskriterien. Die Parteien sind nicht auf sich antagonistisch gegenüberstehende kontradiktorische Rollen als Prozessgegner beschränkt, sondern vielmehr auf gegenseitige Kooperation angewiesen, um zu einer Einigung zu gelangen. Dadurch steht ihnen das gesamte Instrumentarium kooperativer Einigungsstrategien zur Verfügung, um auf der Grundlage der gegenseitigen Interessen und einer erneuerten Beziehung zueinander den Konflikt eigenverantwortlich beizulegen.171 Verfahrensmäßige Voraussetzung hierfür ist die Vertraulichkeit der Einigungsverhandlungen, die im Mediationsverfahren als wesentliches Verfahrensprinzip garantiert wird.172 Denn nur dann, wenn die Parteien darauf ver-
168 Eine solche ADR-Pflicht, wie sie etwa § 15a EGZPO für das freilich weitgehend rechtsförmige Schlichtungsverfahren vorsieht, steht nicht im Widerspruch zur Privatautonomie des Mediationsverfahrens, da zwischen der Freiwilligkeit der Einigung und der – nicht zwingend erforderlichen – Freiwilligkeit der Teilnahme an der Mediation zu unterscheiden ist. Vgl. zu den Einzelheiten unten S. 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff., 814 sowie die Nachweise oben S. 122, Fn. 100. 169 Vgl. hierzu näher oben S. 38 und die Nachweise ebenda bei Fn. 118. 170 Vgl. hierzu eingehend unten S. 514 ff. 171 Zu den auf der Grundlage der Erkenntnisse der interdisziplinären ADR-Forschung entwickelten Strategien zur Überwindung von Einigungshindernissen vgl. oben S. 131 ff. Hierzu auch Susskind/McKearnan/Thomas-Larmer (Hrsg.), The Consensus Building Handbook (1999), S. 61 ff., 137 ff., 325 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 71 ff.; Menkel-Meadow, Mediation (2001), S. 37 ff., 157 ff.; Alfini/Press/Sternlight/Stulberg, Mediation Theory and Practice (2. Aufl. 2006), S. 107 ff. 172 Zur Vertraulichkeitsproblematik eingehend: Hilber, Die Sicherung der Vertraulichkeit des Mediationsverfahrens (2006); Cremer, Die Vertraulichkeit der Mediation (2007); Oldenbruch, Die Vertraulichkeit im Mediationsverfahren (2006); Beck, Mediation und
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trauen können, dass die von ihnen offenbarten Informationen über ihre tatsächlichen Interessen, ihre Motive und Erwartungen nicht nach außen getragen, ausgenutzt und etwa zu ihrem Nachteil in einem folgenden Gerichtsverfahren verwendet werden, entsteht jene vertrauensvolle Verhandlungsatmosphäre, die für die von Fuller als Wesen der Mediation beschriebene „Orientierung der Parteien aufeinander hin“ und die gemeinsame Suche nach Einigungsoptionen notwendig ist.173 Vertraulichkeitsschutz in der Mediation ist damit kein Selbstzweck, sondern steht im Dienst der Sicherung der Grundlagen kooperativen Handelns und leitet sich damit in letzter Konsequenz aus dem Wesen der Mediation als Forderung der Privatautonomie her. Im deutschen Recht174 ergibt sich der als personenbezogenes Schutzkonzept175 ausgestaltete allgemeine zivilrechtliche Vertraulichkeitsschutz des Mediationsverfahrens in Form eines Zeugnisverweigerungsrechts des Mediators aus § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm.
Vertraulichkeit (2009); Hartmann, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1087, 1108 jeweils mwN. Vgl. hierzu auch eingehend unten S. 477 ff. 173 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). Hierzu oben S. 124 f. So auch Eidenmüller, in: Breidenbach/Coester-Waltjen/Hess u.a. (Hrsg.), Konsensuale Streitbeilegung (2001), S. 45, 64; Hager, ZKM 2003, 52, 55; Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2740. Im USamerikanischen Schrifttum ist die konstitutive Notwendigkeit der Vertraulichkeit für eine erfolgreiche Durchführung des Mediationsverfahrens dagegen vereinzelt mit Hinweis auf fehlende empirische Nachweise bezweifelt worden, vgl. nur Hughes, 5 Disp. Resol. Mag. 14, 16 (1998). Für die Notwendigkeit eines umfassenden Vertraulichkeitsschutzes dagegen die ganz h.M., vgl. nur Deason, 54 U. Kan. L. Rev. 1387, 1387 f. (2006) („The need for confidentiality in mediation is almost axiomatic in the United States …“). Eingehend zum Vertraulichkeitsschutz in der Mediation unten S. 477 ff. 174 Vgl. zur Rechtslage in den USA auch die ergiebige US-amerikanische Diskussion, die über Fragen der reinen Implementierung hinausgeht und den Umfang des Vertraulichkeitschutzes vor dem Hintergrund kollidierender Schutzgüter in den Blick nimmt. Vgl. grundlegend: Gibson, 1992 J. Disp. Resol. 25, 41 f. (1992); Kirtley, 1995 J. Disp. Resol. 1, 52 ff. (1995); Deason, 17 Ohio St. J. on Disp. Resol. 239, 319 (2002); Cole, 54 U. Kan. L. Rev. 1419, 1484 (2006); Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 247 ff. Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken und für eine Beschränkung des Vertraulichkeitsschutzes zugunsten einer gerichtlichen Kontrolle verfahrensrechtlicher Garantien: Miller, 105 Harv. L. Rev. 427, 501 ff. (1992); Leatherbury/Cover, 46 S.M.U. L. Rev. 2221, 2234 (1993); Weston, 8 Harv. Negot. L. Rev. 29, 78 f. (2003). Zum Spannungsverhältnis mit möglichen Offenbarungspflichten: Kentra, 1997 B.Y.U. L. Rev. 715 (1997); Williams, 2005 J. Disp. Resol. 209, 225 (2005). Zu den weitreichenden Kollisionen mit dem geltenden USVertragsrecht vgl. nur Robinson, 2003 J. Disp. Resol. 135, 173 (2003). 175 Zur Kritik an dem zu kurz greifenden auf den Mediator beschränkten personenbezogenen Schutzkonzept und für ein an Sec. 4-6 UMA bzw. Art. 9 UNCITRAL Model Law on International Commercial Conciliation orientiertes gegenstandbezogenes Schutzkonzept plädierend: Duve/Prause, IDR 2004, 126, 131; Eidenmüller, SchiedsVZ 2005, 124, 127 f.; Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2741.
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§ 4 S. 1 MedG176 bzw. bei Anwaltsmediatoren zusätzlich aus § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm. § 43a Abs. 2 S. 1 BRAO, § 18 BORA. Durch Art. 7 der europäischen Mediationsrichtlinie177 ist der Vertraulichkeitsschutz innerhalb der europäischen Union im Sinne eines Aussageverweigerungsrechts des Mediators und seiner Hilfspersonen harmonisiert.178 Aus der Natur der Mediation als privatautonomem Verfahren ergeben sich auch die zentralen Strukturprinzipien der Verfahrensherrschaft der Parteien und der Flexibilität des Verfahrens.179 Anders als im Zivilprozess, in dem die Parteien zwar formal Herren des Verfahrens sind, ihre Verfahrensherrschaft aber ausschließlich im Rahmen der verfahrensrechtlich zulässigen Prozesshandlungen ausüben können, sind die Parteien in der Gestaltung des Mediationsverfahrens grundsätzlich frei und damit auch tatsächlich domini litis. Beschränkt wird ihre prozessuale Gestaltungsmacht allein von den Erfordernissen der Zweckmäßigkeit und jenen Grundsätzen, die sich auf der Grundlage der Erkenntnisse der Verhandlungsforschung und der praktischen Erfahrungen mit dem Mediationsverfahren herausgebildet haben.180 In der Praxis wird daher in
176 Vor Inkrafttreten des MedG am 26.7.2012 war die Begründung eines Zeugnisverweigerungsrechts des Mediators heftig umstritten. Überwiegend wurde es aus § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO hergeleitet und damit begründet, dass dem dauerhaft und damit nicht nur gelegentlich tätigen Mediator unabhängig von seinem Quellberuf jedenfalls kraft seines „Gewerbes“ Tatsachen anvertraut sind, deren Geheimhaltung der Verkehrssitte entspricht und somit „durch ihre Natur“ geboten ist. So die damals überwiegende Ansicht. Vgl. nur Mähler/Mähler, ZKM 2001, 4, 7; Eckardt/Dendorfer, MDR 2001, 786, 789; Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2741; Wagner/Thole, ZKM 2008, 36; Hartmann, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1087, 1108 ff., 1110. Nach anderer Ansicht bestand nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO kein Zeugnisverweigerungsrecht des Mediators, sofern er nicht zu den dort erfassten Personengruppen – etwa Rechtsanwälte – gehört. Ablehnend daher Musielak/Huber, ZPO (9. Aufl. 2012), § 383 Rn. 6; MünchKomm/Damrau, ZPO (4. Aufl. 2012), § 383 Rn. 39; Groth/v. Bubnoff, NJW 2001, 338, 339 f.; Wagner, NJW 2001, 1398, 1398; Duve/Prause, IDR 2004, 126, 130; Bercher, IDR 2005, 169, 170. Mit Inkrafttreten des MedG am 26.7.2012 hat sich der Streit erledigt, da der Mediator gem. § 4 S. 1 MedG nun kraft Gesetzes zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Vgl. zur aktuellen Rechtslage nur MünchKomm/Damrau, ZPO (5. Aufl. 2016), § 383 Rn. 39; Musielak/Voit/Huber, ZPO (13. Aufl. 2016), § 383 Rn. 6; Saenger/Siebert, ZPO (7. Aufl. 2017), § 383 Rn. 11; Zöller/Greger (31. Aufl. 2016), § 383 Rn. 20; 177 Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivilund Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3. 178 Hierzu Duve, BB 2000, Beilage 7 zu Heft 46/2002, 6; Duve/Prause, IDR 2004, 126; Eidenmüller, SchiedsVZ 2005, 124; Mayr/Weber, ZfRV 2007, 163; Wagner/Thole, ZKM 2008, 36. 179 Vgl. hierzu eingehend unten S. 459 ff., 478 ff. 180 Daher ist das Unvermögen der Parteien, ihre Einigungsbarrieren privatautonom zu überwinden, Quelle der Autorität und Legitimation des Mediators, vgl. Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 315 (1971) und oben, S. 109.
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der Regel der Mediator mit Zustimmung der Parteien die Verfahrensleitung übernehmen (process control) und eine als bewährt erwiesene Vorgehensweise und Verfahrensstruktur vorschlagen, jedoch mit der alleinigen Zweckrichtung, den Parteien eine möglichst effektive Sachentscheidung (substance control) zu ermöglichen.181 Die Befugnis des Mediators zur Verfahrensleitung ist damit eine Befugnis kraft Delegation, die jederzeit widerrufen werden kann und damit allein im Dienst der Privatautonomie steht. Dagegen verfügt der Richter im Zivilprozess über eine originäre, nicht nur abgeleitete, gesetzliche Handlungsbefugnis kraft hoheitlicher Bestellung, die sowohl das Recht der Verfahrensleitung als auch die Befugnis zur Sachentscheidung umfasst (process and substance control). Im Gegensatz zum Zivilprozess, in dem die Sachentscheidung vom Richter getroffen wird und die Parteien regelmäßig von Anwälten vertreten werden, ermöglicht das Mediationsverfahren den Parteien einen hohen Grad an Partizipation.182 Diese ist sogar als Konsequenz aus der Natur der Mediation als Instrument eigenverantwortlicher Selbstregulierung von Konflikten in der Regel erforderlich, da der Mediator auf die persönliche Mitwirkung der Parteien bei der Herausarbeitung ihrer Interessen notwendig angewiesen ist. Dies schließt indes nicht die Beteiligung von Anwälten aus, die jedoch gegenüber den Parteien eine grundsätzlich nachgeordnete und beratende Rolle einnehmen und nicht wie im Zivilprozess als Hauptakteure in Erscheinung treten. Das Maß der Parteipartizipation ist dabei abhängig von der Art des zu behandelnden
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Zur Abgrenzung von „Prozessverantwortung“ und „Ergebnisverantwortung“ vgl. Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 80 ff. Mit abweichender Terminologie („Garantie des Verfahrensrahmens“, „Garant für die Prinzipien der Mediation“ vs. Entscheidungen über den „Streitgegenstand“) Kracht, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 267, 279 ff., 284 ff. Vgl. auch Menkel-Meadow, Mediation (2001), S. 91 („In mediation, the parties retain control over the dispute and its outcome“); Kovach, Mediation (3. Aufl. 2004), S. 46 („The parties are responsible for the content; the mediator is responsible for the process“); Moore, The Mediation Process (3. Aufl. 2003), S. 18 (the parties retain ultimate control of the outcome.“). Aus dem Wesen der Mediation als privatautonomem Verfahren folgt, dass dem Mediator zwar Verfahrensleitungs-, jedoch keine Sachentscheidungsbefugnis zukommt. In welchem Umfang er berechtigt ist, an der Erarbeitung der Einigungsentscheidung der Parteien mitzuwirken, ist Gegenstand intensiver Diskussion, vgl. dazu bereits oben S. 131, Fn. 142. Allerdings darf der Mediator im Rahmen der zulässigen Rechts- und Fairnesskontrolle ausnahmsweise auch in die Sachentscheidung der Parteien eingreifen, vgl. hierzu eingehend unten S. 355 f., 362 f., 372, 376 f., 382, 569 sowie zur Möglichkeit der Inhaltskontrolle des abgeschlossenen Mediationsvergleichs durch den Mediator oben S. 93 f. und unten S. 199, 356, 368, 381, 413. Anschaulich zur Problematik auch Mähler/Mähler, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 9, 25: „Er [der Mediator] verkörpert den Prozess.“ Hervorhebung durch den Verfasser. 182 So auch Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 15. Vgl. dazu oben S. 27 ff.
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Konflikts und wird bei einer Familienmediation größer sein als bei der Mediation von Wirtschaftskonflikten zwischen Unternehmen. Die auf eine weitgehende Mitwirkung der Parteien ausgerichtete Interaktionsstruktur des Mediationsverfahrens prägt zugleich die Kommunikation der Beteiligten. Während die Parteien im Zivilprozess in der Regel nicht mehr miteinander, sondern mit dem Richter als Adressaten nur noch übereinander kommunizieren, wird in der Mediation die direkte Kommunikation zwischen den Parteien wieder aufgenommen, und oft ist es die erste direkte Kommunikation zwischen den zerstrittenen Parteien seit langem. In seinen umfassenden Partizipationsmöglichkeiten für die Parteien, die als Ausdruck der Privatautonomie des Verfahrens prägendes Strukturmerkmal der Mediation sind, dürfte auch die Ursache für die empirisch nachgewiesene183 hohe Akzeptanz des Mediationsverfahrens liegen.184 In der Gesamtschau wird deutlich, dass die Mediation nicht nur kooperatives Verhalten erfordert, sondern – den entsprechenden Willen der Parteien und einen gewissen Grad an Offenheit vorausgesetzt –185 nahezu zwangsläufig ein kooperatives Verhalten der Parteien zueinander zur Folge hat. Die Struktur des Mediationsverfahrens, in dem die Parteien fortwährend auf eine gegenseitige Mitwirkung angewiesen sind, prägt ihr Konfliktverhalten in nachhaltiger Weise.186 Es verändert dadurch, dass die Parteien ihre Binnensicht verlassen und den Konflikt auch aus der Perspektive ihres Konfliktgegners betrachten, ihre dem Konflikt zugrunde liegenden Einstellungen und führt sie zu einer – bislang oft nur rudimentär vorhandenen – Erkenntnis ihrer eigenen Interessen und der Interessen der anderen Partei. Durch die Überwindung des Nullsummenmythos (zero sum bias)187 entdecken die Parteien die im Konflikt ruhenden Möglichkeiten zur Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne (winwin-Lösungen) und erfassen so die in der versöhnenden Wiederherstellung ihrer Beziehung angelegten Einigungsmöglichkeiten jenseits rein kontradiktorischer Streitentscheidung. Aus den der Mediation eigenen Verfahrensqualitäten und den daraus folgenden kooperationsfördernden Verfahrenswirkungen ergibt 183 Vgl. die empirische Untersuchung von Greger, Abschlussbericht (2007), S. 38, 98, 117, 171 im Rahmen der Begleitforschung zum bayrischen Modellprojekt Güterichter. 184 Vgl. hierfür die anekdotische Zusammenstellung der Bewertungen des Güterichterverfahrens durch die Parteien in Greger, Abschlussbericht (2007), S. 172 ff. 185 Die Begleitforschung zum bayrischen Modellversuch Güterichter hat gezeigt, dass seitens der Parteien zwar anfangs oft Vorbehalte gegenüber der Mediation bestehen, zugleich jedoch hohe Einigungsquoten erzielt werden, sofern eine Mediation tatsächlich (nach erteilter Zustimmung) durchgeführt wurde, Greger, Abschlussbericht (2007), S. 102 mwN. 186 Zu dem durch das Mediationsverfahren in Gang gesetzten Lern- und Transformationsprozess vgl. unten S. 567 f., 664 f., 782 f. 187 Die Realität des sog. Nullsummenmythos konnte durch empirische Studien nachgewiesen werden: Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 102, 116 ff. (1990). Vgl. zur Problematik der Nullsummenspiele auch oben S. 17, Fn. 59.
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sich der bereits angesprochene methodische Vorrang der Mediation gegenüber der Verhandlung und dem Zivilprozess.188 b) Verfahrensstruktur des Zivilprozesses Der Zivilprozess wird dagegen durch die Klage einer Partei eingeleitet, die damit ihren verfassungsrechtlich gewährleisteten Justizgewährungsanspruch realisiert und hierzu nicht mehr auf die Mitwirkung des Anspruchsgegners angewiesen ist. Im Gegensatz zur Mediation ist das zivilprozessuale Verfahren weitgehend formalisiert. Ein Handeln der Parteien ist nur in den vorgeprägten kontradiktorischen Rollen von Kläger und Beklagtem möglich. Diese dem gerichtlichen Verfahren eigenen Strukturmerkmale beeinflussen entscheidend das Konfliktverhalten der Parteien, dessen Wirkmechanismus wir im Rahmen der rechtstheoretischen Untersuchung des Gerichtsverfahrens diskutiert haben und den wir zum besseren Verständnis in seinen Grundzügen in den Zusammenhang unserer synoptischen Betrachtung stellen wollen.189 Das Fixieren der Parteien in antagonistischen Rollenbildern prägt, wie wir gesehen haben, das Parteiverhalten hin zu aggressiven Handlungsmustern, verleiht den Parteien einen „Freibrief für Gegnerschaft“190 und führt, bedingt durch die Eigengesetzlichkeit des Verfahrens, unweigerlich zur Eskalation, die mit der Erhebung der Klageschrift als „Fehdebrief“ bereits eingeleitet worden ist.191 Die Parteien werden durch die jeweils auf Konsistenz und Kontinuität gerichteten Rollenerwartungen auf ein aggressives Rollenbild verpflichtet, das durch die kontrafaktische Stabilisierung von Erwartungen zementiert wird.192 Eine Rückkehr in die Rolle des Problemlösers ist ihnen jedenfalls ohne Gesichtsverlust kaum noch möglich. Durch die Thematisierung des Rechts werden sie mit der Möglichkeit des Im-Unrecht-Seins konfrontiert und zum Widerspruch herausgefordert.193 Das Verfahren eskaliert, der Handlungsspielraum der Parteien wird mit zunehmendem Fortgang des Konfliktes trichterförmig verengt, es wird ein point of no return überschritten und der Streit endet schließlich, wie Goffman gezeigt hat, in einem character contest, bei dem es kaum noch um den eigentlichen Konflikt, sondern nur noch darum geht, aus dem ausgetragenen Metakonflikt als Sieger hervorzugehen.194 188 So auch Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32, 41 (2006); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 600 (2007). Vgl. zum Mediationsprimat oben S. 110 ff. und unten S. 729 ff., 735 ff., 740 ff. 189 Vgl. eingehend zu der Problematik oben S. 24 ff. mwN. 190 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 103. 191 So plastisch Greger, JZ 1997, 1077, 1078. 192 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 57 f. 193 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 59. 194 Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff. Vgl. dazu auch Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58.
II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse
181
Kennzeichnend für das durch kontradiktorischen Rollenzwang vorgeprägte Verfahren ist ein hoher Grad an Professionalisierung, der mit einer entsprechend geringen Partizipation der Parteien einhergeht.195 Die Austragung des Rechtsstreits liegt in der Regel in den Händen von Anwälten, da die Parteien mit der Bewältigung des für sie fremden, hochformalisierten Verfahrens überfordert sind. Die Kommunikation erfolgt in einer für die Parteien nicht mehr ohne weiteres verständlichen juristischen Sondersprache nach den formalisierten Vorgaben des Verfahrensrechts.196 Da der zulässige Inhalt der Kommunikation durch die Thematisierung des Rechts auf subsumierbare, entscheidungserhebliche Aspekte des Konfliktes beschränkt ist, bleiben die Parteien mit ihren Interessen und Bedürfnissen und damit letztlich mit dem, was sie im Kern bewegt, ungehört. Sie werden vom Gericht nunmehr lediglich als Informationsträger, nicht als zur privatautonomen Sachentscheidung berufene Subjekte betrachtet, so dass ihnen eine substantielle und autonome Mitwirkung an der Sachentscheidung versagt bleibt.197 An die Stelle der direkten Kommunikation zwischen den Parteien, wie sie im Mediationsverfahren üblich ist, tritt der durch Anwälte vermittelte dreiseitige Austausch über den Richter als „Relais“198. 7. Verfahrensergebnis a) Struktur und Wirkung des zivilprozessualen Urteils Das Ergebnis des Verfahrens wird durch die Struktur des Entscheidungsmechanismus geprägt. Entsprechend seines kontradiktorischen und auf Rechtsfragen beschränkten Charakters mündet der Zivilprozess in ein verbindliches, richterliches Urteil, das aufgrund der binären Struktur des Rechts notwendigerweise in Form einer weitgehend vorhersehbaren Alles-oder-Nichts-Entscheidung ergeht.199 Mit der Klagerücknahme (§ 269 ZPO), dem Anerkenntnis (§ 307 ZPO), dem Verzicht (§ 306 ZPO), der beiderseitige Erledigterklärung (§ 91a ZPO) oder dem Prozessvergleich (§ 779 BGB) stehen den Parteien
195
Hierzu eingehend oben S. 27 ff. Röhl, SchlHA 1979, 134, 140; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 15; Falke/Gessner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 305. 197 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 109. 198 Dazu oben S. 28 f. 199 Zur Problematik des teilweisen Obsiegens und Unterliegens vgl. eingehend oben S. 18. Die Vorhersehbarkeit als typisches Charakteristikum gerichtlicher Entscheidungen wird vor dem Hintergrund einer zunehmenden Kasuistik jedoch immer häufiger infrage gestellt, vgl. nur Hagen/Lenz, Wirtschaftsmediation (2008), S. 11; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 16 f. („überbordende[n] Kasuistik“). 196
182
§ 2 Mediation und Zivilprozess
weitere verfahrensbeendigende Handlungen zur Verfügung, die für unsere Untersuchung außer Betracht bleiben sollen, da der Zivilprozess nicht auf diese außerordentlichen Beendigungsformen, sondern auf das Urteil als idealtypischem Ergebnis des gerichtlichen Verfahrens ausgerichtet ist (§ 300 Abs. 1 ZPO). Das Verfahrensergebnis ist damit spieltheoretisch auf ein Nullsummenspiel festgelegt, die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne (winwin-Lösungen) ist nicht möglich.200 An die Stelle einer auf die Interessen der Parteien zugeschnittenen Einzelfalllösung tritt im common law die näherungsweise Lösung des einschlägigen Präzedenzfalls, im civil law die vom Gesetzgeber ex ante festgelegte schablonenhafte Rechtsfolge eines zuvor abstrahierten typischen Sachverhalts.201 Die Verarbeitungskapazität eines in dieser Weise auf das Auffinden zuvor katalogisierter Lösungen beschränkten Konfliktlösungsmechanismus ist indes begrenzt. Polyzentrische Konflikte202 sind im Zivilprozess kaum noch beherrschbar, und auch Konflikte in Dauerbeziehungen können aufgrund der Retrospektivität des gerichtlichen Urteils im gerichtlichen Verfahren nur unzureichend bewältigt werden.203 Der auf die Bewertung vergangenen Verhaltens und die Zuweisung von Recht und Unrecht ausgerichtete Mechanismus des gerichtlichen Urteils ist zur Entwicklung planerischer oder gestalterischer Lösungen kaum geeignet. Den Parteien wird eine Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit aufgedrängt, die den Weg zu einer selbstbestimmten Gestaltung einer vom Vergangenen unbelasteten Beziehung verstellt.204 Durch die Thematisierung des Rechts entziehen sich die Parteien einer inhaltlichen Auseinandersetzung und schneiden den Einigungsprozess unter Berufung auf den neutralen Mechanismus des Zivilprozesses und die Entscheidung einer mit Autorität ausgestatteten höheren Instanz ab.205 Die Ursache des Konflikts wird nicht behandelt, sondern in einen stellvertretenden Metakonflikt und damit in ein Problem des Gewinners und Verlierers transformiert. Das Verfahrensergebnis ist damit jedenfalls für den Prozessverlierer unbefriedigend und stellt für die Beziehung der Parteien eine zusätzliche Belastung dar.
200 Röhl, SchlHA 1979, 134, 137; Haft, FS Söllner (2000), S. 391, 397; Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 20. 201 So auch Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 48. 202 Grundlegend Polanyi, The Logic of Liberty (1951), S. 170 ff. und Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 394 (1978). Vgl. hierzu oben S. 21 f. 203 Vgl. hierzu oben S. 20, 22 f. mwN. 204 So Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 16 f. 205 So treffend Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 62 f.
II. Mediation und Zivilprozess: Eine Strukturanalyse
183
Das Urteil kann darüber hinaus zur Quelle weiterer Konflikte werden und hat per se eine eskalierende Wirkung.206 Denn mit ihrem ganzen oder teilweisen Unterliegen wird die betroffene Partei in ihrer Erwartung auf einen für sie positiven Ausgang des Zivilprozesses enttäuscht.207 Der Verlierer wird als Konsequenz aus der Übernahme der kontrafaktisch stabilisierten Parteirolle im Zivilprozess durch soziale Isolation als Rechtsverletzer jedoch dazu motiviert, die im öffentlichen Verfahren getroffene und rational nachvollziehbare Entscheidung hinzunehmen.208 Seine Niederlage wird ihm selbst zugerechnet, er bleibt mit seinem Protest allein und ist auf den Rechtsweg und die Möglichkeit des passiven Aufbegehrens durch Befolgungsverweigerung als einziger noch verbliebener Form des Widerstandes angewiesen.209 Eine gesichtswahrende Einigung ist ihm – abgesehen vom Prozessvergleich – im Urteilsverfahren verwehrt, da der Zivilprozess den Parteien mit aller Schärfe ein Normurteil über Recht und Unrecht ihres Handelns zuweist und letztlich in einer Entscheidung über Sieg oder Niederlage mündet.210 Die gegenüber Vergleichen deutlich geringere Akzeptanz und Befolgungsrate gerichtlicher Urteile dürfte in dieser für die unterliegende Partei als unbefriedigend und belastend empfundenen Position des Verlierers ihren Ursprung haben.211 b) Struktur und Wirkungen des Mediationsvergleichs Das Mediationsverfahren endet mit einer zunächst rechtlich noch nicht verbindlichen Einigung, die jedoch von den Parteien regelmäßig in die verpflichtende Form des Mediationsvergleichs gebracht wird. Eine Ausnahme bilden sogenannte transformative Mediationen, in denen die versöhnende Wiederherstellung der Beziehung zwischen den Parteien als zentrales und – das unterscheidet sie von anderen Mediationsformen – unmittelbares und grundsätzlich ausschließliches Ziel im Vordergrund des Verfahrens steht.212 Die Einigungslösung ist dabei flexibel und auf den jeweiligen Einzelfall sowie auf die Interessen der Parteien zugeschnitten und wird von beiden Parteien regelmäßig als Ergebnis gemeinsamer, eigenverantwortlicher Einigungsbemühungen akzeptiert.213 Da die Parteien bei der Entwicklung der Lösung nicht an die binären 206
Vgl. dazu oben S. 22 ff. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 85, 87, 134. 208 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 85, 117, 123. 209 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 85, 117, 123. 210 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 108 f. 211 Für den empirischen Nachweis der gegenüber Mediationsvergleichen geringeren Befolgungsrate gerichtlicher Urteile vgl. bereits oben S. 29, Fn. 135. 212 Grundlegend Bush/Folger, 13 M.Q. 263 (1996); Bush/Folger, The Promise of Mediation (2. Aufl. 2005). Vgl. dazu oben S. 125, Fn. 114 213 Zur Akzeptanz der gemeinsamen Einigungsentscheidung als Grundlage für eine nachhaltige und dauerhafte Beilegung des Konfliktes vgl. unten S. 192 ff. 207
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§ 2 Mediation und Zivilprozess
Vorgaben der vom Gesetzgeber vorgesehenen Rechtsfolgen gebunden sind und lediglich den rechtlichen Rahmen des zwingenden Rechts beachten müssen, ist die wertschöpfende Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne (winwin-Lösungen) ebenso möglich wie Paketlösungen oder Einigungen, die nichtrechtliche Elemente, wie etwa eine Entschuldigung214, enthalten. Da Mediationslösungen in der Regel als Ergebnis aus einer neu geordneten Beziehung der Parteien hervorgehen und sie damit die von Fuller als Wesen der Mediation postulierte „Neuorientierung der Parteien aufeinander hin“215 voraussetzen, sind sie in ihrer Wirkung beziehungsschonend und entsprechend ihrer Struktur auf Versöhnung und die Schaffung gegenseitigen Vertrauens ausgerichtet.216 Sie wirken prospektiv, gestaltend in die Zukunft hinein und eignen sich deshalb besonders für die Ordnung von Dauerbeziehungen und die Lösung polyzentrischer Konflikte217. Im Rahmen eines Mediationsverfahrens entwickelte Lösungen sind als Ergebnis selbstbestimmter, problemorientierter Einigung regelmäßig geprägt von einer hohen Zufriedenheit und Akzeptanz der Parteien und einer entsprechend hohen Befolgungsrate. 218 Sie bedürfen daher kaum der Durchsetzung im Wege der Zwangsvollstreckung und führen in der Regel zu einer nachhaltigen, dauerhaften und schonenden Beilegung des Konfliktes.
III. Mediation und Zivilprozess: Einheit in der Komplementarität Zusammenfassend lässt sich das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess als wechselseitiges Spannungsverhältnis struktureller Komplementarität beschreiben. Beide Verfahren sind durch gegensätzliche, sich ergänzende Strukturmerkmale geprägt: Das informale, flexible, privatautonome, kooperative und an Interessen orientierte Mediationsverfahren steht dem formalen, inflexiblen, heteronomen, kontradiktorischen und an Rechtsansprüchen orientierten Zivilprozess gegenüber. In der Praxis kommt es freilich häufig zu Überschneidungen und Vermischungen der einzelnen Strukturmerkmale, so etwa bei den an Kompromisslösungen orientierten richterlichen Billigkeitsentscheidungen oder den materiell oft dem zu erwartenden Urteil entsprechenden Prozessvergleichen. In ihrem Kern lassen sich beide Verfahrensarten indes stets auf die Antinomie der untersuchten idealtypischen Charakteristika zurückführen. 214
Hierzu Levi, 72 N.Y.U. L. Rev. 1165 (1997); Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 153 ff. 215 Diese Neuorientierung muss von den Parteien nicht intendiert sein, tritt jedoch regelmäßig als Folge des Mediationsverfahrens – freilich in unterschiedlicher Intensität – ein. 216 Hierzu eingehend unten S. 462 ff., 471 ff., 569 ff. 217 Vgl. oben S. 21 f. 218 Zum empirischen Befund vgl. oben S. 29, Fn. 135.
III. Mediation und Zivilprozess: Einheit in der Komplementarität
185
Verfahrensstruktur und -ziele Mediation
Zivilprozess
Sachentscheidung Entscheidungsbefugnis
Parteien privatautonom selbstbestimmte Einigung
Dritter heteronom fremdbestimmte Entscheidung
Rolle des Dritten
Vermittlung
Entscheidung
Entscheidungsgrundlage Interessen
Rechte
Bezug zur Gesellschaft
individuelle Interessen nur Binnenwirkung
individuelle & soziale Interessen Leitbildfunktion
Entscheidungsprinzip
privatautonomer Konsens kooperativ
hoheitliche Drittentscheidung kontradiktorisch
Verfahrensgegenstand alle Konfliktebenen Konfliktausschnitt Interessen, Rechte, Rechte Beziehung
186
§ 2 Mediation und Zivilprozess
Verfahren Verfahrenseinleitung
freiwillig oder verbindlich
verbindlich
Vertraulichkeit
vertraulich
öffentlich
Flexibilität
informal
formal
Verfahrensherrschaft
Parteien
Parteien
Verfahrensleitung
Dritter
Dritter
Parteipartizipation
hoch
gering
Komunikationspartner
primär: primär: Parteien – Parteien Parteien – Gericht sekundär: sekundär: Parteien – Mediator Parteien – Parteien
Kommunikationsinhalt
primär: primär: Parteien – Parteien Parteien – Gericht sekundär: sekundär: Parteien – Mediator Parteien – Parteien Verfahrensergebnis nicht bindend flexible Einzelfalllösung prospektiv win-win-Lösungen Vertrauen hohe Zufriedenheit aller Parteien versöhnend hohe Befolgungsrate beziehungserhaltend deskalierend
bindend typisierte Binärentscheidung retrospektiv win-lose-Lösungen rechtliches Gehör Enttäuschung des Prozessverlierers konfrontativ geringe Befolgungsrate beziehungsschädigend eskalierend
Tabelle 2: Mediation und Zivilprozess: Vergleichende Strukturanalyse Das Spannungsverhältnis zwischen den strukturellen Eigenschaften beider Verfahren entspringt der Polarität ihres Wesens als Instrumente interessenori-
III. Mediation und Zivilprozess: Einheit in der Komplementarität
187
entierter Selbst- und normorientierter Fremdsteuerung im Sinne der erweiterten Institutionenlehre Lon L. Fullers219 bzw. als Erscheinungsformen informalmaterieller und formal-rationaler Rationalität im Sinne Max Webers.220 Folgen wir dieser Spur und versuchen, zum Kern, zum Urbild (είδος) der beiden Verfahren vorzudringen, so stoßen wir auf die Dichotomie von Formalität und Informalität, die wir bereits im Spannungsverhältnis von Mediation und Zivilprozess eingehend untersucht haben. Aus dieser Perspektive erscheinen Mediation und Zivilprozess als prozessuale Erscheinungsformen der Prinzipien des Formalen und des Informalen, zwischen denen das Recht im Lauf seiner Geschichte oszilliert und die je nach Epoche unterschiedliche Formen angenommen haben.221 Sie treten uns materiell gegenüber in den Gegensätzen von ius honorarium und ius civile, equity und common law, strengem und billigem Recht, prozessual in der Antinomie von transactio und sententia des römischen Rechts, von Minne und Recht des Mittelalters und von Vergleich und Urteil des modernen Rechts. Die Schwäche des einen bildet die Stärke des anderen Verfahrens: Wo der Maßstab eines von den Parteien ausgehandelten Vergleichs in inhaltlicher Beliebigkeit aufzugehen droht, verschafft der Zivilprozess mit seiner klaren Zuweisung von Recht und Unrecht der Rechtsordnung und dem Anspruch normativer Gerechtigkeit Geltung. Wo der Zivilprozess aufgrund des binären Schematismus starrer Vorgaben des Gesetzes zu nicht interessengerechten oder sogar zu unbilligen Ergebnissen führt, vermag die auf den Fall zugeschnittene Verhandlungslösung die Härte des Gesetzes zu mildern. Es sind gerade die systemimmanenten Schwächen gerichtlicher Streitbeilegung, die durch die Mediation gleichsam idealtypisch ausgeglichen werden. Dort, wo das gerichtliche Verfahren versagt, setzt die Mediation an. Wo die Mediation an der fehlenden Einigungsbereitschaft der anderen Partei scheitert, verhilft das Gericht der nach Gerechtigkeit suchenden Partei zu ihrem Recht. Beide Verfahren verhal-
219
Fuller hat die Begriffe der Selbst- und Fremdsteuerung in dieser Klarheit in seiner Institutionenlehre nicht verwendet, so wie er auch, der anglo-amerikanischen Rechtstradition entsprechend, eher fallorientiert induktiv als abstrakt deduktiv gearbeitet hat. Die hier verwendete Terminologie trifft jedoch den Kern, wenn Fuller zum Schiedsverfahren schreibt: „The morality of arbitration lies in a decision according to the law of the contract.“ und zum Mediationsverfahren feststellt: „The morality of mediation lies in optimum settlement, a settlement in which each party gives up what he values less, in return for what he values more.” Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 (1963). Vgl. auch Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971): „ … the central quality of mediation, namely, its capacity to reorient the parties toward each other …”. 220 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396 ff., 504 ff. Hierzu eingehend oben S. 34 ff. 221 So bereits Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 397 (1906). Vgl. auch Merry, 100 Harv. L. Rev. 2057, 2068 (1987); Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 40; Sternlight, 56 DePaul L. Rev. 569 (2007).
188
§ 2 Mediation und Zivilprozess
ten sich zueinander wie Schlüssel und Schloss: Sie fügen sich nahtlos ineinander, und nur zusammen vermögen sie den gordischen Knoten des Konfliktes zu lösen, den zu zerschlagen weder der Zivilprozess noch die Mediation allein jemals imstande wäre.
IV. Zusammenfassung Ausgehend von den in den vorangegangenen Abschnitten entwickelten theoretischen Grundlagen der alternativen Streitbeilegung wurden Mediation und Zivilprozess als idealtypische Verfahren der autonomen und heteronomen Regulierung von Konflikten untersucht. Ziel ist dabei die Erarbeitung der dogmatischen Grundlagen einer einheitlichen Konfliktbehandlungslehre. Hierfür wurde zunächst eine Typologie der Verfahren der alternativen Streitbeilegung entwickelt (I.), um sodann die Strukturprinzipien der Mediation und des Zivilprozesses in ihrem wechselseitigen Spannungsverhältnis herauszuarbeiten (II.). Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildete Lon L. Fullers Institutionenlehre, die in einem eigenen Ansatz entsprechend des hergeleiteten Primats des Mediationsverfahrens weiterentwickelt wurde. In einem dritten Schritt wurden sodann die Ergebnisse der Untersuchung in einer Synopse gegenübergestellt und ihre Stellung zueinander unter Rückgriff auf den herausgearbeiteten Wesenskern der Verfahren näher bestimmt (III.). 1. Der Begriff der alternativen Streitbeilegung umfasst alle zur Konfliktbeilegung bestimmten Verfahren mit Ausnahme des Zivilprozesses. Sämtliche Verfahren der Streitbeilegung einschließlich des Zivilprozesses lassen sich auf die Trias der drei idealtypischen Primärverfahren der Verhandlung, Mediation und der autoritativen Drittentscheidung bzw. auf das Verhandeln, Vermitteln und Richten zurückführen. Differenzierungskriterium ist dabei der Grad der Privatautonomie bei der Entscheidungsfindung. 2. Ideengeschichtlich war die Trias der Primärverfahren der Konfliktlösung bereits in der Antike bekannt und taucht bei den Naturrechtlern Pufendorf und Grotius als Trias von Freundschaftsgespräch (colloquium), Vergleich (compromissum) und Los (fors) wieder auf. In der Gegenwart wurde der Gedanke von Frank E.A. Sander auf der Grundlage der Vorarbeiten der Legal Process School und vor allem von der Institutionenlehre Lon L. Fullers aufgegriffen und zum Konzept des Multi-Door Courthouse weiterentwickelt. Aus der Kombination dieser drei Verfahrenstypen und ihrer wesentlichen Strukturprinzipien sind die hybriden ADR-Verfahren wie z.B. Med-Arb, Arb-Med und Neg-ArbVerfahren hervorgegangen. Die Trias der Primärverfahren ergibt ein in sich geschlossenes System aller idealtypisch denkbaren Formen der Konfliktbehandlung. Selbstbestimmung und Formalität des Verfahrens stehen dabei im Verhältnis umgekehrter Proportionalität. 3. Lon L. Fullers Institutionenlehre als System des prozeduralen Naturrechts unterscheidet mit den Verfahren der Gesetzgebung (legislation), des Gerichtsverfahrens (adjudication), des exekutiven Verwaltungshandelns (administrative direction), der Mediation (mediation) und des Vertrages (contractual
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§ 2 Mediation und Zivilprozess
agreement) fünf Primärverfahren der gesellschaftlichen Ordnung (Verfahrenspluralismus), die sich für den Bereich der Konfliktlösung auf die entwickelte Verfahrenstrias zurückführen lassen. Jedes dieser Verfahren besitzt seine eigene innere Struktur (design) und sein eigenes Wesen (morality), die in ihrer Integrität zu bewahren sind (Prinzip der strukturellen Integrität). Eine Kombination der Strukturprinzipien einzelner Verfahrensarten oder eine Vermischung der jeweiligen Rollen der Beteiligten ist daher grundsätzlich ausgeschlossen. Hybride Verfahren bleiben jedoch insoweit möglich, als eine Vermischung der Rollen (role confusion) vermieden wird. Jedes der primären Verfahren ist aufgrund seiner Eigenschaften zur Lösung bestimmter Fälle besonders geeignet, doch ist in der Rechtspraxis eine Fokussierung auf den Zivilprozess als „Königsweg“1 der Streitbeilegung festzustellen, die erst durch die ADR-Bewegung des 20. Jahrhunderts durchbrochen worden ist. Fullers Lehre von den Institutionen gesellschaftlicher Steuerung bildet den dogmatischen Ausgangspunkt zur Entwicklung einer die Institutionalisierung der alternativen Streitbeilegung begleitenden allgemeinen Konfliktbehandlungslehre. 4. Das Wesen der Mediation wird durch die Kernprinzipien der Privatautonomie, der Kooperation, der Orientierung an den Parteiinteressen, der Beziehungsorientierung, der Vertraulichkeit, der Informalität des Verfahrens und der Vermittlung durch einen neutralen Dritten, das Wesen des Zivilprozesses durch die komplementären Prinzipien der Heteronomie, der kontradiktorischen Entscheidungsstruktur, der Orientierung an Rechtsansprüchen, der Ergebnisorientierung, der Öffentlichkeit und Formalität des Verfahrens sowie der Entscheidung durch einen neutralen Dritten bestimmt. 5. Das Mediationsverfahren ist triadisch strukturiert, wobei dem zur Neutralität verpflichteten Mediator eine die privatautonome Einigung der Parteien ermöglichende Rolle zukommt. Die Sachentscheidung wird von den Parteien konsensual und diskursiv auf der Grundlage ihrer Interessen getroffen, wobei auch Rechtsansprüche Berücksichtigung finden können, aber nicht müssen. Konfliktbehandlungsgegenstand des Mediationsverfahrens ist der Konflikt in der Gesamtheit seiner unterschiedlichen Dimensionen, wodurch Kooperationsgewinne und Paketlösungen möglich sind. Das Verfahren ist vertraulich und informal und von hoher Parteipartizipation geprägt und trägt zur Versöhnung der Parteien und zur Erhaltung ihrer Beziehung bei. Prospektivität, Flexibilität und eine hohe Akzeptanz prägen das Verfahrensergebnis. 6. Die Verfahrenseigenschaften des Zivilprozesses sind entsprechend komplementär. Der Zivilprozess ist wie das Mediationsverfahren triadisch strukturiert, doch liegt die Sachentscheidungsbefugnis hier beim Richter, der den Streit als Rechtsstreit auf der Grundlage der Rechtsansprüche der Parteien durch Hoheitsakt normativ entscheidet. Gegenstand des Verfahrens ist der
1
So plastisch Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5.
IV. Zusammenfassung
191
durch komplexitätsreduzierende Verrechtlichung auf seinen Rechtskern reduzierte Konflikt. Die Parteiinteressen finden nur in typisierter Form als Rechtsansprüche Berücksichtigung. Die binäre Struktur gerichtlicher Alles-oder Nichts-Entscheidungen als Nullsummenspiel schließt Kooperationsgewinne und Paketlösungen regelmäßig aus. Das Verfahren ist öffentlich, durch das Verfahrensrecht formalisiert und von geringer Partizipation der Parteien geprägt. Die bipolare Kommunikation der Parteien nach den Regeln der Alltags wird durch tripolaren, überwiegend durch Anwälte als professionelle Parteivertreter vermittelten Austausch über den Richter in einer juristischen Sondersprache ersetzt. Die Interaktion in kontradiktorischen Rollen trägt wesentlich zur weiteren Eskalation des Konfliktes bei und wirkt sich schädigend auf die Beziehung der Parteien aus. Retrospektivität, Inflexibilität und geringe Akzeptanz prägen regelmäßig das Urteil als ordentliches Verfahrensergebnis. 7. Das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess lässt sich als wechselseitiges Spannungsverhältnis struktureller Komplementarität beschreiben, das durch gegensätzliche, sich ergänzende Strukturmerkmale geprägt ist. Dieses Spannungsverhältnis entspringt der Polarität ihres Wesens als Instrumente interessenorientierter Selbst- und normorientierter Fremdsteuerung. Ideengeschichtlich handelt es sich um prozessuale, entsprechend der jeweiligen geschichtlichen Epoche sich wandelnde Erscheinungsformen der Prinzipien des Formalen und des Informalen. Beide Verfahren gleichen die jeweiligen Schwächen des anderen Verfahrens idealtypisch aus und fügen sich zu einem einheitlichen System der Konfliktlösung, das das gesamte Spektrum der idealtypisch denkbaren Möglichkeiten zur umfassenden Behandlung von Konflikten abdeckt.
§ 3 Mediation und Recht Nachdem wir das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess in seinen Strukturelementen vor dem Hintergrund der Institutionenlehre Lon L. Fullers näher untersucht haben, soll nun ein Problemfeld in den Blick genommen werden, das für das theoretische Verständnis wie für die Praxis der Mediation von grundlegender Bedeutung ist: die Beziehung der Mediation zum Recht. Dabei wollen wir zunächst das Verhältnis der Mediation zum Recht insgesamt näher betrachten (§ 3), um uns dann der Gerechtigkeit und ihrer Rolle als informalem, normativem Maßstab für das Mediationsverfahren zuzuwenden (§ 4). Anschließend wollen wir die Beziehung der Mediation zum materiellen Recht (§ 5) und zum Verfahrensrecht (§ 6) in den Blick nehmen, die vor allem im Kontext gerichtsverbundener Mediationsprogramme von besonderer Bedeutung ist, um uns so gerüstet schließlich den Grundsätzen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre zuzuwenden (§ 7). Das Spannungsverhältnis von Mediation und Recht, die Rolle des Rechts in der Mediation und die Konsequenzen dieser Rollenzuweisung für Recht, Gesellschaft und Justiz sind Gegenstand lebhafter Diskussion und noch weitgehend ungeklärt. Während die strukturelle Polarität zwischen interessenorientierter Mediation und rechtsorientiertem Zivilprozess einerseits eine deutliche Antinomie nahelegt (I.1.), spricht die vor allem in der Wirtschaftsmediation erkennbare Verschränkung interessen- und rechtsorientierter Aspekte andererseits für ein symbiotisches Kooperationsverhältnis beider Steuerungssysteme (I.2.). Um die sich hieraus ergebenden Fragen zu bestimmen und den Untersuchungsbereich näher einzugrenzen, wollen wir uns zunächst mit den durch die beiden Perspektiven jeweils aufgeworfenen Fragen eingehender befassen.
I. Antinomie von subjektivem Parteirecht und objektiver Rechtsordnung? 1. Mediation und materielles Recht können auf der einen Seite als sich polar gegenüberstehende und gegenseitig ausschließende Steuerungssysteme verstanden werden. In ihnen setzt sich die Antinomie in der Verfahrensstruktur, die im vorangegangenen Abschnitt herausgearbeitet wurde, materiell fort. Ebenso wie Mediations- und Gerichtsverfahren als prozedurale Ausprägungen der Prinzipien des Informalen und des Formalen von einem Verhältnis gegensätzlicher Komplementarität geprägt sind, beruhen auch die den beiden Verfahren zugrunde liegenden materiellen Ordnungssysteme auf sich gegenseitig ergänzenden Prämissen: Während das Urteil als Ergebnis des gerichtlichen
I. Antinomie von subjektivem Parteirecht und objektiver Rechtsordnung?
193
Entscheidungsverfahrens auf der Anwendung abstrakt-genereller Normen beruht, gründet sich der aus der Mediation erwachsende Vergleich auf den individuellen Interessen und Gerechtigkeitsmaßstäben der Parteien. An die Stelle des gerichtlichen Urteils, das sich auf das aus einem demokratisch legitimierten Verfahren hervorgegangene allgemeinverbindliche, positive Gesetzesrecht stützt, tritt in der Mediation der Vergleich als von den Parteien individuell ausgehandeltes und nur zwischen diesen geltendes Individualrecht. Dieses durch Mediation geschaffene System autonomer Ordnung tritt methodisch wie inhaltlich in eine Antithese zur gesetzten Rechtsordnung: Methodisch handelt es sich dabei nicht um formal-rationale, sondern informal-irrationale Normschöpfung im Sinne Max Webers.1 Statt monistisch und absolut ist es pluralistisch und relativ: Die Mediation kennt nicht die absolut geltende Norm, das eine richtige Ergebnis, die eindeutige Lösung des Konfliktes, sondern stattdessen – so ließe sich argumentieren – nur die individuellen Gerechtigkeitsvorstellungen der Parteien, die Pluralität „richtiger“ Ergebnisse, die Vielfalt möglicher Lösungen eines Konflikts. In der gerichtsverbundenen Mediation verdichten sich die Gegensätzlichkeiten beider Ordnungssysteme: Im Kontext des an abstrakt-generellen Rechtsnormen orientierten Zivilprozesses treten die Parteien aus dem auf ein gerichtliches Urteil gerichteten Entscheidungsverfahren heraus und in ein diskursives Verfahren ein, dessen Ergebnis von den Parteien autonom bestimmt wird.2 Mit der gerichtsverbundenen Mediation bietet die Justiz ein Verfahren an, das sich in seinem Ergebnis ausdrücklich nicht primär an der objektiven Rechtsordnung, sondern an den subjektiven Maßstäben und Gerechtigkeitskriterien der Parteien orientiert. In der Person des Güterichters läuft die Antinomie zwischen Mediation und Recht schließlich wie in einem Brennglas zusammen: Ein gem. Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebundener Amtsträger nimmt nicht nur als „Notar“ das Verhandlungsergebnis der Parteien als Prozessvergleich iSv. § 779 BGB, § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO entgegen, sondern ist als aktiver Konfliktmittler selbst an der Entstehung privatautonomen Individualrechts beteiligt. 2. Auf der anderen Seite kommt dem Recht in vermittelnden Verfahren, vor allem in der Wirtschaftsmediation, unbestreitbar eine Schlüsselrolle zu. Recht
1 Vgl. hierzu eingehend oben S. 34 f. und Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396 ff., 504 ff. Vgl. auch die deutliche Kritik von Spellbrink, DRiZ 2006, 88, 90 f. 2 Die Mediation erfolgt, wie wir im Folgenden sehen werden, freilich nie völlig autonom von der Rechtsordnung, in die sie eingebettet ist, sondern gleichsam im Schatten des Rechts. Vgl. hierzu unten S. 284 ff., 433 ff.
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§ 3 Mediation und Recht
und Mediation sind kein Gegensatz, die Mediation ist kein „unjuristisches Verfahren“3. Wenn das Ergebnis des Mediationsverfahrens materiell als Alternative zum Recht4, wenn die Mediation prozessual als Alternative zum Zivilprozess5 bezeichnet wird, dann bedeutet das nicht, dass das Recht in der Mediation bedeutungslos geworden wäre und die Parteien ausschließlich ihren von der objektiven Rechtsordnung losgelösten subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen folgen. Statt durch die Thematisierung und Dethematisierung von Recht unterscheidet sich die Mediation von der gerichtlichen Entscheidung vor allem in der Art und Weise, wie mit Recht umgegangen wird.6 Mediation findet nie in einem rechtlichen Vakuum, sondern stets im Schatten des Rechts statt. Mediation wird vom Recht überhaupt erst ermöglicht, sie ist zur Durchsetzung der aus ihr hervorgegangenen Vereinbarungen auf die objektive Rechtsordnung angewiesen, sie schöpft aus ihr und wird von ihr begrenzt. Aus der so gestalteten symbiotischen Beziehung zwischen Mediation und Recht ergeben sich die vier grundlegenden Funktionen des Rechts in der Mediation: (1) die konstituierende, (2) die durchsetzende, (3) die nährende und (4) die begrenzende Funktion.7 Diese Funktionen des Rechts sind mit Ausnahme der Abgrenzungsfunktion ganz überwiegend dienender Natur. Darin kommt die besondere Bedeutung der Privatautonomie als der selbstverantwortlichen Ordnung der eigenen Angelegenheiten im Gefüge der Rechtsordnung zum Ausdruck. 3. Das skizzierte Spannungsverhältnis zwischen subjektivem Parteirecht und objektiver Rechtsordnung bestimmt den Gang unserer Untersuchung. Die sich aus ihm ergebenden Fragen betreffen vier Problemkreise: (1) die Mediation, (2) das Recht, (3) die Justiz und (4) den Staat. (1) Mediation: Das von den Parteien im Wege der Verhandlung geschaffene Individualrecht konstituiert eine eigene normative Ordnung mit eigenen Maßstäben, ein eigenes „Recht“, das neben die objektive Rechtsordnung tritt. Welcher Qualität ist diese Ordnung und welche Maßstäbe und Gerechtigkeitskriterien gelten in ihr? Welche Rolle spielt das positive Recht in dieser Ordnung? In welchem Umfang legt es der Mediation Grenzen auf? Wie ist diese durch Parteirecht geschaffene Ordnung verfassungsrechtlich und inhaltlich zu bewerten?
3
So auch Risse, Wirtschaftsmediation (2003), S. 288; Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1055; Ripke, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 161, 162. 4 So etwa der Titel des Sammelbandes von Blankenburg/Klausa/Rottleuthner (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht (1980). 5 Vgl. nur statt vieler Prütting, JZ 1985, 261, 262. 6 Darauf weist insbesondere Haffke, in: Duss-von Werdt/Mähler/Mähler (Hrsg.), Mediation (1995), S. 65, 55 hin. 7 Vgl. zu den Funktionen des materiellen Rechts in der Mediation im Einzelnen unten S. 284 ff.
II. Das Grundproblem: Privatautonomie und positives Recht in der Mediation 195
(2) Recht: Welche Folgen hat umgekehrt die Etablierung autonomer normativer Ordnungen durch Mediation auf die Geltung und Autorität des positiven Rechts? Trägt sie zur Erosion des Rechts in der Gesellschaft oder vielmehr zu seiner stärkeren Durchdringung bei? Führt sie zu Werterelativismus und Normskepsis oder im Gegenteil zu einer umfassenderen Verwirklichung der dem Gesetzesrecht zugrunde liegenden Wertungen und höherer Akzeptanz? Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser diskursiv etablierten normativen Ordnung für den Rechtsschutz, die Privatautonomie und die Fairness? (3) Justiz: welchem Verhältnis steht die rechtsprechende Gewalt zu dieser aus der Mediation hervorgegangenen normativen Ordnung? Welche Konsequenzen ergeben sich für das Grundverständnis der Justiz und des Richteramtes, wenn die rechtsprechende Gewalt ein interessenbasiertes Verfahren als Justizdienstleistung anbietet, das sich grundsätzlich nicht zwingend an den Vorgaben der objektiven Rechtsordnung orientiert? Ist die Tätigkeit des Güterichters Rechtsprechung iSd. In Art. 20 Abs. 3 GG mit der Folge, dass er weiterhin der verfassungsmäßig gebotenen Bindung an Recht und Gesetz unterliegt? Wird der Rechtsgewährleistungsanspruch des Bürgers gegenüber der staatlichen Justiz ergänzt, so dass er die Unterstützung der Parteien in der konsensualen Beilegung ihrer Konflikte umfasst? Welche Auswirkungen haben vermittelnde Justizdienstleistungen auf die urteilende Tätigkeit der Justiz und in welcher Weise wird die Mediation selbst durch die Einbettung in das institutionelle Gefüge staatlicher Gerichte geformt? (4) Staat: Im kooperativen Staat treten Verhandlung und Mediation als Steuerungsmedien neben die Steuerung durch Recht. Können beide Steuerungsformen nebeneinander bestehen oder schließen sie sich auf Dauer aus? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen beiden Formen staatlicher Steuerung? Welche Auswirkungen hat die konsensuale Konfliktlösung auf Rechtsbewährung und Rechtsfortbildung? Führt sie zu einer normativen Ordnung, die neben der objektiven Rechtsordnung besteht, oder bleibt diese vom Prozess des Aushandelns unberührt?
II. Das Grundproblem: Privatautonomie und positives Recht in der Mediation Die aufgeworfenen Probleme lenken den Blick auf ein Spannungsverhältnis, das der Beziehung zwischen Mediation und Recht als Rahmen zugrunde liegt: das Verhältnis zwischen Privatautonomie und positivem Gesetzesrecht. Die Mediation als originär privatautonomes Verfahren hat Anteil an der verfassungsrechtlich geschützten Position der Privatautonomie im Gefüge des Ver-
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fassungsstaates als der selbstverantwortlichen Ordnung der eigenen Angelegenheiten. Deutlich wird diese Bedeutung in zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: „Auf der Grundlage der Privatautonomie, die Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung ist, gestalten die Vertragspartner ihre Rechtsbeziehungen eigenverantwortlich. Sie bestimmen selbst, wie ihre gegenläufigen Interessen angemessen auszugleichen sind und verfügen damit über ihre grundrechtlich geschützte Position ohne staatlichen Zwang. Der Staat hat die im Rahmen der Privatautonomie getroffenen Regelungen grundsätzlich zu respektieren.”8 „Führt sie [die außergerichtliche Streitbeilegung] zu Lösungen, die in der Rechtsordnung so nicht vorgesehen sind, die von den Betroffenen aber – wie ihr Konsens zeigt – als gerecht empfunden werden, dann deutet auch dies auf eine befriedende Bewältigung des Konflikts hin. Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.“9
Die eigenverantwortliche Beilegung von Konflikten durch Mediation als Instrument der Privatautonomie ist damit eine nach Art. 2 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich geschützte Position, der als solcher Vorrang vor einer richterlichen Streitentscheidung im Wege des Zivilprozesses zukommt. Der verfassungsrechtlich garantierte Vorrang der Privatautonomie vor der gerichtlichen Streitbeilegung korrespondiert auf diese Weise mit dem funktionellen Primat der Mediation gegenüber sämtlichen Verfahren im Kontinuum der Konfliktbeilegung, das wir bereits im Rahmen der Strukturanalyse von Mediation und Zivilprozess kennengelernt haben.10
III. Mediation als Verhandlungssystem: Konstituierung autonomer Ordnungen? Im Mediationsverfahren schöpfen die Parteien privatautonom ihr eigenes, individuelles „Partei-Vertragsrecht“. Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich dieses von den Parteien gesetzte Recht von dem formal-rationalen Recht der objektiven Rechtsordnung unterscheidet und in welchem Verhältnis es zum positiven Recht steht. Schließen sich Normen- und Verhandlungssystem gegenseitig aus oder können sie nebeneinander bestehen? Welcher Qualität ist die im Wege der Verhandlung konstituierte normative Ordnung und welche Maßstäbe gelten in ihr? Zusammengefasst: In welchem Verhältnis stehen Mediation und 8
BVerfGE 81, 242 = NJW 1990, 1469, 1470 (Handelsvertreter). BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 10 Vgl. oben S. 110, 135 ff. Dazu auch Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32, 41 (2006) („superior starting process“); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 600 (2007). 9
III. Mediation als Verhandlungssystem: Konstituierung autonomer Ordnungen? 197
Recht zueinander? Die aufgeworfenen Fragestellungen wollen wir im Folgenden ausgehend von der Bestimmung des der Mediation zugrunde liegenden Rechtsbegriffs eingehend untersuchen. 1. Der Begriff des Rechts Der Prozess privatautonomer Rechtsschöpfung ist zentraler Bestandteil des Mediationsverfahrens. Anders als im Zivilprozess geht es in der Mediation regelmäßig nicht darum, eine Übereinstimmung mit objektiven Rechtsnormen herbeizuführen, sondern vielmehr darum, die relevanten Normen überhaupt erst zu schaffen. Das Bewusstsein um die normschöpfende Natur der Mediation findet sich bereits bei Lon L. Fuller als frühem Vertreter der Legal Process School: „But mediation is commonly directed, not toward achieving conformity to norms, but toward the creation of the relevant norms themselves. … it is the mediational process that produces the structure.”11 Die Vorstellung, dass die Parteien ihr „Recht selbst setzen“, ist dabei keineswegs neu. Sie ist konstitutiver Bestandteil der Privatrechtsordnung und markiert rechtsgeschichtlich den Ausgangspunkt der Privatrechtsentwicklung sowohl im kontinentaleuropäischen als auch im anglo-amerikanischen Rechtskreis. Dennoch wird, anknüpfend an den Normschöpfungsakt der Parteien, die Mediation vermehrt mit einer „historischen Wende des Rechtsbegriffs“12 in Zusammenhang gebracht13, in dessen Kontext vereinzelt auch die „Notwendigkeit der Aufgabe des traditionellen Rechtsbegriffs“14 diskutiert, zumindest jedoch „ein anderes Recht“ gefordert wird.15 a) Materialisierung und Deregulierung Wolfgang Spellbrink sieht diese Wende in der bereits untersuchten16 Tendenz der Rematerialisierung des Rechts begründet, in einer Hinwendung von formal-rationalen zu materiell-irrationalen Normsystemen. Solche Normensysteme sind regelmäßig durch einen geringen Generalisierungsgrad und eine weitgehende Kasuistik geprägt, in denen die Streitentscheidung regelmäßig nicht aufgrund abstrakt-genereller Normen und Rechtsprinzipien, sondern jeweils für den Einzelfall aufgrund inhaltlicher, von den Parteien jeweils selbst
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Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 307 (1971). Hervorhebungen durch den Verfasser. Spellbrink, DRiZ 2006, 88, 90. 13 Vgl. nur Haffke, in: Duss-von Werdt/Mähler/Mähler (Hrsg.), Mediation (1995), S. 65, 108; Spellbrink, DRiZ 2006, 88, 90. Eingehend zur Problematik Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 40 ff., 57 ff. 14 So etwa Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 57 ff., 75, der die Frage indes letztlich verneint. 15 Haffke, in: Duss-von Werdt/Mähler/Mähler (Hrsg.), Mediation (1995), S. 65, 108. 16 Vgl. dazu oben S. 48 ff. 12
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definierter Kriterien getroffen wird, die nicht aus dem Rechtssystem selbst deduziert werden. Diese Hinwendung zu selbststeuernder, privatautonomer – und damit in Max Webers Terminologie materiell-irrationaler – Regulierung ist an sich allerdings noch kein hinreichender Grund, der die Annahme einer „historischen Wende des Rechtsbegriffs“ rechtfertigen würde. Sie bliebe Ausdruck der den Parteien zustehenden, üblichen privatautonomen Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse, die den Kern des Privatrechts seit jeher bestimmt, wenn sie sich nicht offensichtlich in Art und Qualität von den üblichen Formen privatautonomen Rechtshandelns der Parteien unterscheiden würde. Wie lässt sich nun die selbstverantwortliche Einigung der Parteien im Rahmen der Mediation von der übrigen privatrechtlichen Vertragsgestaltung abgrenzen? Für Spellbrink liegt der Unterschied weniger in der Art der Regulierung als in dem ihr zugrunde liegenden Verständnis der Rolle von Staat und Recht in der Gesellschaft. Spellbrinks Bedenken zielen damit offensichtlich weiter und sind auf eine Tendenz gerichtet, die für verschiedene Bereiche der Gesellschaft prägend geworden ist: Die Abwendung von der hoheitlichen Steuerung durch abstrakt-generelle Gesetze und die Hinwendung zu Formen kooperativer Selbstregulierung, wobei als Maßstab nicht die Wertungen der objektiven Rechtsordnung, sondern zunehmend die individuellen Interessen der Parteien zugrunde gelegt werden. Mit dem tiefgreifenden Wandel staatlichen Handelns, der in der Rechtssoziologie unter den Stichworten Mediatisierung und Prozeduralisierung, Materialisierung und Informalisierung, Deregulierung und Denormativierung, Refeudalisierung des Rechts, Abbau des Befehlsmodells des Rechts, kooperativer Staat sowie reflexives und autopoietisches Recht diskutiert wird17, haben wir uns bereits in den vorangegangenen Abschnitten eingehend befasst.18 Im Kern geht es damit um ein Phänomen, das von Klaus F. Röhl treffend als Auflösung des Rechts charakterisiert worden ist.19 Das damit angesprochene Problem der verbreiteten Distanzierung von Gesetzesrecht und Rechtsprechung gewinnt im Kontext des Mediationsverfahrens nun in besonderer Weise an Aktualität, wie ein Blick auf das Schrifttum deutlich macht. So heißt es etwa mit Blick auf die Bedeutung von „Recht und Gerechtigkeit in der Mediation“20: „Ziel ist es, eine ausgeglichene, im guten Sinn distanzierte Haltung zu Recht und Gesetz zu haben. In dieser Haltung das Recht und die Rechtsprechung den Medianden zur Verfügung
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Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 559 f. Vgl. oben S. 35 ff. 19 Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161. 20 So der Titel des Beitrags von Ripke, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 161 ff. 18
III. Mediation als Verhandlungssystem: Konstituierung autonomer Ordnungen? 199 zu stellen, mit allen Vor- und Nachteilen, und aus dieser Distanz die Autonomie der Klienten zu diesen Fragen zu unterstützen.“21
b) Historische Entwicklung Die in der modernen ADR-Bewegung erkennbare Skepsis gegenüber der Steuerungsfähigkeit des positiven Rechts und der Justiz ist rechtsgeschichtlich aus der Entstehung der Mediation im Kontext der gravierenden Missstände des USamerikanischen Rechts- und Justizsystems erklärbar, die zu einer tief verwurzelten Ablehnung des staatlichen Justizsystems in weiten Teilen der Bevölkerung führten und bereits früh die Suche nach Alternativen zur staatlichen Justiz begünstigten.22 Tatsächlich ist die moderne ADR-Bewegung aus den durch die Pound Conference 197623 angestoßenen Reformbemühungen des US-Justizsystems hervorgegangen, das bis heute zahlreiche der bereits 1906 von Roscoe Pound angemahnten Missstände24 nicht überwinden konnte. So ist die verbreitete Skepsis gegenüber dem positiven Recht und der Justiz zum einen eine notwendige Begleiterscheinung der Rezeption des Mediationsgedankens aus dem US-amerikanischen Rechtsraum. Zum anderen hat auch in Deutschland bereits früh25 unter den Stichworten des Zugangs zum Recht26, Alternativen in der Ziviljustiz27 bzw. alternative Rechtsformen und Alternativen zum
21 Ripke, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 161, 173. Hervorhebung durch den Verfasser. 22 Auf die gravierenden Missstände des US-amerikanischen Justizsystems hatte bereits 1906 der spätere Dekan der Harvard Law School Roscoe Pound in einem vielbeachteten Aufsatz hingewiesen, in dem er das Justizsystem als „archaic and our procedure behind the times“ charakterisiert hatte, Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 408 (1906). Diese Missstände bildeten die Ursache für weite Teile der Rechtsgemeinschaft, das staatliche Justizsystem so weit wie möglich zu meiden und eine Konfliktlösung außerhalb der Gerichte anzustreben: „Uncertainty, delay and expense, and above all the injustice of deciding cases upon points of practice, which are the mere etiquette of justice, direct results of the organization of our courts and the backwardness of our procedure, have created a deep-seated desire to keep out of court, right or wrong, on the part of every sensible business man in the community.“ Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 408 f. (1906). 23 Zur Pound Conference vgl. eingehend oben S. 9 ff. 24 Pound, 29 A.B.A. Rep. 395 (1906). 25 Vgl. nur Levin, DJZ 1912, 376; Levin, DJZ 1915, 870; Levin, Richterliche Prozeßleitung und Sitzungspolizei in Theorie und Praxis (1913), S. 201 ff.; Curtius, JW 1924, 354, 359; v. Hodenberg, JW 1924, 364; Heilberg, JW 1924, 361; Weber, DRiZ 1957, 236; Arndt, NJW 1967, 1585; Stürner, DRiZ 1976, 202; Wolf, ZZP 89 (1976), 260. 26 Vgl. hierzu den Sammelband Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen, Zugang zum Recht (1978). 27 Vgl. hierzu den Sammelband Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982) sowie den gleichnamigen Aufsatz von Strempel, JZ 1983, 596.
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Recht28 eine kritische Diskussion des kontradiktorischen und oft an den tatsächlichen Interessen der Parteien vorbeigehenden Streitentscheidungssystems durch staatliche Gerichte29 eingesetzt. Die kritische Distanz zum Gesetzesrecht und zur Justiz als Verwirklichungsinstrumentarium der objektiven Rechtsordnung ist nur zum Teil rezeptiert, zum Teil jedoch in unserer eigenen Rechtskultur verwurzelt. Worin äußert sich nun diese kritische Distanz und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Verhältnis zwischen objektivem Norm- und subjektivem Verhandlungssystem? c) Antinomie zwischen Normen- und Verhandlungssystemen? Spellbrink bringt, freilich vor allem auf die Mediation im öffentlichen Recht bezogen, die Bedenken auf den Punkt, wenn er kommentiert: „ … dass durch die Mediation ein anderes Recht (ein anderer Begriff des Rechts …) und eine andere Justiz (ein anderes Bild des Richters …) entstehen werden. … Die Mediation will ‚neues Recht‘ schaffen, eine als harmonisch und gut gesetzte ‚kommunitäre‘ Gemeinschaft der Nachbarn oder der Familien herstellen, in der der abstrakte und kalte Staat mit seinem gesetzten Recht nur gängelt und stört. … Der Diskussionsstrang Mediation reiht sich damit auch ein in ein grassierendes und medienbefeuertes Unbehagen an der Steuerung von Staat und Gesellschaft durch abstrakt-generelle Gesetze, die zu einer Überbürokratisierung und Gängelung der Gesellschaft geführt hätte.“30 Hinter diesen Zweifeln steht die Sorge, dass die „Autorität des Rechts“31 weiter an Geltung verlieren und der „Kult des Gesetzes“ durch den „Kult des Vertrages“32 ersetzt werden könnte.33 Im Gegensatz zum herkömmlichen 28
Vgl. hierzu den Sammelband Blankenburg/Klausa/Rottleuthner (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht (1980). 29 Vgl. zur jüngeren Diskussion um Alternativen zur Ziviljustiz im Anschluss an die vom Bundesministerium der Justiz 1981 initiierte gleichnamige Tagung: Blankenburg/Klausa/Rottleuthner (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht (1980); Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982); Gottwald/Hutmacher/Röhl/Strempel (Hrsg.), Der Prozeßvergleich (1983); Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981). 30 Spellbrink, DRiZ 2006, 88, 90. 31 Vgl. hierzu Eder, ZfRSoz 1987, 193, der indes in der prozeduralen Rationalität ein Mittel sieht, die Autorität des Rechts in der modernen Gesellschaft vor dem Hintergrund der Auflösung tradierter Rationalitätsunterstellungen wiederherzustellen und zu reproduzieren. 32 Ripke, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 161, 163. 33 Deutlich hierzu auch Stürner, DRiZ 1976, 202, 135: „Der fortlaufend geübte Kompromiß verschüttet das Empfinden selbst für unverzichtbare Verhaltensregeln und fordert so letztendlich die zwangsweise Durchsetzung von Normen geradezu heraus.“; Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1085 ff. (1984): „Their [the judges’] job is not to maximize the ends of private parties, nor simply to secure the peace, but to explicate and give force to the values embodied in authoritative texts such as the Constitution and statutes: to interpret those values and to
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rechtsgeschäftlichen Handeln der Parteien, das im Rahmen und in den Formen des Privatrechts erfolgt und in seiner Zielrichtung auf die objektive Rechtsordnung hin ausgerichtet ist, könnte eine Rechtskultur, in der die jeweils geltenden Normen unter ausdrücklicher Abkehr von dem als autoritär verstandenen System des objektiven Rechts jeweils individuell zwischen den Parteien ausgehandelt werden, dazu führen, dass die Verbindlichkeit und Akzeptanz des in einem demokratischen Verfahren staatlich gesetzten Rechts geschwächt und von den jeweiligen individuellen Vorstellungen der Parteien verdrängt wird. In diesem Sinne stellt auch Roman Köper die Frage, ob sich Normen- und Verhandlungssysteme „gegenseitig ausschließen, oder ob sie nebeneinander bestehen können.“34 Dass die Annahme einer derart radikalen Antinomie dem Wesen der Mediation nicht gerecht zu werden vermag, hat indes Bernhard Haffke herausgearbeitet, indem er auf die zentrale Rolle des Rechts im Mediationsverfahren hinweist: „Wer Autonomie der Parteien will und damit der Mediation im Rechtsstaat eine Er- und Überlebenschance eröffnen und sichern will, sollte sich deshalb nicht in eine falsche und verhängnisvolle Frontstellung gegen das Recht treiben lassen. Was wir deshalb nicht brauchen sind Alternativen zum Recht, sondern ein anderes Recht. Nicht im Schatten, sondern im Lichte des Rechts mögen die Parteien fair verhandeln und sich so die ihnen gemäßen, gerechten Lösungen ihrer Konflikte erarbeiten.“35 d) Private ordering als Modell Allerdings macht auch Haffke deutlich, dass dieses Recht „ein anderes Recht“36 ist, das dem „überholten, gerade bekämpften Verständnis von Recht als hoheitlichem Befehl“37 Befehlsmodells widerspricht. Gemeint ist damit indes kein neuer Rechtsbegriff, sondern ein gewandeltes Verständnis von der Rolle des Rechts in Staat und Gesellschaft und damit auch in der Mediation als Verfahren privatautonomer Konfliktlösung. Robert H. Mnookin und Lewis Kornhauser haben mit dem Begriff vom „Verhandeln im Schatten des Rechts“38 die Debatte
bring reality into accord with them. This duty is not discharged when the parties settle.”; Nolan-Haley, 74 Wash. U. L.Q. 47, 77 (1996): „it fails to protect public values, represents inferior justice for poor people, and forgoes several constitutional rights.“; Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 34 ff. (auf die Gefahr einer second hand justice hinweisend); Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 58 ff. (vor einer Veränderung des Rechtsbewussteins warnend). 34 Vgl. hierzu Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 41 ff., der indes ein Exklusivitätsverhältnis letztlich verneint. 35 Haffke, in: Duss-von Werdt/Mähler/Mähler (Hrsg.), Mediation (1995), S. 65, 108. 36 Haffke, in: Duss-von Werdt/Mähler/Mähler (Hrsg.), Mediation (1995), S. 65, 108. 37 Haffke, in: Duss-von Werdt/Mähler/Mähler (Hrsg.), Mediation (1995), S. 65, 68. 38 Mit ihrem einflussreichen Aufsatz Bargaining in the Shadow of the Law haben Mnookin und Kornhauser die Diskussion um das Verhältnis von privater Rechtsschöpfung und
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geprägt und so das Verhältnis von Verhandlung und Mediation zum materiellen Recht im Sinne einer eigenverantwortlichen Steuerung bzw. privater Rechtsschöpfung (private ordering)39 auf den Punkt gebracht. Danach besteht die primäre Funktion des Rechts nicht darin, den Parteien eine Regelung autoritativ aufzuerlegen, sondern vielmehr darin, einen Rechtsrahmen zur Verfügung zu stellen, innerhalb dessen die Parteien ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich regeln und zu einer rechtlich verbindlichen Einigung gelangen. Allerdings zieht sich der Staat auch im Bereich gesellschaftlicher Steuerung durch privatautonome Kooperation nicht vollständig zurück: das öffentliche Interesse an der Garantie eines angemessenen Verfahrensablaufs und die Gewährleistung eines fairen Ergebnisses bleiben von erheblicher Bedeutung.40 In welchem Umfang und innerhalb welcher Grenzen die Parteien zu privatautonomen Regelungen befugt sein sollen, welche verfahrensmäßigen materiellen Gewährleistungen zum Schutz unveräußerlicher Rechtspositionen der Parteien und öffentlicher Interessen erforderlich sind und welche Wirkungen das privatautonom geschaffene „Recht“ innerhalb der Rechtsordnung entfaltet, sind rechtspolitische Fragen, die vom Normgeber zu beantworten sind.41 Für unsere Untersuchung ist damit als Zwischenstand festzuhalten: Die Beziehung von Mediation und materiellem Recht folgt dem Spannungsverhältnis von Privatautonomie und Gesetzesrecht, das ihr zugrunde liegt. Die Mediation nimmt jedoch als eine der Erscheinungsformen privatautonomer Steuerung in der Gesellschaft am grundlegenden Wandel staatlichen Handelns von hoheitlich-autoritativen zu privatautonom-kooperativen Formen der Regulierung teil. Im Gegensatz zu herkömmlichen Formen privatautonomen, rechtsgeschäftlichen Handelns ist sie Ausdruck eines gewandelten Verständnisses von der Bedeutung des positiven Rechts für die privatautonome Gestaltung der Lebensverhältnisse. Dies führt für die Mediation indes nicht zu einem gewandelten Rechtsbegriff, einem „anderen Recht“, sondern zu einem neuen Verständnis von der Rolle des Gesetzesrechts in der Mediation und der Bedeutung privatautonomer Verfahren innerhalb des Rechtssystems. Wie dieses Verhältnis ausgestaltet ist, welche Konsequenzen sich daraus für die Rolle des Rechts in der Mediation im Einzelnen ergeben und in welcher Weise dieses Verständnis auf das Recht zurückwirkt, soll im Folgenden näher untersucht werden.
Gesetzesrecht in Verhandlungssystemen wesentlich mitbestimmt. Vgl. Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950 (1979). 39 Vgl. hierzu etwa Eisenberg, 89 Harv. L. Rev. 637 (1976). 40 Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 951 (1979). Zu Bedeutung und Inhalt der Verfahrensprinzipien in der Mediation vgl. eingehend unten S. 459 ff., 586 ff. 41 Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 950 f. (1979).
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2. Mediation und Gerechtigkeit Im Rahmen des Mediationsverfahrens gestalten die Parteien ihre gegenseitigen Beziehungen privatautonom auf der Grundlage der von ihnen selbst gesetzten individuellen Maßstäbe. Die auf diese Weise konstituierte normative Ordnung des von den Parteien geschaffenen Rechts folgt dabei nicht zwangsläufig den Normen oder den Wertungen der objektiven Rechtsordnung. Die von den Parteien vereinbarte Lösung ist regelmäßig Ausdruck eines eigenen, individuellen Wertungssystems, eines subjektiven Verständnisses von Gerechtigkeit, das für den Bereich des privatautonomen Parteihandelns die allgemeinen und objektiven Wertungen der Rechtsordnung verdrängt. Wie auch immer die Kriterien dieser individuellen Werteordnung ausgestaltet sind, ihnen liegt als Prämisse die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit, die Relativität möglicher Gerechtigkeitskriterien zugrunde.42 Das binäre, am Entweder/Oder orientierte Verständnis von Konflikten als Nullsummenspiel43 wird durch ein mehrdimensionales sowohl-als-auch ersetzt, das die Möglichkeit von gegenseitigen Kooperationsgewinnen einschließt. Diesen materiellen Prämissen trägt das Mediationsverfahren durch spezielle prozedurale Techniken Rechnung. Verfahrenselemente wie etwa die Prozessrisikoanalyse im Rahmen der Caucus-Mediation oder die Konfrontation mit den Motivationen und Bedürfnissen der anderen Partei im Rahmen der Konferenz-Mediation tragen dazu bei, die Parteien aufeinander hin auszurichten und ihnen auch die Perspektive der berechtigten Interessen der jeweils anderen Seite zu vermitteln. Durch sie werden die bereits von Fuller als Wesen der Mediation postulierte Transformation der Parteibeziehung und die Ausrichtung der Parteien aufeinander hin ermöglicht44, was die Konvergenz der jeweiligen eigenen Ansprüche und Maßstäbe bedingt. Es stellt sich allerdings die Frage, wie diese Maßstäbe konkret ausgestaltet sind.
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So auch Mähler/Mähler, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 9, 17, 19 f. Während ein solcher Werterelativismus im Kontext von Verteilungsproblemen, bei denen es um Fragen distributiver Gerechtigkeit geht, aufgrund der Bandbreite möglicher gerechter Lösungen wenig problematisch ist, stößt er im Rahmen von Wertkonflikten aufgrund der Unverfügbarkeit absoluter Werte auf erhebliche Probleme. Eine mögliche Lösung liegt hier in einer dem Konflikttyp entsprechenden Zuordnung der jeweils passenden Streitbeilegungsverfahren. Da in Wertkonflikten regelmäßig nur ein autoritativ herbeigeführtes binäres Ergebnis denkbar ist, würde eine Lösung vor allem in der Zuweisung solcher Konflikte in ein gerichtliches Verfahren bestehen. 43 Zum binären Schematismus des Rechts vgl. oben S. 20 ff. Zur Problematik der Nullsummenspiele vgl. oben S. 17, Fn. 59. 44 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971).Vgl. hierzu eingehend oben S. 124 f.
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a) Theorien und Ziele der Mediation Im Hinblick auf die Verfahrenseigenschaften wird dem interessenorientierten Mediationsverfahren regelmäßig der rechtsorientierte Zivilprozess gegenübergestellt. Die Dichotomie von Interessen und Rechten suggeriert, dass im Rahmen der Mediation die Parteiinteressen den entscheidenden normativen Maßstab für die Bestimmung des materiellen Ergebnisses bilden. Eine Beschränkung auf Interessen, auf die hinter den Rechtspositionen stehenden Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche der Parteien45 greift indes zu kurz, da mit ihnen zwar etwas über den Gegenstand einer Einigung und die Motivation eines Anspruchs, jedoch noch nichts über die Verteilung des Verhandlungsgegenstands oder die Qualität des Ergebnisses gesagt ist. Die Interessen der Parteien sind ein bedeutender, aber nur einer von mehreren Faktoren, die ein „gutes Verhandlungsergebnis“ und damit den qualitativen Wertmaßstab in der Mediation bestimmen. Wie dieser Wertmaßstab im Einzelnen ausgestaltet ist, worin ein „gutes Verhandlungsergebnis“ konkret besteht, ist vielmehr abhängig von den jeweiligen Zielen, die mit dem Mediationsverfahren verfolgt werden. Ausgehend von den konkreten Interessen der Beteiligten und dem jeweiligen Menschen- und Gesellschaftsbild, das durch das Mediationsverfahren verwirklicht werden soll46, gibt es eine erhebliche Bandbreite meist impliziter Zielvorstellungen47, die für die Struktur des Verfahrens und insbesondere die Rolle des Mediators von entscheidendem Einfluss sind.48 Dabei handelt es sich dogmatisch nicht lediglich um unterschiedliche Ausrichtungen des Mediators im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung des Mediationsverfahrens (mediator’s style/mediator’s orientation), sondern um ein dem Verfahren insgesamt zugrunde liegendes Verständnis von den die Gesellschaft bestimmenden Werten und Grundprinzipien im Hinblick auf den Umgang mit Konflikten und die Möglichkeiten ihrer Beilegung (worldviews/cultures of mediation). Dieser das Mediationsverfahren bestimmende „ideologische Rahmen“ hat – mehr noch als die vom Mediator zur Verwirklichung dieser Ziele letztlich eingesetzten Ver-
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Zum Begriff der Interessen vgl. oben S. 15, Fn. 46. Vgl. zum Ganzen auch Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161, 161 ff.; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff. 46 Auf diesen Aspekt weist insbesondere Breidenbach, Mediation (1995), S. 116 hin. 47 Vgl. neben Alberstein, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 321, 341 f. (2007) und Breidenbach, Mediation (1995), S. 114 ff. auch Bush, 66 Denv. U. L. Rev. 335, 350 (1989) und Luban, 66 Denv. U. L. Rev. 381, 401 ff. (1989). 48 Auf die fundamentale Bedeutung der Grundprinzipien (orientation) hinsichtlich des Wesens der Mediation für die Verfahrensstruktur haben insbesondere Menkel-Meadow, 31 UCLA L. Rev. 754, 759 f. (1984) und Bush/Folger/Noce, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 39, 65 (2002) hingewiesen.
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fahrenstechniken – einen erheblichen praktischen Einfluss auf Struktur und Ergebnis der Mediation.49 Das Schrifttum hat sich bereits früh50 darum bemüht, die der Mediation zugrunde liegenden Zielvorstellungen systematisch zu erfassen und eine Taxonomie der „ADR-Projekte“ und daraus abgeleitete Qualitätskriterien für die Ausgestaltung und das Ergebnis des Mediationsverfahrens zu entwickeln.51 Trotz der Fülle der entwickelten Ansätze bestehen zwischen den jeweiligen Zielvorstellungen jedoch erhebliche Überschneidungen, so dass sich in der Praxis die Frage nach der zugrunde liegenden Mediationstheorie und damit dem relevanten Wertmaßstab auf die Rolle der Transformation der Parteibeziehung verengt. Die auf ein pareto-optimales Ergebnis zielende interessenorientierte Mediation (interest based mediation, principled mediation, pragmatic approach) und die eine Versöhnung und Wiederherstellung der Parteibeziehung anstrebende transformative Mediation (transformative mediation) bilden daher die für die Praxis relevantesten Formen des Mediationsverfahrens. Hinter beiden Mediationstheorien steht eine jeweils unterschiedliche „Philosophie“ und ein daraus erwachsendes „Menschenbild“: Auf der einen Seite folgt die interessenorientierte, pragmatische Mediation einem utilitaristischen Ansatz, dem ein auf dem Modell des homo oeconomicus basierendes ökonomisch-liberalistisches Grundverständnis des Mediationsverfahrens zugrunde liegt.52 Kooperation ist dabei kein Wert an sich, sondern wird für den Zweck der Maximierung des gegenseitigen Nutzens in den Dienst genommen. Das Modell der transformativen Mediation entspringt dagegen einer Kritik des liberalistischen Menschenund Gesellschaftsbildes und versteht den Menschen als homo sociologicus, d.h. in erster Linie als relationales, in seinem Wesen auf andere ausgerichtetes und
49 So eindringlich Bush/Pope, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 67, 95 (2002). Vgl. zu entsprechenden empirischen Erfahrungen auch Menkel-Meadow, 31 UCLA L. Rev. 754, 759 (1984). 50 Vgl. Bush, 66 Denv. U. L. Rev. 335, 350 (1989) und Luban, 66 Denv. U. L. Rev. 381, 401 ff. (1989). 51 Hierzu vor allem Bush, 66 Denv. U. L. Rev. 335, 350 (1989); Luban, 66 Denv. U. L. Rev. 381, 401 ff. (1989); Alberstein, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 321, 341 ff. (2007); Breidenbach, Mediation (1995), S. 119 ff. Während Luban mit den Prinzipien der Parteizufriedenheit (participant satisfaction), der sozialen Gerechtigkeit (social justice) und der Transformation der Parteibeziehung durch Versöhnung (transformation of the parties/reconciliation) drei ADR-Ziele formuliert, unterscheidet Bush 50 Qualitätskriterien für ein „gutes Mediationsergebnis“, die er fünf Zielkategorien zuordnet (Parteizufriedenheit, Privatautonomie, Soziale Kontrolle, Soziale Gerechtigkeit, Soziale Solidarität, Transformation der Parteibeziehung). Vgl. hieran anschließend auch Breidenbach, der mit Service-Delivery, Access to Justice, Individual Autonomy, Reconciliation und Social Transformation zwischen fünf „ADR-Projekten“ differenziert. Zu den jüngsten Ansätzen vgl. die Taxonomie von Alberstein (pragmatic, transformative, narrative mediation). 52 Vgl. hierzu eingehend Alberstein, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 321, 328 f. (2007).
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§ 3 Mediation und Recht
jeweils durch die Beziehung zu ihnen bestimmtes Subjekt.53 Kooperation ist danach die dem Wesen des Menschen entsprechende Fähigkeit und Form der sozialen Interaktion, die im Konfliktfall gestört und durch ein auf Versöhnung zielendes Mediationsverfahren wiederhergestellt werden muss. Die Dichotomie der Mediationstheorien verliert allerdings dadurch erheblich an Schärfe, dass in der Praxis der Wirtschaftsmediation beide Aspekte gleichermaßen von Bedeutung sind. So integriert das für die ADR-Praxis bedeutendste Mediationsmodell, das von Fisher, Ury und Patton entwickelte Harvard-Modell der interessenorientierten Verhandlung, den relationalen Aspekt in das Verfahrenskonzept, indem es die Erhaltung der Beziehung zueinander als wesentliches Interesse der Parteien anerkennt.54 Damit schließt sich auch in der Praxis der Kreis zur Institutionenlehre Fullers, der bereits 1971 das Wesen der Mediation als durch Kooperation vermittelte Orientierung der Parteien aufeinander hin beschrieben hat, welche die Parteien dazu befähigt, eine an ihren jeweiligen Interessen ausgerichtete, informierte Entscheidung über die Beilegung ihres Konflikts herbeizuführen.55 Zusammenfassend kann als Ergebnis der Untersuchung festgehalten werden: Die Wertmaßstäbe, die in der durch Mediation konstituierten Ordnung das objektive Recht als Maßstab verdrängen, werden durch das jeweilige Verfahrensmodell (worldview/culture of mediation) und die sich daraus ergebenden Ziele bestimmt. Die Vielzahl möglicher Zielvorstellungen reduziert sich in der Praxis indes vor allem auf die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne im Rahmen der interessenorientierten Mediation auf der einen und auf die versöhnende Wiederherstellung und Transformation der Parteibeziehung in der transformativen Mediation auf der anderen Seite. Beide Ansätze werden entsprechend Fullers Verständnis vom Wesen der Mediation in ihren zentralen Eigenschaften im Harvard-Modell zu einer Synthese zusammengeführt: Unmittelbares Ziel des Verfahrens ist dabei die Beilegung des Konfliktes durch gerechten Ausgleich der gegenseitigen Interessen der Parteien und die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne durch kreative Wertschöpfung, die indes notwendig der versöhnenden Ausrichtung der Parteien aufeinander hin und damit der Transformation der Beziehung zwischen den Parteien bedarf. Versöhnung und gerechter Interessenausgleich, Transformation der Parteibeziehung und kreative Wertschöpfung sind nicht voneinander zu trennen. Die „ökonomischen Vorteile“ einer interessengerechten Einigung setzen als conditio sine qua non notwendig eine – bewusst oder unbewusst vollzogene – Aus53 Alberstein, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 321, 329 f. (2007). Zum Begriff des homo sociologicus vgl. grundlegend Dahrendorf, Homo Sociologicus (16. Aufl. 2006). 54 Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 19 („every negotiator has two interests: in the substance and in the relationship”). 55 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). Vgl. auch Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 (1963) und oben S. 124 f.
III. Mediation als Verhandlungssystem: Konstituierung autonomer Ordnungen? 207
richtung der Parteien aufeinander hin und damit eine versöhnende Transformation der Beziehung zwischen den Parteien voraus. Dieses Verständnis der Mediation und ihrer Ziele soll der im Folgenden herzuleitenden Bestimmung der Wertmaßstäbe eines „guten“ Mediationsergebnisses zugrunde gelegt werden. b) Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses Roger Fisher, William Ury und Bruce Patton56 definieren ein „gutes Verhandlungsergebnis“ (wise agreement) auf der Grundlage von fünf Kriterien: (1) Interessen, (2) Legitimität, (3) Fairness, (4) Dauerhaftigkeit und (5) Wahrung öffentlicher Interessen. Die Qualität des in einem Mediationsverfahren erzielten Verhandlungsergebnisses ist danach daran zu messen, ob es den legitimen Interessen beider Parteien in weitestmöglichem Umfang entspricht, den Konflikt fair und dauerhaft beilegt und dabei öffentliche Interessen der Gemeinschaft berücksichtigt. Neben diesen materiellen Kriterien im Hinblick auf das Ergebnis treten mit den Kriterien der Effizienz (6) und der Erhaltung der Parteibeziehung (7) prozedurale Anforderungen an ein „gutes Verfahren“. Ein solches Verfahren ist nach Fisher, Ury und Patton daher daran zu messen, dass es effizient ist und die Beziehung zwischen den Parteien verbessert oder jedenfalls nicht verschlechtert.57 Patton hat die Wertmaßstäbe des Mediationsverfahrens zuletzt als sieben Kriterien umfassenden Kanon systematisiert:58 I. Materielle Kriterien 1. interessengerecht (Interessen: eigene, der anderen Partei, Dritter) 2. fair 3. beständig, dauerhaft 4. möglich, nachhaltig 5. innovativ, wertschöpfend II. Prozedurale Kriterien 1. effizient 2. beziehungsschonend (Versöhnung) Tabelle 3: Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses
56
Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4: „A wise agreement can be defined as one which meets the legitimate interests of each side to the extent possible, resolves conflicting interests fairly, is durable, and takes community interests into account.“ Vgl. auch Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285. 57 Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4. 58 Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285 f.
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§ 3 Mediation und Recht
Das Verhandlungsergebnis eines Mediationsverfahrens ist danach materiell daran zu messen, dass es zunächst den (1) Interessen beider Parteien sowie eventuell betroffener Dritter so weit wie möglich entspricht und jedenfalls besser ist als die jeweils zur Verfügung stehenden Nichteinigungsalternativen (BATNA).59 Das ist insoweit von Bedeutung, als das Ziel der Mediation nicht in einer Einigung um jeden Preis besteht, sondern nach dem Harvard-Modell eine Einigung nur dann sinnvoll ist, wenn sie mindestens so gut ist wie die beste Nichteinigungsalternative.60 Das gilt indes nur dann, wenn das materielle Verhandlungsergebnis für die Parteien von zentraler Bedeutung ist. Häufig wird für die Parteien ihr Interesse an der Aufrechterhaltung einer langjährigen Beziehung zum Verhandlungspartner, an der Vermeidung eines Zivilverfahrens und ihr Wunsch nach einer zügigen Beilegung des Konfliktes das Interesse an einem für sie materiell günstigen Ergebnis übersteigen, so dass sich die Verhandlungsentscheidung als Gesamtabwägung materieller und immaterieller Interessen darstellt. Dogmatisch lässt sich der scheinbare Widerspruch mühelos dadurch auflösen, dass die Interessen begrifflich weit gefasst und die von Patton vorgeschlagenen Kriterien der effizienten und beziehungsschonenden Beilegung des Konfliktes als Konkretisierung typischer Parteiinteressen in die Abwägung zwischen Interessen und Nichteinigungsalternativen eingestellt werden. Neben den eigenen Interessen soll das Ergebnis auch die Interessen der anderen Partei und die betroffener Dritter berücksichtigen, und zwar nach Patton entsprechend der dem Harvard-Modell zugrunde liegenden utilitaristischen Mediationstheorie vor allem deshalb, weil die Parteien für eine dauerhafte und nachhaltige Einigung aufeinander angewiesen sind und betroffene Dritte so als potentiell störender Faktor ausgeschaltet werden. Die an der Kritik des Liberalismus orientierte transformative Mediation lehnt eine derartige instrumentale Sichtweise ab und versteht dagegen die Verwirklichung der Interessen aller Beteiligter und den Schutz der legitimen Interessen betroffener Dritter als primäres, aus sich selbst heraus legitimiertes Ziel der Mediation und sieht sich damit in Einheit mit den Wertungen des objektiven Gesetzesrechts.61 Neben dem Kriterium der (2) Fairness, auf das wir im Folgenden näher eingehen werden, muss das Ergebnis des Mediationsverfahrens einer Reihe interessenneutraler Wertmaßstäbe entsprechen: Es muss (3) beständig, dauerhaft, (4) möglich und nachhaltig sein, d.h. es soll den Konflikt ursächlich und nicht lediglich symptomatisch in einer Weise beenden, dass ein weiteres Aufbrechen 59 Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285 f. 60 Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285 f. Vgl. hierzu auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 101; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 26 ff. 61 Vgl. nur §§ 157, 242, 1024 BGB, § 125 InsO, §§ 112 f. BetrVG.
III. Mediation als Verhandlungssystem: Konstituierung autonomer Ordnungen? 209
des Streits ausgeschlossen ist. Der Anspruch an die (5) innovative und wertschöpfende Qualität des Ergebnisses ist mit dem ersten Kriterium, dem der Interessengerechtigkeit, funktional eng verknüpft. Verhandlungsergebnisse, die den Interessen beider Parteien gleichermaßen dienen, werden oft nur durch wertschöpfende Kooperation der Parteien möglich, was eine Überwindung des Nullsummenmythos und den Wechsel in ein problemlösendes Rollenverständnis voraussetzt. Die übrigen Kriterien sind prozeduraler Natur, jedoch untrennbar mit den materiellen Maßstäben verknüpft: Das Verfahren muss (6) zeitund kosteneffizient und schließlich (7) beziehungsschonend ausgestaltet sein. Wie wir bereits im Rahmen der Untersuchung des Wesens der Mediation gesehen haben62, wird ein materiell interessengerechtes Ergebnis durch eine prozedurale Transformationsleistung bedingt: Die von Fuller als Wesen der Mediation beschriebene Ausrichtung der Parteien aufeinander hin63, die durch die Vermittlung einer gemeinsamen Perspektive ihrer Beziehung erfolgt, ist unverzichtbare Voraussetzung, um ein beiderseits interessengerechtes Ergebnis herbeizuführen. Erforderlich ist, dass beide Parteien die Interessen ihres jeweiligen Verhandlungspartners, d.h. die hinter den Rechtspositionen stehenden tatsächlichen Bedürfnisse und Wünsche, durch Perspektivwechsel im Sinne eines multilateralen Rollentauschs sowie durch eine umfassende Kommunikation erfassen und ihre Einigungsbemühungen auch an diesen Interessen ausrichten. Dies erfolgt in einem ersten Schritt in der wertschöpfenden Generierung von Einigungsoptionen, in einem zweiten Schritt in einer wertverteilenden Einigung auf eine auf den entwickelten Optionen basierenden Lösung. Diese wertverteilende Phase des Mediationsverfahrens ist der Ort, an der das Kriterium der Fairness relevant wird. Wertverteilendes Verhandeln ist Teil einer jeden Verhandlungssituation und zwar unabhängig davon, ob diese kontradiktorisch oder kooperativ ausgestaltet ist. Da das Recht als allein gültiger, verbindlicher Maßstab in den durch Mediation konstituierten Ordnungen entfällt, erfolgt die Verteilung der durch wertschöpfendes Verhandeln geschaffenen oder bereits vorhandenen Verhandlungswerte auf der Grundlage der subjektiven Gerechtigkeitskriterien der Parteien. Es ist zu untersuchen, ob und gegebenenfalls wie sich diese im Einzelnen näher bestimmen lassen.
62 63
Vgl. oben S. 124 f. Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971).
IV. Zusammenfassung 1. Mediation und materielles Recht können einerseits als sich polar gegenüberstehende und gegenseitig ausschließende Steuerungssysteme verstanden werden. Die den beiden Verfahren zugrunde liegenden materiellen Ordnungssysteme beruhen auf sich gegenseitig ergänzenden Prämissen: Während das Urteil als Ergebnis des gerichtlichen Entscheidungsverfahrens auf der Anwendung abstrakt-genereller Normen beruht, gründet der aus der Mediation erwachsende Vergleich auf den individuellen Interessen und Gerechtigkeitsmaßstäben der Parteien. In der Mediation tritt an die Stelle des gerichtlichen Urteils, das sich auf das aus einem demokratisch legitimierten Verfahren hervorgegangene allgemeinverbindliche, positive Gesetzesrecht stützt, der Vergleich als von den Parteien individuell ausgehandeltes und nur zwischen diesen geltendes Individualrecht. 2. Dieses durch Mediation geschaffene System autonomer Ordnung tritt aus dieser Perspektive methodisch wie inhaltlich in eine Antithese zur gesetzten Rechtsordnung. Methodisch handelt es sich dabei nicht um formal-rationale, sondern informal-irrationale Normschöpfung im Sinne Max Webers. Statt monistisch und absolut ist es pluralistisch und relativ: Die Mediation kennt danach nicht die absolut geltende Norm, das eine richtige Ergebnis, die eindeutige Lösung des Konfliktes, sondern stattdessen nur individuelle Gerechtigkeitsvorstellungen im Sinne einer Pluralität „richtiger“ Ergebnisse. 3. Andererseits kommt dem Recht in der Mediation eine Schlüsselrolle zu. Recht und Mediation sind kein Gegensatz, die Mediation ist kein „unjuristisches Verfahren“. Statt durch die Thematisierung und Dethematisierung von Recht unterscheidet sich die Mediation von der gerichtlichen Entscheidung vor allem in der Art und Weise, wie mit Recht umgegangen wird. Mediation findet nie in einem rechtlichen Vakuum, sondern stets im Schatten des Rechts statt. 4. Mediation wird vom Recht überhaupt erst ermöglicht, sie ist zur Durchsetzung der aus ihr hervorgegangenen Vereinbarungen auf die objektive Rechtsordnung angewiesen, sie schöpft aus ihr und wird von ihr begrenzt. Aus der so gestalteten symbiotischen Beziehung zwischen Mediation und Recht ergeben sich die vier grundlegenden Funktionen des Rechts in der Mediation: (1) die konstituierende, (2) die durchsetzende, (3) die nährende und (4) die begrenzende Funktion. 5. Das Spannungsverhältnis zwischen subjektivem Parteirecht und objektiver Rechtsordnung wirkt sich vor allem in vier Problemkreisen aus: 1) Mediation, (2) Recht, (3) Justiz und (4) Staat. 6. Mediation: Wenn das von den Parteien im Wege der Verhandlung geschaffene Individualrecht eine eigene normative Ordnung mit eigenen Maßstäben, ein eigenes „Recht“ konstituiert, das neben die objektive Rechtsordnung
IV. Zusammenfassung
211
tritt, so stellt sich die Frage nach der Qualität dieser Ordnung sowie den in ihr geltenden Maßstäben und Gerechtigkeitskriterien. Welche Rolle spielt das positive Recht in dieser Ordnung? In welchem Umfang legt es der Mediation Grenzen auf? Wie ist diese durch Parteirecht geschaffene Ordnung verfassungsrechtlich und inhaltlich zu bewerten? 7. Recht: Welche Folgen ergeben sich umgekehrt durch die Etablierung autonomer normativer Ordnungen im Wege der Mediation für die Geltung und Autorität des positiven Rechts? Trägt sie zur Erosion des Rechts in der Gesellschaft oder vielmehr zu seiner stärkeren Durchdringung bei? Führt sie zu Werterelativismus und Normskepsis oder im Gegenteil zu einer umfassenderen Verwirklichung der dem Gesetzesrecht zugrunde liegenden Wertungen und höherer Akzeptanz? Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser diskursiv etablierten normativen Ordnung für den Rechtsschutz, die Privatautonomie und die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit? 8. Justiz: In welchem Verhältnis steht die rechtsprechende Gewalt zu dieser aus der Mediation hervorgegangenen normativen Ordnung? Welche Konsequenzen ergeben sich für das Grundverständnis der Justiz und des Richteramtes, wenn die rechtsprechende Gewalt ein interessenbasiertes Verfahren als Justizdienstleistung anbietet, das sich grundsätzlich nicht zwingend an den Vorgaben der objektiven Rechtsordnung orientiert? Ist die Tätigkeit des Güterichters Rechtsprechung iSd. Art. 20 Abs. 3 GG mit der Folge, dass er weiterhin der verfassungsmäßig gebotenen Bindung an Recht und Gesetz unterliegt? 9. Staat: Im kooperativen Staat treten Verhandlung und Mediation als Steuerungsmedien neben die Steuerung durch Recht. Können beide Steuerungsformen nebeneinander bestehen oder schließen sie sich auf Dauer aus? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen beiden Formen staatlicher Steuerung? Welche Auswirkungen hat die konsensuale Konfliktlösung auf Rechtsbewährung und Rechtsfortbildung? Führt sie zu einer normativen Ordnung, die neben der objektiven Rechtsordnung besteht, oder bleibt diese vom Prozess des Aushandelns unberührt? 10. Die Mediation als originär privatautonomes Verfahren hat Anteil an der verfassungsrechtlich geschützten Position der Privatautonomie im Gefüge des Verfassungsstaates als der Befugnis zur selbstverantwortlichen Ordnung der eigenen Angelegenheiten. Die eigenverantwortliche Beilegung von Konflikten durch Mediation als Instrument der Privatautonomie ist damit eine nach Art. 2 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich geschützte Position, der Vorrang vor einer richterlichen Streitentscheidung im Wege des Zivilprozesses zukommt. 11. Die Vorstellung, dass die Parteien ihr „Recht selbst setzen“, ist keineswegs neu. Sie ist konstitutiver Bestandteil der Privatrechtsordnung und markiert rechtsgeschichtlich den Ausgangspunkt der Privatrechtsentwicklung sowohl im kontinentaleuropäischen als auch im anglo-amerikanischen Rechtskreis. Allerdings gewinnt das Problem der Errichtung autonomer normativer
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§ 3 Mediation und Recht
Ordnungen vor dem Hintergrund des tiefgreifenden Wandels des Rechts sowie des staatlichen Handelns besondere Bedeutung. 12. Dieser Wandel ist in der Rechtssoziologie unter den Stichworten Mediatisierung und Prozeduralisierung, Materialisierung und Informalisierung, Deregulierung und Denormativierung, Refeudalisierung des Rechts, Abbau des Befehlsmodells des Rechts, kooperativer Staat sowie reflexives und autopoietisches Recht diskutiert worden. Von ihren geschichtlichen Ursprüngen her – Pound Conference 1976 und Diskussion in Deutschland unter den Stichworten Alternativen in der Ziviljustiz bzw. alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht – kann die ADR-Bewegung durchaus als Gegenentwurf zur staatlichen Justiz verstanden werden. 13. Die Sorge vor einer verbreiteten Distanzierung von Gesetzesrecht und Rechtsprechung, vor einer Gefahr des Verlustes der Autorität des Rechts, wird der Rolle des Rechts in der Mediation indes nicht gerecht. Zwischen Normund Verhandlungssystem besteht keine radikale Antinomie. Die Mediation führt nicht zur Errichtung autonomer normativer Ordnungen oder gar zu einem neuen Recht eigener Ordnung. 14. Die Beziehung von Mediation und materiellem Recht folgt dem ihr zugrunde liegen Spannungsverhältnis von Privatautonomie und Gesetzesrecht. Die Mediation nimmt als eine Erscheinungsform privatautonomer Steuerung in der Gesellschaft am grundlegenden Wandel staatlichen Handelns von hoheitlich-autoritativen zu privatautonom-kooperativen Formen der Regulierung teil. 15. Sie ist Ausdruck eines gewandelten Verständnisses von der Bedeutung des positiven Rechts für die privatautonome Gestaltung der Lebensverhältnisse. Dies führt für die Mediation indes nicht zu einem gewandelten Rechtsbegriff, einem „anderen Recht“, sondern zu einem neuen Verständnis von der Rolle des Gesetzesrechts in der Mediation und der Bedeutung privatautonomer Verfahren innerhalb des Rechtssystems. 16. Die Parteien gestalten ihre gegenseitigen Beziehungen im Rahmen des Mediationsverfahrens privatautonom auf der Grundlage der von ihnen selbst gesetzten individuellen Maßstäbe. Die Wertmaßstäbe, die in der durch Mediation konstituierten Ordnung das objektive Recht als Maßstab verdrängen, werden durch das jeweilige Verfahrensmodell und die sich daraus ergebenden Ziele bestimmt. 17. Unmittelbares Ziel des Verfahrens ist dabei die Beilegung des Konfliktes durch gerechten Ausgleich der gegenseitigen Interessen der Parteien und die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne durch kreative Wertschöpfung. Dies setzt notwendig die versöhnende Ausrichtung der Parteien aufeinander hin und damit die Transformation der Beziehung zwischen den Parteien voraus. Versöhnung und gerechter Interessenausgleich, Transformation der Parteibeziehung und kreative Wertschöpfung sind nicht voneinander zu trennen.
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18. Die Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses als Verwirklichung der Ziele des Mediationsverfahrens wurden maßgeblich von Fisher, Ury und Patton herausgearbeitet. Sie definieren ein „gutes Verhandlungsergebnis“ (wise agreement) auf der Grundlage von fünf Kriterien: (1) Interessen, (2) Legitimität, (3) Fairness, (4) Dauerhaftigkeit und (5) Wahrung öffentlicher Interessen. Die Qualität des in einem Mediationsverfahren erzielten Verhandlungsergebnisses ist danach daran zu messen, ob es den legitimen Interessen beider Parteien in weitestmöglichem Umfang entspricht, den Konflikt fair und dauerhaft beilegt und dabei öffentliche Interessen der Gemeinschaft berücksichtigt.
§ 4 Mediation und Gerechtigkeit Die Frage nach der Gerechtigkeit ist eine der Urfragen des Menschen. Die Suche nach Antworten beschäftigt die Philosophie seit Jahrhunderten bis in die Gegenwart. Anknüpfend an den Pessimismus des Positivisten Hans Kelsen und der postmodernen Geistesströmung der Gegenwart entsprechend sind wir jedoch der Versuchung ausgesetzt, die nähere Klärung absoluter Werte der Gerechtigkeit und ihres Begriffsinhalts als „völlig leere Formeln“1 zu verwerfen. Wir könnten uns damit begnügen, die dem Mediationsvergleich zugrunde liegenden subjektiven Kriterien der Parteien als ausschließlich dem forum internum angehörende, der objektiven Analyse entzogene innere Motive der Verhandlungspartner zu qualifizieren, die diese in der Ausübung der ihnen zustehenden Privatautonomie und in ihrer aufgrund einer freien Willensentscheidung autonom vereinbarten Einigung leiten. Der Versuch der Postmoderne, das Bemühen um eine Annäherung an die Idee der Gerechtigkeit mit dem Hinweis auf die Pluralität der nicht konkret fassbaren jeweiligen subjektiven „Gerechtigkeiten“ abzuschneiden2 wie auch die Bestrebung des Rechtspositivismus, jede Idee einer die gesetzlichen Normen transzendierenden überpositiven Gerechtigkeit zu negieren3, sind mit den – aufgrund der Ergebnisse der psychologischen Gerechtigkeitsforschung mittlerweile auch empirisch belegten – Erfahrungen der Rechtswirklichkeit des Ringens um ein gerechtes, um ein faires Ergebnis kaum vereinbar. Im Gegenteil hat die Unerträglichkeit ungerechter Zustände, hat das Ringen um Gerechtigkeit seit jeher das Handeln des Menschen und den Lauf der Geschichte wesentlich bestimmt. In dieser Tradition hat auch das BVerfG im Mauerschützenurteil vom 24. Oktober 1996, dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gefolgt
1
Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953), S. 18. Vgl. hierzu etwa Kollmann/Schödel (Hrsg.), PostModerne De/Konstruktionen (2004), S. 31 ff. 3 Vgl. neben Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953), S. 40 auch Topitsch, FS Kraft (1960), S. 233, 236. 2
IV. Zusammenfassung
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ist4, im Anschluss an Gustav Radbruch5 einem rein positivistischen Gerechtigkeitsverständnis wie auch den Bestrebungen der Postmoderne Postmoderne um eine Negierung absoluter, unveräußerlicher Grundsätze der Gerechtigkeit eine klare Absage erteilt und dabei – freilich ohne auf dessen normativ-ontologische Herkunft näher einzugehen – die Existenz eines der Verfügbarkeit des Menschen entzogenen, gesellschaftliche und staatliche Normen transzendierenden Maßstabs überpositiver Gerechtigkeit anerkannt und entschieden, „daß in Fällen eines unerträglichen Widerspruchs des positiven Rechts zur Gerechtigkeit der Grundsatz der Rechtssicherheit geringer zu bewerten sein kann als der der materiellen Gerechtigkeit.“6 Im Falle eines „offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit ... müsse das positive Recht der Gerechtigkeit weichen.“7 Aufgrund der legitimen Forderungen der Rechtssicherheit komme ein Zurücktreten des positiven Rechts hinter die Grundsätze der materiellen Gerechtigkeit freilich nur in extremen Ausnahmefällen offensichtlicher und geradezu unerträglicher Verstöße gegen materielle Gerechtigkeitsprinzipien in Betracht.1 Für unsere Untersuchung bleibt gleichwohl der in dogmatischer Hinsicht bahnbrechende und für den Fortgang unserer Betrachtung zentrale Befund festzuhalten, dass sich das BVerfG wie auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu einem absoluten, staatlich gesetzte wie auch privatautonom verhandelte Normen transzendierenden Gerechtigkeitsbegriff bekennen. Mit der vom BVerfG gezogenen Grenze innerhalb der im Rahmen der Radbruchʼschen Formel erfolgten Abwägungsentscheidung werden wir uns bei der
4 EuGRZ 2001, 210 = NJW 2001, 3035, 3040 (Schießbefehl), der gerechtigkeitswidrigen Normen sogar die Rechtsqualität schlechthin abspricht: „Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass eine Staatspraxis … die offenkundig Menschenrechte verletzt und vor allem das Recht auf Leben, das höchste Rechtsgut in der internationalen Wertehierarchie der Menschenrechte, nicht durch Art. 7 Abs. 1 EMRK gedeckt sein kann. Diese Praxis, welche die Gesetzgebung, auf die sie sich hätte stützen sollen, ihrer Substanz entleert hat … kann nicht als ‚Recht‘ i.S. von Art. 7 EMRK angesehen werden.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 5 Radbruch, SJZ 1946, 105, 105 ff. Nachdruck: Radbruch, in: Hassemer/Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe III (1990), S. 83 ff. 6 BVerfGE 95, 96 = NJW 1997, 929, 931 (Mauerschützen). Hervorhebungen durch den Verfasser. 7 BVerfGE 95, 96 = NJW 1997, 929, 931 (Mauerschützen). 1 BVerfGE 95, 96 = NJW 1997, 929, 931 (Mauerschützen): „Dabei hat es mehrfach betont, daß eine Unwirksamkeit des positiven Rechts auf extreme Ausnahmefälle beschränkt bleiben muß und eine bloß ungerechte, nach geläuterter Auffassung abzulehnende Gesetzgebung durch das auch ihr innewohnende Ordnungselement noch Rechtsgeltung gewinnen und so Rechtssicherheit schaffen kann.“
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
im Schrifttum heftig diskutierten Frage, ob und in welchem Umfang der Mediator zur materiellen Überprüfung des von den Parteien ausgehandelten Mediationsergebnisses befugt oder sogar verpflichtet ist, näher beschäftigen.2 Die Suche nach dem gerechten, dem billigen Ergebnis ist der eigentliche Motor des Rechts, das in dem Ringen um eine möglichst enge Annäherung an die Idee der Gerechtigkeit im Gang der Geschichte zwischen Formalismus und Billigkeit oszilliert.3 Die aus der Kritik des als verfahrens- und ergebnisungerecht empfundenen US-Justizsystems hervorgegangene ADR-Bewegung4 ist die jüngste Ausprägung dieses Ringens, dieser Urbewegung hin zur Gerechtigkeit, die wir als natürliches Streben eines jeden Menschen in jeder Gesellschaft, wenn auch nicht in jeder staatlich gesetzten normativen Ordnung, finden. Mit der ADR-Bewegung und insbesondere mit der Mediation als moderner Ausformung der Idee der Billigkeit, der Equity5, ist das Pendel auf der Suche nach der Gerechtigkeit vom Formalen zum Informalen hin ausgeschlagen, um die unbarmherzige Schärfe des formalen Gerichtsverfahrens durch ein den Interessen der Parteien eher entsprechendes Verfahren der Billigkeit zu korrigieren.
I. Mediation und Gerechtigkeit: Von Aristoteles zum Harvard-Modell I. Von Aristoteles zum Harvard-Modell
Gerechtigkeit ist daher das eigentliche Thema, das hinter der Mediation steht, es ist ihr Anfang und ihr Ende. Die Mediation entspringt aus der Kritik eines in Verfahren und Ergebnis als ungerecht empfundenen Gerichtsverfahrens6 und
2
Zu Umfang und Legitimation der Inhaltskontrolle von Mediationsvergleichen in der vertragsautonomen Mediation vgl. unten S. 380 ff. sowie in der gerichtsinternen Mediation vgl. unten S. 412 ff. 3 Vgl. zu dieser Problematik auch Abel, in: Blankenburg/Klausa/Rottleuthner (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht (1980), S. 27, 41; Merry, 100 Harv. L. Rev. 2057 (1987); Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 40; Sternlight, 56 DePaul L. Rev. 569, 583 (2007). Zur „oscillation between wide judicial discretion on the one hand and strict confinement of the magistrate by minute and detailed rules upon the other hand” bereits Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 397 f. (1906). 4 Hierzu eingehend oben S. 9 ff. und 155. 5 Zu den strukturellen Parallelen zwischen ADR und dem anglo-amerikanischen Konzept der equity vgl. Nolan-Haley, 6 Cardozo J. Conflict Resol. 57 (2004); Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329 (2005). 6 Vgl. exemplarisch statt vieler Mähler/Mähler, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 9, 13: „Das hängt auch unmittelbar mit Ungerechtigkeiten zusammen, die systemimmanent im Gesetzessystem liegen und entwicklungsbedingt immer sichtbarer werden.“ Hervorhebung durch den Verfasser.
I. Von Aristoteles zum Harvard-Modell
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ist auf ein gerechtes, und zwar auf ein nachhaltig und dauerhaft gerechtes Ergebnis hin ausgerichtet.7 Darüber hinaus sind scharfe, stark eskalierte Konflikte häufig Gerechtigkeitskonflikte.8 Anders als in Verhandlungen, in denen es um den Ausgleich legitimer Interessen der Parteien geht, wie dies etwa bei dem Aushandeln eines Preises und der entsprechenden Gegenleistung der Fall ist, führt eine Verletzung als gültig anerkannter moralischer oder rechtlicher Normen aus psychologischer und systemtheoretischer Perspektive zu einer moralischen Verurteilung der anderen Partei und dem Aufbegehren gegenüber dem erlittenen Unrecht.9 Emotional äußert sich dieser Protest in Empörung, rechtlich in der Mobilisierung des Zivilprozesses als Instrument objektiver Rechts- und Gerechtigkeitsbewahrung.10 Die Folge ist eine weitere Eskalation des Konfliktes sowie eine Belastung der bestehenden persönlichen oder geschäftlichen Beziehung zwischen den Parteien.11 Der Begriff der Gerechtigkeit ist daher für die Mediation von zentraler Bedeutung. Sie ist in ihrem Wesen und in ihrer Form ohne eine nähere Erfassung des Gerechtigkeitsbegriffs nicht verständlich. Wir wollen daher im Folgenden die Mediation in den Kontext der klassischen Gerechtigkeitstheorien stellen und dabei auch die jüngsten Ergebnisse der empirischen Gerechtigkeitsforschung und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen für die Gestaltung des Mediationsverfahrens berücksichtigen. Wir werden dabei entdecken, dass den modernen Verhandlungstheorien 7 Hierzu eingehend: Vidmar, ZfRSoz 1993, 35; Mähler/Mähler, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 9; Montada, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 37; Ripke, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 161. Zum Schrifttum aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis vgl. Waldman, 6 Cardozo J. Conflict Resol. 247 (2005); Welsh, 87 Marq. L. Rev. 753 (2004); Love, 5 Cardozo J. Conflict Resol. 59 (2004). Kritisch zu den Auswirkungen der Institutionalisierung der Mediation durch gerichtsverbundene Mediationsprogramme auf die Verfahrensgerechtigkeit Welsh, 79 Wash. U. L.Q. 787 (2002 ); Verkuil, 57 Admin. L. Rev. 963 (2005). 8 So ausdrücklich Montada, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 37, 38. 9 Montada, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 37, 38 f. 10 Der Zusammenhang zwischen Aggression und subjektiv erfahrenem Unrecht ist auch empirisch gut belegt. Vgl. die Forschung zur relativen Deprivationstheorie Pastore, 47 J. Abnorm. Soc. Psych. 728, 731 (1952); Gurr, Why Men Rebel (4. Aufl. 1974). Vgl. zur modernen empirischen Gerechtigkeitsforschung Bierhoff, Z. Sozialpsychol. 1992, 163; Liebig (Hrsg.), Interdisziplinäre Gerechtigkeitsforschung (2002); Liebig, Empirische Gerechtigkeitsforschung (2007). Vor allem zur Verfahrensgerechtigkeit Thibaut, Procedural Justice (1975); Thibaut/Walker, 66 Cal. L. Rev. 541 (1975); Lind/Tyler, The Social Psychology of Procedural Justice (1988). 11 Dazu eingehend oben S. 22 ff.
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
unausgesprochen und oft unbewusst12, aber in erstaunlicher Klarheit vielfach die klassischen Prinzipien ausgleichender (iustitia commutativa) und verteilender Gerechtigkeit (iustitia distributiva) zugrunde liegen. 1. Interessenorientierung und der Grundsatz des suum cuique tribuere So stellt die von der modernen Verhandlungstheorie entwickelte Orientierung an den Parteiinteressen13 die fassbarste und treffendste Konkretisierung des klassischen Gerechtigkeitsbegriffes schlechthin dar, des „suum cuique tribuere“14, des Grundsatzes, jedem das Seine, das ihm Zustehende zu geben, der in der Goldenen Regel – in prägnanter Kürze auf den Punkt gebracht – in einer in ihrer Genialität einfachen wie zugleich praktisch handhabbaren Verhaltensregel seine vollendete Form erhalten hat: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“15 Die
12 Wie sich die Verhandlungstheorie insgesamt aus der Praxis heraus entwickelt hat, so sind auch die zur Beurteilung eines Verhandlungsergebnisses herangezogenen Kriterien durch die Erfahrungen der Praxis bestimmt. Ihre induktive dogmatische Durchdringung steht indes erst am Anfang. Innerhalb des Mediationsverfahrens werden die subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen der Parteien oft nicht explizit artikuliert, sondern äußern sich häufig in emotionalen Bewertungen der Parteien, etwa in Empörung. Vgl. auch Montada, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 37, 37 f. Ähnlich für die der Mediation implizit zugrunde liegenden Ziele Breidenbach, Mediation (1995), S. 114. 13 Grundlegend hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41. Vgl. auch oben S. 15 f. 14 So schon die Institutionen des Justinian Inst. 1, 1, 3 („iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“ = „Die Gebote des Rechts sind: ehrenhaft zu leben, den anderen nicht zu verletzen, jedem das Seine zu gewähren) und Ulpian in D. 1, 1, 10 („Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“ = „Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zukommen zu lassen“). Die Formel findet sich bereits in Platon’s Politeia (433a, 433e-434a) Platon/Szlezazk/Gigon/Rufener (Hrsg.), Der Staat (5. Aufl. 2007), S. 177 f. („Und daß es Gerechtigkeit ist, wenn man das Seine tut und nicht mancherlei Dinge treibt … daß es Gerechtigkeit ist, wenn man das Eigene besitzt und das Seine tut.“) sowie bei Cicero De legibus 1, 19 („Eamque rem illi Graeco putant nomine a suum cuique tribuendo appellatam“ = „und sie glauben auch, daß die Bezeichnung dieses Begriffes im Griechischen (Nómos) von ‚jedem das Seine zuteilen‘ (némein) herzuleiten sei“ Cicero/Nickel (Hrsg.), Über die Gesetze (2. Aufl. 2002), S. 25 und De officiis I, 15 („in hominum societate tuenda tribuendoque suum cuique et rerum contractarum fide“ = „mit dem Einsatz für die menschliche Gemeinschaft, jedem Einzelnen das zuzuteilen, was ihm zukommt, und der zuverlässigen Erfüllung der Vereinbarungen“), Cicero/Nickel (Hrsg.), Vom pflichtgemässen Handeln (2008), S. 21. Hervorhebungen durch den Verfasser. 15 Mt. 7, 12. Die Goldene Regel spielt in der Rechtsphilosophie eine herausragende Rolle und gehört nach Singer, Verallgemeinerung in der Ethik (2. Aufl. 1975), S. 36 f. zu den
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zentrale Bedeutung der Interessen, der tatsächlichen Bedürfnisse des Einzelnen, und damit der Schritt von der ausschließlich objektiven Bewertung eines Verhandlungsgegenstandes hin zum Nutzwert, findet sich als zentraler Gedanke schon bei Aristoteles (χρεία)16 und daran anschließend bei Augustinus17, Albertus Magnus18 und vor allem Thomas von Aquin19 (indigentia), der im Kontext der Gerechtigkeit die menschlichen Bedürfnisse zum entscheidenden Maßstab erhebt und in seinen Erläuterungen zur quantitativen Äquivalenzstörung beim Kauf („quod mensuras rerum venalium necesse est“)20 auch der Bestimmung des gerechten Preises zugrunde legt. In den modernen Gerechtig-
„fundamentalen Rechtsgrundsätzen“. Vgl. hierzu eingehend Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755. 16 Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 8, 25 ff.: „Man muss also … mit einer bestimmten Einheit messen. Dies ist aber in Wahrheit das Bedürfnis (chreia), das alles zusammenhält. Als eine Art Ersatz für das Bedürfnis ist aber durch Übereinkunft das Geld entstanden. Aristoteles, Nikomachische Ethik (2006), S. 174. 17 In der zentralen Stelle De Civitate Dei, XI, 16, auf die später Thomas in seiner Summa Theologica, IIª-IIae q. 77 a. 2 ad 3, Bezug nimmt, findet sich die vielleicht plastischste Darstellung in der klassischen Philosophie zur Bedeutung der Interessen als subjektivem Maßstab der Wertermittlung im Gegensatz zum objektiven Gegenstandswert. Augustinus stellt der natürlichen Stufenordnung der Geschöpfe vom Standpunkt der Vernunft aus betrachtet (objektiver Wertmaßstab) eine Rangordnung aus der Perspektive des Nutzwertes gegenüber (subjektiver Wertmaßstab), wo „ein Pferd oft höher bewertet wird, als ein Sklave, eine Perle höher als eine Magd.“ Augustinus/Thimme (Hrsg.), Vom Gottesstaat (4. Aufl. 2007), S. 27 f. 18 Nach Ethica 5, 2, 10 (S. 357b-358a) bestimmt sich der Wert der Güter nicht allein objektiv, sondern subjektiv nach ihrem Nutzen: Geld wurde daher erfunden, um den menschlichen Nutzen (indigentia) einer Sache in Zahlen zu fassen und dadurch die Beziehung und Vereinheitlichung der Güter im Austausch zu fördern („Quia igitur ista secundum comparationem ad valorem secundum usum indigentiae accipiuntur, numisma inventum est quod numero per additionem et minutionem mensura uniuscujusque est et ideo numisma aliqualiter medium fit quo omnia alia proportionantur.”), Albertus/Borgnet (Hrsg.), Ethicorum (1891), S. 357 f. 19 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 77 a. 1 ad 3, a. 2 ad 2, ad 3. Der Wert einer Sache wird daher nicht rein subjektiv-willkürlich, sondern auch durch den Bedarf zur Befriedigung der grundlegenden Lebensbedürfnisse, die Interessen, bestimmt. Dass daneben jedoch auch objektive Kriterien als Wertmaßstab herangezogen werden müssen, stellt Thomas ausdrücklich klar: „Et ideo si vel pretium excedat quantitatem valoris rei, vel e converso res excedat pretium, tolletur iustitiae aequalitas. Et ideo carius vendere aut vilius emere rem quam valeat est secundum se iniustum et illicitum. Alio modo possumus loqui de emptione et venditione secundum quod per accidens cedit in utilitatem unius et detrimentum alterius, puta cum aliquis multum indiget habere rem aliquam, et alius laeditur si ea careat. Et in tali casu iustum pretium erit ut non solum respiciatur ad rem quae venditur, sed ad damnum quod venditor ex venditione incurrit.” Thomas von Aquin, Summa Theologica, IªIIae q. 77 a. 1 co. Vgl. auch Patterson, Chaucer and the Subject of History (1991), S. 353 f. 20 Summa Theologica, IIª-IIae q. 77 a. 2 ad 2. Hervorhebungen durch den Verfasser.
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keitstheorien begegnen wir ihnen als ersten der drei zentralen Gerechtigkeitskriterien wieder bei John Finnis („the primary criterion is need“)21, der in ihnen einen grundlegenden Bestandteil des Gemeinwohls erkennt („fundamental component of the common good“).22 2. Objektive Kriterien und das Äquivalenzprinzip der iustitia commutativa Das vor allem durch die bahnbrechenden Arbeiten von Fisher, Ury und Patton in der Verhandlungstheorie mittlerweile Allgemeingut gewordene Bewusstsein um die Bedeutung objektiver Kriterien (objective criteria)23 als Maßstab in wertverteilenden Verhandlungssituationen findet sich im Ansatz bereits in den im nachklassischen römischen Recht entwickelten Grundsätzen der laesio enormis und des objektiv bestimmbaren wahren (verum pretium) und daher gerechten Preises (iustum pretium).24 Thomas formuliert diesen Gedanken weiter aus und präzisiert ihn zu dem auch der heute geltenden Privatrechtsordnung zugrunde liegendem Äquivalenzprinzip in synallagmatischen Austauschverhältnissen („iustitiae aequalitas“).25 Maßstab des auszuhandelnden Preises ist der objektive Wert des Gegenstandes, der zwar nicht punktgenau, aber doch innerhalb eines bestimmten Rahmens fassbar ist, der örtlichen und zeitlichen Schwankungen unterliegt und auch von der Nachfrage bestimmt werden kann, hier jedoch von dem nach Treu und Glauben zu bestimmenden Eigeninteresse der anderen Partei begrenzt wird.26 3. Kooperationsgewinne und Thomas von Aquins utilitas Diese Begrenzung antagonistischen Gewinnstrebens einer einzelnen Partei, für deren Anwendung Thomas klare Grundsätze entwickelt, macht schließlich Ko-
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Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 174. Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 174. 23 Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 81 ff. 24 Codex Justinianus 4, 44, 2 und 4, 44, 8. Danach steht dem Verkäufer ein Recht zur Auflösung des Kaufvertrags und zur Rückforderung der Kaufsache gegen Rückgabe des Preises zu, wenn der Kaufpreis geringer als die Hälfte des wahren und gerechten Wertes („verum pretium“, „iustum pretium“) der Sache war. Für den Text und eine aktuelle Übersetzung vgl. Blume/Frier/Connolly u.a. (Hrsg.), The Codex of Justinian II (2016). Zum aktuellen Schrifttum vgl. Schulze, Die laesio enormis in der deutschen Privatrechtsgeschichte (1973); Mayer-Maly, FS Larenz (1983), S. 395; Oechsler, Gerechtigkeit (1997), S. 107 ff.; Emmert, Auf der Suche nach den Grenzen vertraglicher Leistungspflichten (2001), S. 173 f.; Finkenauer, FS Westermann (2008), S. 185. 25 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 77 a. 1 co. „Et ideo debet secundum aequalitatem rei inter eos contractus institui.” 26 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 77 a. 1 co. 22
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operationsgewinne (mutual gains) durch die Realisierung von Interessenunterschieden möglich.27 Fuller hat hierin, in dem wertschöpfenden, an den jeweiligen tatsächlichen Interessen der Parteien orientierten synallagmatischen Austausch, der kongruenten Hingabe dessen, was eine Partei als gering, die andere jedoch als hoch wertet im Gegenzug zu dem, was sie selbst als hoch, die andere jedoch als gering wertet, das Wesen der Mediation ausgemacht: „The morality of mediation lies in optimum settlement, a settlement in which each party gives up what he values less, in return for what he values more.”28 Thomas hat diesem Verständnis der Verhandlung als wertschöpfender, auf gegenseitigen Nutzen gerichteter synallagmatischer Austauschbeziehung geistig den Weg bereitet, indem er unkooperatives, antagonistisches Verhandlungsverhalten, das gerade jene wertschöpfenden Kooperationsgewinne ausschließt, als in sich ungerecht betrachtet: Hat eine Partei ein tatsächliches Interesse an einer zur Verhandlung stehenden Sache, während diese für die andere Partei wertlos ist, so ist es der anderen Partei verwehrt, aus dem besonderen Interesse ihres Verhandlungspartners an der Sache einseitig „Profit zu schlagen“ oder ihm sogar ein nicht vorhandenes eigenes Interesse vorzuspiegeln, um so den Preis aufgrund der gestiegenen Nachfrage künstlich in die Höhe zu treiben.29 Denn der Nutzen (utilitas), den der Verhandlungsgegenstand der einen Partei aufgrund ihres besonderen Interesses bietet, erwächst aus den Umständen und ist gerade nicht der anderen Partei zuzurechnen.30 In dem berühmten von Fisher, Ury und Patton entwickelten Orangenbeispiel31 wäre der Weg zu paretooptimalen Kooperationsgewinnen verbaut, wenn die eine Schwester auf der Hälfte des Fruchtfleisches bestehen oder eine erhebliche Kompensation für die Herausgabe „ihrer“ Hälfte verlangen würde, obwohl sie in Wirklichkeit nur an der Schale interessiert ist. Die Realisierung pareto-optimaler Ergebnisse ergibt sich dagegen bei Anwendung der von Thomas formulierten Gerechtigkeitskriterien synallagmatischer Äquivalenz. Diese Beispiele, die drei für die Verhandlungstheorie zentrale Fragen aufwerfen, sollen als Illustration genügen, um die außerordentliche Bedeutung der klassischen Gerechtigkeitstheorien für die innere und äußere Ausgestaltung des
27
Grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56. Vgl. auch BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 56; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 189 ff. 28 Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 (1963). 29 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 77 a. 1 co.: „Si vero aliquis multum iuvetur ex re alterius quam accepit, ille vero qui vendidit non damnificatur carendo re illa, non debet eam supervendere.” 30 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 77 a. 1 co.: „Quia utilitas quae alteri accrescit non est ex vendente, sed ex conditione ementis, nullus autem debet vendere alteri quod non est suum;“ 31 Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 57.
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
Mediationsverfahrens aufzuzeigen. Wir wollen uns bei unserer Darstellung auf die klassische Theorie der Gerechtigkeit in der aristotelischen Tradition beschränken, wie sie uns in der Philosophie Thomas von Aquins32 gegenübertritt und in der Gegenwart vor allem durch John Finnis33 weiterentwickelt wird. Sie enthält das klarste und umfassendste System der Gerechtigkeit, dem auch die heute in der Rechtsprechung gebräuchliche Systematik der Vertragsgerechtigkeit zugrunde liegt und das bis auf den heutigen Tag für Rechtsphilosophie und Rechtspraxis gleichermaßen von Bedeutung ist.34 Mit ihrer Hilfe lassen sich die schlaglichtartig vorgestellten Grundprinzipien der modernen Verhandlungstheorie dogmatisch herleiten und in ein geschlossenes philosophisches System integrieren. Theorien der prozeduralen Gerechtigkeit35, die den Gerechtigkeitsmaßstab allein aus der Gewährleistung eines gerechten Verfahrens und dem Diskurs der Beteiligten herleiten, können nur begrenzt, nämlich allein über die Definition von Verfahrensgrundsätzen, einen Beitrag zur Ermittlung konkreter materieller Gerechtigkeitskriterien leisten. Wir werden auf diese Ansätze eingehen, soweit sie für unsere Untersuchung relevant werden.
II. Recht und Gerechtigkeit: Antinomie, Kongruenz oder Identität? Im Mediationsverfahren ersetzen die Parteien das Ordnungsregime des objektiven Rechts durch von ihnen selbst bestimmte Kriterien der Gerechtigkeit. Bevor wir auf den Inhalt des rechtsersetzenden Gerechtigkeitsmaßstabes eingehen, ist das Verhältnis dieser autonomen Ordnung zum Recht, die Beziehung von Recht und Gerechtigkeit zu klären. Dieses Verhältnis wird, wie wir später sehen werden, insbesondere bei der Frage nach der Integration des Rechts in das Mediationsverfahren im Rahmen der Bestimmung der Einigungsoptionen von zentraler Bedeutung sein.1 Dass Recht und Gerechtigkeit nicht im Verhältnis vollständiger Kongruenz zueinander stehen, lässt bereits die Bindung der
32 Die grundlegenden Aussagen Thomas von Aquins zur Gerechtigkeit finden sich in Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 77 - 122. 33 Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 161 ff. 34 Hierzu auch Engisch, Gerechtigkeit (1971), S. 151; Oechsler, Gerechtigkeit (1997), S. 55. 35 Vgl. hierzu vor allem die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls sowie Habermasʼ und Apels Diskursethik: Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (1975); Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (1977); Apel, Diskurs und Verantwortung (1988); Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln (1983); Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991). 1 Vgl. unten S. 173 ff.
II. Recht und Gerechtigkeit: Antinomie, Kongruenz oder Identität?
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rechtsprechenden Gewalt an „Recht und Gesetz“ nach Art. 20 Abs. 3 GG erahnen.2 Begreift man mit Thomas das Recht als Instrument der Verwirklichung der entsprechend der aristotelischen Tradition als Tugend verstandenen Gerechtigkeit in der menschlichen Gesellschaft3, so erscheint die Gerechtigkeit als Attribut des Rechts.4 Anders ausgedrückt: Recht ist das Objekt der Gerechtigkeit („ius est obiectum iustitiae“)5. Letztes Ziel des Rechts ist nach Thomas die Verwirklichung der Gerechtigkeit oder, wie es das BVerfG formuliert, „die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen ... echte Gerechtigkeitspostulate verwirklichen [zu] wollen“6. Allerdings kann das Recht dieses Ziel sowohl erreichen als auch verfehlen. Das Recht geht daher im Idealfall von der Gerechtigkeit aus, die es zu verwirklichen bestimmt ist, hat jedoch nur insoweit an ihr Anteil, als es ihr entspricht. Thomas geht sogar noch weiter und erklärt, dass das menschliche Recht (lex humanitus) nur insoweit überhaupt Rechtsqualität besitzt, als es aus dem natürlichen Recht (lex naturae) hervorgeht. Das natürliche Recht ist wiederum nichts anderes als die durch den Verstand vermittelte Teilhabe des Menschen am ewigen Recht (lex aeterna) und damit an der Gerechtigkeit.7 Im Anschluss an Augustinus gelangt Thomas daher zu der Schlussfolgerung, dass die Rechtsqualität von Normen von dem Maß ihrer Gerechtigkeit abhängt. Weicht es von der Gerechtigkeit, vom natürlichen Recht ab, so kann es nicht länger als Recht, sondern nur noch als Perversion (corruptio) des Rechts angesehen werden.8
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Bei dieser insoweit etwas missverständlichen Formulierung, die im Zuge der Renaissance des Naturrechts in der Nachkriegszeit aufgenommen worden ist, umfasst der Begriff des Rechts den Geltungsanspruch überpositiver Gerechtigkeit, während der Begriff des Gesetzes dagegen auf das positive Recht zielt. 3 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 95 a. 1 co: „Unde necessarium fuit ad pacem hominum et virtutem, ut leges ponerentur, quia sicut philosophus dicit, in I Polit., sicut homo, si sit perfectus virtute, est optimum animalium; sic, si sit separatus a lege et iustitia, est pessimum omnium; quia homo habet arma rationis ad explendas concupiscentias et saevitias, quae non habent alia animalia.“ 4 So auch Engisch, Gerechtigkeit (1971), S. 154 f., der allerdings zwischen subjektiver Gerechtigkeit (Gerechtigkeit als Tugend) und objektiver Gerechtigkeit (Gerechtigkeit als Attribut des Rechtes) unterscheidet und die erste aus der zweiten herleitet. Vgl. auch Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 57 a. 1 co.: „Et hoc quidem est ius. Unde manifestum est quod ius est obiectum iustitiae.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 5 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 57 a. 1 co. 6 BVerfGE 6, 132 = NJW 1957, 579, 583. 7 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 76, S. 101, Fn. 405. 8 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 95 a. 2 co.: „Unde omnis lex humanitus posita intantum habet de ratione legis, inquantum a lege naturae derivatur. Si vero in aliquo, a lege naturali discordet, iam non erit lex sed legis.“
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird fast ein halbes Jahrtausend später diesen Gedanken, dass „Gesetze mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit erlassen worden sind, daß ihnen jede Geltung als Recht abgesprochen werden muß“9, im Anschluss an das Bundesverfassungsgericht10 in seinem Mauerschützenurteil11 ähnlich formulieren, indem er feststellt, „dass eine Staatspraxis … die offenkundig Menschenrechte verletzt … nicht durch Art. 7 Abs. 1 EMRK gedeckt sein kann. Diese Praxis, welche die Gesetzgebung, auf die sie sich hätte stützen sollen, ihrer Substanz entleert hat … kann nicht als ‚Recht‘ i.S. von Art. 7 EMRK angesehen werden.“12 Da die staatliche Normordnung somit aus der Perspektive der Naturrechtslehre nur insoweit über Rechtsqualität verfügt, als sie Ausdruck materieller Gerechtigkeit ist, ist auch ihre Kodifizierung durch den Gesetzgeber dem Gerechtigkeitsanspruch verpflichtet.13 Entsprechen staatliche Gesetze nicht oder nur unvollkommen dem Gebot materieller Gerechtigkeit, so ist die rechtsprechende Gewalt im Wege der Rechtsfortbildung zur Korrektur des durch das fehlerhafte Gesetz hervorgerufenen ungerechten Ergebnisses berufen. Das Gesetz muss insoweit der richterlichen Billigkeit weichen. Der Richter hat, wie es das BVerfG im Soraya-Urteil formuliert hat, die „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren.“14 Dabei, so das Gericht, „muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt.“15 Diese der objektiven Rechtsordnung zugrunde liegende Vorstellung von Werten, die in den Gesetzen zum Ausdruck gelangen sollen, ist „die Forderung
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BVerfGE 6, 132 = NJW 1957, 579, 583. BVerfGE 95, 96 = NJW 1997, 929, 931 (Mauerschützen). Vgl. hierzu oben S. 167 f. 11 EuGRZ 2001, 210 = NJW 2001, 3035, 3040 (Schießbefehl). 12 Ebenda. 13 Die aus der Logik der Verknüpfung von Recht und Gerechtigkeit folgende, nur konsequente Negierung der Rechtsqualität ungerechter Gesetze aus der Perspektive der Rechtsphilosophie Thomas von Aquins bedeutet nicht, dass die Rechtsordnung solchen Gesetzen keine Geltungskraft beimessen würde. Nach der Radbruchʼschen Formel wird aus Gründen der Rechtssicherheit die Suspendierung der Geltung formeller Gesetze nur in extremen Ausnahmenfällen in Betracht kommen. 14 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebungen durch den Verfasser. 15 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebung durch den Verfasser. 10
II. Recht und Gerechtigkeit: Antinomie, Kongruenz oder Identität?
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nach materieller Gerechtigkeit“16, das „Gebot materieller Gerechtigkeit“17, die „Idee der Gerechtigkeit“18. Dass diese Idee der Gerechtigkeit, wie es das BVerfG im Soraya-Urteil etwa für den Fall des Ausschlusses des Schadensersatzes für immaterielle Schäden angenommen hat, „in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt“, wurde zum Ausgangspunkt der ADR-Bewegung, und es waren ebendiese systemimmanenten Schwächen des Gesetzesrechts, die der alternativen Streitbeilegung als Verfahrensalternative zum streitigen Zivilprozess letztlich entscheidend zum Durchbruch verhalfen. Ihrer Zielsetzung und Struktur entsprechend ist daher auch die Mediation darauf ausgerichtet, die Gerechtigkeitsdefizite des formalen Gesetzesrechts durch ein informales Verfahren der Billigkeit zu korrigieren und so den Gerechtigkeitsgehalt des Rechts und damit das Recht selbst in seiner innersten, konstituierenden Identität wiederherzustellen. Die Mediation offenbart sich so nicht etwa als Antinomie zum Recht, sondern im Gegenteil als Instrument der Wiederherstellung des auf die Verwirklichung von Gerechtigkeit zielenden Rechts. 1. Mediation als Billigkeit Als Ergebnis unserer Überlegungen ist die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Mediation und materiellem Recht zu präzisieren: Das festgestellte Spannungsverhältnis zwischen Mediation und Recht als sich polar gegenüberstehenden Steuerungssystemen betrifft das Verhältnis der Mediation zum formalen, staatlich geschaffenen und durch Ansprüche vermittelten Gesetzesrecht. Zwischen Mediation und informalem Billigkeitsrecht besteht dagegen eine untrennbare Einheit: Die Mediation ist eine der vielfältigen Ausprägungen rechtlicher Billigkeit. Sie ist auf die Realisierung des Rechts und damit auf die Durchsetzung der Gerechtigkeit gerichtet. Krankt das Recht insgesamt, weil es in seiner formalen, durch Gesetzesrecht vermittelten Dimension der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verhelfen kann, so muss dieses Gerechtigkeitsdefizit durch Mobilisierung des Billigkeitsrechts – der komplementären, durch Mediation vermittelten informalen Dimension des Rechts – kompensiert und das Recht so in seiner Integrität wiederhergestellt werden. Auch aus der Perspektive der Gerechtigkeit ergibt sich damit das Ergebnis, das wir bereits im Rahmen der Strukturanalyse herausgearbeitet haben: Dass Mediation und Zivilprozess als Ausprägungen des Prinzips des Formalen und des Informalen – als formale Dimension des Gesetzes- und als informale Dimension des Billigkeitsrechts – in einem Verhältnis sich ergänzender, aufeinander angewiesener Komplementarität stehen. Jedes der beiden Verfahren für sich
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BVerfGE 95, 96 = NJW 1997, 929, 930. BVerfGE 95, 96 = NJW 1997, 929, 930. 18 BVerfGE 6, 132 = NJW 1957, 579, 583. 17
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
allein wäre nicht funktionsfähig: Weder ist die Mediation außerhalb des Schattens des subsidiär zur Verfügung stehenden Zivilprozesses denkbar, noch wäre das Gebot des suum cuique tribuere19, der Anspruch der Gerechtigkeit, jedem das Seine, das ihm zustehende zukommen zu lassen, allein durch einen auf die Subsumption von Rechtsnormen reduzierten zivilprozessualen Konfliktlösungsmechanismus möglich. Gemeinsam bilden indes beide Seiten eine Einheit, in der die Stärke der einen die Schwäche der anderen ausgleicht. In welche Richtung das Pendel ausschlägt – in jene des strengen Rechts oder jene ausgleichender Billigkeit – hängt auf der individuellen Mikroebene vom konkreten Einzelfall, auf kollektiver Makroebene dagegen von der Rechtsentwicklung insgesamt ab. Beide Verfahren sind indes demselben Ziel verpflichtet: Der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit. Beide Verfahren sind Teil derselben Ordnung: jener des Rechts. Und beide Verfahren schöpfen aus derselben Quelle: „Den Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze“20 und, so können wir ergänzen, unter Umständen auch in dem von den Parteien ausgehandelten Mediationsvergleich „nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind“21. Damit hat sich der Kreis wieder geschlossen. Was sich prima vista als Antinomie zum Recht darstellt – das auf Verwirklichung materieller Billigkeit zielende informale Verfahren der Mediation –, ist als Ausprägung des dem formalen Recht komplementär gegenüberstehenden informalen Billigkeitsrechts selbst Teil des Rechts und zu seiner Realisierung bestimmt. Gleicht die Mediation die Gerechtigkeitsdefizite des formalen Gesetzesrechts aus, so stellt es in dieser Funktion Gerechtigkeit und damit die Integrität des Recht selbst wieder her. Anstatt Antipode ist die Mediation „Anwältin des Rechts“, indem sie gerade der Herstellung materieller Gerechtigkeit dient. Die Beziehung der Mediation zum Recht ist somit ambivalent und lässt sich schlaglichtartig wie folgt zusammenfassen: Im Verhältnis zum formalen Gesetzesrecht: Antinomie. Im Verhältnis zum informalen Billigkeitsrecht: Kongruenz. Im Verhältnis zum Recht insgesamt, in dem seine formale und seine informale Seite zu einer Einheit verschmelzen: Identität.22 Als Zwischenergebnis unserer Untersuchung der den Mediationsvergleich bestimmenden materiellen Kriterien, die wir aus der klassischen Gerechtigkeitstheorie hergeleitet haben, ist festzuhalten: 19
Vgl. hierzu bereits oben S. 170 ff. und mwN. Fn. 14, S. 170. BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebungen durch den Verfasser. 21 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 22 Der Begriff der Identität meint hier vor allem die Identität eines Teiles als wesensmäßigem Bestandteil des Ganzen. In gleicher Weise ist damit auch die Mediation Teil des Rechts als Instrument der Verwirklichung der Gerechtigkeit, und zwar in der Form des informalen Billigkeitsrechts. 20
II. Recht und Gerechtigkeit: Antinomie, Kongruenz oder Identität?
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1. Die durch verstandesgemäßes Erkennen vermittelte Idee der Gerechtigkeit ist als lex naturae der Rechtsordnung (lex humanitus) immanent. Das Recht – und zwar sowohl das staatlich gesetzte positive Gesetzesrecht als auch das im Rahmen des Mediationsverfahrens ausgehandelte privatautonom geschaffene Parteirecht – ist als Ausdrucksform und Trägerin der Gerechtigkeit zur Verwirklichung materieller Gerechtigkeitspostulate bestimmt und darauf hin ausgerichtet. 2. Die Forderungen materieller Gerechtigkeit (lex naturae) transzendieren als unverfügbare, absolut geltende Gebote (lex aeterna) das Recht (lex humana). Sie sind vom Menschen kraft seines Verstandes (lumen rationis) erkennbar.23 Aus der Perspektive der klassischen Gerechtigkeitsphilosophie kommt dem Recht nur insoweit Rechtsqualität zu, als es den Geboten materieller Gerechtigkeit entspricht. Aufgrund der friedensstiftenden und ordnungsbewahrenden Funktion der Rechtssicherheit wird die Geltung positiver Rechtsnormen jedoch nur in Fällen eines unerträglichen Widerspruchs zur Gerechtigkeit suspendiert. Abweichungen des formalen Rechts von den materiellen Gerechtigkeitspostulaten unterhalb dieser Schwelle werden durch das informale Prinzip der Billigkeit (aequitas) korrigiert. 3. Die Erscheinungsformen der von Verfassung wegen gebotenen Billigkeit sind je nach Rechtssystem und Epoche vielfältig. Sie hat ausgehend von der altgriechischen διάλυσις über das römische lex honorarium mit seiner transactio und discpetio, über die mittelalterliche Minne und die courts of equity, die amicibilis compositio und die Friedensadvokaten des Reichshofrats, die „Commissarii zur gütlichen Composition“, und die Friedensrichter bis zu den Schiedsmännern, Güterichtern und Mediatoren der Gegenwart jeweils unterschiedliche, der jeweiligen Zeit gemäße Formen angenommen. Innerhalb des formalen Gerichtsverfahrens erfolgt die Korrektur unbilliger Ergebnisse in der Anwendung des Gesetzesrechts durch billigkeitsorientierte Auslegung und richterliche Rechtsfortbildung. Außerhalb des Gerichtsverfahrens übernimmt die alternative Streitbeilegung und hier insbesondere die Mediation die Aufagabe der Verwirklichung gerechtigkeitsstiftender, die formale Härte des Gesetzesrechts korrigierender Billigkeit. 4. Formales Gesetzes- und informales Billigkeitsrecht sind gleichermaßen der Verwirklichung der Forderungen materieller Gerechtigkeit verpflichtet. Sie schöpfen aus derselben normativen Quelle und sind auf dasselbe Ziel hin ausgerichtet. Während das formale Gesetzesrecht aufgrund der systemimmanenten Schwächen allzu starrer abstrakt-genereller Normen (komplexitätsreduzierende Verrechtlichung, Transformation in einen Metakonflikt, binärer Schematismus der Rechtsfolgen, Vernachlässigung der Interessen und Verfehlen der 23 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co.: „ … quasi lumen rationis naturalis, quo discernimus quid sit bonum et malum …”. Vgl. hierzu eingehend oben S. 101, Fn. 405. Hervorhebungen durch den Verfasser.
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Normierungsziele im vom Typus abweichenden Einzelfall) jedoch die Gefahr unbilliger Ergebnisse in sich trägt, läuft das informale Billigkeitsrecht umgekehrt Gefahr, aufgrund allzu großer inhaltlicher Weite und des Fehlens konkreter Wertmaßstäbe die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit in der beliebigen Relativität der Vielzahl möglicher Ergebnisse zu verfehlen. 2. Zur rechtsphilosophischen Begründung des Mediationsverfahrens Für die Mediation ergeben sich vor dem Hintergrund der Ergebnisse unserer Untersuchung weitreichende Konsequenzen. a) Rechtsphilosophische und verfassungsrechtliche Begründung des Mediationsverfahrens. Als auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit gerichtete Ausprägung des Billigkeitsrechts ist das Mediationsverfahren ordentlicher Bestandteil der Rechtsordnung. Der in der Praxis überwiegend mit Skepsis betrachtete Sonderstatus der Mediation als alternatives und daher weitgehend unjuristisches Verfahren wird dadurch deutlich relativiert. Als Instrument informaler Billigkeit hat das Mediationsverfahren als komplementäres Gegenstück24 zum Zivilprozess eine unverzichtbare Aufgabe als Korrektiv formeller Ziviljustiz und damit seinen festen Platz innerhalb des Rechtssystems. Entsprechend stand die ADR-Bewegung – die in den 1970er Jahren aus der Kritik an dem von weiten Teilen der Rechtsgemeinschaft als dysfunktional und im Ergebnis ungerecht empfundenen US-Justizsystem hervorgegangen war – daher von Anfang an unter den Leitmotiven der Alternativen in der Ziviljustiz25 sowie der alternativen Rechtsformen und Alternativen zum Recht26. Dieses aus Art. 20 Abs. 3 GG erwachsende Mandat der Mediation zur Verwirklichung materieller Gerechtigkeit durch Verfahren informaler Billigkeit ist nicht nur durch die Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich abgesichert, sondern gegenüber dem insoweit subsidiären Zivilprozess sogar privilegiert, denn „eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung“27. Die Notwendigkeit eines auf Verhandlung ausgerichteten Konfliktbeilegungssystems ergibt sich darüber hinaus bereits aus der ebenfalls auf naturrechtlichen Überlegungen gegründeten Verfahrens- und Institutionenlehre Fullers.28 In ihr leitet er sein System der auf-
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Vgl. hierzu bereits die Ergebnisse der Strukturanalyse oben S. 143 ff. Vgl. hierzu Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982) sowie Strempel, JZ 1983, 596. 26 Vgl. hierzu Blankenburg/Klausa/Rottleuthner (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht (1980). 27 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 28 Hierzu eingehend oben S. 111 ff. mwN. 25
II. Recht und Gerechtigkeit: Antinomie, Kongruenz oder Identität?
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grund der natürlichen Bedingtheiten menschlichen Zusammenlebens determinierten prozeduralen Ordnungsmechanismen einer Gesellschaft her und entwickelt daraus die Trias der für jedes Rechtssystem unabdingbaren Primärprozesse des Verhandelns, des Vermittelns und des Richtens.29 b) Gerechtigkeit als Gestaltungsprinzip. Aus der im vorangegangenen Abschnitt aus der klassischen Gerechtigkeitsphilosophie und dem Verfassungsrecht hergeleiteten Bindung des Rechts – sowohl des durch staatlich gesetzte Normen konkretisierten Gesetzesrechts als auch des im Wege der alternativen Streitbeilegung verwirklichten Billigkeitsrechts – an die Gerechtigkeit ergeben sich rechtsstaatliche Gestaltungsgebote. In prozessualer Hinsicht ist die Rechtsordnung gehalten, das Gerichts- wie auch das Mediationsverfahren so auszugestalten, dass sie geeignet sind, eine an den Grundsätzen materieller Gerechtigkeit orientierte Konfliktlösung herbeizuführen. Werden diese Ziele verfehlt, so sind die Beteiligten zur Korrektur berufen: Im Hinblick auf den Zivilprozess durch Schaffung von Alternativen zur Ziviljustiz sowie alternativer Rechtsformen und Alternativen zum Recht als informalen Verfahren der Billigkeit, im Hinblick auf die Mediation durch eine an den formalen Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit orientierte Verfahrensgestaltung30 und durch die Realisierung interessengerechter und fairer Ergebnisse im konkreten Verfahren. Die lebhaft geführten Diskussionen um den Ausgleich von Machtungleichgewichten, die Vermeidung unbilliger Ergebnisse im Kontrext der Mediation von Mietstreitigkeiten, den Inhalt von Verhaltenskodizes, die Verantwortlichkeit des Mediators für das ausgehandelte Ergebnis sowie die Folgen einer Institutionalisierung der Mediation durch gerichtsverbundene Mediationsprogramme haben in ebendiesem Auseinanderfallen von Verfahrenswirklichkeit und dem Anspruch auf Verfahrens- und Ergebnisgerechtigkeit ihren Ursprung. Das Postulat materieller Gerechtigkeit wird so zum zentralen Gestaltungsprinzip des Mediationsverfahrens im Hinblick auf Struktur und Ergebnis. Damit erhebt sich die Frage, wie Gerechtigkeit als Gestaltungsprinzip im Kontext der Mediation inhaltlich zu bestimmen ist.
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Zum Ganzen Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 306 (1971); Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 27 sowie eingehend oben S. 111 ff. 30 Hierzu können gerade in Fällen struktureller Machtungleichgewichte ausgleichende Maßnahmen des Mediators zur Wiederherstellung gleicher Mitwirkungsmöglichkeiten der Beteiligten gehören.
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III. Grundbedingungen der Gerechtigkeit: Mediation als gerechtes Verfahren Mit der Kennzeichnung der Mediation als gerechtem, als billigem Verfahren der aequitas, als „New Equity“31 haben wir das Mediationsverfahren in den Kontext der klassischen Gerechtigkeitstheorie integriert. Bevor wir uns nun den Kriterien materieller Ergebnisgerechtigkeit zuwenden, ist zunächst das vorgelagerte Problem der strukturellen Gerechtigkeit zu klären. Wenn, wie wir gesehen haben, das Mediationsverfahren dem Gestaltungsprinzip der Gerechtigkeit unterliegt, es als Billigkeitsrecht der Verwirklichung der Forderungen der Gerechtigkeit dient, so kann es nicht nur in seinem Ergebnis, sondern muss auch in seiner Form als gerechtes Verfahren in Erscheinung treten. Wie jedoch sind die Anforderungen an ein solches Verfahren zu bestimmen? 1. Gerechtigkeit als Tugend: Der Grundsatz der Intersubjektivität Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet wieder die klassische aristotelisch-thomistische Gerechtigkeitstheorie. Im Anschluss an Aristoteles ist Gerechtigkeit bei Thomas – wie auch heute etwa bei Pieper32 – vor allem eine Tugend des Menschen, die sich im Gegensatz zu anderen Tugenden wie etwa Mut oder Weisheit jedoch nicht auf ihn selbst, sondern auf andere Menschen bezieht. Der Begriff der Gerechtigkeit, so Thomas, impliziert schon aufgrund seines Namens Gleichheit33, denn gleich kann eine Sache nur in Beziehung zu anderen, nicht aber zu sich selbst sein.34 Gerechtigkeit bestimmt den Menschen daher in seinen Beziehungen zu anderen, und zwar auf zweifache Weise: Individuell im Hinblick auf die Beziehung zu seinen Mitmenschen und kollektiv im Hinblick auf seine Beziehung zur Gemeinschaft.35 31
So Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 329 ff. (2005). Vgl. nur Pieper, Tugenden (1947); Pieper, in: Pieper (Hrsg.), Tradition als Herausforderung (1963), S. 151 ff.; Pieper/Wald, Menschenbild der Tugendlehre (1996); Pieper, Über die Tugenden (2004). 33 Thomas verwendet hier anstelle der üblichen iustitia das Synonym aequalitas. Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 57 a. 1 co.: „Importat enim aequalitatem quandam, ut ipsum nomen demonstrat, dicuntur enim vulgariter ea quae adaequantur iustari. Aequalitas autem ad alterum est.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 34 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 58 a. 2 co.: „Respondeo dicendum quod, sicut supra dictum est, cum nomen iustitiae aequalitatem importet, ex sua ratione iustitia habet quod sit ad alterum, nihil enim est sibi aequale, sed alteri.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 35 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 58 a. 5 co.: „Respondeo dicendum quod iustitia, sicut dictum est, ordinat hominem in comparatione ad alium. Quod quidem potest esse dupliciter. Uno modo, ad alium singulariter consideratum. Alio modo, ad alium in communi, secundum scilicet quod ille qui servit alicui communitati servit omnibus hominibus qui sub communitate illa continentur.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 32
III. Grundbedingungen der Gerechtigkeit: Mediation als gerechtes Verfahren
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Das Merkmal der Intersubjektivität als fundamentales Prinzip der Gerechtigkeit wird nun zum zentralen Unterscheidungsmerkmal zwischen informalem Billigkeits- und formalem Gesetzesrecht, insbesondere zwischen Mediation und Zivilprozess: Während das Mediationsverfahren seinem Wesen nach in erster Linie auf die intersubjektive Orientierung der Parteien aufeinander hin ausgerichtet ist und es in ihm erst in zweiter Linie um die Ausrichtung der Parteien an ausgehandelten Normen geht, steht im Zivilprozess das Verhältnis der realen Lebenswirklichkeit der Parteien zu den normativen Vorgaben des Gesetzesrechts im Vordergrund. Die Beziehung der Parteien zueinander – die relationale Dimension des Konflikts – ist, wenn überhaupt, so doch nur sekundär von Bedeutung und die Dynamik des Verfahrens wirkt einer Orientierung der Parteien aufeinander hin gerade entgegen. Ähnlich verhält es sich mit der Motivation der Beteiligten: Während es in der Mediation jedenfalls auch um die Interessen des Verhandlungspartners und damit darum geht, gleichsam suum cuique dem anderen das ihm Zustehende zu gewähren, geht es im Zivilprozess vielmehr um das ipsum cuique, sich selbst das einem Zustehende zu erwirken. Zwar dient das gerichtliche Verfahren auch hier der Durchsetzung materieller Gerechtigkeit. Allerdings ist die Perspektive im Zivilprozess eine gänzlich andere: Während im Mediationsverfahren die Person des „Gegners“ und seine Interessen jedenfalls auch im Mittelpunkt des Verfahrens stehen, verengt sich der Blick im Zivilprozess ausschließlich auf die Durchsetzung der jeweils eigenen Positionen. Eine solche Sichtweise mag in der Logik heteronomer Konfliktbewältigung als legitim erscheinen. Sie verleiht dem Verfahren als Ganzem jedoch ein Gepräge, das geeignet ist, den Nutzen formaler Verwirklichung normativer Vorgaben im Ergebnis deutlich zu entwerten. Die Vorbehalte, die den Zivilprozess als Instrument vermeintlich aggressiver, ausschließlich eigenorientierter Interessenverwirklichung begleiten, finden hier ihre Ursache. Betrachtet man die in Schrifttum und Praxis deutlich geäußerten Bedenken an der explizit gegen die jeweils andere Partei gerichteten, aggressiven und eskalierenden Dynamik des in die Tradition von „Lynchgesetz, Fehde und Faustrecht“36 eingereihten Zivilprozesses als „Kampf ums Recht“37, in dem „Überraschungsangriffe gestartet, Nebelkerzen gezündet und Nebenkriegsschauplätze eröffnet werden“38, so scheint dieses Urteil auch vom Rechtsgefühl jedenfalls eines erheblichen Teils der Rechtsgemeinschaft geteilt zu werden. Es ist die Tragik des in sich selbst verkrümmten Herzens, des „cor incurvatum in se ipsum“, die einen bleibenden Schatten auf die streitige Durchsetzung auch berechtigter Interessen und Rechte wirft. Dies gilt selbst dann, wenn der Zivilprozess die einzige Möglichkeit darstellt, materielle Gerechtigkeit herzustellen 36
Greger, JZ 1997, 1077, 1078. v. Ihering, Der Kampf um's Recht (1872), S. 11, 45. 38 Greger, JZ 1997, 1077, 1078 f. 37
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
und dem geltenden Recht zur Durchsetzung zu verhelfen. Der Makel der relationalen Destruktivität bleibt, auch wenn er vom Kläger nicht verschuldet ist, sondern allein der Gerechtigkeitsverweigerung des Beklagten entspringt. Im Hinblick auf die bereits eingehend untersuchte destruktive Dynamik des Zivilprozesses und die typischerweise auf Durchsetzung eigener Rechtsansprüche gerichtete Motivation der Parteien ist diese Einschätzung sicherlich zutreffend. Die frühchristliche Praxis, die eine gütliche Einigung und notfalls eine Schlichtung gebot und das Prozessieren – auch und gerade in Fällen materiell berechtigter Ansprüche – ausdrücklich ausschloss, hat in ebendieser Bewertung ihren Ursprung.39 Freilich berührt diese Bewertung mit der Instrumentalisierung des Zivilprozesses als Mittel zur Durchsetzung der Eigeninteressen der Beteiligten und der aus seiner antagonistischen Struktur folgenden – in relationaler Hinsicht – destruktiven Dynamik nur einen Aspekt des gerichtlichen Verfahrens. Denn in seiner rechtsdurchsetzenden und damit gerechtigkeitsermöglichenden Funktion lässt es sich mühelos ebenso als in sich gerechtes Verfahren charakterisieren. Im unmittelbaren Vergleich der Verfahrensstruktur ergeben sich allerdings insoweit erhebliche Bedenken, die – wie wir gesehen haben – auch vom Schrifttum aufgegriffen worden sind. Der Grundsatz des suum cuique ist für den Zivilprozess indes nicht bedeutungslos, denn – wie das Mediationsverfahren – ist auch der Zivilprozess auf die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit hin ausgerichtet. Allerdings ist der Ansatzpunkt ein anderer: Im Gegensatz zur Mediation sind es im gerichtlichen Verfahren nicht die Parteien, die sich gegenseitig das ihnen Zustehende gewähren, sondern es ist der Richter, der jeder Partei das zuteilt, was ihr nach dem objektiven Recht gebührt. Gegenüber der Mediation ist der Zuteilungsmechanismus objektiviert und auf einen neutralen Dritten verlagert. Gerecht ist der Zivilprozess nicht durch die – hier fehlende Orientierung – der Parteien aufeinander hin, sondern durch das an objektiven Kriterien orientierte Ergebnis, soweit in ihm die Wertvorstellungen materieller Gerechtigkeit Ausdruck
39 Luk. 12, 58. Vgl. auch Mt. 5, 39-44; Jkb. 4,1; 1 Kor. 6, 1-8 (Einheitsübersetzung): „Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil? Wenn du mit deinem Gegner vor Gericht gehst, bemüh dich noch auf dem Weg, dich mit ihm zu einigen … Ist es nicht überhaupt schon ein Versagen, dass ihr miteinander Prozesse führt? … , Nein, ihr selber begeht Unrecht und Raub, und zwar an Brüdern.“ Grotius nimmt auf diese Stelle Bezug und macht sich die in ihr hervortretende Ethik zu eigen, indem er sie – Tertullian zitierend – auf die von ihm eigentlich diskutierte Problematik des Völkerrechts anwendet: „Erst recht wird man dies tun müssen, wenn es sich um die Vermeidung eines viel größeren Übels, nämlich eines Krieges, handelt. So führt Tertullian einmal aus: ‚Dass ein Christ nicht in den Krieg ziehen solle, da er ja nicht einmal prozessieren dürfe‘“, was allerdings, wie Grotius schreibt, nur in beschränktem Sinne zu verstehen ist. Grotius, De jure belli ac pacis libri tres (1995), S. 395, lib. 2, cap. 23, § 8 a.E.
III. Grundbedingungen der Gerechtigkeit: Mediation als gerechtes Verfahren
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gefunden haben, und durch die verfahrensmäßige Gleichbehandlung der Parteien. Im Hinblick auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit als Gestaltungsprinzip stellt sich der Zivilprozess gegenüber dem Mediationsverfahren somit als Verfahren zweiten Ranges dar. Das Primat der Mediation gegenüber den übrigen Verfahren im Kontinuum der Konfliktbeilegungsinstrumente, das wir bereits aufgrund seiner methodischen Vorrangstellung vor allem gegenüber dem Zivilprozess herausgearbeitet haben, wird damit auch aus Sicht der Rechtsphilosophie bestätigt. Dass der Zivilprozess aufgrund seiner systemimmanenten Schwächen mit Blick auf die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit häufig suboptimale Ergebnisse produziert, die oft an den tatsächlichen Interessen der Parteien vorbeigehen, ist bereits eingehend dargelegt worden.40 Die nun auch rechtsphilosophisch abgesicherte Subsidiarität des Zivilprozesses entspricht dem Vorrang der kooperativen Verfahren der Verhandlung und Mediation als Ausprägungen des Prinzips der Privatautonomie, von dem das BVerfG in seiner Rechtsprechung stets ausgegangen ist.41 Der Gleichlauf des methodischen und des ethischen Primats der Mediation sowie die aus der Synthese der rechtsphilosophischen Untersuchung in Einklang mit der methodischen Strukturanalyse gewonnene Erkenntnis, dass verfahrensgerecht ausgestaltete Verfahren die Voraussetzung, wenn nicht die Gewähr für materiell gerechte Ergebnisse bieten, mag an dieser Stelle als auch für die rechtspolitische Diskussion relevanter Befund festgehalten werden. 2. Das Maß der Gerechtigkeit: Gleichheit Wie wir bei der Herleitung der intersubjektiven Dimension der Gerechtigkeit, der Ausrichtung und Beziehung aufeinander hin, gesehen haben, sind Gerechtigkeit und Gleichheit untrennbar miteinander verknüpft. Der Name der Gerechtigkeit – aequalitas – ist, wie Thomas betont, Gleichheit.42 Sie ist als Maßstab beiden Erscheinungsformen der Gerechtigkeit, der distributiven wie auch der kommutativen Gerechtigkeit, immanent, und zwar der einen in geometrischer, der anderen in arithmetischer Form.43 Und auch in der modernen Naturrechtslehre John Finnisʼ bildet die Gleichheit eines der drei zentralen Elemente 40
Vgl. hierzu ausführlich oben S. 12 ff. BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 42 Thomas verwendet hier anstelle der üblichen iustitia das Synonym aequalitas. Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 57 a. 1 co.: „Importat enim aequalitatem quandam, ut ipsum nomen demonstrat, dicuntur enim vulgariter ea quae adaequantur iustari. Aequalitas autem ad alterum est.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 43 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 61 a. 2 ad 2: „Ad secundum dicendum quod generalis forma iustitiae est aequalitas, in qua convenit iustitia distributiva cum commutativa. In una tamen invenitur aequalitas secundum proportionalitatem geometricam, in alia secundum arithmeticam.“ 41
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
der Gerechtigkeit.44 Gerechtigkeit als strukturelles Gestaltungsprinzip bedeutet daher immer auch Gleichheit. Im Hinblick auf die Gestaltung des Mediationsverfahrens ergibt sich daraus für die Parteien der Grundsatz gleicher Mitwirkung an der Herbeiführung einer Einigung, für den Mediator das Neutralitätsgebot. Relevant wird dies vor allem bei bestehenden Machtasymmetrien zwischen den Parteien, bei denen der Mediator zur formalen Ungleichbehandlung der gerade nicht über gleiche Verhandlungsmacht verfügenden Parteien berufen ist. In diesen Fällen kann gerade die formale Gleichbehandlung der Parteien durch einen zurückhaltend eingreifenden Mediator zu faktisch ungleichen Mitwirkungsmöglichkeiten am Verfahren und damit zu grob unbilligen Ergebnissen führen. Auch wenn die Gleichheit im Verfahren keine hinreichende Bedingung zur Herbeiführung materiell gerechter Ergebnisse bildet, so ist sie doch insoweit notwendige Voraussetzung. Die Bestimmung der angemessenen Gegenleistung in synallagmatischen Austauschverhältnissen als Gegenstand des Mediationsverfahrens setzt Privatautonomie und damit gleiche Verhandlungsmacht der Parteien voraus. Das Gerechtigkeitsprinzip der Gleichheit tritt uns hier nicht etwa als Beschränkung der dem Prinzip der Privatautonomie innewohnenden Freiheit gegenüber, sondern dient gerade ihrer Verwirklichung. Ist sie nicht oder nur eingeschränkt vorhanden, so ist das Defizit durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung auszugleichen.45 Fassen wir das Ergebnis unserer Untersuchung zusammen: Das Mediationsverfahren unterliegt als Verfahren des Billigkeitsrechts, als „New Equity“, dem Gestaltungsprinzip der Gerechtigkeit. Es ist dazu berufen, nicht nur in seinem Ergebnis, sondern auch in seiner Form als gerechtes Verfahren in Erscheinung zu treten. Ausgehend von der klassischen Gerechtigkeitstheorie Thomas von Aquins lassen sich (1) die intersubjektive Orientierung der Parteien aufeinander hin und (2) das Prinzip der Gleichheit als zentrale Gestaltungsprinzipien struktureller Gerechtigkeit in der Mediation bestimmen. Aus ihnen lassen sich die vielfältigen Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren ableiten, die wir im Folgenden näher untersuchen wollen.
IV. Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren Die Gerechtigkeit tritt uns in der Mediation in vielfältiger Gestalt gegenüber: Sie regelt (1) durch die Verfahrensordnung das Verhalten der Parteien und des 44
Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 160 ff. Etwa durch Einzelgespräche (caucus) des Mediators. Dazu eingehend Calkins, 54 Drake L. Rev. 259 (2006); Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 355 ff. sowie oben S. 29. 45
IV. Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren
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Mediators, sie bildet (2) den materiellen Maßstab des von den Parteien erarbeiteten Einigungsergebnisses und sie bestimmt schließlich (3) die Struktur des Verfahrens und ist ihr als wesensmäßiges Gestaltungsprinzip immanent. Die prozedurale und die materielle Dimension der Gerechtigkeit sind in der Mediation auf das Engste miteinander verwoben: Die erste Erscheinungsform ist prozeduraler, die zweite materieller Natur, die dritte, die Struktur des Mediationsverfahrens, vereint beide Dimensionen zu einer untrennbaren Einheit. Denn die der Mediation wesensmäßig eigene intersubjektive Orientierung der Parteien aufeinander hin46, die eine Anerkennung gleicher Autonomie und eines gleichen Bedürfnisses der Berücksichtigung der jeweiligen Parteiinteressen umfasst, bestimmt sowohl das Verfahren als auch, wie wir im Folgenden sehen werden, das materielle Ergebnis. Den Ausgangspunkt bildet wiederum die klassische thomistische Gerechtigkeitstheorie. 1. Das Dreieck der Gerechtigkeit Thomas unterscheidet im Anschluss an Aristoteles drei Formen der Gerechtigkeit: Die allgemeine oder Gesetzesgerechtigkeit (iustitia generalis sive legalis) sowie die Tausch- (iustitia commutativa) und die Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) als Ausprägungen der besonderen Gerechtigkeit (iustitia particularis) in ihren beiden Zielrichtungen, dem Individuum und der Gemeinschaft. Diese drei Arten der Gerechtigkeit bilden in ihrer Wechselwirkung mit dem Gemeinwesen und den einzelnen Individuen ein Dreiecksverhältnis47: a) iustitia legalis. Die iustitia legalis bestimmt das Verhältnis des Einzelnen zum Gemeinwesen und kennzeichnet bei Aristoteles die Achtung vor dem Gesetz48, bei Thomas das Gemeinwohl (bonum commune).49 Sie umfasst die Bereitschaft, dem Gemeinwesen das ihm nach dem bonum commune Zustehende zu geben.50 Denn die praktische Vernunft drängt den Einzelnen nicht lediglich
46 So schon Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971): „ … the central quality of mediation, namely, its capacity to reorient the parties toward each other … .“ Zur Herleitung des Wesens der Mediation vgl. bereits oben S. 124 ff. 47 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 58 a. 5 co.: „ … iustitia, sicut dictum est, ordinat hominem in comparatione ad alium. Quod quidem potest esse dupliciter. Uno modo, ad alium singulariter consideratum. Alio modo, ad alium in communi ... .“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 48 Grundlegend hierzu Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5, 3. 49 Hierzu Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 58 a. 5 co.: „ … quod ordinat hominem ad bonum commune.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 50 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 58 a. 5 co.: „Et quia ad legem pertinet ordinare in bonum commune, ut supra habitum est, inde est quod talis iustitia, praedicto modo generalis, dicitur iustitia legalis, quia scilicet per eam homo concordat legi ordinanti actus omnium virtutum in bonum commune.“ Hervorhebungen durch den Verfasser.
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
zur Erfüllung der eigenen Bedürfnisse, sondern darüber hinaus zu einer Partizipation an einem größeren Ganzen, in dem die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse als konstituierender Bestandteil mit enthalten ist.51 Wer der Gemeinschaft dient, dient allen, die ihr angehören. Da der Einzelne der Gemeinschaft als Teil eines Ganzen angehört, bringt das Wohl des Einzelnen das Wohl der Gemeinschaft hervor.52 Jede Form der Gerechtigkeit, sei sie als Tugend auf den Einzelnen selbst oder auf andere hin ausgerichtet, dient damit letztlich dem Gemeinwohl.53 Die iustitia legalis ist als virtus generalis von entscheidender Bedeutung, weil sie alle anderen Tugenden des Menschen auf das bonum commune hin ausrichtet und in Gang setzt.54 Deutlich wird dieser Zusammenhang im Mediationsverfahren vor dem Hintergrund der Verfahrensordnungen und Verhaltenskodizes, die als prozeduraler Rahmen das Verhandlungsverhalten der Parteien in einer Weise steuern, dass optimale Voraussetzungen für die Erzielung eines an den Grundsätzen der iustitia commutativa und distributiva ausgerichteten Verhandlungsergebnisses bestehen. Rechtsträger ist unmittelbar die Gemeinschaft, mittelbar jedoch auch der Einzelne, dem durch seine Teilhabe am Gemeinwohl der aus der allgemeinen Gerechtigkeit fließende Nutzen ebenfalls zukommt. Verpflichtet wird zunächst der Einzelne, dem die Pflicht der Einhaltung der Gesetze zur Förderung des Gemeinwohls auferlegt wird. Verpflichtet ist jedoch auch die Gemeinschaft, der die Bestimmung der jeweiligen gesetzlichen Verhaltenspflichten zukommt. Im Kontext der Mediation umfasst die iustitia legalis die rechtliche Dimension55 der Verfahrensgerechtigkeit, d.h. die Einhaltung verbindlicher Verfahrensregeln und Verhaltensgebote eines fairen
51 So ausdrücklich Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 118 im Anschluss an Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 58 a. 5 co. 52 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 58 a. 5 co.: „Manifestum est autem quod omnes qui sub communitate aliqua continentur comparantur ad communitatem sicut partes ad totum. Alio modo, ad alium in communi, secundum scilicet quod ille qui servit alicui communitati servit omnibus hominibus qui sub communitate illa continentur.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 53 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 58 a. 5 co.: „Pars autem id quod est totius est, unde et quodlibet bonum partis est ordinabile in bonum totius. Secundum hoc igitur bonum cuiuslibet virtutis, sive ordinantis aliquem hominem ad seipsum sive ordinantis ipsum ad aliquas alias personas singulares, est referibile ad bonum commune, ad quod ordinat iustitia.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 54 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 58 a. 6 arg. 3: „Sed ad iustitiam legalem pertinet quod actus omnium virtutum ordinentur ad altiorem finem, idest ad bonum commune multitudinis, quod praeeminet bono unius singularis personae. Ergo videtur quod iustitia legalis essentialiter sit omnis virtus.” Hervorhebungen durch den Verfasser. 55 Vgl. oben S. 186.
IV. Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren
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Verfahrens, wie sie etwa in den jeweiligen Verfahrensordnungen oder dem Europäischen Verhaltenskodex für Mediatoren56 normiert sind. b) iustitia commutativa. Die iustitia commutativa, die Tauschgerechtigkeit oder ausgleichende Gerechtigkeit, bestimmt das Verhältnis der Einzelnen unter- und zueinander.57 Sie umfasst die Bereitschaft, dem anderen das ihm aufgrund einer Austauschbeziehung unter Gleichen Zustehende zu gewähren. Die iustitia commutativa ist darauf gerichtet, durch eine angemessene, äquivalente Gegenleistung ein Missverhältnis zwischen zwei Vertragsparteien auszugleichen, das dadurch entstanden ist, dass der eine auf Kosten des anderen durch ein Rechtsgeschäft etwas erlangt hat. Der Ausgleich erfolgt durch die Hingabe einer gleichen (aequalitas)58, einer äquivalenten Gegenleistung, so dass die arithmetische Mitte (arithmetica media)59 zwischen dem Wertzuwachs des Leistungsempfängers auf der einen und dem Wertverlust des Leistenden auf der anderen Seite wieder hergestellt wird.60 Maßstab ist die arithmetische Gleichheit, die Äquivalenz zwischen Leistung und Gegenleistung (a=b). Der Leistende empfängt als Gegenleistung exakt den Wert dessen, was er geleistet hat. Rechtsträger und zugleich Verpflichtete sind die Einzelnen in ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander. Im Kontext des Mediationsverfahrens wird die iustitia commutativa vor allem bei der Bewertung der Einigungsoptionen im Rahmen der wertverteilenden Verhandlung relevant. c) iustitia distributiva. Die iustitia distributiva, die Verteilungsgerechtigkeit oder austeilende Gerechtigkeit, bestimmt das Verhältnis des Gemeinwesens zum Einzelnen.61 Sie umfasst die Bereitschaft der Gemeinschaft, ihren einzelnen Gliedern das ihnen Zustehende zukommen zu lassen. Maßstab ist auch hier die Gleichheit als Grundbedingung der Gerechtigkeit, allerdings ist ihr Bezug-
56 Abgedruckt in ZKM 2004, 148 f. Im Internet abrufbar unter http://www.ec.europa.eu/ civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct_en.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 57 Dazu grundlegend Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5, 7 f.; Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 61 a. 2 co. 58 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 61 a. 2 co. Vgl. unten Fn. 60. 59 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 61 a. 2 co. Vgl. unten Fn. 60. 60 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae IIª-IIae q. 61 a. 2 co.: „Sed in commutationibus redditur aliquid alicui singulari personae propter rem eius quae accepta est, ut maxime patet in emptione et venditione, in quibus primo invenitur ratio commutationis. Et ideo oportet adaequare rem rei, ut quanto iste plus habet quam suum sit de eo quod est alterius, tantundem restituat ei cuius est. Et sic fit aequalitas secundum arithmeticam medietatem, quae attenditur secundum parem quantitatis excessum, sicut quinque est medium inter sex et quatuor, in unitate enim excedit et exceditur.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 61 Grundlegend hierzu Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5, 6; Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 61 a. 2 co.
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sobjekt hier nicht das Maß der Güter – jeder erhält die gleiche Leistung –, sondern das Verhältnis der Leistung zu den Eigenschaften einer Person.62 Diese Eigenschaften, die Würdigkeit einer Person (αξια)63, eine bestimmte Leistung zu erhalten, können höchst unterschiedlich sein: Sie können in den Interessen, der Bedürftigkeit, dem Verdienst, der Leistung sowie den Fähigkeiten des Einzelnen u.ä. begründet sein.64 Die iustitia distributiva zielt damit nicht auf die arithmetische Gleichheit des Maßes der Leistung (a=b), sondern auf die geometrische, proportionale Gleichheit (a:B = c:D) des Verhältnisses der jeweiligen zu verteilenden Leistung zu den entsprechenden Interessen, der Bedürftigkeit, dem Verdienst, der Leistung, den Fähigkeiten oder anderen Eigenschaften des Einzelnen (proportionem rerum ad personas). Gleiches wird gleich, Ungleiches ungleich behandelt: Wer doppelt so hohen Bedarf hat, doppelt so viel leistet, doppelt so viel verdient etc. soll auch doppelt so viel erhalten. Rechtsträger ist hier der Einzelne, Verpflichtete die Gemeinschaft, der die Aufgabe der gerechten Zuteilung zukommt. Das Gerechtigkeitsprinzip der iustitia distributiva lässt sich jedoch auch auf die Beziehungen der Einzelnen untereinander erweitern, so dass diese wie bei der iustitia commutativa zugleich Rechtsträger und Verpflichtete sind. In der Mediation ist das Gerechtigkeitsprinzip der iustitia distributiva ebenso wie die iustitia commutativa bei der Bestimmung der Einigungsoptionen von Bedeutung und findet seine Ausdrucksform hier insbesondere in den jeweiligen Parteiinteressen sowie den objektiven (Verteilungs-)Kriterien. 2. Verfahrensgerechtigkeit (iustitia legalis) Im Gang unserer Untersuchung haben auf der Grundlage der klassischen Gerechtigkeitstheorie eine Systematik der drei archetypischen Ausformungen der 62 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 61 a. 2 co.: „Et ideo in iustitia distributiva non accipitur medium secundum aequalitatem rei ad rem, sed secundum proportionem rerum ad personas, ut scilicet, sicut una persona excedit aliam, ita etiam res quae datur uni personae excedit rem quae datur alii. Et ideo dicit philosophus quod tale medium est secundum geometricam proportionalitatem, in qua attenditur aequale non secundum quantitatem, sed secundum proportionem. Sicut si dicamus quod sicut se habent sex ad quatuor, ita se habent tria ad duo, quia utrobique est sesquialtera proportio, in qua maius habet totum minus et mediam partem eius, non autem est aequalitas excessus secundum quantitatem, quia sex excedunt quatuor in duobus, tria vero excedunt duo in uno.” Hervorhebungen durch den Verfasser. 63 Nikomachische Ethik, 5, 6. 64 Zu den für die Zeit des Thomas bedeutsamen Kriterien Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 61 a. 2 co.: „Et ideo in distributiva iustitia tanto plus alicui de bonis communibus datur quanto illa persona maiorem principalitatem habet in communitate. Quae quidem principalitas in aristocratica communitate attenditur secundum virtutem, in oligarchica secundum divitias, in democratica secundum libertatem, et in aliis aliter.“ Hervorhebungen durch den Verfasser.
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Gerechtigkeit entwickelt und sie zunächst holzschnittartig in den Kontext des Mediationsverfahrens eingeordnet. Im Folgenden wollen wir nun die Wirkung der Gerechtigkeit in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen im Mediationsverfahren näher untersuchen, um den möglicherweise vom Recht divergierenden Wertmaßstäben nachzuspüren, die die Parteien dem von ihnen ausgehandelten Mediationsvergleich zugrunde legen. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen soll zunächst die Verfahrensgerechtigkeit stehen. Im Kontext der Mediation wird der Begriff der Verfahrensgerechtigkeit allerdings in einer Vielzahl von Bedeutungsvarianten verwendet, die nicht immer dem Begriff der iustitia legalis im Sinn der klassischen Gerechtigkeitstheorie entsprechen. Daher ist zunächst eine begriffliche Klärung erforderlich. Der Begriff der Verfahrensgerechtigkeit ist im Zusammenhang mit dem Mediationsverfahren vielgestaltig. Er weist drei Dimensionen auf, die klar voneinander zu unterscheiden sind: (a) Der Begriff hat zunächst eine rechtliche Dimension, die auf verbindliche Verfahrensregeln und Verhaltensgebote für ein faires Verfahren verweist, ohne jedoch daraus bereits eine Richtigkeitsgewähr für das von den Parteien ausgehandelte Ergebnis abzuleiten. Dieses rechtliche Verständnis der Verfahrensgerechtigkeit entspricht dem Begriff der thomistischen iustitia legalis. (b) Daneben ist Verfahrensgerechtigkeit vor allem ein rechtsphilosophischer Begriff, der insbesondere vor dem Hintergrund der prozeduralen Gerechtigkeitstheorien von Bedeutung ist. Danach bestimmt die Verfahrensgerechtigkeit die Voraussetzungen, unter denen ethisch richtiges Handeln und ein gerechtes Ergebnis zustande kommen können. Es gilt Schmidt-Rimplers Maxime der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus65, wonach Verfahrensgerechtigkeit Ergebnisgerechtigkeit produziert.66 Der rechtliche Begriff der Verfahrensgerechtigkeit wird um ein kausales Element erweitert und mit dem Begriff der Ergebnisgerechtigkeit verknüpft. Die Verfahrensgerechtigkeit verliert ihre Bedeutung als eigenständige rechtliche Kategorien und erfährt eine Instrumentalisierung, in dessen Folge sie exklusiv zur Begründung gerechter Ergebnisse herangezogen wird. Entsprechend lehnen prozedurale Gerechtigkeitstheorien eine objektive Bestimmung absolut geltender und unverletzlicher Gerechtigkeitsprinzipien ab und vertreten einen jeweils subjektiv bestimmten, relativistischen Gerechtigkeitsbegriff mit wechselndem Inhalt, der von den Parteien selbst als Ergebnis eines fiktiven (Gesellschafts-)Vertrages oder eines Diskurses in einem fairen Verfahren ermittelt wird. (c) Schließlich verfügt die Verfahrensgerechtigkeit über eine für die empirische Gerechtigkeitsforschung bedeutsame sozialpsychologische Dimension,
65 Hierzu Schmidt-Rimpler, FS Raiser (1974), S. 3, 5 ff. Vgl. auch Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 151 ff. 66 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 82.
240
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bei der es um den Zusammenhang zwischen Akzeptanz eines bestimmten Ergebnisses und der wahrgenommenen Fairness des Verfahrens geht. Diese für den Zweck unserer Überlegungen vereinfachte Systematik soll uns bei unserer Untersuchung der Erscheinungsformen der Verfahrensgerechtigkeit im Mediationsverfahren im Folgenden als Rahmen dienen. a) Rechtliche Dimension: iustitia legalis In ihrer rechtlichen Dimension dient die Verfahrensgerechtigkeit in der Form der thomistischen iustitia legalis der konkreten Ausgestaltung der Mediation als „gerechtes Verfahren“ des Billigkeitsrechts, als „New Equity“ durch die Implementierung der sieben Grundprinzipien der Mediation, die wir im Rahmen der Strukturanalyse aus dem Wesen der Mediation hergeleitet haben (Privatautonomie, Kooperation, Orientierung an Parteiinteressen, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität des Verfahrens, Vermittlung durch neutralen Dritten).67 Diese noch recht abstrakten Grundprinzipien des Mediationsverfahrens werden prozedural durch eine Reihe von Verfahrensgrundsätzen68 konkretisiert, die das Mediationsverfahren auf vielfältige Weise und mit einem jeweils unterschiedlichen Grad an Verbindlichkeit formen. Eingang in das Mediationsverfahren finden sie auf vielfältige Weise: Durch vertragliche Mediationsvereinbarungen (Verfahrensordnungen, Mediatorverträge), durch unverbindliche, jedoch als Modellregelung bedeutsame Verhaltenskodizes, durch zwingende gesetzliche Vorschriften und schließlich durch Richterrecht. Verfahrensgrundsätze als Konkretisierung der Grundprinzipien der Mediation sind auf Gewährleistung eines „fairen Verfahrens“ und damit auf die Herstellung jener Grundbedingungen des Mediationsverfahrens gerichtet, die ein an den Prinzipien materieller Gerechtigkeit im Sinne der iustitia commutativa und distributiva orientiertes Verhandlungsergebnis ermöglichen. Zwar garantiert ein faires Verfahren allein noch kein materiell gerechtes und damit „gutes Ergebnis“69 – hier unterscheidet sich die iustitia legalis von den prozeduralen Gerechtigkeitstheorien70 –, doch setzt ein materiell gerechtes Ergebnis regelmäßig ein formal faires Verfahren voraus. Der Grundsatz des fairen Verfahrens, der Verfahrensgerechtigkeit, ist zwar im Kontext des Gerichtsverfahrens als heteronomem Entscheidungsprozess entstanden und schützt dort als gegenüber dem Gericht wirkendes subjektiv-
67
Vgl. hierzu eingehend oben S. 127. Vgl. hierzu unten S. 459 ff. 69 Zu den Kriterien eines guten Ergebnisses vgl. oben S. 160 ff. Hierzu auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 70 Hierzu und zur Kritik eingehend oben S. 80 ff. sowie unten S. 191. 68
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individuelles Prozessgrundrecht die Parteien vor einer rechtsstaatliche Grundsätze missachtenden Verfahrensgestaltung.71 Er ist indes – freilich mit anderem Inhalt und anderer Wirkrichtung – auch außerhalb heteronom-hoheitlicher Subordinationsverhältnisse im Rahmen von Vertragsverhandlungen zwischen autonom handelnden Privatrechtssubjekten und insbesondere im Mediationsverfahren von Bedeutung. Diente er im Zivilprozess noch dem Schutz der Parteien vor gerichtlicher Willkür, so kommt ihm im Kontext privatautonomer Vertragsgestaltung freiheitsermöglichende Wirkung zu. In Verhandlungssituationen ist der Grundsatz der Verfahrensgerechtigkeit auf die Herstellung der Voraussetzungen tatsächlicher Vertragsfreiheit, auf die Verwirklichung tatsächlicher Partizipationschancen der Parteien am Entscheidungsprozess, gerichtet. Durch Verfahrensgarantien sollen Einwirkungen auf die freie Willensbetätigung der Verhandlungspartner – Zwang, Einigungsdruck oder Manipulationen – ausgeschlossen und die Parteien in die Lage versetzt werden, von der ihnen formal zukommenden Selbstbestimmungsfreiheit auch tatsächlich Gebrauch zu machen. Verfahrensgerechtigkeit schützt in ihrer rechtlichen Dimension damit die Privatautonomie, die informierte Selbstbestimmung der Verhandlungspartner, und beruht – wie auch die Vorschriften der §§ 242, 138 Abs. 1 BGB – auf der Einsicht, dass ein rein formales Verständnis der Vertragsgerechtigkeit der in tatsächlicher, materieller Hinsicht oft fehlenden Entscheidungsfreiheit des an Erfahrung, Verhandlungsgeschick oder finanziellen Ressourcen unterlegenen Verhandlungspartners nicht gerecht wird.72 Zugleich wird durch die Mobilisierung rechtlich abgesicherter Verfahrensgerechtigkeit, durch die Verhandlung im Schatten des Rechts, das Verhandlungsergebnis legitimiert. Ein faires, die Privatautonomie der Parteien respektierendes Mediationsverfahren bietet zwar nicht die Gewähr, erhöht jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhandlungsergebnis von den Parteien auch nach der Verhandlung akzeptiert und umgesetzt wird. Eingang in das Mediationsverfahren findet die Verfahrensgerechtigkeit durch eine Vielzahl rechtlicher Instrumente, die zugleich als Einfallstore des Rechts in die Mediation fungieren. Dieses Recht der Mediation steht im Mittelpunkt der Untersuchung des Verhältnisses von Mediation und Verfahrensrecht, das wir in Kapitel 6 im Einzelnen näher in den Blick nehmen werden73 und das hier nur in einer holzschnittartigen Vorausschau umrissen werden soll.
71
Vgl. auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 9; Schellhammer, Zivilprozess: Gesetz, Praxis, Fälle (12. Aufl. 2007), S. 11. 72 Vgl. hierzu im Kontext des Spannungsverhältnisses zwischen Individualismus und Kollektivismus Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 45. 73 Vgl. eingehend hierzu unten S. 433 ff.
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1. Vertragliche Verfahrensregelungen. Seinem Charakter als weitgehend privatautonom ausgestaltetem Verfahren entsprechend wird die Mediation vor allem durch vertragliche Verfahrensregelungen geprägt. Verfahrensvorschriften finden sich vor allem in individualvertraglichen Regelungen, insbesondere der Mediationsvereinbarung und dem Mediatorvertrag74 sowie in den Verfahrens- und Mediationsordnungen75 der Mediationsorganisationen oder Gütestellen nach § 15a EGZPO. 2. Gesetzliche Verfahrensregelungen. Mit fortschreitender Institutionalisierung des Mediationsverfahrens gewinnen darüber hinaus gesetzliche Verfahrensregelungen zunehmend an Bedeutung. So finden sich zivilprozessuale Rahmenregelungen bereits auf europäischer Ebene etwa in der Mediationsrichtlinie76 (2008) sowie in der ADR-Richtlinie77 (2013) und der ODR-Verordnung78 (2013) im deutschen Recht in dem 2012 in Kraft getretenen Mediationsgesetz79, mit dem die Vorgaben der Richtlinie in nationales Recht umgesetzt wurden. Auch das 2016 in Kraft getretene Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG)80 nimmt – ungeachtet seiner grundsätzlich methodenoffenen Ausrichtung – in § 18 VSBG auf das Mediationsverfahren Bezug.81 Darüber hinaus sind Regelungen zur rechtlichen Verfahrensgestaltung der Mediation wie auch ihre materiell-rechtlichen Wirkungen (z.B. Verjährung) in
74
Vgl. hierzu unten S. 434 ff. Vgl. hierzu unten S. 436 f. 76 Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivilund Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3. Sie ist freilich nicht unmittelbar anwendbar, sondern Bedarf der Umsetzung in deutsches Recht. Hierzu eingehend Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737. 77 Richtlinie 2013/11/EU v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 63. 78 Verordnung Nr. 524/2013 v. 21.5.2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten v. 21.5.2013, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 1. 79 Eingeführt durch Art. 1 des MedFördG (Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung) v. 12.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 80 Gesetz über die alternative Streitbeilegung in Verbrauchersachen. Eingeführt durch Art. 1 des Umsetzungsgesetzes zur ADR-Richtlinie und zur ODR-Verordnung (Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durchführung der Verordnung über Online-Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten) v. 19.2.2016, BGBl. I 2016, 254 ff. 81 Allerdings wird die Mediation in der Praxis schon mit Blick auf die zur Verfügung stehenden personellen und zeitlichen Ressourcen in Verbraucherstreitbeilegungsverfahren wenn überhaupt, so doch nur sehr selten zur Anwendung gelangen. Dies schon deshalb, weil das vom VSBG als Standard vorgesehenen Verfahren als ein dem Zivilprozess nachgebildetes summarisches schriftliches Vorschlagsverfahren weitgehend gerichtsähnlich ausgestaltet ist. Näher hierzu Wendland, KritV 2016, 301, 310 f. 75
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einer Vielzahl thematisch einschlägiger Einzelvorschriften enthalten, so vor allem im MedG, darüber hinaus aber auch in § 383 Abs. Nr. 6 ZPO bzw. für Anwaltsmediatoren in § 383 Abs. Nr. 6 ZPO iVm. § 43a Abs. 2 BRAO, § 18 BORA (Zeugnisverweigerungsrecht), § 203 S. 1 BGB (Verjährungshemmung), § 278 Abs. 5 ZPO (Güteverhandlung durch Güterichter), § 278a ZPO (Übergang zur Mediation bzw. zu anderen Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung im Rahmen eines Zivilprozesses) sowie in § 15a EGZPO (Einigungsversuch vor Gütestelle).82 In den USA sind zentrale rechtliche Fragen im Schnittpunkt von Mediationsverfahren, Zivilverfahrensrecht und materiellem Recht zum einen in den Zivilverfahrensordnungen der Bundesstaaten geregelt, so etwa für die praxisrelevanten Problembereiche des Vertraulichkeitsschutzes und der Verjährungshemmung.83 Zum anderen haben die Gerichte für den Bereich der in ihre Jurisdiktion fallenden gerichtsverbundenen Mediationsprogramme Mediationsordnungen als local court rules erlassen.84 Darüber hinaus wurde mit dem Uniform Mediation Act85 ein umfassendes Regelwerk als bundesrechtliches Modellgesetz geschaffen, das in einigen Bundesstaten bereits in state law umgesetzt worden ist.86 3. Verhaltenskodizes. Trotz ihres unverbindlichen Charakters von erheblicher leitbildprägender Bedeutung sind die von staatlichen und überstaatlichen Institutionen sowie von berufsständischen Organisationen erarbeiteten Verhaltenskodizes. Sie prägen Rollenverständnis und Pflichtenkreis des Mediators und können darüber hinaus durch Bezugnahme im Mediatorvertrag oder den Verfahrensordnungen der Mediationsverbände Verbindlichkeit erlangen. Mit dem europäischen Verhaltenskodex für Mediatoren87 sowie den Empfehlungen
82 Zum (Verfahrens)Recht der Mediation eingehend unten S. 280 ff., 433 ff. Vgl. auch Gullo, Mediation unter der Herrschaft des Rechts? (2006). 83 Vgl. Ala.Code 1975 § 6-6-26.15; f.S. § 44.401; Tx. CPRC § 154.053 (Vertraulichkeit) sowie H.R.S. § 672E-8. 24 M.R.S. § 2859; N.R.S. § 40.650 (Verjährung). 84 C.R.C. 3.854; M.L.B.R. 7016-1; Rule 5.13. Family Court Services (Superior Court of California, County of San Mateo, Local Court Rules). 85 Abrufbar unter http://www.uniformlaws.org/shared/docs/mediation/mediat_am00.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). Vgl. Hilber, BB 2003, Beilage 5, 9. Zur US-amerikanischen Diskussion vgl. nur McCabe, 3 Pepp. Disp. Resol. L. J. 317 (2003). 86 Zum Zeitpunkt der Drucklegung war der UMA in folgenden 12 Bundesstaaten implementiert: District of Columbia, Hawaii, Idaho, Illinois, Iowa, Nebraska, New Jersey, Ohio, South Dakota, Utah, Vermont, Washington. In Massachusetts und New York wurde 2014 ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren eingeleitet. http://www.uniformlaws.org/ LegislativeFactSheet.aspx?title=Mediation%20Act (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 87 Der Europäische Verhaltenskodex für Mediatoren wurde am 2.7.2004 auf einer Konferenz der Europäischen Kommission zur Mediation angenommen. Abrufbar unter http://www.ec.europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct_en.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017).
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98/257/EG v. 30.3.1998 (Schlichtung) und 2001/310/EG v. 4. 4. 2001 (Vermittlung) liegen umfassende Kodizes mit Leitlinien für die konkrete Implementierung der Verfahrensgerechtigkeit in die Mediation sowie in weitere Streitbeilegungsverfahren vor. 4. Rechtsprechung. Schließlich erfährt das Mediationsverfahren eine prägende Formung durch die Rechtsprechung, die auch über die Wahrung der Verfahrensgerechtigkeit im Streitfall wacht. In den vergangenen Jahren hatten auch in Deutschland die Gerichte vermehrt Anlass, zu Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Mediation Stellung zu nehmen. Die Urteile betreffen neben den externen Verfahrenswirkungen (Hemmung der Berufungsbegründungsfrist88, Hemmung der Klageerwiderungsfrist89, obligatorische Mediation90) auch die interne Verfahrensgestaltung (Haftung des Anwaltsmediators für Rechtsrat91, Verletzung der Verschwiegenheitspflicht durch den Mediator92). Die Rechtsprechung wirkt dabei im Wesentlichen auf zwei Ebenen an der Verwirklichung der Verfahrensgerechtigkeit mit: Auf konkret-individueller Ebene dient sie im Rahmen der individuellen Rechtsverfolgung der Durchsetzung der Verfahrensgerechtigkeit im konkreten Fall. Auf abstrakt-genereller Ebene wirkt sie auf die Gestaltung und Auslegung privatautomomer und gesetzlicher Verfahrensregelungen sowie von Verhaltenskodizes und Verfahrensordnungen ein. Zusammenfassend dient die Verfahrensgerechtigkeit als iustitia legalis der Herstellung der Voraussetzungen materiell gerechter Einigungen durch den im Wege von Verfahrensgarantien vermittelten Schutz der Privatautonomie der Parteien. Verwirklicht wird diese Schutzfunktion durch die Mobilisierung vertraglichen wie gesetzlichen, dispositiven wie zwingenden Rechts als konkrete Ausformung der zentralen Grundsätze der Kooperation und Gleichheit als Gestaltungsprinzipien struktureller Gerechtigkeit sowie der sieben Grundprinzipien der Mediation.
88
Vom Gericht verneint, vgl. OLG Dresden, ZKM 2009, 91. Bei Anordnung des Ruhens des Verfahrens bejaht, vgl. LG Osnabrück, ZKM 2008, 92. 90 Verpflichtung zur Durchführung eines außergerichtlichen Schlichtungsverfahrens vor einer Inanspruchnahme der staatlichen Gerichte ist nicht verfassungswidrig, vgl. BVerfG, ZKM 2007, 128. 91 Haftung bejaht, AG Lübeck, ZKM 2008, 60. 92 Verletzung der Verschwiegenheitspflicht des Anwaltsmediators verneint, Anwaltsgericht Mecklenburg-Vorpommern, ZKM 2007, 194. 89
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b) Rechtsphilosophische Dimension: Prozedurale Gerechtigkeitstheorien Im Gang unserer Untersuchung haben wir gesehen, dass die Verfahrensgerechtigkeit als rechtlicher Begriff93 ein Einfallstor des Rechts in das Mediationsverfahren94 bildet und so der Gewährleistung der Privatautonomie als notwendiger, indes keineswegs hinreichender Bedingung materieller Gerechtigkeit dient. Rechtliche Verfahrensgerechtigkeit ist auf die Herstellung jener Grundbedingungen privatautonomer Entscheidung gerichtet, unter denen materiell gerechte Ergebnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit erzielt werden können. Sie ist aber auch hierauf beschränkt. Die Funktion der formalen Gerechtigkeit in ihrem Verhältnis zur materiellen Gerechtigkeit ist eine dienende. Den Anspruch, inhaltliche Aussagen über Recht und Unrecht aus der Durchführung eines speziellen Verfahrens und der Einhaltung bestimmter Verfahrensvorschriften abzuleiten, erhebt sie nicht. aa) Vertrags- und Diskurstheorien Vollzogen wird dieser Schritt erst mit der kausalen Verknüpfung von Verfahrens- und Ergebnisgerechtigkeit durch die prozeduralen Gerechtigkeitstheorien, die mit dem Anspruch angetreten sind, aus der Form des Verfahrens normativ verbindliche Inhalte abzuleiten. Auf sie verweist der rechtsphilosophische Begriff der Verfahrensgerechtigkeit. Im Zentrum der prozeduralen Gerechtigkeitstheorien steht das Bemühen, „inhaltliche moralische Aussagen aus einem gedanklichen Verfahren abzuleiten.“95 Im Zentrum der prozeduralen Betrachtung steht damit die Idee, dass ein gerechtes Verfahren, das den Parteien eine gleiche Partizipation am Verhandlungsprozess und eine freie, informierte Entscheidung ermöglicht, zwangsläufig zu gerechten Ergebnissen führen muss. Gerecht ist danach alles, was die Parteien vertraglich vereinbaren, vorausgesetzt, dass ihre Einigung in einem gerechten Verhandlungsprozess zustande gekommen ist. Auf eine Formel gebracht: Ein gerechtes Verfahren bringt zwangsläufig ein gerechtes Ergebnis hervor. Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit treten uns in den Formen der Vertragstheorien und der Diskurstheorien gegenüber, von denen die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness von John Rawls und die Diskurstheorie von Jürgen Habermas zu den bedeutendsten Vertretern gehören 93 Insoweit entspricht der Begriff der Verfahrensgerechtigkeit als Rechtsbegriff dem ursprünglichen Wortsinn der „rechtlichen Gerechtigkeit“ (iustitia legalis). Die Begrifflichkeit ergibt sich nach Thomas von Aquin aus der Ausrichtung des Rechts auf das Gemeinwohl als Ziel der Gerechtigkeit. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 58 a. 5 co.: „Et quia ad legem pertinet ordinare in bonum commune, ut supra habitum est, inde est quod talis iustitia, praedicto modo generalis, dicitur iustitia legalis, quia scilicet per eam homo concordat legi ordinanti actus omnium virtutum in bonum commune.“ 94 Vgl. hierzu oben S. 186 ff. 95 So Kaufmann, FS Maihofer (1988), S. 11, 28 zum kategorischen Imperativ Kants.
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und gleichsam die Prototypen beider Kategorien bilden. Für unsere Untersuchung relevant ist allein der Kerngedanke, der beiden Theorien zugrunde liegt: Bei der als Gedankenexperiment gedachten Vertragstheorie die Idee, dass jene Normen als gerecht anzusehen sind, auf die sich die Parteien als rationale Individuen in einem fingierten Naturzustand aufgrund ihrer natürlichen Interessen freiwillig in einem Gesellschaftsvertrag vernünftigerweise einigen würden, bei der Diskurstheorie dagegen die Überlegung, dass Normen als gerecht anzusehen sind, wenn sie sich nur als Konsens in einem rationalen Kommunikationsprozess unter der idealen Sprechsituation der Chancengleichheit, Redefreiheit, der Freiheit von Zwang, der Wahrhaftigkeit sowie der Abwesenheit von Privilegierungen gewinnen lassen. bb) Mediation als Verfahren prozeduraler Gerechtigkeit? Aktualität gewinnt die Kernidee prozeduraler Gerechtigkeitstheorien nun vor dem Hintergrund des Mediationsverfahrens, das – wie wir gesehen haben – als Kontrapunkt zu dem in Verfahren und Ergebnis als ungerecht empfundenen Zivilprozess, als Verfahren der Billigkeit, als gerechtes Verfahren schlechthin in die Geschichte eingetreten ist.96 Wenn prozedurale Gerechtigkeit auf die Bestimmung materiell gerechter Inhalte durch Verfahren ausgerichtet ist, dann müsste die Mediation als ein den Grundannahmen prozeduraler Gerechtigkeitstheorien in besonderer Weise entsprechendes Verfahren gelten, weil es durch die Ausrichtung auf pareto-optimale Ergebnisse eine hocheffiziente Verhandlung ermöglicht, als Idealtyp die Verfahrensbedingungen in vorher nicht dagewesener Weise optimiert und dadurch die privatautonome Selbstbestimmung der Parteien in größtmöglichem Umfang zur Geltung bringt. Eine solche Schlussfolgerung ist indes nicht haltbar, weil sie von der Prämisse ausgeht, dass die Inhalte materieller Wertungen aus dem Verfahren selbst entnommen sind und nicht in verfahrensexternen Quellen, etwa den Wertvorstellungen der Parteien oder der Rechtsordnung, ihren Ursprung haben. Damit folgt eine entsprechende Wertung des Mediationsverfahrens demselben Zirkelschluss, dem bereits die prozeduralen Gerechtigkeitstheorien unterliegen, und wird daher auch von der Kritik des prozeduralen Gerechtigkeitsmodells erfasst.97 Dem Anspruch prozeduraler Gerechtigkeitstheorien und damit der Absage an absolut und universal geltende, verfahrensunabhängige materielle Gerechtigkeitspostulate ist indes schon früh und deutlich – in der deutschsprachigen Diskussion in jüngerer Zeit vor allem durch Arthur Kaufmann – entgegengetreten worden.98
96
Vgl. hierzu oben S. 179 ff. Zur Kritik prozeduraler Gerechtigkeitstheorien eingehend oben S. 80 ff. 98 Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 10 ff., 30 f. Vgl. auch Eder, ZfRSoz 1987, 193 ff. 97
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c) Rechtssoziologische Dimension: Ergebnisakzeptanz durch Verfahrensfairness Eine Annäherung an den Begriff der Verfahrensgerechtigkeit ist nicht nur aus rechtlicher und rechtsphilosophischer Perspektive möglich, sondern kann – und sollte – auch seine rechtssoziologische Dimension erfassen. Dabei steht der Zusammenhang zwischen der Akzeptanz eines bestimmten Ergebnisses und der wahrgenommenen Fairness des Verfahrens im Mittelpunkt der Betrachtung. Für unsere Untersuchung ist die rechtssoziologische Perspektive von besonderer Bedeutung, weil sie das empirische Bindeglied zwischen dem rechtsphilosophischen Begründungsmodell und seiner praktischen Umsetzung im Sinne der iustitia legalis bildet und so alle drei Perspektiven der Verfahrensgerechtigkeit zueinander in Beziehung setzt und zusammenführt. aa) Der Procedural Justice effect Die sozialpsychologische Forschung beschäftigt sich bereits seit Mitte der 70er Jahre intensiv mit dem Einfluss der Gerechtigkeit des Verfahrens auf die Akzeptanz von Verfahrensergebnissen und hat in einer Reihe von Untersuchungen die Bedeutung der Verfahrensgerechtigkeit empirisch nachweisen können. So haben John Thibaut und Laurens Walker in einer vergleichenden Untersuchung des US-amerikanischen Parteiprozesses (adversarial model) und des inquisitorischen Zivilprozesses nach kontinentaleuropäischem Vorbild (inquisitorial model) empirisch nachgewiesen, dass das adversariale Verfahren gerade aufgrund der höheren Prozesskontrolle und größeren Partizipationsmöglichkeiten der Parteien bei der Entscheidungsfindung als fairer und befriedigender wahrgenommen wird.99 Diese Untersuchung war für die weitere sozialpsychologische Erforschung der Verfahrensgerechtigkeit von entscheidender Bedeutung, weil damit die wahrgenommene Verfahrensfairness als von der Ergebnisgerechtigkeit unabhängiger Faktor für die Bewertung von Verfahren nachgewiesen werden konnte (Procedural Justice effect)100. Ausgehend von der US-amerikanischen Diskussion hat sich auf dieser Grundlage eine breite, größtenteils empirische Procedural Justice Forschung entwickelt, die sich mit den Auswirkungen der Verfahrensgerechtigkeit als eigenständigem „Mehrwert des Verfahrens“ auf die Akzeptanz von Verfahrensentscheidungen beschäftigt.101
99
Thibaut, Procedural Justice (1975), passim. Vgl. auch Thibaut/Walker, 66 Cal. L. Rev. 541 (1975). 100 Hierzu Lind/Tyler, Procedural Justice (1988), S. 64 ff., 67 ff.; Shestowsky, 10 Psychol. Public Policy Law 211 (2004); Klinger/Bierbrauer, ZKM 2006, 36, 38. 101 Vgl. die oben Fn. 100 genannten Nachweise sowie Thibaut/Walker, Procedural Justice (1975); Röhl, ZfRSoz 1993, 1 ff.; Tyler/Blader, Cooperation in groups (2000); Törnblom/Vermunt (Hrsg.), Distributive and Procedural Justice (2007); Eigen/Litwin, ILR Review 67 (2014), 171 ff.
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Gerald S. Leventhal hat die Kriterien der Prozess- und Ergebniskontrolle näher konkretisiert und eine Reihe weiterer Kriterien vorgeschlagen: Konsistenz, faire Auswahl der beteiligten Personen, Fairness, Genauigkeit, Effizienz, Repräsentation und Korrigierbarkeit.102 Dabei verlangt die Konsistenzregel, dass für Wertverteilungen gleichbleibende materielle Kriterien und ein konstantes Verfahren zur Anwendung kommen.103 Die faire Auswahl der beteiligten Personen dient dem Schutz der Neutralität, das Fairnessprinzip zielt auf erkennbare Grundregeln zur Verfahrenssteuerung und Wertverteilung und die Genauigkeitsregel fordert, dass eine Verteilung auf der Grundlage möglichst optimaler Informationen erfolgen muss.104 Die Effizienzregel wiederum zielt auf den Vorrang kosten- und zeitsparender Verfahren, während die Repräsentativregel schließlich auf die Berücksichtigung der Interessen und Meinungen der am Verfahren beteiligten Gruppen in allen Phasen des Verfahrens gerichtet ist.105 bb) Verfahrens- und Ergebnisgerechtigkeit Daneben hat sich die Forschung vor allem mit dem Verhältnis von Verfahrensund Ergebnisgerechtigkeit beschäftigt und konnte einen deutlichen Einfluss der Verfahrensgerechtigkeit auf die wahrgenommene Fairness des Ergebnisses nachweisen.106 Danach ist das Verfahren für die Fairnessbewertung der Beteiligten mindestens ebenso wichtig wie das konkret erzielte Ergebnis.107 So werden auch ungünstige Ergebnisse von den Parteien umso eher akzeptiert, je fairer das jeweilige Verfahren wahrgenommen wird.108 Die neuere sozialpsychologische Forschung hat darüber hinaus gezeigt, dass die Parteien in Befragungen die Verfahrensgerechtigkeit teilweise höher bewerten als die Gerechtigkeit 102
Leventhal, in: Gergen/Greenberg/Willis (Hrsg.), Social Exchange (1980), S. 27 ff. Ebenda. Hierzu eingehend auch Bierbrauer, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 317, 322 f.; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 159 f. 104 Bierbrauer, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 317, 322. 105 Bierbrauer, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 317, 322. 106 Vgl. die Nachweise zur Procedural Justice Forschung oben Fn. 99 ff. 107 Zur Bedeutung der wahrgenommenen Verfahrensfairness als unabhängiger Faktor für die Akzeptanz des Verfahrensergebnisses instruktiv Klinger/Bierbrauer, ZKM 2006, 36, 38 sowie Gottwald, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963, 977 f. Vgl. zu dem damit angesprochenen Procedural Justice Effect Thibaut/Walker, Procedural Justice (1975), passim; Lind/Tyler, Procedural Justice (1988), S. 64 ff., 67 ff.; Shestowsky, 10 Psychol. Public Policy Law 211 (2004); Törnblom/Vermunt (Hrsg.), Distributive and Procedural Justice (2007); Eigen/Litwin, ILR Review 67 (2014), 171 ff. 108 Gottwald, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963, 977. 103
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des erzielten Ergebnisses.109 Daraus wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass es den Parteien weniger um das gehen soll, was sie bekommen, als darum, wie sie behandelt werden.110 Verfahren würden daher als Ganzes allein aufgrund der Fairness der Prozeduren und Handlungsabläufe und unabhängig von ihrem Ausgang von den Parteien als gerecht bzw. ungerecht bewertet und diese Einschätzung soll wiederum von entscheidender Bedeutung für die Frage sein, ob auch das Ergebnis von den Parteien als gerecht oder ungerecht empfunden wird.111 Dem ist indes entgegenzuhalten, dass ein Vorrang der Verfahrens- vor der Ergebnisgerechtigkeit nicht existiert.112 Denn es kann schlechterdings nicht davon ausgegangen werden, dass die Parteien allein aufgrund eines fehlerfreien und fairen Verfahrens ein als ungerecht empfundenes Ergebnis widerspruchslos annehmen werden. Die empirischen Erfahrungen der Rechtspraxis, etwa im Rahmen von Kündigungsschutzklagen im Arbeitsrecht, zeigen eindrucksvoll, dass sich die Parteien regelmäßig nicht mit von ihnen als unbillig empfundenen Ergebnissen zufrieden geben, sondern im Wege der Berufungs- und Revisionsentscheidungen die Gerichte zu einer materiellen Korrektur drängen. Deutlich wird der Widerspruch vor allem vor dem Hintergrund der klassischen aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie. Denn wenn die Parteien – quasi lumen rationis naturalis113 – gleichsam durch das Licht ihrer natürlichen Vernunft grundsätzlich erkennen können114, welches Ergebnis gerecht und welches ungerecht ist, dann kann auch ein faires Verfahren diese Erkenntnis nicht verdunkeln und über ein „als ungerecht empfundenes Ergebnis hinwegtäuschen“115. Empirisch ist durch die Untersuchungen in der Tat wenig mehr belegt, als dass grundsätzlich akzeptable Ergebnisse zu einer besonders hohen Zufriedenheit der Parteien führen, wenn diese in einem als fair empfundenen Verfahren erzielt worden sind.116 Denkbar ist eine Priorisierung der Ergebnis-
109
Gottwald, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963,
977. 110 Bierbrauer/Klinger, in: Haft/Hof/Wesche (Hrsg.), Verhaltenstheorie (2001), S. 349, 355 f. („Primat der Verfahrensfairneß“). Hierauf hinweisend Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 219. 111 Röhl, ZfRSoz 1993, 1 112 Zurückhaltend auch Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 219 f., der indes die Frage nach dem Primat der Verfahrensgerechtigkeit offenlässt. 113 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 76, S. 101, Fn. 405. 114 Über diese natürliche Erkenntnisfähigkeit verfügt grundsätzlich jede Person. Zum ethisch neutralen Unschärfebereich vgl. unten S. 194, Fn. 117. 115 Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 24. 116 Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 158.
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gerechtigkeit allenfalls dann, wenn Unsicherheit über die materielle Gerechtigkeit eines Ergebnisses besteht oder wenn das Ergebnis innerhalb eines ethisch neutralen Einigungsbereiches liegt.117 cc) Kontext und Kritik der Procedural Justice Forschung Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass auch die sozialpsychologische Procedural Justice Forschung im geistigen und zeitlichen Kontext prozeduraler Gerechtigkeitstheorien wie der gesellschaftsvertraglichen Theorie der Gerechtigkeit als Fairness von John Rawls und der Diskurstheorie von Jürgen Habermas entstanden ist.118 Eingebettet in ein von Wertepluralismus und Normrelativismus geprägtes postmodernes Weltbild ist auch die Procedural Justice Forschung Ausdruck der aus zunehmender Normskepsis erwachsenden Unsicherheit über den Inhalt materieller Verteilungsmaßstäbe.119 Entsprechend wird die Abkehr von inhaltlichen und der Rückgriff auf prozedurale Kriterien damit begründet, „daß es in der modernen Gesellschaft an objektiven oder allgemein konsentierten Maßstäben für eine gerechte Aufteilung von Lebenschancen und Risiken fehle. Vielfach scheine es daher einfacher zu sein, sich über ein Verfahren zu verständigen als über die Aufteilung selbst. Die Folge ist, daß materielle Aufteilungsmaßstäbe erst im Verfahren erarbeitet oder ganz durch Verfahren ersetzt werden.“120 Einige Autoren gehen sogar soweit, die Geltung grundlegender Wertvorstellungen etwa über den Inhalt von Grundrechten oder moralischen Wertmaßstäben durch den Verweis auf normschöpfende Verfahren und die entsprechend prozedural generierten Normen derogieren zu wollen.121 117
So wird im Rahmen von Kaufpreisverhandlungen der Preis innerhalb einer Schätzgenauigkeit von 5-10 % des häufig ebenfalls nur in einer Schwankungsbreite ermittelbaren Marktpreises als angemessen anzusehen sein. Vgl. hierzu auch Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 219. 118 Beispielhaft insoweit Röhl, ZfRSoz 1993, 1, 24, 26 ff., der auf die prozeduralen Gerechtigkeitstheorien etwa von Rawls und Habermas sowie auf das diesen zugrunde liegende postmoderne Weltbild eingeht. 119 Röhl weist darauf hin, dass sich die Vorhersage Max Webers über die Rematerialisierung des formal-rationalen Rechts zu erfüllen scheint, die im Gewand des prozeduralen Rechts und einer Vielzahl austauschbarer Kennzeichnungen wirksam wird, wie etwa „‚prozedural‘, ‚reflexiv‘, ‚diskursiv‘, ‚medial‘, ‚postmodern‘, ‚postregulatorisch‘, ‚postinterventionistisch‘ oder ‚ökologisch‘.“ Röhl, ZfRSoz 1993, 1, 24. 120 Röhl, ZfRSoz 1993, 1, 2. 121 So etwa Tyler, ZfRSoz (14) 1993, 47, der am Beispiel einer der umstrittensten und bis heute politisch wie wissenschaftlich heftig kritisierten Entscheidungen des U.S. Supreme Court – Roe vs. Wade (410 U.S. 113) – versucht nachzuweisen, dass auch unpopuläre Entscheidungen allein durch Verfahren legitimierbar sind. Die auch von ihm eingeräumte Tatsache, dass 38 % aller Befragten die Entscheidung inhaltlich ablehnen, und der 36 Jahre nach der Entscheidung anhaltende heftige Widerstand weiter Teile der Bevölkerung gegen dieses
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Diese Ansätze zeigen die Gefahren auf, die mit einer Instrumentalisierung der Procedural Justice Forschung zur quasi-empirischen Legitimierung prozeduraler Gerechtigkeitstheorien und damit der Möglichkeit der prozeduralen Rechtfertigung auch objektiv ungerechter Normen oder Entscheidungen verbunden sind.122 Die Gefahr ist umso größer, als die durch das Verfahren angeblich vorurteilsfrei und im inhaltlich neutralen Raum allein aus sich selbst heraus generierten Ergebnisse in Wirklichkeit gerade nicht inhaltsleer sind, sondern in abstrakten Verfahrensmodellen bereits durch die Verfahrensgestaltung oder in der Praxis durch die Verfahrensbeteiligten selbst präjudiziert sind. Darauf, dass die Zustimmung der Beteiligten zu den eben nicht zufällig oder unvoreingenommen entstandenen Entscheidungen durch den Hinweis auf das faire und neutrale Verfahren gleichsam „erschlichen“123 ist, weil suggeriert wird, dass die Entscheidung durch Anwendung eines inhaltlich und ethisch neutralen Mechanismus zur Generierung von Normen allein aus dem Nichts, aus inhaltsleerer und damit vorgeblich unbestechlich neutraler Form erarbeitet worden sind, hat bereits Kaufmann überzeugend hingewiesen.124 Entsprechend ist auch durch die rechtsphilosophische Auseinandersetzung mit dem prozeduralen Gerechtigkeitsmodell gezeigt worden, dass prozedurale, aus einem normrelativistischen Rechtsverständnis erwachsende Theorien nicht nur im Widerspruch zum naturrechtlich geprägten Grundverständnis der Rechtsordnung insgesamt stehen, sondern aufgrund des unvermeidbaren Zirkelbezuges zu verfahrensexternen Norminhalten nicht aufgehen können.125 Die mit einem solchen Ansatz verbundenen Gefahren werden umso deutlicher, als jegliche inhaltliche Auseinandersetzung der Betroffenen mit der Entscheidung unter Hinweis auf die inhaltlich-ethische Neutralität des Verfahrens und des ihm eigenen, inhaltlich blinden Mechanismus zur Generierung von Entscheidungen abgeschnitten wird. Die freie Wertediskussion wird durch die Diktatur des Konsenses, zumeist des Konsenses der Mehrheit oder der zur Entscheidung Befugten, ersetzt. Eine Kritik an der ergangenen Entscheidung, wie sehr knapp entschiedene Judikat stützen indes das auch durch die Rechtsphilosophie nachgewiesene Ergebnis – vgl. nur Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 10 ff., 30 f. –, dass die dem prozeduralen Gerechtigkeitsdenken entspringende Vorstellung der Schöpfung materieller Inhalte allein aus Verfahren aus Gründen der inneren Logik schlechterdings nicht aufgehen kann. Eine inhaltliche Indifferenz gegenüber grundlegenden Wertentscheidungen ist eine Fiktion und entsprechende Entscheidungen können auch nicht durch das Verfahren selbst legitimiert werden, wenn sie grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit widersprechen. 122 Vgl. hierzu nur Fallstudien zur Beilegung von Mietstreitigkeiten an US-amerikanischen Small Claims Courts unten S. 344 ff. 123 Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 20. Vgl. auch ebenda, S. 15 ff. 124 Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 10 ff., 30 f. 125 Zur Kritik der prozeduraler Gerechtigkeitstheorien vgl. oben S. 80 ff.
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ungerecht sie auch von einer oder beiden Parteien empfunden werden mag, ist kaum mehr möglich, da sie ja in einem fairen Verfahren zustande gekommen ist. Dass dies nicht nur für heteronom ergangene Gerichtsentscheidungen, sondern auch für in größerem oder geringerem Maße privatautonom vereinbarte Mediationsvergleiche gilt, bei denen den Parteien oft erst im Nachhinein und häufig erst nach juristischer Beratung bewusst wird, auf welche Vereinbarung sie sich überhaupt eingelassen haben, ist insbesondere durch die US-amerikanische Institutionalisierungsdebatte126 und die empirische Begleitforschung in US-amerikanischen landlord-tenant Streitigkeiten127 deutlich geworden. dd) Die Procedural Justice Forschung und Luhmanns Theorie der Legitimation durch Verfahren Niklas Luhmann hat dieses Phänomen als einen dem Verfahren immanenten legitimierenden Mechanismus aus der Perspektive der Thematisierung des Rechts in Gerichtsverfahren in seinen Untersuchungen der Legitimation durch Verfahren und der Kommunikation über Recht in Interaktionssystemen eingehend dargestellt.128 Seine Untersuchung ist vor dem Hintergrund der Procedural Justice Theorie insoweit von Bedeutung, als sie unseren empirisch und rechtsphilosophisch begründeten Befund, dass die Annahme einer Kausalität zwischen Verfahrens- und Ergebnisgerechtigkeit nicht haltbar ist, systemtheoretisch untermauert. Luhmann zeigt in seiner Analyse aus der Perspektive der Systemtheorie überzeugend auf, dass die Akzeptanz von Verfahrensergebnissen gerade nicht auf tatsächlichen subjektiven Gerechtigkeitsüberzeugungen, sondern auf einer durch die Institution des Verfahrens erzwungenen Anpassung der eigenen Ergebniserwartungen beruht, die durch Rollenbindung der Parteien und die Isolierung des Verlierers herbeigeführt wird.129 Das Phänomen der Verweigerung jeglicher inhaltlicher Kritik am Verfahrensergebnis durch Verweis auf die immanente Gerechtigkeit des Verfahrens beschreibt auch Luhmann im Zusammenhang mit der Thematisierung des Rechts als Mittel der expressiven Rollendistanz, d.h. als Mittel der Distanzierung vom Verfahrensergebnis durch Verweis auf die eigene Rolle in einem
126 Vgl. zur US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte eingehend oben S. 46 ff. sowie Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 127 Hierzu eingehend unten S., 424 ff. 128 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969); Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53 ff. 129 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87, 105 ff., 129; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 62 f. Näher hierzu oben S. 34 ff.
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Verfahren, für dessen Ergebnis man selbst keine Verantwortung übernimmt, weil es letztlich durch einen angeblich neutralen Verfahrensmechanismus oder das Recht bestimmt wird: „Die Entscheidung über Rechtsfragen wird einer fernstehenden Macht übertragen, die mit der interaktionell-präsenten, ausspielbaren Macht der Beteiligten keinen Zusammenhang hat. Aber das erschwert auch die Thematisierung, denn man zeigt nun durch Aufwerfen der Rechtsfrage, daß man auf die Motivquellen der konkreten Interaktion gar nicht angewiesen ist. Wer in dieser Form Recht hat oder Recht zu haben beansprucht, braucht eigentlich gar nicht mehr zu kommunizieren, braucht sich auf eine lokale Behebbarkeit von Zweifeln gar nicht mehr zu verlassen und sich nicht mehr als einer darzustellen, der auf die Kommunikation des anderen einzugehen bereit ist; nicht einmal auf Streit läßt er sich ein.“130
Die durch die legitimierende Wirkung des Verfahrens bedingte Verweigerung einer inhaltlichen Auseinandersetzung, die etwa im Rahmen der Mediation mit dem Hinweis erfolgt, die Parteien hätten einem nach objektiver Rechtslage für sie ungünstigen Ergebnis ja aus freier Entscheidung zugestimmt, geht darüber hinaus mit einer sozialen Isolierung des Verlierers einher, dem durch seine Zustimmung zum Verfahren jede Möglichkeit des Protestes gegen das Ergebnis abgeschnitten wird. Denn dadurch, dass er selbst als Akteur am Verfahren beteiligt war, wird er jemand, „der die Normen in ihrer Geltung und die Entscheidenden in ihrem Amte bestätigt und sich selbst die Möglichkeiten genommen hat, seine Interessen als konsensfähig zu generalisieren … Er hat sich selbst isoliert. Eine Rebellion gegen die Entscheidung hat dann kaum noch Sinn und jedenfalls keine Chancen mehr. Selbst die Möglichkeit, wegen eines moralischen Unrechts öffentlich zu leiden, ist verbaut. Die Entscheidung wird, ohne dass es auf innere Bereitschaft noch ankäme, als verbindlich akzeptiert.“131 Durch seine soziale Isolierung wird der Verlierer mittels entsprechender Verhaltensanreize zu einer Mäßigung jeglicher Kritik und zur Akzeptanz der Entscheidung gedrängt, denn „sein Aufbegehren wird ihm selbst zugerechnet und nicht auf ein Versagen der Institution zurückgeführt. Es erscheint als Hartnäckigkeit, Nörgelei, Uneinsichtigkeit oder zumindest als absonderliche, praktisch unvernünftige Lebenseinstellung.“132 Er wird, so Luhmann, „zum Sonderling, zum Querulanten, zu einem, dessen Lieblingsthema man kennt und nach Möglichkeit vermeidet.“133 Im Kern erfolgt die Legitimation von Verfahrensergebnissen somit durch die Etablierung allgemein anerkannter Verfahrensstandards und Kriterien der Verfahrensgerechtigkeit, in Luhmanns Sprache durch ein „symbolisierendes
130
Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 61. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 117. 132 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 123. 133 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 118. 131
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Zeremoniell“134, durch „symbolbildende(n) und darstellende(n) Prozesse“135, letztlich durch „die Ausgestaltung des Verfahrens als eines Dramas, das richtige und gerechte Entscheidung symbolisiert“136, und durch die Rollenbindung, die durch die Mitwirkung der Parteien an einem derart ausgestalteten Verfahren entsteht. „Vermutlich ist dies die heimliche Theorie des Verfahrens“, so Luhmann den Kern des Legitimationsmechanismus zusammenfassend, „daß man durch Verstrickung in ein Rollenspiel die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren könne.“137 Wenngleich Luhmann seine Überlegungen am Beispiel der Legitimation gerichtlicher Entscheidungen durch Thematisierung des Rechts entwickelt hat, so beschreibt der von ihm aufgedeckte Legitimationsmechanismus doch ein für eine Vielzahl von Verfahren gültiges Prinzip: Die legitimierende Wirkung der Einbindung der Parteien in ein nach allgemein anerkannten Kriterien ausgestaltetes Verfahren. Diese Legitimationswirkung ist für die in der Mediation vereinbarten Vergleiche sogar deutlich höher als die der im gerichtlichen Verfahren getroffenen Urteile, da sie aufgrund der privatautonomen Ausgestaltung des Verfahrens den Parteien in besonderer Weise zugerechnet wird. Vor dem Hintergrund der von uns näher untersuchten Procedural Justice Theorie führt Luhmanns Entdeckung zu einer entscheidenden Konsequenz: Dabei ist vor allem die Erkenntnis von Bedeutung, dass die Akzeptanz der Entscheidungen nach Luhmann gerade nicht auf der inneren Einsicht in die immanente Gerechtigkeit des Ergebnisses beruht, sondern durch die soziale Isolation des Verlierers herbeigeführt und damit gleichsam „erzwungen“ wird. Das Ergebnis wird im Sinne einer Kapitulation, nicht dagegen im Sinne einer echten Überzeugung angenommen. Dieses angesichts der vorangegangenen Überlegungen überraschende Ergebnis steht im Widerspruch zu einigen weitreichenden Aussagen eines Teils der Procedural Justice Forschung, die davon ausgeht, dass die Parteien das Ergebnis eines Verfahrens weitgehend unabhängig von dessen Inhalt allein aufgrund der fairen Verfahrensgestaltung als gerecht anerkennen und damit auch innerlich annehmen. Insbesondere die angesichts der beschränkten empirischen Befunde doch recht weitgehende Behauptung, die Parteien würden aufgrund der Fairness des Verfahrens auch für sie nachteilige Ergebnisse innerlich akzeptieren, ist vor dem Hintergrund des von Luhmann aufgezeigten Legitimationsmechanismus des Verfahrens nicht haltbar:
134
Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 106. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 121. 136 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 124. 137 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87. 135
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„Das heißt natürlich nicht, daß auf diese Weise die Zustimmung auch zu nachteiligen Entscheidungen gewonnen werden kann. In der Literatur wird gelegentlich postuliert, daß effektive Gruppen größere Diskrepanzen am Anfang des Entscheidungsprozesses mit größerer Bereitschaft zur Annahme des Ergebnisses kombinieren, also mehr Konflikt behandeln können, ohne die Legitimität des Entscheidens zu gefährden. Aber damit ist nicht gesagt, daß dieses Akzeptieren durch Zulassung von Ausdruckschancen für Dissens bewirkt werden könnte. Die tragende Ursache verbirgt sich rätselvoll hinter dem Begriff der effektiven Gruppe.“138
Im Gegenteil hat Luhmann überzeugend aufgezeigt, dass Verfahren gerade aufgrund ihrer an allgemein anerkannten Gerechtigkeitsstandards ausgerichteten prozeduralen Ausgestaltung die Parteien zwar dazu bewegen können, sich aufgrund sozialer Verhaltensanreize einem Verfahrensergebnis zu beugen, die inhaltlichen Werturteile des Einzelnen über Recht und Gerechtigkeit jedoch nicht zu verändern vermögen. Stattdessen wird das Individuum durch das „symbolisierende(s) Zeremoniell … vor dem Unheil einer allzu engen persönlichen Identifikation mit Wahrheit und Recht“139 „bewahrt“ und es wird „ihm die Möglichkeit offengehalten, sich von Wahrheit und Recht zu distanzieren und zu überleben.“140 Die Konsequenzen sind erheblich: „Der Preis für diesen Erfolg ist ein gebrochenes Verhältnis zur Wahrheit und zum Recht.“141 Neben empirischen und dogmatischen Gründen spricht damit auch die soziologische Forschung gegen eine kausale Verknüpfung von Verfahrens- und Ergebnisgerechtigkeit. Dass die Annahme einer solchen kausalen Kohärenz in ihrer Logik nicht stimmig sein kann zeigt sich vor allem dann, wenn sie ins Extrem weitergedacht wird: Die evidente Ungerechtigkeit der Unrechtsurteile totalitärer Regime lässt sich auch dann, wenn sie ohne Manipulation des Verfahrens zustande gekommen sind, nicht mit dem Hinweis auf die immanente Gerechtigkeit und Neutralität des Verfahrensmechanismus wegdiskutieren. Das Urteil über die inhaltliche Ungerechtigkeit des Verfahrensergebnisses ist völlig unabhängig von der Integrität des Verfahrens und selbst der Geltung positiven Rechts. Es erwächst aus der durch die natürliche Vernunft vermittelten Einsicht, dass ein solches Verfahrensergebnis wegen seines „offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit“142 keinen Bestand haben kann. Es war gerade die Konfrontation mit dem formell wirksamen nationalsozialistischen Unrecht, die die radikale Abkehr Gustav Radbruchs vom Rechtspositivismus und seine überzeugte Hinwendung zum Naturrecht erklärt. Dass
138
Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 106. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 106. 140 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 106. 141 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 105. 142 BVerfGE 95, 96 = NJW 1997, 929, 931 (Mauerschützen). 139
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selbst der Vertragsmechanismus keine ergebnisunabhängige Legitimationswirkung entfalten kann, wird durch die Möglichkeit der Korrektur im Wege der Inhaltskontrolle etwa nach den §§ 138, 242 BGB deutlich, die gerade nicht ausschließlich an Einigungsmängel, sondern gerade auch an inhaltliche Mängel der Einigung selbst anknüpfen. Postulate der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind absolut geltende und unverfügbare Kategorien. Inhaltlich objektiv unbillige Ergebnisse können, wenn man mit der naturrechtlichen Grundorientierung der Rechtsordnung von einem unverfügbaren objektiven Gerechtigkeitsmaßstab ausgeht, auch durch den Verweis auf ein faires Verfahren in ihrem inhaltlichen Unrechtsgehalt nicht umgedeutet werden. Die sich hieraus ergebenen Konsequenzen sind weitreichend, wird damit doch letztlich auch einer sozialwissenschaftlichen Begründung prozeduraler Gerechtigkeitsmodelle der Boden entzogen. Praktische Auswirkungen hat dieses Ergebnis vor allem für die Frage nach der Rolle des materiellen Rechts und der Rolle des Mediators im Mediationsverfahren einschließlich der Frage nach Zulässigkeit und Umfang einer Inhaltskontrolle des erzielten Mediationsvergleiches. Umgekehrt ergeben sich Rückwirkungen auf die rechtsphilosophische Debatte zwischen Relativismus und Naturrecht als die der Frage nach der Verfahrensgerechtigkeit zugrunde liegende Meta-Diskussion. Methodisch wird durch den Befund die Bedeutung des interdisziplinären Zusammenwirkens verschiedener Wissenschaftsdisziplinen – hier etwa der Rechtswissenschaften, der Psychologie, der Soziologie und der Rechtsphilosophie – zur Lösung praktisch relevanter und dogmatisch umstrittener Fragen der Mediationspraxis deutlich. ee) Empirische Untersuchungen der Verfahrensgerechtigkeit im Mediationsverfahren Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Befund der rechtstatsächlichen Begleitforschung gerichtsverbundener Mediationsprogramme in Deutschland. So konnte durch die empirischen Untersuchungen im Rahmen des bayrischen Modellprojekts Güterichter nachgewiesen werden, dass die hohe Zustimmung der Parteien zum Güterichterverfahren in weitem Umfnmag auf den prozessökonomischen Vorteilen des Verfahrens beruht.143 Befragt nach den Gründen für eine positive oder negative Einschätzung des Güterichterverfahrens wurden von den Parteien die schnelle Beendigung des Rechtsstreits (67,9 %) und die Vermeidung der größeren Belastungen durch einen Zivilprozess (55,5 %) als häufigste Ursachen benannt. Das Erzielen eines angemessenen Ergebnisses spielte dagegen mit einer Häufigkeit von 38,3 % nur eine vergleichsweise geringe Rolle. Dieses Ergebnis ist mit dem von einigen Vertretern der Procedural Justice Theorie postulierten, sehr weitgehenden Behauptung 143
Greger, Abschlussbericht (2007), S. 51 f.
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einer Kausalität zwischen Verfahrens- und Ergebnisgerechtigkeit in dem Sinne, dass von den Parteien aufgrund der hohen Fairness des Verfahrens auch ein ihren Erwartungen weniger entsprechendes Ergebnis subjektiv eher als gerecht akzeptiert wird, nicht vereinbar. Darüber hinaus legen die empirischen Untersuchungen den Schluß nahe, dass das Mediationsverfahren regelmäßig auch zu tatsächlich interessengerechten Ergebnissen führt, weil es die Parteien durch seine Verfahrensstruktur in die Lage versetzt, auf der Grundlage der von ihnen selbst – etwa durch die Thematisierung des materiellen Rechts – in das Verfahren hineingetragenen und ihrer Einigung zugrunde gelegten Wertmaßstäbe privatautonom und kooperativ eine beiderseits interessengerechte Einigung zu erzielen, die das vorhandene Wertschöpfungspotential im Sinne einer Pareto-Effizienz optimal allokiert.144 Die Parteien akzeptieren das Ergebnis der Mediation daher regelmäßig nicht allein aufgrund der fairen Ausgestaltung des Verfahrens, sondern weil es inhaltlich tatsächlich interessengerecht ist. Diese Schlussfolgerung legen auch die empirischen Untersuchungen gerichtsverbundener Mediationsprogramme nahe, in denen die hohe Zufriedenheit der Beteiligten mit den erzielten Verfahrensergebnissen gerade aus dem Inhalt der ausgehandelten Mediationsvergleiche resultiert. So hat die Untersuchung des Modellversuchs Mediation145 in Niedersachen ergeben, dass die hohe Zufriedenheit der Parteien mit dem Einigungsergebnis insgesamt (85,6 %)146 mit der Beurteilung dieses Ergebnisses als gerecht (76,1 %)147, dauerhaft (78,7 %)148 und den eigenen Erwartungen entsprechend (88,6 %)149 einhergeht. In gleicher Weise konnte im Rahmen des bayrischen Modellprojekts Güterichter nachgewiesen werden, dass die erzielten Einigungen von den Parteien mehrheitlich als positiv und von den Anwälten und den Mediatoren150 mehrheitlich als interessengerecht, wirtschaftlich und gut umsetzbar charakterisiert worden sind.151 Befragt nach den Ursachen gelangten Güterichter und Anwälte 144
Hierzu eingehend oben S. 142 f. Hierzu eingehend: Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006). 146 Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 191. Ähnlich Niedersächsisches Justizministerium und Konsens e.V., Projektabschlussbericht Gerichtsnahe Mediation (2005), S. 16. Vgl. allerdings auch den gegenteiligen Befund – Zivilprozess schneidet mit Blick auf die Verteilungsgerechtigkeit besser ab als die Mediation – bei Gottwald, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963, 977, der allerdings selbst auf die geringe Datenbasis und die damit verbundenen erheblichen Unsicherheiten hinweist. 147 Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 190. 148 Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 192. 149 Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 189. 150 Dabei handelt es sich ausnahmslos um sog. Güterichter. Hierzu näher Greger, Abschlussbericht (2007), S. 5 f. 151 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 46 ff., 55 ff., 59 ff. 145
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gleichermaßen überwiegend zu der Einschätzung, dass das Güterichterverfahren in ganz erheblichem Umfang zu sonst nicht zu erwartenden Einigungen geführt hat.152 So ging eine Mehrheit der Güterichter davon aus, dass die im Wege des Güterichterverfahrens beigelegten Konflikte in einem streitigen Gerichtsverfahren häufig nicht, nicht so schnell oder nicht in derselben Qualität hätten beendet werden können.153 Ähnlich äußerten sich die beteiligten Anwälte: So sah zwar eine Mehrheit auch im streitigen zivilprozessualen Verfahren eine Einigung als möglich an.154 Allerdings gingen auch die Anwälte mehrheitlich davon aus, dass dies mit einem höheren zeitlichen Aufwand verbunden und die Lösung mit Blick auf ihre Qualität schlechter gewesen wäre als eine im Rahmen der Mediation getroffene Vereinbarung.155 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Anwälte (81,7 %)156 im gerichtsnahen Charakter des Güterichterverfahrens, insbesondere im Einsatz von Richtern als Konfliktmittler, eine zentrale Ursache für den Erfolg des Verfahrens sahen. In der Untersuchung ist deutlich geworden, dass das Vertrauen der Parteien in die Persönlichkeit des Güterichters als kompetente und neutrale Respekts- und Autoritätsperson (56,52 %)157 und das Bewusstsein, sich in einem schwebenden Gerichtsverfahren zu befinden (26,09 %)158, ganz wesentlich zum Erfolg des Güterichterverfahrens beigetragen haben. Der Druck durch den Zivilprozess, in dessen „Schatten“ das Verfahren erfolgt, und die Verhandlung unter Vermittlung eines staatlich bestellten Richters, gleichsam unter den Augen des Gesetzes, der jedenfalls im bayrischen Güterichterverfahren in der Praxis durchaus von der Möglichkeit des Hinweises auf die objektive Rechtslage Gebrauch macht,159 wirken damit
152
Greger, Abschlussbericht (2007), S. 47 f., 61. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 48. So waren 69,6 % der Güterichter der Auffassung, dass eine Einigung im regulären Zivilprozess voraussichtlich nicht möglich gewesen wäre. Von denen, die eine Einigungsmöglichkeit im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs annahmen, gingen jedoch 71,7 % davon aus, dass dieser nicht so schnell sowie 27,3 %, dass er nicht in derselben Qualität erzielt worden wäre. Zurückhaltender fielen die Reaktionen der Anwälte aus. Von ihnen waren nur 47,64 % der Ansicht, dass im streitigen Verfahren keine Einigung zustande gekommen wäre (50,6 % bejahten dies). 80 % dieser Anwälte waren dagegen der Auffassung, dass eine Einigung im Zivilprozess jedenfalls nicht so schnell und 52,5 %, dass ein gerichtlicher Vergleich nicht in derselben Qualität möglich gewesen wäre. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 61 f. 154 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 61. 155 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 61. 156 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 61. 157 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 61. 158 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 61. 159 Das bayrische Güterichterverfahren verfolgt im Gegensatz zu den explizit auf Etablierung eines gerichtsverbundenen Mediationsprogramms gerichteten Modellversuchen nicht einen methoden-, sondern einen verfahrensorientierten Ansatz. Der Güterichter ist in 153
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bereits als normatives Korrektiv, das den Inhalt der Einigungen mittelbar beeinflusst. ff) Prozessuale und rechtssoziologische Schlussfolgerungen Die empirische Begleitforschung der gerichtsverbundenen Mediationsprogramme160 in Deutschland hat gezeigt, dass die Ergebnisgerechtigkeit als eigenständige Kategorie unabhängig von der Verfahrensgerechtigkeit besteht und von den Beteiligten auf der Grundlage inhaltlicher Kriterien wie der Interessengerechtigkeit, der Wirtschaftlichkeit und der Durchsetzbarkeit beurteilt wird. Der rechtssoziologisch und auf Makroebene empirisch begründete Befund161, dass die These einer kausalen Verknüpfung von Ergebnis- und Verfahrensgerechtigkeit in der von einem Teil der Procedural Justice Forschung vertretenen Form nicht haltbar ist, wird damit auch auf der Mikroebene durch unabhängige empirische Untersuchungen der Mediationspraxis bestätigt. Gleichwohl ist es das Verdienst der Procedural Justice Bewegung, die zentrale Bedeutung der Verfahrensgerechtigkeit als eines für die Bewertung von Verfahren wesentlichen Faktors nachgewiesen und so in den Mittelpunkt des Interesses gerückt zu haben. Die auf der überholten sozialen Austauschtheorie und der Kontrolltheorie basierende rein instrumentelle Sichtweise des Verfahrens als Mittel zur Verteilung von Werten und Pflichten ist einem differenzierten Verständnis gewichen. Der grundlegend von Thibaut und Walker untersuchte Procedural Justice Effect zeigt, dass die Verfahrensgerechtigkeit als eigenständige Kategorie neben der Ergebnisgerechtigkeit ein entscheidendes Kriterium bei der Bewertung und Auswahl der in einer Gesellschaft verfügbaren Verfahren durch den Einzelnen bildet. Den Parteien kommt es nicht nur darauf an, zu welchem Ergebnis ein bestimmtes Verfahren führt, sondern auch darauf, auf welche Art und Weise dieses Ergebnis herbeigeführt wurde. Kriterien wie Verfahrenskontrolle, die
der Wahl der von ihm eingesetzten Vermittlungstechniken frei, doch kommen überwiegend mediative Techniken zum Einsatz. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 3, 111 ff. Der Mediationsstil der Güterichter variiert dabei stark: Während sich einige Güterichter streng an die Grundsätze der klassischen fördernden Mediation halten (facilitative mediation) und eigene rechtliche Bewertungen strikt ablehnen, gestalten andere die Güterichterverhandlungen entsprechend herkömmlicher Vergleichsgespräche. Darüber hinaus wird jedoch vor allem in der Schlussphase der Verhandlung vom Güterichter eine rechtliche Bewertung abgegeben. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 37 ff., 142 f. 160 Hierzu zählen auch mediationsähnliche Modelle wie das bayrische Güterichterverfahren, das entsprechend seines Ansatzes zwar methodenneutral angelegt ist, in der Praxis indes ganz überwiegend von der Mediation bzw. mediativen Techniken Gebrauch macht. Vgl. hierzu auch oben Fn. 159, S. 202. 161 Vgl. oben S. 194 ff.
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Qualität der sozialen Beziehung zwischen den Parteien, Artikulations- und Partizipationsmöglichkeiten, Neutralität, Vertrauen, das Vermeiden der negativen Auswirkungen aggressiv-kontradiktorischer Streitbeilegung und die Chancen kooperativer, kreativer und wertschöpfender Problembewältigung kommt für die Parteien eine zentrale Bedeutung zu, die durch die Verengung des rechtlichen Konfliktbehandlungsinstrumentariums vor allem auf den Zivilprozess lange Zeit verdeckt worden ist. Der weltweite „Siegeszug“ der Mediation, die mittlerweile verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und auch das Recht nachhaltig prägt, ist ohne die Anerkennung des eigenständigen Gerechtigkeitswertes eines kooperativen, privatautonomen, die sozialen Beziehungen schonenden Verfahrens kaum erklärbar. Das Primat der Mediation im Kontinuum der Streitbeilegungsformen162, das wir gerade im Hinblick auf seine Verfahrenseigenschaften auf der Grundlage von Lon L. Fullers Institutionenlehre herausgearbeitet haben, hat auch in dem eigenständigen Gerechtigkeitswert des Verfahrens – der Procedural Justice – seinen Ursprung. Ihre Bedeutung für die Ausgestaltung rechtlicher Verfahren wird in der kulturprägenden Wirkkraft des Verfahrensgedankens deutlich, der in vielen Bereichen bereits einen Wandel der Konfliktkultur herbeigeführt hat.163 Die Anerkennung der eigenständigen Bedeutung der Verfahrensgerechtigkeit bedeutet indes nicht, dass der Ergebnisgerechtigkeit keine wesentliche Bedeutung mehr zukommen würde. Im Gegenteil gehört die Frage nach der inhaltlichen Gerechtigkeit der Entscheidung, nach der Angemessenheit der Einigung, zu den zentralen Kriterien, nach denen Verfahren zu beurteilen sind. Die von einem Teil der Literatur auf der Grundlage eines prozeduralen Gerechtigkeitsmodells im Sinne des Normrelativismus vertretene These, dass die Ergebnisgerechtigkeit weitgehend unabhängig vom konkreten Inhalt des erzielten Ergebnisses durch die Gerechtigkeit des Verfahrens bestimmt wird, ist schon aufgrund der Lebenserfahrung nicht plausibel und – wie wir gesehen haben – nicht zuletzt mit Blick auf den Befund der empirischen Begleitforschung gerichtsverbundener Mediationsprogramme nicht haltbar. Den Parteien kommt es gerade nicht allein darauf an, wie sie behandelt werden, sondern auch darauf, ob das Verfahrensergebnis in sich gerecht ist. Auch ein noch so faires Verfahren kann ein ungerechtes Verfahrensergebnis nicht verdecken und in ein gerechtes Ergebnis umdeuten. Sehr wohl kann das Verfahren als solches jedoch insgesamt umso befriedigender wahrgenommen werden, je gerechter es ausgestaltet ist und je mehr Partizipationschancen es den Parteien überlässt. Dieser Effekt wird umso deutlicher ausfallen, wenn das Verfahrensergebnis in den Augen der Parteien inhaltlich angemessen, akzeptabel, letztlich materiell gerecht ist. 162 163
Vgl. hierzu oben S. 110 ff. Vgl. hierzu oben S. 59 ff.
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Die von der Forschung aufgeworfene Frage nach der Ergebnisgerechtigkeit weist mit der These, dass die Parteien unter bestimmten Bedingungen durchaus bereit sind, ein für sie ungünstiges Ergebnis zu akzeptieren, allerdings durchaus in die richtige Richtung. Das eigentliche Problem liegt hier allerdings nicht in erster Linie auf der Ebene der objektiven oder subjektiven Gerechtigkeit, sondern auf der Ebene der Interessen.164 Die empirischen Erfahrungen mit dem Mediationsverfahren haben gezeigt, dass die Parteien grundsätzlich bereit sind, eigene Interessen zurückzustellen oder von ihren ursprünglichen Positionen abzurücken. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Der Wandel kann auf einer Korrektur von Wahrnehmungsverzerrungen165, etwa von Überoptimismus, der Konfrontation mit den berechtigten Interessen des Verhandlungspartners oder auf einer verbesserten Information über die Rechtslage beruhen. Vor allem die Konfrontation mit den Interessen des Verhandlungspartners, den ihn bestimmenden Sachzwängen und Bedürfnissen, die in der Mediation durch die intensive Interaktion beider Parteien aufgedeckt werden, kann zu einer Veränderung der ursprünglich eingenommenen Rechtspositionen und zu einer anderen Bewertung der eigenen Interessen führen. So kann die ursprünglich geltend gemachte Maximalforderung beispielsweise angesichts der tatsächlich bestehenden Interessen der anderen Partei auch dem Fordernden nicht mehr als gerecht und angemessen erscheinen. Darüber hinaus kann aber auch die Kenntnis der hinter einer erhobenen Forderung stehenden eigenen Interessen oder aber eine durch den Einsatz kreativer Problemlösungstechniken herbeigeführte beiderseits vorteilhafte Lösung dazu führen, dass die Parteien an ursprünglich geltend gemachten Positionen nicht mehr uneingeschränkt festhalten. In den genannten Fällen sind die Parteien daher durchaus bereit, ihre eingenommenen Rechtspositionen zu revidieren oder sogar ihre tatsächlichen Interessen zurückzustellen. Sie tun dies allerdings aus innerer Überzeugung, weil sie es als richtig, gerecht und angemessen erkannt haben, nicht dagegen, weil sie aufgrund der besonderen Verfahrensgestaltung ein objektiv unangemessenes Ergebnis eher akzeptieren würden. Die Verfahrensgerechtigkeit spielt in diesen Fällen indes eine ganz zentrale Rolle: Sie führt nicht etwa dazu, dass die Parteien über die Unangemessenheit eines Verfahrensergebnisses gleichsam „hinwegtäuscht“ werden, sondern sie versetzt die Parteien gerade in die Lage, tatsächlich gerechte und angemessene Ergebnisse herbeizuführen. Den
164
Hierzu aus der Perspektive der Verhandlungsforschung eingehend oben S. 170 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff. 165 Vgl. hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 22 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 29 f., 62 f., 156 ff., 239 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 10 f., 38 ff., 41 ff., 86; Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 6 ff.
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prozeduralen Mechanismus, der dies bewirkt, haben wir bereits im Rahmen unserer Strukturanalyse der Mediation im Vergleich zum Zivilprozess näher untersucht.166 Aus dem Procedural Justice Gedanken ergeben sich zunächst prozessuale Konsequenzen für die drei Bereiche des Verfahrensangebotes (1), der Verfahrensgestaltung (2) und der Verfahrensauswahl (3). 1. Im Hinblick auf das Angebot der in einer Gesellschaft verfügbaren Verfahren folgt in Kongruenz zum Gedanken des Verfahrenspluralismus im Sinne der von Lon L. Fuller entwickelten Institutionenlehre167 auch aus dem Procedural Justice Gedanken die Notwendigkeit und Rechtfertigung privatautonomer, an den Grundsätzen der Verfahrensgerechtigkeit ausgerichteter Verfahrensformen. Für die staatliche Justiz stellt sich die Einrichtung und Erprobung gerichtsverbundener Mediationsprogramme daher mit neuer Dringlichkeit. Die rechtspolitische Forderung nach Alternativen zur Ziviljustiz wird damit auch aufgrund der Ergebnisse der empirischen sozialpsychologischen Forschung gestützt. 2. Für den Bereich der Verfahrensgestaltung ergeben sich aus der Diskussion des Procedural Justice Effect neben einer neuen Priorisierung und Hinwendung zu Fragen der bisher weitgehend vernachlässigten Verfahrensgerechtigkeit vor allem konkrete Richtlinien für das Verfahrensdesign. Kriterien wie der verstärkten Verfahrenskontrolle durch und vermehrten Partizipationschancen für die Parteien sowie der Neutralität des Dritten, dem Vertrauen und der Kooperation wird bei einer konsequenten Implementierung des Gedankens der Verfahrensgerechtigkeit eine zentrale Rolle für die Gestaltung von Verfahren zukommen. Im Bereich staatlicher Justiz erfolgt die Institutionalisierung der Verfahrensgerechtigkeit vor allem durch eine verstärkte Durchlässigkeit autoritativer und konsensualer Verfahrensarten. So werden vermehrt Übergänge vom streitigen Verfahren in die Mediation im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme geschaffen werden, wie dies in § 278 Abs. 5 ZPO sowie in § 278a Abs. 1 ZPO bereits vorgesehen ist. 3. Für die Verfahrensauswahl ergibt sich aus dem Procedural Justice Gedanken der Vorrang konsensualer Verfahren – vor allem das Primat der Mediation – vor anderen Streitbeilegungsformen im Kontinuum der Konfliktbehandlung. Dieses bereits aus rechtstheoretischer Perspektive begründete Ergebnis wird empirisch durch die außergewöhnlich hohen Zustimmungsraten
166
Vgl. hierzu oben S. 171 ff., 180 ff. Vgl. hierzu oben S. 111 ff. sowie unten S. 493 ff. Eingehend Fuller, The Morality of Law (1964); Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981) sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3 (1963); Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305 (1971) und Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353 (1978). 167
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der Parteien zur Mediation bestätigt. Ausgehend von den so entwickelten Prämissen soll später ein Modell der Verfahrensauswahl nach dem Grundsatz der gestaffelten Subsidiarität entwickelt werden.168 Daneben ergeben sich aus dem Procedural Justice Gedanken Konsequenzen für die der Untersuchung zugrunde gelegten rechtsphilosophischen Überlegungen. So wefen die Befunde der sozialpsychologischen Forschung die Frage auf, inwieweit das der Verhandlungsforschung verbreitet zugrunde gelegte Menschenbild vom Nutzenmaximierer, der in sozialen Austauschbeziehungen in erster Linie seine Eigeninteressen zu verwirklichen sucht, tatsächlich angemessen ist. Die empirisch nachgewiesene Eigenständigkeit der Ergebnisgerechtigkeit als unabhängig von der Verfahrensgerechtigkeit bestehender Kategorie bestätigt die Kritik prozeduraler Gerechtigkeitsmodelle auch aus sozialpsychologischer Perspektive und entspricht der naturrechtlichen Grundorientierung der Privatrechtsordnung und des Rechts insgesamt, die in der dem Recht immanenten Kategorie der Billigkeit zum Ausdruck kommt. Verknüpft man diesen Gedanken mit der aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie, so ergibt sich die Eigenständigkeit der Ergebnisgerechtigkeit bereits aus dem lumen naturale als der dem Menschen eigenen vernunftvermittelten Erkenntnisfähigkeit materieller Gerechtigkeit. Die von der Procedural Justice Forschung herausgearbeiteten Kriterien der Verfahrensgerechtigkeit sind Ausdruck der von Fuller als Wesen der Mediation beschriebenen intersubjektiven Orientierung der Parteien aufeinander hin169, die Thomas von Aquin in seiner klassischen Gerechtigkeitstheorie als konstitutives, wesensimmanentes Merkmal der Gerechtigkeit an sich beschreibt, die nicht atomistisch auf das Subjekt denkbar ist, sondern sich auf die Beziehung zu anderen Menschen bezieht: „Aequalitas autem ad alterum est.“170 Denn die Gerechtigkeit bestimmt den Einzelnen sowohl individuell in seinen Beziehungen zu seinen Mitmenschen, als auch kollektiv im Hinblick auf seine Beziehung zur Gemeinschaft.171 3. Austauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) Nachdem wir die Verfahrensgerechtigkeit (iustitia legalis) als wesentliches formales Gestaltungsprinzip des Mediationsverfahrens und als Einfallstor des
168
Vgl. unten S. 729 ff. Vgl. Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971): „ … the central quality of mediation, namely, its capacity to reorient the parties toward each other … .“ Zum Wesen der Mediation vgl. oben S. 124 ff. Zur Intersubjektivität als Merkmal struktureller Gerechtigkeit vgl. oben S. 179 ff. 170 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 57 a. 1 co. 171 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 58 a. 5. Vgl. hierzu auch oben S. 179 ff. 169
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Rechts näher untersucht haben, wollen wir mit der ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia commutativa) nun Wertmaßstäbe für die inhaltliche Bestimmung des Mediationsergebnisses in den Blick nehmen. Den Hintergrund unserer Untersuchung bildet die eingangs aufgeworfene Frage nach dem nach wie vor ungeklärten Verhältnis von Mediation und materiellem Recht. Fassen wir unseren Gedankengang zur Positionsbestimmung kurz zusammen: Während einerseits die methodisch auf subjektiv-irrationale statt auf objektiv-rationale Normschöpfung gerichtete und inhaltlich an Interessen statt an Rechten ausgerichtete Struktur des Mediationsverfahrens für eine Antithese der Mediation zur objektiven Rechtsordnung spricht, legt die Verschränkung interessen- und rechtsorientierter Aspekte andererseits ein symbiotisches Kooperationsverhältnis beider Steuerungssysteme nahe. Dieses Spannungsverhältnis zwischen subjektivem Parteirecht und objektiver Rechtsordnung, zwischen Normen- und Verhandlungssystem, wirft für den Bereich der Mediation die Frage auf, ob und inwieweit sich die von den Parteien im Rahmen der Mediation geschaffene normative Ordnung von der objektiven Rechtsordnung unterscheidet und wie ihr Verhältnis zum positiven Recht ausgestaltet ist. Dass diese Fragestellung nicht neu ist, sondern uns im allgemeinen Privatrecht etwa in Gestalt des Verhältnisses von Privatautonomie und positivem Gesetzesrecht gegenübertritt, haben wir bereits erörtert. Gleichzeitig haben wir jedoch festgestellt, dass die Hinwendung zur Mediation, einem allgemeinen Wandel staatlicher Steuerungstätigkeit folgend, zunehmend mit einer Distanzierung gegenüber den Werturteilen der objektiven Rechtsordnung und einer „historischen Wende des Rechtsbegriffs“172 verknüpft wird. Lon L. Fuller als Vertreter der Legal Process School bringt diesen Gedanken auf den Punkt, wenn er formuliert, dass die Mediation nicht auf die Herbeiführung einer Kongruenz mit objektiven Rechtsnormen, sondern auf die Schaffung der relevanten Normen selbst gerichtet ist: „But mediation is commonly directed, not toward achieving conformity to norms, but toward the creation of the relevant norms themselves. … it is the mediational process that produces the structure.”173 Auch wenn mit dem Normbegriff hier eher die normative Wirkung der individuellen privatrechtlichen Vereinbarung gemeint sein dürfte, es sich also nicht um abstrakt-generelle Prinzipien, sondern um konkret-individuelles Privatrecht handelt, so stellt sich gleichwohl die Frage, welche Wertmaßstäbe die Parteien der von ihnen in der Mediation erarbeiteten Lösung zugrunde legen. Aufgeworfen ist die Frage nach dem Kern privatautonomer Verhandlungsentscheidungen: Was bewegt die Parteien, einer Lösung zuzustimmen und eine andere zu verwerfen? Was bringt eine Partei dazu, zu einer Einigungsoption
172 173
Spellbrink, DRiZ 2006, 88, 90. Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 307 (1971).
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„Ja“ zu sagen? Da das Recht als verbindlicher Maßstab entfällt174, erfolgt die Entscheidung auf der Grundlage der subjektiven Gerechtigkeitskriterien der Parteien. Wir haben gesehen, dass das Recht in seinem Zweck auf die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit gerichtet ist. Und dass die Mediation als „gerechtes Verfahren“ sowohl von ihrer Entstehungsgeschichte als Instrument der Billigkeit (New Equity) als auch von ihrer Zielrichtung her seit jeher der Herstellung der Gerechtigkeit, dem Ausgleich der als unbillig empfundenen Ergebnisse formaler Gesetzesgerechtigkeit verpflichtet ist. Ein gutes Ergebnis ist immer auch ein gerechtes, ein interessengerechtes Ergebnis.175 Was aber ist gerecht? Prozedurale Gerechtigkeitsmodelle beantworten diese Frage im Gleichlauf mit dem aus dem Rechtspositivismus176 vertrauten Argumentationsmuster rein formal: Gerecht ist, was immer die Parteien als Ergebnis ihrer freien Willensbetätigung vereinbaren.177 Die Frage nach dem Inhalt dessen, was die Parteien vereinbaren, kann und will eine rein formale Gerechtigkeitstheorie nicht beantworten. Dass die Vereinbarung der Parteien nicht willkürlich erfolgt, sondern die Parteien ihrer Entscheidung vielmehr ganz bestimmte, ihnen gemeinsame Kriterien zugrunde legen, die verallgemeinerungsfähig und einem Werturteil der Rechtsgemeinschaft zugänglich sind, steht indes außer Zweifel. Diese Wertentscheidungen gehören nicht dem forum internum der Parteien an und sind somit keine rein private Angelegenheit. Weil die Parteien für den von ihnen geschlossenen Mediationsvergleich rechtliche Verbindlichkeit beanspruchen, seine Anerkennung als verbindliches Recht verlangen und ihn dem Schutz der Rechtsordnung unterstellen, deren Durchsetzungsmechanismen sie notfalls in Anspruch zu nehmen gewillt sind, kann und darf die Rechtsordnung gegenüber dem Inhalt des Mediationsvergleichs nicht gleichgültig bleiben.178 Er ist am Maßstab der ihm zugrunde liegenden Wertentscheidungen zu messen, die durch das Recht innerhalb bestimmter Toleranzgrenzen auch durchgesetzt werden. Wir haben bereits gesehen, dass das Recht durch Epochen und
174
Zu den vielfältigen Funktionen des materiellen Rechts im Mediationsverfahren vgl. unten S. 282 ff. 175 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses vgl. oben S. 161 ff. mwN. 176 Hier tritt an die Stelle der Parteien freilich der Gesetzgeber: Gerecht und rechtsverbindlich ist, was auch immer der Gesetzgeber als positives Recht setzt. Da die Parteien durch ihr individuelles Vertragsrecht zwar kein abstrakt-generelles, jedoch konkret-individuelles Recht setzen, ist ein rein formales Gerechtigkeitsverständnis letztlich ebenfalls nichts anderes als die privatautonome Spielart des Gesetzespositivismus. 177 Klassisch insoweit die Selbsbestimmungstheorie Flumes mit ihrem Grundsatz des stat pro ratione voluntas, vgl. Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6; Flume, FS 100 Jahre DJT (1960), S. 135, 141 178 So ausdrücklich auch Larenz, Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllung (3. Aufl. 1963), S. 162.
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Kulturen hindurch jeweils ihm eigene Instrumente der Korrektur formal gültiger, aber als unbillig empfundener Vereinbarungen geschaffen hat: Dem strengen, formalen Gesetzesrecht tritt das ausgleichende, informale Billigkeitsrecht gegenüber. Dieser Dualismus von dem, was recht und billig ist, von Recht und Billigkeit, von Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) ist ein dem Recht immanentes Wesensmerkmal. Eine Annäherung an die Frage, was nicht nur recht, sondern auch billig ist, kann daher nur auf der Grundlage eines materiellen Gerechtigkeitsverständnisses gelingen, dem auch die Privatrechtsordnung entsprechend ihrer naturrechtlichen Grundorientierung folgt.179 a) Die ausgleichende Gerechtigkeit nach Aristoteles Für die Frage nach dem materiellen Gerechtigkeitsmaßstab, den die Parteien dem von ihnen ausgehandelten Mediationsvergleich im Idealfall inhaltlich zugrunde legen, wollen wir die klassische Gerechtigkeitstheorie nach Aristoteles zum Ausgangspunkt nehmen. Sie ist für das Verständnis der Vertragsgerechtigkeit im deutschen Privatrecht von entscheidender, systembildender Bedeutung und sie liegt als Grundprinzip bis heute auch der Rechtsordnung insgesamt zugrunde. Weil sie wesentliche Grundsätze menschlichen Zusammenlebens mit hoher Evidenz und Plausibilität erfasst, ist sie von zeitloser Aktualität: Sie „ist alt, aber nicht überholt.“180 Die Austauschgerechtigkeit, die iustitia commutativa, betrifft die Gerechtigkeit in synallagmatischen Austauschbeziehungen und damit einen Hauptanwendungsfall der Vertragsgerechtigkeit. Den Maßstab bildet die Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung: Gerecht ist nur derjenige Leistungsaustausch, bei dem sich Leistung und Gegenleistung in ihrem Wert entsprechen. Im Privatrecht findet das Gebot der Austauschgerechtigkeit Ausdruck im objektiven bzw. materiellen Äquivalenzprinzip, d.h. dem „Gedanke[n] eines ungefähren Gleichgewichts von Leistung und Gegenleistung“181, wobei die Äquivalenz nicht nur auf die Hauptleistungen beschränkt ist, sondern das gesamte Vertragsgefüge mit seinen gegenseitigen Rechten und Pflichten erfasst.182 Der Grundsatz vertraglicher Äquivalenz ist – wie das mehr als ein Jahrtausend währende Ringen um die Bestimmung des gerechten Preises, des iustum pretium, und die aktuelle Diskussion um materielle Korrekturen, etwa im Ver-
179
Hierzu eingehend oben S. 85 ff. Eidenmüller, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Sozialschutzprinzips im Zivilrecht (2004), S. 45, 55. So auch Engisch, Gerechtigkeit (1971), S. 151; Oechsler, Gerechtigkeit (1997), S. 55. 181 Larenz, Richtiges Recht (1979), S. 66. 182 Zum Äquivalenzprinzip im weiteren Sinne, vgl. etwa Canaris, AcP 200 (2000), 273, 325 f. 180
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braucherschutzrecht, zeigen – ein dem Recht und damit dem Wesen des Menschen seit jeher immanentes Grundprinzip und im rechtlichen Denken so tief verwurzelt, dass er in der Tat keiner weiteren Begründung bedarf.183 Da die Privatrechtsordnung in Anerkennung der den Parteien zukommenden Privatautonomie aufgrund der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus davon ausgeht, dass die Parteien die ihnen vernunftmäßig erkennbare Leistungsäquivalenz auch tatsächlich vertraglich umsetzen und willensmängelfrei geschlossene Verträge daher grundsätzlich als wirksam anerkennt (formelle Vertragsfreiheit), greift sie erst dann korrigierend ein, wenn die zugunsten der Parteien wirkende Richtigkeitsvermutung widerlegt ist. Aus Gründen der Rechtssicherheit und mit Blick auf die praktischen Schwierigkeiten in der punktgenauen Wertbestimmung von Leistung und Gegenleistung beschränkt sich die Rechtsordnung dabei auf Fälle eines extremen Missverhältnisses. Die Konkretisierung der Gebote der iustitia commutativa erfolgt durch das vertragsergänzende dispositive Gesetzesrecht, etwa die Gefahrtragungsregeln des § 446 BGB184 und in geringerer Reglungsintensität in den zwingenden Vorschriften der §§ 138, 242, 305 ff., 313 BGB. Die Austauschgerechtigkeit als Gerechtigkeit des Ergebnisses ist für Mediation und Zivilprozess gleichermaßen von zentraler Bedeutung, allerdings tritt sie in jeweils unterschiedlicher Weise in Erscheinung: In der Mediation als privatautonomem Verfahren kommt sie in der Form des objektiven Äquivalenzprinzips in vollem Umfang zur Geltung. Im Zivilprozess, der als heteronomes Verfahren eine von den Parteien getroffene Vereinbarung ggf. korrigiert, ist die Anwendung des objektiven Äquivalenzprinzips regelmäßig auf Extremfälle oder auf vertragsergänzendes, dispositives Recht beschränkt. Im Übrigen ist der Grundsatz der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung als ein dem gegenseitigen Vertrag immanentes Prinzip selbstverständlich in vollem Umfang wirksam, doch überlässt es die Rechtsordnung als Kompetenzfrage dem Einzelnen, diesen Grundsatz in der vertraglichen Praxis zu verwirklichen. Eine Äquivalenzkontrolle bildet im Zivilprozess die deutliche Ausnahme.
183 Vgl. nur die zutreffende Einsicht Durkheims, dass „in jeder Gesellschaft … zu jedem Zeitpunkt ihrer Geschichte ein dunkles, aber lebendiges Gefühl für den Wert der verschiedenen sozialen Dienste und Dinge [existiert], die in den Tausch gelangen.“ Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts (1991), S. 289. Ähnlich Canaris, AcP 190 (1990), 411, 423. 184 Vgl. hierzu eingehend Canaris, Iustitia distributiva (1997), S. 55, der mit Blick auf den Zusammenhang von Vorteil und korrespondierendem Risiko darauf hinweist, dass es sich bei der Gefahrtragungsregelung des § 446 BGB gerade „um ein verfeinertes Verständnis der iustitia commutativa und des objektiven Äquivalenzprinzips“ handelt.
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b) Ausgleich austauschbedingter Wertverschiebungen Um den Inhalt der iustitia commutativa näher zu erfassen, wollen wir uns ihr vom Wortsinn her nähern. Gegenstand der Austauschgerechtigkeit ist der Ausgleich der durch den synallagmatischen Leistungsaustausch bedingten Wertverschiebungen. Der Begriff der iustitia commutativa, der seinen Ursprung im lateinischen commutare (abändern, austauschen, umwandeln) findet, beschreibt dabei in einem Wort sowohl den Anwendungsbereich (Austauschgerechtigkeit) als auch das Grundprinzip (Umwandlung) dieser Ausprägung der Gerechtigkeit: Die durch den Austausch von Leistung und Gegenleistung erfolgende Abänderung bzw. Umwandlung der Wertträger (etwa einer Sache in einen wertmäßig entsprechenden Geldbetrag) soll die individuelle Wertverteilung, d.h. das Vermögen der beteiligten Parteien, nicht verändern. Der bei dem Einzelnen vorhandene Wertbestand soll erhalten bleiben, auch wenn der Träger dieses Wertes (eine Sache oder ein Geldbetrag) ausgetauscht wird. Anders gewendet soll die innere Gleichheit des Wertes, die Aristoteles zuvor als das zentrale Grundprinzip der Gerechtigkeit identifiziert hat,185 auch bei einer Veränderung der äußeren Form erhalten, die bestehende Wertverteilung auch bei einem Austausch der sie repräsentierenden Gegenstände (Sachen und Geld) gleich bleiben. Dahinter steht, wenngleich von Aristoteles nicht expressis verbis ausgesprochen, ein grundlegendes, auf dem Prinzip der Gleichheit beruhendes Gerechtigkeitsprinzip: Niemand soll durch den aufgrund der Erfordernisse des Wirtschaftslebens unvermeidbaren und daher lebensnotwendigen Leistungsaustausch benachteiligt werden. Besteht das von den Parteien eigentlich verfolgte Ziel in einem Austausch von Leistungen, etwa dem Erwerb eines Kraftfahrzeuges gegen die Hingabe eines wertmäßig entsprechenden Geldbetrages – wie es dem gegenseitigen, synallagmatischen Vertrag immanent ist –, und nicht in einer Übertragung von Werten wie etwa bei einer Schenkung, so stellt sich eine nicht beabsichtigte Veränderung der bestehenden Wertallokation als Ineffizienz und vor dem Hintergrund des Gleichheitsgebots als Ungerechtigkeit dar. Denn den Parteien geht es lediglich um die Transformation der werttragenden Substanz (Geldbetrag und KFZ) bei gleichbleibendem Wert. In anderen Worten: Die Parteien wollen etwa in dem genannten Beispiel ein Kraftfahrzeug kaufen bzw. verkaufen, nicht dagegen einen Wertverlust erleiden. Dass die Parteien unter den Bedingungen der realen Wirtschaftspraxis tatsächlich auch einen Gewinn realisieren, ihn vielleicht sogar auf Kosten des Verhandlungspartners maximieren wollen, stellt eine dem Gebot der Austauschgerechtigkeit widersprechende und insoweit hier unbeachtliche Motiva-
185
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131 a 10.
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tion dar. Hiervon ausgenommen ist selbstverständlich eine angemessene Gewinnmarge des Verkäufers, soweit sie die Grundlage seines Lebensunterhaltes und so den Gegenwert der von ihm geleisteten Arbeit bildet.186 Anders gewendet: Sicherlich suchen die Parteien in der Realität als Seins-Ordnung ihren jeweiligen Vorteil, der Käufer will möglichst günstig kaufen und der Verkäufer möglichst günstig verkaufen. Dennoch ist beiden Parteien klar – und das ist die andere, die hier allein maßgebende „Stimme“ der Sollens-Ordnung –, dass ihr jeweiliger Verhandlungspartner selbstverständlich einen hinreichenden Gegenwert für die hingegebene Leistung erhalten soll, also nicht „über den Tisch gezogen“ und übervorteilt werden darf. Ein solches unausgewogenes Ergebnis würde, vor allem wenn das Missverhältnis beachtlich ist, mit Sicherheit und zu Recht auf den Protest des benachteiligten Verhandlungspartners stoßen. Es wäre zweifellos nicht gerecht und hätte möglicherweise auch rechtlich keinen Bestand. Es wäre aus verhandlungstheoretischer Perspektive kein „gutes Ergebnis“.187 Damit bleibt festzuhalten: Ziel des gegenseitigen Vertrages ist der Leistungsaustausch, nicht eine Veränderung der Wertverteilung. Seine tragende Grundlage ist die Wertgleichheit von Leistung und Gegenleistung. Fehlt diese Äquivalenz, so verlangt das Gebot kommutativer Gerechtigkeit einen entsprechenden Ausgleich des von der einen Partei erlangten Vorteils zugunsten des von der anderen Partei hingenommenen Nachteils. Hierauf verweist der synonym verwendete Begriff der ausgleichenden Gerechtigkeit. Wenn die iustitia commutativa auf die Herstellung einer arithmetischen Proportionalität als der „Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig … zwischen dem zu Großen und dem zu Kleinen … zwischen einem nicht auf freiem Willen beruhenden Gewinn und Verlust“188 gerichtet ist, so muss sie zugleich
186 Vgl. hierzu Thomas v. Aquin, Summa Theologica, IIa-IIae q. 77 a. 4 co.: „Unde nihil prohibet lucrum ordinari ad aliquem finem necessarium, vel etiam honestum. Et sic negotiatio licita reddetur. Sicut cum aliquis lucrum moderatum, quod negotiando quaerit, ordinat ad domus suae sustentationem, vel etiam ad subveniendum indigentibus, vel etiam cum aliquis negotiationi intendit propter publicam utilitatem, ne scilicet res necessariae ad vitam patriae desint, et lucrum expetit non quasi finem, sed quasi stipendium laboris.“ Übersetzung nach Thomas v. Aquin, Summa Theologica Bd. 18 (1953), S. 360 f. :„Deshalb steht nichts im Wege, daß man den Gewinn ausrichtet auf ein notwendiges oder ehrenhaftes Ziel. So, wenn einer den mäßigen Gewinn, den er im Handel sucht, ausrichtet auf die Erhaltung seines Hauses oder auch darauf, den Bedürftigen helfen zu können; oder auch, wenn einer Handel treibt zum öffentlichen Nutzen, damit nicht die zum Leben des Vaterlandes nötigen Dinge fehlen, und wenn er dabei den Gewinn nicht als Ziel sucht, sondern als Ertrag der Arbeit.” Hervorhebungen durch den Verfasser. 187 Zu den Kriterien eines guten Ergebnisses vgl. oben S. 160 ff. Vgl. auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 188 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1132 a 15 ff.
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berufen sein, das infolge eines wertverändernden Leistungsaustausches entstandene Missverhältnis auszugleichen und „die Mitte zwischen Nachteil und Vorteil“189 wiederherzustellen, weil die „Mitte das Gleiche, das wir als das Recht bezeichnen“190 ist. Bei Aristoteles ist es der Richter als „Mann der Mitte“,191 der „Mittler“, der diesen Ausgleich herbeiführt, indem er „dem, der zu viel hat, wegnehmen und dem, der zu wenig hat, hinzugeben muß“192. Dem, der zu wenig hat, muss er „so viel hinzugeben, als die Mitte sein Teil übertrifft, und dem, der das Meiste hat, so viel wegnehmen, als die Mitte von seinem Teil übertroffen wird.“193 Hat er dies getan, so ist die arithmetische Proportionalität, die Gleichheit als Mitte von Gewinn und Verlust und damit das Recht wieder hergestellt.194 In gleicher Weise formuliert auch Thomas von Aquin, dass die durch das Geschäft begünstigte Partei ihrem Verhandlungspartner den Betrag, um den sie bereichert worden ist, erstattet, so dass die arithmetische Mitte195, das Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung wiederhergestellt ist. 189
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1132 a 15 ff. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1132 a 15 ff. 191 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1132 a 15 ff. 192 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1132 b. 193 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1132 b. 194 Vgl. die plastische Darstellung bei Aristoteles: „Dagegen ist das Recht im Verkehr zwar auch ein Gleiches und das Unrecht im Verkehr ein Ungleiches, …, sondern gemäß der arithmetischen Proportionalität. So ist denn das Gleiche die Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, der Vorteil und Nachteil aber sind in entgegengesetzter Weise ein Zuviel und ein Zuwenig, indem der Vorteil ein Zuviel des Guten und ein Zuwenig des Übels, der Nachteil aber das Umgekehrte ist. Zwischen ihnen war die Mitte das Gleiche, das wir als das Recht bezeichnen. Und so wäre denn das ausgleichende oder wiederherstellende Recht die Mitte zwischen Nachteil und Vorteil. Deshalb nimmt man auch in zweifelhaften Fällen seine Zuflucht zum Richter. … Der Richter stellt die Gleichheit her und macht es, wie wenn er eine in ungleiche Teile geteilte Linie vor sich hätte, von deren größerem Teile er das Stück, um welches derselbe größer ist als die Hälfte, wegnähme und zu dem kleineren Teile hinzutäte. Wenn aber das Ganze in zwei Teile geteilt ist, so sagt man; ‚jeder hat sein Teil‘, wenn sie gleiches bekommen haben. Das Gleiche aber ist die Mitte zwischen dem zu Großen und dem zu Kleinen nach der arithmetischen Proportion. Darum heißt es auch ‚dikaion‘ (gerecht), weil es ‚dicha‘ (zweiteilig) ist …. Die Ausdrücke Verlust (Einbuße, Nachteil) einerseits und Gewinn (Zubuße, Vorteil) anderseits stammen aus dem freiwilligen Verkehr. Gewinnen bedeutet nämlich eigentlich mehr erhalten, als man hatte, und Verlieren bedeutet weniger erhalten, als man vorher besaß, wie bei Kauf und Verkauf und jedem solchen gesetzlich erlaubten Verkehr. Und wenn nicht mehr und nicht weniger vereinnahmt wird, sondern gleiches um gleiches, dann sagt man, man erhalte das Seinige und erleide weder Verlust noch mache man Gewinn. So ist denn dieses Recht eine Mitte zwischen einem nicht auf freiem Willen beruhenden Gewinn und Verlust, also dies, daß man vor wie nach das Gleiche hat.“ 195 Thomas v. Aquin, Summa Theologica, IIa-IIae q. 61 a. 2 co.: „Et sic fit aequalitas secundum arithmeticam medietatem, quae attenditur secundum parem quantitatis excessum … .” 190
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c) Kriterien zur wertmäßigen Bestimmung der objektiven Äquivalenz Im deutschen Privatrecht, das den von den Parteien ausgehandelten Mediationsvergleich bestimmt, findet sich der Grundsatz der arithmetischen Proportionalität wieder im Grundsatz objektiver Äquivalenz196, der etwa auch dem Wuchertatbestand des § 138 Abs. 2 BGB zugrunde liegt: Es ist dem gegenseitigen Vertrag immanent, dass Leistung und Gegenleistung sich nicht nur subjektiv, sondern nach objektiven Maßstäben wertmäßig entsprechen. Anhand welchen Maßstabs kann aber festgestellt werden, ob die Leistungen gleichwertig sind? Aufgeworfen ist damit eine der Grundfragen der Rechtsphilosophie, die Frage nach dem gerechten Preis, dem iustum pretium, die zwar aufgrund des Grundsatzes der Privatautonomie für die Frage einer Inhaltskontrolle durch die Rechtsordnung rechtlich nicht relevant ist, für die Verhandlungsentscheidung der Parteien im Rahmen eines Mediationsverfahrens indes größte Bedeutung besitzt. Die Mediation als „gerechtes Verfahren“197, die an der Ergebnisgerechtigkeit als Maßstab eines „guten Ergebnisses“ ausgerichtet ist, darf die Frage nach den Kriterien zur wertmäßigen Bestimmung der Leistungsäquivalenz nicht ignorieren. Das jahrhundertelange Ringen um Kriterien eines gerechten Preises belegt eindrucksvoll die Schwierigkeiten, die mit jedem Versuch der wertmäßigen Bestimmung des Leistungswertes einhergehen. Aber es belegt ebenso deutlich die in der Rechtsgemeinschaft tief verwurzelte Überzeugung der – wenngleich auch nur annäherungsweisen – Bestimmbarkeit des objektiven Leistungswertes, ohne die grundlegende Gerechtigkeitsprinzipien der iustitia commutativa und die Kategorien der Ergebnisgerechtigkeit und der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung als Grundlage gegenseitiger Verträge von vornherein überflüssig wären. Dass es einen wahren (verum pretium) und damit gerechten Preis (iustum pretium), einen fairen Einigungsbereich gibt, der den Parteien selbstverständlich nicht mit den Mitteln des Rechts aufoktroyiert, sondern von ihnen im Wege der Verhandlung zum Inhalt des Mediationsvergleichs gemacht wird, dürfte daher nicht bezweifelt werden. Unbeeindruckt von der im Schrifttum vorgeschlagenen Vielzahl von Kriterien – wie etwa den Herstellungskosten, der aufgewendeten Arbeit, dem Nutzwert, den Absatzmöglichkeiten und der Berücksichtigung von Gewinnmarge, Risikozuschlägen, dem Verlangen des Käufers zu verkaufen und dem Verlangen des Verkäufers, die Sache zu erwerben – hat die Rechtspraxis griffige Kriterien zur Bestimmung der Leistungsäquivalenz entwickelt: Im gerichtlichen
Übersetzung nach Thomas v. Aquin, Summa Theologica Bd. 18 (1953), S. 96: „Und so findet ein Ausgleich statt nach der arithmetischen Mitte, die auf dem geichen Übermaß der Menge beruht … .“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 196 Hierzu Larenz, Richtiges Recht (1979), S. 70. 197 Vgl. hierzu oben S. 179 ff.
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Verfahren legt die Rechtsprechung etwa im Rahmen des objektiven Wuchertatbestandes nach § 138 Abs. 2 BGB „den objektiven, durch Sachverständigengutachten zu ermittelnden Verkehrswert“198 zugrunde. Im Mediationsverfahren ist bereits seit den Anfängen der ADR-Bewegung anerkannt, dass objektiven Kriterien, die vom Willen der Beteiligten unabhängig, aber legitim und handhabbar sind, bei der Herbeiführung der Einigungsentscheidung der Parteien eine zentrale Bedeutung zukommt.199 Genannt wird auch hier in erster Linie der Marktpreis, auch wenn dieser nicht punktgenau, sondern nur näherungsweise bestimmbar ist.200 Das Problem, dass scheinbar objektive Kriterien bei näherer Betrachtung doch nicht so „objektiv“ sind, betrifft im Kern das mit der objektiven Wertbestimmung stets verbundene Unschärfedilemma: Der Wert einer Leistung ist oft nicht mit mathematischer Präzision auf „Heller und Pfennig“ genau – wie Thomas formuliert „non est punctaliter determinatum“201 –, sondern nur als Näherungswert (aestimatio)202 oder Wertspanne bestimmbar. Abgrenzungsprobleme sind indes nichts dem Recht Fremdes, sondern auch bei anderen Prinzipien als selbstverständlich anerkannt. Mit dem Marktpreis steht ein hinreichend genaues Kriterium zur Verfügung, das Minimal- und Maximalgrenzen und damit ohne weiteres die Bestimmung eines abgrenzbaren Einigungsbereiches erlaubt. So hat auch der BGH festgestellt, dass es etwa im Rahmen des § 315 Abs. 3 S. 2 BGB nicht darum geht, „einen ‚gerechten Preis‘ von Amts wegen zu ermitteln. Vielmehr geht es darum, ob die getroffene Bestimmung sich noch in den Grenzen der Billigkeit hält.“ Die Eingriffsschwelle ist dabei hoch, denn erst „wenn der Berechtigte die ihm durch die Billigkeit gesetzten Grenzen bei der Preisbemessung überschritten hat, ist die Bestimmung durch die Entscheidung des Gerichts zu ersetzen (§ 315 Abs. 3 S. 2 BGB), nicht aber bereits dann, wenn das Gericht eine andere Festsetzung für besser hält.“203 Im Mediationsverfahren steht indes nicht die richterliche Äquivalenzkontrolle,
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BGH NJW 1979, 758, 758. Hervorhebung durch den Verfasser. Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 81 ff., 85 („Insist on using objective criteria“); Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 207 ff.; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 78 f. 200 Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 85; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 78 f. 201 Auf diesen Zusammenhang weist bereits Thomas von Aquin hin, indem er feststellt, dass der gerechte Preis nicht mit mathematischer Präzision bestimmt werden kann, sondern stattdessen von einer Art Schätzung abhängt, so dass ein leichter Auf- oder Abschlag die Gleichheit der Gerechtigkeit nicht beseitigt: „Quod ideo dico quia iustum pretium rerum quandoque non est punctaliter determinatum, sed magis in quadam aestimatione consistit, ita quod modica additio vel minutio non videtur tollere aequalitatem iustitiae.“ Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 77 a. 1 ad 1. Hervorhebungen durch den Verfasser. 202 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 77 a. 1 ad 1. 203 BGH NJW-RR 2007, 56, 57 f. 199
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sondern die interne Willensbildung der Parteien im Vordergrund, so dass sich der zulässige Einigungsbereich, innerhalb dessen ein Ergebnis als wertäquivalent und damit als ergebnisgerecht angesehen werden kann, deutlich verengt. d) Der Marktpreis als Maßstab des Leistungswertes Den Maßstab für die Bestimmung des objektiven Wertes von Leistung und Gegenleistung bilden damit anerkanntermaßen die Marktkonditionen.204 Auch wenn der Marktwert keine allgemeinverbindliche Bewertungsgrundlage zu bilden vermag, so ist doch anerkannt, dass ihm in der Tendenz die Funktion eines Indikators für den gerechten Preis einer Leistung zukommt.205 Der Marktwert ist nach dem BGH „der übliche Wert, der für eine vergleichbare Leistung auf dem Markt zu zahlen ist.“206 In einem funktionierenden Markt bildet der im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage gebildete Marktwert regelmäßig einen zuverlässigen Indikator des objektiven Leistungswertes. Denn der Markt kennt nur ein „Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person“207, und zeigt, welchen Wert die Marktteilnehmer einer Leistung beimessen, d.h. welchen Preis sie für eine bestimmte Leistung zu zahlen bereit sind. Bei nicht marktgängigen Leistungen wird auf die Herstellungs- und Gestehungskosten zuzüglich eines angemessenen Gewinnzuschlages abzustellen sein.208 Der Marktpreis kann allerdings nur dann als Indikator für den objektiven Leistungswert herangezogen werden, wenn die Funktion des Marktes nicht beeinträchtigt und das Verhältnis von Angebot und Nachfrage einigermaßen ausgeglichen ist. Im Fall eines Marktversagens, insbesondere in Zeiten der Güterverknappung und des Mangels etwa an lebensnotwendigen Gütern, kann der dann regelmäßig überhöhte Marktpreis nicht zur Grundlage der Wertermittlung gemacht werden, um Preiswucher und Ausbeutung zulasten des Käufers zu verhindern. Dem Preis fehlt aufgrund des Versagens des Marktmechanismus die erforderliche Legitimation, da eine freie, von externen Faktoren der Bedürftigkeit unabhängige Verständigung der Marktteilnehmer über den Wert der Leistung nicht mehr möglich ist.209 Hier müssen ebenfalls die Herstellungs- und
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So schon Thomas v. Aquin, Summa Theologica, IIa-IIae q. 77 a. 1 co.: „Quantitas autem rerum quae in usum hominis veniunt mensuratur secundum pretium datum.“ Übersetzung nach Thomas v. Aquin, Summa Theologica Bd. 18 (1953), S. 347 f.: „Die Werthöhe der Dinge aber, welche zum Gebrauch bei den Menschen in Umlauf sind, wird bemessen nach dem bezahlten Preis.“ Ebenso Larenz, Richtiges Recht (1979), S. 71 ff. 205 Engisch, Gerechtigkeit (1971), S. 165; Larenz, Richtiges Recht (1979), S. 72; Härle, Die Äquivalenzstörung (1995), S. 12. 206 BGH NJW 2002, 55, 56. 207 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 365 208 Larenz, Richtiges Recht (1979), S. 72. 209 Vgl. auch Härle, Die Äquivalenzstörung (1995), S. 16.
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Gestellungskosten zugrunde gelegt oder der Leistungswert auf der Grundlage der aus dem Kartellrecht bekannten Als-Ob-Betrachtung ermittelt werden. Vor dem Hintergrund der klassischen Gerechtigkeitstheorie ergibt sich die Ungerechtigkeit eines derart überhöhten Preises allerdings, wie Thomas mit großer Klarheit zeigt, nicht nur aus dem Marktversagen als solchem, sondern vor allem aus der Tatsache, dass der Verkäufer sich den sich aus dem überhöhten Preis ergebenden Vorteil nicht selbst zurechnen kann, weil dieser nicht auf seiner eigener Leistung beruht, sondern sich vielmehr aus der Mangelsituation des Käufers ergibt.210 Niemand darf aber etwas verkaufen, was ihm nicht gehört, niemand darf aus einer Situation Vorteile ziehen, die ihm nicht als eigene Leistung zuzurechnen ist, und so die Notlage des Käufers ausnutzen.211 Das Ergebnis ist, wie die im Verlauf der Geschichte vor allem in Zeiten der Mangelwirtschaft immer wieder notwendig gewordenen regulierenden Eingriffe des Staates zeigen, der Rechtsgemeinschaft über die Epochen und Rechtsordnungen hinweg als Gerechtigkeitsmaßstab immanent. Dass die Parteien in einer liberalen Wirtschaftsordnung aufgrund der ihnen zukommenden Privatautonomie gleichwohl frei sind, auch in ihrer Leistungsäquivalenz gestörte Rechtsgeschäfte vorzunehmen, betrifft – wie wir gesehen haben – nicht die für die Einigungsentscheidung der Parteien im Mediationsverfahren maßgebliche Ebene der Gerechtigkeit, sondern ist eine Frage der insoweit deutlich weiteren rechtlichen Wirksamkeit. Die Rechtsordnung hat die Verantwortung zum Abschluss wertäquivalenter Verträge der Autonomie der Parteien anvertraut und behandelt daher formell ordnungsgemäß abgeschlossene Verträge grundsätzlich als wirksam. Allerdings kann ihr, gerade weil die 210 Vgl. hierzu Thomas v. Aquin, Summa Theologica, IIa-IIae q. 77 a. 4 ad 2: „Si vero aliquis multum iuvetur ex re alterius quam accepit, ille vero qui vendidit non damnificatur carendo re illa, non debet eam supervendere. Quia utilitas quae alteri accrescit non est ex vendente, sed ex conditione ementis, nullus autem debet vendere alteri quod non est suum, licet possit ei vendere damnum quod patitur. Ille tamen qui ex re alterius accepta multum iuvatur, potest propria sponte aliquid vendenti supererogare, quod pertinet ad eius honestatem.“ Übersetzung nach Thomas v. Aquin, Summa Theologica Bd. 18 (1953), S. 346. „Wenn aber einem sehr viel geholfen ist mit der Sache des anderen, die er erhalten hat, der Verkäufer aber keinen besonderen Schaden aus ihrem Verlust hat, so darf er sie nicht teurer verkaufen. Denn der Nutzen, der dem anderen zuwächst, stammt nicht vom Verkäufer, sondern aus der augenblicklichen Lage des Käufers; keiner aber darf dem anderen verkaufen, was nicht sein eigen ist, wenn er ihm auch den Schaden ‚verkaufen‘ kann, den er erleidet. Jener aber, der aus der empfangenen Sache eine große Hilfe erfährt, kann aus eigenem Antrieb dem Verkäufer etwas dazugeben; das ist schicklich für ihn.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 211 Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 77 a. 1 co.: „Si vero aliquis multum iuvetur ex re alterius quam accepit, ille vero qui vendidit non damnificatur carendo re illa, non debet eam supervendere. Quia utilitas quae alteri accrescit non est ex vendente, sed ex conditione ementis, nullus autem debet vendere alteri quod non est suum, licet possit ei vendere damnum quod patitur.“ Hervorhebungen durch den Verfasser.
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Parteien die Anerkennung der von ihnen geschlossenen Verträge begehren, die inhaltliche Äquivalenz nicht gleichgültig sein. Sie behält sich daher – etwa im Rahmen des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§§ 305 ff. BGB) oder des Wuchertatbestandes (§ 138 Abs. 2 BGB) – die Möglichkeit der Korrektur erheblicher Äquivalenzstörungen im gerichtlichen Verfahren vor. Fassen wir das Ergebnis unserer bisherigen Untersuchung zusammen: Wesentliches materielles Kriterium, das der Einigungsentscheidung der Parteien im Mediationsverfahren zugrunde gelegt wird, ist die objektive Äquivalenz von Leistung- und Gegenleistung im Sinne der klassischen Tauschgerechtigkeit. Mediationsvergleiche als synallagmatische Vertragsbeziehungen sind grundsätzlich auf einen wertneutralen Leistungsaustausch, auf den Austausch, die Umwandlung, die Transformation der werttragenden Substanz, nicht dagegen auf eine Veränderung der bestehenden Wertallokation gerichtet. Dennoch entstehende Veränderungen des individuellen Wertsaldos der Parteien stellen eine insoweit nicht beabsichtigte Ineffizienz und angesichts des Gleichheitsgebotes ungerechte Wertverschiebung dar. Sie bedürfen daher des Ausgleichs, um die arithmetische Proportionalität, die Gleichheit als Mitte von Gewinn und Verlust wiederzustellen. Maßgebliches Kriterium zur Bestimmung der Leistungsäquivalenz bildet der unter den Bedingungen eines funktionierenden Marktes zustande gekommene Marktpreis, der freilich aufgrund der unvermeidbaren Unschärfe nur als Einigungsbereich bestimmbar ist. Er findet sich wieder in den vom verhandlungstheoretischen Schrifttum geforderten „objektiven“ oder „legitimen Kriterien“ als Instrument zur Auflösung des Verhandlungsdilemmas nach dem Harvard-Modell. Zugleich bildet er die Bewertungsgrundlage für Nichteinigungsalternativen und Einigungsoptionen als zwei der vier für die Verhandlungsentscheidung der Parteien zentralen Schlüsselfaktoren.212 Die von der ADR-Praxis entwickelte Konzeption der Auflösung des Verhandlungs-
212 Die beiden übrigen Schlüsselfaktoren – die Interessen der und ihre Wahrnehmung durch die Parteien – stehen mit den objektiven Kriterien bzw. dem Marktpreis ebenfalls in funktionaler Beziehung: Die Interessen bilden neben den objektiven Kriterien eine weitere zentrale Kategorie von Bewertungsmaßstäben. Sie sind für die sogleich zu untersuchende distributive Gerechtigkeit von Bedeutung. Der Einfluss des Marktpreises auf die Verhandlungsentscheidung ist wiederum abhängig von seiner Wahrnehmung durch die Parteien. Durch selektive Wahrnehmung ausgelöste Wahrnehmungsverzerrungen, wie etwa illusorischer Optimismus (overconfidence bias), reaktive Abwertung (reactive devaluation) oder auch Fehleinschätzungen durch den Einsatz von Wahrnehmungsankern (anchoring) oder Bezugsrahmen (framing), können die Wirksamkeit objektiver Kriterien als Bewertungsmaßstab sowie die Äquivalenz und Tauschgerechtigkeit des Verhandlungsergebnisses erheblich beeinflussen. Vgl. zu den genannten Wahrnehmungseffekten v.a. BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 24 ff., 35 ff. Vgl. zu den Schlüsselfaktoren und Bewertunsmaßstäben in Verhandlungssituationen BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 24 ff., 51 f., 93 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 170 f.
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dilemmas durch objektive Kriterien als – ggf. durch Wahrnehmungsverzerrungen der Parteien beeinflusster – Bewertungsmaßstab von Nichteinigungsalternativen und Einigungsoptionen folgt damit der klassischen aristotelischen Theorie kommutativer Gerechtigkeit und seiner privatrechtlichen Konkretisierung durch das objektive Äquivalenzprinzip. Für das Verhandlungssystem als System normativer Steuerung ergibt sich damit – zunächst völlig unabhängig von der noch zu diskutierenden Frage nach der Rolle des Rechts im Mediationsverfahren – ein Gleichlauf mit dem Normsystem der objektiven Rechtsordnung. 4. Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) Objektive Kriterien als Maßstab der Leistungsäquivalenz bilden indes nicht den einzigen für die Einigungsentscheidung der Parteien im Mediationsverfahren wesentlichen Faktor. Der Erfolg des Mediationsverfahrens in der Praxis, die weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassende Hinwendung zu alternativen Formen der Streitbeilegung und schließlich die weltweite ADRBewegung beruhen vielmehr auf einem für Rechtswissenschaft wie -praxis gleichermaßen prägenden Paradigmenwechsel: Es ist die Erkenntnis, dass die Hinwendung von den Rechtspositionen zu den hinter diesen stehenden tatsächlichen Sachinteressen der Parteien die systemimmanenten Schwächen streitiger Konfliktlösung im Zivilprozess – komplexitätsreduzierende Verrechtlichung, Transformation in einen Metakonflikt, Nullsummenspiel, binärer Schematismus, kontradiktorischer Rollenzwang, Eskalation, Retrospektivität, Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit213 – nicht nur zu überwinden vermag, sondern darüber hinaus wertschöpfende und beiderseits interessengerechte win-win-Lösungen sowie die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne ermöglicht.214 Der Schritt von den Rechten zu den Interessen der Parteien als Grundlage ihrer Einigungsentscheidung gehört damit zu den prägenden Grundprinzipien des Mediationsverfahrens.215 Mit den Interessen tritt uns ein Kriterium gegenüber, bei dem es nicht in erster Linie um die objektive Bewertung der Gleichwertigkeit von Leistung- und Gegenleistung, sondern um die Wertverteilung aufgrund subjektiver, in der Person der Parteien begründeter Umstände geht. Angesprochen ist damit nicht die Wertaustausch-, sondern die Wertverteilungsgerechtigkeit, die iustitia distributiva. Eine nähere Untersuchung der Rolle distributiver Gerechtigkeitskriterien als normativ-materieller Maßstab der Einigungsentscheidung der Parteien ist für das Mediationsverfahren von besonderer Bedeutung: Während die iustitia distributiva auf der Ebene des for-
213
Vgl. hierzu eingehend oben S. 12 ff. Vgl. hierzu eingehend oben S. 12 ff., 20 ff., 124 ff. 215 Vgl. oben S. 124 ff. 214
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malen Privatrechts als „strengem Recht“ lediglich mittelbar und nur ausnahmsweise unmittelbar von Bedeutung ist, kommt ihr im Mediationsverfahren als „Billigkeitsrecht“ eine zentrale Rolle zu. Die Bedeutung materieller Kriterien im Sinne distributiver Gerechtigkeitsprinzipien fällt damit für Zivilprozess und Mediation auseinander. Ersterer ist die Domäne der iustitia commutativa, letztere das Gebiet der iustitia distributiva. Damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage unserer Untersuchung angelangt: Der Rolle des Rechts in der Mediation. Denn die herausgehobene Bedeutung der distributiven Gerechtigkeit im Mediationsverfahren ist eng mit der Rolle des materiellen Rechts in den Verfahren alternativer Streitbeilegung verknüpft. Und dies ist der Punkt, an dem Zivilprozess und Mediation im Hinblick auf die in ihnen unmittelbar zur Anwendung kommenden Bewertungsmaßstäbe auseinander fallen. Dies ist näher zu untersuchen. a) Die Rolle der iustitia distributiva in der Normenhierarchie Die Ursache für das Auseinanderfallen der unmittelbar zur Anwendung kommenden Bewertungsmaßstäbe in Zivilprozess und Mediation liegt in dem unterschiedlichen Grad der Verbindlichkeit überpositiver, sozialer und rechtlicher Normen: Das menschliche Handeln wird in seinem ursprünglichsten Kern von absoluten, überpositiven Normen kommutativer und distributiver Gerechtigkeit bestimmt, die – durch das lumen rationale erkennbar – weitreichende Anforderungen an das Verhalten des Einzelnen stellen, indes nicht rechtliche, sondern „lediglich“ moralische Verbindlichkeit beanspruchen.216 Ein Verstoß gegen die Gebote gerechten Handelns wird zunächst vor dem forum internum, dem Tribunal des Gewissens, verhandelt.217 Als naturrechtliche Normen, die dem durch soziale Normen geregelten und dem positiv gesetzten Recht vorangehen, weisen sie die höchste Regelungsdichte auf. Mehr noch als durch das Recht und durch soziale Normen wird das menschliche Handeln daher durch die überpositiven Grundsätze gerechten Handelns bestimmt. Ein Beispiel überpositiver Gebote distributiver Gerechtigkeit bildet die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bei der Gewährung von Leistung bzw. der Auferlegung von Lasten, in einem Wort: Die Unterstützung Bedürftiger. Die Gerechtigkeit gebietet sie. Rechtlich erzwingbar ist sie damit noch nicht.
216 Zur interdisziplinären Gerechtigkeitsforschung vgl. nur Ockenfels, Fairneß, Reziprozität und Eigennutz (1999), S. 37 ff., 131 ff. Bolton/Ockenfels, in: Plott/Smith (Hrsg.), Handbook of experimental economics results I (2008), S. 531; Ockenfels/Raub, KZfSS (Sonderheft 50) 2010, 119. 217 Zur Relevanz des Gewissens für das Strafrecht vgl. Kölbel, FS Roxin (2011), S. 1913, 1914 ff.
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Diese absoluten, überpositiven Grundsätze distributiver Gerechtigkeit finden regelmäßig konkretisierenden Eingang in die sozialen Normen der jeweiligen Gesellschaft, die Moral, die indes einem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel unterliegt und sich einmal mehr, einmal weniger von den unveränderlichen naturrechtlichen Grundsätzen der Gerechtigkeit entfernen oder ihnen entsprechen kann. Diese Transformationsleistung wird von der Gesellschaft in aller Regel erbracht werden, sie muss es aber nicht. Daher können die jeweils geltenden sozialen Normen die überpositiven Grundsätze distributiver Gerechtigkeit entweder mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck bringen. Eine Gesellschaft oder ein kleineres soziales System kann sich mehr oder weniger von seinem Wertefundament entfernen. Sie kann, wie etwa die Diskussion um Managergehälter im Kontext der internationalen Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008 gezeigt hat, ganz überwiegend oder in einem Teilbereich „moralisch“ oder „unmoralisch“ sein. Da das überpositive Wertefundament einer Gesellschaft durch die Vernunft erkennbar und für die Gesellschaft unverzichtbar lebensnotwendig ist, können gesellschaftliche (Unrechts-)Systeme, die einem den Grundsätzen der Gerechtigkeit widersprechenden Kanon sozialer Normen folgen, auf Dauer keinen Bestand haben. Eine durch zunehmende Individualisierung sowie deutliche Leistungs- und Erfolgsorientierung geprägte „Ellenbogengesellschaft“, d.h. eine Gesellschaft, die durch Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Eigennutz getrieben wird und in der sozial verantwortliche und kooperative Verhaltensnormen degeneriert sind, wird auf Dauer auf Ablehnung und Widerspruch stoßen und die Sozialgemeinschaft zur Korrektur herausfordern. Entsprechend deutlich waren in unserem Beispielsfall der Managergehälter die Reaktionen der Sozialgemeinschaft, die – vermittelt durch die Medienöffentlichkeit und die politischen Institutionen – deutliche Sanktionen forderte.218 Die Sanktionierung erfolgte auf der Ebene sozialer Normen durch soziale Missbilligung und die in einer Mediendemokratie oft folgenschwere öffentliche Ächtung. Rechtliche Konsequenzen hatte ein solcher Verstoß gegen Sozialnormen indes nicht. Werden soziale Sanktionen als ineffizient und das missbilligte Verhalten als unerträglich angesehen, so können soziale Normen und die ihnen zugrunde liegenden überpositiven Wertungen distributiver Gerechtigkeit zu positivem Recht verdichtet und in rechtlich verbindlichen Normen formalen Rechts konkretisiert werden. So mündete in dem genannten Beispielsfall der soziale Normverstoß in einem Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, das Regelungen zur Angemessenheit der Vergütung von Vorständen von Ka-
218
Bluhm, in: Maurer/Schimank/Maurer (Hrsg.), Gesellschaft der Unternehmen (2008), S. 144 ff.
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pitalgesellschaften und Verhaltensanreize für eine nachhaltige Unternehmensentwicklung vorsieht.219 Die Regelungsdichte ist trotz der zunehmenden Verrechtlichung positiven Gesetzesrechts indes fragmentarisch und bleibt hinter den überpositiven und sozialen Normen zurück. Rechtliche Regelungen erfolgen zudem selektiv: So ist das deutsche Privatrecht hinsichtlich materieller, insbesondere distributiver Wertungen deutlich zurückhaltend. Ihre prägende Gerechtigkeitsform ist die iustitia commutativa. Allerdings bedarf eine an den Leitprinzipien der Vertragsfreiheit, der Marktwirtschaft und des Wettbewerbes orientierte Privatrechtsordnung ergänzender materieller Regelungen im Sinne der iustitia distributiva, um ihre systemimmanenten Defizite im Hinblick auf die Bedürfnis-, Leistungs- und Chancengerechtigkeit zu kompensieren.220 Sie finden sich im Privatrecht vor allem im Gleichbehandlungsgrundsatz für Mehrheitsbeschlüsse in Gesellschaften, in den Regelungen zur Kompensation des Marktversagens bei Monopolunternehmen und marktbeherrschenden Unternehmen und im Gleichbehandlungsgrundsatz im Verhältnis des Arbeitgebers zu seinen Arbeitnehmern.221 Daneben können aber auch sonstige materielle Regelungen, etwa auf der Ebene der Vertragsfreiheit, wie z.B. die Widerrufsrechte im Verbrauchsgüterkauf, zu distributiven Folgewirkungen führen.222
219 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG), BGBl. I 2009, 2509 ff. 220 So insbesondere Canaris, Iustitia distributiva (1997), S. 75 f.: „Denn dieses System vermag die Befriedigung der objektiven Grundbedürfnisse der Menschen nicht vollständig zu gewährleisten; es benachteiligt ohne zureichenden Grund Personen, deren Leistungsfähigkeit ohne ihr Verschulden gering ist oder die aus sonstigen Gründen Pech gehabt haben; und es beeinträchtigt auch die Chancengerechtigkeit, indem es diejenigen zurücksetzt, die mit einer schlechteren ‚Ausstattung‘ - sei es an Talenten oder sei es an ökonomischen Ressourcen - in den Austausch- und Wettbewerbsprozeß eintreten, und indem es zu großer Ungleichheit bei der Verteilung der Güter führt.“ Allerdings weist Canaris ebenfalls zu Recht darauf hin, dass eine wettbewerbsorientierte Privatrechtsordnung mit den Zielen distributiver Gerechtigkeit in vielerlei Hinsicht kompatibel ist: „Andererseits hat sich gezeigt, daß eine solche Vertrags- und Wirtschaftsordnung mittelbar auch die Erreichung distributiver Ziele in hohem Maße fördert. So ist sie optimal geeignet zur Wahrung der Besitzstandsgerechtigkeit und zur Befriedigung der subjektiven Bedürfnisse; die Befriedigung der objektiven Grundbedürfnisse erleichtert sie immerhin wesentlich; sowohl ihrer Grundtendenz als auch ihren faktischen Auswirkungen nach prämiert sie Leistungen, die von anderen Menschen als nützlich angesehen werden, und sanktioniert unerwünschte Fehlleistungen; sogar für die Verwirklichung der Chancengerechtigkeit erbringt sie einen überaus wichtigen Beitrag … .“ 221 Vgl. Canaris, Iustitia distributiva (1997), S. 35 ff. 222 Nach Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 32 f. sind distributive Folgewirkungen notwendige Konsequenz jedes materiellen Eingriffs in die Ver-
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Sie bleiben hier freilich die Ausnahme. Distributive Gerechtigkeit ist jedenfalls in der Regel nicht justiziabel. Das bedeutet indes nicht, dass die Rechtsordnung den Wertungen distributiver Gerechtigkeit gleichgültig gegenübersteht, da ihr normatives Wertefundament auf den durch die überpositiven Grundsätze der Gerechtigkeit geprägten sozialen Normen und damit der Moral beruht. Aufgrund der im Idealfall wesensmäßigen Einheit von lex aeterna, lex humana und leges, d.h. überpositiver Werteordnung, Moral und Recht, vertraut sie die Wahrung distributiver Gerechtigkeit der Eigenverantwortlichkeit des vernünftig handelnden Individuums an, weil sie davon ausgeht, dass der Einzelne die Gebote richtigen Handelns durch seine Vernunft erkennen kann und sein Verhalten entsprechend ausrichtet. Weil das Recht in seinem ganzen Wesen auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit hin ausgerichtet ist und die Parteien für den von ihnen abgeschlossenen Mediationsvergleich die Autorität des Rechts in Anspruch nehmen wollen, greift die Rechtsordnung korrigierend ein, wenn die Wirklichkeit die Vermutung zugunsten des Verantwortungsbewusstseins des Einzelnen widerlegt. Weil das positive Recht insoweit aber immer ultima ratio ist, greift es nur dann ein, wenn der Einzelne in seinem Handeln distributive Wertungen in grober Weise verfehlt. Die korrigierende Wirkung bleibt daher auf Ausnahmefälle beschränkt.223
tragsfreiheit: „Insgesamt bedeutet dies also, daß jede Anerkennung materialer Voraussetzungen der Vertragsfreiheit stets notwendig auch zur Existenz distributiver Wertungsstrukturen innerhalb der Privatrechtsordnung führt.“ 223 Vgl. hierzu Thomas v. Aquin, Summa Theologica, IIa-IIae q. 77 a. 1 ad 1 „ … quod, sicut supra dictum est, lex humana populo datur, in quo sunt multi a virtute deficientes, non autem datur solis virtuosis. Et ideo lex humana non potuit prohibere quidquid est contra virtutem, sed ei sufficit ut prohibeat ea quae destruunt hominum convictum; alia vero habeat quasi licita, non quia ea approbet, sed quia ea non punit. Sic igitur habet quasi licitum, poenam non inducens, si absque fraude venditor rem suam supervendat aut emptor vilius emat, nisi sit nimius excessus, quia tunc etiam lex humana cogit ad restituendum, puta si aliquis sit deceptus ultra dimidiam iusti pretii quantitatem. Sed lex divina nihil impunitum relinquit quod sit virtuti contrarium.“ Vgl. zur Übersetzung Thomas v. Aquin, Summa Theologica Bd. 18 (1953), S. 347 f. „Das menschliche Gesetz wird dem (ganzen) Volke gegeben, in welchem es viele gibt, die an Tugend arm sind; nicht aber wird es nur für die Tugendhaften gegeben. Deshalb konnte das menschliche Gesetz nicht alles verhindern, was gegen die Tugend ist; sondern es genügt ihm, das zu verhindern, was das Zusammenleben der Menschen unmöglich macht; die anderen Dinge aber hält es gewissermaßen für erlaubt, nicht weil es sie gutheißt, sondern weil es sie nicht bestraft. So hält es auch gleichsam für erlaubt, ohne dafür eine Strafe anzusetzen, wenn der Verkäufer seine Sache ohne Betrug über Preis verkauft und der Käufer unter Preis kauft, solange der Unterschied nicht zu groß ist. Denn dann zwingt auch das menschliche Gesetz zur Wiedererstattung, zum Beispiel, wenn einer um über die Hälfte des gerechten Preises betrogen wurde. Das göttliche Gesetz aber läßt nichts ungestraft, was der Tugend zuwider ist.“ Hervorhebungen durch den Verfasser.
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b) Die Rolle der iustitia distributiva im Mediationsverfahren und im Zivilprozess Entsprechend ist auch die Rolle der iustitia distributiva im Zivilprozess begrenzt. Sie wird sich in aller Regel lediglich auf die genannten Ausnahmefälle und distributive Folgewirkungen weiterer materieller Wertungen, etwa im Bereich der iustitia commutativa oder auf der Ebene der Vertragsfreiheit, erstrecken. Für das Mediationsverfahren ergibt sich dagegen eine deutlich andere Situation. Denn die für unsere Untersuchung allein relevante Einigungsentscheidung der Parteien betrifft ausschließlich den vorrechtlichen Bereich einigungsrelevanter Sachmotivationen, die noch nicht als Mediationsvergleich zu formalem (Privat-)Recht verdichtet sind. Weil sich die Einigungsentscheidung hinsichtlich des forum internum im Bereich überpositiver Grundsätze distributiver Gerechtigkeit und im forum externum im Bereich sozialer Normen und damit der Moral bewegt, sind distributive Wertungen entsprechend in vollem Umfang und nicht, wie im Bereich des Rechts, nur in begrenzten Ausnahmefällen relevant. Auch wenn die Parteien durch ihre vertragliche Einigung einen dem Privatrecht unterstehenden Vergleichsvertrag schließen, so wird ihr vorvertragliches Verhandlungsverhalten von überpositiven Prinzipien der Fairness und sozialen Normen bestimmt. Da das Recht im Sinne von Rechtspositionen als Bewertungsmaßstab weitgehend entfällt, kommt der iustitia distributiva im Mediationsverfahren eine zentrale, das Einigungsergebnis wesentlich beeinflussende Bedeutung zu. Welche Verteilungsprinzipien kommen nun im Mediationsverfahren im Einzelnen zur Anwendung? Und nach welchen Kriterien erfolgt die Verteilung der im kooperativen Zusammenwirken der Parteien geschaffenen Werte? c) Die Verteilungsgerechtigkeit nach Aristoteles Im Gegensatz zur iustitia commutativa, der es als Gerechtigkeit ohne Ansehung der Person um die Gleichwertigkeit der Leistungen in synallagmatischen Austauschverhältnissen geht, betrifft die iustitia distributiva als Gerechtigkeit in Ansehung der Person die Verteilung von Werten auf der Grundlage bestimmter materieller Zuteilungskriterien. In ihrer klassischen Form, in der sie uns bei Aristoteles und Thomas von Aquin gegenübertritt, erfasst sie indes nicht das Verhältnis der Einzelnen unter- und zueinander – dies ist die Domäne kommutativer Gerechtigkeit224 –, sondern das Verhältnis des Gemeinwesens zum Ein-
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Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 61 a. 1 co.: „Et hunc ordinem dirigit commutativa iustitia, quae consistit in his quae mutuo fiunt inter duas personas ad invicem.” Hervorhebungen durch den Verfasser.
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zelnen, das als übergeordnete Instanz dem Einzelnen die Güter nach dem Verhältnis bestimmter personaler Eigenschaften zuteilt.225 Ein solches Subordinationsverhältnis des Privatrechtssubjekts zum Staat liegt zwar den distributiven Ausnahmeregelungen des Privatrechts, nicht jedoch der Verhandlungsentscheidung der Parteien im Mediationsverfahren zugrunde. Hier geht es in der Regel ausschließlich um das bilaterale Verhältnis der Parteien zueinander. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, dass die Grundsätze distributiver Gerechtigkeit im Mediationsverfahren nicht unmittelbar anwendbar sind. Gleichwohl bleiben distributive Wertmaßstäbe auch im Binnenverhältnis der Privatrechtssubjekte relevant, weil die Frage, wer letztlich die Zuteilung der zu verteilenden Güter vornimmt, für die Verteilungskriterien inhaltlich ohne Belang ist. Wenn den Kriterien der Güterverteilung als solche ein eigenständiger materieller Gerechtigkeitswert zukommt, dann kann es auf die Zuständigkeit zur Wertverteilung nicht ankommen. Dies gilt vor allem deshalb, weil die Grundsätze materieller Verteilungsgerechtigkeit für den Einzelnen durch die Vernunft ohne weiteres erkennbar sind und daher auch zum Maßstab seines Handelns gemacht werden können. Inhaltlicher Maßstab der Güterverteilung ist – wie auch bei der Austauschgerechtigkeit – die Gleichheit als Grundbedingung der Gerechtigkeit. Sie ist allerdings bei der Verteilungsgerechtigkeit nicht auf das Maß der Güter, sondern auf das Verhältnis der Leistung zu den Eigenschaften einer Person bezogen: „Und es muß dieselbe Gleichheit bei den Personen, denen ein Recht zusteht, vorhanden sein, wie bei den Sachen, worin es ihnen zusteht: Wie die Sachen, so müssen auch die Personen sich verhalten. Sind sie nämlich einander nicht gleich, so dürfen sie nicht gleiches erhalten. … Das ergibt sich auch aus dem Moment der Würdigkeit.“226 Ziel distributiver Gerechtigkeit ist daher nicht die Herstellung arithmetischer Gleichheit des Maßes der Leistung (a = b), sondern die proportionale Gleichheit (a:b = c:d) des Verhältnisses der jeweiligen Leistung zu den entsprechenden personalen Eigenschaften des Einzelnen. Vielmehr ist Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, wie es auch dem heutigen Verständnis formaler Gleichheit im Sinne des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) entspricht. Wer doppelt so viel leistet, wer einen doppelt so hohen Bedarf hat, wer doppelt so viel verdient, soll auch doppelt so viel erhalten. Rechtsträger ist hier der Einzelne, Verpflichtete die Gemeinschaft, der die Aufgabe der gerechten Zuteilung zukommt. Was indes gleich bzw. ungleich ist, ist eine materielle Wertungsfrage. Angesprochen ist 225 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 61 a. 1 co.: „Alius ordo attenditur totius ad partes, et huic ordini assimilatur ordo eius quod est commune ad singulas personas. Quem quidem ordinem dirigit iustitia distributiva, quae est distributiva communium secundum proportionalitatem. Et ideo duae sunt iustitiae species, scilicet commutativa et distributiva.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 226 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131a.
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damit letztlich die eine Ungleichbehandlung rechtfertigende Würdigkeit der Parteien im Mediationsverfahren. d) Materielle Kriterien der Gerechtigkeit Worin besteht aber nun diese Würdigkeit (αξια)227 einer Verhandlungspartei? Welche personalen Eigenschaften können zur Wertverteilung herangezogen werden? Einen Kanon der geläufigsten Kriterien hat Chaim Perelmann zusammengestellt: „1. Jedem das Gleiche, 2. Jedem gemäß seinen Verdiensten, 3. Jedem gemäß seinen Werken, 4. Jedem gemäß seinen Bedürfnissen, 5. Jedem gemäß seinem Rang, 6. Jedem gemäß dem ihm durch Gesetz Zugeteilten.“228 Für die aktuelle Diskussion fasst Claus-Wilhelm Canaris die Kriterien als Postulate der Leistungs-, Bedarfs-, Chancen-, Besitzstands- und Verfahrensgerechtigkeit229 zusammen. Ähnliche Kriterien finden sich mit den Prinzipien des Bedarfs, der Verantwortung, der Leistung, des Verdienstes und der Risikoverursachung bei John Finnis. Die Unterschiedlichkeit der in diesen drei Ansätzen genannten Kriterien, aber auch ihre Überlappungen230 werfen drei für unsere Untersuchung zentrale Fragen auf: (A) die Frage nach dem Ursprung materieller Kriterien, (b) die Frage nach ihrem Standort innerhalb des Mediationsverfahrens und c) die Frage nach ihrer Priorität. aa) Die Quelle materieller Kriterien im Mediationsverfahren Wenden wir uns der ersten Frage nach dem Ursprung distributiver Wertungskriterien zu, so wird deutlich, dass diese sich regelmäßig nicht aus der iustitia commutativa ergeben, sondern autonomen Ursprungs sind.231 Canaris hat anhand des aristotelischen Flötenbeispiels überzeugend nachgewiesen, dass sich die materiellen Verteilungskriterien aus der Natur der Sache und aus teleologischen Erwägungen, vor allem dem Zweck der Verteilung, ergeben.232 So ist es im Flötenbeispiel aufgrund des Zwecks der Verteilung, nämlich ein mög-
227 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131a. Zum Bgeriff der αξια näher Manthe, ZRG Rom. Abt. 114 (1997), 1 ff. 228 Perelman, Gerechtigkeit (1995), S. 16. 229 Beim Kriterium der Verfahrensgerechtigkeit handelt es sich indes um ein prozedurales Kriterium. 230 V.a. bei den Interessen. 231 Eine Ausnahme bildet, wie etwa am Beispiel der Verhandlung des Arbeitslohnes deutlich wird, das Leistungsprinzip, das sich an den Grundsätzen der Leistungsäquivalenz orientiert. Auch hier zeigt sich, dass kommutative und distributive Wertungen oft ineinander übergehen. So auch Canaris, Iustitia distributiva (1997), S. 13 ff.; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 30. 232 Vgl. Canaris, Iustitia distributiva (1997), S. 18 ff.
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lichst gutes Flötenspiel zu gewährleisten, nur folgerichtig, die Instrumente entsprechend der Leistung der Flötisten zu verteilen. Da sich ein reicher Flötist ohne weiteres eine Flöte selbst beschaffen kann, ein armer Musiker dagegen auf eine Zuteilung angewiesen ist, geht die Bedarfsgerechtigkeit als Grundsatz der Wertverteilung zwanglos aus dem Prinzip „teleologischer Folgerichtigkeit“ hervor.233 Ähnlich verhält es sich mit dem Grundsatz der Chancengerechtigkeit: Chancengerechtigkeit – konkretisiert in der Möglichkeit, seine eigene Leistung unter Beweis zu stellen – ergibt sich dann zwingend aus der Tatsache, dass die Leistungsfähigkeit des Einzelnen, aufgrund derer die Verteilung entsprechend des individuellen Bedarfs erfolgt, weder von vornherein feststeht noch ohne weiteres erkennbar ist. Dass dies prozedural ein faires Verfahren und damit Verfahrensgerechtigkeit voraussetzt, ist aus teleologischen Gründen und Sacherwägungen deshalb geradezu zwingend. Diese Grundsätze der klassischen Gerechtigkeitstheorie lassen sich ohne weiteres auch auf das Mediationsverfahren übertragen: Geht es etwa in Vertragsverhandlungen um die Höhe des Gehaltes oder in einem arbeitsgerichtlichen Güteverfahren um die Höhe der Abfindung, so wird der Einigungsentscheidung der Parteien regelmäßig die erwartete oder erbrachte Leistung des Arbeitnehmers zugrunde gelegt werden. Im Rahmen einer Erbauseinandersetzung einer Erbengemeinschaft erscheint es sachgerecht, ein Segelboot eher dem Segelkundigen, einen Oldtimer eher demjenigen Erben zuzusprechen, der mit seiner eigenen Leistung an der Restaurierung wesentlich beteiligt gewesen ist, auch wenn die jeweils andere Partei ebenfalls an der Sache interessiert ist und es sich insoweit um eine kompetitive Verteilungssituation handelt. Die Kriterien der Leistung, der Eignung und der daher besonders legitimierten Interessen stellen nach dem Harvard-Modell der interessenbasierten Verhandlung objektive Kriterien (objective criteria) dar, die eine kompetitive Wertallokation zu rechtfertigen vermögen. Neben seiner Funktion als differenzierendes Kriterium bei Wertverteilungsentscheidungen ist das Leistungsprinzip aber auch in wertschöpfenden Verhandlungssituationen vor dem Hintergrund der Realisierung pareto-optimaler Synergieeffekte relevant. Unterschiede in der individuellen Leistungsfähigkeit bergen regelmäßig ein erhebliches Wortschöpfungspotenzial, das vor allem im Rahmen von joint ventures zum Tragen kommt. So kann eine optimale Nutzung der vorhandenen Ressourcen an Leistungsfähigkeit, Know-how und Erfahrung dadurch realisiert werden, dass bestimmte Aufgaben im Wege der Arbeitsteilung durch die Partei übernommen werden, die hierfür am besten geeignet ist.234 Oft ist es beispielsweise sinnvoll, dass die Partei mit Zugang zu den geringsten Finanzierungskosten die Finanzierung übernimmt oder bestimmte Leistungen von derjenigen Partei übernommen werden, die solche 233 234
Zum Begriff Canaris, Iustitia distributiva (1997), S. 19 f. So auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 57.
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Leistungen im Rahmen ihres eigenen Portfolios selbst erbringen kann. Auch der für das verhandlungstheoretische Schrifttum klassische Orangenfall lässt Raum für die Anwendung des Leistungsprinzips: So erscheint unter Leistungsgesichtspunkten vor allem eine Verteilung als sachgerecht, die sich an den beiden Parteien verfügbaren Ressourcen – Erfahrung und Leistungsfähigkeit – orientiert. Zugleich zeigt das klassische Beispiel anschaulich, dass unterschiedliche distributive Verteilungskriterien – wie etwa die Grundsätze der Leistungs- und der Bedarfsgerechtigkeit – im Kontext wertschöpfender Verhandlungssituationen oft untrennbar miteinander verknüpft sind. So verfügen die Parteien im Orangenfall235 sowohl hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit als auch ihrer Interessen über jeweils gleichgerichtete individuelle Präferenzen. Wer aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen auf das Erbringen einer bestimmten Leistung spezialisiert ist und insoweit über eine spezifische Leistungsfähigkeit verfügt, wird häufig auch ein Interesse daran haben, bestimmte Aufgaben zu übernehmen oder Zugang zu den für seine Leistung erforderlichen Rohstoffen zu erhalten. Neben dieses primäre, d.h. in der Partei selbst begründete und von der konkreten Verhandlungssituation abgekoppelte Interesse an der Verteilung bestimmter Werte oder Aufgaben tritt ein sekundäres, aus der Verhandlungssituation erwachsendes Interesse an einer bestimmen Wert- oder Aufgabenverteilung, das durch das Bedürfnis nach möglichst effektiver, pareto-optimaler Beilegung des Konfliktes motiviert wird. Zugleich stellt der Grundsatz der Bedarfsgerechtigkeit ein eigenständiges Verteilungskriterium dar, das gerade im Mediationsverfahren von zentraler Bedeutung ist: Die Beilegung des Konfliktes auf der Grundlage der Parteiinteressen ist konstitutiver, wesensmäßiger Bestandteil des Mediationsverfahrens. Möglich wird dies, wie wir im Rahmen der Strukturanalyse des Mediationsverfahrens236 bereits gesehen haben, indes allein durch eine Verfahrensgestaltung, die an den Grundsätzen der Chancen- und damit der Verfahrensgerechtigkeit ausgerichtet ist und beiden Parteien gleichermaßen die Möglichkeit zur Mitwirkung an der Einigungsentscheidung einräumt. Neben den Kriterien der Leistungs-, Bedarfs-, Chancen- und Verfahrensgerechtigkeit werden im Mediationsverfahren auch häufig unterschiedliche Verantwortlichkeiten hinsichtlich der Verursachung bestimmter Risiken oder die vom materiellem Recht vorgesehene Zuordnung als Maßstab für die Wertverteilung herangezogen. Aus unseren Überlegungen ergeben sich zwei wesentliche Schlussfolgerungen, die zum einen den konkreten Bereich des Mediationsverfahrens betreffen, 235
Zum klassischen Orangenbeispiel vgl. Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 57. Hierzu instruktiv auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 5; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff. 236 Vgl. oben S. 122 ff.
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zum anderen die allgemeine rechtsphilosophische Diskussion um materielle Verteilungskriterien zum Gegenstand haben. Im Hinblick auf das Mediationsverfahren ist festzuhalten, dass die von den Parteien ihrer Einigungsentscheidung zugrunde gelegten materiellen Verteilungskriterien nicht beliebig sind, sondern organisch aus dem Zweck der angestrebten Vereinbarung sowie aus der Natur des Konfliktgegenstandes erwachsen. Im Hinblick auf die allgemeine Diskussion der iustitia distributiva und die Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus konnte nicht nur auf der Grundlage theoretischer Überlegungen wie dem aristotelischen Flötenbeispiel, sondern vor allem aufgrund der realen Mediationspraxis gezeigt werden, dass es sich bei dem Begriff der Gerechtigkeit gerade nicht, wie von strengen Rechtspositivisten wie etwa Kelsen vertreten wird, um eine Leerformel, einen Begriff ohne Inhalt handelt, sondern dass für die Verteilung von Werten im Mediationsverfahren, wie auch schon Canaris für das Privatrecht überzeugend gezeigt hat,237 rational gut begründete und plausible Kriterien zur Verfügung stehen, die von der Rechtspraxis mit Selbstverständlichkeit angewendet werden.238 bb) Der Standort materieller Kriterien im Mediationsverfahren Im Hinblick auf den Standort materieller Kriterien im Mediationsverfahren ist zwischen der Ebene der Wertschöpfung und der Ebene der Wertverteilung zu differenzieren. Auf der Wertschöpfungsebene bemühen sich die Parteien zunächst im Wege der Kooperation um eine möglichst umfassende Vergrößerung des zu verteilenden „Wertkuchens“ („enlarge the pie“). Dabei kommen vor allem Kriterien der iustitia distributiva wie die Grundsätze der Bedarfs- oder Leistungsgerechtigkeit zum Tragen.239 Dies mag auf den ersten Blick verwundern, weil es sich hierbei um klassische Verteilungskriterien handelt, die offensichtlich keinen Beitrag zur Wertschöpfung zu leisten vermögen. Tatsächlich hat die verhandlungstheoretische Forschung jedoch nachgewiesen, dass durch eine entsprechende Verteilung erhebliche Kooperationsgewinne erzielt und damit das im konkreten Fall mögliche Pareto-Optimum ausgeschöpft werden kann. So können sich die Parteien Unterschiede in den jeweiligen Interessen, Fähigkeiten, Ressourcen, Kosten oder den individuellen Zeit- oder Risikopräferenzen zunutze machen, um sog. tradeoffs und Synergieeffekte zu realisieren. Die Interessen der Parteien und damit der Grundsatz der Bedarfsgerechtigkeit Nach dem Harvard-Modell interessenbasierter Verhandlung bilden auf der Wertverteilungsebene objektive Kriterien und damit das Kriterium objektiver 237
Canaris, Iustitia distributiva (1997), S. 21 ff. So auch Canaris, Iustitia distributiva (1997), S. 18 ff., 22. 239 Für kommutative Gerechtigkeitskriterien verbleibt im Rahmen der wertschöpfenden Verhandlung kaum Raum, da Leistungsäquivalenz aus spieltheoretischer Perspektive ein Nullsummenspiel voraussetzt, das keine wertschöpfenden Kooperationsgewinne ermöglicht. 238
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Leistungsäquivalenz im Sinne der iustitia commutativa das maßgebende Kriterium. Daneben kommen jedoch auch im Kontext der Wertverteilung Kriterien distributiver Gerechtigkeit, wie die Grundsätze der Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit, zur Anwendung. So wird in arbeitsgerichtlichen Güteverfahren die Leistung des Arbeitnehmers, in erbrechtlichen Auseinandersetzungen das durch Eignung zur Nutzung besonders berechtigte Interesse einer Partei an einem bestimmten Gegenstand aus der Erbmasse bei der Wertverteilung zu berücksichtigen sein. Darüber hinaus spielt der Bedarf etwa dann eine Rolle, wenn im Rahmen der Verhandlung eines langfristigen Gewerbemietvertrages die Höhe des zu zahlenden Mietzinses vor dem Hintergrund des erwarteten Gewinns des Mieters und seines Bedarfs an zu leistenden Aufwendungen festgesetzt wird, weil auch der Vermieter kein Interesse daran haben kann, seinen Mieter durch überzogene Mietzinsforderungen in die Insolvenz zu treiben. Er wird sich daher im Hinblick auf den zu verhandelnden Mietzins innerhalb eines bestimmten Einigungsbereiches an der finanziellen Leistungsfähigkeit seines Verhandlungspartners orientieren. Allerdings ist eine trennscharfe Differenzierung zwischen einem wertschöpfenden und einem wertverteilenden Einsatz distributiver Kriterien nicht immer möglich, weil einer bestimmten Verteilungsstruktur, wie wir gesehen haben, auch wertschöpfende Wirkung zukommen kann.240 cc) Die Priorität materieller Kriterien im Mediationsverfahren Angesichts der Fülle möglicher materieller Verteilungskriterien erhebt sich indes die Frage nach der Rangordnung der einzelnen Kriterien und damit nach der Lösung des unausweichlichen Kollisionsproblems. Die Frage ist umso dringlicher, als die möglichen Bewertungsmaßstäbe nicht immer zwangsläufig zu gleichen Ergebnissen führen, sondern zum Teil in deutlicher Antinomie zueinander stehen.241 So kann etwa das Gebot der Leistungsgerechtigkeit in Widerspruch zur Bedarfsgerechtigkeit oder zu einer Verteilung aufgrund unterschiedlicher Risikoverursachungsbeiträge treten. Aber nach welchen Metakriterien sind die miteinander konfligierenden distributiven Maßstäbe im Mediationsverfahren auszuwählen? Soll jede Partei das Gleiche erhalten oder vielmehr entsprechend ihrer Leistung oder Leistungsfähigkeit bedacht werden? Ist eine Verteilung der vorhandenen Werte entsprechend des individuellen Be-
240
Ein ähnliches Abgrenzungsproblem ergibt sich im Privatrecht für die Differenzierung zwischen kommutativen und distributiven Gerechtigkeitskriterien. So stellt Canaris, Iustitia distributiva (1997), S. 14 fest, „daß die Abgrenzung zwischen iustitia distributiva und iustitia commutativa schwierig ist und beide Gerechtigkeitsformen nicht selten miteinander verbunden, ja bis zur Untrennbarkeit ineinander verschlungen sind.“ 241 Ähnlich auch Engisch, Gerechtigkeit (1971), S. 163; Canaris, Iustitia distributiva (1997), S. 22 f.
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darfs sinnvoll oder sind ausschließlich oder ergänzend die jeweiligen Risikosphären und individuellen Verursacherbeiträge zu berücksichtigen? Oder ist stattdessen die Rechtslage entscheidend? Die Annäherung an eine Lösung des Kollisionsproblems kann auf der Grundlage praktischer und inhaltlicher Metakriterien erfolgen. Praktische Metakriterien bilden einen Entscheidungsmaßstab, der sich aus dem Zweck der angestrebten Vereinbarung und der Natur des Konfliktes selbst ergibt. Die Priorität möglicher Verteilungskriterien wird damit bereits durch ihre Genese determiniert. So folgt im Rahmen arbeitsrechtlicher Konflikte die Relevanz des Leistungsprinzips bereits aus der Natur des Konfliktgegenstandes.242 Umgekehrt werden in zahlreichen Konflikten bestimmte Kriterien wie die Risikoverursachung oder auch das Leistungsprinzip bereits aus Sachgründen ausscheiden, weil der Konfliktgegenstand für eine sinnvolle Anwendung dieser Kriterien im konkreten Fall keinen Raum lässt. Allerdings erweisen sich praktische Kriterien in zweifacher Hinsicht als defizitär. Zwar können sie im Einzelfall die Vielzahl möglicher Entscheidungsmaßstäbe auf das im konkreten Fall tatsächliche relevante Minimum reduzieren. Sie vermögen indes ein verbleibendes Kollisionsproblem nicht zu lösen, wenn – wie es im Rahmen der Mediation häufig der Fall ist – mehrere sich gegenseitig ausschließende Verteilungsmaßstäbe miteinander oder mit den Interessen der Parteien konkurrieren. Darüber hinaus bedürfen materielle Kriterien, um ein bestimmtes Ergebnis legitimieren und eine nachhaltige Beilegung des Konflikts gewährleisten zu können, einer inhaltlichen Rechtfertigung, die nicht allein aus der Natur der Sache oder dem Zweck des Mediationsvergleiches hergeleitet werden kann. (1) Der konflikttheoretische Ansatz Es sind daher inhaltliche Metakriterien zur Lösung des Kollisionsproblems zwischen konfligierenden Bewertungsmaßstäben zu entwickeln. Da das Mediationsverfahren regelmäßig auf die Beendigung eines zwischen den Parteien ausgetragenen Konfliktes gerichtet ist, stellt die Analyse der Konfliktursachen und seiner Genese einen geeigneten Ausgangspunkt dar. Wie wir im Rahmen unserer Analyse des Gerichtsverfahrens gesehen haben, bilden Interessengegensätze, d.h. Gegensätze zwischen den tatsächlichen Bedürfnissen, Erwartungen und Wünschen der Parteien, den eigentlichen, wenngleich zunächst unsichtbaren Motor jedes Konfliktes. Es sind damit letztlich die Interessen der Parteien, nicht ihre Rechtspositionen, um die es im Streitfall geht und die den eigentlichen Konfliktgegenstand bilden. Erst wenn ein Ausgleich der gegenseitigen Parteiinteressen herbeigeführt wird, ist eine nachhaltige Beilegung des Streites möglich. Dieser Interessenkonflikt wird in einem Prozess komplexi242
Dies betrifft sowohl Fragen der Kündigung als auch der Vergütung, da es in beiden Fällen um die Bewertung der Leistung des Arbeitnehmers geht.
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tätsreduzierender Verrechtlichung in einen durch das Gerichtsverfahren verarbeitbaren Gesetzeskonflikt als Metakonflikt transformiert, wodurch eine interessenorientierte Streitbeilegung erheblich erschwert wird. Die zentrale Bedeutung der Interessen für die Konfliktbeilegung im Mediationsverfahren erklärt sich dabei aus ihrer Rolle in der Entstehung und Entwicklung von Konflikten. Die Mediation ist als Verfahren daher darauf ausgerichtet, diese den ursprünglichen Konflikt und seine Ursachen verzerrende Transformation in einen Metakonflikt umzukehren, die gegenseitigen Interessen der Parteien herauszuarbeiten und einen möglichst pareto-optimalen Interessenausgleich herbeizuführen. Aus der Perspektive der Konfliktforschung und der Verhandlungstheorie kommt damit dem Kriterium der Parteiinteressen Vorrang vor konkurrierenden Verteilungskriterien zu. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für die Ebene der Wertschöpfung, sondern ist auch auf Wertverteilungsentscheidungen anwendbar. Kommt es zu einer Kollision gegensätzlicher Interessen, so gebührt den im Einzelfall aus sachlichen Erwägungen stärker legitimierten Interessen der Vorrang. Ist keine Entscheidung möglich, so ist auf kommutative Kriterien wie das objektive Äquivalenzprinzip zurückzugreifen, das auf der Ebene der Wertverteilung ohnehin von herausgehobener Bedeutung ist. Allerdings beruht auch der konflikttheoretische Ansatz auf einer weitgehend instrumentellen Sichtweise, die inhaltlich nicht vollständig zu überzeugen vermag. (2) Der rechtsphilosophische Ansatz Dass dem Grundsatz der Bedarfsgerechtigkeit auch aus rechtsphilosophischer Perspektive ein eigenständiger ontologischer Wert zukommt, hat indes John Finnis aufgezeigt. Für ihn ist der Bedarf (need) das primäre Kriterium distributiver Gerechtigkeit, wenn es um die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern geht, weil er einen wesentlichen Bestandteil des Allgemeinwohls darstellt (common good).243 Geltung hat dieser Ansatz jedoch auch über die unmittelbare Sicherung des lebensnotwendigen Grundbedarfs hinaus, weil die Wirtschaft insgesamt „als eine der großen Ordnungen des Lebens“244 und damit auch jeder im synallagmatischen Vertrag ausgehandelte Leistungsaustausch letztlich darauf gerichtet ist, den Bedarf des Menschen ökonomisch zu decken.245 Denn die Wirtschaftsordnung hat wie jede Ordnung, in der sich das Leben entfaltet, letztlich das Ziel, dem Einzelnen zur vollen Erfüllung und Ent-
243 Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 174: „In respect of the realization of basic human goods, up to a certain threshold level in each member of the community, the primary criterion is need. For here we are dealing with the fundamental component of the common good.“ 244 Koslowski, Die Ordnung der Wirtschaft (1994), S. 1. 245 Koslowski, Die Ordnung der Wirtschaft (1994), S. 1.
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faltung seiner Person und seiner individuellen und sozialen Anlagen zu verhelfen. Für die Wirtschaftsphilosophie hat Peter Koslowski diesen Zusammenhang anschaulich zusammengefasst: „Der Sinn, den die Individuen mit ihren subjektiven Willensentscheidungen und Handlungen verfolgen, muß an den objektiven Sinn der Lebensordnung, in der sie handeln, anschließen, und der Sinn und Zweck der jeweiligen Ordnung des Lebens muß wiederum seinen Ort in der teleologischen Struktur des menschlichen Lebens und der menschlichen Seele besitzen.“246 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist daher keinesfalls Selbstzweck, sondern steht nach seinem objektiven Sinn als Lebensordnung im Dienst der vollen Entfaltung des Einzelnen als Person. Es ist darauf gerichtet, den Bedarf des Einzelnen an den für seine Entfaltung notwendigen materiellen und immateriellen Gütern zu decken. Diesen Bedarf formulieren die Parteien im sozialen Austausch als Interessen. Schlägt der Leistungsaustausch fehl und wird so zur Quelle eines Interessenkonfliktes, so ist die Sozialgemeinschaft aufgerufen, diese Zweckverfehlung zu korrigieren und den Parteien im Rahmen des Möglichen zur Verwirklichung der von ihnen angestrebten Interessen zu verhelfen. Daraus ergibt sich materiell der Vorrang der Interessen im Kanon distributiver Verteilungskriterien. Prozedural muss das zur Korrektur fehlgeschlagener Austauschbeziehungen eingesetzte Verfahren daher denknotwendig ebenfalls in besonderer Weise auf den Ausgleich konfligierender Parteiinteressen ausgerichtet sein. Die für das Mediationsverfahren konstitutive Fokussierung auf die Interessen der Parteien folgt damit unmittelbar aus der Funktion der Mediation im Zusammenspiel der miteinander in Beziehung tretenden Ordnungen der Gesellschaft. Das Primat der Interessen als Kriterium distributiver Gerechtigkeit ist daher immanenter Bestandteil des Wesens des Mediationsverfahrens. In diesem Zusammenhang verdient der Mechanismus, der in der Mediation im Hinblick auf den Ausgleich von Interessenkonflikten zur Anwendung kommt, besondere Beachtung. Denn dieser Ausgleich kommt, wie wir bereits gesehen haben, durch eine Transformation der Parteibeziehung und die Ausrichtung der Parteien aufeinander hin zustande, indem ihnen eine neue, gemeinsame Perspektive ihrer jeweiligen Interessen und ihrer Beziehung zueinander vermittelt wird. Dieser intersubjektiven Ausrichtung der Parteien aufeinander hin, der Transformation der durch den Konflikt geschädigten Parteibeziehung, wodurch die jeweilige Haltung und Gesinnung der Parteien, wie Fuller plastisch formuliert, auf den jeweils anderen „umgeleitet“ wird,247 kommt nicht nur ein funktionaler Wert hinsichtlich ihrer Kapazität zur effizienten Konfliktlösung zu. In ihr liegt darüber hinaus auch über ein eigenstän-
246 247
Koslowski, Die Ordnung der Wirtschaft (1994), S. 1. Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971).
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diger, intrinsischer Wert, der in dem Prinzip der Kooperation als einer paradigmatisch neuen Konfliktkultur besteht, die dem kontradiktorischen, eskalationsanfälligen Zivilprozess in Struktur und Wirkung entgegengesetzt ist. Die besondere Leistungsfähigkeit der Mediation gegenüber dem Zivilprozess aus der Perspektive der Parteien besteht daher nicht nur in einem materiell interessengerechten Ergebnis, sondern ist darüber hinaus auch in der Tatsache begründet, dass die Parteien durch Kooperation wieder aufeinander hin ausrichtet und auf diese Weise überhaupt erst in die Lage versetzt werden, ihren Konflikt dauerhaft, nachhaltig und ursächlich beizulegen.248 Nicht nur das Ergebnis, sondern auch das Verfahren ist daher auf jenen Zweck gerichtet, der jeder sozialen Ordnung immanent zugrunde liegt: Den Einzelnen zur vollen Entfaltung seiner Person zu befähigen und ihm hierfür nicht nur zur Deckung des erforderlichen Bedarfs an materiellen und immateriellen Gütern zu verhelfen, sondern dies durch ein Verfahren zu verwirklichen, das die freie Entfaltung seiner Person in besonderer Weise fördert. Damit hat sich der Kreis wieder geschlossen. Das Primat der Interessen als distributives Kriterium in Wertschöpfungs- und Wertverteilungssituationen ergibt sich somit nicht nur materiell aus ihrer Rolle bei der Konfliktentstehung und -genese sowie ihrer teleologischen Bedeutung der Bedarfssicherung innerhalb des Systems der sozialen Lebensordnung, sondern darüber hinaus auch prozedural aus der Qualität der Mediation als einem auf dem Grundsatz der Intersubjektivität und der gegenseitigen Kooperation gegründeten „gerechten Verfahren“. Materielle Entscheidungsgrundlagen und prozedurale Entscheidungsstrukturen sind im Mediationsverfahren daher auf das Engste miteinander verknüpft. e) Das Verhältnis von iustitia commutativa und iustitia distributiva Deutlich wird die Wechselwirkung zwischen Ergebnis und Verfahren, wenn wir das Verhältnis von iustitia commutativa und iustitia distributiva näher betrachten. Hierfür wird ganz überwiegend angenommen, dass die Tauschgerechtigkeit „einen Akt der austeilenden Gerechtigkeit voraus[setzt], der den Beteiligten die Gleichberechtigung, die gleiche Verkehrsfähigkeit, den gleichen Status verliehen hat.“249 Dieser Grundsatz gilt auch und gerade im Privatrecht und damit für Vergleichsverhandlungen im Rahmen eines Mediationsverfahrens,
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Grundlegend Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971): „ … the central quality of mediation, namely, its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. Vgl. hierzu auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 22 ff., 128 ff. 249 Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe II (1993), S. 206, 258.
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da die Privatautonomie der Parteien nicht aus sich selbst heraus erwächst, sondern nur innerhalb eines gesetzlichen Rahmens staatlicher Freiheitsgewährung und Rechtsverwirklichung denkbar ist.250 Die Mediation vollzieht sich keineswegs in einem rechtsleeren Raum, sondern wird – im Schatten des Rechts – in vielfacher Hinsicht durch Rechtsnormen determiniert. Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit setzen gerade im Mediationsverfahren, in dem das Einigungsergebnis von den Parteien selbst bestimmt wird, tatsächliche Gleichheit im Hinblick auf die Partizipationschancen und damit tatsächliche Autonomie der Parteien voraus. Gewährleistet wird diese Autonomie im Wege distributiver Zuweisung: 1) Durch die Rechtsordnung, 2) die Struktur des Verfahrens und 3) durch die Institution des Mediators. Die Rechtsordnung stellt durch die Gewährleistung der Vertragsfreiheit im Rahmen der Regelungen zur Geschäftsfähigkeit der Parteien, der Wirksamkeitsvoraussetzungen von Verträgen, von Sanktionen bei Willensmängeln sowie durch Auslegungsregeln sicher, dass ein Mindestmaß an Vertragsparität hergestellt ist. Das Mediationsverfahren gewährleistet durch seine auf gleichberechtigte Mitwirkung der Parteien am Mediationsvergleich ausgerichtete Struktur, dass die Parteien die ihnen zukommende Autonomie auch tatsächlich ausüben können. Dem Mediator kommt schließlich die Rolle zu, Störungen der Vertragsparität zu erkennen und durch geeignete Maßnahmen auszugleichen. Iustitia commutativa und iustitia distributiva251 sind daher nur innerhalb des Rahmens tatsächlicher Gleichheit und damit gegenseitiger Autonomie möglich, die den Parteien vermittelt durch die Mediation als „gerechtem Verfahren“ und durch die objektive Rechtsordnung distributiv zugewiesen wird. 5. Billigkeit: Mediation als New Equity Mit den Grundsätzen der Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit stehen den Mediationsparteien klare Kriterien für ihre Einigungsentscheidung zur Verfügung. Sie beantworten aus der Perspektive der klassischen aristotelischen Gerechtigkeitstheorie die uralte Frage nach dem Inhalt der Gerechtigkeit, die im Gewand des fairen Ergebnisses, das von den Parteien als Ziel des Mediationsverfahrens angestrebt wird, im Zentrum der Mediation wie auch des Zivilprozesses steht. Im Mediationsverfahren schöpfen die Parteien privatautonom ihr eigenes, individuelles Parteivertragsrecht und schaffen so eine autonome, d.h. zunächst nicht an der objektiven Rechtsordnung orientierte normative Ordnung. Dass 250
So auch Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005), S. 39. Da die iustitia distributiva anders als im Zivilprozess in der Mediation nicht innerhalb eines Subordinationsverhältnisses, sondern stattdessen im gleichberechtigten Verhältnis Privater zueinander zur Anwendung kommt, bedarf sie in ihrer Ausprägung als Verteilungskriterium innerhalb des bilateralen Verhältnisses der Parteien wie die iustitia commutativa eines Aktes hoheitlicher Zuordnung von Rechten. 251
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dieses Normensystem tatsächlich nicht so autonom ist, wie es auf den ersten Blick scheint, haben wir im Gang unserer Untersuchung gesehen. Denn die Parteien agieren nicht nur im Schatten des Rechts. Die mögliche gerichtliche Entscheidung wirft nicht nur, wie Radbruch bereits 1918 inmitten der Wirren des Ersten Weltkrieges formulierte, „ihren Schatten auf den Vergleichsvorschlag voraus.“252 Indem sie ihrer Einigungsentscheidung Grundsätze kommutativer und distributiver Gerechtigkeit und damit überpositive Gerechtigkeitspostulate zugrunde legen, schöpfen die Parteien vielmehr „aus den Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent … sind“253 und die daher auch dem positiven Recht zugrunde liegen, „aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind.“254 Objektives Rechts- und subjektives Verhandlungssystem stehen damit grundsätzlich auf der gleichen normativen Grundlage überpositiver Postulate der Gerechtigkeit. Diese werden in der Mediation durch die Parteien auf den Einzelfall hin konkretisiert, im objektiven Rechtssystem vom Gesetzgeber auf die generelle Fallgruppe abstrahiert und im Zivilprozess im Wege der richterlichen Anwendung des abstrakten Falles auf den konkreten Einzelfall rekonstruiert. Die Quelle indes bleibt, wenngleich in unterschiedlicher Form, Dichte und Klarheit, dieselbe. a) Billigkeit im Zivilprozess und in der Mediation Im Zivilprozess erfolgt der Zugang zu dieser gemeinsamen Quelle überpositiver Gerechtigkeitspostulate nur mittelbar über Rechtsnormen, in denen die den Gesetzen zugrunde liegenden Wertgrundsätze zum Zweck ihrer generellen Anwendbarkeit abstrahiert sind. Die unvermeidbaren Härten des strengen Gesetzesrechts werden zur Gewährleistung von Einzelfallgerechtigkeit durch Billigkeitsrecht ausgeglichen, das durch die Einfallstore der Generalklauseln, Tatbestandsmerkmale und der richterlichen Gesetzesauslegung Eingang in das objektive Recht findet. Im Mediationsverfahren dagegen verfügen die Parteien über einen unmittelbaren Zugang zur Ebene überpositiver Wertnormen, weil diese nicht durch Rechtsnormen kodiert und damit nicht durch komplexitätsreduzierende Transformation verformt sind.255 Und weil das Mediationsverfahren dem Zivilprozess ergänzend und im Hinblick auf dessen oft unbefriedigende Ergebnisse korrigierend zur Seite gestellt ist, erfüllt es in den Rechts-
252 Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe I (1987), S. 430, 437. Der Text ist im Mai 1918 im Fayel-Wald an der lothringischen Front entstanden. 253 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebungen durch den Verfasser. 254 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 255 Vgl. hierzu oben S. 12 ff.
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systemen der Gegenwart jene Funktion, die seit jeher dem Billigkeitsrecht zukommt, ist es als „New Equity“256 das Billigkeitsverfahren, das „gerechte Verfahren“257 schlechthin. b) Das Verhältnis der Billigkeit zu Recht und Gerechtigkeit Wenn dem so ist, dann stellt sich indes die Frage, ob der Billigkeit neben der Austausch- und der Verteilungsgerechtigkeit innerhalb des Mediationsverfahrens eine eigenständige Bedeutung als Gerechtigkeitsmaßstab zukommt. Hierfür ist zunächst das Verhältnis der Billigkeit zu Recht und Gerechtigkeit zu klären. Wie wir gesehen haben, erfüllt die Billigkeit innerhalb des Systems des gesetzten Rechts eine korrigierende Funktion: Sie führt ein am Grundsatz der Einzelfallgerechtigkeit orientiertes Ergebnis herbei, wenn die vom Gesetz vorgesehene Rechtsfolge zu offensichtlich ungerechten und vom Gesetzgeber mit der Norm nicht intendierten Ergebnissen führt. Sie verhilft der Gerechtigkeit dort zum Durchbruch, wo das starre Gesetz aufgrund seiner Strenge versagt. Die Billigkeitsentscheidung stellt sich damit als eine an den Grundsätzen der Einzelfallgerechtigkeit orientierte Entscheidung dar, die eine Nichtanwendung der eigentlich eingreifenden gesetzlichen Regelung rechtfertigt, weil diese den mit ihr intendierten Zweck verfehlt und offensichtlich ungerechte Ergebnisse hervorbringt. Aristoteles sieht sie zutreffend als Bestandteil des Rechts. Billigkeit und Recht sind eines Wesens, denn tatsächlich dienen beide der Verwirklichung der Gerechtigkeit. Jedoch gebührt der Billigkeit im Verhältnis zum Recht der Vorrang, weil es dieses auf der Grundlage des hypothetischen Willens des Gesetzgebers korrigiert. Zusammengefasst können wir festhalten: Billigkeit und Recht sind Ordnungssysteme, die auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit hin ausgerichtet sind. Dabei kommt der Billigkeit Vorrang gegenüber dem Recht zu, weil sie über einen unmittelbareren, unverformten Zugang zur Gerechtigkeit verfügt und daher auch zur Korrektur des Rechts berufen ist. c) Billigkeit als Maßstab der Gerechtigkeit Im Mediationsverfahren wirkt die Billigkeit zunächst durch das Verfahren als Ganzes. Weil die Parteien in ihrer Einigungsentscheidung grundsätzlich nicht an die Normen des Gesetzesrechts gebunden sind, sondern den Mediationsvergleich auf der Grundlage der von ihnen gewählten Bewertungsmaßstäbe und der Umstände des konkreten Falles innerhalb der gesetzlich zulässigen Grenzen frei gestalten können, ist ein stark an den Grundsätzen der Einzelfallgerechtigkeit orientiertes Ergebnis möglich. Das, so Radbruch, „ist ja gerade der Vorzug des Güteverfahrens, dass in ihm, ungehemmt durch allgemeine
256 257
So Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329 (2005). Vgl. hierzu oben S. 179 ff.
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Rechtssätze, Billigkeit dem Einzelfall noch bis in seine letzte nur gefühlsmäßig erfassbare Einzigartigkeit nachgehen kann.“258 Denn „langsam, nur an einer großen Reihe von Einzelfällen, suchend und versuchend, kommen die Lebensnormen zum Selbstbewusstsein, um dann aber jede abweichende Entscheidungsnorm aus dem Felde zu schlagen.“259 Die Billigkeit wirkt dabei, wenn wir die zutreffende Beschreibung Radbruchs zugrunde legen, nicht deduktiv, sondern induktiv. Nicht, indem die Parteien abstrakte Gerechtigkeitssätze wie etwa den Grundsatz objektiver Äquivalenz oder die Maxime der Leistungs- oder Bedarfsgerechtigkeit anwenden, gelangen sie zu einem von beiden Seiten gleichermaßen als gerecht empfundenen Ergebnis, sondern am Einzelfall entlang tastend, „suchend und versuchend“260 und dabei nicht rational berechnend, sondern den Einigungsbereich „gefühlsmäßig“261 erfassend, nähern sie sich einem „billigen Ergebnis“ an. Oft wird die Einigung der Parteien nicht das Ergebnis rational exakt begründeter Überlegungen, sondern vielmehr Resultat eines komplexen Entscheidungsprozesses sein, in den eine Fülle unterschiedlicher Faktoren einfließt, die vom Einzelnen nicht mehr als Ganzes rational überschaut, sondern nur noch unbewusst gefühlsmäßig erfasst und so bewältigt werden können. d) Das Primat gegenseitiger Interessen als Billigkeitskriterium Was „der Billigkeit entspricht“ (§ 315 Abs. 3 S. 1 BGB) ist unter Abwägung der Interessen beider Parteien als Ergebnis einer umfassenden Analyse des konkreten Einzelfalles unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände und aller relevanten Konfliktdimensionen festzustellen. Das Maß an Komplexität, die sich aus dem Anspruch des Billigkeitsmaßstabes ergibt, den Umständen des konkreten Einzelfalles und den individuellen Interessen der Parteien umfassend gerecht zu werden, ist erheblich. Deutlich wird dies etwa im Rahmen der Bemühungen um eine Konkretisierung des Begriffes des „billigen Ermessens“ im Rahmen des Leistungsbestimmungsrechts nach § 315 Abs. 3 S. 1 BGB. Neben „Wie jede Generalklausel verlangt auch der Begriff des ‚billigen Ermessens‘ nach einer rechtstheoretischen Präzisierung. Mit dem Begriff der Billigkeit soll Austauschgerechtigkeit im Einzelfall erreicht werden. Das erfordert eine umfassende Analyse und Abwägung der Interessen beider Vertragsparteien unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände. Zu beachten sind etwa folgende Kriterien billigen Ermessens: Der Geschäftszweck, günstige bzw. ungünstige vertragliche Regelungen, Vorteile aus dem Vertrag, die Risikoverteilung zwischen den Vertragspartnern, die beiderseitigen Bedürfnisse der Vertragspartner, die Dauer des Rechtsverhältnisses, Art und Umfang der Gegenleistung, die Herstellungs- und 258
Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe I (1987), S. 430, 437. Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe I (1987), S. 430, 436 f. 260 Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe I (1987), S. 430, 437. 261 Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe I (1987), S. 430, 436. 259
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Gestehungskosten sowie der Verkaufspreis (Preiskalkulation), die aufgewendete Zeit und Mühe für die vertraglichen Verpflichtungen, außervertragliche Vor- und Nachteile, später eintretende Umstände, Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Parteien, wirtschaftliche Interessen oder Belastungen der Parteien, soziale Gesichtspunkte (Lebensverhältnisse, Familie, Kinder etc), persönliche Umstände (Lebensalter, Gesundheitszustand, Arbeitsfähigkeit, berufliche Stellung, gesellschaftliches Engagement uÄ), Verschulden, Arglist, Art und Ausmaß der Nachteile bzw. des Schadens (zB Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen), (soweit mit den Einzelinteressen vereinbar) Interessen der Allgemeinheit (zB volkswirtschaftliche Gesichtspunkte), Preise konkurrierender Anbieter, Verteuerung der Lebenshaltungskosten, Belange des Betriebs (im Arbeitsrecht). Bei der Verteilung von Wasser- und Abwasserkosten auf Mieter ist ein Schlüssel aus Wohnungsgröße und Belegungszahlen zu verwenden.“262
Damit ergibt sich auch aus der Perspektive des „Billigkeitsrechts“ das Primat der gegenseitigen Interessen und Bedürfnisse der Parteien als zentraler materieller Maßstab, an dem das Einigungsergebnis im Mediationsverfahren zu messen ist.263 Hinzu tritt der Grundsatz der Einzelfallgerechtigkeit, dem im Kontext der Mediation das Gebot entnommen werden kann, den Konfliktgegenstand in der Gesamtheit seiner verschiedenen Dimensionen und unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls in den Blick zu nehmen. Im Zivilprozess ist der korrigierende Ausgleich durch Instrumente konkretisierender Billigkeit unabdingbar, weil das abstrakt-generelle Gesetzesrecht aufgrund seiner systemimmanenten Schwächen, seiner Starrheit und Strenge der Konkretisierung und damit der Rekonstruktion der im Wege normgebender Abstrahierung verloren gegangenen Konfliktdimensionen bedarf, um den Besonderheiten des Einzelfalls tatsächlich gerecht zu werden. Im Mediationsverfahren verfügen die Parteien, wie wir gesehen haben, dagegen über einen unmittelbaren, durch Normen nicht verformten Zugriff auf den Konfliktstoff, so dass es eigentlich keines Rückgriffs auf das Billigkeitsprinzip bedarf, da dieses in der Mediation als Verfahren der Billigkeit selbst angelegt ist. Gleichwohl bedarf es auch hier einer methodischen Klarstellung: Ebenso, wie eine undifferenzierte Normanwendung an den Interessen der Parteien und den Besonderheiten des konkreten Einzelfalles vorbeigeht, so würde auch eine allzu schematische Anwendung kommutativer und distributiver Gerechtigkeitskriterien regelmäßig zu unausgewogenen, nicht interessengerechten Ergebnissen führen. Der Vorteil der Mediation besteht gerade in der Fähigkeit des Verfahrens zur Verarbeitung aller einigungsrelevanten Umstände des Konfliktgegenstandes. Dieser Vorteil würde verspielt, wenn die Strenge abstraktgenereller Normen im Wege abstrakter Gerechtigkeitskriterien Eingang in das 262
MünchKomm/Würdinger, BGB (7. Aufl. 2016), § 315 Rn. 31. Zur Bedeutung der Interessen in Verhandlung und Mediation eingehend oben S. 170 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff. 263
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Mediationsverfahren finden würde. Daher muss auch für das Mediationsverfahren gelten, was für die Rechtsanwendung im Rahmen des Zivilprozesses ohne weiteres anerkannt ist, dass sich jede schematische Anwendung – auch die materieller Verteilungskriterien – verbietet. Neben die Maßstäbe kommutativer und distributiver Gerechtigkeit tritt damit die Billigkeit und so ein mehr prozeduraler als materieller Grundsatz: Das Gebot der umfassenden Berücksichtigung sämtlicher Konfliktdimensionen und somit aller Umstände des konkreten Einzelfalls. e) Die Konkretisierbarkeit des Billigkeitsbegriffs Auf welcher Grundlage treffen die Parteien nach umfassender Abwägung aller konfliktrelevanten Umstände dann aber ihre Einigungsentscheidung? Die Rechtsphilosophie hat diese Frage mit dem Begriff des Rechtsgefühls, gleichsam als Synonym für den Kern der hier eigentlich angesprochenen Billigkeit, der aequitas, zu erklären versucht. Und auch die Rechtspraxis beschränkt sich auf den Grundsatz, dass die Entscheidung „auf Grund einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls“264 zu erfolgen hat, indem sie etwa im Rahmen des Leistungsbestimmungsrechts nach § 315 Abs. 3 S. 1 BGB im Anschluss an D. 50, 17, 22, 1265 auf das arbitrium boni viri266, das verobjektivierte Urteil eines „anständigen Menschen“ verweist. Das Wesen der Gerechtigkeit bleibt, so ist festzuhalten, aus rechtlicher Perspektive dem Zugriff begrifflicher rationaler Deduktion und den Bemühungen um eine trennscharfe Präzisierung weitgehend entzogen. Vor dem Hintergrund des Billigkeitsbegriffes bleibt es in seinem letzten Urgrund ein Geheimnis, dem sich der Einzelne zwar intellektuell anzunähern vermag, das aber in seinem Wesenskern wie von einem Schleier umhüllt bleibt, weil das Prinzip der Billigkeit gerade keine praktisch anwendbare Formel bietet. Der Begriff der Billigkeit löst das Unschärfeproblem nicht auf, er weist lediglich methodisch einen Weg, um auf der Grundlage zusätzlicher materieller Kriterien und unter Berücksichtigung des gesamten Konfliktstoffes zu einer umfassend interessengerechten Lösung des Konfliktes zu gelangen. Das bedeutet freilich nicht, dass die Inhalte materieller Gerechtigkeit dem Einzelnen in tatsächlicher Hinsicht nicht zugänglich wären. Wäre dies der Fall, so wäre dies in der Tat Anlass für unüberwindbaren Pessimismus, weil so die grundlegende Basis menschlichen Zusammenlebens und damit die wesentliche 264
BGHZ 171, 192 = NJW 2007, 3493, 3495. (Ulpianus 28 ad Sab.) „Generaliter probandum est, ubicumque in bonae fidei iudiciis confertur in arbitrium domini vel procuratoris eius condicio, pro boni viri arbitrio hoc habendum esse.“ Instruktiv zur Bestimmung des Kaufpreises nach billigem Ermessen im gemeinen Recht auch v. Glück, Pandecten Commentar (1814), S. 82. Hervorhebungen durch den Verfasser. 266 Vgl. Motive II, S. 192. 265
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Grundbedingung gesellschaftlicher Ordnung schlechthin fehlen würde. Eine auf Wertrelativismus gegründete Gesellschaft ist auf Dauer nicht lebensfähig, die Annahme eines ethischen Nihilismus, der von der Prämisse ausgeht, dass der Inhalt der Gerechtigkeit „inhaltsleer“ sei, ist mit der Lebenswirklichkeit nicht in Einklang zu bringen. Und tatsächlich ist jedes System des Rechts, insbesondere des Strafrechts, auf der Einsicht gegründet, dass das Recht in seinem wesentlichen Inhalt nicht als ein dem Einzelnen von außen aufgepfropftes Normsystem angesehen werden kann, sondern Ausdruck seines innersten Wesens ist, das in gleicher Weise wie das Recht auf Gerechtigkeit hin ausgerichtet ist. Der im 19. Jahrhundert ausgetragene Diskurs zwischen Romanisten und Germanisten hat in ebendieser Frage der Kongruenz von objektiver Rechtsordnung und den einer Gesellschaft tatsächlich immanenten Gerechtigkeitspostulaten seinen Ursprung.267 Die Frage, was gerecht und was explizit ungerecht ist, kann – freilich innerhalb der Grenzen eines an den Rändern unscharfen Einigungsbereiches – auf der Grundlage der auf praktische Vernunft gegründeten natürlichen Erkenntnisfähigkeit vermittelt durch das lumen rationale plausibel beantwortet werden. Diese Erkenntnisfähigkeit ist dem Einzelnen als natürliche Fähigkeit ohne größere Schwierigkeiten zugänglich. Sie muss es sogar sein, weil sonst schon die Kategorie des Rechts, erst Recht jene der Gerechtigkeit und des Unrechts obsolet wäre. Das Bedürfnis nach und die Entstehung der Billigkeitsrechtsprechung ist ohne die Existenz eines absoluten und damit allgemeinen Gerechtigkeitsmaßstabes nicht erklärbar.268 Damit ist freilich zugleich auch die Frage der Verdunkelung, der Abstumpfung und schließlich des – freilich behebbaren – Verlustes dieser Erkenntnisfähigkeit, des Gewissens, und damit die Antinomie zwischen erkannten Normen richtigen Handelns und den widerstreitenden Versuchungen egoistischer Nutzenmaximierung aufgeworfen.269 Als Zwischenergebnis bleibt daher festzuhalten, dass die Postulate materieller Gerechtigkeit in ihrem Ergebnis objektiv verifizierbar und innerhalb bestimmter Grenzen durch die Kriterien kommutativer und distributiver Gerechtigkeit auch konkretisierbar sind. Gleichwohl hat die Untersuchung des Billigkeitsbegriffes gezeigt,
267 Instruktiv hierzu v. Savigny, Beruf unsrer Zeit (1814), passim. Nachdruck: v. Savigny, in: Hattenhauer (Hrsg.), Thibaut und Savigny (2. Aufl. 2002), S. 61 ff. sowie Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967), S. 390 ff. 268 Vgl. nur die interdisziplinäre Gerechtigkeitsforschung, z.B. Ockenfels, Fairneß, Reziprozität und Eigennutz (1999), S. 37 ff., 131 ff. Bolton/Ockenfels, in: Plott/Smith (Hrsg.), Handbook of experimental economics results I (2008), S. 531; Ockenfels/Raub, KZfSS (Sonderheft 50) 2010, 119. Hierzu auch Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts (1991), S. 289. 269 Hierzu eingehend v. Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis (3. Aufl. 1982), S. 64 ff. Zur Bedeutung des Gewissens aus strafrechtlicher Perspektive vgl. nur Kölbel, FS Roxin (2011), S. 1913, 1914 ff.
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dass der Weg zu diesem Ergebnis sich einer rechtlichen Bestimmung weitgehend zu entziehen scheint. Die letztlich ausschlaggebenden Kriterien der Gerechtigkeit bleiben, weil sie eine simplifizierende Abstraktion in praktisch handhabbare Faustformeln transzendieren, wie durch einen Schleier verhüllt. Diesen Schleier des Nichtwissens vermag selbst das lumen rationale nicht zu durchdringen, weil dieser die Gerechtigkeit dem Zugriff argumentativer Relativierung entzieht und aus guten Gründen vor allem das Ergebnis, weniger die „Formel“, aus der sich das Ergebnis ergibt, erhellt. Dennoch bleibt die Frage nach Kriterien menschlichen Handelns, die den weitgehend unbestimmten Grundsatz der Billigkeit näher zu konkretisieren vermögen. 6. Die Goldene Regel (regula aurea) Für die Suche nach diesen Kriterien ist das Ziel näher einzugrenzen: Aufgeworfen ist die Frage nach einem allgemeingültigen Maßstab richtigen Handelns im Mediationsverfahren, der einprägsam, einfach und praktisch handhabbar ist. Es muss sich 1) um eine Norm als Sollenssatz handeln, die 2) allgemeingültig, 3) formal und 4) von einer empirischen Evidenz ist, die sie über Zeiten und Kulturen hinweg zur anerkannten Richtschnur sozialer Pflichten erhebt. Die Suche nach einem solchen Grundsatz hat die Rechtsphilosophie seit jeher beschäftigt. Sie war schon immer eine der zentralen Fragen des philosophischen Ringens um Deutung und Verständnis der menschlichen Existenz und der Ordnung, in der sie eingebettet ist und sich zu bewähren hat. Und sie ist es bis heute geblieben. Im Gang der mehr als zwei Jahrtausende währenden wissenschaftlichen Diskussion ist eine im Einzelnen kaum mehr überschaubare Vielzahl unterschiedlicher Ansätze entstanden – und teilweise wieder vom Tableau aktueller wissenschaftlichen Diskurses verschwunden –, von denen John Rawls Theory of Justice as Fairness270 einen der jüngeren Schlusspunkte markiert. Kaum eine der entwickelten Theorien hat sich auf Dauer halten, nur wenige die genannten Anforderungen an ein einfach handhabbares, allgemeinverbindliches Rechtsprinzip überhaupt erfüllen können. Die Ursache hierfür ist weniger inhaltlicher als methodischer Natur: Denn wenn es um einen allgemeinverbindlichen und universal gültigen Maßstab richtigen Handelns geht, so darf dieser, wenn er den Anspruch auf empirische Evidenz und praktische Handhabbarkeit erhebt, nicht dem Reißbrett des Theoretikers, sondern muss stattdessen unausweichlich der lebendigen Wirklichkeit des realen Lebens entstammen. Gefragt ist weniger kreativer Innovationsgeist als die sorgfältige Analyse des bereits Vorhandenen. Spendel hat diese Neigung der – modernen, weniger der klassischen – Philosophie, „die leicht versucht (ist), das Einfache und Klare für trivial und flach, das Verwickelte und Dunkle für bedeutend und tief zu
270
Rawls, Theory of Justice (1971); Rawls/Kelly, Justice as Fairness (2001).
300
§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
halten“271 treffend auf den Punkt gebracht. Wer sich so gerüstet auf die Suche begibt, wird unweigerlich zur regula aurea, zur Goldenen Regel geführt. a) Bedeutung für Mediation und Recht Tatsächlich tritt uns mit der Goldenen Regel ein Gerechtigkeitsprinzip gegenüber, das wie kaum ein anderer Grundsatz Rechtsdenken und Rechtskultur gleichermaßen nachhaltig geprägt hat und auch heute noch prägt. Es hat das abendländische Denken seit seinen Anfängen durch die Zeiten hindurch begleitet und spielt in der Rechtsphilosophie der Gegenwart nach wie vor eine bedeutende Rolle.272 Nach ihrer Rezeption durch die Klassiker wie Augustinus273, Anselm von Canterbury274, Bonaventura275 und Thomas von Aquin276, später Hobbes277, Kant278 und Kelsen279 hat sie in jüngster Zeit eine wahre Renaissance erlebt. In der Rechtsphilosophie haben sich vor allem Radbruch280,
271
Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 501. So ausdrücklich auch Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755, 755. Vgl. auch International Theological Commission, in: Mattison/Berkman (Hrsg.), Universal Ethic (2014), S. 25 ff. 273 Augustinus, De ordine, II, 25; Augustinus, De civitate Dei, XIV, 8. 274 Anselm von Canterbury, Liber de voluntate Dei, II. = PL 158, 582: „Dei autem institutio in duo dividi potest, in praecepta divinarum scripturarum, et in legem naturalem. Quaecumque homini insita est naturalis: quae est, qnod tibi ficri nolueris, alteri ne feceris. Cui quicumque obviat Dei voluntatem non servat.“ 275 Bonaventura, Commentarius in Evenagelium Lucae, VI, 76 = Bonaventura, in: Collegium a S. Bonaventura (Hrsg.), Opera omnia VII (1895), S. 1: „in hoc mandato [Lk. 6, 31] est consummatio legis naturalis cuius una pars negativa ponitur Tobiae quarto et implicatur hic: ‚Quod abalio oderis tibi fieri, vide ne tu aliquando alteri facias‘.“ 276 Thomas v. Aquin, Summa Theologica, IIa-IIae q. 77 a. 1 s.c.: „Sed contra est quod dicitur Matth. VII, omnia quaecumque vultis ut faciant vobis homines, et vos facite illis. Sed nullus vult sibi rem vendi carius quam valeat. Ergo nullus debet alteri vendere rem carius quam valeat.“ Übersetzung nach Thomas v. Aquin, Summa Theologica Bd. 18 (1953), S. 345: „Andererseits heißt es Mt. 7, 12: ‚Alles, wovon ihr wollt, daß es die Leute euch tun, das sollt auch ihr ihnen tun.‘ Keiner aber will, daß ihm eine Sache teurer verkauft wird, als sie wert ist. Also darf keiner dem anderen eine Sache teurer verkaufen, als sie wert ist.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 277 Hobbes, Leviathan, Kap. 14; Hobbes, Leviathan (1996), S. 109 278 Kritisch Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. 279 Kelsen, Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960), S. 367 f. 280 Radbruch, Rechtsphilosophie (3. Aufl. 1932), S. 70; Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe II (1993), S. 206, 303. 272
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Kaufmann281, Zippelius282, Reiner283, Spendel284 und Mayer-Maly285 mit der regula aurea auseinandergesetzt. Sie ist darüber hinaus in ähnlichen Fassungen in den verschiedensten Kulturen und zu den verschiedensten Zeiten bekannt, so dass von ihr mit Recht als einem universalen Prinzip gesprochen werden kann.286 Sie ist als „sittliche Grundformel der Menschheit“287, als „Grundregel jeder ‚wahren‘ Ordnung“288, als „einfaches und wahres Gesetz“289, als „Summe der vom Menschen erwarteten Verhaltensweisen“290, als „Naturgesetz“291, als „sittliche Grundnorm“292 und schließlich als „das elementare Gesetz allen Rechts schlechthin“293 bezeichnet worden. Für Locke ist die regula aurea „foundation of all social virtue“294 und Augustinus sieht in ihr eine Regel, die – scripta conscientia295 – in das Herz, in das Gewissen eingeschrieben ist. Eine besondere Rolle nimmt sie in der Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs ein, der in dem Grundsatz, dass „was dem einen Recht ist, was dem anderen billig sein müsse“ die „Idee der Gerechtigkeit“296 erblickt. Für Arthur Kaufmann zählt sie neben den Grundsätzen des suum cuique, dem kategorischen Imperativ, dem Fairnessprinzip, dem Prinzip
281
Kaufmann, Die ontologische Begründung des Rechts (1965), S. 79 f. Zippelius, Recht und Gerechtigkeit (2. Aufl. 1996), S. 45. 283 Reiner, ZphF 3 (1948), 74 ff. 284 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491 ff. 285 Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755 ff. 286 Vgl. hierzu eingehend Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 494 ff., der ihren Weg in der jüdisch-christlichen Tradition des Abendlandes sowie in China, im Islam, in Indien und bei den mexikanischen Indios nachzeichnet. 287 Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 74. 288 Maihofer, in: Kaufmann (Hrsg.), Begründung des Rechts (1965), S. 52, 78. 289 Didaskalia Apostolorum, I, 25 = Achelis/Flemming, Die syrische Didaskalia (1904), S. 2. 290 Heiligenthal, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 573, 573. 291 Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 454 mwN. 292 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 496. 293 Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. 294 Locke, An essay concerning human understanding, I, 3, 4 = Locke, An essay concerning human understanding (1996), S. 17. 295 Augustinus, Confessiones, I, 18: „Et certe non est interior litterarum scientia quam scripta conscientia, id se alteri facere quod nolit pati.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 296 Radbruch, Rechtsphilosophie (3. Aufl. 1932), S. 70; Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe II (1993), S. 206, 303. 282
302
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Verantwortung und dem Prinzip Toleranz gleich an zweiter Stelle zu den allgemeinen Rechtsprinzipien, den „Prinzipien der Gerechtigkeit“297. Und Spendel kommt in der bislang umfassendsten Untersuchung der regula aurea im jüngeren rechtsphilosophischen Schrifttum zu dem Schluss: „Zu den ehernen ungeschriebenen Rechtsprinzipien, nach denen sich alle staatliche Gesetzgebung wie alles persönliche Verhalten zu richten haben, gehört auch die wahrhaft Goldene Regel“298. Für das Mediationsverfahren ist die Goldene Regel als allgemeinverbindliches, universales Rechtsprinzip von besonderer Bedeutung. Denn da die Parteien in der Mediation das Normensystem der objektiven Rechtsordnung in seiner unmittelbaren Geltung weitgehend derogieren und durch die autonome Ordnung des Verhandlungssystems ersetzen, wird ihr Verhandlungsverhalten normativ nicht mehr unmittelbar vom gesetzten Recht, sondern von den der Rechtsordnung zugrunde liegenden überpositiven Gerechtigkeitspostulaten und Rechtsgrundsätzen bestimmt. Unter diesen nimmt die Goldene Regel, wie wir gesehen haben, eine herusragende Stellung ein. Entsprechend sieht auch das verhandlungstheoretische Schrifttum in der Goldenen Regel einen nützlichen und sogar universellen Maßstab für das Verhalten der Parteien in Konfliktsituationen: „To the extent that mediation ideology contains within it the value of respect for the other, or reciprocity, then one should consider the Golden Rule as a useful and, perhaps, almost universal, expression of how parties (and their lawyers) might deal with each other in dispute resolution settings.”299 Der Anspruch, den Parteien einen formalen, allgemeinverbindlichen Maßstab für ihr Verhalten im Mediationsverfahren an die Hand zu geben, der klar verständlich, einfach anwendbar und von empirischer Evidenz ist, bedarf indes der eingehenden Untersuchung. Denn zum einen muss unser Rechtsprinzip in der Auseinandersetzung mit der Kritik und konkurrierenden Maßstäben, wie etwa Kants kategorischem Imperativ, seine Fähigkeit unter Beweis stellen, dass sich aus ihm konkrete, praktisch anwendbare und plausible Verhaltensgebote ableiten lassen. Zum anderen ist seine Rolle innerhalb des Mediationsverfahrens und sein Bezug zu den von der Verhandlungstheorie entwickelten Grundsätzen des Mediationsverfahrens nach dem Harvard-Modell zu klären. Den aufgeworfenen Fragen wollen wir im Folgenden eingehend nachgehen: (1) Zunächst ist die regula aurea in ihrem Inhalt, ihrer geschichtlichen Genese und ihrer Deutung zu erfassen. (2) Sodann ist zu untersuchen, inwieweit die
297
Kaufmann, FS Maihofer (1988), S. 11, 38. Vgl. auch Kaufmann, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1997), S. 185 f. 298 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 516. 299 Menkel-Meadow, 28 Fordham Urb. L.J. 1073, 1085 (2001). Vgl. auch MenkelMeadow, 138 U. Pa. L. Rev. 761 (2009).
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Goldene Regel den eingangs definierten Zielkriterien einer formalen, allgemeingültigen, empirisch evidenten und praktisch anwendbaren Norm entspricht. (3) Daran anschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit der gegen unser Rechtsprinzip eingewandten Kritik insbesondere vor dem Hintergrund von Kants Konzept des kategorischen Imperativs. (4) Ferner ist mit Blick auf die regula caritatis ihr Inhalt zu konkretisieren, um (5) schließlich ihre Rolle im Mediationsverfahren zu bestimmen. b) Ursprünge und Rezeptionsgeschichte Die für die geistesgeschichtliche Rezeption zentrale Quelle der Goldenen Regel bilden die alt- und neutestamentlichen Texte der Heiligen Schrift: Das Buch Tobit sowie das Matthäus- und Lukasevangelium. Im Buch Tobit, das um 200 v. Chr. entstanden ist,300 begegnet uns der Text der regula aurea bereits in der heute gängigen Form: „Was du nicht willst, dass man dir tuʼ, das fügʼ auch keinem andern zu.“301 Die Vulgata, Ende des 4. Jahrhunderts entstanden und ab dem 9. Jahrhundert die für die gesamte westliche Welt maßgebende Übersetzung, übersetzt den hebräischen Text mit „Quod ab alio odis fieri tibi vide ne alteri tu aliquando facias“ und bildet damit die Grundlage der für das gemeine Recht zum sprichwörtlichen Allgemeingut gewordenen Textfassung, die auch der späteren philosophischen Diskussion im Wesentlichen zugrunde liegt: „Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris“302. Im Neuen Testament begegnet uns die Goldene Regel ausschließlich in ihrer positiven, hortativen Form als Teil der Bergpredigt Jesu und hier findet sie im Zusammenhang mit der regula caritatis ihre deutlichste Konkretisierung und Vollendung: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“303 Die Formel „Gesetz und die Propheten“ bezeichnet die beiden Säulen, auf denen der jüdische Glaube fußt. Sie bezieht sich damit auf die Gesamtheit der Normen menschlichen Verhaltens und verweist auf die Bedeutung, die der regula aurea als allgemeinem Rechtsprinzip zukommt.304 Sie ist ein universelles Prinzip, in dem alle übrigen Sollensvorschriften bereits enthalten sind. Alle weiteren, konkreten Maßstäbe an das Handeln der Parteien lassen sich aus ihr ableiten, und das ist gerade die
300
Mathys, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 570, 570. Vgl. auch Rabenau, Studien (1994), S. 175 Fn. 1 mwN. 301 Tob. 4, 15. Vgl. die im Wortlaut etwas abweichende Einheitsübersetzung: „Was dir selbst verhasst ist, das mute auch einem anderen nicht zu!“, (Hrsg.), Die Bibel (2009), S. 489. 302 Zur Textüberlieferung vgl. Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 104 mwN. 303 Mt. 7, 12. 304 Vgl. hierzu Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 74.
304
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Funktion, die ein allgemeines Kriterium menschlichen Handelns, das den weitgehend unbestimmten Billigkeitsbegriff näher zu konkretisieren bestimmt ist, erfüllen muss. Geschichtlich lassen sich die Spuren der Goldenen Regel bis in das 7. Jahrhundert v. Chr. zurückverfolgen. Sie wird nach der Überlieferung des Diogenes Laertios305 (1. Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr.) Thales von Milet (ca. 625 – 545 v. Chr.) und Pittakos von Lesbos306 (ca. 650 – 570 v. Chr.) zugeschrieben und findet sich – wenn man die stark abweichende Textfassung gelten lassen will – auch in der Odyssee.307 Die frühesten historisch gesicherten Stellen lassen sich indes erst für Herodot308 (484 – 424 v. Chr.) und Isokrates309 (436 – 338 v. Chr.) nachweisen. Seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. gehörte die Regel zum Gemeingut des antiken, zunächst griechischen, dann auch des lateinischen Schrifttums.310 Sie erscheint bei Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.)311, wird jedoch mit Ausnahme von D. 2, 2312 und D. 2, 2, 1 pr.313 weder vom römischen Recht noch von den meisten Glossatoren und Kommentatoren aufgegriffen, obwohl sie durchaus zum Sprichwortschatz im antiken Rom zählte.314 Ebenso wird sie von der klassischen griechischen Philosophie, etwa von Platon und Sokrates, kaum beachtet und selbst von Aristoteles315 nur gelegentlich erwähnt.316 Von größter Bedeutung wird sie dagegen in der frühchristlichen Literatur, in der die abendländische Rezeptionsgeschichte der Goldenen Regel und damit ihr prägender Einfluss auf die rechtsphilosophische Diskussion bis hin in die
305 Diogenes, Leben und Lehre der Philosophen (2. Aufl. 2010), S. 53 (Thales) = VS 11, A 1, 36. 306 Pittakos, VS 10 e, A 4. 307 Homer, Odysse, 14; Homer, Odyssee (1953), S. 67: „Sondern ich denke so und rede, wie ich mir selber Suchen würde zu raten, wär‘ ich in gleicher Bedrängnis!“ 308 Herodot, Historien, III, 143, 3. 309 Isokrates, Rede des Nikokles an die Zyprioten, 3,61. Vgl. hierzu Wirth/Gessel, Isokrates: Sämtliche Werke, Band 1 (1993), S. 42 („Tut anderen Menschen nicht an, worüber ihr empört wäret, wenn ihr es selbst erfahren müsstet.“). 310 Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755, 756 f.; Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 493 sowie Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 103 ff. 311 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, I, 47, 11; Seneca, Epistulae morales ad Lucilium (2007), S. 244 f. 312 „Quod statuerit, ut ipse eodem iure utatur.“ Hierauf hinweisend Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755, 756. 313 „Ulpianus 3 ad ed.: Hoc edictum summam habet aequitatem, et sine cuiusquam indignatione iusta: quis enim aspernabitur idem ius sibi dici, quod ipse aliis dixit vel dici effecit?” 314 So Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755, 756. 315 Aristoteles, Nikomachische Ethik 9, 9 (1170b). 316 Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 103, Philippidēs, Goldene Regel (1929), 42 f., 49 f.
IV. Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren
305
Neuzeit ihren Anfang nimmt. Patristik (Justin, Irenäus, Augustinus), Scholastik (Anselm von Canterbury, Bonaventura und Thomas von Aquin) und weitgehend auch die Naturrechtslehre (Thomasius, Hobbes) haben in der regula aurea eine grundlegende ethische Norm gesehen.317 Sie steht am Beginn des decretum gratiani und wird dort – und zwar in ihrer positiven wie negativen Form – als Inbegriff des Naturrechts definiert.318 Im Gegensatz zu dem pagan-griechischen sowie dem römischen Verständnis der regula aurea im Sinne reziproker Gegenseitigkeit des Verhaltens, das noch weitgehend dem Grundsatz der Talion verhaftet war, durchbricht das christliche Denken das antike Vergeltungsprinzip, indem es die Goldene Regel mit dem Liebesgebot, der regula caritatis, verbindet und so den Weg für eine vollkommen neue Ethik freimacht. Diese vom synallagmatischen Grundsatz des „do ut des“ befreite Sollensordnung findet auch in den Ordnungssystemen anderer Kulturen, die das Rechtsprinzip der regula aurea kennen, keine Parallele und ist damit geschichtlich einzigartig. Zweifel an der Fähigkeit der Regel, aus sich selbst heraus ohne zusätzliches ethisches Bezugssystem allgemeingültige Verhaltensmaßstäbe zu entwickeln, finden sich indes bei Pufendorf319 und vor allem bei Kant320. Nachdem das Interesse der Philosophie an der Goldenen Regel im 19. Jahrhundert im Nachgang der Kritik Kants deutlich abgeflaut war, zeichnet sich für das 20. Jahrhundert ein deutlicher Wandel ab: Nach der – wenngleich kritischen – Wortmeldung Kelsens321 hat die Goldene Regel etwa bei Zippelius322, Spendel323 und Mayer-Maly324, Hruschka325 und Singer326 starkes Interesse gefun-
317
Vgl. Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 76 f.; Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 106 ff.; Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755, 757 f. sowie die oben S. 236 f., in Fn. 273 ff. genannten Nachweise. 318 „Ius naturae est, quod in lege et euangelio continetur, quo quisque iubetur alii facere, quod sibi uult fieri, et prohibetur alii inferre, quod sibi nolit fieri.” Abgedruckt in Richter/Friedberg (Hrsg.), Decretum Magistri Gratiani (2000). Hervorhebungen durch den Verfasser. 319 v. Pufendorf, De jure naturae et gentium (1672), S. 181 (II., 3 § 13 a.E.). Englische Übersetzung bei v. Pufendorf/Oldfather/Oldfather, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 204 f. 320 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. Vgl. eingehend zur Kritik Kants unten S. 317 ff. 321 Kelsen, Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960), S. 367 f. 322 Zippelius, Recht und Gerechtigkeit (2. Aufl. 1996), S. 45. 323 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491 ff. 324 Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755 ff. 325 Hruschka, JZ 1987, 941; Hruschka, FS Kaufmann (1993), S. 129; Hruschka, JRE 2004, 157. 326 Singer, in: Borchert (Hrsg.), Encyclopedia of Philosophy, Bd. 4 (2. Aufl. 2006), S. 144 ff.
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den. Besondere Bedeutung kommt ihr in der Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs327 und Arthur Kaufmanns328 sowie im Zusammenhang mit der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG im verfassungsrechtlichen Schrifttum, etwa bei Scholz329, zu. Dihle330, Philippidēs331 und in jüngerer Zeit Reiner332 haben umfangreiche Arbeiten zur regula aurea vorgelegt und auch Fuller sieht in ihr einen zentralen Maßstab sozialer Ordnung.333 c) Inhalt, Struktur und Interpretation Die regula aurea ist, wie Scholz und Dürig in ihrer Kommentierung zu Art. 3 Abs. 1 GG formulieren, „eine Verhaltensnorm für das menschliche Miteinander von unmittelbarer Einsichtigkeit und großer Rationalität“334. Als „fundamental ethical truth“335 enthält sie den Grundsatz der praktischen Ethik, sich gegenüber dem Mitmenschen ebenso zu verhalten, wie wir es von ihm uns gegenüber erwarten.336 Sie tritt uns in einer positiv-hortativen und einer negativprohibitiven Form gegenüber: Während das alttestamentliche liber tobiae die negative Form überliefert („Was du nicht willst, dass man dir tuʼ, das fügʼ auch keinem andern zu“), so findet sich in den beiden Evangelientexten ausschließlich die positive Form: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.“337 Die regula aurea enthält einen universellen ethischen Maßstab für das Verhalten der Menschen zueinander. Sie formuliert keine konkreten Anweisungen, sondern bildet einen Beurteilungsmaßstab, anhand dessen das Verhalten des Einzelnen gegenüber seinen Mitmenschen in einer konkreten Situation zu bewerten ist. Sie wird in der Konfrontation des Einzelnen mit konkreten Verhaltensanforderungen jeweils thematisch aktualisiert. Die auf den ersten Blick – vor allem im Vergleich zum kategorischen Imperativ und zur komplexen Prozedur der Rawls‘schen Theory of Justice – verblüffende Einfachheit der 327 Radbruch, Rechtsphilosophie (3. Aufl. 1932), S. 70; Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe II (1993), S. 206, 303. 328 Kaufmann, FS Maihofer (1988), S. 11, 38. Vgl. auch Kaufmann, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1997), S. 185 f. 329 Maunz/Dürig/Scholz, GG (71. EL. 2014), Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 160 f. 330 Dihle, Die goldene Regel (1962), passim. 331 Philippidēs, Goldene Regel (1929); Philippidēs, Forschungsberichte (1933). 332 Reiner, ZphF 3 (1948), 74 ff. 333 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 361 (1971): „Finally, it may be well to point out that the principle of reciprocity is implicit in the ‚golden rule.‘“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 334 Maunz/Dürig/Dürig/Scholz, GG (74. EL. 2015), Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 160 f. 335 Singer, in: Borchert (Hrsg.), Encyclopedia of Philosophy, Bd. 4 (2. Aufl. 2006), S. 144, 145. 336 Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 450. 337 Mt. 7, 12; Lk. 6, 31.
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Formel bildet zugleich ihre Stärke: Indem sie auf konkrete Handlungsanweisungen verzichtet, ermöglicht sie durch ihre Universalität den Einsatz als einfaches und praktikables Instrument zur Beurteilung richtigen Verhaltens in einer konkreten Sitution. In ihrer (a) Wirkung ist sie 1. auf gegenseitige Gewährleistung der Lebensbedingungen (Daseinserhaltung), 2. auf die Ausrichtung der Beteiligten aufeinander hin sowie 3. auf die Überwindung des reziproken Vergeltungsdenkens des „do ut des“ gerichtet. In ihrem (b) Wesen setzt sie darüber hinaus die Gleichheit der Personen voraus. Zum (c) Maßstab nimmt sie unter Mobilisierung des tief verwurzelten Egoismus des Einzelnen die Interessen des anderen, um so die negativen Konsequenzen ungezügelter Eigenliebe zu überwinden. Und sie erreicht dies durch das Gedankenexperiment eines (d) Rollentauschs, der den Parteien dazu verhilft, eine gemeinsame Perspektive ihrer Beziehung zueinander zu entwickeln, die wiederum ihre Einstellung zueinander verändert. Bereits diese erste Analyse der Wirkung, der Voraussetzungen, des Inhalts und der Methode, des inneren Mechanismus der Goldenen Regel zeigt ihre strukturelle Nähe zu einem Verfahren der Streitbeilegung, dessen Wesen von Fuller, wie wir bereits gesehen haben, in ähnlicher Weise beschrieben worden ist: „ … The central quality … (is), namely, its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.“ Es handelt sich um die Mediation. Dieser erste Befund legt den Schluss nahe, dass wir in unserer Suche nach den der Einigungsentscheidung der Parteien in der Mediation zugrunde liegenden materiellen Kriterien einen wesentlichen Schritt vorangeschritten sind. Die Suche nach diesen Kriterien ist für unsere Untersuchung von größter Bedeutung: Gelingt es, diese Kriterien zu ermitteln, so wäre damit zugleich der Standort des Mediationsverfahrens im Verhältnis zum Zivilprozess innerhalb des Systems der Rechtsordnung und der rechtsphilosophischen Tradition bestimmt. Darüber hinaus würde das gegenwärtige, in der Verhandlungstheorie diskutierte Verständnis von Verhandlung und Mediation nach dem HarvardModell vor dem Hintergrund der klassischen Gerechtigkeitstheorie rechtsphilosophisch begründet und so auch in die Linie der von Epoche zu Epoche variierenden Ausprägungen der Billigkeit in ihrem Dualismus zum Recht integriert werden. Um unseren ersten Befund zu überprüfen, wollen wir im Folgenden Wirkung, Inhalt und Struktur der Goldenen Regel näher in den Blick nehmen.
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aa) Wirkung: Gegenseitige Daseinserhaltung, Intersubjektivität, Überwindung reziproken Denkens Gegenseitige Daseinserhaltung. Die regula aurea verlangt vom Einzelnen ein bestimmtes Verhalten anderen gegenüber, weil er selbst ebendieses Verhalten von anderen erwartet, um zur vollen Entfaltung seiner Person und seiner individuellen und sozialen Anlagen zu gelangen. In ihrer Wirkung ist sie damit auf Daseinserhaltung, d.h. auf die Ermöglichung der Grundbedingungen sozialen Lebens und damit letztlich die volle Entfaltung der Persönlichkeit gerichtet. Dem Einzelnen wird ein Verhalten auferlegt, das den essentialen Interessen des Gegenübers entspricht, die an den eigenen Bedürfnissen, am eigenen Fühlen und Verstehen zu messen sind.338 Im Kern geht es um die gegenseitige Anerkennung des Rechts auf Dasein und auf die Erhaltung und Förderung der hierfür notwendigen Grundbedingungen.339 Von einem solchen Verständnis ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zur Anerkennung eines Systems gegenseitiger Freiheits- und Interessensphären. Konsequenterweise hat auch das verfassungsrechtliche Schrifttum auf die Goldene Regel im Zusammenhang mit der Diskussion der Rechte anderer als Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG Bezug genommen. So leiten etwa Scholz und Dürig aus der regula aurea als grundlegendem Rechtsprinzip ein ganzes Bezugssystem der Sozialpflichtigkeit der Bürger untereinander ab: Das Gewaltverbot, den Grundsatz pacta sunt servanda, Toleranz, Einsicht der Interessen anderer, Einsicht in die Notwendigkeit ihres Ausgleichs durch die Rechtsordnung, Anerkennung und Befolgung von offenen und fairen Verfahren und Dialog.340 In der Tat lässt sich aus der regula aurea eine Vielzahl an Verhaltensnormen, so etwa die Grundrechte des Grundrechtsteils des GG, ableiten. Aber auch für die Verfahrensgestaltung, Verfahrensleitung und das Verhandlungsverhalten der Parteien im Mediationsverfahren ergeben sich aus der Goldenen Regel überraschend klare und ein-
338 339
Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 110. Mathys, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 570,
582. 340
Maunz/Dürig/Dürig/Scholz, GG (74. EL. 2015), Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 161.
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sichtige Verhaltensgrundsätze: Die in den Verfahrensordnungen der Mediationsverbände341 und im europäischen Verhaltenskodex für Mediatoren342 kodifizierten Grundsätze – wie etwa Unabhängigkeit, Objektivität und Neutralität des Mediators, Vertraulichkeit des Verfahrens343, die informierte, privatautonome Mitwirkung der Parteien am Einigungsergebnis sowie darüber hinaus der Verzicht auf aggressive Taktiken wie bewusste Täuschung des Verhandlungspartners, gezielten Einigungsdruck, Drohungen oder auch das Ausnutzen der Unerfahrenheit, strukturellen Schwäche oder eines Informationsdefizits des Verhandlungspartners – ergeben sich mühelos aus dem Eigeninteresse des Einzelnen, in einem fairen Verfahren aktiv an einer Einigungsentscheidung mitzuwirken und vor Schädigungen durch seinen Verhandlungspartner verschont zu bleiben. Intersubjektivität. Indem sie den Einzelnen dazu einlädt, eine konkrete Situation mit den Augen und aus der Perspektive des anderen zu betrachten344 und sich zu fragen, „Würde ich selbst so behandelt werden wollen, wie ich andere in dieser konkreten Situation behandele?“,345 bewirkt die regula aurea das, was Fuller, wie wir bereits gesehen haben, als das Wesen des Mediationsverfahrens bezeichnet hat: „ … Its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.”346 Die Goldene Regel bewirkt eine intersubjektive Ausrichtung der Parteien aufeinander hin, die über eine veränderte Wahrnehmung des anderen und seiner Interessen idealiter zu einem veränderten Verhalten der Beteiligten zueinander führt. Die daraus erwachsenden positiven Wirkungen für die Beziehung der Beteiligten und das Gefüge der Sozialgemeinschaft als Ganzes sind erheblich. Es sind dieselben Wirkungen, die auch dem Mediationsverfahren zugeschrieben werden, und es ist ebendiese Ähnlichkeit in Struktur und Wirkung, die eine enge wesensmäßige Verbindung von Mediation und Goldener Regel vermuten lassen. 341 Vgl. nur die Mediationsordnung (Verfahrensordnung Mediation) des Bundesverbandes Mediation in Wirtschaft und Arbeitswelt e.V. (BMWA), http://www.bmwa-deutschland.de/index.php/de/downloads/16.html sowie die DIS-Mediationsordnung 10 (MedO), http://www.disarb.org/de/16/regeln/dis-mediationsordnung-10-medo-id19 (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 342 Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, abgedruckt in ZKM 2004, 148. Abrufbar unter http://ec.europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct_de.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 343 Vgl. nur Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, Nr. 2 ff. sowie § 2 ff. Mediationsordnung (Verfahrensordnung Mediation) des Bundesverbandes Mediation in Wirtschaft und Arbeitswelt e.V. (BMWA). 344 Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 110. 345 Maunz/Dürig/Scholz, GG (71. EL. 2014), Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 160 f. 346 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971).
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Überwindung reziproken Denkens. Die Goldene Regel ist zunächst eine Regel der Gegenseitigkeit: Der Einzelne ist aufgerufen, andere so zu behandeln, wie er es selbst von anderen erwartet. Diese Gegenseitigkeitsregel347 ist als das „elementare Gesetz allen Rechts schlechthin“348 bezeichnet worden. Es wäre jedoch verfehlt, in der regula aurea lediglich einen „Ethos der Gegenseitigkeit“349 zu sehen und sie, wie etwa John Stuart Mill, im Sinne utilitaristischer Reziprozität zu deuten, weil ein der Gegenseitigkeit unterliegendes Verhalten für den Einzelnen selbst von Vorteil ist. Denn in Wirklichkeit fordert die regula aurea nicht nur, das Empfangene angemessen zu beantworten, sondern darüber hinaus die eigenen Wünsche zum Maßstab des Handelns zu machen.350 Damit wird die Regel „so grenzenlos, wie es die eigenen Wünsche sind und die Regel so außergewöhnlich wie das Gebot der Feindesliebe.“351 Ein synallagmatischer Ausgleich von Leistung und äquivalenter Gegenleistung im Sinne des „do ut des“ liegt gerade nicht vor.352 Denn sie fordert, wie Schürmann überzeugend gezeigt hat, gerade nicht „dem andern das Gute zu tun (bzw. nicht zu tun), das man von ihm wieder erwartet (bzw. nicht angetan haben möchte), sondern ihm von sich aus das zu tun (bzw. nicht zu tun), was man aufgrund der Eigenliebe als wünschenswert erkennt und das man darum auch dem anderen zufügen (bzw. nicht zufügen) soll.“353 Damit hat die regula aurea das antike Vergeltungsdenken wie auch eine rein utilitaristische Gegenseitigkeitsethik überwunden, und darin unterscheidet sie sich von einer Vielzahl anderer Verhaltensgrundsätze. Dass eine über bloße Reziprozität hinausgehende Ethik eine wesentliche Grundbedingung für kooperative Strategien der Streitbeilegung, Vertrauen und die Erhaltung der Parteibeziehung bildet, hat die verhandlungstheoretische Forschung eindrucksvoll gezeigt. Der mit dem Beginn der ADR-Bewegung einsetzende Wandel der Konfliktkultur, den wir bereits untersucht haben, wird daher zu weiten Teilen mit der Überwindung des noch an bloßer Reziprozität haftenden kontradiktorischen Denkens zu erklären sein, wie es vor allem für den Zivilprozess typisch ist. Der Antinomie von Goldener Regel und Vergeltungsdenken liegt damit offensichtlich dasselbe Spannungsverhältnis zugrunde, wie es für das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess charakteristisch ist.
347
So Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101 ff. Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. 349 Heiligenthal, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 573, 574. 350 Radl, Lukas (2003), S. 410. 351 Radl, Lukas (2003), S. 410. 352 Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1Lk 6, Lk 6, 31. 353 Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1Lk 6, Lk 6, 31. 348
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bb) Wesen und Inhalt: Gleichheit der Personen und eigene Interessen als Maßstab Die Forderung, entsprechend der eigenen Erwartungen an das Verhalten anderer zu handeln, setzt nicht nur voraus, dass sich die Beteiligten gleich behandeln, sondern dass sie als Rechtssubjekte auch gleich sind. Die von der Goldenen Regel gebotene Anerkennung der legitimen Freiheits- und Interessensphäre des anderen setzt damit zugleich voraus, dass dieser Träger von Rechten und in seiner Stellung als Rechtssubjekt dem Einzelnen grundsätzlich gleichgeordnet ist. Diese rechtliche Gleichheit erwächst aus der gleichen Würde als Individuum und den im Grundsatz gleichen Bedürfnissen nach der vollen Entfaltung der Person und der Förderung und Achtung der hierfür erforderlichen Grundbedingungen. Die Regel setzt in ihrem Wesen die Gleichheit des Menschen voraus. Mit der sich aus ihr ergebenden Menschenwürdegarantie und dem Gleichheitsgebot sind zugleich die Eckpfeiler jeder rechtsstaatlichen Ordnung gesetzt. Dennoch bleibt die regula aurea hier nicht stehen. Das Postulat der Gleichheit bereitet gleichsam den Boden für die aus ihr erwachsende Verhaltensnorm: Den zentralen Maßstab richtigen Handelns bilden die eigenen Erwartungen an das Handeln anderer und damit die eigenen Interessen, Bedürfnisse und Wünsche, die nun jedoch auf den anderen übertragen und so zum Maßstab des eigenen Handelns gemacht werden. Die für das Mediationsverfahren zentrale Einsicht, dass eine nachhaltige Beilegung des Konfliktes die Integration der Interessen beider Parteien, ein beiderseitig interessengerechtes Ergebnis und damit das Ausschöpfen von pareto-optimalen Kooperationsgewinnen erfordert, hat hier ihren Ursprung. Dass ein derartiges Denken keineswegs selbstverständlich ist, zeigt die am „dance of concessions“354 ausgerichtetet Struktur intuitiven Verhandlungsverhaltens und seiner seiner Antinomie zur Mediation, das mit dem Anspruch der regula aurea im Grundsatz kaum in Einklang zu bringen sind. Möglich wird dieser Schritt von den eigenen Positionen hin zum Verständnis der Interessen des Verhandlungspartners durch einen erstaunlichen Mechanismus, der in der Regel selbst angelegt ist: Indem nicht die Interessen des anderen, die ich ihm zubillige, sondern meine eigenen Interessen, die ich für mich selbst in Anspruch nehme, zum Maßstab genommen und dem anderen zugesprochen werden, wird die Dynamik nutzenmaximierender Eigeninteressen gleichsam neutralisiert und für kooperatives Handeln nutzbar gemacht. Schürmann bringt diesen Mechanismus auf den Punkt, wenn er formuliert, dass
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Hierzu Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. Vgl. hierzu unten S. 915 sowie oben S. 109 Fn. 20.
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„die Eigenliebe des Menschenherzens als der allen bekannte Maßstab empfohlen (wird) für die Liebe zum Mitmenschen, womit aber keinesfalls diese Eigenliebe als etwas Gutes anerkannt werden soll, sondern als ein fest verwurzelter (kaum zu beseitigender) Tatbestand vorausgesetzt wird.“355 Diese Projektion der eigenen Interessen und Erwartungen auf den anderen ist nur auf der Grundlage der Anerkennung eines gleichen Status als Rechtssubjekt und der im Grundsatz gleichen Interessen an der Daseinsgewährung und der Entfaltung personaler Würde möglich. Die Gleichheit der Interessen an der Daseinsgewährung und der existenziellen Grundbedürfnisse ergibt sich aus der gleichen menschlichen Natur und hat in typisierender abstrakt-genereller Form in den Rechtspositionen der subjektiven Rechte, vor allem den Grundrechten, Niederschlag gefunden. In der Mediation kommt die Interesseneinheit etwa in dem gleichen Bedürfnis nach einem fairen, selbstbestimmten und effizienten Verfahren zum Ausdruck. Grundsätzlich haben beide Parteien gleichermaßen ein Interesse daran, den Konflikt dauerhaft, nachhaltig und beziehungsschonend beizulegen, von Schädigungen – etwa durch eine Verwendung vertraulicher Informationen in einem nachfolgenden Zivilprozess – verschont zu bleiben und vom Verhandlungspartner nicht übervorteilt zu werden. Neben diese für beide Seiten grundsätzlich gleichen Verfahrensinteressen treten in der Auseinandersetzung mit der individuellen Lebenssituation des Einzelnen konkretisierende Ausdifferenzierungen der Grundinteressen, die zu unterschiedlichen Partikularinteressen und damit Interessenkollisionen führen können. Wie wir im Folgenden sehen werden, ist es durch eine weite Anwendung der regula aurea möglich, entsprechende Gegensätze von Partikularinteressen aufzulösen und in einer beiderseitig interessengerechten Lösung zu integrieren. Im Zentrum der Goldenen Regel steht damit die gleichwertige Anerkennung der Interessen des anderen wie der eigenen, die zugleich den zentralen Maßstab des Handelns und im Kontext einvernehmlicher Streitbeilegung das maßgebliche Kriterium für die Einigungsentscheidung der Parteien bilden. Die Struktur der Goldenen Regel, die wir herausgearbeitet haben, entspricht damit in ihren wesentlichen Elementen der Fokussierung auf die Parteiinteressen im Mediationsverfahren, wie wir es im Rahmen unserer Strukturanalyse von Zivilprozess und Mediation kennengelernt haben. Der in der modernen Verhandlungstheorie einhellig anerkannte Grundsatz des Verhandelns nach dem Harvard-Modell, die gegenseitigen Interessen zur Grundlage der Einigung zu machen, findet damit rechtsphilosophisch seine Begründung in der regula aurea als universaler Verhaltensnorm. Diese Einbettung der vergleichsweise jungen „Dogmatik“ der Streitbeilegung in das bewährte System grundlegender Rechtsprinzipien und seine rechts-
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6, 31.
Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1Lk
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philosophische Begründung hat über ihren unmittelbaren Wert für die systembildende dogmatische Durchdringung als interdisziplinäre Querschnittsmaterie hinaus auch erhebliche Bedeutung für die aktuelle rechtspolitische Diskussion: Denn die Fokussierung auf die Parteiinteressen als zentralem Kriterium in der Streitbeilegung ist damit kein arbiträrer, systemwidriger Bruch mit dem bestehenden Paradigma kontradiktorischen Positionendenkens, sondern vielmehr zwangsläufige Konsequenz der Anwendung der regula aurea als dem „elementare(n) Gesetz allen Rechts schlechthin“356 und einem zentralen, der Rechtsordnung zugrunde liegenden Gerechtigkeitsprinzip. Mit dieser Legitimität ausgestattet, muss die wachsende Bedeutung des Mediationsverfahrens in der Rechtspraxis notwendig die Frage nach der angemessenen Struktur des von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Systems der Konfliktbeilegung und der Berechtigung der Engführung auf den Zivilprozess als „komfortabel ausgebauten Königsweg“357 aufwerfen. Es ist in der Tat diese Frage, die am Beginn der ADR-Bewegung und der Bemühungen um eine Reform des Justizsystems im Rahmen der Pound Conference stand und die das Bemühen um die Institutionalisierung der einvernehmlichen Streitbeilegung bis heute treibt. Im Zentrum der modernen Lehre vom Konfliktmanagement steht die Einsicht, dass letztlich nur die kooperative, an den gegenseitigen Interessen als zentralem Einigungskriterium orientierte Beilegung von Konflikten dem Menschen und seinen Bedürfnissen als sozialer, in ein Geflecht gegenseitiger Beziehungen eingeordneter und auf andere angewiesener Person und seiner Würde als mit gleichen Rechten ausgestattetem Rechtssubjekt zutiefst entspricht. Kooperation ist die dem Menschen eigene, ihm aufgrund seines Wesens zukommende und damit natürliche Form der Konfliktbeilegung.358 Und weil sie zutiefst seiner Natur, seinen natürlichen Interessen und seiner Eigenschaft als Teil des auf Gegenseitigkeit angelegten Gefüges des Gemeinwesens entspricht, muss sie regelmäßig auch zu besseren, d.h. beiderseits interessengerechten, das Pareto-Optimum ausschöpfenden, Werte schaffenden und damit effizienteren Ergebnissen führen. Dass dies zudem kosten- und zeiteffizienter als im Zivilprozess möglich ist, ist im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung zu den gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen in Deutschland empirisch nachgewiesen worden. Die Kausalität ergibt sich im Vergleich zum Zivilprozess aus den systemimmanenten Schwächen des Gerichtsverfahrens, die wir am Beginn unserer Untersuchung in den Blick genommen haben. Deutlich wird sie darüber hinaus vor dem Hintergrund der Struktur und des Wesens des Mediationsverfahrens, die wir in unserer Strukturanalyse der beiden großen Verfahrensarten untersucht haben. Es ist diese Einsicht in die Vorteile alternativer Streitbeilegung, 356
Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. So Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5. 358 Vgl. unten S. 462 ff. 357
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die maßgeblich zum Erfolg der ADR-Bewegung und innerhalb des Zivilverfahrensrechts zu einem tiefgreifenden Umdenken geführt hat. Unterhalb der Ebene pragmatischer Effizienzerwägungen ist die Argumentation mangels einer rechtsphilosophischen Begründung weitgehend diffus geblieben. Mit der regula aurea hat diese bislang kaum artikulierbare Grundüberzeugung nun die ihr entsprechende Form gefunden. Im Verhältnis zum Zivilprozess ergeben sich damit eine Reihe weitreichender dogmatischer Fragen: Welche Legitimation kommt dem Zivilprozess als Standardinstrument staatlicher Konfliktbeilegung überhaupt noch zu, wenn kooperative Konfliktbeilegungsstrategien als qualitativ besser, quantitativ effizienter und der menschlichen Natur entsprechender anzusehen sind? Wie stellt sich sein Verhältnis zum Mediationsverfahren dar? Welche Handlungspflichten ergeben sich hieraus für den Staat und das von ihm zu verantwortende System des Konfliktmanagements? Diese Fragen sind noch weitgehend ungeklärt. Im Vorgriff auf den weiteren Gang unserer Untersuchung lässt sich der Fragenkanon weiter eingrenzen: Wie wir gesehen haben, hat die ADR-Bewegung tatsächlich zu einer weitreichenden Legitimationskrise des Zivilverfahrens geführt359, das selbstverständlich nie als solches, wohl aber in seiner Stellung innerhalb des Systems der Streitbeilegung infrage gestellt worden ist.360 Auf dieser Grundlage werden Legitimation und Bedeutung des Zivilprozesses innerhalb des Systems staatlichen Konfliktmanagements nun differenzierter betrachtet: Aus der im Vergleich zur Mediation unterschiedlichen Legitimationsquelle ergibt sich ein spezifischer Status und damit eine spezifische Eignung und Priorität der jeweiligen Verfahren in einem als Multi-Door Courthouse361 angelegten Konfliktmanagementsystem, die wir in der Konzeption eines umfassenden Systems der Konfliktbehandlung näher untersuchen wollen. Dass ein solcher Schritt kein rechtspolitisches Experiment darstellt, sondern aus rechtshistorischer Perspektive eine systemwidrige Verengung aufhebt und das seit jeher im Recht nachweisbare Gleichgewicht von Recht und Billigkeit, Law und Equity wiederherstellt, haben wir mit Blick auf die rechtshistorischen Ursprünge des Mediationsverfahrens gesehen. Auf der Grundlage des herausgearbeiteten Befundes lässt sich dieser bislang vor allem pragmatisch legitimierte Schritt auch rechtsphilosophisch begründen: Die unterschiedliche Kongruenz von Mediation und Zivilprozess mit der regula aurea als grundlegendem Rechtsprinzip muss zu einer unterschiedlichen Stellung der einzelnen Verfahren innerhalb des Systems der Konfliktbeilegung führen. Der Frage, welche
359
Vgl. zu den systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses eingehend oben S. 12 ff. sowie unten S. 786 f. 360 Zu den Grundsätzen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre vgl. nur unten S. 540 ff. 361 Hierzu eingehend unten S. 505 f., 542 ff., 551 ff.
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Stellung dem Zivilprozess gegenüber der Mediation im System der Konfliktbeilegungsverfahren zukommt, werden wir im Gang der weiteren Untersuchung eingehender nachgehen.362 cc) Methode: Das Gedankenexperiment des multilateralen Rollentauschs Deutlich wird die enge Verwandtschaft von Mediation und regula aurea, wenn wir die Methode näher betrachten, mit deren Hilfe der Mechanismus der Projektion der eigenen Interessen auf den anderen überhaupt erst möglich wird: Das Gedankenexperiment des multilateralen Rollentauschs. Um die eigenen Interessen, Wünsche und Erwartungen an das Verhalten anderer, die der Einzelne für sich selbst in Anspruch nimmt, auf den anderen zu übertragen und ihm gleichsam zusprechen zu können, ist es erforderlich, „die gegebene Situation mit den Augen des Partners anzusehen und sich in die Rolle des affizierten Objekts zu versetzen.“363 Es ist jener Mechanismus, den bereits Leibnitz in den Mittelpunkt seiner Betrachtung der Goldenen Regel stellt.364 Die Rolle des Perspektivwechsels (role taking, trading places, putting yourself into their shoes) bei der Anwendung der Goldenen Regel ist von Kohlberg eingehend untersucht worden. Ausgehend von einer empirischen Untersuchung der Gewissensbildung amerikanischer Kinder und Jugendlicher entwickelte Kohlberg ein differenziertes Stufenmodell moralischer Urteilsbildung, das für die Interpretation der Goldenen Regel, ihre Auseinandersetzung mit der Kritik Kants und für die Bestimmung des Verhältnisses von Zivilprozess und Mediationsverfahren von Bedeutung ist. Kohlberg unterscheidet zwischen drei Hauptniveaus und sechs Stadien moralischer Entwicklung, die vom Menschen sequentiell durchlaufen werden.365 Zentral für die individuelle Entfaltung des moralischen Urteilsvermögens ist danach die sich kontinuierlich entwickelnde Fähigkeit zum perspektivischen Rollentausch, der die Grundlage für die Heranbildung eines auf Gegenseitigkeit und Gleichheit ausgerichteten Gerechtigkeitsverständnisses bildet. Die höchste Stufe moralischen Urteilsvermögens ist erreicht, wenn der Einzelne in der Lage ist, sich in einem multilateralen Rollentausch in einer konkret zu beurteilenden Situation in die Rolle jedes anderen Beteiligten zu versetzen und die aus dieser Perspektive erhobenen Interessen
362
Vgl. hierzu unten S. 632 ff. Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 110. 364 Leibniz, New essays on human understanding (2. Aufl. 1996), Book 2, Chapter II, § 8: „The true meaning of the rule is that the right way to judge more fairly is to adopt the point of view of other people.” Im französsichen Original: „Le véritable sens de la règle est que la place d’autrui est le vrai point de vue pour juger équitablement lorsqu’on s’y met.” Leibniz, Nouveaux essais sur l'entendement humain (1921), S. 53. 365 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 17 ff., 147 ff. 363
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
und Ansprüche berücksichtigt.366 Auf dieser Stufe hat der Einzelne die Phasen eines an Vergeltungs- und Austauschgerechtigkeit ausgerichteten Denkens und selbst die Orientierung an den innerhalb einer Gesellschaft geltenden Normen überwunden und orientiert sein Verhalten vielmehr an universellen ethischen Prinzipien, die unabhängig vom jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext Gültigkeit beanspruchen.367 Die Fähigkeit der Übernahme von Rollen ist für das soziale Verhalten – wie wir bereits bei Luhmanns Analyse des Zivilverfahrens gesehen haben368 – von entscheidender Bedeutung. Kohlberg sieht in ihr nun eine wesentliche Voraussetzung für die Bildung moralischer Urteile und damit für die Entwicklung verbindlicher Maßstäbe für das eigene Handeln. Und weil diese Handlungsmaximen vor allem im Fall von Rollen- oder Interessenkonflikten relevant werden, ergibt sich im Kontext des Mediationsverfahrens daraus die Konsequenz, dass der Fähigkeit zum Rollentausch für die Streitbeilegung eine zentrale Rolle zukommen muss. Wie wir im Folgenden sehen werden,369 hat die Verhandlungstheorie im perspektivischen Rollentausch tatsächlich eine der zentralen Eigenschaften des Mediationsverfahrens und des integrierten Verhandelns identifiziert. Im Hinblick auf Ursprung und Qualität der moralischen Urteile ist Kohlberg zu einem weiteren Ergebnis gelangt, das für die Qualifizierung der regula aurea als Rechtsprinzip sowie für den Diskurs zwischen Positivismus und Naturrecht von Bedeutung ist: Im Rahmen seiner empirischen Untersuchung hat sich herausgestellt, dass eine Vielzahl moralischer Urteile nicht von außen gleichsam „internalisiert“ worden sind und daher nicht direkt auf den prägenden Einfluss von Eltern, Lehrern oder Freunden zurückgeführt werden können.370 Kohlberg sieht sie als Ergebnisse sozialer Interaktion, doch spricht die starke Verbreitung grundlegender ethischer Prinzipien über Kulturen, Zeiten und Gesellschaften hinweg eher dafür, dass es sich hierbei um grundlegende Normen menschlichen Verhaltens handelt, die im Menschen selbst angelegt und ihm gleichsam „ins Herz geschrieben“371 sind. Die in der Naturrechtsphilosophie seit jeher anerkannte Einsicht, dass das Individuum über eine natürlich-sittliche Erkenntnis des Guten und über ein Verständnis grundlegender Normen richtigen Handelns verfügt, erfährt damit auch aus entwicklungspsychologischer Sicht eine empirische Bestätigung. Für das Mediationsverfahren ergibt sich da-
366
Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 19, 157 ff. Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 19 ff., 412 („Stage 6. The Stage of Universal Ethical Principles”). 368 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 63, 82 ff., 107 ff. 369 Vgl. hierzu unten S. 470 ff. 370 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 16. 371 Augustinus, Confessiones, I, 18 („scripta conscientia“). 367
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raus die Konsequenz, dass Verhandlungssysteme auch außerhalb eines normativen Rahmens zwingenden materiellen Rechts operabel sind. Grundlage der Einigungsentscheidung der Parteien bilden jene überpositiven „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent“372 sind und im Gesetzesrecht entweder vollkommen oder „nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck“373 gelangen. Aktualisiert werden sie durch die Goldene Regel als „Summe der grundlegenden sozialen Pflichten“374 und als verbindlichen Maßstab der Lebensführung. d) Kohlbergs Stufenmodell moralischer Urteilsfähigkeit Nach dem Befund Kohlbergs sind Anwendung und Verständnis der Goldenen Regel als Verhaltensnorm und Einigungsmaßstab in sozialen Konflikten allerdings abhängig von dem jeweiligen Entwicklungsstand moralischer Urteilsfähigkeit. Auf der ersten Stufe, die von Kindern im Alter von ungefähr 4 bis 13 Jahren durchlaufen wird375, wird das der Goldenen Regel zugrunde liegende Prinzip der Reziprozität noch als Gegenseitigkeit im Sinne des Vergeltungsund Austauschdenkens der Talion verstanden.376 Wer geschlagen wird, schlägt zurück. Man verhält sich kooperativ, damit der jeweilige Partner sich ebenfalls kooperativ verhält, und nicht – wie es der Goldenen Regel eigentlich entsprechen würde –, weil man mit uneingeschränkter Selbstverständlichkeit kooperatives Verhalten von anderen sich selbst gegenüber erwarten würde, wenn man sich in der Situation des Gegenübers befände. Überträgt man diese Grundsätze auf die Mediation, so wird deutlich, dass eine an dem Prinzip des „do ut des“ orientierte Einigung allein mit dem Zweck der Konfliktbeendigung „um des lieben Friedens willen“ regelmäßig zu keiner dauerhaften und nachhaltigen Beilegung des Konfliktes führen kann. Denn hierfür ist ein Verständnis der Interessen des Verhandlungspartners und damit ein Perspektivwechsel erforderlich. Ein an synallagmatischer Reziprozität im Sinne eines Austauschs von Handlungen ausgerichtetes Verhandlungsverhalten bewegt sich auf der einfachsten Entwicklungsstufe moralischer Urteilsfähigkeit des Menschen und ist daher als Maßstab des Handelns in Konfliktsituationen und als Einigungskriterium ungeeignet. Entsprechend ist auch eine am Vergeltungs- und Austauschdenken ausgerichtete Interpretation der Goldenen Regel abzulehnen.
372
BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebungen durch den Verfasser. 374 Heiligenthal, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 573, 573 mwN. antiker Autoren. 375 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 24. 376 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 15 f., 202, 235. 373
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
Der von der regula aurea geforderte Rollentausch findet dagegen erst auf der dritten Stufe statt, die von Kindern im Alter von 10 bis 15 Jahren erreicht wird.377 Auf dieser Stufe wird Gegenseitigkeit nicht mehr als Austausch der Handlungen im Sinn der Vergeltung oder eines Synallagmas verstanden, sondern als Austausch der Perspektiven im Sinne der Umkehrbarkeit (reversibility).378 Gefordert sind nunmehr eine Differenzierung der eigenen Perspektive von der des anderen und die Koordination beider Sichtweisen, so dass sich beide in reziproker Weise beeinflussen.379 Realisiert wird diese Koordination durch einen perspektivischen Rollentausch380 in dem sich der Einzelne gleichzeitig in zwei verschiedene, aufeinander ausgerichtete Rollen versetzt und erwägt, welches Verhalten er erwarten würde, wenn er sich an der Stelle seines Gegenübers befände. Ein derartiges Verständnis der Goldenen Regel wird im Anschluss an Kohlberg am deutlichsten durch die Aussage eines zehnjährigen Kindes auf der dritten Stufe moralischer Urteilsfähigkeit illustriert: „Well, it's like your brain has to leave your head and go into the other guy's head and then come back into your head but you still see it like it was in the other guy's head and then you decide that way.“381 Ein vollständiger, multilateraler Rollentausch erfolgt dagegen erst auf der sechsten Stufe, die bei Kindern ab dem Alter von 13 bis 16 Jahren nachweisbar ist. Allerdings wird diese Stufe nicht von allen Kindern gleichermaßen und nach Kohlberg nur von etwas weniger als 5 % der erwachsenen Amerikaner erreicht.382 Eine solche „second-order interpretation“383 der Goldenen Regel erfordert, dass jeder in seinen Vorstellungen die Rolle jedes anderen Beteiligten einnimmt und dabei die Ansprüche berücksichtigt, die sich aus der jeweiligen Perspektive ergeben.384 Dabei wird ein vollständiges Wissen über die Position und Werte jeder beteiligten Person vorausgesetzt.385 Diese Voraussetzung weist bereits auf ein Dilemma hin, das mit der Anwendung des multilateralen Rollentauschs verbunden ist: In komplexen Konfliktsituationen geht ein noch so aufrichtig vorgenommener Perspektivwechsel ins Leere, wenn dem Handelnden die Interessen, Werte und individuellen Lebensumstände desjenigen nicht bekannt sind, in dessen Situation er sich hineinversetzen soll. Im
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Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 18, 24, 148 ff., 410. Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 202. 379 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 202. 380 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 202 beschreibt den damit verbundenen Perspektivwechsel als „reciprocity with reversibility“, „ideal role taking“, „reversing perspectives“, „trading places“, „putting yourself in his shoes” (S. 202). 381 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 202. 382 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 192. 383 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. 384 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. 385 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. 378
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Rahmen unserer Untersuchung des Zivilprozesses und seiner systemimmanenten Schwächen haben wir bereits festgestellt, dass ein umfassender Interessenausgleich voraussetzt, dass der Konflikt in seiner Gesamtheit unterschiedlicher Konfliktdimensionen und der mit dem Konflikt verwobene Lebenssachverhalt in all seinen Facetten erfasst wird.386 Im Idealfall würde dies auf eine Personenidentität des Entscheidenden mit den Parteien hinauslaufen. Wir haben ebenfalls gesehen, dass dieses Dilemma für den Zivilprozess mit der Verlagerung der Entscheidungsgewalt vom neutralen Dritten auf die Parteien und damit durch die Wahl des Mediationsverfahrens gelöst worden ist. Wenden wir nun in gleichsam mikroskopischer Sicht unseren Blick auf das Mediationsverfahren selbst, so wird deutlich, dass die Parteien, wenn sie sich tatsächlich auf ein beiderseits interessengerechtes Ergebnis einigen wollen, ebendieses vollständige Wissen über die Interessen, Werte und konkreten Lebensumstände des Verhandlungspartners benötigen. Dieses Wissen ist erforderlich, um den von der Goldenen Regel als universeller Verhaltensnorm geforderten multilateralen Rollentausch zu vollziehen. Eine Lösung des Dilemmas ist im Mediationsverfahren selbst angelegt: Als privatautonomes Verfahren stellt es die im Zivilprozess nur über den Richter als Mittler erfolgende und damit unterbrochene direkte Kommunikation zwischen den Parteien wieder her.387 Durch spezielle Fragetechniken unterstützt der Mediator die Parteien in ihrem Bemühen, die hinter den Positionen stehenden Interessen des jeweiligen Verhandlungspartners aufzudecken, sie aus der Binnenperspektive des jeweiligen Verhandlungspartners gleichsam „von innen her“ zu verstehen und so die Grundlage für eine beiderseits interessengerechte Einigungslösung zu legen. Bemühen sich die Parteien dann in einem multilateralen Rollentausch, die Rolle ihres Verhandlungspartners und dessen Interessen aus seiner jeweiligen Perspektive zu berücksichtigen, so bewegen sie sich nach Kohlberg insoweit auf der höchsten Stufe moralischer Urteilsfähigkeit. Das aus einem solchen gegenseitigen Rollentausch folgende Verhältnis der Parteien zueinander ist durch positive und stabile interpersonale Beziehungen, gegenseitige Zuneigung, Dankbarkeit und Sorge um die gegenseitige Bestätigung und damit durch Eigenschaften geprägt, die als Folgewirkungen auch für das Mediationsverfahren charakteristisch sind.388
386
Vgl. hierzu oben S. 18. Vgl. oben S. 27 ff., 138 ff. 388 Zu den positiven Folgewirkungen einer an den Grundsätzen des Rollentauschs orientierten Anwendung der Goldenen Regel Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149. 387
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e) Die Goldene Regel und das Harvard-Modell Dieser Rollen- und Perspektivwechsel, das Hineinversetzen in die Lage des anderen („put yourself into their shoes“)389 ist nicht nur als Grundvoraussetzung für die Beurteilung richtigen Verhaltens im Rahmen der Goldenen Regel von zentraler Bedeutung. Er bildet zugleich jene Methode, die eine Orientierung der Parteien aufeinander hin („to reorient the parties toward each other“)390, wie sie Fuller als Wesen der Mediation beschrieben hat, fördert und damit einen tatsächlichen Interessenausgleich im Rahmen integrierten Verhandelns überhaupt erst möglich macht. Entsprechend hat die verhandlungstheoretische Forschung schon seit ihren Anfängen den Perspektivwechsel als wesentliche Voraussetzung interessenbasierten Verhandelns nach dem HarvardModell angesehen.391 Fisher, Ury und Patton sehen in ihm eine der zentralen Methoden im Verhandlungsprozess: „The ability to see the situation as the other side sees it, as difficult as it may be, is one of the most important skills a negotiator can possess.“392 Der Grund hierfür liegt in den Wahrnehmungsverzerrungen, die regelmäßig an der Entstehung von Konflikten beteiligt sind und ihre Beilegung oft wirksam verhindern. Entsprechend hat die verhandlungspsychologische Forschung einen erheblichen Einfluss selektiver Wahrnehmungseffekte auf das Verhandlungsverhalten – wie etwa Überoptimismus (overconfidence bias), die Illusion die Überlegenheit und die Illusion der Gewissheit – nachweisen können.393 So neigen Parteien regelmäßig dazu, die Realität entsprechend ihrer Wünsche und Hoffnungen wahrzunehmen, negative Aspekte auszublenden und positive Gesichtspunkte überzubewerten. Der Fokus liegt auf jenen Tatsachen, die bestehende Auffassungen bestätigen, während jene Tatbestände in den Hintergrund treten, die diese Auffassungen infrage stellen.394 Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Ursache negativer Einstellungen gegenüber dem Verhandlungspartner darüber hinaus häufig in einer fehlerhaften Bewertung der Ursachen für ein negatives Verhalten des Gegenübers liegt.395 Faktoren, die in der Person der anderen Partei begründet sind, werden über-, äußere Einflüsse dagegen unterbewertet. Eine effektive Überwindung dieser Wahrnehmungsverzerrungen wird dadurch möglich, dass 1) zur Erklärung des Verhaltens des 389
Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23 f. Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 391 Grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23 f. Vgl. auch BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 108 ff. 392 Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23. 393 Eingehend hierzu vgl. Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. mwN. 394 Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23. 395 Allred/Mallozzi/Matsui/Raia, 70 Organ. Behav. Hum. Decis. Process. 175, 185 f. (1997). 390
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Verhandlungspartners gezielt äußere Umstände in den Blick genommen werden, die außerhalb dessen Einflusssphäre liegen und 2) die Situation im Rahmen eines Rollenwechsels aus der Perspektive der anderen Partei bewertet wird. Fassen wir das Ergebnis unserer Untersuchung zusammen: Die regula aurea als universaler Maßstab menschlichen Handelns erfordert zur Aktualisierung ihres Verhaltensgebotes einen perspektivischen Rollentausch, der in seiner vollendeten Form von Kohlberg empirisch als Schlusspunkt der menschlichen Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit nachgewiesen worden ist. Damit wird auch aus entwicklungspsychologischer Sicht eine auf die Überwindung reziproken Denkens hin ausgerichtete Interpretation der regula aurea bestätigt. Für die Auseinandersetzung mit der Kritik kann dabei auf das Stufenmodell Kohlbergs zurückgegriffen und die Auslegung der Goldenen Regel im Sinne eines multilateralen Rollentauschs zugrunde gelegt werden. Ein weitgehend simplifiziertes Verständnis der regula aurea im Sinne der Vergeltungs- und Austauschgerechtigkeit der Talion, wie es für einen Teil der Kritik kennzeichnend ist, lässt sich damit auch aus entwicklungspsychologischer Perspektive zurückweisen. Die These empirischer Evidenz der regula aurea als universellem kultur- und epochenübergreifendem Rechtsprinzip396 wird durch den empirischen Befund Kohlbergs gestützt.397 Für das Mediationsverfahren lässt sich eine enge Verwandtschaft mit der regula aurea vor allem im Hinblick auf den umfassenden Perspektivwechsel nachweisen. Der Befund stützt weiterhin das Verständnis der Mediation als gerechtes Verfahren, als New Equity398: Wenn die Mediation als „gerechtes Verfahren“399 der Billigkeit angetreten ist, die systemimmanenten Gerechtigkeitsdefizite400 des Zivilprozesses zu überwinden, so muss sie konsequenterweise in ihrem Wesen in besonderer Weise der Goldenen Regel als dem „elementare(n) Gesetz allen Rechts schlechthin“401 entsprechen. Umgekehrt finden die für die Mediation zentralen Instrumente des Rollentauschs, der Fokussierung auf die Interessen der Parteien und der Interessenerforschung wie auch das Mediationsverfahren insgesamt eine rechtsphilosophische und entwicklungspsychologische Begründung.
396 Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 80 ff., 103 ff.; Schrey, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 575, 575 f. Vgl. hierzu auch eingehend Philippidēs, Goldene Regel (1929); Philippidēs, Forschungsberichte (1933). 397 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 8 ff., 19, 149 ff., 197 ff., 202 ff., 410. 398 So Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 329 ff. (2005). 399 Vgl. zum Begriff eingehend oben S. 179 ff. 400 Vgl. hierzu eingehend oben S. 12 ff. 401 Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101.
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Der perspektivische Rollenwechsel ist erforderlich, um die von der regula aurea geforderte Ausrichtung des eigenen Verhaltens entsprechend der eigenen Verhaltenserwartungen in der Position des Gegenübers überhaupt erst zu ermöglichen. Der Schritt von den Rechtspositionen zu den Sachinteressen („Focus on Interests, Not Positions“)402 ergibt sich unmittelbar aus der Forderung, sich die Interessen des anderen nach dem Maßstab der eigenen zu eigen zu machen. Die Notwendigkeit der Interessenerforschung folgt aus der Tatsache, dass eine vollkommene Anwendung der Goldenen Regel ein vollständiges Wissen über die Interessen, Werte und die individuellen Lebensumstände jeder beteiligten Person voraussetzt. Struktur und Wesen des Mediationsverfahrens entsprechen nicht nur in erstaunlicher Weise der regula aurea als universalem Grundprinzip der Gerechtigkeit, sondern stellen auch aus entwicklungspsychologischer Sicht Ziel und Schlusspunkt der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit des Menschen dar. Damit erweist sich die Mediation als das der Natur des Menschen zutiefst, geradezu idealtypisch entsprechende Verfahren. Diese These kann auf der Grundlage der Untersuchung Kohlbergs, die auf das Mediationsverfahren übertragen wurde, nun auch empirisch bestätigt werden. Aufgrund der daraus erwachsenden Legitimationskrise des Zivilprozesses ergibt sich für das Verhältnis von Zivilprozess und Mediation das Primat des Mediationsverfahrens im Spektrum der Verfahren der Konfliktbehandlung, wie es bereits auf der Grundlage der vergleichenden Strukturanalyse von Mediation und Zivilprozess formuliert worden ist.403 Im Hinblick auf das Verhältnis der Mediation zum materiellen Recht ergibt sich damit der Befund der Operabilität von Verhandlungssystemen auch außerhalb eines normativen Rahmens zwingenden materiellen Rechts. Grundlage der Einigungsentscheidung der Parteien bilden dabei die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanenten überpositiven Wertvorstellungen, die durch die Goldene Regel als Summe der grundlegenden sozialen Pflichten aktualisiert werden. Die Existenz endogener, d.h. nicht kulturell geprägter Wertvorstellungen, ist durch Kohlbergs Untersuchung auch empirisch belegt. f) Die Goldene Regel als Rechtsprinzip Für die Eignung der Goldenen Regel als Grundlage der Einigungsentscheidung der Parteien im Mediationsverfahren ist ihre Tauglichkeit als Rechtsprinzip zu untersuchen. Diese ist bereits durch Spendel überzeugend nachgewiesen worden.404 Der Befund ist jedoch auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse und der empirischen Analyse Kohlbergs zu ergänzen. Wie wir gesehen haben ist erforderlich, dass es sich 1) um eine Norm als Sollenssatz handelt, der 2) 402
Grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 40 ff. Hierzu oben S. 110 ff. 404 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 502 ff. 403
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allgemeingültig, 3) formal und 4) von einer empirischen Evidenz ist.405 Betrachten wir den Inhalt der Regel, so erweist sie sich als hypothetisches Urteil, das in seiner positiven Form ein Gebot, in seiner negativen Form ein Verbot enthält und damit Normcharakter besitzt. Sie ist darüber hinaus jedenfalls in ihrer negativen Fassung allgemeingültig, weil sie einen Verhaltensgrundsatz enthält, der als Denkprinzip aufgrund seiner inneren Logik von jedem Menschen Anerkennung fordert, und zwar unabhängig davon, ob dieser sie als verbindlich akzeptiert oder nicht.406 Sie vermag alle denkbaren Fallgestaltungen, auf die sie zutrifft, zu erfassen. Ihre Leugnung widerspricht den Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens.407 Obwohl sie auch eine materielle Bestimmung enthält408, ist sie formal, weil sie keine Aussage darüber trifft, welches konkrete Verhalten im Einzelnen gefordert wird.409 Und sie verfügt über eine erhebliche empirische Evidenz, weil sie unmittelbar einleuchtend und keines weiteren Beweises fähig oder bedürftig ist.410 Sie bildet eine allen Menschen direkt einsichtige Verhaltensnorm, die von der Empirie des Alltags ausgeht und an die Erfahrung des Einzelnen anknüpft. Kohlbergs empirische Untersuchung hat gezeigt, dass es sich dabei um ein endogenes, nicht inkulturiertes und damit universal evidentes Prinzip handelt, das in den USA ebenso nachweisbar ist wie in Taiwan, Mexiko und der Türkei.411 Dieser empirische Befund deckt sich mit den Ergebnissen rechtshistorischer und rechtssoziologischer Untersuchungen, die ähnliche Fassungen der regula aurea in unterschiedlichen Kulturen und in unterschiedlichen Epochen nachgewiesen haben.412 Mit Spendel liegt damit zu Recht der Schluss nahe, „hier eine ungeschriebene, überpositive Norm für richtiges und rechtliches Verhalten entdeckt zu haben, die von elementarer Einsicht zeugt und von allgemeiner Gültigkeit ist.“413 Wenn das so ist, dann ist die regula aurea wie kaum ein anderes Rechtsprinzip geeignet, der Einigungsentscheidung der Parteien als Beurteilungskriterium zugrunde gelegt zu werden.
405
Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 503 f. Vgl. dazu eingehend Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 503 f. Zu Zweifeln an der Allgemeingültigkeit vgl. unten S. 261 ff. 407 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 503 f. 408 Dies deshalb, weil die Unterlassung gewisser Verhaltensweisen von einem bestimmten Nicht-Wollen abhängt. Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 505 f. 409 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 505 f. 410 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 504. 411 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 24 f. 412 Vgl. nur Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 80 ff., 103 ff.; Schrey, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 575, 575 f. Vgl. hierzu auch Philippidēs, Goldene Regel (1929); Philippidēs, Forschungsberichte (1933). 413 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 492. 406
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g) Rezeption, Kritik und Renaissance der Goldenen Regel Maßgebend für die Eignung der Regel als zentraler materieller Einigungsmaßstab im Mediationsverfahren in seiner Antinomie zum objektiven Normsystem des Zivilprozesses ist jedoch nicht allein seine Qualifizierung als allgemeinverbindliches Rechtsprinzip, sondern vor allem ihre Tauglichkeit, inhaltlich widerspruchsfreie und unmittelbar einsichtige Handlungsgebote für konkrete Entscheidungssituationen zu liefern. Diese Fähigkeit der Goldenen Regel wollen wir in der Auseinandersetzung mit der im Schrifttum zum Teil vorgebrachten Kritik kurz in den Blick nehmen und uns dabei auf die wesentlichen Einwände beschränken. Die Beurteilung erfolgt in diesem Zusammenhang vor dem Hintergrund der philosophischen Diskussion und damit ausschließlich aus theoretischer Perspektive. Diese Feststellung ist im Hinblick auf den interdisziplinären Ansatz unserer Untersuchung insoweit von erheblicher Bedeutung, als der empirische Befund, wie wir soeben gesehen haben, eine die Kulturen und Epochen überspannende und im Wesentlichen den gesamten Zeitraum der entwickelten Kulturgeschichte des Menschen umfassende Kenntnis der regula aurea nachgewiesen hat. Das legt nicht nur Spendels Schluss nahe, mit der Regel tatsächlich auf eine überpositive Verhaltensnorm von elementarer Einsicht und allgemeiner Gültigkeit gestoßen zu sein, sondern mit ihr in der Tat auch einen in der Alltagspraxis tauglichen und zu unmittelbar einsichtigen Ergebnissen führenden Maßstab richtigen Verhaltens gefunden zu haben. Aus sachlogischen Gründen wäre die weite Verbreitung der Regel als zentraler ethischer Maßstab nicht erklärbar, wenn sie sich tatsächlich als widersprüchlich oder praktisch nicht handhabbar erwiesen hätte. Gleichwohl soll sie auch aus theoretischer Perspektive einer Prüfung unterzogen werden. Ausgestattet mit dem Wissen um den empirischen Befund werden einige im Schrifttum vorgetragene Annahmen jedoch kritischer und differenzierter zu beurteilen sein. Trotz der umfassenden Rezeption in der Spätantike und ihrer eingehenden Behandlung im patristischen und scholastischen Schrifttum ist die Kritik der regula aurea soweit ersichtlich im Wesentlichen ein Phänomen der Neuzeit. Während Einwände gegen die Goldene Regel, etwa durch Petrus Abaelard (1079–1142)414 und Duns Scotus (1266–1308)415, in der Scholastik vereinzelt geblieben sind, setzt im 17. und 18. Jahrhundert eine kritische Auseinanderset-
414
PL 178, 814. Op. Oxoniense IV d. 21 q. 2 n.8, vgl. Duns Scotus, Opera Omnia XIII (2011), IV d. 21 q.2 n.8. 415
IV. Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren
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zung mit der regula aurea ein, die in der Kritik Kants ihren Höhepunkt findet.416 Nachdem die Regel über viele Jahrhunderte hindurch als allgemeinverbindliche Grundformel der Ethik unwidersprochene Anerkennung genossen hatte, trifft sie bei Kant auf scharfe Ablehnung, der sie im Anschluss u.a. an Pufendorf417 in einer Fußnote seiner Metaphysik der Sitten in einem einzigen Satz mit drei Argumenten als „trivial“418 abtun zu können glaubt und sie durch den von ihm entwickelten kategorischen Imperativ ersetzt, der sich indes in seinem ersten Teil selbst stark an der Goldenen Regel orientiert.419 Zwar sind die von Kant vorgetragenen Einwände schon lange vor ihm geäußert und durch die neuere wissenschaftliche Diskussion ausnahmslos infrage gestellt worden.420 Dennoch dürften das abwertende Urteil Kants und seine herausgehobene Autorität als Philosoph wesentlich dazu beigetragen haben, dass die wissenschaftliche Diskussion der Goldenen Regel vor allem in Deutschland nahezu
416 Vgl. hierzu die umfassenden Darstellungen bei Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 76 ff., 78. Reiner erkennt bei Locke erste Anzeichen einer absteigenden Phase in der Einschätzung der Goldenen Regel, wobei die Linie der anerkennenden Hervorhebung der Regel und ihrer Bedeutung u.a. von Herder weitergeführt wird. 417 v. Pufendorf, De jure naturae et gentium (1672), S. 181 (II., 3 § 13 a.E.). Englische Übersetzung bei v. Pufendorf/Oldfather/Oldfather, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 204 f. Hierzu näher unten S. 317 Fn. 441. Vgl. auch Pufendorf, Die Gemeinschaftspflichten des Naturrechts (2. Aufl. 1948), S. 21 (De Officio Hominis et Civis, 1673). 418 „Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis fieri etc. zur Richtschnur oder Princip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentiren, u.s.w.“ Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. 419 Vgl. Hoche, ZphF 32 (1978), 355, 355. Kritisch zur Argumentation Kants auch Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 500 und Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 79: „Damit erscheint die viele Jahrhunderte hindurch als Grundformel der natürlichen Sittlichkeit gepriesene Regel nunmehr als ‚trivial‘ und für ein streng grundsätzliches, philosophisches Denken unbrauchbar.“ Deutlich auch Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 457: „Nachdem J. G. HERDER 1784 die g.R. noch als die ‚Regel der Gerechtigkeit und Wahrheit‘, als ‚das große Gesetz der Billigkeit und des Gleichgewichts‘, gefeiert hat, glaubt I. KANT 1785 die moralphilosophischen Ansprüche dieser Regel vollständig diskreditieren zu können … .“ 420 Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 457.
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völlig verstummte und durch die Rezeption des kategorischen Imperativs ersetzt wurde.421 Zu einer ähnlichen Einschätzung dieser „semirationale(n)“422 Wende in der wissenschaftlichen Diskussion kommt u.a. Hoche, der feststellt: „Dieses Verdikt und Kants eigene Lehre vom Kategorischen Imperativ als dem obersten Prinzip aller Sittlichkeit haben es offenbar fertiggebracht, daß man seither in der deutschen Philosophie die Goldene Regel kaum noch beachtet hat.“423 Im anglo-amerikanischen Schrifttum ist das Interesse an der regula aurea jedoch nie vollkommen versiegt und erfährt seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit den Arbeiten von Singer424, Cadoux425, Blackstone426 und Wattles427 einen deutlichen Aufschwung. In Deutschland zeichnete sich bereits mit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Trendwende ab, die mit Kelsen428, Radbruch429, Kaufmann430, Zippelius431, Spendel432, Mayer-Maly433 und Hruschka434 zunächst die Rechtsphilosophie und mit Reiner435, Craemer-Ruegenberg436, Brühlisauer437 und Hoche438 auch die Philosophie in einem Maße erfasste, dass mittlerweile von einer Renaissance der Goldenen Regel gesprochen werden kann. Den Ausgangspunkt bildet dabei vor allem die Auseinandersetzung mit den Einwänden Kants und dem von ihm entwickelten kategorischen Imperativ, die wir im Folgenden kurz in den Blick nehmen wollen.
421 So ausdrücklich auch Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 79; Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 325; Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 357; Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755, 760. 422 Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755, 760. 423 Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 355. 424 Singer, in: Borchert (Hrsg.), Encyclopedia of Philosophy, Bd. 4 (2. Aufl. 2006), S. 144 ff. 425 Cadoux, 22 Int. J. Ethics 272 (1912). 426 Blackstone, 3 SJP 172 (1965). 427 Wattles, Golden Rule (1996), passim. 428 Kelsen, Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960), S. 367 f. 429 Radbruch, Rechtsphilosophie (3. Aufl. 1932), S. 70; Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe II (1993), S. 206, 303. 430 Kaufmann, Die ontologische Begründung des Rechts (1965), S. 79 f. 431 Zippelius, Recht und Gerechtigkeit (2. Aufl. 1996), S. 45. 432 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491 ff. 433 Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755 ff. 434 Hruschka, JZ 1987, 941; Hruschka, FS Kaufmann (1993), S. 129; Hruschka, JRE 2004, 157. 435 Reiner, ZphF 3 (1948), 74 ff. 436 Craemer-Ruegenberg, Moralsprache und Moralität (1975). 437 Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325 ff. 438 Hoche, ZphF 32 (1978), 355 ff.; Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450 ff.
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h) Die Kritik Kants und ihre Bewertung Die Einwände Kants gegen die Goldene Regel beschränken sich auf drei in einer Fußnote zur Metaphysik der Sitten vorgetragenen Argumente: Die Regel könne kein allgemeines Gesetz sein, weil sie 1) nicht die schuldigen Pflichten gegeneinander („denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentiren“439) und 2) auch nicht die Liebespflichten gegen andere („denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen“440) und 3) schließlich auch nicht die Pflichten gegen sich selbst enthalte. Diese Einwände wollen wir nun vor dem Hintergrund des Verständnisses der Goldenen Regel, das wir bislang herausgearbeitet haben, im Einzelnen kritisch untersuchen. aa) Schuldige Pflichten gegen andere: Das Richter-Dilemma Kant bringt gegen die Goldene Regel zunächst den schon von Pufendorf441 erhobenen Einwand des Richter-Dilemmas vor: Die Regel könne nicht allgemein gelten, weil dann der Richter einen Verbrecher freisprechen müsste, anstatt ihn zu verurteilen.442 Denn selbstverständlich würde der Richter wünschen, freigesprochen zu werden, wenn er sich selbst in der Situation des Verbrechers befände. Zur Klärung des Einwandes wollen wir entsprechend des interdisziplinären Ansatzes unserer Untersuchung das aufgeworfene Dilemma zunächst aus der entwicklungspsychologischen Perspektive von Kohlbergs Typologie der Stufen der moralischen Urteilsbildung betrachten und uns so gerüstet dann der Klärung des Dilemmas aus der Perspektive der Rechtsphilosophie zuwenden. Wir haben gesehen, dass Verständnis und Anwendung der Goldenen Regel im Verlauf des menschlichen Reifungsprozesses vor allem im Alter zwischen 4 und 16 Jahren einer kontinuierlichen Entwicklung unterworfen sind. Kohlberg hat in seiner empirischen Untersuchung nachgewiesen, dass die Probanden, werden sie mit klassischen ethischen Dilemmata konfrontiert, diese auf der ersten Stufe zunächst im Sinne des Vergeltungs- und Austauschdenkens der Talion und sodann auf der dritten Stufe im Sinne eines Rollentausches lösen,
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Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. 441 v. Pufendorf, De jure naturae et gentium (1672), S. 181 (II., 3 § 13 a.E.). Englische Übersetzung bei v. Pufendorf/Oldfather/Oldfather, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 205: „Sharrock, De Ofliciis secundum Jus Naturae, chap, ii, n. 11, however, does not feel that this rule is universal, since under it a judge who was going to pass sentence upon some highway robbers would have to acquit them, as he most certainly, if put in their place, wouldwish his own life to be spared“. Allerdings hatte schon Pufendorf selbst vor einer eindimensionalen Anwendung der Regel gewarnt. Vgl. ebenda sowie unten S. 319. 442 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. 440
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der allerdings nicht vollständig, sondern nur einseitig und selektiv erfolgt. Erst auf der sechsten Stufe wird ein vollständiger, multilateraler Rollentausch vorgenommen, wobei jeder in seinen Vorstellungen die Rolle jedes anderen Beteiligten und die aus ihr erwachsenden Ansprüche berücksichtigt. Wir sind weiterhin zu der Schlussfolgerung gelangt, dass ein dieser Stufe entsprechendes Verständnis eine Auslegung und Anwendung der Goldenen Regel ermöglicht, die ihrem Wesen und den Anforderungen an ein formales, allgemeingültiges, empirisch evidentes und praktisch anwendbares Rechtsprinzip umfassend gerecht wird. Zugleich haben wir Parallelen zu dem von Fisher, Ury und Patton entwickelten Harvard-Modell des integrierten Verhandelns aufgespürt, das ebenfalls einen entsprechenden Rollen- und Perspektivwechsel vorsieht.443 Wenden wir die Ergebnisse Kohlbergs nun auf unser Richterdilemma an, so ergibt sich der Befund, dass der von Kant vorgenommene Rollenwechsel zwischen Richter und Verbrecher, weil er einseitig und selektiv erfolgt, der dritten Stufe der moralischen Urteilsbildung des Menschen und damit lediglich dem Niveau entspricht, das von Kindern im Alter von 10 bis 16 Jahren erreicht wird.444 Ein solches nominalistisches Verständnis stellt entwicklungspsychologisch noch keinen reifen Gebrauch der Goldenen Regel dar. Denn die einseitig an den Richter gestellte Frage, wie er denn gern behandelt werden würde, wenn er an der Stelle des Verbrechers wäre, ist bereits angesichts des Anspruchs eines vollständigen, multilateralen Rollentauschs unzulässig. Zu fragen ist somit nicht lediglich danach, wie der Richter in der Rolle des Verbrechers, sondern wie vielmehr jeder Beteiligte in der Rolle jedes Beteiligten handeln würde.445 Zu fragen ist damit also auch der Verbrecher, wie er in der Position des Richters oder auch seines Opfers gehandelt hätte. In beiden Fällen würde die Antwort lauten: Nach Recht und Gesetz. Ein solcher von Kohlberg geforderter vollständiger, multilateraler Rollentausch hat letztlich die Distanzierung von der aktuellen Betroffenheit der Beteiligten zur Folge und macht aus einem konkreten einen hypothetischen Fall, der unvoreingenommen und 443 Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. 444 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 24. 445 Auf diesen Einwand hatte bereits Pufendorf hingewiesen: „But the rule will remain consistent, if it be borne in mind that not simply one but both scales are to be considered; that is, I must consider not only what suits me, but also what obligation or duty rests upon the other, and what I can demand of him without damaging our mutual obligation. We confess, however, that this rule cannot be held to be a basic axiom of the law of nature, since it is a corollary of the law. that we should regard ourselves as on the same level with other men, and therefore can be proved a priori.“ v. Pufendorf, De jure naturae et gentium (1672), S. 181 (II., 3 § 13 a.E.). Englische Übersetzung bei v. Pufendorf/Oldfather/Oldfather, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 205. Vgl. zur Bedeutung des Rollentauschs im Rahmen der Goldenen Regel Leibniz, New essays on human understanding (2. Aufl. 1996), Book 2, Chapter II, § 8. Vgl. hierzu oben S. 306, Fn. 364.
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damit gleichsam aus der Perspektive eines neutralen Beobachters zu beurteilen ist. Zum gleichen Ergebnis ist auch die philosophische Forschung in der Auseinandersetzung mit dem Richterdilemma gelangt. So kommt bereits Reiner in einer Deutung der Goldenen Regel als Autonomieregel zu der Schlussfolgerung, dass „ich eben (will), daß jeder Richter stets gerecht urteilt; und ich will es auch dann noch, wenn ich selbst dadurch unangenehm betroffen werde.“446 Denn der Einzelne erkennt ein bestimmtes Verhalten nicht nur als richtig, sondern anerkennt es auch als Maßstab des eigenen Handelns und macht es sich als Wert seiner autonomen Persönlichkeit zu eigen.447 Auch Singer lehnt die von Kant seinem Einwand offenbar zugrunde gelegte, am Wortsinn klebende partikuläre Interpretation der Goldenen Regel – „Handele anderen gegenüber so, wie Du es von ihnen konkret erwartest, dass sie Dir gegenüber handeln“ – grundsätzlich als untauglich ab, weil sie zu nicht sachgerechten Ergebnissen führen muss, und hält stattdessen eine generelle Interpretation für angemessen, wonach der andere nach denselben Standards und Prinzipien zu behandeln ist, wie der Handelnde sie für sich selbst in Anspruch nimmt. Während der Richter im ersten Fall nicht will, dass er verurteilt wird, so will er doch zumindest, dass er nach Recht und Gesetz behandelt wird, weil er dies auch sonst im Hinblick auf andere und auf die Rechtsordnung insgesamt erwartet. Ebenso kommt Hare auf der Grundlage seiner modifiziert-partikulären Auslegung448 zu dem Schluss, dass die Frage, was jemand erwarten und sich wünschen würde, wenn er in der Position des anderen wäre, von vornherein unzulässig ist und stattdessen zu fragen sei, wie jemand in einem hypothetischen Fall handeln würde, wenn er sich in der Rolle des anderen befände. Denn die Entscheidung des Richters wirkt sich nicht allein in der bilateralen Beziehung zwischen Richter und Verbrecher aus, sondern betrifft die Rechtsgemeinschaft als Ganzes. Entsprechend dem von Kohlberg geforderten vollständigen, multilateralen Rollentausch muss sich der Richter daher nicht nur fragen, wie er selbst behandelt werden möchte, wenn er der Angeklagte wäre. Vielmehr muss er sich darüber hinaus mit der Frage auseinandersetzen, welche Behandlung er erwarten würde, wenn er sich in der Rolle eines jeden beliebigen Mitglieds der Rechtsgemeinschaft und damit auch in der Rolle des Opfers des Angeklagten befände.449 Die Nähe zum Rawls‘schen Schleier des Nichtwissens der zum Abschluss eines Gesellschaftsvertrags berufenen Personen im fiktiven Urzustand nach Rawls Theory of Justice ist unübersehbar. Und tatsächlich hält neben
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Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 90 f. Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 90 f. 448 Begriff nach Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 460. 449 Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 330 f. 447
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Hare auch Kohlberg eine second order interpretation der Goldenen Regel entsprechend der sechsten Stufe der moralischen Urteilsfähigkeit und Rawls Theory of Justice in ihren normativen Auswirkungen für funktional äquivalent.450 bb) Exkurs: Von den Positionen zu den Interessen Die von der konkreten Befangenheit der Beteiligten distanzierende second order interpretation der Goldenen Regel hat noch eine weitere Konsequenz, die durch die Verwandtschaft der Goldenen Regel mit Rawls Theory of Justice bestätigt wird: Wenn nicht nur die eigene Perspektive oder die des anderen, sondern die jedes beliebigen Beteiligten in jeder der betroffenen Rollen maßgebend ist, dann sind Maßstab des Handelns nicht mehr die vordergründigen Wünsche, Launen und damit letztlich die Positionen, sondern vielmehr die eigentlichen und zwar wohlverstandenen Interessen des Einzelnen. Denn eine „Inversion“ der Goldenen Regel, wonach die unmittelbar Betroffenen allein zu fragen sind, wie sie denn gern behandelt werden wollten, müsste zu dem Ergebnis führen, dass jeder nach seinen aktuellen Wünschen und Neigungen zu behandeln wäre, und zwar unabhängig davon, ob diese mit seinen tatsächlichen wohlverstandenen Interessen oder denen seiner Mitmenschen übereinstimmen.451 Auf dieser Grundlage lässt sich auch der Einwand entkräften, dass die Goldene Regel davon ausgehe, dass alle Menschen das Gleiche wollen bzw. nicht wollen, dies jedoch in der Realität nicht der Fall sei. Der auf den ersten Blick einleuchtende Einwand betrifft indes ein klassisches Problem, das auf interpretativer Ebene gelöst ist. Denn es beschreibt ja den bereits besprochenen Fall des Angeklagten, der nicht bestraft, des Jazzmusikers, der trotz ruhesuchender Nachbarn ungestört weiterspielen, des Betrunkenen, der mit dem Auto nach Hause fahren will und die angebotene Hilfe eines Freundes ablehnt. Man könnte meinen, beide Seiten wollen etwas Verschiedenes: Der Staat bestrafen, der Dieb nicht bestrafen, der Musiker Musik, der Nachbar Ruhe, der Betrunkene selbst fahren, der Freund ihn und andere davor bewahren. Worum es geht, ist indes etwas gänzlich anderes. Als Rechtsprinzip ist die Regel nämlich einer wortwörtlichen, nominalistischen Auslegung nicht zugänglich. Denn in der Tat hat jedes menschliche Wesen in vielfacher Hinsicht dieselben Interessen, im Kern das Interesse nach der vollen Entfaltung seines Seins, seiner Anlagen, seiner Person. Daraus folgt ein Interesse jedes Menschen nach der Gewährleistung seiner physischen Grundbedürfnisse, dem Schutz seiner subjektiven Rechtsgüter und damit der Gewährleistung der objektiven Rechtsordnung. Dazu gehört auch der Schutz vor Straftaten, den ja auch der Dieb für 450 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 199. Vgl. dazu auch Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 459. 451 Hoche, ZphF 32 (1978), 355, 365.
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sich in Anspruch nimmt, wenngleich er die daraus folgenden Konsequenzen nicht zu tragen bereit ist. Er will zweifellos nicht verletzt, bestohlen oder in sonstiger Weise geschädigt werden und erkennt im Grundsatz selbstverständlich die Rechtsordnung an. Dass er ein Ganove ist und im Zweifelsfall die Konsequenzen tragen muss, ist ihm bewusst und er nimmt dies als Risiko in Kauf. In gleicher Weise hat auch der Musiker wie der Nachbar ein Bedürfnis, nicht gestört, am Schlaf gehindert oder belästigt zu werden. Denn wenn eine Schar von Kindern das Fenster des Musikers mit Schneebällen traktiert, während dieser hochkonzentriert mit dem Einstudieren eines Stückes beschäftigt ist, wird er wie der Nachbar reagieren und selbstverständlich sein Recht auf Ruhe mit Vehemenz einfordern. Und dass es im wohlverstandenen Interesse des Betrunkenen liegt, ihn und seine Mitmenschen vor einer Trunkenheitsfahrt und damit potentiell vor erheblichen, möglicherweise sogar lebensgefährlichen Verletzungen zu bewahren, auch wenn er dies im Zustand der Trunkenheit nicht will, wird schwerlich zu bestreiten sein.452 Im Kern geht es somit darum, die Lebensbedingungen, die lebensnotwendigen Interessen des anderen, die der Einzelne von sich selbst als Individuum kennt, auch anderen zuzugestehen, weil der Mensch in den Grundbedingungen seiner Existenz gleich und aufeinander angewiesen ist. Daher bedeutet auch die Parallele zwischen der Goldenen Regel, Kohlbergs Typologie der Stufen moralischer Urteilsbildung und dem Gedankenexperiment des Schleiers des Nichtwissens nach Rawls Theory of Justice, der wir im vorangegangenen Abschnitt nachgegangen sind, freilich nicht, dass die Goldene Regel entsprechend eines prozeduralen Gerechtigkeitsmodells in der Lage wäre, materielle Inhalte allein aus dem Verfahren heraus zu generieren. Dass dies aus logischen Gründen nicht möglich ist, haben wir bereits im Zusammenhang mit unserer Untersuchung der prozeduralen Gerechtigkeitstheorien gesehen. Stattdessen muss auch sie auf unverfügbare, materielle Grundwerte zurückgreifen, vermag diese jedoch vermittelt durch die konkreten Interessen der Beteiligten zu aktualisieren und so für die Konfliktlösung nutzbar zu machen. Dies geschieht dadurch, dass sie 1) einen Zugriff auf jene überpositiven „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent … sind“453 ermöglicht, diese 2) durch die Auseinandersetzung mit den Interessen der Beteiligten in einer konkreten Situation aktualisiert und 3) durch einen multilateralen Rollentausch für die Lösung eines konkreten Handlungsproblems mobilisiert. Die Goldene Regel ist damit das Instrument, mit dem unverfügbare Wertpostulate für die praktische Alltagsmoral nutzbar gemacht und auf diese Weise gleichsam zum Leben erweckt werden. Die dem Einzelnen
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Hoche, ZphF 32 (1978), 355, 362. BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebungen durch den Verfasser. 453
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im Wege praktischer Vernunft zugänglichen überpositiven Wertmaßstäbe definieren dabei die objektive („wohlverstandene“), die konkreten Bedürfnisse dagegen die subjektive Seite („Interessen“) der Kategorie der wohlverstandenen Interessen, die als Maßstab des geforderten Verhaltens herangezogen werden. Ein solcher Schritt von den Positionen hin zu den Interessen stellt nun aber den Kern der von der Verhandlungstheorie entwickelten Methode des integrierten Verhandelns nach dem Harvard-Modell dar. Danach ist eine dauerhafte, nachhaltige und beziehungsschonende Lösung von Konflikten erst dann möglich, wenn sich die Parteien von ihren Rechtspositionen lösen und den Sachinteressen zuwenden, die dem Konflikt eigentlich zugrunde liegen. Die Parallele der aus rechtsphilosophischer Perspektive notwendigen multilateralen Anwendung der Goldenen Regel und ihre Verwandtschaft zu Rawls Theory of Justice, der entwicklungspsychologisch nach Kohlberg zum reifen Gebrauch der Regel erforderlichen sechsten Stufe moralischer Urteilsbildung und dem in der verhandlungstheoretischen Forschung entwickelten Harvard-Modell legt den Schluss nahe, dass wir auf ein übergreifendes Prinzip von universaler Geltung gestoßen sind, das seit ältester Zeit in der Goldenen Regel überliefert ist und das in der Mediation als Kern der weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassenden weltweiten ADR-Bewegung und hier insbesondere in der Mediation seine moderne Ausprägung gefunden hat. Denn es das Mediationsverfahren, das in seiner Struktur auf einen Perspektivwechsel hin ausgerichtet ist, weil eine privatautonome Integration gegenseitiger Parteiinteressen notwendig einen umfassenden, multilateralen Rollentausch voraussetzt. cc) Liebespflichten gegen andere: Das Misanthropen-Dilemma Vor dem Hintergrund unserer Überlegungen ist damit auch der zweite Einwand Kants gegenstandslos geworden, nämlich dass die Goldene Regel nicht die Liebespflichten gegenüber anderen enthalte, weil mancher sich nämlich keine Wohltaten erweisen lassen möchte, um selbst den anderen keine erweisen zu müssen454. Der Einwand des Misanthropen-Dilemmas ist bereits aus zwei Gründen zurückzuweisen: Zum einen beruht er, wie schon der Verweis auf das Richterdilemma, auf einem einseitigen und damit unvollständigen Rollenwechsel, der lediglich der dritten Stufe in Kohlbergs Typologie moralischer Urteilsbildung und damit dem Entwicklungsniveau eines 10 bis 14-jährigen Kindes entspricht. Denn für einen reifen Gebrauch der Goldenen Regel genügt es keineswegs, sich nur scheinbar in die Situation des anderen zu versetzen und 454
Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. Ähnlich v. Pufendorf, De jure naturae et gentium (1672), S. 181 (II., 3 § 13 a.E.). Englische Übersetzung bei v. Pufendorf/Oldfather/Oldfather, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 205: „I would have to lend a poor petitioner as much as he wished, since I would wish the same if I were in want; I would have to clean his shoes for my servant, since I regularly ask of him to do the same for me.“
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der Beurteilung dabei allein seine eigenen Interessen, Wünsche und Bedürfnisse zugrunde zu legen. Ein vollständiger, multilateraler Rollenwechsel setzt vielmehr voraus, dass sich der Handelnde nicht nur in die Situation versetzt, in der sich sein Gegenüber befindet, sondern diese auch aus der Perspektive des anderen betrachtet, dabei also dessen Interessen, Wünsche und Bedürfnisse unterstellt und so vollkommen in die Rolle des anderen schlüpft („put yourself into their shoes“)455. Die im Schrifttum zum Teil geäußerte Ansicht, dass dennoch die eigenen Interessen als Maßstab heranzuziehen sind, bedeutet, wie wir bereits gesehen haben, nichts anderes, als dass der Standard des Umgangs, den der Einzelne für sich selbst in Anspruch nimmt, als Richtschnur auch für das eigene Handeln gelten muss. Ebenso, wie der Einzelne von anderen zu Recht erwartet, in seinen Interessen respektiert und entsprechend seiner Bedürfnisse behandelt zu werden, so ist ihm aus ebendiesem Grund die reziproke Pflicht auferlegt, die Interessen und Bedürfnisse seines Gegenübers anzuerkennen und in seinem eigenen Handeln zu berücksichtigen. Die Tatsache, dass dieser Anspruch in der Realität aufgrund der zum Teil wahrnehmungsbedingten Fixierung des Einzelnen auf seine eigenen Interessen regelmäßig zurückgesetzt wird, bildet einen der wesentlichen rechtspraktischen Geltungsgründe der Goldenen Regel und ihrer Forderung, dem anderen gerade dasselbe Maß an Anerkennung der Interessen zuzubilligen, das der Einzelne für sich selbst in Anspruch nimmt. Während der Standard des geforderten Verhaltens den eigenen Erwartungen des Handelnden entnommen wird, wird sein Inhalt dagegen entsprechend des geforderten Rollentausches durch die Interessen des Gegenübers bestimmt. Bedeutet dies, um die offensichtliche Tendenz der Diskussion zu absurden und irrealen Beispielen aufzugreifen,456 dass gegenüber einem Masochisten die Pflicht bestünde, diesen zu schädigen, weil er es so will, es die Pflicht einer Mutter wäre, ihren Kindern wunschgemäß pausenlos Eis und Schokolade zu kaufen, oder dass ein Betrunkener nicht an seinem ausdrücklichen Wunsch des Autofahrens gehindert werden dürfte?457 Keineswegs. Eine solche Deutung würde nämlich dem nach der sechsten Stufe in Kohlbergs Typologie der moralischen Urteilsbildung geforderten vollständigen, multilateralen Rollentausch widersprechen, der gerade verlangt, dass jeder der Beteiligten die Situation aus der Perspektive jedes anderen beurteilt, mit der Folge, dass aus einem
455 Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23. Zum Perspektivwechsel BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. 456 Kritisch gegenüber Pufendorf und dem von ihm geprägten Diskussionsstrang, dem letztlich auch Kant und damit die kritische Diskussion des 20. Jahrhundert folgt, MayerMaly, FS Söllner (2000), S. 755, 759. 457 Mit diesen Beispielen Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 362.
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konkreten ein hypothetischer Fall wird. Maßgebend sind, wie wir gesehen haben, stattdessen die tatsächlichen, wohlverstandenen Interessen des anderen, nicht dagegen die von ihm geltend gemachten Positionen. Der Einwand Kants ist daher auch aus diesem Grund zurückzuweisen. dd) Pflichten gegen sich selbst: Das Trunkenheitsfahrt-Dilemma Die Differenzierung zwischen geltend gemachten Positionen und tatsächlichen Interessen, die wir im Gang unserer Untersuchung als wesentlichen Maßstab für den reifen Gebrauch der Goldenen Regel herausgearbeitet haben458, ist in besonderer Weise im Hinblick auf den dritten Einwand Kants, die Goldene Regel enthalte keine Pflichten gegenüber sich selbst459, relevant. Wenden wir Kants Argument auf das fiktive Problem einer Trunkenheitsfahrt an, so würde entsprechend der Goldenen Regel, jede Fahrt im Zustand der Fahruntüchtigkeit zulässig sein, wenn eine Gefährdung anderer vollkommen ausgeschlossen ist, etwa weil sie auf einem stillgelegten Betriebsgelände erfolgt und ausschließlich eine Selbstgefährdung des Trunkenheitsfahrers vorliegt. Denn der von Kant vorgetragenen These liegt offenkundig die Annahme zugrunde, dass die subjektiven Wünsche und Positionen des Einzelnen als Handlungsmaxime allein nicht maßgebend sein können, sondern dass es darüber hinaus wohlverstandene Interessen des Einzelnen geben muss, aus denen sich objektive Handlungspflichten ergeben. Dieser Annahme ist, wie wir gesehen haben, uneingeschränkt zuzustimmen. Der Einwand Kants kann dagegen aus mehreren Gründen nicht aufrechterhalten werden. Zunächst ist bereits die Annahme, bei der Goldenen Regel handele es sich nicht um ein allgemeines Gesetz, weil sie keine Pflichten gegen sich selbst enthalte, nicht schlüssig. Denn für die Qualifikation als universales, allgemeingültiges Handlungsgebot ist es keineswegs erforderlich, dass dieses Pflichten gegenüber dem Einzelnen selbst formuliert. Im Gegenteil zeigt bereits ein Blick auf die Rechtswirklichkeit positiver Rechtsetzung, etwa den Inhalt der Grundrechte des Grundgesetzes, deutlich, dass die Normen nahezu ausnahmslos Handlungsgebote gegenüber anderen enthalten. So ist das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zweifellos ein allgemeines Gesetz, dies sogar im formellen Sinn, obwohl es ausschließlich Handlungspflichten gegenüber anderen enthält. Denn der Fall, dass der Handelnde mit sich im
458
Vgl. hierzu oben S. 15 f. Vgl. hierzu Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff.; Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27, 30 (2000); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff., 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 46 f., 167 ff. 459 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68.
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Widerstreit liegt und sich selbst in der Äußerung seiner eigenen Meinung beschränkt, ist nicht denkbar. Verhaltensgebote gegenüber Dritten stellen somit den Regelfall, Pflichten gegenüber sich selbst dagegen die Ausnahme dar. Dies gilt zudem in einem Maße, dass sich die Frage aufdrängt, ob der Begriff des Gesetzes definitionsgemäß überhaupt Pflichten gegenüber sich selbst enthalten kann, auch wenn dieser – wie bei Kant – keineswegs im Sinne eines formellen Gesetzes, sondern wohl eher als Rechtsprinzip zu verstehen ist. Auf diese Frage kommt es hier indes nicht an, weil nämlich auch dann, wenn der Begriff des allgemeinen Gesetzes auch Tugenden und Pflichten gegen sich selbst umfassen würde, die mangelnde Subsumierbarkeit der Goldenen Regel unter den Gesetzesbegriff ihrer Funktionalität in keinster Weise Abbruch täte. Die Regel als „Summe der vom Menschen erwarteten Verhaltensweisen“460 und als verbindlicher Maßstab der Lebensführung ist in der Tat eine soziale und damit eine das Verhalten der Menschen zueinander regelnde Norm. Dies allein ist indes kein Malus, sondern eine Beschreibung ihres Anwendungsbereiches. Die Kritik Kants ist jedoch vor allem aus einem weiterreichenden Grund nicht überzeugend: Sie ist in ihrem Kern unzutreffend, weil die regula aurea nämlich durchaus Pflichten des Einzelnen gegenüber sich selbst enthält. Sie enthält diese und muss sie enthalten, weil Pflichten gegenüber dem Einzelnen selbst im sozialen Pflichtenkanon notwendig mit enthalten sind. So hat bereits Cadoux überzeugend gezeigt, dass die auf den ersten Blick einsichtige Unterscheidung zwischen Pflichten gegenüber sich selbst und solchen anderen gegenüber allenfalls theoretisch getroffen werden kann, praktisch jedoch kaum vorstellbar ist.461 Denn es ist nahezu keine menschliche Handlung denkbar, die nicht entweder direkt oder indirekt zu Auswirkungen bei anderen führt. Die Pflichten gegenüber sich selbst und die Pflicht gegenüber anderen bilden danach die objektive und die subjektive Seite desselben Prinzips.462 Deutlich wird dieser Zusammenhang, wenn wir unser Trunkenheitsfahrts-Dilemma betrachten: Denn die Unzulässigkeit der Fahrt ergibt sich aus der Gefahr möglicher Schädigungen, und zwar sowohl im Hinblick auf den Fahrer selbst als auch im Hinblick auf andere. Der geforderte vollständige, multilaterale Rollentausch setzt nämlich gleichsam aus der Perspektive des neutralen Beobachters eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen, wohlverstandenen Interessen, und zwar nicht nur mit denen des anderen, sondern auch der eigenen voraus. Diese sind hier identisch und stellen sich in der Tat als Kehrseiten ein und desselben Rechtsguts dar: Denn der Trunkenheitsfahrer wie auch die übrigen Beteiligten teilen das
460 Heiligenthal, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 573, 573. 461 Cadoux, 22 Int. J. Ethics 272, 273 (1912). 462 Cadoux, 22 Int. J. Ethics 272, 273 (1912).
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gleiche Interesse, vor Schädigungen bewahrt zu bleiben. Darauf, dass der Betrunkene den Wunsch äußert – übertragen in die Terminologie der Verhandlungstheorie: die Position vertritt –, seine Trunkenheitsfahrt gleichwohl anzutreten, kommt es nicht an. Denn zum einen würde er im Zustand der Nüchternheit wollen, dass ihn jemand vor einer selbstschädigenden Fahrt bewahrt. Zum anderen trifft ihn in jedem Fall die Pflicht sich selbst gegenüber, die ihm zustehenden, indes auch von ihm selbst zu respektierenden und damit unverfügbaren Rechtsgüter zu achten und aktiv zu schützen. Zentrale, für die Gewährleistung der Entfaltung des Einzelnen unverzichtbare Rechtsgüter wie das Leben und die Menschenwürde stehen selbst dem einzelnen Grundrechtsträger nicht zur Disposition, „denn der Wert jedes Einzellebens liegt als sittliches Prinzip der gesamten Verfassungsordnung zugrunde.“463 Die Goldene Regel ist in ihrem Wesen darauf ausgerichtet, durch die gegenseitige Gewährleistung dieser Grundbedingungen des Lebens die volle Entfaltung der individuellen und sozialen Anlagen des Einzelnen zu ermöglichen. Das Interesse an einem dieses Ziel fördernden Verhalten besteht nicht nur im Hinblick auf andere, sondern auch und vor allem im Hinblick auf den Einzelnen selbst. Damit ist auch der dritte Einwand Kants zurückzuweisen. In der Auseinandersetzung mit der Kritik Kants hat die regula aurea damit ihre inhaltliche Tauglichkeit bewiesen, der Einigungsentscheidung als Parteien als Beurteilungsmaßstab zugrunde gelegt zu werden. i) Die Goldene Regel und der kategorische Imperativ Zu klären ist indes ihr Verhältnis zum kategorischen Imperativ Kants. Denn der „Alleszertrümmerer“464 Kant war mit nicht weniger als dem Anspruch angetreten, die Goldene Regel als seit ältester Zeit über Epochen und Kulturen hinweg überlieferte „sittliche Grundformel der Menschheit“465 durch das von ihm erdachte Prinzip des kategorischen Imperativs als nunmehr höchstem Grundsatz der Moral zu ersetzen. Ziel dieses Bemühens war eine neue Ethik. Zwar war Kant von Anbeginn an bewusst, dass dem von ihm konstruierten kategorischen Imperativ als Kunstprodukt von vornherein etwas Artifizielles anhaften würde, „die gemeine Menschenvernunft“466 sich ihn doch „nicht so in
463
Maunz/Dürig/DiFabio, GG (80. EL. 2017), Art. 2 Abs. 2 S. 1 Rn. 47. So Röd, Der Weg der Philosophie II (2. Aufl. 2009), S. 158 (eine ursprünglich bis Mendelssohn zurückzuverfolgenden Bewertung Kants aufgreifend). 465 Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 74. 466 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 17. Hierauf hinweisend Hruschka, JZ 1987, 941, 950. 464
IV. Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren
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einer allgemeinen Form abgesondert denkt“467. Dennoch war auch er der Ansicht, dass der Einzelne „das gedachte Princip jederzeit vor Augen“468 habe und jede Person es „zum Richtmaaße ihrer Beurtheilung“469 benutze. Die Rolle, die dem „gedachte(n) Princip“470 des kategorischen Imperativs in der tatsächlichen Rechtswirklichkeit, im Rechtsdenken, in der Alltagsmoral und damit auch in der Mediation zukommt, wird angesichts der empirischen Untersuchung Kohlbergs und des Befundes, der eine kontinuierliche und kulturübergreifende Kenntnis der Goldenen Regel über die gesamte Spanne der entwickelten Kulturgeschichte des Menschen nachweist, damit sicherlich weit überschätzt. Gleichwohl spielt er in der Diskussion und im Rechtsbewusstsein als theoretische Kategorie der Ethik sowie als beliebtes Argumentationstopos nach wie vor eine erhebliche Rolle, wenngleich seine praktische Bedeutung, wie Kohlberg gezeigt hat, wohl eher gering geblieben ist. Im Kontext des ethischen Diskurses ist er als Bezugsgröße, auf die reflexhaft als höchstes Prinzip der Moral und oberstes Handlungsgebot der modernen Philosophie verwiesen wird, nach wie vor von Bedeutung, auch wenn dieser Verweis oft formelhaft erfolgt und das Prinzip seinem Inhalt nach tatsächlich nicht immer bekannt ist, noch weniger in der Rechtspraxis oder im Alltag dem Handeln des Einzelnen als Maxime praktischer Moral zugrunde gelegt wird. Damit ergibt sich das erstaunliche Ergebnis, dass der ethische Diskurs mit dem kategorischen Imperativ von einem Prinzip dominiert wird, das als philosophisches Theorem zwar im ethischen Bewusstsein der Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt, in der praktischen Alltagsmoral jedoch praktisch ohne Anwendungsbereich geblieben ist, während die Goldene Regel als organisch gewachsene „sittliche Grundformel der Menschheit“ und „elementare(s) Gesetz allen Rechts schlechthin“471, wie Kohlberg gezeigt hat, für die Alltagsmoral und den menschlichen Reifungsprozess moralischer Urteilsfähigkeit zwar nach wie vor von erheblicher Bedeutung, in der ethischen Diskussion gleichwohl durch den kategorischen Imperativ Kants weitgehend verdrängt worden ist. Die Ursachen für diese Entwicklung und insbesondere die Rolle Kants in diesem Prozess haben wir bereits betrachtet und zugleich eine Renaissance der Goldenen Regel in der rechtsphilosophischen Diskussion festgestellt.472 Vor diesem
467 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 17. Hierauf hinweisend Hruschka, JZ 1987, 941, 950. 468 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 17. Hierauf hinweisend Hruschka, JZ 1987, 941, 950. 469 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 20. Hierauf hinweisend Hruschka, JZ 1987, 941, 950. 470 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 17. Hierauf hinweisend Hruschka, JZ 1987, 941, 950. 471 Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. 472 Vg. oben S. 314. f
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
Hintergrund zweier konkurrierender Bewertungsmaßstäbe unterschiedlicher praktischer und argumentativer Bedeutung ist die Eignung des kategorischen Imperativs als Maßstab für die Einigungsentscheidung der Parteien im Mediationsverfahren näher zu untersuchen. Die Analyse wird gleich zu Beginn durch die Tatsache erschwert, dass Kant nicht weniger als fünf verschiedene Formeln für den kategorischen Imperativ entwickelt hat473, wobei die Universalisierungsformel wohl als die am weitesten verbreitete anzusehen ist: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ In sie sind sowohl Elemente der von Kant zuvor als „trivial“ abgelehnten Goldenen Regel als auch des Prinzips der Verallgemeinerung eingeflossen. Ein vergleichender Blick auf beide Prinzipien zeigt jedoch, dass sich regula aurea und kategorischer Imperativ deutlich in den sie tragenden Leitideen unterscheiden: Während erstere dem Prinzip der Gegenseitigkeit und der Zuwendung zum Gegenüber verpflichtet ist, folgt letzterer dem Prinzip der Verallgemeinerung und der Unterordnung unter das Gesetz. Gegenstand des Respekts ist nach dem kategorischen Imperativ nicht der einzelne Mensch, sondern das Gesetz.474 Bestimmte Handlungen sind folglich allein deshalb abzulehnen, weil sie nicht der verallgemeinernden Abstrahierung als allgemeinem Gesetz zugänglich sind, nicht deshalb, weil sie anderen Menschen Schaden zufügen.475 Darüber hinaus lassen sich dem kategorischen Imperativ Kants keine konkreten Verhaltensanweisungen entnehmen, weil er sich mit der auf das bloße Prinzip der Verallgemeinerung rekurrierenden Regel begnügt, dass der Einzelne nach einer Maxime zu handeln habe, die zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Mit der weitergehenden Frage, wie diese Maxime denn konkret beschaffen sei, bleibt der Betroffene dagegen allein.476 Zwar ist auch die Goldene Regel nicht von vornherein im Sinne einer konkreten Handlungsanweisung inhaltlich bestimmt. Jedoch ergeben sich konkrete Verhaltensgebote ohne weiteres aus der Aktualisierung der Regel in ihrer durch Rollentausch vermittelten Anwendung auf eine ganz konkrete Situation und die spezifischen Interessen der Beteiligten. Diese spielen im Rahmen des kategorischen Imperativs jedoch ebenso wenig eine Rolle wie der diese Interessen aufdeckende Rollentausch. Die Interessen der Parteien dürfen nach Kant als Faktor bei der Beurteilung einer Handlung vielmehr a priori gerade nicht
473
Hierzu Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 339 f. Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 344. 475 Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 344. 476 Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 341. In diesem Sinn auch v. Schlieffen, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2002), S. 172, 184: „Genauso selbstverständlich ist, dass sich die Beteiligten diese Lösung konkret und interessengerecht vorstellen; den Maßstab des kategorischen Imperativs (die Entscheidung müsste dazu taugen, zum Gesetz aller zu werden) würde niemand einfordern.“ 474
IV. Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren
339
berücksichtigt werden, weil der „Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft ...“477. Dass dies nicht aufgeht, nicht aufgehen kann, hat Brühlisauer überzeugend gezeigt.478 So begründet Kant etwa in dem Fall, dass jemand einem Notleidenden die Hilfe versagt, die fehlende Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Verhaltensmaxime mit dem Argument, dass sich der Handelnde allen Beistands berauben würde, wenn er selbst der Hilfe bedürfte, und greift damit, ohne es offensichtlich zu beabsichtigen, auf die Goldene Regel und die wohlverstandenen Interessen der Beteiligten zurück. Damit stellt sich in der Tat die Frage nach der Tauglichkeit des kategorischen Imperativs, aus sich selbst heraus – ohne den von Kant abgelehnten Rückgriff auf wohlverstandene Interessen, Neigungen und Bedürfnisse – überhaupt konkrete Handlungsgebote hervorzubringen. Dass der Versuch, aus reiner Form Inhalt zu generieren, tiefgreifenden logischen Bedenken unterliegt und deshalb notwendig scheitern muss, haben wir im Kontext unserer Betrachtung der prozeduralen Gerechtigkeitstheorien gesehen.479 Das aufgezeigte Dilemma und Kants – freilich unbeabsichtigter – Rückgriff auf die Goldene Regel sprechen dafür, dass Kant seiner Forderung, die Interessen der Beteiligten zur Begründung von Handlungsgeboten nicht heranzuziehen, selbst nicht nachzukommen vermag.480 Wenn dies so ist, dann besteht die einzige Möglichkeit, das Prinzip der Verallgemeinerung des kategorischen Imperativs zu retten, darin, es um die jeweiligen Interessen der Parteien und eine Berücksichtigung der beabsichtigten Folgen des Handelns zu ergänzen.481 Dann aber würde das Prinzip des kategorischen Imperativs vollends in der Goldenen Regel aufgehen.482 Nach alledem stellt sich die regula aurea nicht nur aus Gründen praktischer Anwendbarkeit, sondern auch aufgrund des Fehlens innerer Widersprüche als ein dem weitgehend abstrakten Prinzip des kategorischen Imperativs deutlich überlegener normativer Maßstab dar. Aufgrund ihrer Fähigkeit, durch einen multilateralen Rollentausch eine Integration konkreter, wohlverstandener Interessen beider Parteien herbeizuführen, darf sie als ein der Struktur und dem Wesen des Mediationsverfahren zutiefst entsprechender Einigungsmaßstab der Parteien gelten.
477 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), Vorrede S. VI. Hierauf hinweisend Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 341. 478 Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 342 f. 479 Vgl. oben S. 80 ff. 480 Ebenso Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 342. 481 Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 343. 482 Vgl. im Einzelnen hierzu Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 342 f.
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§ 4 Mediation und Gerechtigkeit
7. Zusammenfassende Betrachtung: Die Rolle der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren Fassen wir die wesentlichen Ergebnisse unserer Betrachtung zusammen: Im Gang unserer Untersuchung des dogmatisch noch weitgehend ungeklärten Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess haben wir gesehen, dass das Gesetzesrecht der objektiven Rechtsordnung in Antinomie zum Normensystem des Zivilprozesses in Verhandlungssystemen wie dem Mediationsverfahren als verbindlicher Einigungsmaßstab von den Parteien weitgehend derogiert und durch ein eigenes normatives System ersetzt wird. Auf der Suche nach den normativen Grundsätzen derartiger Verhandlungssysteme und damit zugleich nach dem Wesen der Mediation haben wir das Mediationsverfahren gleichsam „aufgebohrt“ und vor dem Hintergrund der Ergebnisse der interdisziplinären Verhandlungsforschung und der klassischen Gerechtigkeitstheorie näher untersucht. Ausgehend von den Kriterien der Fairness und der Interessengerechtigkeit als den nach dem Schrifttum wesentlichen materiellen Maßstäben für ein gutes Verhandlungsergebnis483 haben wir uns mit den klassischen Konzepten der Tausch-, Verteilungs- und Verfahrensgerechtigkeit beschäftigt und in ihnen den philosophisch-dogmatischen Ursprung des Bezuges auf materielle Kriterien und der Fokussierung auf die Interessen nach dem Harvard-Modell des interessenbasierten Verhandelns identifiziert. Der so gewiesenen Spur folgend sind wir auf die regula aurea als einem seit ältester Zeit die Rechtsentwicklung begleitenden, formalen, empirisch evidenten und praktisch anwendbaren, universalen und allgemeingültigen Rechtsprinzip, dem „elementare(n) Gesetz allen Rechts schlechthin“484 gestoßen und haben u.a. auch im Anschluss an die entwicklungspsychologischen und empirischen Arbeiten Kohlbergs zum multilateralen Rollentausch überraschende Parallelen zum Mediationsverfahren entdeckt. Zugleich haben wir gesehen, dass die regula aurea als Grundprinzip zwar auch der Verfassungsordnung und damit zugleich dem Normensystem des Zivilprozesses zugrunde liegt, in diesem aber eine prozedural unvollkommenere Ausprägung erfahren hat.485 Mit der daraus resultierenden Legitimationskrise des Zivilprozesses, die wir bereits im ersten Teil unserer Untersuchung aus rechtstheoretischer Sicht untersucht haben, und den Konsequenzen für das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess innerhalb einer Konfliktbehandlungslehre werden wir uns in den folgenden Abschnitten näher befassen. Schließlich haben wir die regula aurea
483 Zu den Kriterien eines „guten Ergebnisses“ vgl. oben S. 160 ff., unten S. 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 484 Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. 485 Vgl. hierzu oben S. 231 ff.
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in Ursprung, Rezeption und der Auseinandersetzung mit der Kritik Kants näher untersucht und sie dem konkurrierenden Prinzip des kategorischen Imperativs gegenübergestellt. Als Ergebnis unserer analytischen Betrachtung konnten wir die Tauglichkeit der regula aurea als ein der Struktur und dem Wesen des Mediationsverfahrens zutiefst entsprechenden Maßstab für die Einigungsentscheidung der Parteien nachweisen.486 Aus diesem Befund ergeben sich vielfältige Konsequenzen, die wir im Folgenden näher in den Blick genommen nehmen wollen. I. Struktur. Den Ausgangspunkt unserer Betrachtung bilden dabei die aufgezeigten strukturellen Parallelen zwischen Mediationsverfahren und regula aurea. 1. Interessen und Rollentausch. Der Schritt von den Rechtspositionen zu den Sachinteressen und das Verständnis der gegenseitigen Interessen durch einen perspektivischen Rollentausch der Parteien wird vom verhandlungstheoretischen Schrifttum als wesentliche Voraussetzung für eine dauerhafte, nachhaltige und interessengerechte Konfliktlösung angesehen.487 In der intersubjektiven Orientierung der Parteien aufeinander hin erblickt Fuller das Wesen der Mediation.488 Beide Elemente bilden den Kern interessengerechter Verhandlung nach dem Harvard-Modell. Sie ermöglichen eine Überwindung selektiver Wahrnehmungsverzerrungen auf das Verhandlungsverhalten, wie etwa Überoptimismus, die Illusion der Überlegenheit und die Illusion der Gewissheit, die regelmäßig an der Entstehung von Konflikten beteiligt sind und ihre Beilegung oft wirksam verhindern. Eine dem Mediationsverfahren ähnliche Struktur haben wir in unserer Betrachtung für die regula aurea nachweisen können. Als Regel der Gegenseitigkeit ist sie ebenso wie die Mediation auf einen multilateralen Rollentausch hin ausgerichtet, in dem jede Partei in ihren Vorstellungen die Rolle jedes anderen Beteiligten einnimmt und die Ansprüche berücksichtigt, die aus der jeweiligen Perspektive erwachsen.489 Kohlberg hat in seiner empirischen Untersuchung
486 So bereits Augustinus, Confessiones, I, 18 („scripta conscientia“) sowie die interdisziplinäre, empirische Gerechtigkeitsforschung, etwa grundlegend Ockenfels, Fairneß, Reziprozität und Eigennutz (1999), S. 37 ff., 131 ff.; Güth/Kliemt/Ockenfels, 50 J. Econ. Behav. Organ. 465 (2003); Bolton/Ockenfels, in: Plott/Smith (Hrsg.), Handbook of experimental economics results I (2008), S. 531. 487 Vgl. oben S. 160 ff., unten S. 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 488 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971) sowie oben S. 124 ff. 489 Kohlberg/Boyd/Levine, in: Edelstein (Hrsg.), Zur Bestimmung der Moral (2. Aufl 1996), S. 205, 225. Vgl. hierzu auch Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204 sowie oben S. 250 f.
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nachgewiesen, dass eine derartige „second order interpretation“490 der Goldenen Regel der höchsten Stufe moralischer Urteilsfähigkeit des Menschen entspricht, die im Alter von 13 bis 16 Jahren, insgesamt aber nur von einem Teil der Population der Erwachsenen erreicht wird. Den Maßstab des Verhaltens bilden nach der regula aurea die wohlverstandenen Interessen der Beteiligten, die in ihrem normativen Kern objektiv, in ihrer konkreten Ausprägung subjektiv entsprechend den Bedürfnissen der Parteien zu bestimmen sind. 2. Gerechtigkeit. Das Mediationsverfahren wird seiner Entstehung, seinem Selbstverständnis, seiner Struktur und seiner Funktion entsprechend als gerechtes Verfahren der Billigkeit angesehen. In seiner geschichtlichen Genese ist die ADR-Bewegung als Reaktion auf die Defizite des als weitgehend ungerecht empfundenen US-amerikanischen Justizsystems entstanden, und auch die Institutionalisierung der Mediation in Deutschland folgt dem Verständnis der Mediation als interessengerechterem und damit dem Zivilprozess insoweit überlegenem Verfahren, weil es darauf ausgerichtet ist, die systemimmanenten Schwächen des gerichtlichen Verfahrens auszugleichen und aus diesen Schwächen erwachsende unbillige Ergebnisse zu vermeiden. Im Mediationsverfahren als der New Equity tritt uns eine moderne Ausprägung des Prinzips informalen Billigkeitsrechts gegenüber, wie es materiell im Dualismus von ius honorarium und ius civile, equity und common law, strengem und billigem Recht und prozessual in der Antinomie von transactio und sententia des römischen Rechts sowie Minne und Recht des Mittelalters in Erscheinung getreten ist. Dem entspricht seine Verwandtschaft mit der regula aurea als dem „elementare[n] Gesetz allen Rechts schlechthin“491 Als seit ältester Zeit überliefertes, universal gültiges, über Kulturen hinweg bekanntes Prinzip der Gerechtigkeit, das für die gesamte Spanne der Kulturgeschichte des Menschen von Einfluss gewesen ist492, liegt der Billigkeitsgrundsatz der Verfassungsordnung und damit sowohl dem Zivilprozess als auch der Mediation zugrunde, hat jedoch im Mediationsverfahren als Verfahren der „New Equity“493 seine vollkommenste Ausprägung erfahren. II. Konsequenzen. Aus diesem Befund ergeben sich weitreichende Konsequenzen für das untersuchte Verhältnis von Mediationsverfahren und Zivilprozess. 1. Rechtsphilosophische Begründung. Die vom verhandlungstheoretischen Schrifttum formulierten Grundsätze des Schrittes von den Positionen zu den Interessen und der Notwendigkeit eines perspektivischen Rollentauschs finden 490
Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. 492 Vgl. hierzu nur Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 80 ff., 103 ff.; Schrey, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 575, 575 f. sowie Philippidēs, Goldene Regel (1929); Philippidēs, Forschungsberichte (1933). 493 Vgl. Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 329 ff. (2005). 491
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in der regula aurea als universaler Verhaltensnorm ihre Entsprechung und damit auch ihre rechtsphilosophische Begründung und Legitimation. Sie stellen sich damit nicht lediglich als Schöpfung der modernen ADR-Bewegung dar, sondern treten uns stattdessen als eine a priori notwendige Ausprägung eines auf perspektivische Reziprozität ausgerichteten universalen Gerechtigkeitsprinzips gegenüber, das in der regula aurea geschichtliche Gestalt angenommen hat. Das Mediationsverfahren im Sinne des interessenorientierten Verhandelns nach dem Harvard-Modell ist damit als moderne Ausprägung des Prinzips informaler Billigkeit auch rechtsphilosophisch begründet. 2. Empirische und entwicklungspsychologische Begründung. Die strukturelle Kongruenz des Mediationsverfahrens mit der regula aurea als universalem Prinzip der Gerechtigkeit bestätigt im Zusammenhang mit dem empirischen Befund der universalen Verbreitung der Regel und der entwicklungspsychologischen Arbeiten Kohlbergs die These, dass uns mit der Mediation ein der Natur des Menschen zutiefst entsprechendes, ihm in besonderer Weise eigenes Verfahren gegenübertritt. Denn die Tatsache, dass sich die Regel in ähnlicher Form in den verschiedensten Kulturen und zu den verschiedensten Zeiten findet, legt den Schluss nahe, dass wir mit der regula aurea auf eine ungeschriebene Verhaltensnorm von unmittelbarer Einsichtigkeit und allgemeiner Gültigkeit gestoßen sind.494 Dies muss erst recht für das strukturell kongruente Mediationsverfahren als gleichsam „prozessuale Ausprägung“ der Regel gelten. Darüber hinaus hat Kohlberg auf der Grundlage seiner empirischen Arbeiten überzeugend gezeigt, dass eine auf das Gedankenexperiment des multilateralen Rollentauschs ausgerichtete und daher mit dem Mediationsverfahren kongruente Anwendung der Regel aus entwicklungspsychologischer Sicht als Ziel und Schlusspunkt der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit des Menschen anzusehen ist. Damit ist die der ADR-Bewegung zugrunde liegende Schlussfolgerung, mit dem Mediationsverfahren auf ein natürliches, dem Wesen des Menschen zutiefst entsprechendes Verfahren der Konfliktlösung gestoßen zu sein, geradezu unausweichlich. 3. Mediation und materielles Recht. Für das Mediationsverfahren ergibt sich aus dem Befund der Nachweis der Operabilität von Verhandlungssystemen auch außerhalb eines normativen Rahmens zwingenden materiellen Rechts. Dabei bilden die Grundlage der Einigungsentscheidung der Parteien jene überpositiven „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent“495 sind und die im Gesetzesrecht entweder vollkommen oder „nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt“496 sind. Ihre Aktualisierung
494
Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 492. BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 496 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 495
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erfolgt durch die regula aurea als „Summe der grundlegenden sozialen Pflichten“497. Die Existenz dieser endogenen, nicht kulturell geprägten Wertvorstellung und damit auch die objektive Grundlage der tatsächlichen, wohlverstandenen Interessen der Parteien sind durch Kohlberg nun empirisch belegt. Auswirkungen hat dieser Befund, wie wir sehen werden, für die Diskussion des Naturrechts, der prozeduralen Gerechtigkeitstheorien, der Kritik der Goldenen Regel und der Tauglichkeit des kategorischen Imperativs als Rechtsprinzip. 4. Mediation und Zivilprozess. Im Verhältnis zum gerichtlichen Verfahren ergibt sich das Ergebnis, dass die beiden Verfahrensarten Mediation und Zivilprozess jedenfalls von ihrer Anlage her498 aus demselben Fundus ungeschriebener, der Verfassungsordnung zugrunde liegender Wertmaßstäbe schöpfen. Während diese Normen und Grundprinzipien im Normensystem der objektiven Rechtsordnung in konkretisierender Abstraktion gleichsam in Paragrafen gegossen und im Gesetzesrecht entweder vollkommen oder auch „nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt“499 sind, erfolgt im Verhandlungssystem des Mediationsverfahrens ein unmittelbarer Zugriff auf die im Wege praktischer Vernunft erkennbaren und daher noch nicht durch den Gesetzgeber überformten objektiven Wertgrundsätze. Die systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses einschließlich des auf ein Nullsummenspiel gerichteten binären Schematismus lassen sich dadurch weitgehend vermeiden. Gleichwohl ist auch in der Mediation ein Verfehlen der Realisierung endogener Wertpostulate möglich. Daraus ergibt sich als Konsequenz für die Gestaltung des Mediationsverfahrens die Notwendigkeit, den normativen Gehalt des Gesetzesrechts für die Gewinnung materieller Einigungsmaßstäbe fruchtbar zu machen. Der Tatsache, dass endogene Normen im Gesetzesrecht aufgrund der systemimmanenten Beschränkungen abstrakt-genereller Normen oder aufgrund von Umsetzungsdefiziten im Gesetzesrecht bisweilen nur unvollkommen Ausdruck gefunden haben, wird dabei vor allem durch die Fokussierung auf den Telos Rechnung getragen. Das im verhandlungstheoretischen Schrifttum formulierte Verständnis, dass die Mediation „im Schatten des Rechts“500 erfolge, hat in diesem Verfahrensmechanismus ihren Ursprung. Gelingt es, im Rahmen des Mediationsverfahrens den materiellen Gehalt des positiven Rechts für die Gewinnung entsprechender Wertmaßstäbe fruchtbar zu machen, so vermag die Mediation gerade jenen Wertungen, die der Rechtsordnung insgesamt zugrunde liegen und damit auch dem Grundsatz des Gerechtigkeit in weiterem Umfang Geltung zu verschaffen, als dies im Zivilprozess regelmäßig möglich ist.
497
Heiligenthal, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 573, 573. 498 Vgl. für den Zivilprozess oben S. 231 ff. sowie für die Mediation oben S. 252 ff. 499 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 500 So plastisch Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979).
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5. Verfahrensrechtliche Konsequenzen. Aus dem Befund ergeben sich darüber hinaus weitreichende Konsequenzen für die Gestaltung des Mediationsverfahrens und sein Verhältnis zum Zivilprozess innerhalb einer umfassenden Konfliktbehandlungslehre. a) Primat der Mediation. Die Bedeutung des Mediationsverfahrens, das wir aus rechtsphilosophischer und entwicklungspsychologischer Perspektive sowie darüber hinaus auch im Verhältnis zum materiellen Recht untersucht haben, legt im Zusammenspiel mit unserer rechtstheoretischen Analyse des gerichtlichen Verfahrens und seiner systemimmanenten Schwächen eine Legitimationskrise des Zivilprozesses nahe. Wenn mit der Mediation ein privatautonomes und effizientes Verfahren bereit steht, das regelmäßig zu beiderseits interessengerechten, pareto-optimalen Ergebnissen führt und das sich als ein der Natur des Menschen und dem Prinzip der Gerechtigkeit zutiefst entsprechendes Verfahren darstellt, so ist die Fokussierung der staatlichen Streitbeilegung auf den insoweit defizitären Zivilprozess als „Königsweg“501 substantiell infrage gestellt. Das Primat der Mediation im Kontinuum der Verfahren der Streitbeilegung, das wir im Rahmen unserer vergleichenden Strukturanalyse auf der Grundlage von Fullers Institutionenlehre im Anschluss an Sander herausgearbeitet haben502, ist damit auch aus entwicklungspsychologischer503 und rechtsphilosophischer Perspektive bestätigt.504 Zusammen mit den Ergebnissen der Begleitforschung gerichtsverbundener Mediationsprogramme in Deutschland und unserer Betrachtung der Verfahrensgerechtigkeit der Mediation ergibt sich damit im Verhältnis zum Zivilprozess ein funktionaler Vorrang, der in einer umfassenden Konfliktbehandlungslehre zu berücksichtigen ist. Mit den Grundzügen eines solchen Systems des abgestuften Verfahrenspluralismus und der Umsetzung dieses Systems in einem konkreten Verfahrensmodell werden wir uns in den folgenden Abschnitten und im dritten Teil der Arbeit näher befassen. Neben der rechtspolitischen Relevanz des Befundes ergibt sich darüber hinaus die noch zu untersuchende verfassungsrechtliche Frage, ob und inwieweit der Staat die Engführung des Konfliktbeilegungssystems auf in weiten Teilen defizitäre Instrumente dulden darf und inwieweit ihm nicht die Förderung des Zugangs zu Verfahren der alternativen Streitbeilegung von Verfassung wegen geboten ist. b) Design von Multi-Door Courthouses und obligatorische Mediation. Das Primat des Mediationsverfahrens als effizientes und gerechtes Verfahren der Billigkeit, das durch den Befund unserer Untersuchung gestützt wird, ist neben 501
So Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5. Vgl. zum Primat des Mediationsverfahrens nur oben S. 107 ff. (insbesondere Fn. 23) , S. 110 ff. sowie und unten S. 729 ff., 735 ff., 740 ff. Zu Sanders These des Primats der Mediation vgl. Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32, 41 (2006); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 600 (2007). 503 Hierzu oben S. 249 ff. 504 Hierzu oben S. 92 ff., 110 ff., 168 ff. 177 ff., 182 ff. 502
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seiner dogmatischen Bedeutung für die Entwicklung der Grundprinzipien einer umfassenden Konfliktbehandlungslehre auch im Hinblick auf das Verfahrensdesign von Multi-Door Courthouses von erheblicher praktischer Relevanz. Darüber hinaus stützt unser Befund die Einrichtung obligatorischer Übergänge in das Mediationsverfahren oder andere ADR-Verfahren, wie sie im deutschen Recht nach § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO für das Güteverfahren bzw. nach § 15a EGZPO für das Schlichtungsverfahren vorgesehen sind und wie sie sich im angloamerikanischen Rechtskreis seit Jahrzehnten bewährt haben.505 c) Verfahrensdesign. Konsequenzen ergeben sich aus unserem Befund aber auch für die Ausgestaltung des Mediationsverfahrens selbst. Ein perspektivischer Rollentausch ist für das Verfahren damit ebenso unabdingbar wie eine umfassende Erfassung der tatsächlichen Parteiinteressen, in die sowohl objektive als auch subjektive Elemente Eingang finden sollten. Insbesondere der von den Parteien durchzuführende Rollentausch stellt erhöhte Anforderungen an die Verfahrensleitungskompetenz des Mediators und an seine Fähigkeit, die Parteien zu einem vollständigen, nicht lediglich selektiven Perspektivwechsel zu motivieren. Gelingt dies nicht oder bleiben die Parteien in einem Vergeltungs- oder synallagmatischen Austauschdenken gefangen, so stellt dies keinen reifen Gebrauch normativer Urteilsfähigkeit dar, sondern bewegt sich auf dem äquivalenten Entwicklungsniveau eines 4- bis 14-jährigen Kindes. Daher ist sowohl in der Mediationsausbildung als auch im Qualitätsmanagement, etwa im Rahmen einer Zertifizierung, auf die Schaffung entsprechender Standards hinzuwirken. 6. Konsequenzen für die rechtssoziologische und rechtsphilosophische Diskussion. Im Gang unserer Untersuchung haben wir gesehen, dass die Institutionalisierung der Mediation kein rechtspolitisches Experiment darstellt, sondern eine systemwidrige Verengung aufhebt, die das seit jeher bestehende Gleichgewicht von Recht und Billigkeit, Law und Equity wiederherstellt. Dieses Ergebnis deckt sich mit unserem Befund, der eine Kongruenz des Mediationsverfahrens mit der regula aurea als universalem Grundsatz der Gerechtigkeit nachgewiesen hat und den Erfolg der weltweiten ADR-Bewegung als Rückkehr zu einem dem Wesen des Menschen entsprechenden gerechten und kooperativen Verfahren der Billigkeit erklärbar macht. Mit Abschluss der
505 Vgl. eingehend hierzu Lubet, 4 Ohio St. J. on Disp. Resol. 235 (1989); Nelle, 7 Ohio St. J. on Disp. Resol. 287 (1992); Hutchinson, 42 Loy. L. Rev. 85 85 (1997); Wissler, 33 Willamette L. Rev. 565 (1997); Gordon, 82 Judicature 224 (1999); Menkel-Meadow, Mediation (2001), S. 286 ff.; Macfarlane, 2002 J. Disp. Resol. 241 (2002); Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 158 ff.; Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 78 ff. sowie unten S. 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff., 814. Kritisch Ingleby, 56 Mo. L. Rev. 441 (1993); Eisele, 75 Judicature 34 (1995).
IV. Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren
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Pound Conference506 hat sich mit dem Gütegedanken ein Prinzip Bahn gebrochen, das seit jeher in den unterschiedlichsten rechtlichen Institutionen Gestalt angenommen hatte, für lange Zeit dem Vorrang kontradiktorischer Streitbeilegung weichen musste und nun in den ADR-Verfahren besonderen Ausdruck gefunden hat. Er erklärt darüber hinaus den prägenden Einfluss der Mediation auf den Wandel der Konfliktkultur, dem wir im rechtssoziologischen Teil unserer Untersuchung nachgegangen sind. Die deutlich sichtbaren Tendenzen zur Materialisierung und Entformalisierung des Rechts, des Zurückdrängens heteronomer Steuerungsmechanismen und des Wechsels zur kooperativen Steuerung fügen sich in den dargestellten Befund ein. Gleichsam en passant hat die Untersuchung einen klärenden Beitrag zu einigen wesentlichen rechtsphilosophischen Fragestellungen erbracht: Vor dem Hintergrund der Analyse des Mediationsverfahrens im Vergleich zum Zivilprozess stützt der Befund die grundsätzliche Kritik Kaufmanns an prozeduralen Gerechtigkeitsmodellen507 und eröffnet einen neuen Blick auf die Naturrechtsdiskussion, die bereits von Radbruch508 mit dem Gütegedanken in Verbindung gebracht worden war. In der Auseinandersetzung mit der Kritik Kants509 und dem konkurrierenden Prinzip des kategorischen Imperativ wurde die regula aurea einer umfassenden inhaltlichen Prüfung unterzogen und ihre Tauglichkeit als universales Rechtsprinzip und als praktischer Maßstab für die Einigungsentscheidung der Parteien im Mediationsverfahren nachgewiesen.510 Dem interdisziplinären Ansatz der Arbeit folgend, wurden die weitgehend auf rechtsphilosophischer Ebene geführte Diskussion durch die Arbeiten Kohlbergs um eine empirisch-entwicklungspsychologische Perspektive ergänzt und durchgreifende logische Schwächen des kategorischen Imperativs aufgedeckt, die seine Eignung als praktisch anwendbares Rechtsprinzip und seine Tauglichkeit als ein bei der Einigungsentscheidung der Parteien in der Mediation zu berücksichtigendes Kriterium substantiell infrage stellen. Insgesamt hat die Untersuchung gezeigt, dass das Mediationsverfahren eine Reihe zentraler, heftig diskutierter rechtsphilosophischer Fragen berührt. Die Erträge dieser De-
506 Hierzu eingehend oben S. 9 ff. sowie Judicial Conference of the United States Conference of Chief Justices, 70 FRD 79 (1976); Levin/Wheeler, The Pound Conference (1979); Strempel, JZ 1983, 596; Subrin, 59 Brook. L. Rev. 1155 (1993); Della Noce, 17 Ohio St. J. on Disp. Resol. 545 (2002); Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 44 ff. 507 Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 20, 15 ff. Vgl. hierzu oben S. 80 ff. 508 Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe I (1987), S. 430, 437 („Das ist ja gerade der Vorzug des Güteverfahrens, dass in ihm, ungehemmt durch allgemeine Rechtssätze, Billigkeit dem Einzelfall noch bis in seine letzte nur gefühlsmäßig erfassbare Einzigartigkeit nachgehen kann.“). 509 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. 510 Vgl. hierzu oben S. 257 ff.
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batte können, wie wir gesehen haben, für das Verständnis des Mediationsverfahrens und seiner Stellung in der Dogmatik des Zivilverfahrensrechts fruchtbar gemacht werden. Umgekehrt können die Befunde der empirischen ADRForschung einen klärenden interdisziplinären Beitrag zu einigen, in der Rechtsphilosophie diskutierten Fragestellungen leisten. 7. Rechtspolitische Konsequenzen. Im Gang unserer Untersuchung der Dichotomie von Mediationsverfahren und Zivilprozess auf der Grundlage eines interdisziplinären, unterschiedliche Teildisziplinen des Rechts einbeziehenden Ansatzes, haben wir beide Verfahrensarten aus rechtstheoretischer, rechtssoziologischer und rechtsphilosophischer Perspektive betrachtet und sie einer vergleichenden Strukturanalyse unterzogen. Der herausgearbeitete Befund legt vor allem im Hinblick auf die systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses im Anschluss an Sander ein Primat des Mediationsverfahrens im Kontinuum der Verfahren der Streitbeilegung nahe. Dieses Ergebnis hat auch der Überprüfung im Rahmen der interdisziplinären Betrachtung standgehalten und konnte damit in mehrfacher Hinsicht bestätigt werden. Die sich daraus ergebenden verfahrensrechtlichen Konsequenzen, insbesondere mit Blick auf das Modell einer umfassenden Konfliktbehandlungslehre, sind von hoher rechtspolitischer Relevanz. Dies gilt umso mehr, als der Prozess der Institutionalisierung der Mediation in Deutschland gerade erst begonnen hat. Ausgehend von den im ersten Teil der Arbeit entwickelten Grundsätzen und auf der Grundlage der im zweiten Teil der Arbeit vorgestellten empirischen Erfahrungen in drei exemplarisch ausgewählten Rechtsordnungen wird der Ertrag unserer Untersuchung im letzten Teil der Arbeit in einem konkreten Verfahrensmodell praktisch umgesetzt. Die sich hieraus ergebenden rechtspolitischen Konsequenzen betreffen u.a. die Stellung der Mediation zum Zivilprozess511, die Frage einer möglichen obligatorischen Mediation als Vorschaltverfahren ähnlich dem obligatorischen Schlichtungsverfahren nach § 15a EGZPO512, die Möglichkeit einer bindenden Verweisung in das Mediationsverfahren etwa im Rahmen des § 278 Abs. 5 ZPO513 sowie die Rolle des Mediators sowohl in der vertragsautonomen514 als auch in der gerichtsverbundenen515 Mediation. Diesen Fragen werden wir in den folgenden Abschnitten eingehend nachgehen.
511 Vgl. hierzu bereits eingehend oben S. 100 ff. sowie unten S. 492 ff. (Verfahrensintegration), S. 540 ff. (Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre). 512 Vgl. hierzu unten S. 511 f. 513 Vgl. hierzu unten S. 512. 514 Vgl. hierzu unten S. 333 ff. 515 Vgl. hierzu unten S. 385 ff.
V. Zusammenfassung 1. Der Begriff der Gerechtigkeit ist für die Mediation von zentraler Bedeutung, Mediation und Gerechtigkeit sind untrennbar miteinander verknüpft. Gerechtigkeit ist das eigentliche hinter der Mediation stehende Thema: Das Mediationsverfahren ist aus der Kritik des in Verfahren und Ergebnis als ungerecht empfundenen herkömmlichen Systems der auf den Zivilprozess verengten staatlichen Ziviljustiz hervorgegangen und auf ein gerechtes Ergebnis im Sinne eines angemessenen Interessenausgleichs hin ausgerichtet. 2. Die von der modernen Verhandlungstheorie (Harvard Modell) entwickelte Orientierung an den Parteiinteressen bildet die fassbarste und treffendste Konkretisierung des Gerechtigkeitsgrundsatzes des „suum cuique tribuere“, der in der Goldenen Regel als praktisch handhabbarem, universalem Gebot gerechten Handelns prägnant auf den Punkt gebracht seine vollendete Verdichtung erfahren hat. 3. Die zentrale Bedeutung der Interessen, der Schritt von der ausschließlich objektiven Bewertung eines Verhandlungsgegenstandes zum Nutzwert, findet sich bereits bei Aristoteles (χρεία) sowie bei Augustinus, Albertus Magnus und Thomas von Aquin (indigentia). 4. Thomas von Aquin erhebt mit Blick den Inhalt der Gerechtigkeit die menschlichen Bedürfnisse zum entscheidenden Maßstab und legt sie sowohl seiner Bestimmung der quantitativen Äquivalenzstörung beim Kauf, als auch der Bestimmung des gerechten Preises zugrunde. Sie bildet die erste der drei zentralen Gerechtigkeitskriterien bei John Finnis. 5. Die in der Verhandlungstheorie insbesondere von Fisher, Ury und Patton herausgearbeiteten objektiven Kriterien als Einigungsmaßstab in wertverteilenden Verhandlungssituationen findet sich im Ansatz bereits in den Grundsätzen der laesio enormis und des iustum pretium. Thomas von Aquin formuliert diesen Gedanken weiter aus und präzisiert ihn zu dem auch der heute geltenden Privatrechtsordnung zugrunde liegendem Äquivalenzprinzip in synallagmatischen Austauschverhältnissen („iustitiae aequalitas“). Danach ist als Maßstab des auszuhandelnden Preises der objektive Wert des Gegenstandes zugrundezulegen, der zwar nicht punktgenau, jedoch innerhalb eines Unschärfebereiches bestimmt werden kann. 6. Thomas von Aquin hat dem Verständnis der Verhandlung als wertschöpfender, auf gegenseitigen Nutzen gerichteter synallagmatischer Austauschbeziehung geistig den Weg bereitet, indem er unkooperatives, antagonistisches Verhandlungsverhalten, das gerade jene wertschöpfenden Kooperationsgewinne ausschließt, als in sich ungerecht betrachtet. Die von der modernen Verhandlungstheorie als Ziel des Mediationsverfahrens postulierte Realisierung pareto-optimaler Einigungsentscheidungen ergibt sich bei Anwendung der von
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Thomas formulierten Gerechtigkeitskriterien synallagmatischer Äquivalenz. Die klassische Gerechtigkeitstheorie ist für die innere und äußere Ausgestaltung des Mediationsverfahrens von zentraler Bedeutung. 7. Ihrer Zielsetzung und Struktur entsprechend ist die Mediation darauf ausgerichtet, die Gerechtigkeitsdefizite des formalen Gesetzesrechts durch ein informales Verfahren der Billigkeit zu korrigieren und so dem Gerechtigkeitsgehalt des Rechts und damit dem Recht selbst in seiner innersten, konstituierenden Identität zur Durchsetzung zu verhelfen. Die Mediation erweist sich daher nicht als Antinomie zum Recht, sondern im Gegenteil als Instrument zur Verwirklichung des auf die Verwirklichung von Gerechtigkeit zielenden Rechts. 8. Das Mediationsverfahren ist eine der vielfältigen Ausprägungen rechtlicher Billigkeit. Sie ist auf die Realisierung des Rechts und damit auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft gerichtet. Mediation und Zivilprozess stehen als Ausprägungen des Prinzips des Formalen und des Informalen, als formale Dimension des Gesetzes- und als informale Dimension des Billigkeitsrechts in einem Verhältnis sich ergänzender, aufeinander angewiesener Komplementarität. 9. Die durch verstandesgemäßes Erkennen vermittelte Idee der Gerechtigkeit ist als lex naturae der Rechtsordnung (lex humana) immanent. Das Recht – und zwar sowohl das staatlich gesetzte positive Gesetzesrecht als auch das im Rahmen des Mediationsverfahrens ausgehandelte privatautonom geschaffene Parteirecht – ist als Ausdrucksform und Trägerin der Gerechtigkeit zur Verwirklichung materieller Gerechtigkeitspostulate bestimmt und darauf hin ausgerichtet. 10. Die Forderungen materieller Gerechtigkeit (lex naturae) transzendieren als unverfügbare, absolut geltende Gebote (lex aeterna) das positive Recht (lex humana). Sie sind vom Menschen kraft seines Verstandes (lumen rationis) erkennbar. 11. Die Erscheinungsformen der von Verfassung wegen gebotenen Billigkeit sind je nach Rechtssystem und Epoche vielfältig. Sie hat ausgehend von der altgriechischen διάλυσις über das römische lex honorarium mit seiner transactio und discpetio, über die mittelalterliche Minne und die courts of equity, die amicibilis compositio und die Friedensadvokaten des Reichshofrats, die „Commissarii zur gütlichen Composition“, und die Friedensrichter bis zu den Schiedsmännern, Güterichtern und Mediatoren der Gegenwart jeweils unterschiedliche, der jeweiligen Zeit entsprechende Formen angenommen. 12. Innerhalb des formalen Gerichtsverfahrens erfolgt die Korrektur unbilliger Ergebnisse in der Anwendung des Gesetzesrechts durch billigkeitsorientierte Auslegung und richterliche Rechtsfortbildung. Außerhalb des Gerichtsverfahrens übernimmt die alternative Streitbeilegung und hier insbesondere die Mediation die Funktion gerechtigkeitsstiftender, die formale Härte des Gesetzesrechts korrigierender Billigkeit.
V. Zusammenfassung
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13. Formales Gesetzes- und informales Billigkeitsrecht sind gleichermaßen der Verwirklichung der Forderungen materieller Gerechtigkeit verpflichtet. Sie schöpfen aus derselben normativen Quelle und sind auf dasselbe Ziel hin ausgerichtet. 14. Als Instrument informaler Billigkeit hat das Mediationsverfahren als komplementäres Gegenstück zum Zivilprozess eine unverzichtbare Aufgabe im Sinne eines Korrektivs formeller Ziviljustiz und damit seinen festen Platz innerhalb des Rechtssystems. Die Notwendigkeit eines auf Verhandlung ausgerichteten Konfliktbeilegungssystems ergibt sich darüber hinaus bereits aus der ebenfalls auf naturrechtlichen Überlegungen gegründeten Verfahrens- und Institutionenlehre Fullers sowie der Trias der für jedes Rechtssystem unabdingbaren Primärprozesse des Verhandelns, des Vermittelns und des Richtens. 15. Das Mediationsverfahren unterliegt als Verfahren des Billigkeitsrechts, als „New Equity“, dem Gestaltungsprinzip der Gerechtigkeit. Es ist dazu berufen, nicht nur in seinem Ergebnis, sondern auch in seiner Form als gerechtes Verfahren in Erscheinung zu treten. Ausgehend von der klassischen Gerechtigkeitstheorie lassen sich die intersubjektive Orientierung der Parteien aufeinander hin und das Prinzip der Gleichheit als zentrale Gestaltungsprinzipien struktureller Gerechtigkeit in der Mediation bestimmen. Aus ihnen leiten sich die vielfältigen Erscheinungsformen der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren ab. 16. Gerechtigkeit wird Mediationsverfahren in seinen drei klassischen Erscheinungsformen, der Verfahrens- (iustitia legalis), Austausch- (iustitia commutativa) und der Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) wirksam. 17. Die Procedural Justice Forschung hat nachgewiesen, dass das Verfahren für die Fairnessbewertung der Beteiligten mindestens ebenso bedeutsam ist wie das konkret erzielte Ergebnis. Entsprechend werden auch ungünstige Ergebnisse von den Parteien umso eher akzeptiert, je fairer das jeweilige Verfahren wahrgenommen wird. 18. Der maßgeblich von Thibaut und Walker untersuchte Procedural Justice Effect zeigt, dass die Verfahrensgerechtigkeit als eigenständige Kategorie neben der Ergebnisgerechtigkeit ein entscheidendes Kriterium bei der Bewertung und Auswahl der in einer Gesellschaft verfügbaren Verfahren durch den Einzelnen bildet. Aus dem Procedural Justice Gedanken ergeben sich konkrete prozessuale Konsequenzen für die Bereiche des Verfahrensangebotes (Zurverfügungstellen konsensualer Verfahren), der Verfahrensgestaltung (verstärkte Verfahrenskontrolle und vermehrte Partizipationschancen) sowie der Verfahrensauswahl (Vorrang konsensualer Verfahren, Primat der Mediation). 19. Die Austauschgerechtigkeit ist auf den Ausgleich austauschbedingter Wertverschiebungen gerichtet. Zur wertmäßigen Bestimmung objektiver Äquivalenz ist der Marktwert als Maßstab heranzuziehen. Für die Verteilung von Werten im Mediationsverfahren stehen rational gut begründete und plausible Kriterien zur Verfügung, die von der Rechtspraxis mit Selbstverständlichkeit
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angewendet werden. Der insbesondere von Seiten des Rechtspositivismus vorgetragene Einwand, dass der Inhalt der Gerechtigkeit nicht bestimmbar sei, ist daher nicht tragfähig. 20. Der vom interessenorientierten Verhandlungsmodell (Harvard Modell) geforderte multilaterale Rollentausch entspricht dem Reziprozitätsprinzip der regula aurea als universalem, über Kulturen und Epochen hinweg geltenden Gerechtigkeitsprinzip. Die regula aurea bildet damit den Kern des Mediationsverfahrens und das „Geheimnis“ seines Erfolges. 21. Indem sie die eigenen Erwartungen an das Verhalten anderer zum Maßstab des eigenen Verhaltens macht, neutralisiert sie die Egoismen des Einzelnen, lenkt sie auf das Gute hin und nimmt sie zur Verwirklichung der Interessen des anderen in den Dienst. Die jeweiligen Egoismen der Parteien werden dadurch verwandelt, kanalisiert und zum Instrument gerechten Handelns gemacht, gleichsam „vor den Karren der Gerechtigkeit gespannt“. Indem die Mediation einen praktisch handhabbaren Rahmen zur Umsetzung der regula aurea eröffnet, ist sie als gerechtes Verfahren in idealtypischer Weise auf die Herstellung eines angemessenen Ausgleichs der gegenseitigen Interessen und damit auf ein gerechtes Ergebnis gerichtet. 22. Die Mediation vermag aufgrund der ihr eigenen Struktur, des Wirkmechanismus der regula aurea als Gerechtigkeitsprinzip schlechthin sowie der Transformation der Parteibeziehung durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin eine wesentlich höhere Richtigkeitsgewähr vertraglicher Vereinbarungen herbeizuführen, als dies durch Schmidt-Rimplers Theorie der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus möglich ist. Der Rückgriff auf die regula aurea erweist sich damit als sinnvolle und notwendige Ergänzung des klassischen Vertragsmodells. 23. Der reife Gebrauch der regula aurea und der mit ihr verbundene multilaterale Rollentausch entspricht zugleich der höchsten Stufe moralischer Urteilsfähigkeit nach Kohlbergs Stufenmodell und bildet damit den Schlusspunkt der moralischen Entwicklung des Menschen. Das Mediationsverfahren verhilft dem Einzelnen auf diese Weise zu einem reifen, seiner moralischen Entwicklung entsprechenden Konfliktverhalten, während das dem Zivilprozess eigene eskalierende, antagonistische und positionsorientierte Konfliktverhalten einem unreifen Entwicklungsstadium moralischer Urteilsfähigkeit des Menschen zuzuordnen ist. Der Vorrang konsensualer Konfliktbeilegungsverfahren und insbesondere das Primat der Mediation haben damit auch aus entwicklungspsychologischer Sicht eine Bestätigung erfahren. 24. Die Kritik Kants an der goldenen Regel ist nicht überzeugend, da sie von einem unvollständigen multilateralen Rollentausch ausgeht und ihr damit ein unreifer Gebrauch der goldenen Regel zugrunde liegt. Im Vergleich zur goldenen Regel vermag der kategorische Imperativ als Gerechtigkeitsprinzip nicht zu überzeugen.
§ 5 Mediation und materielles Recht Im vorangegangenen Abschnitt haben wir gesehen, dass das dispositive, materielle Recht in Verhandlungssystemen wie dem Mediationsverfahren als verbindlicher inhaltlicher Maßstab für die Einigungsentscheidung der Parteien weitgehend derogiert und durch ein autonomes, normatives System eigener Ordnung ersetzt wird. Wir haben uns eingehend mit den normativen Grundlagen von Verhandlungssystemen auseinandergesetzt und festgestellt, dass diese idealiter denselben ungeschriebenen, überpositiven Wertgrundsätzen entsprechen, die auch der objektiven Rechtsordnung des kodifizierten Gesetzesrechts zugrunde liegen. Dies bedeutet indes nicht, dass mit dem Schritt von den Rechten zu den wohlverstandenen Interessen der Parteien als zentralem Einigungsmaßstab das materielle Recht für das Mediationsverfahren obsolet geworden wäre. Zwar liegt die herausragende, durch zahlreiche empirische Studien belegte Fähigkeit des Mediationsverfahrens zur dauerhaften, nachhaltigen und effizienten Konfliktlösung tatsächlich darin begründet, dass die Mediation durch Entrechtlichung des Konfliktes das formal-kontradiktorische Anspruchsund Positionendenken des Zivilprozesses überwindet und dadurch erst eine interessengerechte und eigenverantwortliche Beilegung des Streites ermöglicht.1 Gleichwohl kommt, wie wir gesehen haben,2 dem Recht in der Mediation eine Schlüsselrolle zu.3 In seiner dienenden Rolle erfüllt es im Mediationsverfahren (1) eine konstitutive, (2) eine durchsetzende, (3) eine nährende und eine (4) begrenzende Funktion, wobei ganz überwiegend das materielle Recht betroffen ist.4 Die Mediation findet nicht in einem rechtlichen Vakuum, sondern stets im Schatten5 bzw. treffender im Licht des Rechts6 statt. Für die Mediation ist das materielle Recht konstitutiv, sie schöpft aus ihm und wird von ihm begrenzt. Damit ist die Frage aufgeworfen, welche Rolle dem materiellen Recht in der Mediation im Einzelnen zukommt: Welche „Einfallstore“ für materielle Wertungen ergeben sich im Mediationsverfahren? Inwieweit legt es der Mediation Grenzen auf? Kann sich der Einfluss des Rechts auf die Einigungsentscheidung der Parteien zu einer Rechtsbindung hin verdichten? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Rolle des Rechts im Kontext der Rich-
1 Vgl. hierzu bereits eingehend oben S. 12 ff. So auch Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1055. 2 Vgl. oben S. 150 f. 3 So ausdrücklich auch Risse, BB 1999, Beilage 9, 1, 288. 4 Eine Ausnahme bildet hierbei die durchsetzende Funktion, in der das Verfahrensrecht im Vordergrund steht. Vgl. zum Ganzen oben S. 149 ff. 5 So plastisch Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). 6 Haffke, in: Duss-von Werdt/Mähler/Mähler (Hrsg.), Mediation (1995), S. 65, 108.
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termediation in gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen? Diese Fragestellungen wollen wir im Folgenden näher in den Blick nehmen. Zuvor ist der Gegenstand unserer Untersuchung näher einzugrenzen.
I. Recht als prozedurale Rahmenregelung: Recht der Mediation Recht tritt uns im Mediationsverfahren zunächst als Recht der Mediation gegenüber. Dazu gehören alle rechtlichen Regelungen, die der praktischen Durchführung des Mediationsverfahrens dienen.7 Zu dem insoweit ganz überwiegend verfahrensrechtlichen Corpus des „Mediationsrechts“, der sowohl vertragsautonome Regelungen der Parteien als auch staatlich-formales Gesetzesrecht umfasst, gehören neben den Vertragsverhältnissen der Parteien untereinander – wie der Mediationsvereinbarung einschließlich eines Collaborative Law Agreements, dem Mediatorvertrag, dem Mediationsvergleich und den Mediationsordnungen der berufsständischen Organisationen und berufsrechtlichen Vorschriften – vor allem Regelungen, die das Verhältnis der Mediation zum Zivilprozess betreffen. Diese sind auf internationaler Ebene im UNCITRAL Model Law on International Commercial Conciliation8, auf europäischer Ebene in der Mediationsrichtline9, dem – unverbindlichen – Verhaltenskodex für Mediatoren10 und den Empfehlungen 98/257/EG vom 30.3.1998 (Schlichtung)11 und 2001/310/EG vom 4.4.2001 (Vermittlung)12 und teilweise in der
7 Eidenmüller, in: Breidenbach/Coester-Waltjen/Hess/Nelle/Wolf (Hrsg.), Konsensuale Streitbeilegung (2001), S. 45, 47. 8 UN-Doc. A/57/17, Annex I, S. 54–58. Abrufbar unter http://www.uncitral.org/pdf/ english/texts/arbitration/ml-conc/03-90953_Ebook.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). Vgl. hierzu auch die weiterführenden Nachweise unten S. 440 Fn. 31. 9 Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivilund Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5. 2008, S. 3. Vgl. dazu auch Duve, AnwBl 2004, 1; Duve/Prause, IDR 2004, 126; Eidenmüller, SchiedsVZ 2005, 124; Mayr/Weber, ZfRV 2007, 163, 169; Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737; Hess, NJW 2008, Beilage zu Heft 21/2008, 26; Wagner/Thole, ZKM 2008, 36. 10 Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, abgedruckt in ZKM 2004, 148. Abrufbar unter http://ec.europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct_de.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 11 Empfehlung 98/257/EG v. 30.3.1998 (Schlichtung) = Empfehlung der Kommission vom 30.5.1998 betreffend die Grundsätze für Einrichtungen, die für die außergerichtliche Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten zuständig sind, ABl. EG 1998 L 115, S. 31 ff. 12 Empfehlung 2001/310/EG v. 4.4. 2001 (Vermittlung) = Empfehlung über die Grundsätze für an der einvernehmlichen Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten beteiligte außergerichtliche Einrichtungen, ABl. EG 2001 L 109, S. 56 ff.
I. Recht als prozedurale Rahmenregelung: Recht der Mediation
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ADR-Richtlinie13 sowie auf nationaler Ebene in den entsprechenden nationalen Einzelgesetzen14 bzw. den nationalen Prozessordnungen15 geregelt. Sie enthalten etwa Regelungen zum Vertraulichkeitsschutz,16 zur Hemmung der Verjährung17, zur Sicherung des Mediationsergebnisses18, dem Ausschluss und Aussetzung paralleler Gerichtsverfahren19 und zum Übergang zwischen Mediations- und Gerichtsverfahren20. Der seit Ende der 90er Jahre verstärkt einsetzende Trend zur Institutionalisierung der Mediation21, der in den verschiedenen Regelungswerken auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene deutlich wird, ist ein weltweites Phänomen, das – von den USA ausgehend – neben England nun auch die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen erfasst.22 In der Folge sind im angloamerikanischen Rechtskreis, in Asien, aber auch in den Rechtsordnungen Kontinentaleuropas z.T. sehr umfassende rechtliche Regelungen des Mediationsverfahrens entstanden. Nach der 1999 abgeschlossenen Reform der englischen Civil Produre Rules (CPR)23 und dem 2003 verabschiedeten österreichischen Zivilrechtsmediationsgesetz (ZivMediatG)24 hat mit dem Inkrafttreten der europäischen Mediationsrichtlinie25 2008 auch in Deutschland eine intensive rechtspolitische Debatte über die Notwendigkeit und den Umfang einer Kodifizierung des Rechts der Mediation eingesetzt, die in dem am 26. Juli 2012 in
13 Richtlinie 2013/11/EU v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 63. Die Richtlinie gilt für alle Verfahren vor Streitbeilegungsstellen iSd. Art. 2 der Richtlinie, die auch die Mediation als ADR-Verfahren einsetzen können, jedoch nicht hierauf beschränkt sind. 14 MedG (Deutschland), ZivMediatG (Österreich). 15 §§ 278 Abs. 5, 278a ZPO; §§ 204 Abs. 1, 258, 320 Nr. 4, 433a ZPO (Österreich); Art. 213 ff. ZPO (Schweiz). 16 § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm. § 4 S. 1 MedG; § 320 Nr. 4 ZPO (Österreich) iVm. § 13 ZivMediatG. 17 § 203 S. 1 BGB. 18 Prozessvergleich iSv. § 779 BGB, § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO; Mediationsvergleich iSv. § 433a ZPO (Österreich). 19 § 278a Abs. 2 ZPO. 20 § 278 Abs. 5 ZPO; § 204 Abs. 1 S. 1 ZPO (Österreich); Art. 213 ff. ZPO (Schweiz). 21 Vgl. zur US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte eingehend oben S. 46 ff. sowie Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 22 Vgl. nur die 1999 in England eingeführten Civil Procedure Rules (CPR), das österreichische ZivMediatG (2003) sowie das deutsche MedG (2012). 23 Vgl. dazu Greger, JZ 2002, 1020; Wagner, ZKM 2004, 100. 24 ZivMediatG v. 6.6. 2003, BGBl I, 29. 25 Richtlinie 2008/52/EG, ABl. EU L 136 v. 24.5. 2008, S. 3.
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§ 5 Mediation und materielles Recht
Kraft getretenen MedG26 auch rechtlich Niederschlag gefunden hat. Das Recht der Mediation steht damit im Zentrum des rechtspolitischen Interesses und ist auch für das von uns untersuchte Verhältnis von Mediationsverfahren und Zivilprozess von entscheidender Bedeutung. Es wird in den folgenden Abschnitten im Rahmen unserer Untersuchung des Verfahrensrechts, der Entwicklung einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre und schließlich unseres Verfahrensmodells im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.
II. Recht als materieller Maßstab: Recht in der Mediation Neben seiner Funktion als verfahrensrechtlicher Rahmen für die Durchführung des Mediationsverfahrens, dem Recht der Mediation, kommt dem positiven Recht jedoch auch innerhalb des Mediationsverfahrens selbst als materieller Maßstab, als Recht in der Mediation, eine zentrale Rolle zu. So bestimmt die Beurteilung des Sach- und Streitstandes aus der Perspektive der objektiven Rechtsordnung nicht nur 1) den Wert der Nichteinigungsalternativen, sondern bildet 2) auch einen wesentlichen materiellen Maßstab für die Entwicklung von Einigungsoptionen und damit für die Einigungsentscheidung der Parteien. Das von den Parteien gemeinsam entwickelte Ergebnis muss sich dabei an den Normen des 3) zwingenden und am 4) Gerechtigkeitsgehalt sowie der 5) Zweckmäßigkeit des dispositiven Gesetzesrechts messen lassen. Die Normen und Wertentscheidungen des positiven Rechts sowie die von der Rechtsprechung entwickelten Lösungen vergleichbarer Sachverhalte dienen den Parteien darüber hinaus 6) häufig als Anregung und Vorlage für die Entwicklung eigener, auf den konkreten Sachverhalt zugeschnittener Einigungsoptionen. Und schließlich gibt das materielle Recht 7) den unverzichtbaren Rahmen vor, in den das Verhandlungsergebnis individualvertraglich in Form eines Mediationsvergleichs nach § 779 BGB zu fassen ist, um rechtliche Durchsetzbarkeit beanspruchen zu können. Damit stellt sich die im Schrifttum zum Teil als unjuristisches Verfahren27 charakterisierte Mediation tatsächlich als ein in wesentlichen Teilen auch inhaltlich vom materiellen Recht geprägtes Verfahren dar. Trotz des Wechsels von den Rechten zu den Interessen als wesentlichem materiellen Entscheidungsmaßstab des Mediationsverfahrens, den wir im Rahmen unserer vergleichenden Strukturanalyse herausgearbeitet haben, wird die
26 Eingeführt durch Art. 1 des MedFördG (Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung) v. 12.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 27 So auch Risse, Wirtschaftsmediation (2003), S. 288; Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1055; Ripke, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 161, 162.
II. Recht als materieller Maßstab: Recht in der Mediation
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Mediation in überraschend hohem Maße von den Normen des materiellen Rechts bestimmt. 1. Das Verhältnis von objektivem Gesetzes- und subjektivem Individualvertragsrecht Dass dies tatsächlich auch nicht anders sein kann, dass die Charakterisierung der Mediation als ein vom Normensystem des objektiven Rechts insgesamt losgelöstes Verfahren nicht haltbar ist, ergibt sich als zwingende Konsequenz bereits aus den Überlegungen des vorangegangenen Abschnitts, in dem wir uns eingehend mit den der Einigungsentscheidung der Parteien zugrunde liegenden Wertmaßstäben auseinandergesetzt haben. Wir haben gesehen, dass das objektive Recht in der Mediation – im Gegensatz zum Zivilprozess – als verbindliches Regelungsregime zwar weitgehend derogiert und durch ein autonomes System eigener Ordnung ersetzt wird. Inhaltlich, d.h. in seinem materiellen Gehalt, orientiert sich dieses privatautonome Normsystem jedoch an denselben ungeschriebenen, überpositiven „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent … sind“28 und damit auch dem positiven Gesetzesrecht zugrunde liegen. Und wir werden sehen, dass auch das positive Gesetzesrecht selbst als Ausprägung dieser Wertgrundsätze im Mediationsverfahren von den Parteien als freilich unverbindlicher Wertmaßstab herangezogen wird. Denn positives Gesetzesrecht und privatautonomes Individualvertragsrecht sind Teil derselben Hierarchie von Normen innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, die 1) in unverfügbaren, überpositiven Wertgrundsätzen ihre Grundlage finden, 2) in sozialen Normen von der Rechtsgemeinschaft rezipiert und konkretisiert worden sind und 3) in Gestalt formalen Gesetzesrechts zu rechtlicher Verbindlichkeit hin verdichtet werden. Das Mediationsverfahren bewegt sich dabei im Hinblick auf die materiellen Grundlagen der in ihm erzielten Einigungsentscheidungen – soweit nicht zwingende Rechtsnormen betroffen sind – auf der mittleren Ebene unterhalb des positiven Rechts, schöpft indes a priori aus derselben normativen Quelle, die auch dem kodifizierten Recht zugrunde liegt. Weil in das positive Recht vielfältige Überlegungen des Gesetzgebers zum gerechten Ausgleich divergierender Interessen, grundlegende Wertpostulate der Verfassungsordnung und die tatsächlichen, jahrhundertealten Erfahrungen gelebter Rechtspraxis eingeflossen sind, weil dem Gesetzesrecht also schon aufgrund seiner Zielrichtung – Verwirklichung des Gerechtigkeitsanspruchs des Rechts und Herstellung eines ausgewogenen Interessenausgleichs –, aufgrund seiner ihm eigenen Neutralität und aufgrund seiner demokratischen Legitimation eine grundsätzliche Vermutung der Richtigkeit zukommt, bilden sowohl die Wertungen als auch die konkreten Lösungen der objektiven Rechtsordnung für das Mediationsverfahren 28
BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya).
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einen zentralen materiellen Bewertungsmaßstab. Weil aber, so schon das BVerfG im Soraya-Urteil, ebendiese der Verfassungsordnung immanenten Wertgrundsätze bisweilen „in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind“29, weil abstrakte Normen aufgrund der ihnen eigenen systemimmanenten Grenzen Konflikte nur unvollkommen zu bewältigen vermögen, greift das Mediationsverfahren auf das Gesetzesrecht nicht als umfassendes, verbindliches Normsystem, sondern lediglich fakultativ, ergänzend und regelmäßig nur als Orientierung zurück. Den Maßstab bilden dabei häufig die einer Norm inhärenten Wertungen, weniger die von ihr gesetzestechnisch implementierte, konkrete Lösung, die von den Parteien gleichsam „in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren“ sind.30 Indem das Mediationsverfahren die Schwächen des abstrakten Gesetzesrechts, eine an den Grundsätzen der Einzelfallgerechtigkeit orientierte Lösung eines konkreten Konfliktes herbeizuführen, vermeidet, sich dabei regelmäßig gleichwohl an den grundsätzlichen Wertentscheidungen der Rechtsordnung und dem materiellen Recht orientiert, vermag es den Wertgrundsätzen, die der Verfassungsordnung insgesamt zugrunde liegen, durchaus in vollkommenerer, da am Einzelfall orientierter Weise zur Durchsetzung zu verhelfen, als dies im Rahmen des Zivilprozesses möglich ist. Dass hiermit der Gerechtigkeitsanspruch beider Verfahrensarten betroffen ist und sich daraus weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis von Zivilprozess und Mediation innerhalb des Systems der Streitbeilegung ergeben, haben wir bereits gesehen. Damit hat sich der Kreis wieder geschlossen. Festzuhalten ist: Formales Normen- und informales Verhandlungssystem schöpfen aus derselben normativen Grundlage. Strenges Recht und Billigkeit, Law und Equity, Zivilprozess und Mediation stellen sich zwar als in der Form verschiedene, in der Zielrichtung indes verwandte Ausprägungen des Rechts als Instrument der Streitbeilegung dar.31 Dass das materielle Recht damit nicht als ein dem Mediationsverfahren in seinem Wesen widersprechender Fremdkörper betrachtet werden kann, sondern in ihm vielmehr einen integralen Platz beanspruchen muss, ergibt sich in dogmatischer Hinsicht aus diesen Überlegungen als zwingende Konsequenz. 2. Funktionen des materiellen Rechts in der Mediation Dem materiellen Gesetzesrecht kommen im Mediationsverfahren vielfältige Funktionen zu, die wir im Folgenden näher in den Blick nehmen wollen: Es 29
BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). So das BVerfG zur Verpflichtung des Richters zur teleologischen Auslegung gesetzlicher Normen. BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 31 Zur Bedeutung der Mediation als New Equity vgl. Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 329 ff. (2005) sowie oben S. 175 ff. 30
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bietet a) als verbindliche Entscheidungsgrundlage einen Ausweg aus dem Wertschöpfungsdilemma, es bildet b) als „Schatzkammer“ der zu Rechtsnormen verdichteten Lebenserfahrung den inhaltlichen Maßstab für die Gestaltung der Einigungsoptionen, es dient c) im Rahmen der Prozessrisikoanalyse der umfassenden Information der Parteien über die Rechtslage nach dem geltenden objektiven Recht und verhilft ihnen so zu einer wahrnehmungsbedingte Einigungshindernisse überwindenden informierten und damit auch in tatsächlicher Hinsicht privatautonomen Entscheidung, es führt d) aufgrund der Vermutung der Richtigkeit und parteilichen Neutralität zu einer höheren Akzeptanz der am materiellen Recht orientierten Einigungsentscheidung der Parteien, es fördert e) aufgrund seines Gerechtigkeitsgehaltes die Entwicklung ausgewogener und in der Sache gerechter Lösungen, es stellt f) durch Inhaltskontrolle nach dem Maßstab des ius cogens sowie durch seine Funktion als kautelarjuristisches Gestaltungsmittel den formalen Rahmen für die vertragsrechtliche Gestaltung des Mediationsvergleiches zur Verfügung und bildet g) schließlich jene Rückgriffsordnung des objektiven Rechts, jenen schützenden rechtlichen Rahmen, der eine privatautonome Konfliktlösung im „Schatten des Rechts“ überhaupt erst ermöglicht. Entsprechend weisen auch die Richtlinien der Mediationsverbände dem materiellen Recht im Mediationsverfahren eine zentrale Rolle zu. So heißt es etwa in den Richtlinien des Bundesverbandes Mediation in Wirtschaft und Arbeitswelt e.V. (BMWA): „1. Die Bedeutung des Rechts: Soweit der Mediationsprozess eine rechtsverbindliche Vereinbarung anstrebt, ist die Kenntnis des Rechts zwingende Voraussetzung. Außerdem können die Partner das Recht, soweit es abänderbar (dispositiv) ist, rechtsschöpfend dazu verwenden, den spezifischen Interessen und Bedürfnissen entsprechende, faire Vereinbarungen zu finden. Recht dient damit vor allem: – der Aktivierung der Einzelinteressen, – der Fairnesskontrolle, – der Feststellung der Zulässigkeitsgrenzen für die Vereinbarung, – zur Ausschöpfung der rechtlichen Möglichkeiten zum Vorteil aller Beteiligten, – zur Gestaltung der Vereinbarung durch eine differenzierte Nutzung der Rechtsfiguren und vertragstypischer Regelungen.“32
Einen ähnlichen Zugang zum Recht sehen auch die Richtlinien der BundesArbeitsgemeinschaft für Familien-Mediation e.V. (BAFM) vor: „4.1 Der Beitrag der rechtlichen Grundlagen und des geltenden Rechts Soweit im Mediationsprozess – wie z.B. bei einer Trennungs- bzw. Scheidungsmediation – eine rechtsverbindliche Vereinbarung angestrebt wird, ist für die Konfliktpartner/innen die Kenntnis des geltenden Rechts als Teil ihrer Realität notwendige Voraussetzung. Das Recht 32
Richtlinien für Mediation in Wirtschaft und Arbeitswelt des Bundesverbandes Mediation in Wirtschaft und Arbeitswelt e.V. (BMWA).
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dient insofern der informierten Konsensbildung. Hierbei werden die in der Regel nicht zwingenden gesetzlichen Vorschriften in ihrem Angebotscharakter begriffen. Ferner müssen die Konfliktpartner/innen wissen, auf welche rechtlichen Ansprüche sie gegebenenfalls verzichten und was sie stattdessen gewinnen. Darüber hinaus gibt das Recht den Rahmen für eine vertragliche Gestaltung. Beispielsweise – bietet es Ideen im Willensbildungs- und Einigungsprozess – schafft es eine Möglichkeit zur Fairnesskontrolle; – setzt es Grenzen, weil kein Vertrag gegen zwingendes Recht oder gegen die guten Sitten verstoßen darf; – können Erfahrungen aus typischen Vertragsgestaltungen Denkanstöße geben – eröffnet es im Fall der Nichteinigung einen Ausweg.“33
Auch das Schrifttum hat sich eingehend mit den vielfältigen Funktionen des materiellen Rechts im Mediationsverfahren, der fakultativen Rechtsverwendung im Kontrast zur zwingenden Rechtsanwendung im Zivilprozess34, auseinandergesetzt und zwischen den einzelnen Verwendungsformen des Rechts in der Mediation differenziert. Entsprechend unterscheidet die Literatur zwischen dem Gesetzesrecht als Gussform, Schatzkammer, Leitplanke, Fairness-Kontrolle, Entscheidungsmaßstab, realer Faktor und Mittel zur Risikoverminderung35 bzw. der rechtlichen Konfliktlösung als Alternative zur Einigung, der Funktion des Rechts als Entscheidungsgrundlage, der Rolle gesetzlicher Wertungen als Hilfe bei der Lösungssuche, der rechtlichen Erörterung zur Überwindung „juristischer“ Einigungshindernisse, dem Recht als vereinbarten Entscheidungsmaßstab, der Rolle des Rechts für die Realisierung von Gewinnpotentialen und der Bedeutung des Rechts als Gestaltungsmittel und für die kautelarjuristische Umsetzung im Vergleichsvertrag.36 Im Vergleich zum Zivilprozess als heteronomem, hoheitlichem Entscheidungsverfahren, in dem die Rolle des materiellen Rechts auf seine Funktion als inhaltliche Entscheidungsgrundlage beschränkt ist, ergibt sich für das Mediationsverfahren das zunächst überraschende Ergebnis, dass dem materiellen Recht nicht nur eine zentrale Rolle auf den unterschiedlichen Ebenen des Verfahrens zukommt, sondern darüber hinaus eine Ausdifferenzierung in eine
33 Bundes-Arbeitsgemeinschaft für Familien-Mediation, Richtlinien der BAFM für die Mediation in Familienkonflikten, Stand: 16. November 2008, https://www.bafm-mediation.de/verband/organisation/richtlinien-der-bafm/ (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 34 Vgl. zu dieser Differenzierung Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 17; Gottwald, AnwBl 2000, 265, 268; Mähler/Mähler, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 9, 30; Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 67 f. 35 Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 17 ff. 36 Risse, BB 1999, Beilage 9, 1, 2 ff.; Risse, Wirtschaftsmediation (2003), S. 295 ff.
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Vielzahl verschiedener Funktionen erfolgt, die im Zivilprozess keine Entsprechung finden. Um der Rolle des materiellen Rechts in der Mediation nachzuspüren, wollen wir diese Funktionen nun näher in den Blick nehmen. a) Inhaltskontrolle: Gesetzesrecht als verbindliche Entscheidungsgrundlage Die Normen des materiellen Rechts dienen im Mediationsverfahren zunächst als inhaltlicher Maßstab, und zwar in zweifacher Hinsicht: A) als verbindliche Entscheidungsgrundlage (ius cogens)37 und b) als unverbindlicher Orientierungsmaßstab bei der Entwicklung von Einigungsoptionen (Gesetzesrecht als Schatzkammer und ius dispositivum als objektive Kriterien).38 Dass materielles Gesetzesrecht im Mediationsverfahren als verbindliche Entscheidungsgrundlage herangezogen wird, mag auf den ersten Blick verwundern, ist die Mediation in ihrem Wesen doch gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie die Fixierung der Parteien auf die von ihnen geltend gemachten Rechtspositionen und damit auch die systemimmanenten Schwächen des Gesetzesrechts überwindet und stattdessen die den Positionen der Parteien eigentlich zugrunde liegenden Interessen in den Blick nimmt.39 Dennoch haben wir gesehen, dass die Einbeziehung objektiver Kriterien zum wesentlichen Bestandteil des Harvard-Modells interessenorientierter Verhandlung gehört. Tatsächlich haben Fisher, Ury und Patton überzeugend nachgewiesen, dass die Bezugnahme auf die Rechtslage, dass die Vereinbarung des objektiven Rechts als verbindliche Entscheidungsgrundlage für die Überwindung von Einigungshindernissen von zentraler Bedeutung ist. Da es von den Parteien freiwillig vereinbart und ihnen nicht als verbindlicher Maßstab auferlegt wird, entfällt der dem Zivilprozess eigene Befehlscharakter des Rechts.40 Eine zentrale Rolle spielen dabei anspruchsbegründende Normen, die für beide Parteien vorteilhaft sind und ihnen zur wertschöpfenden Realisierung von Kooperationsgewinnen in win-win-Lösungen genutzt werden können.41 So können die Parteien etwa durch die gemeinsame Inanspruchnahme staatlicher Förderleistungen oder eine steuerrechtlich sinnvolle Gestaltung des Mediationsvergleiches erhebliche
37 Vgl. zur Rolle objektiver Kriterien als wesentlichem Bestandteil des Harvard-Modells grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 81 ff. 38 Zum Begriff Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 17; Gottwald, AnwBl 2000, 265, 268; Mähler/Mähler, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 9, 30; Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 103 f.; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 13; Ripke, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 161, 164. 39 Hierzu plastisch das klassische Orangenbeispiel. Vgl. Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 57. 40 Vgl. zu diesem Aspekt auch Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 18. 41 Von Bedeutung sind hier vor allem staatliche Leistungsgewährungsansprüche oder steuerrechtlich günstige Gestaltungen.
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Wertschöpfungspotentiale realisieren.42 Dem materiellen Recht kommt als objektivem Kriterium darüber hinaus jedoch noch eine grundlegendere Bedeutung zu: Denn die Einbeziehung des Rechts als Entscheidungsmaßstab bildet die zentrale Strategie zur Überwindung einer wesentlichen Schwäche herkömmlicher, positionsorientierter Verhandlung (positional bargaining):43 Dem Wertverteilungsdilemma. Die Problemstellung berührt damit eine der wesentlichen Fragen der Verhandlungstheorie und mit ihr die zentralen Wirkmechanismen kooperativen Verhandelns, die wir im Folgenden kurz betrachten wollen. Kooperatives Verhandeln im Rahmen des Mediationsverfahrens ist durch zwei klar voneinander zu unterscheidende Dilemmata geprägt, die eine Realisierung von Kooperationsgewinnen und sogar eine einvernehmliche Einigung überhaupt verhindern können: Das aa) Verhandlungs- und das bb) Wertschöpfungsdilemma. aa) Das Verhandlungsdilemma Das Verhandlungsdilemma ergibt sich aus dem Spannungsverhältnis, das durch das Nebeneinander von wertschöpfendem (integrativem) und wertverteilendem (distributivem) Verhandlungsverhalten verursacht wird.44 Aufgrund des Risikos der Parteien, vom Verhandlungspartner ausgebeutet, „über den Tisch gezogen“ und so zum Objekt distributiver Verhandlungsstrategien zu werden, besteht ein Verhaltensanreiz, selbst distributiv zu verhandeln, der im Rahmen des Gefangenendilemmas45 auch spieltheoretisch nachvollzogen werden kann. Für die Verhandlung ergibt sich daraus die Gefahr, dass sich distributive Taktiken der Wertbeanspruchung gegenüber integrativen Strategien der Wertschöpfung durchsetzen. Es war die Spieltheorie, die mit der Strategie der Ko-
42
Vgl. hierzu Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 17. Instruktiv zu dem für das positional bargaining typischen dance of concessions: Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279. Vgl. hierzu auch oben Fn. 20, S. 109. 44 Hierzu eingehend Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54, 92 ff., 137 ff. 45 Grundlegend Rapoport/Chammah/Rapoport, Prisoner's dilemma (1965), passim. Vgl. auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 83 f., 138 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 59 ff., 62 f. 43
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operation auf Gegenseitigkeit (Tit for Tat) einen Ausweg aus dem Verhandlungsdilemma46 gewiesen hat.47 Die verhandlungstheoretische Forschung hat diesen Ansatz durch Strategien zur Schaffung gegenseitigen Vertrauens (building rapport)48, durch eine besondere Strukturierung der Phase der gemeinsamen Suche nach Einigungsoptionen (Trennen von Erfinden und Entscheiden, Post-Settlement Settlement) und Verfahren zur Überwindung negativer Wahrnehmungsverzerrungen ergänzt und damit effektive Instrumente zur Überwindung des Verhandlungsdilemmas entwickelt.49 bb) Das Wertschöpfungsdilemma Hiervon deutlich zu unterscheiden ist das Wertschöpfungsdilemma, das sich daraus ergibt, dass sich die in der Verhandlungspraxis verfügbaren Strategien zur Wertbeanspruchung bis auf einige wenige Ausnahmen ganz überwiegend auf rechtlich und ethisch unzulässige Techniken distributiven Verhandelns beschränken, die eine konstruktive, vertrauensvolle und kooperative Mitwirkung aller Parteien an der Problemlösung gefährden oder sogar unmöglich machen und damit einen erfolgreichen Abschluss des Mediationsverfahrens insgesamt vereiteln können. Während beim integrativen, wertschöpfenden Verhandeln die Erarbeitung beiderseits interessengerechter Lösungen durch den Austausch von Informationen, offene und ehrliche Kommunikation, den Verzicht auf Druck und manipulative Techniken im Mittelpunkt steht, geht es beim distributiven, wertverteilenden Verhandeln zunächst um die Durchsetzung eines nur für die einzelne Partei selbst vorteilhaften Verhandlungsergebnisses, das letztlich nur durch die Zurückhaltung und Manipulation verhandlungsrelevanter Informationen, Täuschung und Irreführung des Verhandlungspartners sowie die Verschlechterung seiner Nichteinigungsalternativen möglich wird.
46 Hierzu Lax/Sebenius, The Manager as Negotiator (1986), S. 5 f., 29 ff.; Eidenmüller, in: Breidenbach/Henssler (Hrsg.), Mediation (1995), S. 31 ff.; Eidenmüller, ZHR 160 (1996), 343 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 82 ff., 137 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 59 ff., 62 f. 47 Axelrod/Hamilton, 211 Science (N.S.) 1390 (1981); Axelrod, The Evolution of Cooperation (1984), S. 113 ff., 130 ff. 48 Calkins, 54 Drake L. Rev. 259, 274 ff. (2006). Vgl. zur Bedeutung des Vertrauens in der Mediation auch Deason, 54 U. Kan. L. Rev. 1387 (2006); Lewicki/Carolyn, in: Deutsch/Coleman/Marcus (Hrsg.), The Handbook of Conflict Resolution (2. Aufl. 2006), S. 92 ff. sowie aus dem deutschsprachigen Schrifttum Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 141 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 160 ff. 49 Vgl. hierzu eingehend Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 141 ff.
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Vor dem Hintergrund des für die Verhandlungsentscheidung der Parteien relevanten Vierecks der Schlüsselfaktoren50 liegen die Schwerpunkte distributiver Verhandlungsstrategien vor allem in der manipulativen Beeinflussung der Wahrnehmung, der Interessen und der Bewertungsmaßstäbe des Verhandlungspartners durch Wahrnehmungsanker, Scheinzugeständnisse, Lügen, Irreführungen, direkte oder indirekte Drohungen, Täuschung des Verhandlungspartners hinsichtlich seiner eigenen und der Interessen seines Gegenübers, Verschlechterung fremder Nichteinigungsalternativen und Entwicklung von Einigungsoptionen, die allein den eigenen Gewinn maximieren.51 Eine Schädigung des jeweiligen Verhandlungspartners, mit dem eigentlich kooperativ eine gemeinsame Lösung des Konfliktes erarbeitet werden soll und auf dessen Zustimmung die jeweils andere Partei dringend angewiesen ist, wird dabei jedenfalls billigend in Kauf genommen. Dass derartige Techniken rechtlich und ethisch bereits per se unzulässig und daher mit äußerster Entschiedenheit abzulehnen sind, ist eine Selbstverständlichkeit und bedarf keiner weiteren Begründung. Sie sind mit dem Selbstverständnis und dem Menschenbild, das der Verfassungsordnung insgesamt zugrunde liegt, wie auch mit den Pflichten der Mitglieder des sozialen Gemeinwesens unvereinbar. Sie stehen in deutlichem Widerspruch zu den vom Gemeinwesen anerkannten sozialen Normen und sind, weil sie darauf ausgerichtet sind, den Verhandlungspartner bewusst zu schädigen, gesellschaftlich geächtet. Der Einsatz derartiger distributiver Techniken hat daher gravierende Auswirkungen auf den Erfolg des Mediationsverfahrens: Neben den bei Täuschungshandlungen oder Drohungen zur Erlangung eines rechtswidrigen Vermögensvorteils stets im Raum stehenden strafrechtlichen Folgen (§§ 263, 240 StGB) und den zivilrechtlichen Konsequenzen der Anfechtbarkeit nach §§ 119, 123 Abs. 1 BGB oder der Nichtigkeit nach den §§ 134, 138 BGB wird durch derartige aggressiv-distributive Techniken eine Dynamik der Eskalation in Gang gesetzt, die mit dem Wesen und den Zielen des Mediationsverfahrens schlechthin unvereinbar ist.52 cc) Praktische und dogmatische Konsequenzen Das sich aus diesem Mechanismus ergebende Dilemma hat praktische und dogmatische Auswirkungen:
50
Vgl. Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 24 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 170 f. 51 Kritisch gegenüber derartigen Techniken auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 64 ff. 52 Ebenso Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 51. Vgl. auch Alfini, 19 N. Ill. U. L. Rev. 255 (1999); Menkel-Meadow/Wheeler, What's Fair, (2004).
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a) Praktische Konsequenzen: In praktischer Hinsicht führt eine einseitige Fixierung auf die maximale Realisierung der eigenen Interessen zulasten derjenigen des Verhandlungspartners zu einer Gefährdung des erfolgreichen Abschlusses des Mediationsverfahrens durch einvernehmliche Beilegung des Konfliktes im Rahmen eines Mediationsvergleichs, die sich bis hin zum tatsächlichen Scheitern der Mediation insgesamt verdichten kann. Statt eines soliden Verhandlungsergebnisses, das zwar hinter den eigenen Maximalforderungen zurückbleiben mag, jedoch gleichwohl eine ausgewogene Lösung des Interessenkonflikts herbeiführen würde, hätten die Parteien in diesem Fall, indem sie zu hoch „gepokert“ haben, alles verloren und die von ihnen geltend gemachten Interessen nicht einmal teilweise verwirklicht. Darüber hinaus hätte der Einsatz manipulativer, auf die Benachteiligung der anderen Partei ausgerichteter distributiver Techniken eine massive Schädigung der Beziehung zwischen den Parteien sowie erhebliche Reputationsverluste zur Folge, die – soweit sie im Bereich von Geschäftsbeziehungen kommerzialisierbar sind – darüber hinaus zu erheblichen wirtschaftlichen Schäden führen können. b) Dogmatische Konsequenzen: Die sich aus der eskalationsfördernden Wirkung des Einsatzes einseitig distributiver Techniken ergebenden möglichen praktischen Konsequenzen – Eskalation des Konfliktes, Scheitern des Mediationsverfahrens, unfaire Verfahrensführung und unausgewogene, ungerechte und daher häufig anfechtbare Ergebnisse weisen bereits auf ein tiefgreifendes dogmatisches Problem: Der Einsatz derartiger Techniken der Wertbeanspruchung steht in einer deutlichen Antinomie zum Wesen und zu den Zielen der Mediation, insbesondere zu den im verhandlungstheoretischen Schrifttum anerkannten Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses. In unserer vergleichenden Strukturanalyse der Dichotomie zwischen Mediation und Zivilprozess haben wir gesehen53, dass das Wesen der Mediation nach Fuller darin besteht, die Beziehung der Parteien zu transformieren und die Parteien durch die Vermittlung einer neuen, gemeinsamen Perspektive ihrer Beziehung und ihrer Interessen wieder aufeinander hin auszurichten: „ … The central quality of mediation, namely, its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.”54 Das Ergebnis dieses Transformationsvorganges ist eine neue, von Kooperationswillen und Vertrauen getragene Haltung gegenüber der anderen Partei und ihren Interessen, die eine effektive, möglichst pareto-optimale Beilegung des zwischen ihnen schwelenden Konfliktes ermöglicht. Wir haben weiterhin die
53 54
Vgl. hierzu oben S. 100 ff. Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971).
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Grundsätze der Privatautonomie, Kooperation, Orientierung an Parteiinteressen, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität des Verfahrens, Vermittlung durch neutralen Dritten als die sieben das Mediationsverfahren in seinem Wesenskern prägenden Prinzipien herausgearbeitet.55 Dass ein aggressiv-distributives Verhandlungsverhalten dem Mediationsverfahren in seinem Wesen als gerechtem Verfahren56 zutiefst widerspricht, ist offenkundig. Es steht darüber hinaus jedoch auch in Antinomie zu den Verfahrenszielen der Mediation selbst, den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses, das einhellig in einer Einigung gesehen wird, die den legitimen Interessen beider Parteien gleichermaßen gerecht wird, inhaltlich auswogen und damit gerecht ist, aus einem fairen Verfahren hervorgegangen ist, effektiv und nachhaltig ist, auch auf Dauer Bestand hat, die öffentlichen Interessen wahrt und die Beziehung zwischen den Parteien schont. Daraus ergibt sich das Dilemma, dass sich eine Strategie, die auf ein manipulatives, die andere Partei schädigendes Verhandlungsverhalten ausgerichtet ist oder die solche Taktiken in das Belieben der Parteien stellt, nicht nur dem Wesen des Mediationsverfahrens in seinem Kern widerspricht, sondern sich zugleich selbst in einen Gegensatz zu den Zielen setzt, die zuvor als Grundsätze des Verfahrens und Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses definiert worden sind. Damit wäre allerdings das theoretische Verständnis des Mediationsverfahrens in dogmatischer Hinsicht widersprüchlich. Der Weg zu einem in sich schlüssigen, dogmatischen System als Grundlage einer zu entwickelnden allgemeinen Konfliktbehandlungslehre wäre versperrt. In praktischer Hinsicht würde das Mediationsverfahren die ihm zugeschriebenen Vorteile und seine Fähigkeit als effektives, deeskalierendes und beziehungsschonendes Instrument der Streitbeilegung weitgehend einbüßen. dd) Materielles Recht als objektives Kriterium nach dem Harvard-Konzept Gleichwohl bleibt das Problem bestehen, dass die von den Parteien in einem kooperativen Verfahren geschaffenen Werte, die durch Zusammenwirken der Parteien geschaffenen Kooperationsgewinne, zwischen den Parteien aufgeteilt werden müssen. Trotz aller Bemühungen um das gegenseitige Verständnis und die Integration der Interessen beider Parteien, trotz aller Anstrengungen, die Beziehung zur jeweils anderen Partei zu schonen, sehen sich beide Verhandlungspartner in jeder Verhandlung auch mit dem Problem einander gegenläufiger Interessen konfrontiert.57 Jeder Phase der Wertschöpfung schließt sich notwendig eine Phase der Wertverteilung an. In der Rechtspraxis wird das Wertverteilungsproblem durch positionsorientiertes Verhandeln (positional 55
Vgl. unten S. 459 ff. Eingehend hierzu oben S. 179 ff. 57 Vgl. auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 81. 56
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bargaining, Feilschen) oder durch manipulative Strategien wie Lügen, Täuschung, Irreführung, Druck und ähnliche aggressive Techniken gegenüber dem Verhandlungspartner gelöst. Die Ineffektivität derartiger Verhandlungsstrategien ist in der Forschung indes schon früh nachgewiesen worden.58 Fisher, Ury und Patton gehen im Harvard-Konzept daher einen anderen Weg und lösen das Wertverteilungsdilemma durch die Figur der objektiven Kriterien. Zwar sind beide Parteien zunächst daran interessiert, jeweils einen möglichst großen Anteil an den zu verteilenden Werten zu erhalten, doch muss die Einigung für beide Parteien gleichermaßen zustimmungsfähig sein. Insbesondere wird nur ein Ergebnis, das in materieller Hinsicht ausgewogen und gerecht ist, auch auf Dauer Bestand haben und von den Parteien umgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund kommt objektiven Kriterien, wie etwa dem Marktpreis, den Herstellungskosten oder aber auch, soweit es um Rechte und Pflichten geht, der materiellen Rechtslage als neutraler, für beide Parteien zustimmungsfähiger Entscheidungsgrundlage, eine besondere Bedeutung zu. Dass objektiven Kriterien unter dem Gesichtspunkt der iustitia distributiva59 sowie der Legitimität der zu verobjektivierenden wohlverstandenen Interessen des Einzelnen60 ein erheblicher Gerechtigkeitswert zukommt, haben wir bei unserer Betrachtung der Rolle der Gerechtigkeit im Mediationsverfahren bereits gesehen.61 Dies gilt in besonderer Weise für das aus einem demokratischen Verfahren als Ergebnis eines umfassenden Abwägungs- und Diskussionsprozesses hervorgegangene objektive Gesetzesrecht, das auf der Grundlage der Bewährung in einer Vielzahl praktischer Fälle in seiner Interpretation von der Rechtsprechung in einem kontinuierlichen Prozess an die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs angepasst wird und für sich die Vermutung der Richtigkeit und der parteilichen Neutralität in Anspruch nehmen kann. Indem es von den Parteien als verbindliche Grundlage ihrer Einigungsentscheidung herangezogen wird, erfüllt das materielle Recht eine unverzichtbare Funktion für die Überwindung des Wertverteilungsdilemmas. Dass die Parteien mit dem Rückgriff auf das materielle Recht ihre Mitwirkungsmöglichkeiten durch Verweis auf die Autorität eines anerkannten normativen Systems weitgehend derogieren, ist dabei kein Nachteil, sondern entspricht der Strategie der Priorisierung der Wertschöpfungsphase, die dem Harvard-Modell als wesentlicher Grundgedanken zugrunde liegt. Diese Strategie entspringt der Einsicht, dass der Verhandlungsspielraum für die Parteien in der Wertverteilungsphase aufgrund des durch die Nichteini-
58
Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 3 ff.; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 288 ff. 59 Vgl. oben S. 171 ff. 60 Vgl. oben S. 252 ff. 61 Vgl. oben S. 167 ff.
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gungsalternativen begrenzten Einigungsbereiches regelmäßig deutlich geringer ist als das Potential an Kooperationsgewinnen in der Phase der Wertschöpfung. Wenn aggressive Verhandlungsstrategien der Wertverteilung in der Regel den Erfolg des Mediationsverfahrens insgesamt gefährden, der Mediation als kooperativem Verfahren in seinem Wesen widersprechen und die Parteien darüber hinaus letztlich nur einen vergleichsweise geringen Wertzuwachs erwarten können, dann erscheint es unter Effizienzgesichtspunkten sinnvoll, den Schwerpunkt des Verhandelns auf die Phase der Wertschöpfung zu verlagern und den geschaffenen Wert auf der Grundlage zustimmungsfähiger objektiver Kriterien wie den Marktkonditionen oder der materiellen Rechtslage zu verteilen. Im Kern entspricht ein derartiger Paradigmenwechsel indes dem durch die ADR-Bewegung eingeleiteten gewandelten Konflikt- und Rollenverständnis, das der Mediation als „Philosophie“ zugrunde liegt: Im Gegensatz zum Zivilprozess wird der Konflikt nunmehr als gemeinsam zu bewältigendes Problem beider Parteien verstanden, das durch kooperatives Zusammenwirken auf der Grundlage der tatsächlichen Interessen der Beteiligten nachhaltig zu lösen ist. Dieser Prozess der Streitbeilegung als Problemlösung erfolgt in einem privatautonomen und fairen Verfahren, aus dem idealiter eine objektiv gerechte Einigungsentscheidung hervorgeht, die das Verhältnis der Parteien für die Zukunft bestimmt und auf der Grundlage einer neuen, gemeinsamen Perspektive aufeinander hin ordnet. Dass dies neben dem sozialen Nutzen auch aus ökonomischen Gründen sinnvoll ist, wird in der Tatsache deutlich, dass den Parteien regelmäßig eher an der Erhaltung einer dauerhaften Geschäftsbeziehung gelegen sein wird, als unter Gefährdung des Erfolges des Mediationsverfahrens insgesamt in einem singulären Geschäft einen marginalen Zuwachs im Rahmen der wertverteilenden Verhandlung zu erzielen. Als Alternative zu aggressiven Strategien der Wertverteilung können die Parteien darüber hinaus auch auf die Entwicklung der eigenen Nichteinigungsalternativen zurückgreifen. Die Arbeit an den eigenen Nichteinigungsalternativen gehört zu den wirkungsmächtigsten Strategien distributiven Verhandelns und bildet die wichtigste Quelle der Verhandlungsmacht.62 Allerdings birgt der den Abbruch der Mediationsverhandlung implizierende Verweis auf die eigenen Nichteinigungsalternativen wie auch die Thematisierung des Rechts63 insgesamt regelmäßig ein erhebliches Eskalationspotenzial, so dass von dieser Möglichkeit zurückhaltend und vorsichtig Gebrauch gemacht werden sollte.
62 Vgl. hierzu Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 67 ff. 63 Vgl. oben S. 22 ff., 196 ff. Grundlegend hierzu Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 62 f.
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b) Orientierungsmaßstab: Gesetzesrecht als unverbindlicher normativer Maßstab Häufig wird das materielle Recht indes nicht als verbindliches normatives System, sondern lediglich als unverbindlicher Orientierungsrahmen in das Mediationsverfahren eingeführt. Das vom Gesetzgeber vorgesehene Lösungsmodell wird in seinem subordinierenden Befehlscharakter suspendiert64 und von den Parteien in seiner Angebotsform gleichsam als Schatzkammer „praktischer Lebensklugheit“65 rezipiert und dient ihnen als Ausgangspunkt für die weitere Diskussion der gemeinsam zu entwickelnden Einigungsoptionen. Für die Einbeziehung des materiellen Rechts sprechen dabei vier seiner prägenden Eigenschaften: Seine Qualität, Legitimität, Neutralität und sein Gerechtigkeitsgehalt. (1) Qualität. Der Corpus des geschriebenen Rechts enthält zunächst den in Gesetzesform gegossenen jahrhundertealten Erfahrungsschatz gelebter Rechtswirklichkeit in der Auseinandersetzung mit gleichgelagerten Konflikten, der sich in einem langen Prozess der stetigen Korrektur, Verfeinerung und Anpassung an die Anforderungen der Rechtspraxis organisch entwickelt hat.66 Die ihm zugrunde liegenden Prinzipien und Leitideen des Rechts, aber auch die in den einzelnen Rechtsnormen enthaltenen Lösungen für konkrete Sachprobleme bilden eine wertvolle Grundlage von Entscheidungskriterien, die für die Entwicklung von Einigungsoptionen im Mediationsverfahren nutzbar gemacht werden kann. (2) Legitimität. Die in einem demokratischen Verfahren durch den parlamentarischen Gesetzgeber beschlossenen Rechtsnormen sind regelmäßig das Ergebnis eines intensiven Diskussionsprozesses, in dessen Verlauf die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten vor dem Hintergrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der Erfahrungen der Rechtspraxis und der Stellungnahmen der Wissenschaft um eine ausgewogene Lösung eines Sachproblems ringen. Sie verfügen damit über eine doppelte, nämlich eine prozedurale und materielle Legitimität, die von den Parteien als solche regelmäßig auch nicht infrage gestellt wird.67 64
Vgl. zur Problematik des Wandels des Rechts durch Rücknahme seines Befehlscharakters und Zunahme kooperativer Steuerungsformen oben S. 34 ff. Vgl. auch Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161, 1162 ff.; Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 65. 65 Haft, FS Söllner (2000), S. 391, 392. 66 Vgl. hierzu auch Risse, Wirtschaftsmediation (2003), S. 297. 67 Problematisch ist, wie wir im weiteren Gang unserer Untersuchung sehen werden, weniger die abstrakte Eignung und Legitimität der Rechtsnormen als ihre Fähigkeit zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit. Aufgrund ihrer systemimmanenten Schwächen gehen sie häufig an den Erfordernissen des konkreten Falles als auch an den tatsächlichen Interessen der Parteien vorbei. Abhilfe kann dadurch erfolgen, dass die Normen des positiven Gesetzesrechts nicht im Sinne einer Subsumption angewendet, sondern entsprechend den ihnen
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(3) Neutralität. Als abstrakte und allgemein geltende Lösungen für häufig wiederkehrende typisierte Sachprobleme gilt für Rechtsnormen die Vermutung parteilicher Neutralität. Dies gilt umso mehr, als sie aus einem demokratischen Gesetzgebungsverfahren hervorgegangen sind und so außerhalb des Einflussbereiches der Parteien stehen. Weil die Parteien auf ihre Entstehung keinen Einfluss haben, bilden sie grundsätzlich eine für beide Parteien zustimmungsfähige Grundlage für den Mediationsvergleich oder für die Entwicklung von Einigungsoptionen. (4) Gerechtigkeitsgehalt. Weil sich der Gesetzgeber mit dem Prozess der Normsetzung grundsätzlich um ausgewogene, die typisierten Sachinteressen beider Parteien gleichermaßen berücksichtigende Lösungen bemüht, kommt dem materiellen Recht ein besonderer objektiver Gerechtigkeitsgehalt zu, der insbesondere die den einzelnen Normen zugrunde liegenden Wertentscheidungen betrifft. Weil das Recht wie auch das Mediationsverfahren in Wesen und Ziel der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit verpflichtet ist und, wie wir gesehen haben68, aus derselben Quelle überpositiver Normen schöpft, bildet es einen der Mediation als gerechtem Verfahren in besonderer Weise entsprechenden Wertmaßstab. Dies gilt umso mehr, als die Mediation auf ein objektiv faires Ergebnis hin ausgerichtet ist.69 Allerdings führen die systemimmanenten Schwächen des Gesetzesrechts, wie wir am Beginn unserer Untersuchung gesehen haben, häufig zu nicht interessengerechten Ergebnissen, weil das Gesetz regelmäßig nur den typischen Regelfall, nicht dagegen die durch die Lebenswirklichkeit bedingte Vielfalt konkreter Konfliktkonstellationen regelt: Durch Reduzierung des mehrdimensionalen Konfliktstoffes wird der Interessenkonflikt vom Gesetzgeber in einen abgeleiteten Wertekonflikt transformiert und auf einen rechtlichen Kern reduziert, wodurch eine selektive Verkürzung des Konfliktes auf einige wenige, für die Beteiligten wenig bedeutsame Konfliktebenen eintritt. Diese Transformation in einen als Nullsummenspiel ausgestalteten Metakonflikt macht regelmäßig die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne unmöglich und erlaubt lediglich retrospektive Alles-oder-Nichts-Entscheidungen im Sinne eines binären Schematismus. Die Thematisierung des Rechts führt in Verbindung mit dem für Rechtsnormen typischen kontradiktorischen Rollenzwang von Anspruchsberechtigtem und Anspruchsgegner zu einer Eskalation des Konfliktes. Daher erfolgt die Einbindung des materiellen Rechts nicht durch eine auf Subsumption der einschlägigen Rechtsnormen gerichtete Rechtsanwendung,
zugrunde liegenden Prinzipien verwendet und so als Ausgangspunkt für die Diskussion um die Einigungsoptionen herangezogen werden. Vgl. hierzu eingehend oben S. 12 ff. und unten S. 293 ff. 68 Vgl. oben S. 283 ff. 69 Zu den Kriterien eines „guten Ergebnisses“ vgl. oben S. 160 ff., 289 f.
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sondern vielmehr durch privatautonome Rechtsverwendung.70 Dabei werden die vom Gesetzgeber für den Regelfall eines Sachproblems entwickelten Lösungen und die der Rechtsnorm zugrunde liegenden Grundprinzipien und Wertentscheidungen zur Diskussion gestellt und als Grundlage für die Entwicklung eigener Einigungsoptionen herangezogen. Vor dem Hintergrund des konkreten Konfliktes können die Parteien nun diskutieren, ob die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegenden Wertungen auch auf die konkrete Konfliktsituation zutreffen und der verhandelte Konflikt dem von der Rechtsnorm ins Auge gefassten Regelfall entspricht. Ist dies nicht der Fall, können Verhandlungspartner die Unschärfe der gesetzlichen Regelung individuell korrigieren und auf der Grundlage der materiellen Rechtslage eine auf den konkreten Sachverhalt zugeschnittene Lösung erarbeiten. Das materielle Recht dient dabei sowohl als Grundlage für die Entwicklung eigener Lösungen als auch als Maßstab für die inhaltliche Ausgewogenheit der zu entwickelnden Einigungsoptionen.71 Den Orientierungsmaßstab bildet in diesen Fällen die vom Gesetzgeber mit der Rechtsnorm verfolgte Wertentscheidung, nicht die konkrete normtechnische Umsetzung. Weil das Gesetz aufgrund seiner systemimmanenten Unschärfe im Einzelfall eine interessengerechte Regelung bisweilen verfehlt, kann eine privatautonome Einigung, die sich an Sinn und Zweck der Rechtsnorm orientiert und die ihr eigene Unschärfe auszugleichen vermag, dem Ziel des Gesetzgebers sogar in vollkommenerer Weise nachkommen, als dies durch formelles Gesetzesrecht möglich wäre. Dass dieser Mechanismus der Korrektur des starren Gesetzesrechts durch flexible Billigkeit dem Verhältnis von Recht und Billigkeit, Law und Equity entspricht, bestätigt den im Gang unserer Untersuchung hergeleiteten Befund, mit dem Mediationsverfahren auf die moderne Ausprägung des dem Recht seit jeher immanenten Prinzips der Billigkeit gestoßen zu sein. Diesem Befund entspricht unser Ergebnis, dass materielles Recht innerhalb des Billigkeitsrechts grundsätzlich in seinem nach Sinn und Zweck bestimmten Inhalt, weniger in seiner Form Bedeutung erlangt. c) Information: Objektivierung irrealer Rechtsvorstellungen (reality check) Die Mediation setzt als privatautonomes Verfahren eine informierte Entscheidung (informed consent) der Parteien über den Konfliktgegenstand voraus. Die Kenntnis aller konfliktrelevanten Umstände einschließlich der den Parteien jeweils zustehenden Rechtsansprüche, der Nichteinigungsalternativen und damit auch der Erfolgsaussichten in einem nachfolgenden Gerichtsverfahren bildet
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Vgl. zu dieser Differenzierung Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 17; Gottwald, AnwBl 2000, 265, 268; Mähler/Mähler, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 9, 30; Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 67 f. 71 Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 17.
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die Voraussetzung für eine auch in tatsächlicher Hinsicht privatautonome Entscheidung. Allerdings wird eine Einigung häufig durch überspannte Erwartungen, eine unrealistische Beurteilung der Rechtslage und Informationsasymmetrien erschwert. Die sozial- und verhaltenspsychologische Forschung hat eine Reihe wirkungsmächtiger Wahrnehmungsverzerrungen nachgewiesen, die eine realistische und rationale Entscheidung der Parteien und damit häufig auch eine Einigung der Parteien im Mediationsverfahren verhindern.72 Von besonderer Bedeutung sind aufgrund des intuitiven Bedürfnisses nach kognitiver Konsonanz Mechanismen selektiver Wahrnehmung: Dabei werden Informationen selektiv nur insoweit wahrgenommen, als sie mit unseren bestehenden Erwartungen, Hoffnungen und Bewertungen übereinstimmen.73 So führt die Illusion der Überlegenheit zu einer irrationalen Überschätzung der eigenen Interessen, Fähigkeiten und Bewertungen sowie der eigenen Beiträge zum Fortgang der Verhandlung. Eigene Zugeständnisse werden auf-, die des Verhandlungspartners abgewertet. Das Phänomen der reaktiven Abwertung (reactive devaluation) hat zur Folge, dass die Rechtsauffassung des Verhandlungspartners oder ein kritisches Hinterfragen der geltend gemachten Rechtsansprüche als unrealistische Forderung oder als taktisches Verhandlungsverhalten der anderen Partei angesehen werden. Aufgrund der Illusion der Gewissheit überschätzen die Parteien regelmäßig ihre Fähigkeit, zukünftige, ungewisse Ereignisse wie etwa den Ausgang eines möglichen nachfolgenden Zivilprozesses, die weitere Entwicklung eines Unternehmens oder die Liquiditätssituation realistisch zu beurteilen. Illusorischer Optimismus (overconfidence bias) führt schließlich zu einer überpositiven Beurteilung der eigenen Verhandlungsposition einschließlich der Erfolgsaussichten in einem möglichen nachfolgenden Rechtsstreit, weil die Stärken der eigenen Position überbewertet, die Schwächen dagegen ausgeblendet werden. Daraus ergibt sich das für Verhandlungen wie auch die zivilgerichtliche Praxis charakteristische Ergebnis, dass sich die wahrgenommenen Erfolgsaussichten beider Parteien auf einen Wert addieren, der 100 % weit übersteigt. Die Wirkungen selektiver Wahrnehmung verstärken sich gegenseitig und im Zusammenspiel mit weiteren psychologischen Mechanismen: So festigt die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten zur Beurteilung der geltend gemachten Rechtsansprüche, die sich etwa im Verzicht auf neutralen Rechtsrat äußern kann, die überoptimistische Einschätzung der Erfolgsaussichten im Zivilprozess. Die Verhandlungsposition wird so zementiert und bildet einen Wahrnehmungsanker, der einen negativen Bezugsrahmen 72
Vgl. hierzu eingehend vgl. Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. mwN. Vgl. auch Mnookin, 8 Ohio St. J. on Disp. Resol. 235, 243 ff. (1993); Jones/Yarn, 2003 J. Disp. Resol. 427, 456 ff. (2003). 73 Vgl. hierzu Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 38.
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eröffnet, welcher eine Einigung als Verlust gegenüber der eigenen irrealen Prozesserwartung erscheinen lässt. Die Reziprozitätserwartung des Verhandlungspartners wird enttäuscht, eine Einigung aufgrund der Verlustaversion, die durch den Nullsummenmythos noch verstärkt wird, vermieden. Die Parteien sind in ihrer eigenen Realität gefangen und führen die Verhandlung mit unrealistischen Erwartungen im Hinblick auf das Gewicht ihrer eigenen Interessen im Vergleich zu denen ihres Verhandlungspartners, hinsichtlich der Durchsetzbarkeit der von ihnen geltend gemachten Positionen und ihrer Nichteinigungsalternativen. Eine Auflösung dieser Wahrnehmungsverzerrungen bedarf aufgrund des Phänomens der reaktiven Abwertung eines objektiven Standards und erfolgt im Mediationsverfahren regelmäßig durch das materielle Recht. Die Konfrontation der Parteien mit der Realität der objektiven Rechtslage (reality check) wird prozedural durch eine vom Mediator moderierte Analyse der Stärken und Schwächen der eigenen Position (best and worst case scenario), eine Prozessrisikoanalyse oder durch internen oder externen Rechtsrat, etwa durch den Anwaltsmediator oder einen externen Berateranwalt, umgesetzt. Ist der Mediator an der Erörterung der Rechtslage beteiligt, so ist die im weiteren Gang unserer Untersuchung zu klärende Frage zu prüfen, ob und inwieweit ein solches Rollenverständnis mit der Neutralitätspflicht des Mediators vereinbar ist. Dies kann etwa dann in besonderer Weise geboten sein, wenn zwischen den Parteien aufgrund einer Informationsasymmetrie zugleich ein erhebliches Machtungleichgewicht besteht, das eine in tatsächlicher Hinsicht informierte, privatautonome Einigungsentscheidung beider Parteien und oft auch ein faires Ergebnis verhindert. Zusammenfassend kommt dem materiellen Recht in der Mediation eine Informationsfunktion zu, die in dreifacher Hinsicht von Bedeutung ist: 1) Sie schafft die Voraussetzungen für eine auch in tatsächlicher Hinsicht privatautonome Entscheidung, 2) sie dient der Überwindung von wahrnehmungsbedingten Einigungshindernissen und sie führt 3) zu einem Ausgleich von Informationsasymmetrien und fördert damit die Beseitigung von Machtungleichgewichten. d) Akzeptanz: Legitimation durch objektive Kriterien Der erfolgreiche Abschluss des Mediationsverfahrens durch eine gemeinsame Einigungsentscheidung setzt voraus, dass dem Mediationsvergleich Bewertungskriterien zugrunde liegen, die für beide Parteien gleichermaßen zustimmungsfähig sind. Eine derartige Akzeptanz kommt grundsätzlich dem materiellen Recht als Entscheidungsmaßstab zu. Sie beruht auf seinen von uns bereits
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in den Blick genommenen vier prägenden Eigenschaften: Seiner Qualität, Legitimität, Neutralität und seines Gerechtigkeitsgehaltes.74 Damit wird ein Verhandlungsergebnis, das sich am materiellen Recht als Bewertungsmaßstab orientiert, grundsätzlich auch dann von den Parteien akzeptiert, wenn es hinter ihren Erwartungen zurückbleibt. Die von den Parteien getroffene Vereinbarung nimmt damit an der Autorität des materiellen Rechtes als normativer Ordnung teil. Daneben wird im Mediationsverfahren jedoch noch ein weiterer Legitimationsmechanismus wirksam, der dem Zivilprozess weitgehend fremd ist: Indem sich die Parteien im Rahmen der Rechtsverwendung mit den Wertentscheidungen auseinandersetzen, die der gesetzlichen Regelung nach ihrem Sinn und Zweck zugrunde liegen, indem sie sich um ein Verständnis der Intention des Gesetzgebers bemühen und die Wertungen des Gesetzes als Grundlage und Maßstab ihrer eigenen Lösung heranziehen, machen sie sich das materielle Recht und die ihm zugrunde liegenden Prinzipien gleichsam zu eigen. Dieser „Aneignungsprozess“ erfolgt durch freiwillige Einbeziehung des Rechts als materiellen Bewertungsmaßstab in die ausgehandelte Vereinbarung, und diese Freiwilligkeit ist für die Akzeptanz des Rechts als Einigungsgrundlage und der Einigung selbst von zentraler Bedeutung. In ihr unterscheidet sich das Mediationsverfahren deutlich vom Zivilprozess. In der heteronomen Verbindlichkeit des Rechts und in seinem Befehlscharakter dürfte die Ursache dafür liegen, dass dieselben Normen im Kontext des Zivilprozesses bisweilen eine geringere Akzeptanz erfahren als dies im Mediationsverfahren der Fall ist, wo sie ihrem Sinn und Zweck entsprechend von den Parteien rezipiert und ihrer Einigungsentscheidung privatautonom zugrunde gelegt werden. e) Fairness: Ausgleich von Machtasymmetrien und Sicherung gerechter Ergebnisse Dem materiellen Recht kommt im Mediationsverfahren darüber hinaus eine zentrale Bedeutung für die Sicherung gerechter Ergebnisse zu. Angesprochen ist mit der Gerechtigkeitsfunktion zugleich eine dem Recht ureigene Aufgabe, die sie mit der Mediation als „gerechtem Verfahren“ der Billigkeit verbindet.75 Sie wird wirksam durch 1) das ius dispositivum, 2) das ius cogens und 3) durch den Ausgleich von Machtasymmetrien. Das ius dispositivum stellt den Parteien im Mediationsverfahren einen Corpus an Rechtsnormen zur Verfügung, den sie bei der Entwicklung von Einigungsoptionen als Grundlage oder Maßstab einer möglichen Vereinbarung heranziehen können. Es enthält den reichen Erfahrungsschatz gelebter Rechtswirklichkeit, der in der Auseinandersetzung mit
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Vgl. hierzu oben S. 293 f. Vgl. zum Begriff und zur strukturellen Gerechtigkeit als Wesensmerkmal des Mediationsverfahrens oben S. 179 ff. 75
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gleichgelagerten Konflikten in Gesetzesform gegossen rechtlich Gestalt angenommen hat. Da sich die gesetzliche Regelung a priori um eine ausgewogene Lösung bemüht, kommt ihr regelmäßig ein besonderer objektiver Gerechtigkeitsgehalt zu. Dies gilt in besonderer Weise für das ius cogens, das die Grenze zu jenen Vereinbarungen zieht, die aufgrund ihrer evidenten Unbilligkeit als schlechthin unvereinbar mit dem Gerechtigkeitsanspruch des Rechts und den der Verfassungsordnung zugrunde liegenden Wertgrundsätzen angesehen werden. Von Bedeutung sind dabei vor allem die Vorschriften der §§ 123 Abs. 1, 134, 138 BGB, die gleichsam als Leitplanke den Rahmen einer zulässigen Einigung der Parteien abstecken. Die Gerechtigkeitsfunktion des materiellen Rechts wirkt über die Auflösung von Informationsasymmetrien schließlich durch den Ausgleich von Machtungleichgewichten. Dies wird vor allem dort relevant, wo das materielle Recht den Beteiligten Vorschriften zum Schutz strukturell schwacher Vertragspartner zur Seite stellt, wie dies etwa in den ebenfalls zwingenden Kündigungsvorschriften des Wohnraummietrechts nach § 573 BGB der Fall ist. Aber auch im Bereich des dispositiven Gesetzesrechts kann Machtungleichgewichten, soweit sie durch Informationsdefizite der strukturell schwächeren Partei bedingt sind, durch Aufklärung über die ihnen nach dem objektiven Recht zustehenden Rechtsansprüche begegnet werden. f) Formeller Rahmen: Leitplankenfunktion und Typenzwang Neben seiner orientierenden (ius dispositivum) und seiner begrenzenden (ius cogens) Funktion als Gerechtigkeitsmaßstab bildet das materielle Recht im Sinne einer Leitplankenfunktion den formellen Rahmen, innerhalb dessen eine Einigung erfolgen kann. Dies betrifft nicht nur die Zulässigkeitsgrenzen des zwingenden Rechts, die wir gerade im Rahmen der §§ 123 Abs. 1, 134, 138 BGB in ihrer Funktion als Minimalstandard objektiver Gerechtigkeit kennengelernt haben. Es betrifft vor allem auch die Form, in die ein materiell zulässiges Einigungsergebnis von den Parteien zu fassen ist. So bilden die Formvorschriften der §§ 311b Abs. 1, 128 BGB etwa für Grundstückskäufe oder jene der §§ 550, 126 BGB für Wohnraummietverträge den notwendigen rechtlichen Rahmen, der auch von den Parteien im Mediationsverfahren zu beachten ist, wollen sie dem von ihnen abgeschlossenen Mediationsvergleich rechtliche Wirksamkeit verleihen. Der sachenrechtliche Typenzwang bindet die Parteien ebenfalls in der kautelarjuristischen Umsetzung des Einigungsergebnisses in verbindliches Individualvertragsrecht. Um zu vermeiden, dass der Mediationsvergleich selbst zum Gegenstand eines neuen Konfliktes wird, sind Rechte und Pflichten der Parteien präzise zu definieren sowie Regelungen für den Fall zu treffen, dass
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die Parteien ihren Verpflichtungen nicht nachkommen.76 Damit stellt sich die Abschlussvereinbarung, die als Mediationsvergleich das von den Parteien entwickelte Einigungsergebnis rechtlich fixiert, als komplexes vertragsrechtliches Regelungswerk dar, in dem materiellen Recht als Grenze zulässiger Vertragsinhalte wie auch als Gestaltungsmittel zentrale Bedeutung zukommt. g) Rechtsschutz: Recht als Rückgriffsordnung Die Mediation vollzieht sich im „Schatten des Rechts“77. Obwohl die Parteien mit der Wahl der Mediation als privatautonomem, interessenorientiertem Verfahren das positive Recht in seinem Befehlscharakter als autoritatives Ordnungssystem derogieren, erfolgt die Mediation, wie wir im Gang unserer Betrachtung gesehen haben, keineswegs in einem rechtsfreien Raum. Dem Recht kommt im Mediationsverfahren eine zentrale Rolle zu, sei es als freiwillig vereinbarte verbindliche Entscheidungsgrundlage, als unverbindlicher Orientierungsmaßstab, in seiner Informations-, Akzeptanz- und Gerechtigkeitsfunktion oder als formeller Rahmen des zu entwickelnden Mediationsvergleichs. Das materielle Recht beschränkt sich in seiner Bedeutung für die Mediation dabei jedoch nicht auf die mit diesen Aufgaben angesprochene nährende und begrenzende Funktion, sondern ist als Rückgriffsordnung für das Mediationsverfahren regelmäßig konstitutiv. Weil den Parteien als Nichteinigungsalternative stets die Möglichkeit der Beschreitung des Rechtsweges offensteht, sie sich bei einem Scheitern der Mediation mit einem nachfolgenden Zivilprozess konfrontiert sehen, besteht für sie ein erheblicher Verhaltensanreiz, das Mediationsverfahren auch tatsächlich durchzuführen und erfolgreich zu beenden. Es ist das über den Parteien gleichsam unsichtbar und dennoch stets gegenwärtig schwebende Damoklesschwert des Zivilprozesses, das die Parteien grundsätzlich zur Durchführung des Mediationsverfahrens motiviert und das Einigungsergebnis wesentlich mitbestimmt. Diese konstitutive Funktion des materiellen Rechts für die Mediation setzt indes voraus, dass die Parteien über eine realistische Vorstellung der ihnen und ihrem Verhandlungspartner zustehenden Rechtsansprüche und der jeweiligen Erfolgsaussichten in einem nachfolgenden Zivilprozess verfügen. Denn nur, wenn sie die materielle Rechtslage realistisch, frei von Überoptimismus und anderen Wahrnehmungsverzerrungen78 beurteilen und damit die ihnen und den anderen Parteien tatsächlich zur Verfügung stehenden Nichteinigungsalternativen kennen, vermag das materielle Recht seine verhaltenssteuernde Funktion 76
Vgl. Risse, Wirtschaftsmediation (2003), S. 301. Vgl. Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). 78 Hierzu eingehend Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. sowie unten S. 699 ff. 77
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und seine Aufgabe als Maßstab für die Bestimmung des Einigungsbereiches zu erfüllen. Die Funktionen, die dem materiellen Recht im Rahmen des Mediationsverfahrens zukommen, ergänzen sich damit gegenseitig. Neben der umfassenden Information der Parteien über die materielle Rechtslage ist für die konstitutive Wirkung des materiellen Rechts jedoch noch ein weiterer Aspekt von Bedeutung, der vor dem Hintergrund der Institutionalisierung des Mediationsverfahrens in zunehmenden Maße relevant wird: Die Information der Parteien über die Funktionalität des Mediationsverfahrens, vor allem im Vergleich mit den systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses. Denn nur, wenn den Parteien die Grundzüge und wesentlichen Verfahrenseigenschaften der Mediation bekannt sind, vermag der Zivilprozess als Instrument zur Durchsetzung des materiellen Rechts verhaltenssteuernde Wirkung zu entfalten. Die konstitutive Funktion des materiellen Rechts für die Mediation ist damit nicht exklusiv. Es ist einer der wichtigsten, aber gleichwohl einer von mehreren motivierenden Faktoren für die Entscheidung der Parteien zur Durchführung der Mediation. Häufig werden sich die Parteien allein aufgrund der Vorteile der Mediation, vollkommen unabhängig von der materiellen Rechtslage, für die Durchführung eines Mediationsverfahrens entscheiden. Aus unserem Befund, dass die konstitutive, verhaltenssteuernde Wirkung des materiellen Rechts im Hinblick auf die Wahl der Mediation als Streitbeilegungsverfahren wesentlich von der Information der Parteien a) über die materielle Rechtslage und b) die Vorteile des Mediationsverfahrens bestimmt wird, ergeben sich weitreichende verfahrensrechtliche Konsequenzen. Sie betreffen, wie wir im weiteren Gang unserer Untersuchung sehen werden,79 vor allem das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess innerhalb des zu entwickelnden dogmatischen Systems einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre sowie die Integration der Mediation in den Zivilprozess. Setzt die konstitutive Wirkung des materiellen Rechts als Rückgriffsordnung für das Mediationsverfahren eine umfassende Information der Parteien über materielles Recht und Mediationsverfahren voraus und beruht – wie die empirische Begleitforschung gerichtsnaher Mediationsprogramme in Deutschland nahelegt – die Ablehnung der Mediation durch die Parteien unserem Befund folgend auf einem entsprechenden Informationsdefizit, so erscheint es sinnvoll, den Ausfall der Anreizwirkung durch eine gesetzliche Regelung in Form einer obligatorischen Verpflichtung zur alternativen Streitbeilegung80 im Sinne eines Vorschaltverfahrens vorzusehen, wie dies nach § 15a EGZPO für das Güteverfahren bereits für bestimmte Fallgruppen geregelt ist und nach § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO vom Prozessgericht durch Verweisung in das Güterichterverfahren angeordnet werden kann. Darüber hinaus kommt dem materiellen Recht nicht nur im Vorfeld der Mediation im Rahmen seiner konstitutiven, sondern auch in der Nachwirkung des 79 80
Vgl. unten S. 810 ff. Vgl. hierzu oben S. 512 ff.
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Mediationsverfahrens im Rahmen seiner durchsetzenden Funktion eine zentrale Rolle zu. Indem das materielle Recht das Verhandlungsergebnis der Parteien in die rechtliche Form eines Mediationsvergleichs nach § 779 BGB kodiert, macht es die Einigung der Parteien rechtlich durchsetzbar und wirkt in dieser Weise wiederum als Verhaltensanreiz für die Wahl der Mediation als Streitbeilegungsform. Schließlich erfüllt das Recht eine zentrale, nach Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG unverzichtbare Rechtsschutzfunktion, indem es den Parteien durch materielle Rechtsansprüche und damit subjektive Rechte einen rechtlichen Schutz ihrer grundlegenden Interessen und Rechtsgüter garantiert. Diese zugunsten der einen Partei wirkende Rechtsschutzfunktion bildet die Kehrseite der für die andere Partei wirkenden konstitutiven Funktion des materiellen Rechts, die durch seine durchsetzende Wirkung ergänzt wird. Die drei Teilaspekte des materiellen Rechts als Rückgriffsordnung81 bilden eine Einheit und beschließen als externe, gleichsam nach außen wirkende Dimensionen den Kanon der Funktionen des Rechts im Mediationsverfahren. 3. Wirkbereiche des materiellen Rechts in der Mediation Materielles Recht wirkt in der Mediation auf verschiedenen Ebenen: a) bei der Entwicklung von Einigungsoptionen, b) bei der Bewertung von Nichteinigungsalternativen, c) in der Gestaltung der Abschlussvereinbarung und d) als objektives Kriterium für die Wertverteilung. a) Entwicklung von Einigungsoptionen. Den Einigungsoptionen kommt als Grundlage für die von den Parteien zu treffende Vereinbarung in der Mediation eine herausragende Rolle zu. Durch sie führen die Parteien den Ausgleich ihrer gegenseitigen Interessen herbei, durch sie beenden sie den in der Vergangenheit entstandenen Konflikt und durch sie gestalten sie schließlich ihr Verhältnis zueinander für die Zukunft neu. Das materielle Recht wirkt dabei im kreativen Prozess der Entwicklung des Pools unterschiedlicher Einigungsoptionen auf vielfältige Weise mit: Als verbindliche Entscheidungsgrundlage zur Überwindung des Wertverteilungsdilemmas, als unverbindlicher Orientierungsmaßstab bei der gemeinsamen Suche der Parteien nach einer tragfähigen Lösung ihres Konfliktes und schließlich als formeller Rahmen für die zu entwickelnden Einigungsoptionen. Besondere Bedeutung kommt dabei der bereits untersuchten Informations- und Gerechtigkeitsfunktion des materiellen Rechts zu: Die Kenntnis der Rechtslage sowie der hinter ihr stehenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers verhilft den Parteien zu einer informierten Entscheidung und versetzt sie so überhaupt erst in die Lage, die ihnen zustehende Privatautonomie auch tatsächlich auszuüben. Der Gerechtigkeitsgehalt des objektiven Rechts als Bewertungsmaßstab in Form des ius dispositivum als Ideal- und des
81
Vgl. hierzu oben S. 299 ff.
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ius cogens als Minimalstandard stellt sicher, dass die von den Parteien entwickelten Einigungsoptionen auch den Anforderungen objektiver Fairness entsprechen und damit von ihnen als nachhaltiges, dauerhaftes und insgesamt „gutes Verhandlungsergebnis“ akzeptiert werden. b) Bewertung von Nichteinigungsalternativen. Die Nichteinigungsalternativen der Parteien begrenzen den verfügbaren Einigungsbereich und sind damit vor allem für die Frage von Bedeutung, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Einigung überhaupt möglich ist. Dem materiellen Recht kommt dabei vor allem im Hinblick auf die Bewertung der Nichteinigungsalternativen eine zentrale Rolle zu. Diese erfolgt vor allem im Wege der Prozessrisikoanalyse82, einer besonderen Form der Szenarioanalyse83 unter Verwendung von Entscheidungsbäumen, sowie durch das Einholen objektiven Rechtsrates, etwa durch Gutachten oder unabhängige Berateranwälte. Da die Parteien ihre Erfolgsaussichten in einem nachfolgenden Zivilprozess aufgrund kognitiver Wahrnehmungsverzerrungen (selektiver Wahrnehmung aufgrund des kognitiven Konsonanzbedürfnisses, Illusion der Gewissheit, Illusion der Überlegenheit, Illusorischer Optimismus, Wahrnehmungsanker, Bezugsrahmen, Nullsummenmythos) und der mit ihnen zusammenwirkenden Verhaltensmuster (reaktive Abwertung, Verlustaversion, Verstrickung) regelmäßig überschätzen, ist die Korrektur irrealer Bewertungen der Nichteinigungsalternativen durch die Konfrontation der Parteien mit dem materiellen Recht für den erfolgreichen Abschluss des Mediationsverfahrens von entscheidender Bedeutung. Vor allem die Informationsfunktion des Rechts kommt im Kontext der Nichteinigungsalternativen in besonderer Weise zum Tragen: Sie dient nicht nur der Überwindung von Einigungshindernissen und der Stärkung der tatsächlichen Privatautonomie der Parteien, sondern trägt durch die Auflösung von Informationsasymmetrien darüber hinaus zum Ausgleich struktureller Machtungleichgewichte bei. c) Gestaltung der Abschlussvereinbarung. Der dritte Wirkbereich des materiellen Rechts im Mediationsverfahren betrifft die individualvertragliche Umsetzung der getroffenen Vereinbarung in einer als Vergleichsvertrag iSd. § 779 BGB ausgestalteten Abschlussvereinbarung. Das materielle Recht dient hier als Gestaltungsmittel, mit dessen Hilfe die Parteien ein gemeinsames Vertragswerk entwickeln, das ihre Einigungsentscheidung durch den Einsatz der zur Verfügung stehenden Rechtsinstitute in eine rechtlich durchsetzbare Form gießt. Es wirkt dabei nicht nur als ein formeller Rahmen, der durch das ius disopositivum und das ius cogens bestimmt wird. Ihm kommt als Instrument zur Realisierung innovativer Kooperationsgewinne im Sinne von win-win-Lösungen eine zentrale Bedeutung für den Wertschöpfungsprozess zu, der – wie 82 Hierzu eingehend Eidenmüller, ZZP 113 (2000), 5 ff.; Bühring-Uhle/ Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 100 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 243 ff. 83 Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 181 f.
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wir bereits gesehen haben – den Schwerpunkt interessenorientierten Verhandelns nach dem Harvard-Modell bildet. Durch seine rechtsgestaltende Funktion dient das materielle Recht zugleich der rechtlichen Durchsetzung des Mediationsergebnisses für den Fall, dass eine der Parteien ihrer Verpflichtung aus dem Mediationsvergleich nicht nachkommt. Indem es die Beziehung der Parteien zueinander für die Zukunft regelt, entfaltet es Wirkungen, die über das Mediationsverfahren selbst hinausgehen und im Fall eines nachfolgenden Konfliktes sogar zum Gegenstand eines möglichen Zivilprozesses werden können. 4. Gefahren der Thematisierung des Rechts Die Thematisierung des Rechts im Mediationsverfahren birgt indes auch Risiken, die bei der Entwicklung unseres Verfahrensmodells zu berücksichtigen sind. Denn mit dem Recht als autoritativem, abstrakt-generellem Ordnungssystem tritt den Parteien ein Bewertungsmaßstab gegenüber, der der Struktur des privatautonomen, kooperativen, auf Interessen gerichteten Mediationsverfahrens geradezu diametral entgegengesetzt ist. Aus der strukturellen Antinomie zwischen interessen- und rechtsorientierter Kommunikation ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das den kooperativen Wertschöpfungsprozess der Parteien erheblich beeinträchtigen kann. Entsprechend hat auch das Schrifttum wiederholt auf die Folgen der dominierenden Wirkung des Rechts innerhalb des Mediationsverfahrens hingewiesen: „The law [can be] like an elephant in the room. The mediator's job is to discharge the power ... the law has over people”.84 Danach können die Autorität des Rechts und seine Dominanz im Verfahren den Parteien den Blick auf ihre tatsächlichen Interessen verstellen und den gemeinsamen, auf die Entwicklung kreativer Lösungen gerichteten Wertschöpfungsprozess einer richterlichen Vergleichsverhandlung so sehr annähern, dass dies zu einem Verlust der die Mediation in ihrem Wesen bestimmenden Verfahrenseigenschaften führen kann und die Mediation gerade jener Verfahrensvorteile beraubt, die sie gerade gegenüber dem Zivilprozess auszeichnen.85
84 Kurtzberg/Henikoff, 1997 J. Disp. Resol. 53, 111 (1997). Vgl. auch Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 529 (2006): „ … law is like bringing an elephant into the room. The power and authority of the law will inevitably dominate, making it impossible for the parties to focus on their real business and personal interests and priorities. … In effect, we hope to cut the elephant down to manageable size ̶ no bigger or smaller than the parties want it to be.“ 85 So Kovach, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 27, 57 (2005): „With what might be termed the overuse of the law in mediation, many of the distinct characteristics of the process such as party empowerment and creative option generation have been minimized or lost. Even though mediators, with a focus on the interests of the parties and moving beyond legal considerations, may try to conduct the process in a manner consistent with early goals and objectives of the process, because of lawyer conduct and role dominance, they hesitate to do
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a) Auswirkungen rechtlicher Kommunikation im Mediationsverfahren Die Thematisierung des Rechts wirkt sich dabei in mehrfacher Hinsicht auf den Einigungsprozess der Parteien aus: Weil es den Parteien klar definierte Rechtsansprüche gewährt, verstärkt es ihre Verstrickung in ein auf Recht fixiertes Positionsdenken (positional bargaining), das durch das Mediationsverfahren eigentlich gerade überwunden werden soll. Durch die binäre Struktur seiner Alles-oder-Nichts-Entscheidungen verstärkt es das Verständnis des Konfliktes als Nullsummenspiel (Nullsummenmythos) und kann so eine auf den Ausgleich der gegenseitigen Interessen gerichtete Einigung blockieren.86 Sind die Parteien nicht über die systemimmanenten Schwächen abstrakt-genereller Regelungen zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit aufgeklärt, so kann eine zu starke Bindung an die gesetzliche Regelung als Entscheidungsmaßstab dazu führen, dass das ius dispositivum in seinem disponiblen Angebotscharakter verkannt und das Recht nicht als Orientierungsmaßstab verwendet, sondern ohne kritische Reflexion angewendet und unter den konfliktauslösenden Sachverhalt subsumiert wird.87 Die der gesetzlichen Regelung eigentlich zugrunde liegenden Wertungen des Gesetzgebers, die Variation möglicher Interpretationen wie auch die Frage, ob der von der Rechtsnorm ins Auge gefasste Regelfall im konkreten Konflikt überhaupt gegeben ist, bleiben dabei regelmäßig außer Betracht. Aber selbst wenn der Konflikt dem von der Rechtsnorm geregelten typischen Fall entspricht, steht es den Parteien frei, sich von der dem Gesetz zugrunde liegenden Wertung oder etwa einer typisierten Risikoverteilung zu lösen und ihre Lösung auf der Grundlage des materiellen Rechts als Orientierungsmaßstab auf die konkreten Bedürfnisse der Parteien zuzuschneiden.88 Die Thematisierung des Rechts kann diese Gestaltungsmöglichkeiten der Parteien in den Hintergrund treten lassen. Das Aufwerfen der Rechtsfrage, der Wechsel von einer interessenbezogenen Sach- hin zu einer positionsbezogenen Rechtskommunikation, hat darüber hinaus jedoch erhebliche Konsequenzen für die Beziehung der Parteien untereinander, auf die Luhmann hingewiesen hat: Wie wir im Rahmen unserer Analyse des Zivilprozesses aus der Perspektive der
so. As a result, in many cases, mediation much more resembles traditional settlement conferences rather than the innovative and creative process that it was intended by many to be.” Vgl. für die sieben Verfahrensprinzipien der Mediation – Privatautonomie, Kooperation, Orientierung an Parteiinteressen, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität, Vermittlung durch neutralen Dritten – eingehend oben S. 124 ff. 86 Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 19. 87 Vgl. zur Frage der überdehnten Gesetzesgläubigkeit Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 19. 88 Vgl. Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 18.
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§ 5 Mediation und materielles Recht
Rechtstheorie gesehen haben, prägt die Thematisierung des Rechts das Konfliktverhalten der Parteien hin zu aggressiven Handlungsmustern und trägt so zu einer weiteren Eskalation des Konfliktes bei. Das Überschreiten der Thematisierungsschwelle setzt einen Kettenprozess in Gang, dessen Eigendynamik sich die Parteien nun nicht mehr ohne weiteres entziehen können.89 Wie im Zivilprozess wird der ursprüngliche Sachkonflikt durch komplexitätsreduzierende Verrechtlichung in einen rechtlichen Metakonflikt transformiert, in dem die rechtliche Kommunikation aufgrund der Eigengesetzlichkeit rechtlicher Argumentation auf einen character contest im Sinne Erving Goffmans zuläuft, der die Verhaltensbeiträge der Beteiligten den Kategorien des Rechts und Unrechts zuordnet und sie so in die Rolle des Siegers oder des Verlierers zwingt. In diesem abgeleiteten Metakonflikt über die materielle Rechtslage geht es nicht um die dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen der Parteien, sondern nur noch darum, aus dem Konflikt um jeden Preis als Sieger hervorzugehen. Aufgrund der kontrafaktischen Stabilisierung der Erwartungen, die zu einer unwiderruflichen Zementierung der zu Beginn eingenommenen Rechtspositionen führt, ist eine Rückkehr in die Rolle des Problemlösers nicht mehr ohne weiteres möglich. Einmal aufgeworfen und für die Verteidigung der eigenen Verhandlungsposition in Anspruch genommen, kann die einmal eingenommene Haltung ohne Gesichtsverlust kaum wieder aufgegeben werden. Denn indem sich die Parteien auf einen ihnen nach ihrer Auffassung jeweils zustehenden Rechtsanspruch berufen, werfen sie gleichsam den Fehdehandschuh90 in den Ring und schneiden den bis dahin kooperativen Prozess der einvernehmlichen Erarbeitung eines tragfähigen Konsenses mit der Berufung auf die scheinbar neutrale Entscheidung einer fernstehenden Instanz ab, auf deren Beschluss die Parteien selbst keinen Einfluss mehr haben.91 Durch den Verweis auf objektive, feststehende Rechtsnormen entziehen sie sich jener inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Konflikt, die eigentlich gerade im Zentrum des Mediationsverfahrens steht, und machen der anderen Partei so deutlich, dass man auf eine Sachdiskussion oder ihre Interessen gar nicht einzugehen bereit ist.92
89 Vgl. oben S. 24 ff.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 60, 71; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff. 90 Ähnlich auch Greger, JZ 1997, 1077, 1078 f. 91 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 62. 92 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 62 f.
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b) Verhandlungsverhalten und Thematisierungsmodus als Risikofaktoren Allerdings hat die Thematisierung des Rechts im Mediationsverfahren nicht zwangsläufig eine Eskalation des bestehenden Konflikts zur Folge. Entscheidend sind vielmehr das Verhandlungsverhalten der Parteien und der Thematisierungsmodus, d.h. die Art und Weise, in der das Recht in die Mediation eingeführt wird. Bleibt das Verhalten der Parteien an den wesentlichen Verfahrensprinzipien der Mediation, die wir im Rahmen unserer Strukturanalyse herausgearbeitet haben, ausgerichtet und wird das materielle Recht in seinem disponiblen Angebotscharakter als einer von mehreren möglichen Beurteilungsmaßstäben in die Verhandlung eingeführt, so wandeln sich die Risiken einer Thematisierung des Rechts in einen für das Mediationsverfahren unverzichtbaren Nutzen.93 Zentral ist hierfür die Einsicht in das Wesen der Mediation als privatautonomen Verfahren und sein Verhältnis zum materiellen Recht, das wir bereits eingehend betrachtet haben: Im Mediationsverfahren erfolgt die eigenverantwortliche Beilegung des Konfliktes durch individualvertraglichen Mediationsvergleich, den die Parteien unter Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen in einem kooperativen Prozess gemeinsamer, kreativer Problemlösung selbständig erarbeiten. Das materielle Recht dient dabei als wesentlicher, jedoch nicht als einziger oder notwendiger Maßstab ihrer gemeinsamen Einigungsentscheidung. Das Verhalten der Beteiligten bleibt an den Grundsätzen der Kooperation, der Integration der gegenseitigen Interessen und relationalen Orientierung aufeinander hin ausgerichtet. Dagegen wäre es mit den grundlegenden Verfahrensprinzipien der Mediation unvereinbar, wenn die Parteien den Modus gegenseitiger, auf die Integration der beidseitigen Interessen ausgerichteten Prozess kooperativer Wertschöpfung verlassen und den gemeinsamen Wertschöpfungsprozess durch den Rückfall in positionsorientiertes Denken blockieren. Dies wäre vor allem dann der Fall, wenn die Verhandlungspartner eine die Ursachen des Konfliktes in den Blick nehmende Sachdiskussion durch Verweis auf die jeweils geltend gemachten Rechtsansprüche vermeiden, sich auf den unkritischen Austausch rechtlicher Argumente beschränken und das dispositive Gesetzesrecht und ihre eigenen Rechtspositionen als für das Mediationsverfahren einzig maßgebliche, verbindliche Entscheidungsgrundlage ansehen würden. Die Einbeziehung des Rechts in das Mediationsverfahren erweist sich damit aufgrund der zugrunde liegenden strukturellen Antinomie einander entgegengesetzter Ordnungssysteme und der daraus folgenden Risiken als komplexes Verfahrensproblem. Einen ersten Ansatz für eine Bewältigung des Spannungsverhältnisses im Mediationsverfahren bilden die Grundsätze für das Verhandlungsverhalten der Par-
93
So auch Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 19.
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§ 5 Mediation und materielles Recht
teien und für den Thematisierungsmodus, die wir auf der Grundlage der unterschiedlichen Funktionen des materiellen Rechts in der Mediation herausgearbeitet haben. c) Das understanding-based model of mediation als Lösungsansatz Ein praktisches Verfahrensmodell, das auf das Thematisierungsproblem in umfassender Weise antwortet, haben Friedman und Himmelstein mit ihrem understanding-based model of mediation vorgelegt. Vorrangiges Ziel dieses Verfahrensmodells ist die Stärkung der Privatautonomie der Parteien, indem diese durch eine umfassende rechtliche Erfassung des Konfliktgegenstandes zu einer informierten und damit auch tatsächlich privatautonomen Entscheidung befähigt werden. Die Parteien sollen von der Beherrschung durch das Recht befreit werden, gerade indem sie sich intensiv mit dem Recht auseinandersetzen: „The mediators ‚free the parties from the law‘ by dealing with it directly.“94 Das Recht wird in seiner für die Parteien oft überwältigenden und dominierenden Größe „zurechtgestutzt“ („people-size“) und so auch für sie selbst – ohne Vermittlung durch beratende Anwälte – handhabbar. Dadurch werden die Parteien in die Lage versetzt zu verstehen, auf welche Weise das Recht auf den von ihnen verhandelten Konflikt anwendbar ist, so dass sie ihm in ihrer Einigungsentscheidung so viel oder so wenig Raum geben können, wie sie für die zukunftsorientierte Lösung ihres Konfliktes für sinnvoll erachten.95 Der Ausgleich rechtlicher Informationsdefizite erfolgt dabei auf drei Ebenen: 1) Durch Information der Parteien über den Inhalt des materiellen Rechts, 2) durch die Vermittlung des Verständnisses der dem Recht zugrunde liegenden Prinzipien und Wertentscheidungen des Gesetzgebers und 3) durch Aufklärung der Parteien über den dispositiven Charakter des materiellen Rechts im Mediationsverfahren.96 1. Auf der ersten Ebene der Information über den Inhalt des Rechts (Educating the Parties)97 kommt dem Mediator in seiner verfahrensleitenden Funktion die Aufgabe zu sicherzustellen, dass die Parteien über ein sowohl in materieller als auch in zivilprozessualer Hinsicht umfassendes Bild der objektiven Rechtslage in dem konkreten Konfliktfall verfügen, dass sie sich über die mit der Interpretation des Gesetzesrechts verbundenen Unsicherheiten im Klaren sind und dass sie schließlich die Grenzen einer auf Prozessrisikoanalysen beruhenden Prognose der Erfolgsaussichten eines nachfolgenden Gerichtsverfahrens erkennen. Damit die Parteien die materielle Rechtslage auch in tatsächli-
94
Kurtzberg/Henikoff, 1997 J. Disp. Resol. 53, 111 (1997). Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 552 (2006). 96 Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 552 (2006). 97 Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 540 (2006). 95
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cher Hinsicht verstehen und als handhabbaren Maßstab ihrer Einigungsentscheidung zugrunde legen können, muss das Recht zunächst entsprechend dem jeweiligen Grad des Verständnisses aus der juristischen Terminologie in die Sprache der Parteien übersetzt werden. Durch spezielle Kommunikationstechniken – etwa durch Spiegeln und Paraphrasieren98 – stellt der Mediator dabei sicher, dass die Parteien auch tatsächlich über eine klare Vorstellung der materiellen Rechtslage verfügen und die Prognose der Erfolgsaussichten in ihrer Begrenztheit realistisch bewerten. Zur Überwindung von kognitiven Wahrnehmungsverzerrungen als Einigungshindernissen ist ein intensives rechtliches briefing beider Verhandlungspartner auch und gerade bei juristisch beratenen Parteien erforderlich. Hierbei werden die Parteien – und wenn vorhanden auch ihre Anwälte – nicht nur mit einer realistischen Beurteilung der Rechtslage aus der Perspektive eines neutralen Dritten, sondern zugleich mit den Stärken und Schwächen der eigenen Position konfrontiert (SWOT-Analyse)99. Um den für einen solchen reality check erforderlichen sicheren Rahmen der Vertraulichkeit zu schaffen, in dem die Parteien sich offen und realistisch mit den Schwächen ihrer Rechtsposition auseinandersetzen, kann die Durchführung von Einzelgesprächen (caucus)100 erforderlich sein. 2. Auf der zweiten Ebene (Principles underlying the Law)101 steht der Schritt von der Kenntnis hin zu einem tatsächlichen Verständnis der dem Recht zugrunde liegenden Prinzipien und Wertentscheidungen im Mittelpunkt des Verfahrens. Relevant ist dieser Schritt vor allem für die unterschiedlichen Funktionen des materiellen Rechts, die wir im Gang unserer Untersuchung herausgearbeitet haben: Seine Funktion als verbindlicher Entscheidungsmaßstab, als objektives Kriterium im Prozess der Wertverteilung und im Rahmen der Bewertung der Nichteinigungsalternativen sowie seine Funktion als unverbindlicher Orientierungsrahmen bei der Entwicklung von Einigungsoptionen. In Friedmans und Himmelsteins Verfahrensmodell, dem Understanding-based Model of Mediation, werden diese Funktionen nun operationalisiert und in ein praktisches Handlungsprogramm für die Beteiligten eingebettet. Das die Rechtsnormen in ihrem binären Schematismus102 transzendierende Verständnis des Rechts wirkt in zwei Richtungen: Indem die Parteien den vom Gesetz geregelten typischen Fall in den Blick nehmen, den Konflikt vom konkreten 98
Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 139 f.; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 119 ff. 99 Hierzu Risse, Wirtschaftsmediation (2003), S. 339; Gläßer/Kirchhoff, ZKM 2007, 157, 159 100 Eingehend zur sog. Caucus-Mediation eingehend Calkins, 54 Drake L. Rev. 259 (2006); Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 355 ff. 101 Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 541 f. (2006). 102 Hierzu Luhmann, in: Asmussen/Pawlik (Hrsg.), Material über Zukunftsaspekte der Rechtspolitik (1976), S. 67, 69; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 sowie oben S. 20 ff.
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Sachverhalt lösen und ihn abstrahieren, können sie ein umfassendes Verständnis des Konflikts gewinnen und sich so darüber klar werden, um welchen typischen Interessenkonflikt es in dem Streitfall eigentlich geht. Sie erlangen ein Verständnis davon, wie der Konflikt im Kontext gesellschaftlicher Steuerung aus der Perspektive des Gesetzgebers betrachtet wird und wo sich der eigene Standpunkt innerhalb dieses Gefüges befindet. Dem Verständnis der abstrakten Interessenlage kommt damit zunächst eine analytisch-klärende Funktion im Hinblick auf den Konflikt selbst zu. Daneben wirkt die Auseinandersetzung der Parteien mit den die gesetzlichen Normen bestimmenden Grundprinzipien und Wertungen klärend im Hinblick auf das materielle Recht, und zwar wiederum auf zweifache Weise: Zum einen macht sie das Recht als Arbeitsmittel und Entscheidungsgrundlage für die Parteien selbst – nicht nur für die Parteianwälte – handhabbar und akzeptabel und öffnet durch seine Rezeption damit erst das Tor zur Schatzkammer des positiven Rechts als in Normen gegossener Lebensweisheit, das den Parteien zuvor regelmäßig aus Unwissenheit verschlossen geblieben war. Zum anderen verdeutlicht es den Parteien das richtige Verhältnis des materiellen Rechts zu den übrigen im Mediationsverfahren relevanten Entscheidungsgrundlagen. Indem das Recht für die Parteien verständlich wird, werden die Risiken der Thematisierung des Rechts minimiert, der Elefant auf ein für die Parteien verträgliches Maß zurückgeführt („it can humanize the law“).103 3. Diesem letzten Aspekt kommt auf der dritten Ebene, der Aufklärung der Parteien über den dispositiven Charakter des Rechts, eine zentrale Rolle zu. Für die erfolgreiche Integration des Rechts in das Mediationsverfahren ist ein klares Verständnis der Parteien von der Bedeutung und der Verbindlichkeit erforderlich, die dem materiellen Recht in der Mediation zukommen. Zentral ist hierbei die Unterscheidung zwischen der rechtsorientierten und der interessenorientierten Perspektive des Konfliktes als zwei unterschiedlichen, klar voneinander zu trennenden Realitäten. Obwohl sie auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind – das positive Recht dient gerade dem Ausgleich von Interessenkonflikten –, sind sie aufgrund der systemimmanenten Schwächen des Gesetzesrechts, das die Interessenkonflikte lediglich typisierend zu erfassen vermag, dennoch nicht miteinander identisch. Um die Trennung dieser beiden Bereiche zu operationalisieren, strukturiert der Mediator das Verfahren in entsprechender Weise in eine Rechts- und eine Interessendiskussion, wobei er zunächst auf die rechtlichen Aspekte des Konfliktes eingeht, um sodann die hinter den Rechtspositionen stehenden Interessen in den Blick zu nehmen. Sind an der Mediation auch Parteianwälte beteiligt, so übernehmen sie die Führung in der Rechtsdiskussion, während an der Interessendiskussion ganz überwiegend die Parteien selbst beteiligt sind. Dadurch werden den handelnden Akteuren
103
Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 542 (2006).
II. Recht als materieller Maßstab: Recht in der Mediation
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nicht nur die ihnen aufgrund ihrer jeweiligen Kompetenz zukommenden Sachfragen zugewiesen, sondern es wird darüber hinaus verhindert, dass die Parteianwälte den auf die Integration der gegenseitigen Interessen gerichteten kreativen Wertschöpfungsprozess durch sachfremden Austausch rechtlicher Argumente behindern und so die beiden klar voneinander zu unterscheidenden Perspektiven miteinander vermischen.104 Dem Mediator kommt im Hinblick auf die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren eine zweifache Aufgabe zu: Er ist nicht nur dafür verantwortlich, dass die Parteien das materielle Recht auch tatsächlich rezipieren und in seiner Bedeutung innerhalb des Mediationsverfahrens richtig einordnen. Er muss darüber hinaus stets, gleichsam wie durch eine bifokale Linse, neben dem Inhalt des Rechts auch die Auswirkungen der Thematisierung des Rechts auf den Konflikt und auf die Verhandlungsdynamik zwischen den Parteien im Blick behalten:105 Haben die Parteien die materielle Rechtslage einschließlich der Stärken und Schwächen der eigenen Rechtsposition realistisch und zutreffend erfasst und können sie das Recht in seiner tatsächlichen Bedeutung für das Mediationsverfahren zutreffend einschätzen?106 Oder sind sie vielmehr verunsichert, verwirrt, überfordert und haben das Ringen um eine interessengerechte Lösung zugunsten der ihnen von den Parteianwälten oder vom Gesetzesrecht vorgegebenen Lösung aufgegeben?107 Ist dies der Fall, so muss der Mediator dieser auf ein positionsorientiertes Verhandeln (positional bargaining) gerichteten Verhandlungsdynamik durch geeignete Interventionen entgegensteuern. Eine derart intensive Mitwirkung des Mediators an der Beurteilung der Rechtslage und damit auch an der Sachentscheidung der Parteien muss zu einem deutlichen Spannungsverhältnis mit seiner Pflicht zu parteilicher Neutralität und Unabhängigkeit führen. Angesprochen ist damit die Frage der Sachbeurteilungsbefugnis des Mediators und damit das grundsätzliche Problem des 104 Friedman und Himmelstein beschreiben in Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 530 (2006) diesen Prozess plastisch als „sizing up the elephant“, in deren Ergebnis die Relevanz rechtlicher Fragen und ihre Auswirkungen auf eine mögliche Einigung ermittelt werden: „We also differentiate between the role of the parties and of the lawyers in the mediation; otherwise, the lawyers may easily dominate. The lawyers will take the lead in the legal conversation (Conversation One). The parties, the experts in their own business and personal realities, lead that conversation (Conversation Two). If we didn't talk about the law at all, the lawyers would almost certainly feel compelled to add their two cents elsewhere in a way that could edge out their clients’ active participation and keep the legal realities mixed up with the business realities. It is for these reasons that we suggest having the conversation about the law first-so we can size up the elephant and know what damage it might do.” 105 Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 533, 553 (2006). 106 Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 552 (2006). 107 Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 552 (2006).
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Rollenverständnisses des Mediators, das wir im Folgenden im Rahmen eines zu entwickelnden Verfahrensmodells näher in den Blick nehmen wollen.
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren stellt sich aufgrund seiner vielfältigen Funktionen,1 aufgrund der zugrunde liegenden strukturellen Antinomie einander entgegengesetzter Ordnungssysteme sowie aufgrund der Erforderlichkeit der Thematisierung des Rechts auf der einen und der damit verbundenen Gefahren2 auf der anderen Seite als komplexes Verfahrensproblem dar. Dabei kommt dem Mediator in seiner verfahrensleitenden Funktion eine zentrale Bedeutung zu. Seine Rechte und Pflichten, seine Rolle innerhalb des Mediationsverfahrens, die Frage danach, wann und durch wen darüber hinaus das Recht innerhalb der Mediation zu thematisieren ist, wollen wir im Folgenden im Rahmen eines zu entwickelnden Verfahrensmodells eingehend klären. Dabei steht, dem Gang unserer Untersuchung des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess folgend, die gerichtsverbundene Mediation als Schnittpunkt beider Verfahrensarten im Zentrum der Betrachtung. 1. Das Rollenverständnis des Mediators nach dem klassischen Riskin-Grid Im Rahmen der Strukturanalyse von Mediation und Zivilprozess haben wir gesehen, dass dem Mediator eine für die Realisierung der Privatautonomie der Parteien konstitutive Funktion zukommt: Als Vermittler besteht seine zentrale Aufgabe vor allem darin, die Parteien durch die Herstellung der Grundbedingungen privatautonomen Handelns in die Lage zu versetzen, ihren Konflikt selbst, eigenverantwortlich beizulegen.3 Aufgrund seiner Kompetenz zur Verfahrensleitung kommt ihm Prozessverantwortung (process control), den Parteien aufgrund ihrer Kompetenz zur Sachentscheidung dagegen Ergebnisverantwortung (substance control) zu.4 Die prozedurale Rolle des Mediators ist in seiner Antinomie zur Sachentscheidung, wie sie etwa für den streitentscheidenden Richter im Zivilprozess charakteristisch ist, in einem solchen Maße mit
1
Vgl. oben S. 284 ff. Vgl. oben S. 302 ff. 3 Vgl. oben S. 130 ff. 4 Vgl. Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 80 ff.; Kracht, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 267, 279 ff., 284 ff. (mit abweichender Terminologie); Menkel-Meadow, Mediation (2001), S. 91; Kovach, Mediation (3. Aufl. 2004), S. 46; Moore, The Mediation Process (3. Aufl. 2003), S. 18. 2
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 389
dem Mediationsverfahren verbunden, dass er geradezu als Verkörperung des Verfahrens selbst angesehen wird: „Er verkörpert den Prozeß“5. Gleichzeitig nimmt der Mediator jedoch auf vielfältige Weise Einfluss auf die Sachentscheidung der Parteien und damit auf das materielle Ergebnis des Mediationsverfahrens. Deutlich wird der substantielle Einfluss des Mediators vor allem im Kontext der Thematisierung rechtlicher Fragen in der Mediation. Damit erweist sich das Mediationsverfahren als ein weniger streng konturiertes Verfahren als die einheitliche Verwendung des Begriffs der Mediation suggeriert.6 Wie wir im Rahmen der Typologie der Verfahren alternativer Streitbeilegung auf der Grundlage von Fullers Institutionenlehre gesehen haben,7 handelt es sich bei der Mediation um ein in seinen Strukturmerkmalen idealtypisches Verfahren, das sich indes in der konkreten Ausgestaltung seiner Verfahrenseigenschaften in einer weiten Bandbreite unterschiedlicher Verfahrensvarianten bewegen kann.8 So kann das Mediationsverfahren auf die Lösung eines konkreten, eng umgrenzten rechtlichen Sachproblems gerichtet sein (Sachbehandlung des Konfliktes) oder den Konflikt in der Gesamtheit seiner unterschiedlichen Konfliktdimensionen in den Blick nehmen (umfassende Behandlung des Konfliktes). Der Mediator kann sich entweder auf die passive Moderation des Verfahrens beschränken und die Einigungsbemühungen der Parteien lediglich mittelbar lenken (moderierende Mediation) oder aber durch aktive Bewertung in die Verhandlung zwischen den Parteien eingreifen und durch rechtliche Stellungnahmen, die Prognose der Prozessrisiken oder aber eigene Einigungsvorschläge unmittelbar steuern (bewertende Mediation). Sowohl die bewertende als auch die moderierende Mediation sind legitime Ausprägungen des Rollenverständnisses des Mediators. Denn das Mediationsverfahren ist per se nicht auf eine bestimmte Interventionsdichte des Mediators oder einen bestimmten Mediationsstil beschränkt. Aufgrund der Privatautonomie als wesensbestimmendem Merkmal des Mediationsverfahrens ist es grundsätzlich Sache der Parteien, den Umfang der unterstützenden Mitwirkung des Mediators zu bestimmen, dessen sie für einen erfolgreichen Abschluss ihrer Einigungsbemühungen bedürfen. Je intensiver der Mediator indes in den Gang des Verfahrens
5 Mähler/Mähler, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 9, 25. 6 Vgl. Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 48 (1996): „Mediation seems to encompass a bewildering variety of activities. But many professionals in the field have definite, and often limited, ideas of what mediation is or should be.” Hierzu auch Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 64. 7 Vgl. oben S. 100. 8 Vgl. oben S. 100 und Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 64.
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eingreift, umso höher sind freilich die Anforderungen an die strikte Wahrung seiner parteilichen Neutralität und Unabhängigkeit.9 a) Auswahlkriterien zur Rollendefinition Welchen Mediationsstil der Mediator im Rahmen seiner vermittelnden Tätigkeit einsetzt, hängt darüber hinaus vom Selbstverständnis und der Ausbildung des Mediators, der Art des Konfliktes, dem Kontext des Mediationsverfahrens sowie den Erwartungen der Parteien und dem Inhalt des daraus folgenden Mediatorvertrages ab. So folgt das von Friedman und Himmelstein gegründete Center for Understanding in Conflict & the Center for Mediation in Law entsprechend dem von ihm entwickelten understanding-based model of mediation einem weitgehend evaluierenden Mediationsstil, während das Harvard Mediation Program (HMP) dem Konzept moderierender Mediation verpflichtet ist.10 Beziehungskonflikte in Ehe und Familie werden eher im Rahmen einer umfassenden Moderation beizulegen sein, während Konflikte, in denen rechtliche Fragestellungen im Mittelpunkt stehen, eher einer evaluierenden Sachbeurteilung zugänglich sind. Darüber hinaus ergibt sich, wie wir im Folgenden sehen werden, für die gerichtsverbundene Mediation aus verfassungsrechtlichen Gründen die Verpflichtung des Mediators zu einem stärker evaluierenden, am materiellen Recht orientierten Verständnis des Mediationsverfahrens, während im Bereich vertragsautonomer Mediation die Rollendefinition des Mediators in vollem Umfang der Entscheidung der Parteien überlassen bleibt. Schließlich bestehen höchst unterschiedliche Erwartungen der Parteien an die Rolle des Mediators, die abhängig von ihrem Kenntnisstand und möglichen Vorerfahrungen mit dem Mediationsverfahren von der eines „Schlichters“ bis hin zu der eines Moderators reichen können. Häufig werden die Parteien indes über keine vertiefte Kenntnis des Mediationsverfahrens verfügen und sich keine Gedanken über die Rolle des Mediators und das Spektrum möglicher Interventionsmöglichkeiten machen. Es ist damit die Aufgabe des Mediators, die Parteien über seine Rolle sowie den Umfang möglicher Interventionen aufzuklären oder diese im Rahmen eines Medi-
9 So auch Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 47 f. (1996). Vgl. hierzu eingehend Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 64 ff. sowie unten S. 360 ff., 408 ff. 10 Der Zugehörigkeit zu einer „Schule“ und der damit verbundenen Ausbildung kommt damit eine erhebliche Bedeutung für das Rollenverständnis des Mediators zu. Ähnlich auch Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 35 (1996): „Usually, this orientation is grounded in the mediator’s personality, education, training, and experience”. Vgl. zur Bandbreite unterschiedlicher Mediationsstile und Zielvorstellungen Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111 (1994); Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7 (1996); Alberstein, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 321 (2007).
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 391
atorvertrages gemeinsam mit den Parteien auszuhandeln. Im Rahmen der vertragsautonomen Mediation steht den Beteiligten damit das gesamte Spektrum der möglichen Spielarten des Mediationsverfahrens zur Verfügung. Die zu Beginn des Verfahrens getroffenen Vereinbarungen werden jedoch häufig nicht endgültig sein, weil sich aus der sich stets wandelnden Dynamik des Verfahrens unterschiedliche Anforderungen an die Rolle des Mediators ergeben können.11 So wird der Mediator die Verhandlung in den Phasen der Bestandsaufnahme – soweit diese die Sachverhaltsdarstellung durch die Parteien und nicht die Erfassung der materiellen Rechtslage umfasst – und der Interessenerforschung regelmäßig moderierend begleiten, während sich in den Phasen der rechtlichen Bestandsaufnahme, der Entwicklung von Einigungsoptionen sowie der rechtlichen Fixierung der Abschlussvereinbarung regelmäßig weiterreichende Möglichkeiten für eine bewertende Intervention des Mediators bieten. Darüber hinaus kann es sich empfehlen, die Mediation zunächst moderierend zu beginnen, um dann, wenn die Diskussion zu sehr ausufert oder die Parteien in einer Sackgasse gefangen sind und sich nicht auf eine tragfähige Lösung einigen können, zu einem vermehrt bewertenden Mediationsstil überzugehen.12 Die flexible Anpassung der Interventionsdichte des Mediators an den Gang der Verhandlung verhindert, dass der kreative Prozess der Entwicklung von Einigungsoptionen durch voreilige Vorschläge des konfliktfernen Mediators als Außenstehendem blockiert wird und fördert die eigenständige Mitwirkung der Parteien an der privatautonomen Beilegung ihres Konfliktes.13 Die Frage nach der Rolle des Mediators erweist sich damit als mehrdimensionales Verfahrensproblem, das sich einer schematischen Behandlung weitgehend entzieht. Neben der Grundausrichtung14 des Mediators innerhalb des Spektrums der möglichen Mediationsstile ist die Interventionsdichte des Mediators regelmäßig innerhalb des Verfahrens selbst variabel.
11
So auch Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 80. In diese Richtung auch Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 86. Vgl. zur flexiblen Wahl des Mediationsstiles auf der Grundlage des Konflikttyps, des Kontextes und der Bedürfnisse der Parteien Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 36 (1996) mwN. 13 Vgl. zum letztgenannten Aspekt vor allem Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 44 f. (1996), der darauf hinweist, dass bewertende Mediationstechniken die Zufriedenheit der Parteien sowohl mit dem Verfahren als auch mit dem Ergebnis verringern können. Im Gegensatz dazu vermittelt ein moderierender Mediationsstil den Parteien ein größeres Gefühl der privatautonomen Mitwirkung am Ergebnis des Mediationsverfahrens. 14 Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 24 f., 35 (1996) weist im Anschluss an Kressel/Frontera/Forlenza/Butler, 50 J. Soc. Issues 67, 72 f. (1994) darauf hin, dass sich Mediatoren regelmäßig auf einen bestimmten, von ihnen bevorzugten Mediationsstil festlegen: „Most mediators operate from a predominant, presumptive or default orientation (although ... many mediators move along continuums and among quadrants).“ Im Hinblick auf die Dichotomie zwischen einigungsorientierter (settlement-oriented) und 12
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§ 5 Mediation und materielles Recht
b) Das Riskin-Grid als idealtypisches Rollenmodell Das Spektrum der Möglichkeiten des Mediators, den Konflikt durch eine unterschiedliche Ausgestaltung seiner Rolle zu steuern, hat der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Leonard Riskin auf der Grundlage einer Matrix von vier idealtypischen Mediationsstilen beschrieben.15 Diese vier Mediationsstile folgen aus den möglichen Kombinationen zweier die Mediation prägender Eigenschaften, die in einem Koordinatensystem zueinander in Beziehung gesetzt werden: Dem aa) Umfang des Konfliktgegenstandes, der auf der vertikalen Achse und bb) der Interventionsdichte des Mediators, die auf der horizontalen Achse abgebildet wird. moderierende Mediation (narrow facilitative mediation)
bewertende Mediation (narrow evaluative mediation)
Rechte
Rechte
umfassende Moderation (broad facilitative mediation)
umfassende Beurteilung (broad evaluative mediation)
(Rechte und Interessen)
(Rechte und Interessen)
Tabelle 4: Rollenmodelle des Mediators nach dem Riskin-Grid
problemlösungsorientierter (problem-solving) Mediation haben Kressel/Frontera/Forlenza/ Butler, 50 J. Soc. Issues 67, 72 f. (1994) empirisch nachgewiesen, dass die Wahl eines bestimmten Mediationsstils 1) konsequent und beständig erfolgt, d.h. dass die Mediatoren einem einmal gewählten Stil weiterhin treu bleiben, auch wenn sich die Konfliktart und Konfliktdynamik erheblich verändern, 2) dass diese Wahl weitgehend unbewusst erfolgt und 3) dass sie durch Training verändert werden kann: „First, a mediator‘s style tended to be consistent. A given mediator was likely to enact the same style from case to case, even in the face of considerably different issues or conflict dynamics. Second, mediator style appeared to operate below the level of conscious awareness; style was something mediators ‘did’ without fully recognizing the underlying coherence or ‘logic’ behind their style. Mediators were capable of articulating why they adopted the style they exhibited when their style was pointed out to them, but this took a conscious effort and the assistance of other team members. Finally, mediator style could be modified, but this too took explicit direction or ‘training.’” Ähnlich auch Kressel/Pruitt, Mediation Research (1989), S. 394, 422, wonach die Wahl eines bestimmten Mediationsstils aufgrund der aktiven Beobachtung des sich entfaltenden Konfliktes durch den Mediator sowie seiner jeweiligen Vorlieben und Präferenzen erfolgt. Hervorhebungen durch den Verfasser. 15 Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111 (1994); Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7 (1996).
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 393
aa) Umfang des Konfliktgegenstandes Der Umfang des Konfliktgegenstandes beschreibt die unterschiedlichen Konfliktdimensionen, die durch das Mediationsverfahren angesprochen werden sollen. Ist der Konfliktgegenstand eng definiert, so werden sich die Beteiligten auf die Lösung des konkreten rechtlichen Sachproblems beschränken und sich in ihrem materiellen Ergebnis weitgehend an dem wahrscheinlichen Ausgang eines nachfolgenden Zivilprozesses als Nichteinigungsalternative und damit am materiellen Recht orientieren, in dessen „Schatten“16 sie verhandeln.17 Im Mittelpunkt des Verfahrens stehen damit – wie auch im Zivilprozess – die Analyse der Rechtslage und der Prozessrisiken, die Diskussion der Stärken und Schwächen der jeweiligen Rechtspositionen sowie die Wertverteilung durch den Einsatz objektiver Kriterien. Die Verhandlungssituation entspricht aufgrund der Beschränkung auf rechtliche Fragestellungen weitgehend einem Nullsummenspiel. Die dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen werden dagegen nicht thematisiert. Die Möglichkeiten zur wertschöpfenden Realisierung von Kooperationsgewinnen sind begrenzt. Der Konfliktgegenstand in einem solchen Mediationsverfahren entspricht weitgehend dem Streitgegenstand des Zivilprozesses. Auf der anderen Seite des Spektrums kann der Mediator durch eine weite Definition des Konfliktgegenstandes den Kreis der in der Mediation zu behandelnden Konfliktdimensionen erweitern und über die Erörterung des rechtlichen Sachproblems hinausgehend weitere für die Beilegung des Konfliktes bedeutsame Aspekte in die Verhandlung einbeziehen.18 Dazu gehören, dem Harvard-Modell interessenorientierter Mediation entsprechend, vor allem Konfliktdimensionen, die im Rahmen eines Zivilprozesses aufgrund der systemimmanenten Schwächen des gerichtlichen Verfahrens regelmäßig außer Betracht bleiben, wie die Interessen der Parteien, ihre Beziehung zueinander, Fragen der Reputation der beteiligten Unternehmen oder Personen sowie emotionale und soziale Aspekte. So kann es im Rahmen eines Konfliktes über die Fortsetzung eines Liefervertrages oder die Sachmängelgewährleistung zwischen Unternehmen sinnvoll sein, über die thematisch eng umgrenzte Verhandlung des Preises oder des Vorliegens eines Sachmangels hinauszugehen und stattdessen Gesichtspunkte in den Blick zu nehmen, die für die wirtschaftlichen Interessen beider Parteien
16
Vgl. Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). Eingehend hierzu Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 19 (1996) (Level I: Litigation Issues). 18 Hierzu gehören die von Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 19 ff. (1996) als Stufen II-IV charakterisierten Konfliktdimensionen: „Level II: ‚Business‘“, „Level III: Personal/Professional/Relational Issues“, „Level IV: Community Interests“. 17
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und die zukünftige Gestaltung des Verhältnisses zueinander von zentraler Bedeutung sind. Dazu kann die Erschließung von Synergiepotentialen und Skalenerträgen, etwa durch gemeinsamen Einkauf, das Pooling von Ressourcen im Rahmen von joint ventures, die Diskussion einer veränderten Preisstruktur, Mengenrabatte oder Fragen der Qualitätssicherung, gehören.19 Die Konzentration auf diese weitergehenden Dimensionen des Konfliktes kann unter Umständen für den Erfolg des Mediationsverfahrens auch dann von zentraler Bedeutung sein, wenn sich die Parteien nicht auf eine Lösung des rechtlichen Sachproblems einigen können.20 So können im Bereich der Wirtschaftsmediation der Nutzen, der sich aus einer Neuorientierung und Transformation ihrer Beziehung zueinander für beide Parteien ergibt, die Möglichkeiten unternehmerischer Kooperation im Rahmen von joint ventures, die Realisierung von Skalenerträgen und die Erhaltung einer dauerhaften Geschäftsbeziehung für die Zukunft den Wert eines einmaligen und in seiner Höhe begrenzten Vorteils – etwa im Rahmen einer Verhandlung des Preises oder des Umfanges der Sachmängelgewährleistung – weit übersteigen. Eine noch zentralere Rolle kommt den personalen und relationalen Konfliktdimensionen außerhalb des wirtschaftlichen Kontextes in der Mediation zwischen Einzelpersonen, etwa in familiären Konflikten, zu.21 Hier erfüllt das rechtliche Sachproblem als Metakonflikt häufig nur eine Stellvertreterfunktion, hinter dem sich tieferliegende emotionale Konflikte verbergen, die vor allem das Verhältnis der Parteien zueinander betreffen. Der Schwerpunkt des Mediationsverfahrens muss daher,
19
Zu den vielfältigen Möglichkeiten gemeinsamer Wertschöpfung vgl. Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 175 ff.; Bühring-Uhle/ Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 53 ff. 20 Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 20 (1996). Dies gilt indes regelmäßig nur dann, wenn und soweit der Konfliktgegenstand ausdrücklich auf weitergehende Konfliktdimensionen wie etwa die Interessen der Parteien erweitert worden ist, wie dies für das hier vertretene Harvard-Modell der interessenorientierten Verhandlung von Natur aus der Fall ist. In Mediationen, in denen ein eng definiertes Sachproblem im Mittelpunkt steht, kommt ihnen als vorteilhafte, aber nicht zentrale Nebenfolge indes nur sekundäre Bedeutung zu, da es den Parteien hier vor allem auf die Lösung des Verteilungsproblems ankommt. Vgl. nur Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 23 (1996): „In a narrow mediation, however, such outcomes claim only secondary importance, as occasional by-products of solving the central, distributive issue. The participants – including the mediator – may not think or care about such outcomes.” 21 Zur Bedeutung der relationalen Aspekte Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 20 f. (1996): „ … a principal goal of mediation could be to give the participants an opportunity to learn or to change. This could take the form of moral growth or a ‘transformation’, as understood by Bush and Folger to include ‘empowerment’ (a sense of ‘their own capacity to handle life‘s problems’) and ‘recognition’ (acknowledging or empathizing with others’ situations). In addition, the parties might repair their relationship by learning to forgive one another or by recognizing their connectedness.”
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 395
soll der Konflikt nachhaltig und dauerhaft beigelegt werden, auf die relationalen Aspekte des Konfliktes, auf die Wiederherstellung der Beziehung zwischen den Parteien gerichtet sein. Eine solche Ausrichtung der Parteien aufeinander hin, eine derartige Transformation der Beziehung der Parteien durch Vermittlung einer neuen Perspektive ihres Verhältnisses zueinander, auf dessen Grundlage sich dann wertschöpfende Kooperationsgewinne realisieren lassen, entspricht dem Wesen des Mediationsverfahrens, wie wir im Anschluss an die Arbeiten Fullers im Rahmen unserer vergleichenden Strukturanalyse von Mediation und Zivilprozess gesehen haben. Über den Bereich ihrer eigenen, sie unmittelbar betreffenden Interessen hinaus können die Parteien den Konfliktgegenstand schließlich auch auf Konfliktdimensionen erweitern, welche die Interessen der Gesellschaft als Ganzes oder von dem Konflikt berührter Dritter betreffen.22 bb) Interventionsdichte des Mediators Die Interventionsdichte des Mediators beschreibt den Mediationsstil und damit die Strategien und Techniken, die der Mediator im Rahmen des Verfahrens einsetzt. Wird der Mediator lediglich moderierend tätig, so beschränkt er sich in seiner verhandlungsleitenden Funktion darauf, die Kommunikation zwischen den Parteien und das Verständnis des Konfliktes und der Beziehung zueinander zu fördern.23 Anstatt den Parteien durch eigene Beurteilungen oder Lösungsvorschläge das Ergebnis der Bestandsaufnahme bzw. die Eckpunkte einer möglichen Einigung vorzugeben, nimmt sie der Mediator stattdessen durch spezielle Kommunikationstechniken (aktives Zuhören, Fragetechniken, Spiegeln, Paraphrasieren)24 und mäeutische Gesprächsführung im Sinne sokratischer Hebammenkunst gleichsam als „Geburtshelfer“ an der Hand und versetzt sie in die Lage, die Rechtslage sowie ihre Interessen eigenständig zu erfassen und privatautonom Einigungsoptionen zu entwickeln. Er konzentriert sich auf die unmittelbare Steuerung des Verfahrens (process control) und lässt der Verhandlung in materieller Hinsicht weitgehend freien Lauf. Auf das Ergebnis nimmt er dabei lediglich mittelbar, fördernd Einfluss (substance control). Am anderen Ende des Spektrums steht die evaluierende Mediation, in der sich der Mediator nicht auf die Leitung des Verfahrens (process control) beschränkt, sondern darüber hinaus aktiv steuernd auf das Verhandlungsergebnis 22
Vgl. hierzu Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 21 f. (1996) (Level IV: Community Inter-
ests). 23
Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 24 (1996). Hierzu näher Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 335 ff. sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 117 ff. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 147 f. 24
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Einfluss nimmt (substance control). Dies kann etwa dadurch erfolgen, dass er die materielle Rechtslage sowie die Stärken und Schwächen der jeweiligen Rechtspositionen der Parteien bewertet, eigene Prognosen zu den Erfolgsaussichten in einem nachfolgenden Zivilprozess abgibt oder im Rahmen der Entwicklung der Einigungsoptionen eigene Lösungsvorschläge vorlegt. Diesen beiden Mediationsstilen liegen jeweils unterschiedliche Annahmen über die Fähigkeiten der Parteien und die Struktur des Konfliktes zugrunde: Während der moderierende Mediator davon ausgeht, dass die Parteien über ein bestimmtes Maß an rechtlichem Verständnis und Verhandlungsgeschick verfügen, die rechtlichen und sachlichen Implikationen des Konfliktes besser verstehen als ein neutraler Dritter und dass kein strukturelles Machtungleichgewicht besteht, geht ein evaluierender Mediator eher von der Annahme aus, dass die Parteien auf die aktive Mitwirkung eines Mediators angewiesen sind und der Unterstützung im Umgang mit den konfliktrelevanten Faktoren, dem materiellen Recht, den Interessen oder speziellen Fachkenntnissen bedürfen.25 c) Die verschiedenen Rollen des Mediators Aus dem Verhältnis zwischen Interventionsdichte des Mediators und dem Umfang des Konfliktgegenstandes ergeben sich vier idealtypische Rollen des Mediators: aa) Sachmoderation Der Mediator kann sich zunächst auf eine bloße Moderation des rechtlichen Sachproblems beschränken (Facilitative-Narrow Mediation).26 Im Mittelpunkt stehen dabei die Beurteilung des Konfliktes aus der Perspektive des materiellen Rechts, die Stärken und Schwächen der jeweiligen Positionen sowie die Erfolgsaussichten eines möglichen Folgeprozesses. Die Einigungsoptionen orientieren sich am materiellen Recht. Im Gegensatz zur evaluierenden Mediation gibt der Mediator den Parteien allerdings das Ergebnis nicht durch eigene Bewertungen oder Lösungsvorschläge vor. Der Mediator nimmt auf das Ergebnis vielmehr nur indirekt Einfluss, indem er sich darum bemüht, die Parteien durch Fragen und eine geschickte Gesprächsführung zur Selbsterkenntnis und damit zu einer eigenständigen Lösung des Konfliktes zu führen. Er muss dem Sachproblem dabei keineswegs indifferent gegenüberstehen, sondern kann – etwa in einem Einzelgespräch durch die gezielte Frage nach den Schwächen der jeweiligen Position, nach Nichteinigungsalternativen oder möglichen Einigungsoptionen – den Gang des Verfahrens gezielt steuern und vor allem bei 25
Vgl. Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 23 f. (1996). Grundlegend Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 28 ff. (1996). Vgl. auch Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111, 112 (1994); Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1, 16 Fn. 53 (2003). 26
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drohenden Einigungshindernissen neu auf eine mögliche Lösung hin ausrichten. Durch geeignete Fragen als dem wichtigsten Instrument moderierender Mediation kann der Mediator die Parteien bei der Erfassung des Sachverhaltes, der Überprüfung ihrer eigenen Wahrnehmung, der Analyse der Nichteinigungsalternativen sowie der Entwicklung, Bewertung und dem Austausch von Einigungsvorschlägen unterstützen. Die moderierende Mediation trägt nicht nur zur Lösung des Sachproblems bei, sondern wirkt sich grundsätzlich auch positiv auf die Beziehung zwischen den Parteien aus. Allerdings bleibt die transformierende Wirkung des Verfahrens aufgrund des engen, auf den rechtlichen Kern reduzierten Konfliktgegenstandes, der für eine Integration der gegenseitigen Interessen nur wenig Raum lässt, insgesamt gering. bb) Umfassende Moderation Im Rahmen seiner moderierenden Verhandlungsleitung kann der Mediator den Konfliktgegenstand jedoch auch über den Bereich des unmittelbaren Rechtsproblems hinaus erweitern (Facilitative-Broad Mediation).27 Dabei wird er insbesondere die dem Konflikt zugrunde liegenden, wahren Interessen der Parteien, ihre Beziehung zueinander, Fragen der Reputation sowie die Gestaltung des Verhältnisses zwischen den Parteien für die Zukunft in den Blick nehmen. Von der Sachmoderation unterscheidet sich die umfassende Moderation daher im weiteren Umfang des Konfliktgegenstandes, während sie mit ihr die gleich geringe Interventionsdichte des Mediators teilt. Die Erforschung der gegenseitigen Interessen und die Entwicklung von Lösungsvorschlägen, die diesen Interessen entsprechen, liegen bei der moderierenden Mediation im ganz überwiegenden Maße im Verantwortungsbereich der Parteien. Der Mediator wird ihnen auch im Verhältnis zu ihren Anwälten im Einigungsprozess einen breiteren Raum der Mitwirkung einräumen, da rechtliche Fragen nicht mehr im Mittelpunkt der Verhandlung stehen. Wie im Rahmen der Sachmoderation beschränkt sich der Mediator darauf, durch den Einsatz spezieller Kommunikationstechniken, aktives Zuhören und gezielte Fragen die Parteien zur realistischen Erkenntnis ihrer Interessen und Nichteinigungsoptionen und auf dieser Grundlage zur Entwicklung kreativer Einigungsoptionen zu führen. Im Gegensatz zur Sachmoderation bietet die umfassende, moderierende Mediation dagegen weitreichendere Möglichkeiten zur Transformation der Beziehung zwischen den Parteien. Durch ein tieferes Verständnis der jeweiligen Situation der anderen Partei, ihrer Interessen, Bedürfnisse und Sachzwänge können sich die Verhandlungspartner neu aufeinander hin ausrichten und ihre Beziehung zueinander substantiell neu gestalten.
27
Grundlegend Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 32 ff. (1996). Vgl. auch Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111, 113 (1994).
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cc) Sachbeurteilung Der Mediator kann jedoch auch über die reine Moderation der Verhandlung hinausgehen und die Parteien aktiv bewertend in ihrer Einigungsentscheidung unterstützen. Beschränkt er sich dabei auf die Behandlung des rechtlichen Sachproblems (Evaluative-Narrow Mediation), dann wird er sich ggf. auch auf der Grundlage der Schriftsätze der Parteien, Urkunden und sonstiger rechtlicher Dokumente einen ersten Überblick über den rechtlichen Streitstand verschaffen. Er wird den Beweiswert von Beweismitteln beurteilen, eine eigene Bewertung der Rechtlage abgeben und etwa auf der Grundlage einer Prozessrisikoanalyse eine Prognose der Erfolgsaussichten beider Parteien in einem nachfolgenden Gerichtsverfahren erstellen. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei Einzelgesprächen (caucus) zu. In ihnen wird der Mediator die Parteien im Rahmen einer SWOT-Analyse28 mit den Stärken und Schwächen ihrer Position, einer realistischen Einschätzung des wahren Wertes ihrer Nichteinigungsalternativen und möglichen Einigungsoptionen konfrontieren und sich darum bemühen, die blockierende Wirkung kognitiver Wahrnehmungsverzerrungen als Einigungshindernis zu begrenzen. Darüber hinaus wird er aktiv an der Entwicklung der Einigungsoptionen mitwirken und den Parteien eigene Lösungsvorschläge unterbreiten. dd) Umfassende Beurteilung Wie auch im Rahmen der umfassenden Moderation kann der Mediator im Wege der umfassenden Beurteilung den Umfang des Konfliktgegenstandes um die für die ursächliche, nachhaltige und dauerhafte Beilegung des Konflikts erforderlichen Konfliktdimensionen erweitern (Evaluative-Broad Mediation).29 Im Zentrum der Verhandlung steht dabei das Bemühen, die hinter den Positionen stehenden Interessen der Parteien zu ergründen und eine diese Interessen integrierende Lösung des Konfliktes zu entwickeln. Gegenstand des Verfahrens sind damit neben der Lösung des rechtlichen Sachproblems vor allem die Förderung des gegenseitigen Verständnisses der Parteien, der Schutz der Reputation sowie die Gestaltung der Beziehung zwischen den Parteien für die Zukunft. Im Gegensatz zur umfassenden Moderation greift der Mediator bei der umfassenden Beurteilung aktiv in das Verhandlungsgeschehen ein. Neben rechtlichen Beurteilungen, Erfolgsprognosen und der Analyse der materiellen Rechtslage wird sich der Mediator in besonderer Weise darum bemühen, den Konflikt und die relevanten Interessen aus der Perspektive der Parteien zu
28
Hierzu Risse, Wirtschaftsmediation (2003), S. 339; Gläßer/Kirchhoff, ZKM 2007, 157,
159. 29
Grundlegend Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 30 ff. (1996). Vgl. auch Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111, 112 f. (1994).
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erfassen und aktiv an der Entwicklung kreativer Einigungsvorschläge mitwirken. d) Bewertung der Rollen nach dem Riskin-Grid Das Riskin-Grid ist ein idealtypisches Modell30, das Konfliktgegenstand und Interventionsdichte des Mediators in systematischer Weise zueinander in Beziehung setzt. In der Praxis wird sich die Rolle des Mediators nicht exklusiv einem bestimmten Mediationsstil zuordnen lassen. Die Übergänge zwischen den einzelnen Rollen sind vielmehr fließend. So wird sich ein weitgehend evaluierender Mediator im Gang des Verfahrens regelmäßig auch moderierender Techniken bedienen, während ein Mediator, der grundsätzlich einem moderierenden Mediationsstil verpflichtet ist, etwa zur Überwindung von Einigungsblockaden auch aktiv bewertend in den Gang der Mediation eingreifen kann. Darüber hinaus kann sich jedoch auch das grundsätzliche Rollenverständnis des Mediators im Lauf des Verfahrens insgesamt ändern, um auf einen Wandel der Verhandlungsdynamik und die daraus erwachsenden Anforderungen flexibel reagieren zu können. Um das klassische Riskin-Grid für unser Verfahrensmodell nutzbar zu machen, wollen wir die verschiedenen idealtypischen Rollen des Mediators nun einer eingehenden Bewertung unterziehen. aa) Umfang des Konfliktgegenstandes Als Ausgangspunkt unserer Untersuchung wollen wir dabei zunächst das Spektrum möglicher Variationen des Konfliktgegenstandes in den Blick nehmen. An dem einen Ende der vertikalen Achse der Riskin-Matrix steht die auf das rechtliche Sachproblem reduzierte Behandlung des Konfliktes. Für die Parteien ergibt sich durch die Beschränkung der Konfliktbehandlung auf Rechtsfragen der Vorteil, dass der Konflikt aufgrund seiner geringeren Komplexität und des Verzichts auf die Lösung von Beziehungsproblemen unter Umständen einfacher und schneller beigelegt werden kann. Allerdings kann, wie wir im Rahmen unserer Untersuchung der systemimmanenten Schwächen rechtlicher Konfliktlösung im Zivilprozess gesehen haben31, gerade die Beschränkung auf die rechtliche Konfliktdimension dazu führen, dass die Einigungsbemühungen an den Interessen der Parteien, die dem Konflikt eigentlich zugrunde liegen, vorbeigehen und deshalb scheitern. Der binäre Schematismus rechtlicher Normen impliziert ein Nullsummenspiel, das keinen Raum für die kreative Entwicklung wertschöpfender, beiderseits interessengerechter Einigungsoptionen lässt. Die Thematisierung rechtlicher Fragen birgt darüber hinaus ein erhebliches Eskalationspotential, das wir in den vorangegangenen Abschnitten bereits
30 31
Ebenso Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 88. Vgl. oben S. 12 ff.
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eingehend in den Blick genommen haben.32 Damit stellt sich indes die Frage, wie die Beschränkung des Konfliktgegenstandes auf das rechtliche Sachproblem mit dem Verständnis der Mediation als interessenorientiertem Verfahren überhaupt in Einklang gebracht werden kann. Die hier angesprochene Problematik der durch das Rollenverständnis des Mediators gezogenen Grenzen des Mediationsbegriffs wollen wir an späterer Stelle eingehend untersuchen.33 Am anderen Ende des Spektrums steht eine umfassende Konfliktbehandlung, die den Konflikt in der Gesamtheit seiner unterschiedlichen Konfliktdimensionen einschließlich der Interessen der Parteien in den Blick nimmt. Durch die weite Definition des Konfliktgegenstandes werden Einigungen möglich, die über die rechtliche Lösung des Sachproblems hinausgehen und stattdessen die hinter den Positionen stehenden Interessen der Parteien berücksichtigen. Die Einbeziehung aller relevanten Konfliktdimensionen ermöglicht die Realisierung wertschöpfender Kooperationsgewinne und bietet die Möglichkeit, die Konfliktparteien durch ein vertieftes Verständnis der gegenseitigen Interessen wieder aufeinander hin auszurichten, ihre Beziehung zueinander zu transformieren und für die Zukunft neu zu gestalten. Indem die Parteien die eigentlichen Ursachen des Konfliktes betrachten und sich der Fokus von der distributiven Wertverteilung auf den integrativen Prozess der Wertschöpfung verlagert, wird die Gefahr einer Einigungsblockade und damit eines Scheiterns der Verhandlung minimiert und eine dauerhafte, nachhaltige und interessengerechte Lösung des Konfliktes ermöglicht. Allerdings kann eine umfassende Konfliktbehandlung auch die entgegengesetzte Wirkung hervorbringen: Indem sich die Parteien auf Aspekte des Konfliktes konzentrieren, die für eine effektive Beilegung des Konfliktes möglicherweise nicht erforderlich sind, blähen sie den Konfliktstoff unnötig auf und erhöhen so das Risiko einer Einigungsblockade. Darüber hinaus kann eine Erweiterung der Verhandlung auf emotionale oder relationale Aspekte aufseiten der Parteien und ihrer Anwälte zu Vorbehalten oder einer Ablehnung des Verfahrens führen. bb) Interventionsdichte des Mediators Die Interventionsdichte des Mediators bildet die zweite Kategorie, die für die Bewertung der idealtypischen Rollen nach dem klassischen Riskin-Grid von Bedeutung ist. Hier steht an dem einen Ende der horizontalen Achse der Matrix zunächst die moderierende Mediation, in der die Interventionsdichte des Mediators auf ein Minimum reduziert ist. Vor dem Hintergrund der Privatautonomie als wesensprägendem Merkmal der Mediation und dem daraus folgenden Verfahrensziel, den Parteien durch die lediglich unterstützende Funktion des Mediators eine eigenverantwortliche Beilegung ihres Konfliktes zu ermögli32 33
Vgl. oben S. 22 ff., 302 ff. Vgl. unten S. 324 f.
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chen, erscheint die Moderation als geradezu klassische, dem Wesen der Mediation in besonderer Weise entsprechende Ausprägung des Mediationsverfahrens. Sie bietet den Parteien ein höchstmögliches Maß an Eigenverantwortlichkeit und Ergebniskontrolle und gewährt ihnen so weitreichende Möglichkeiten, an der Beilegung ihres Konfliktes selbst mitzuwirken. Indem sie ihre jeweils spezifische Kenntnis des Konfliktes sowie ihre fachlichen Qualifikationen in die Verhandlung einbringen können, tragen die Parteien erheblich dazu bei, dass das ausgehandelte Einigungsergebnis auch tatsächlich ihren jeweiligen Interessen entspricht, dauerhaft, nachhaltig ist und den Konflikt in seinen Ursachen beilegt. Ein moderierender Mediationsstil setzt damit das Potential an Innovation, Kreativität und detaillierter Sachkenntnis des Konfliktes frei, das in den Parteien als den wahren Experten des Konfliktes angelegt ist. Er versetzt sie in die Lage, einen Einigungsvorschlag zu erarbeiten, der exakt auf ihre jeweiligen Interessen und Bedürfnisse zugeschnitten ist. Darüber hinaus begünstigt ein moderierender Mediationsstil die Transformation der Beziehung zwischen den Parteien, indem der Mediator die Parteien dazu motiviert, sich intensiv mit den eigentlichen Ursachen des Konfliktes, ihren eigenen Interessen und denen ihres Verhandlungspartners sowie mit ihrer Beziehung zueinander auseinanderzusetzen und zur Lösung ihres Konflikts aktiv zusammenzuarbeiten. Allerdings unterliegt eine derart umfassend auf der Eigenverantwortlichkeit der Parteien basierende Ausrichtung der Parteien den gleichen Bedenken, denen jegliches privatautonome Handeln ausgesetzt ist. So ergeben sich aus der Zurückhaltung des Mediators im Hinblick auf das Verhandlungsergebnis erhebliche Risiken in Fällen struktureller Machtungleichgewichte oder in Konflikten, bei denen weitgehend verhandlungsunerfahrene Parteien beteiligt sind.34 Die Gefahr, dass eine Partei von ihrem Gegenüber ausgenutzt, übervorteilt und durch unzulässigen Einigungsdruck geschädigt wird35, ist im Rahmen moderierter Mediationen regelmäßig höher als in evaluierenden Mediationen, in denen der Mediator aktiv in das Verhandlungsgeschehen eingreifen und so mögliche Machtungleichgewichte ausgleichen kann. Zudem besteht im Rahmen der Moderation stets die Gefahr, dass die Parteien für die Beilegung des Konfliktes relevante Aspekte, tragfähige Einigungsoptionen oder die Möglichkeit wertschöpfender Kooperationsgewinne nicht erkennen und die Verhandlung so an einer beiderseits interessengerechten Lösung vorbeigeht. Am anderen Ende des Spektrums steht der evaluierende Mediationsstil mit einer entsprechend hohen Interventionsdichte. Durch die intensive Mitwirkung des Mediators an der Einigungsentscheidung profitieren die Parteien von seiner 34 Hierzu bereits oben S. 341 ff. (vertragsautonome Mediation), S. 412 ff. (gerichtsverbundene Mediation). Vgl. zur Kompensation von Machtungleichgewichten oben S. 341 ff., 348 ff., 365 ff., 416 ff., unten S. 604 ff. sowie Breidenbach, Mediation (1995), S. 127 f. 35 Vgl. hierzu die Fallstudien oben S. 344 ff.
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rechtlichen, fachlichen und verhandlungspraktischen Expertise und werden in ihren eigenen Beiträgen zur Verhandlung erheblich entlastet. Durch die damit verbundene Möglichkeit des Ausgleichs von Machtungleichgewichten ergibt sich für unerfahrene oder strukturell schwache Parteien eine erhebliche Schutzfunktion. Die objektive Bewertung der jeweiligen Rechtspositionen, die Prognose des Prozessrisikos sowie die Analyse der materiellen Rechtslage verhelfen den Parteien zu einer realistischen Einschätzung der Stärken und Schwächen ihrer Position und tragen damit zur Überwindung kognitiver Einigungsbarrieren bei. Die im Rahmen der evaluierenden Mediation möglich gewordene Thematisierung des Rechts durch einen neutralen Dritten macht die vielfältigen Funktionen des Rechts (Inhaltskontrolle, Orientierungsmaßstab, Informations– , Akzeptanz-, Fairness-, Form- und Rechtsschutzfunktion) zugänglich. Andererseits kann eine zu intensive Mitwirkung des Mediators an der Entwicklung einer möglichen Einigung die Parteien in ihren Einigungsbemühungen blockieren, so dass das durch die Parteien verfügbare Potential an Innovation und Sachkenntnis nicht in vollem Umfang genutzt werden kann. Die aktive Beteiligung des Mediators reduziert so die Partizipation der Parteien und kann daher zu einer geringeren Zufriedenheit und Akzeptanz von Verfahren und Ergebnis der Mediation führen. Die Möglichkeiten zur Transformation der Beziehung zwischen den Parteien sind damit begrenzt. Greift der Mediator durch eigene Bewertungen, Prognosen und Vorschläge aktiv in das Verhandlungsgeschehen ein und bezieht auf diese Weise jedenfalls in der Sache Stellung, so birgt dies erhebliche Gefahren für die Unabhängigkeit und parteiliche Neutralität des Mediators. Ist den Parteien klar, dass der Mediator auf der Grundlage der von ihnen zur Verfügung gestellten Sachverhaltsinformationen eine eigene Bewertung abgeben wird, die für den weiteren Gang des Verfahrens von Bedeutung ist, so besteht das Risiko, dass sie dem Mediator – etwa im Rahmen eines Einzelgesprächs – unvollständige oder unwahre Informationen zur Verfügung stellen. Dadurch kann die Bewertung durch den Mediator mit der Notwendigkeit in Konflikt geraten, dass die Parteien zu einer realistischen Bewertung ihrer Rechtsansprüche und Interessen gelangen, und die Verhandlung damit dem Verfahren einen mehr kontradiktorischen Charakter verleihen. cc) Das kombinierte Rollenmodell Aus unserer vergleichenden Analyse der unterschiedlichen Rollen des Mediators nach dem Riskin-Grid und ihrer Auswirkungen auf das Mediationsverfahren ergibt sich folgender Befund: Im Hinblick auf den Umfang des Konfliktgegenstandes erweist sich eine umfassende Konfliktbehandlung einer engen Definition des Konfliktgegenstandes deutlich überlegen. Denn nur eine Mediation, die über die Behandlung des rechtlichen Sachproblems hinausgeht und weitere Konfliktdimensionen einschließlich der Parteiinteressen in den Blick
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nimmt, ist in der Lage, ein „gutes Verhandlungsergebnis“ im Sinne einer interessengerechten, nachhaltigen und dauerhaften Beilegung des Konfliktes hervorzubringen und die Beziehung der Parteien neu zu gestalten.36 Indem die Parteien in konstruktiver Weise wieder aufeinander hin ausgerichtet werden und die Lösung des Konfliktes auf die beiderseitigen Interessen der Parteien als Grundlage ihrer Einigungsentscheidung zugeschnitten ist, stellt sich eine umfassende Konfliktbehandlung tatsächlich als eine der Natur der Mediation in besonderer Weise entsprechende Ausprägung des Verfahrens dar. Sie sollte daher den Einigungsbemühungen des Mediators als best practice und damit als grundsätzlich zu empfehlender Standard zugrunde gelegt werden. Ausnahmsweise kommt eine Beschränkung des Konfliktgegenstandes auf Rechtsfragen nur dann in Betracht, wenn 1) rechtliche Fragen auch in tatsächlicher Hinsicht und nicht nur aufgrund des positionsbezogenen Vortrages der Parteien den Schwerpunkt des Konfliktes bilden und 2) weitere Konfliktdimensionen keinen wesentlichen Beitrag zur interessengerechten, nachhaltigen und dauerhaften Beilegung des Konfliktes im Sinne eines guten Verhandlungsergebnisse leisten können.37 Dies wird indes nur in ganz eng umgrenzten Ausnahmefällen gegeben sein, da Konflikte, wie wir gesehen haben,38 stets durch eine Vielzahl unterschiedlicher Dimensionen gekennzeichnet sind und die Interessen der Parteien regelmäßig in einer Weise betroffen werden, die eine wertschöpfende Integration zur Realisierung beiderseitiger Kooperationsgewinne möglich macht.39 Ausschließlich distributive Verteilungskonflikte im Sinne eines Nullsummenspiels, die keinerlei Potential zur Wertschöpfung enthalten, sind daher kaum denkbar.40 Praktisch relevant sind dagegen Fälle, in denen rechtliche Fragestellungen einen Schwerpunkt des Konfliktgegenstandes bilden, wie dies etwa im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation regelmäßig der Fall ist. Dem kann der Mediator ausnahmsweise durch die weitgehende Beschränkung des Konfliktgegenstandes Rechnung tragen, wobei er jedoch, soweit dies erforderlich ist, auch die weitergehenden Dimensionen des Konfliktes, insbesondere die hinter den geltend gemachten Ansprüchen stehenden Interessen der Parteien sowie ihre Beziehung zueinander, zu berücksichtigen hat. 36 Zu den Kriterien eines guten Ergebnisses vgl. oben S. 160 ff. mw.N. Vgl. hierzu auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 37 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses vgl. oben S. 161 ff. mwN. 38 Vgl. oben S. 12 ff., 20 ff. sowie unten S. 740 ff. 39 Eingehend hierzu Raiffa, The Art and Science of Negotiation (1982), S. 131 ff., 145 f.; Menkel-Meadow, 31 UCLA L. Rev. 754, 783 ff. (1984); Lax/Sebenius, The Manager as Negotiator (1986), S. 88 ff.; Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 57 ff. sowie oben S. 17, Fn. 59. 40 So auch Bruce Patton im September 2007 im Gespräch mit dem Verfasser.
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Im Hinblick auf die Interventionsdichte des Mediators ist die Moderation der bewertenden Mediation grundsätzlich vorzuziehen. Denn dadurch, dass der Mediator den Parteien ein höchstmögliches Maß an eigenverantwortlicher Mitwirkung bei der Beilegung ihres Konfliktes einräumt und sich im Übrigen weitgehend auf die Förderung der Kommunikation zwischen den Parteien beschränkt, entspricht die Moderation in besonderem Maße dem Wesen der Mediation als privatautonomem Verfahren. Die privatautonome Ausgestaltung des Verfahrens bildet die Voraussetzung einer ganzen Reihe weiterer Verfahrenseigenschaften, die wir in den vorangegangenen Abschnitten eingehend in den Blick genommen haben: Sie mobilisiert das in den Parteien als den wahren Experten des Konflikts angelegte Potential an Innovation, Kreativität und Sachverstand und ermöglicht so die Entwicklung sachgerechter, auf die Interessen der Parteien hin maßgeschneiderter Lösungspakete. Da die Beilegung des Konfliktes in hohem Maße in den Händen der Parteien liegt, fördert die Moderation die Akzeptanz und Legitimation der ausgehandelten Einigung und bietet damit die Gewähr dafür, dass die Abschlussvereinbarung auch nachhaltig, dauerhaft und umsetzbar ist. Schließlich wirkt sich ein weitgehend moderiertes Mediationsverfahren, in dem sich die Parteien mit dem Konflikt aus der Perspektive ihres jeweiligen Verhandlungspartners auseinandersetzen und sich in einem Prozess kooperativer Problemlösung gemeinsam um seine Beilegung bemühen, positiv auf ihr Verhältnis zueinander aus und trägt so zur Wiederherstellung einer tragfähigen Beziehung der Parteien für die Zukunft bei. Dem mit einem moderierenden Ansatz zwangsläufig verbundenen Problem, dass die Parteien – etwa aufgrund ihrer Unerfahrenheit im Rechts- und Geschäftsverkehr, aufgrund von Informationsdefiziten oder aufgrund struktureller Machtungleichgewichte – von der ihnen vom Mediator eingeräumten Privatautonomie in tatsächlicher Hinsicht keinen Gebrauch machen können, sondern stattdessen der Gefahr erheblicher Schädigungen ausgesetzt sind, muss der Mediator indes durch eine flexible Definition seiner eigenen Rolle in besonderer Weise Rechnung tragen. Sind die Voraussetzungen für eine freie, informierte und damit in vollem Umfang privatautonome Einigungsentscheidung der Parteien nicht gegeben und besteht die Gefahr, dass eine Partei in unzulässiger Weise ausgenutzt, übervorteilt oder in sonstiger Weise geschädigt wird, so kommt ihm die Aufgabe zu, das bestehende Informationsdefizit sowie existierende Machtungleichgewichte durch einen weitgehend evaluierenden Mediationsstil auszugleichen und so die Voraussetzungen auch tatsächlich privatautonomen Handelns wiederherzustellen. Dies gilt auch und gerade bei einem Auftreten von Einigungshindernissen, wenn die Verhandlung in einer Sackgasse gefangen ist, aus der sich die Parteien aus eigener Kraft ohne die Unterstützung eines vermittelnden Dritten nicht mehr befreien können, oder wenn sie die in der Struktur des Konfliktes angelegten Wertschöpfungspotentiale nicht in vollem Umfang erkennen und im Interesse beider Seiten auszuschöpfen vermögen. Eine unverbindlich-distanzierte Haltung im Sinne einer Laissez-Faire-
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Mentalität verbietet sich für den Mediator schon aus Gründen seiner Verantwortung gegenüber den Parteien. Stattdessen gebieten in diesen Fällen die Neutralität des Mediators und seine unterstützende Funktion im Mediationsverfahren als „Hüter der Privatautonomie“41 und „Garant eines erfolgreichen Verhandlungsergebnisses“, dass er die Parteien durch eigene Bewertungen, Prognosen und Einigungsvorschläge in die Lage versetzt, eine eigenständige, informierte Einigungsentscheidung zu treffen und sie so zu einer beiderseits interessengerechten, dauerhaften und nachhaltigen Lösung ihres Konfliktes hinführt. Dieser Pflichtenkreis des Mediators ergibt sich aus der Tatsache, dass er, wie wir im Rahmen unserer vergleichenden Strukturanalyse gesehen haben, durch seine vermittelnde Tätigkeit regelmäßig nicht etwa substituierend eine Funktion wahrnimmt, welche die Parteien auch ohne seine Hilfe ohne weiteres erfüllen könnten, sondern ihnen durch die Herstellung der Grundbedingungen privatautonomen Handelns konstitutiv erst Einigungsmöglichkeiten eröffnet, die ihnen ohne fremde Hilfe nicht zur Verfügung stehen würden.42 Daraus ergibt sich für die Rollendefinition des Mediators im Rahmen unseres Verfahrensmodells der Integration des materiellen Rechts in das Mediationsverfahren folgende Gestaltungsempfehlung für das Verfahrensdesign: Als Grundorientierung des Mediators und damit als Regelfall für das Mediationsverfahren empfiehlt sich zunächst die Moderation bei einer weiten Definition des Konfliktgegenstandes (umfassende Moderation). Ergibt sich im Verlauf der Verhandlung, dass ein höheres Maß an Intervention des Mediators erforderlich ist oder äußern die Parteien den Wunsch nach einer bewertenden Mitwirkung des Mediators, so kann der Mediator zu einem evaluierenden Mediationsstil übergehen, solange und soweit dies zur Sicherung der Privatautonomie der Parteien und zur Gewährleistung eines beiderseits interessengerechten, nachhaltigen und dauerhaften Ergebnisses erforderlich ist.43 Sind diese Ziele auch mit einer geringeren Interventionsdichte des Mediators erreichbar, sollte er das Maß an Evaluierung wieder zurücknehmen und zu einem weitgehend 41
Diese Funktion des Mediators ergibt sich, wie wir bereits oben S. 108 f. gesehen haben, aus seiner für die privatautonome Einigung der Parteien konstitutiven Funktion. Ebenso wie der Richter nach Thomas von Aquin in Summa Theologica Iª-IIae q. 58, 1 ad 4 im Anschluss an die klassische Definition der Gerechtigkeit in Dig 1, 1, 10 („Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi.“) als Hüter der Gerechtigkeit derjenige ist, der einem jeden das zuteilt, was ihm zukommt („per modum imperantis et dirigentis“), so ist der Mediator derjenige, der die Parteien in die Lage versetzt, – suum cuique tribuere – sich gegenseitig das zukommen zu lassen, was einem jeden von ihnen zusteht. Hierzu eingehend oben S. 170 ff., 235 ff. Vgl. zur Funktion des Juristen und Richters aus rechtsphilosophischer Perspektive Engisch, Gerechtigkeit (1971), S. 150. Vgl. zur Berufung des Juristen als sacred calling auch David Hall, ehemaliger Kanzler und Dekan der Northeastern University School of Law: Hall, Sacred Rivers (2005). Zur Rolle des Mediators als peacemaker eingehend Calkins, 54 Drake L. Rev. 259, 300 ff. (2006). 42 Vgl. hierzu eingehend oben S. 107 ff., 130 ff. 43 So auch Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 86.
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moderierenden Rollenverständnis zurückkehren. Dabei sollte der Mediator eine Änderung seines Rollenverständnisses stets mit den Parteien besprechen, damit diese von einem Rollenwechsel nicht überrascht werden. Durch das kombinierte Rollenmodell – Grundsatz: Umfassende Moderation, Ausnahme: Umfassende Beurteilung – wird ein höchstmögliches Maß an Privatautonomie gewährleistet und der Mediator in die Lage versetzt, auf mögliche Defizite in der Autonomie der Parteien, die Erforderlichkeit rechtlicher Bewertungen, Einigungsbarrieren oder Änderungen der Verhandlungsdynamik flexibel zu reagieren. e) Kritik des Riskin-Modells: Die Grenzen des Mediationsbegriffs Das Riskin-Modell ist im Schrifttum vor allem von den Befürwortern eines moderierenden Mediationsstils heftig kritisiert worden und hat in den USA eine lebhafte Diskussion über Inhalt und Grenzen des Mediationsbegriffs und damit über die zulässige Rolle des Mediators ausgelöst. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen dabei zwei Fragestellungen, die durch die Kategorien des Umfanges des Konfliktgegenstandes und der Interventionsdichte des Mediators als den beiden Achsen des Riskin-Modells vorgegeben werden: a) Zum einen die Frage, ob eine Beschränkung des Konfliktgegenstandes auf die Verhandlung von Rechten, bb) zum anderen das Problem, ob ein evaluierender Mediationsstil mit dem Wesen des Mediationsverfahrens als interessenorientiertem, privatautonomem Verfahren überhaupt vereinbar ist. Beide Problemkreise sind für die gerichtsverbundene Mediation als Schnittpunkt von Mediation und Zivilprozess als einander in Antinomie gegenüberstehenden Verfahren von besonderer Bedeutung. aa) Enger Konfliktgegenstand: Verhandlung über Rechte als Mediation? Die erste Frage betrifft den Umfang des Konfliktgegenstandes: Kann eine auf die Behandlung von Rechtsfragen reduzierte Konfliktbehandlung überhaupt als Mediation im technischen Sinne angesehen werden oder handelt es sich nicht vielmehr um ein vollkommen anderes Verfahren? Kann die Verhandlung über Rechtspositionen als zulässige Ausprägung des Mediationsverfahrens angesehen werden oder tritt uns damit vielmehr ein in seinen Entscheidungsgrundlagen dem Zivilprozess verwandtes Verfahren gegenüber, den die Mediation gerade angetreten war zu ersetzen? Wie wir im Rahmen unserer vergleichenden Strukturanalyse von Mediation und Zivilprozess bereits gesehen haben, ist der Schritt von den Rechtspositionen hin zu den hinter den Positionen stehenden Interessen, ist die Bewältigung des Konfliktes gerade auf der Grundlage der wahren Interessen der Parteien und eben nicht aufgrund des Rechts für das Wesen des Mediationsverfahrens von zentraler, prägender Bedeutung.44 44
Vgl. hierzu eingehend oben S. 124 ff.
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 407
Denn der Vorteil der Mediation gegenüber anderen Streitbeilegungsformen und vor allem gegenüber dem Zivilprozess besteht ja gerade darin, dass sich die Parteien aus der Fixierung auf ihre jeweiligen Rechtspositionen lösen und stattdessen die dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen in den Blick nehmen. Aus dieser methodischen Vorrangstellung des Mediationsverfahrens ergibt sich – wie wir gesehen haben45 – sein Primat im Spektrum der Streitbeilegungsformen. Aus ihr folgt – wie wir sehen werden46 – der Standort der Mediation innerhalb des zu entwickelnden Systems einer umfassenden Streitbehandlungslehre. Riskin selbst hat auf dieses Problem als unvermeidbare Folge seiner Bemühungen um eine umfassende Systematisierung jeglicher, in der Praxis unter dem Begriff der Mediation angebotenen Verfahren hingewiesen. Während ein Teil der Forschung argumentieren würde, dass es sich etwa bei der Sachbeurteilung nicht mehr um Mediation, sondern um ein gänzlich anderes Verfahren handele, das eher den Verfahren der „Neutral Evaluation“, dem „Settlement“ oder der Schlichtung („non-binding arbitration“) nahesteht, würden andere die Moderation als eigenständiges Verfahren betrachten.47 Wieder andere würden die Auffassung vertreten, dass der Begriff der „evaluierenden Mediation“ ein Widerspruch in sich sei, weil er mit den Grundsätzen und Zielen, die sie mit dem Mediationsverfahren verbinden, unvereinbar sei.48 Allerdings weist Riskin zutreffend darauf hin, dass es aufgrund der rasanten Eigendynamik der Mediationspraxis für eine eng umgrenzte Definition des Mediationsbegriffes bereits zu spät sei: Erfolgreichen, weithin anerkannten Mediatoren könne nicht entgegengehalten werden, dass das, was sie praktizieren, keine Mediation sei.49 Dem Ergebnis ist zuzustimmen. Wie wir bereits zu Beginn unserer Untersuchung gesehen haben, hat sich in der Literatur eine weite Definition des Mediationsbegriffs als Verhandlung zwischen mehreren Parteien unter der fördernden Mitwirkung eines neutralen Dritten durchgesetzt.50 Dem entspricht unser Befund, dass es sich bei dem Mediationsverfahren, wie wir es in seinen Struktureigenschaften eingehend untersucht haben, um eines der drei idealtypischen Primärverfahren außergerichtlicher Streitbeilegung handelt, die in der Praxis in einer erheblichen Bandbreite unterschiedliche Ausprägungen annehmen
45
Vgl. oben S. 110 f. Vgl. unten S. 738 ff. 47 Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 40 (1996). 48 Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 13, 40 (1996). 49 Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 13 (1996). Ähnlich auch Abramson, 10 Harv. Negot. L. Rev. 103, 106 (2005), der zutreffend feststellt: „It is too late to justify a favored, circumscribed definition of mediation.” 50 Vgl. oben S. 3. Hierzu auch Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 121. 46
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können, die sich jedoch in ihren Strukturmerkmalen immer auf ihren jeweiligen Primärprozess zurückführen lassen.51 bb) Intensität der Interventionsdichte: Zulässigkeit des evaluierenden Mediationsstils? Die zweite durch das Riskin-Modell aufgeworfene Frage betrifft die Zulässigkeit eigener rechtlicher Bewertungen des Mediators im Rahmen des Mediationsverfahrens. Im Anschluss an die Systematisierung der unterschiedlichen Rollen des Mediators durch die Matrix Riskins ist in den USA eine intensive Diskussion über die jeweiligen Vor- und Nachteile des evaluierenden und moderierenden Mediationsstils sowie über die Frage entbrannt, ob eine evaluierende Rolle des Mediators überhaupt mit den Grundsätzen des Mediationsverfahrens vereinbar ist (evaluative-facilitative debate). Angesprochen ist damit ein Problem, dem vor allem für die gerichtsverbundene Mediation, in der ein enger Konfliktgegenstand auf einen weitgehend evaluierenden Vermittlungsstil der Güterichtern trifft, erhebliche praktische Bedeutung zukommt. 1. Unzulässigkeit der evaluierenden Mediation. Befürworter der moderierenden Mediation52 – vor allem Kovach53, Love54 und Stuhlberg55 – halten die evaluierende Mediation für ein Oxymoron und damit für ein Verfahren, das mit dem Wesen der Mediation nicht in Einklang zu bringen ist. Zwar könne sich ein neutraler Vermittler auch evaluierender Techniken bedienen, doch handele es sich dabei um ein hybrides Verfahren, etwa die Early Neutral Evaluation (ENE)56 oder die non-binding arbitration (Schlichtung)57, das von der Mediation deutlich zu unterscheiden sei. Begründet wird die Beschränkung des Mediationsbegriffs auf moderierende Verfahren vor allem mit der strukturellen
51
Vgl. oben S. 103. Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 29 (2000) (zwischen mediation und evaluative mediation unterscheidend); Levin, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 267, 271 (2001); Bush, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 111, 125 (2002) („an arbitration substitute“); Brown, 4 Pepp. Disp. Resol. L.J. 279, 295 (2004) („neutral evaluation“). 53 Kovach/Love, 14 Alternatives to High Cost Litig. 31 (1996); Kovach/Love, 3 Harv. Negot. L. Rev. 71 (1998). 54 Love/Boskey, 1 Cardozo Online J. Conf. Res. 1 (1997); Love, 24 Fla. St. U. L. Rev. 937 (1997); Love/Kovach, 2000 J. Disp. Resol. 295 (2000); Love/Cooley, 21 Ohio St. J. on Disp. Resol. 45 (2005). 55 Stulberg, 24 Fla. St. U. L. Rev. 985 (1997). 56 Hierzu Brazil/Kahn/Newman/Gold, 69 Judicature 279 (1986); Kakalik/Dunworth/Hill u.a., Evaluation (1996); Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 68, 222. 57 Eingehend hierzu Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 148; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 88 ff. . 52
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Antinomie zwischen evaluierenden Techniken und der Natur des Mediationsverfahrens sowie mit den Folgen, die sich daraus für die Selbstbestimmung der Parteien, die Neutralität des Mediators und die weitere Entwicklung der Mediation als Alternative zum Zivilprozess ergeben.58 Eine derartige Reduzierung des Mediationsverfahrens auf die Moderation ist indes abzulehnen. a) Spannungsverhältnis zu den Grundsätzen des Mediationsverfahrens. Allerdings stehen Selbstverständnis, Funktion und Techniken des evaluierenden Mediators, der den Konflikt für die Parteien analysiert, bewertet und entsprechende Lösungsvorschläge entwickelt, in einem Spannungsverhältnis zum Wesen der Mediation als einem privatautonomen Verfahren, in dem die Parteien selbst an der Analyse, Bewertung und Entwicklung von Einigungsvorschlägen beteiligt sind.59 b) Risiken evaluierender Mediation. Darüber hinaus birgt die evaluierende Mediation für die Parteien wie für den Mediator tatsächlich eine Reihe von Risiken.60 Denn greift der Mediator durch eigene Bewertungen oder eigene Einigungsvorschläge in die Verhandlung zwischen den Parteien ein, so kann dies zu einer Polarisierung oder sogar zu einem Scheitern der Verhandlung führen.61 Der „Gewinner“ wird in seiner Verhandlungsposition fixiert, der „Verlierer“ durch die Abwertung seiner Position enttäuscht und in eine Gegnerschaft zum Mediator versetzt, der sich aus der Perspektive des „Verlierers“ nun auf die Seite des „Gewinners“ gestellt hat. Sehen die damit in ihren Positionen festgefahrenen Parteien keine Perspektive für eine Einigung, so besteht die Gefahr, dass sich die „unterlegene Partei“ aus der Verhandlung zurückzieht. Darüber hinaus kann der Fokus auf die rechtliche Dimension des Falles und seine Bewertung durch den Mediator dazu führen, dass sich die Parteien nicht mehr primär auf die kreative Integration ihrer gegenseitigen Interessen konzentrieren, sondern sich stattdessen in ein positionsorientiertes Nullsummenspiel verstricken.62 Zudem fehlt ein wirksamer Schutz der Parteien vor fehlerhaften,
58
Vgl. hierzu eingehend Love, 24 Fla. St. U. L. Rev. 937, 938 ff. (1997); Stulberg, 24 Fla. St. U. L. Rev. 985, 993 ff. (1997). 59 Kovach/Love, 14 Alternatives to High Cost Litig. 31, 31 ff. (1996); Love, 24 Fla. St. U. L. Rev. 937, 938 ff. (1997); Kovach/Love, 3 Harv. Negot. L. Rev. 71, 78 ff. (1998); Love/Kovach, 2000 J. Disp. Resol. 295 (2000). 60 Vgl. hierzu auch Golann/Aaron, 52 Disp. Resol. J. 26, 28 f. (1997); Golann, 15 Alternatives to High Cost Litig. 35 (1997); Love, 24 Fla. St. U. L. Rev. 937, 938 ff. (1997); Stulberg, 24 Fla. St. U. L. Rev. 985, 991 ff. (1997). 61 So auch Golann/Aaron, 52 Disp. Resol. J. 26, 28 (1997); Golann, 15 Alternatives to High Cost Litig. 35 (1997); Love, 24 Fla. St. U. L. Rev. 937, 940, 945 (1997); Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 70. 62 Love, 24 Fla. St. U. L. Rev. 937, 944 (1997); Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 70.
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irreführenden oder manipulativen Bewertungen des Mediators sowie ein verbindlicher Verhaltensstandard, der Rechte und Pflichten des Mediators im Hinblick auf seine bewertende Funktion eindeutig regelt.63 Schließlich könnten die Unsicherheiten hinsichtlich der Rollendefinition des Mediators auch einem einheitlichen Verständnis des Mediationsverfahrens im Wege stehen, das für die weitere Entwicklung der Mediation als Alternative zum Zivilprozess von erheblicher Bedeutung ist.64 c) Verletzung der Prinzipien der Rollentrennung und der Verfahrensintegrität. Aus dogmatischer Perspektive wären die Probleme der bewertenden Mediation, die sich auf vielfältige Weise auf die Praxis der Streitbehandlung auswirken, auf eine mögliche Verletzung der Grundsätze der Rollentrennung und der Verfahrensintegrität zurückzuführen, die wir im Anschluss an Fuller als zentrale, das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess bestimmende Ordnungsprinzipien herausgearbeitet haben.65 Wie wir im Rahmen unserer Betrachtung der Verfahrenslehre Fullers gesehen haben, lehnt Fuller die Kombination der einzelnen Primärverfahren wie auch eine Vermischung der Rollen durch „mixed, parasitic, and perverted forms of social order“66 aufgrund der Gefahr einer Verletzung der inneren Integrität (internal morality) der einzelnen Verfahren grundsätzlich ab. 2. Zulässigkeit der evaluierenden Mediation. Allerdings hat Riskin selbst schon früh darauf hingewiesen, dass die Rolle des Mediators nicht immer mit absoluter Klarheit einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden kann.67 Entsprechend ist die schematisierende Klassifizierung des Kontinuums möglicher Rollen des Mediators hinsichtlich seiner Interventionsdichte in die zwei extremen Pole der Moderation und der evaluierenden Mediation von einem Teil der
63 Kovach/Love, 14 Alternatives to High Cost Litig. 31, 31 (1996); Stark, 38 S. Tex. L. Rev. 769, 792 (1997). 64 Vgl. zu den wettbewerbsbedingten Ursachen der Suche nach einem einheitlichen Mediationsbegriff Jarrett, 2009 J. Disp. Resol. 49, 59 (2009). 65 Vgl. oben S. 116 ff. Vgl. auch Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff., 27 ff., 36 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381 f., 404 f. (1978); Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 18 f. (2000). 66 Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 404 ff. (1978). Allerdings hat bereits Fuller selbst darauf hingewiesen, dass ihr Einsatz nicht grundsätzlich unzulässig ist, sie indes mit spezifischen Risiken behaftet sind und daher eine Vermischung der Rollen des neutralen Dritten (role confusion) unbedingt zu vermeiden ist. Ebenda. 67 Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 36 (1996). Vgl. auch Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1, 33 ff. (2003): „It is quite clear, however, that many ̶ probably most ̶ mediators engage in behaviors that fit into both categories.”
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Literatur zu Recht als falscher Gegensatz („false dichotomy“) kritisiert worden.68 Denn Moderation und evaluierende Mediation stellen keine klar voneinander abgegrenzten, einander ausschließenden Kategorien dar, sondern sind tatsächlich Teil des gleichen Kontinuums möglicher Interventionsformen des Mediators. Das Verständnis moderierender und bewertender Techniken als Pole dieses Kontinuums im Sinne eines Nullsummenspiels, in dem der Gebrauch der einen den Nutzen der anderen Technik verringert, vermag nicht zu überzeugen. Denn dadurch, dass der Mediator den Parteien Informationen in Form von Analysen, Bewertungen oder Daten zur Verfügung stellt, verliert das Verfahren nicht zwangsläufig seinen privatautonomen Charakter, büßt der Mediator keineswegs seine moderierende Rolle ein. a) Intervention zum Schutz der Privatautonomie. Aus dogmatischer Sicht ist der Mediator im Gegenteil gerade aufgrund der ihm zukommenden Unabhängigkeit und Neutralität und aufgrund seiner Funktion als Hüter der Privatautonomie der Parteien verpflichtet, die Parteien in die Lage zu versetzen, ihren Konflikt auch in tatsächlicher Hinsicht eigenverantwortlich beizulegen.69 Das setzt voraus, dass die Parteien über die Voraussetzungen privatautonomen Handelns verfügen und auch tatsächlich in der Lage sind, eine informierte und damit selbstbestimmte Entscheidung zu treffen. Weil dem Mediator im Hinblick auf die Sicherung der Privatautonomie der Parteien – wie wir im Rahmen unserer Strukturanalyse des Mediationsverfahrens herausgearbeitet haben – eine konstitutive Funktion zukommt, trifft ihn gerade die Pflicht, Informationsasymmetrien, Machtungleichgewichte und alle übrigen Defizite auszugleichen, die die Parteien an einer effektiven Mitwirkung an der Beilegung ihres Konfliktes hindern.70 Der Grundsatz der Privatautonomie als eines der Wesensmerkmale des Mediationsverfahrens verlangt gerade, dass der Mediator auf die jeweiligen Anforderungen des Konfliktes im Einzelfall flexibel reagiert und seine Interventionsdichte jenem Maß angleicht, das für die Aufrechterhaltung selbstbestimmten Handelns der Parteien tatsächlich erforderlich ist. Eine starre
68 Grundlegend Stempel, 24 Fla. St. U. L. Rev. 949 (1997). Vgl. auch Stark, 38 S. Tex. L. Rev. 769, 784 ff. (1997); Roberts, 39 Loy. U. Chi. L.J. 187, 192 ff. (2007). Die der „false dichotomy“ zugrunde liegenden realen Gegensätze diskutierend: Stempel, 2000 J. Disp. Res. 371 (2000). Einen empirischen Nachweis für die Unhaltbarkeit eines Nebeneinanders eng abgrenzbarer Kategorien evaluierender und moderierender Mediation haben Goldfien/Robbennolt, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 277, 305 ff. (2007) erbracht. Vgl. hierzu unten S. 331, Fn. 86. Zur Deutung der Dichotomie aus der Perspektive therapeutischer Mediation Waldman, 82 Marq. L. Rev. 155, 167 (1998). Für die evaluierende Mediation ebenfalls: Aaron, 14 Alternatives to High Cost Litig. 62 (1996); Golann, 15 Alternatives to High Cost Litig. 35 (1997); Golann/Aaron, 52 Disp. Resol. J. 26 (1997). 69 Vgl. zur Rolle des Mediators bereits eingehend oben S. 108 ff., 130 ff. 70 Ähnlich auch Stark, 38 S. Tex. L. Rev. 769, 798 (1997).
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Festlegung des Mediators auf ein bestimmtes Rollenbild – etwa eine ausschließliche Moderation im Sinne einer Laissez-Faire-Mentalität – wäre daher aufgrund der Gefahren, die damit für die Privatautonomie und die Neutralität des Mediators verbunden wären, mit den Grundsätzen des Mediationsverfahrens unvereinbar. b) Gefahr eines neuen Formalismus. Eine starre Kategorisierung in streng gegeneinander abgegrenzte Stereotypen, die suggeriert, dass der Mediator entweder dem einen oder dem anderen Lager zuzurechnen sei und ihm wenig Spielraum gäbe, von dem ihm zugeschriebenen Mediationsstil abzuweichen, würde darüber hinaus den Handlungsspielraum des Mediators erheblich begrenzen und zu einem neuen Formalismus führen, der mit dem informalen Charakter der Mediation als Verfahren der Billigkeit nicht in Einklang zu bringen wäre.71 Ein solches regulatorisches Regime wäre mit dem Makel der Tautologie und der sich selbst erfüllenden Prophezeiung verbunden.72 Denn wenn der Mediationsbegriff ausschließlich auf die Moderation beschränkt wird, muss jede bewertende Tätigkeit oder intensivere Intervention des Mediators zwangsläufig als unzulässig, das Verfahren insoweit als unsachgemäße Mediation oder sogar als ein von der Mediation zu unterscheidendes angesehen werden.73 c) Methodenvielfalt in der Praxis. Entsprechend ist auch die Mediationspraxis tatsächlich durch eine Methodenvielfalt gekennzeichnet. Ein guter Mediator wird, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, im Rahmen seiner vermittelnden Tätigkeit sowohl bewertende als auch moderierende Techniken einsetzen.74 Oft kann darüber hinaus dieselbe Handlung abhängig vom Kontext sowohl bewertend als auch als moderierend gekennzeichnet werden.75 Der Unterschied zwischen beiden Konzepten erweist sich damit letztlich als geringer,
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Vgl. Stempel, 24 Fla. St. U. L. Rev. 949, 954 ff. (1997); Stempel, 2000 J. Disp. Resol. 247, 269 ff. (2000). Vgl. hierzu auch die soziologische Untersuchung von Jarrett, 2009 J. Disp. Resol. 49, 60 ff. (2009), der für die Zukunft eine verstärkte Verrechtlichung und Formalisierung („Increasing Legalism and Formalism“) des Mediationsverfahrens annimmt und in den z.T. marktbestimmten Bemühungen um eine berufliche Identität eine wesentliche Ursache für die Bemühung um klare Abgrenzung evaluierender und moderierender Verfahren und für das Ringen um Deutungshoheit über den Mediationsbegriff sieht. Vgl. ebenda, S. 59: „They revealed that a very real struggle for professional identity is taking place in the contemporary mediation field. Accordingly, mediators are tempted to cling to fixed labels and brands as an expression of that professional identity. Moreover, espousing commitments to a fixed approach is a way of producing meaning and coherence in a young and burgeoning mediation marketplace.” 72 Stempel, 24 Fla. St. U. L. Rev. 949, 954 f. (1997); Stempel, 2000 J. Disp. Resol. 247, 250, 254 f. (2000). 73 Stempel, 24 Fla. St. U. L. Rev. 949, 954 (1997). 74 Stempel, 24 Fla. St. U. L. Rev. 949, 952 (1997). 75 Stempel, 2000 J. Disp. Resol. 247, 264 (2000); Roberts, 39 Loy. U. Chi. L.J. 187, 192 (2007).
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als es auf den ersten Blick erscheint. So hat auch Riskin darauf hingewiesen, dass das Rollenverständnis des Mediators im Gang des Verfahrens nicht konstant bleibt, sondern sich vielmehr im Verlauf der Verhandlung verändert.76 Häufig werden bewertende und moderierende Techniken darüber hinaus parallel eingesetzt und sind zudem durch ein enges Wechselwirkungsverhältnis miteinander verbunden: Sie tragen gleichsam den Samen des jeweils anderen Verfahrensverständnisses und gehen häufig ineinander über.77 So kann etwa die Bewertung des Mediators den Ausgangspunkt einer moderierten Diskussion der Parteien bilden oder eine erfolglose, intensive Intervention des Mediators den Boden für ein nun weitgehend moderierendes Verhalten des Mediators bereiten.78 Die These einer polarisierenden Dichotomie beider Techniken, die auch Riskin selbst mit seiner Matrix nie beabsichtigt hatte79, vermag nach alledem nicht zu überzeugen. Die enge Wechselwirkung zwischen bewertenden und moderierenden Techniken und die Probleme, die aus der Dichotomie erwachsen sind, haben Riskin vielmehr veranlasst, die klassische Matrix, die eine solche Unterscheidung begünstigt hatte, aufzugeben und in zwei neuen Modellen grundlegend zu überarbeiten.80 d) Kongruenz mit Fullers Verfahrenslehre. Auch aus dogmatischer Sicht ist das Ergebnis konsistent, denn tatsächlich liegt in der bewertenden Tätigkeit des Mediators kein Fall der Vermischung der vermittelnden und der richtenden Rolle des neutralen Dritten und damit keine Rollenkonfusion vor, die zu einer Verletzung der Verfahrensintegrität führen würde. Fuller unterscheidet in seiner Verfahrenslehre deutlich zwischen den Rollen des entscheidenden Richters und des vermittelnden Mediators und lehnt eine Kombination der Primärverfahren und eine Vermischung der mit ihnen verbundenen Rollen aufgrund der damit verbundenen Gefahren für die innere Integrität der jeweiligen Verfahren 76
Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 36 (1996); Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1, 36 (2003). So auch Golann, 2000 J. Disp. Resol. 41, 46 ff. (2000), der in einer empirischen Untersuchung, die allerdings auf einer vergleichsweise dünnen Datenbasis basiert (vier Rollenspiele), das Rollenverhalten von Mediatoren untersucht. 77 Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1, 33 (2003). 78 Umfassend dazu Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1, 33 (2003): „ … there is a complex, dynamic quality in the relationships between directive and elicitive mediator moves. They often travel in tandem, and a particular move can have both directive and elicitive motives and effects. And there’s more to say: Directive and elicitive moves each contain the seeds of the other and yield to the other. For example, as a mediator becomes very directive ̶ say, pushing parties to reach an agreement ̶ if such direction does not produce an agreement, she may need to become more elicitive in order to allow the parties to provide their own ‘direction’ in working out a solution. In other words, too much directive behavior must yield to elicitive behavior.“ 79 Vgl. Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1, 13 (2003): „And this dichotomous language about orientations took hold despite my assertions about the difficulties of categorizing mediators’ orientations, strategies, and techniques.” 80 Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1, 9 ff. (2003).
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ab. Von einer derartigen Vermischung kann indes keine Rede sein, wenn sich der Mediator bewertender Techniken – der Information, Analyse und der Entwicklung eigener Lösungsvorschläge – als Instrument der Vermittlung bedient, um die Parteien gerade zu einer eigenverantwortlichen Einigungsentscheidung zu befähigen. d) Kombiniertes Rollenmodell. Aus der instrumentellen Legitimation evaluierender Techniken ergibt sich freilich, dass diese gegenüber einem moderierenden Rollenverständnis des Mediators subsidiär zur Anwendung kommen sollten. Wie wir im Rahmen der Begründung des kombinierten Rollenmodells der Mediation gesehen haben, sollte der Mediator zur Wahrung der Privatautonomie seine Interventionen auf ein Mindestmaß beschränken und in seinem vermittelnden Handeln grundsätzlich ein moderierendes Rollenverständnis zugrunde legen. Ergibt sich im Gang des Mediationsverfahrens aufgrund von Informations- und Machtasymmetrien oder zur Überwindung von Einigungshindernissen die Erforderlichkeit einer höheren Interventionsdichte des Mediators, so kann und muss er – wiederum zur Wahrung der Privatautonomie – die entstandenen Defizite durch bewertende Eingriffe ausgleichen, um sodann wieder zu einem moderierenden Stil zurückzukehren.81 Da die Parteien aufgrund kognitiver Wahrnehmungsverzerrungen regelmäßig auf objektive Informationen und Bewertungen Dritter, sei es des Mediators oder eines Berateranwaltes, angewiesen sind, werden Mediationsverfahren in größerem oder geringerem Umfang regelmäßig evaluative Elemente enthalten.82 cc) Bewertung durch die Parteien Die Frage, wie sich der Gebrauch evaluativer Techniken im Vergleich auf das Verhandlungsergebnis und die Wahrnehmung des Verfahrens durch die Parteien auswirkt, lässt sich aus empirischer Sicht indes nicht einheitlich beantworten. Während eine jüngere Untersuchung des US-amerikanischen EEOC Mediationsprogramms83 eine Präferenz der Parteien für die Moderation im Vergleich zur evaluierenden Mediation nahelegt,84 kommt eine Studie des ge-
81
Vgl. oben S. 321 ff. Einen empirischen Nachweis dieser Wahrnehmungsverzerrungen und ihrer Auswirkung auf das Verhandlungsergebnis hat Jones/Yarn, 2003 J. Disp. Resol. 427, 444 ff. (2003) erbracht. 83 Die Equal Employment Opportunity Commission (EEOC) ist eine im Rahmen des Civil Rights Act 1964 (78 Stat. 241) errichtete US-Bundesbehörde, die vom Kongress zur Durchsetzung der gesetzlichen Diskriminierungsverbote am Arbeitsplatz ermächtigt wurde. Sie unterhält ein umfangreiches Mediationsprogramm zur Beilegung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten. 84 Obar/McDermott, 9 Harv. Negot. L. Rev. 75, 75 (2004): „ … both the charging party and the respondent rate facilitative mediation more favorably than evaluative mediation …”. 82
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richtsverbundenen Mediationsprogrammes des Staates Ohio zu dem entgegengesetzten Ergebnis.85 Weniger Widersprüche ergeben sich dagegen aufgrund der unterschiedlichen Untersuchungsgegenstände der Studien hinsichtlich der Auswirkungen des Mediationsstiles auf das Verhandlungsergebnis. So haben McDermott und Obar nachgewiesen, dass der Gebrauch bewertender Mediationstechniken und die Vertretung der Parteien durch Anwälte in arbeitsrechtlichen Mediationen zu signifikant höheren Vergleichssummen führte als in Mediationen, in denen dies nicht der Fall war.86 Dabei kommt der anwaltlichen Vertretung der Parteien eine Schlüsselrolle zu: Die größten Synergieeffekte ließen sich erzielen, wenn eine anwaltliche Vertretung aufseiten der Parteien mit einem bewertenden Mediationsstil des Mediators kombiniert wurde. Waren die Parteien dagegen nicht anwaltlich vertreten, so fiel die Höhe der erzielten Vergleichsvereinbarungen für die das Mediationsverfahren initiierende Arbeitnehmerseite geringer aus, als dies bei einer rein moderierenden Mediation der Fall war.87 Allerdings sind die Ergebnisse mit Zurückhaltung zu bewerten, da es sich bei den untersuchten Verfahren um arbeitsrechtliche Antidiskriminierungsverfahren handelt, die unter der Ägide eines staatlichen Mediationsprogramms erfolgten. Die in diesen Fällen
Vgl. auch ebenda, S. 96: „ … parties in cases where purely facilitative techniques were employed generally rate the procedural and distributive elements higher compared to charging parties in cases where purely evaluative techniques were employed.” 85 Wissler, 4 No. 4 Disp. Resol. Mag. 28 (1998). Ähnlich auch McGillis, Community Mediation Programs (1997): „These findings suggest that community mediation can work quite effectively regardless of the specific style of mediation adopted.” und die empirische Untersuchung von Goldfien/Robbennolt, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 277, 305 f. (2007): „This relative preference for creative and elicitive mediator behaviors over more directive behaviors suggests that participants favored a process that ‘belongs’ to the parties and that is less driven by the mediator's own beliefs and opinions about whether and on what basis the dispute should be settled in mediation.” 86 Obar/McDermott, 9 Harv. Negot. L. Rev. 75, 75 (2004): „ … evaluative mediation results in a higher monetary settlement.” Vgl. auch ebenda, S. 102 „Comparing across mediation styles, the results also show that when a purely evaluative mediation is combined with representation, the return to the charging party is far more than if the evaluative mediation was conducted without representation.” In diese Richtung gehen auch Goldfien/Robbennolt, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 277, 305 (2007): „This finding is consistent with recognition that evaluative or directive behaviors on the one hand and facilitative or elicitive behaviors on the other hand are not opposites on a continuum, but are distinct, and not necessarily incompatible, sets of behaviors.” Vgl. auch Ebenda, S. 318: „Finally, we provide evidence that mediator orientation is not a dichotomy or even a single continuum along which one must select a mediator.” 87 Obar/McDermott, 9 Harv. Negot. L. Rev. 75, 102 (2004): „ … there appears to be a synergistic effect when one combines evaluative mediation with representation … If the evaluative mediation was conducted without representation, the charging party was worse off than if the mediation was facilitative and without representation”.
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regelmäßig bestehenden strukturellen Machtungleichgewichte schränken die Möglichkeit einer Verallgemeinerung der Ergebnisse erheblich ein. Die Untersuchungen sind indes für die evaluative facilitative debate in vielfacher Hinsicht aufschlussreich: So haben McDermott und Obar mit dem Nachweis rein moderierender Mediationsverfahren gezeigt, dass nicht jede Mediation zwangsläufig evaluative Elemente enthalten muss.88 Allerdings verfügen die Parteien in rein moderierenden Mediationsverfahren über einen erheblich geringeren Einigungsbereich, der zu betragsmäßig geringeren Einigungen führt, als dies bei stärker evaluativen Mediationen der Fall ist.89 Darüber hinaus nährt die Studie die Zweifel an der Tauglichkeit stereotyper Kategorisierungen und stützt die Annahme einer breiten Methodenvielfalt in der Mediationspraxis: So setzte auch in ausschließlich auf moderierende Mediation ausgerichteten Mediationsprogrammen ein erheblicher Teil der Mediatoren tatsächlich evaluierende Techniken ein.90 Während die meisten dieser Techniken – vor allem reality checking – zumindest von einem Teil des Schrifttums für die Mediation noch als zulässig gewertet werden, wurden darüber hinaus jedoch auch Techniken angewandt, die mit dem Selbstverständnis der Mediation unstreitig nicht mehr in Einklang zu bringen sind.91 Insgesamt belegt der empirische Befund damit die Bedeutung, die der bewertenden Rolle des Mediators und dem materiellen Recht innerhalb des Mediationsverfahrens zukommen und bestätigt damit die Tauglichkeit des kombinierten Rollenmodells als Ausgangspunkt eines Verfahrenskonzeptes für gerichtsverbundene Mediationsprogramme, dem wir uns im dritten Teil unserer Untersuchung eingehend zuwenden werden.
88 Obar/McDermott, 9 Harv. Negot. L. Rev. 75, 95 (2004): „Our second important finding is that in a mediation program labeled as facilitative, a substantial number of mediators engage in evaluative behavior. While most of the behavior was reality checking, thus consistent with the view of many that some evaluative behavior such as reality checking is appropriate in mediation, we also identified other behavior that all scholars would classify as evaluation.” 89 Obar/McDermott, 9 Harv. Negot. L. Rev. 75, 103 (2004): „Thus, as opposed to mediation with an evaluative element, mediation with pure facilitative techniques has a comparatively narrow range of settlement. This is our eighth important finding.” 90 Obar/McDermott, 9 Harv. Negot. L. Rev. 75, 95 (2004). 91 Obar/McDermott, 9 Harv. Negot. L. Rev. 75, 95 (2004): „Our second important finding is that in a mediation program labeled as facilitative, a substantial number of mediators engage in evaluative behavior. While most of the behavior was reality checking, thus consistent with the view of many that some evaluative behavior such as reality checking is appropriate in mediation, we also identified other behavior that all scholars would classify as evaluation.“
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 417
2. Die Rolle des Mediators in der vertragsautonomen Mediation Das Rollenverständnis des Mediators kann in der Rechtspraxis erheblich variieren. Wie wir vor dem Hintergrund des empirischen Befundes gesehen haben, tritt uns der Mediator hinsichtlich des Umfangs des Konfliktgegenstands wie auch der von ihm in Anspruch genommenen Interventionsdichte in der ganzen Bandbreite möglicher Interaktionsformen gegenüber: Während er sich in der moderierenden Mediation weitgehend auf die passive Förderung der Verhandlung durch indirekte Steuerung der Kommunikation beschränkt, greift er in der evaluierenden Mediation durch eigene Bewertungen, Analysen oder Einigungsvorschläge aktiv in das Verhandlungsgeschehen ein. Beide Ausprägungen des Mediationsverfahrens haben wir vor dem Hintergrund der klassischen Riskin-Matrix92 in ihren jeweils spezifischen Verfahrenseigenschaften, ihren Vor- und Nachteilen sowie ihren Auswirkungen auf das Verhandlungsverhalten der Parteien eingehend untersucht. Ausgehend von der Einsicht, dass sich die Interventionsdichte des Mediators im Gang der Verhandlung regelmäßig verändert, haben wir ein kombiniertes Rollenmodell als Grundlage unseres Verfahrenskonzeptes zur Integration des Rechts in das Mediationsverfahren vorgeschlagen, das den Mediator in die Lage versetzt, auf die Anforderungen des Verfahrens durch eine Anpassung seines Mediationsstils flexibel zu reagieren. Allerdings ist die Rolle, die der Mediator im Mediationsverfahren einnimmt, damit keineswegs indifferent. Trotz der Veränderlichkeit seines Rollenverständnisses, das in seinem zeitlichen Verlauf von der „Neuen Riskin-Matrix“93 erfasst wird, verfügt jeder Mediator über eine prägende Grundausrichtung, die sein vermittelndes Handeln als entweder moderierend oder eher evaluierend kennzeichnet. Wie der Mediator seine Rolle und damit auch seinen Mediationsstil im Einzelnen definiert, ist dabei vor allem von dem Kontext abhängig, in dem die Mediation erfolgt. Während die Parteien im Rahmen vertragsautonomer Mediation die Rolle des Mediators frei vereinbaren und dabei häufig von beiden idealtypischen Mediationsstilen gleichermaßen Gebrauch machen, zeigt der empirische Befund, dass die gerichtsverbundene Mediation sowohl in den USA als auch in Deutschland ganz überwiegend durch einen evaluierenden Mediationsstil geprägt ist. Damit ist die Frage aufgeworfen, in welchem Umfang der Kontext des Verfahrens die Rolle des Mediators im Einzelnen bestimmt und welche Rechte und Pflichten des Mediators zur Thematisierung des Rechts sich hieraus ergeben:
92
Eingehend hierzu oben S. 312 ff. sowie Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111 (1994); Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7 (1996) sowie Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 88 ff. Vgl. aber auch die neue Riskin Matrix Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1 (2003). 93 Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1 (2003).
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Ist die Bestimmung der Rolle, die dem Mediator im Rahmen des Mediationsverfahrens zukommt, uneingeschränkt der Privatautonomie der Parteien überlassen oder sind Verhandlungssituationen denkbar, in denen eine aktive Intervention des Mediators gerade zur Wahrung der tatsächlichen Autonomie der Parteien und zur Aufrechterhaltung der Verfahrensgrundsätze geboten ist? Welche verfahrensimmanenten und berufsrechtlichen Anforderungen beeinflussen die Rolle des Mediators? Trifft ihn unabhängig von dem vereinbarten oder von ihm favorisierten Mediationsstil eine Verantwortung, materiell-rechtliche Gesichtspunkte in das Mediationsverfahren einzuführen? Trägt er neben der Verfahrens- auch eine Ergebnisverantwortung und ist ein solches Rollenverständnis mit dem Wesen der Mediation als privatautonomem Verfahren überhaupt vereinbar? Ist für das Ergebnis der Mediation allein die subjektive Zufriedenheit der Parteien maßgeblich oder können bzw. müssen darüber hinaus auch objektive Kriterien, wie etwa die Übereinstimmung mit dem materiellen Recht, die Fairness des Ergebnisses sichern? Welche verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Handeln des Mediators ergeben sich aus der Einbettung der Mediation in das staatliche Gerichtsverfahren? Unterliegt auch der lediglich vermittelnde Güterichter der Bindung an Recht und Gesetz und welche Stellung im Gefüge des Verfassungsstaates kommt ihm überhaupt zu? Wie unterscheidet sich die mögliche Gesetzesbindung des vermittelnden Güterichters von der des erkennenden Prozessrichters und wie ist sie im Einzelnen ausgestaltet? Welche konkreten Aufklärungs-, Hinweis- und Interventionspflichten treffen den Mediator im Rahmen gerichtsverbundener Mediation und in welchem Umfang ist er zur Inhaltskontrolle des abgeschlossenen Mediationsvergleichs überhaupt befugt oder sogar verpflichtet? Eine Klärung dieser für das Verhältnis von Mediation und materiellem Recht zentralen Fragen muss von einer dogmatischen Bestimmung der Funktion des Mediators im Verfahren ausgehen, die ganz wesentlich von den Grundsätzen und Zielen94 und damit dem Wesen des Mediationsverfahrens95 bestimmt wird. Sie setzt zugleich eine eingehende Analyse der Interessen und Risiken der am Mediationsverfahren beteiligten Parteien sowie eine Untersuchung der konkreten verfahrensinternen- und verfahrensexternen Anforderungen an die Rolle des Mediators voraus. Wir wollen uns dem Problem dabei zunächst aus der Perspektive der vertragsautonomen Mediation als Grundfall nähern und in einem zweiten Schritt überprüfen, inwieweit die entwickelten Grundsätze auf das gerichtsverbundene Mediationsverfahren als besonderer Ausgestaltung des Mediationsverfahrens übertragbar sind.
94 95
Vgl. hierzu unten S. 447 ff. Vgl. hierzu Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971) sowie oben S. 124 ff.
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a) Die Funktion des Mediators als Hüter der Verfahrensintegrität Als Ausgangspunkt unserer Überlegungen wollen wir zunächst die Funktion des Mediators in den Blick nehmen, die ihm als nicht entscheidungsbefugtem Dritten im Mediationsverfahren zukommt. Sie ist in ihrem innersten Wesen dem verändernden Zugriff der Beteiligten und damit auch der Gestaltungsmacht des Mediators selbst entzogen und ihm aufgrund der wesensmäßigen Struktur und Bedingtheiten des Verfahrens unveränderlich eingestiftet. Der Gedanke, dass der Mediator sich die ihm im Verfahren zukommende Funktion in seinem Wesen nicht selbst anzueignen und nach eigenem Gutdünken zu gestalten vermag, sondern sie bereits durch die innere Struktur des Verfahrens selbst bestimmt ist, findet sich bereits bei Fuller, der ihn in seiner Verfahrenslehre mit der Formel internal morality96, dem Prinzip der strukturellen Integrität des Verfahrens, beschreibt. Die Funktion des Mediators muss daher der Struktur des Verfahrens folgen, dem sie dient, soll das Verfahren seine Integrität erhalten. Eine Kombination der Strukturprinzipien einzelner Verfahrensarten oder eine Vermischung der Rollen des neutralen Dritten ist aufgrund der Gefahr einer Verletzung der Verfahrensintegrität damit ebenso unzulässig wie eine Rollenbestimmung des Mediators, die mit Wesen und Struktur des Mediationsverfahrens nicht in Einklang zu bringen ist.97 Denn wo der Mediator die ihm zukommende und für das Verfahren konstitutive verfahrensleitende und damit dienende Funktion nicht mehr hinreichend erfüllt, da besteht die Gefahr, dass das Verfahren als Ganzes scheitert. Die Rolle des Mediators darf daher in ihrem Wesen nicht allein von den Vorstellungen der Beteiligten, sondern muss vielmehr von den Grundsätzen des Verfahrens her bestimmt werden. Diese bilden den Rahmen, in dem sich der Mediator bewegt, und dieser ist weit genug, um flexibel auf die Anforderungen des Konfliktes und die Bedürfnisse der Beteiligten zu reagieren. Die Rolle Mediators ergibt sich damit aus dogmatischer Perspektive aus den Zielen der Mediation und den Grundsätzen des Verfahrens, durch die diese Ziele verwirklicht werden sollen: Er ist Hüter des Verfahrens und seiner Grundsätze und Garant für die weitestmögliche Umsetzung der Verfahrensziele, freilich in dem Maße, in dem die Parteien dies in der ihnen zukommenden Autonomie mitzutragen bereit sind. Ziel der Mediation und damit Inhalt eines
96 Vgl. zum Begriff oben S. 115 Fn. 61 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 f. (1963). Vgl. auch Fuller, 71 Harv. L. Rev. 630, 644, 650 (1958).; Fuller, The Morality of Law (1964), S. 46 ff., 152 ff. Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 33 f., 37 ff.; Bone, 75 B.U. L. Rev. 1273, 1286, 1300 (1995). 97 Zu Fullers Prinzip der strukturellen Integrität und dem Verbot der Rollenvermischung (role confusion) oben S. 114 ff., 327 Fn. 66 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 404 ff. (1978). Ebenso Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999).
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guten Verhandlungsergebnisses ist die dauerhafte, nachhaltige, wertschöpfende, gerechte und effiziente Beilegung des Konfliktes durch privatautonome Vereinbarung, die in fairer Weise zu einem Ausgleich der tatsächlichen Interessen der Parteien sowie betroffener Dritter führt und zugleich die Beziehung der Parteien zueinander schont und wenn möglich wiederherstellt. Instrument zur Verwirklichung dieser Ziele ist das Mediationsverfahren selbst, das durch sieben grundlegende Verfahrensprinzipien bestimmt wird: Privatautonomie, Kooperation, Orientierung an Parteiinteressen, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität des Verfahrens, Vermittlung durch neutralen Dritten. In ihrem Wesen ist die Mediation damit ein privatautonomes Verfahren, das eine informierte Entscheidung der Parteien voraussetzt und das nach Fuller die Parteien durch eine Transformation ihrer Beziehung wieder aufeinander hin ausrichtet: „ … The central quality … (is), namely, its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.“ Diese durch Aussöhnung vermittelte Ausrichtung der Parteien aufeinander hin ermöglicht kooperatives Handeln und bildet somit die Grundlage für die Realisierung wertschöpfender Kooperationsgewinne und eine Integration der gegenseitigen Interessen beider Parteien in einer ausgewogenen und objektiv gerechten Einigung. Dem Mediator kommt daher die Aufgabe zu, die Parteien in ihren privatautonomen Bemühungen um die versöhnende Ausrichtung aufeinander hin, die Transformation ihrer Beziehung und damit die Realisierung eines guten Verhandlungsergebnisses98 zu unterstützen und durch die Sicherung der Verfahrensgrundsätze die Integrität des Verfahrens zu wahren. Herren des Verfahrens und Urheber der Einigung sind aufgrund des privatautonomen Charakters der Mediation indes stets die Parteien. Sie können sich im Rahmen ihrer Privatautonomie grundsätzlich auf jede rechtlich zulässige Vereinbarung einigen sowie auf eigene Rechte und sogar auf ihnen zustehenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen verzichten. Auch wenn ein gutes Verhandlungsergebnis eine faire und interessengerechte Einigung voraussetzt, ist keine neutrale Instanz vorgesehen, die den von den Parteien abgeschossenen Mediationsvergleich auf seinen objektiven Gerechtigkeitsgehalt hin überprüft. Einziger formeller Maßstab und Legitimierungsgrund ist die Zustimmung der Parteien. Daher wird die subjektive Zufriedenheit der Parteien mit dem Mediationsergebnis regelmäßig als Vorteil des Mediationsverfahrens und darüber hinaus häufig als Maßstab angesehen, an dem die Vereinbarung der Parteien zu messen ist. Wäre dies der Fall, so würde sich die Rolle des Mediators auf die bloße Verfahrensleitung ohne jegliche Ergebnisverantwortung beschränken. 98 Zu den Kriterien eines „guten Ergebnisses“ vgl. oben S. 160 ff., unten S. 289 f. Vgl. hierzu auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279
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b) Das Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie und objektiver Gerechtigkeit Dass es jedoch eines objektiven Maßstabes zur Beurteilung des Verhandlungsergebnisses bedarf, ist offensichtlich. Zum einen ist die Mediation als gerechtes Verfahren der Billigkeit (New Equity) entsprechend ihrer Ziele auf ein objektiv faires und auch nur insoweit gutes Verhandlungsergebnis ausgerichtet. Denn nur ein Ergebnis, das von beiden Parteien auch nach Abschluss des Mediationsvergleiches als fair und ausgewogen angesehen wird, vermag den Konflikt realistischerweise dauerhaft, nachhaltig sowie ursächlich beizulegen und hat damit Aussicht, umgesetzt zu werden. Zum anderen werden sich die Parteien regelmäßig nicht freiwillig auf ein Ergebnis einigen, das objektiv grob unbillig ist und die eine gegenüber der anderen Partei erheblich benachteiligt.99 Ebenso, wie aufgrund der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus und der daraus folgenden Vermutung der Billigkeit zugunsten der Privatautonomie der Parteien im Zweifel davon ausgegangen werden kann, dass der von den Parteien im Rahmen freier Vertragsverhandlung autonom vereinbarte Vertrag in seinem Inhalt der Billigkeit entspricht und damit ausgewogen und gerecht ist, so indiziert ein objektiv unfaires Ergebnis ein Defizit in der tatsächlich bestehenden Autonomie der Parteien (Vermutung mangelnder Vertragsautonomie). Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Parteien ohne Not bewusst selbst schädigen wollen. Steht die informierte Selbstbestimmung100 der Parteien in Zweifel, ist nicht nur eine Verletzung der Grundprinzipien des Verfahrens wahrscheinlich, sondern auch die zentrale Legitimationsquelle des Mediationsvergleichs erschüttert. Würde man an die Selbstbestimmung der Parteien zu niedrige Anforderungen stellen, so würde die Privatautonomie zur bloßen Fiktion. Ein solches Ergebnis wäre aufgrund der weitreichenden Wirkungen des Mediationsvergleichs, gegen den – anders als im Fall eines gerichtlichen Urteils – regelmäßig keine materiellen Einwendungen möglich sind, mit den Grundsätzen von Recht und Billigkeit unvereinbar. Ein objektiver Gerechtigkeitsmaßstab ist damit zur Wahrung der tatsächlichen Selbstbestimmung der Parteien geradezu geboten. Denn einigen sich die Parteien auf ein objektiv unbilliges und unausgewogenes Ergebnis, so wird auch die subjektive Zustimmung der Parteien nur solange 99 Der objektive Gerechtigkeitsgehalt der Einigung ist dabei nicht lediglich aus rechtlicher Perspektive, sondern vielmehr im Rahmen einer umfassenden Gesamtschau zu beurteilen. Denn wird die vom Gesetz vorgesehene Lösung dem Konflikt in seiner Komplexität nicht gerecht oder sind auch nicht-rechtliche Interessen betroffen, so kann eine einzelfallgerechte Beilegung des Konfliktes durchaus verlangen, von der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge abzuweichen oder eine Rechtsposition im Tausch gegen ein außerrechtliches Entgegenkommen der anderen Partei aufzugeben (trade off). 100 Zur Bedeutung umfassender Information als Voraussetzung tatsächlicher Selbstbestimmung vgl. unten S. 461 f.
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andauern, bis die benachteiligte Partei von der objektiven Rechtslage Kenntnis erlangt und den von ihr nun als unbillig erkannten Vergleich nicht oder nur zögernd umsetzt oder sich darum bemüht, ihn mit rechtlichen Mitteln anzugreifen. Ein solches Ergebnis ist nicht nur objektiv ungerecht, sondern gerade aus diesem Grund auch schlecht umsetzbar und regelmäßig nicht von Dauer. Statt einer endgültigen und dauerhaften Beilegung des Konfliktes droht dieser weiter zu eskalieren und abgeleitete Tochterkonflikte hervorzubringen. Das zentrale Ziel des Mediationsverfahrens, eine gütliche Aussöhnung der Parteien durch eine Neuausrichtung aufeinander hin und damit eine Transformation ihrer Beziehung zueinander zu erreichen101, auf deren Grundlage ein wertschöpfender Interessenausgleich erzielt wird, wird verfehlt und in sein Gegenteil verkehrt. Dass ein solches Ergebnis zudem in der Regel unter Verletzung wesentlicher Verfahrensprinzipien – vor allem des Grundsatzes informierter, tatsächlicher Selbstbestimmung – zustande gekommen ist, zeigt, dass die Mediation mit einer Reihe systemimmanenter Risiken verbunden ist, die der Mediator im Rahmen seiner Aufgaben zu adressieren hat. aa) Systemimmanente Risiken des Mediationsverfahrens Der erfolgreiche Abschluss des Mediationsverfahrens im Sinne eines guten Verhandlungsergebnisses steht und fällt daher mit dem Maß der Privatautonomie, die den Parteien im Verfahren tatsächlich zukommt. Während im Zivilprozess das ausbalancierte Zusammenspiel von materiellem Recht und Verfahrensrecht ein hohes Maß an Verfahrens- und Ergebnisgerechtigkeit gewährleistet – wenngleich lediglich im Rahmen des Rechts und seiner systemimmanenten Beschränkungen –, fehlt im Mediationsverfahren der schützende Mantel des Verfahrensrechts.102 Hier kommt allein dem Mediator die zentrale Aufgabe zu, die Fairness des Verfahrens, die Privatautonomie der Parteien und damit jedenfalls mittelbar auch ein objektiv wie subjektiv gerechtes und deshalb gutes Ergebnis zu gewährleisten. Versagt der Mediator in seiner Schutzfunktion oder hat er sich aufgrund einer womöglich zu engen Rollendefinition in seiner verfahrens- und ergebnissichernden Funktion selbst beschränkt, ergeben sich erhebliche Risiken für die Parteien, betroffene Dritte sowie für die Rechtsordnung als Ganzes: 1. Gefahren für die Parteien. Der von den Parteien abgeschlossene Vergleich kann zunächst dazu führen, dass eine Partei in ihren Interessen und Rechten erheblich benachteiligt und damit materiell oder immateriell geschädigt wird.103 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Partei aufgrund eines Machtungleichgewichts, einer Informationsasymmetrie oder anderer 101 Eingehend hierzu oben S. 124 ff. sowie unten S. 475 f., 252 ff., 572 f. Grundlegend Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 102 Vgl. Breidenbach, Mediation (1995), S. 175. 103 Vgl. hierfür den emprischen Befund der Fallstudien oben S. 344 ff.
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Gründe unter Ausnutzung ihrer geschäftlichen Unerfahrenheit, durch Täuschung, Fehlinformation, Einigungsdruck oder sonstige manipulative Einwirkung auf die informierte und freie Willensentschließung benachteiligt, übervorteilt und damit gleichsam „über den Tisch gezogen“ wird. Ursache eines objektiv unbilligen Vergleichs zulasten der benachteiligten Partei ist regelmäßig ein Defizit in der tatsächlichen Privatautonomie des betroffenen Verhandlungspartners. Trotz formal bestehender Abschlussfreiheit ist die schwächere Partei ihrem Verhandlungspartner im freien Spiel der Kräfte unterlegen und in tatsächlicher Hinsicht nicht in der Lage, eine informierte, von Täuschung, Manipulation oder Druck freie und damit selbstbestimmte Einigungsentscheidung zu treffen. 2. Gefahren für Dritte. Der Mediationsvergleich kann darüber hinaus auch die Interessen und Rechte betroffener, jedoch nicht an der Mediation beteiligter Dritter beeinträchtigen. Dies ist regelmäßig etwa im Rahmen von Sorgerechtsstreitigkeiten zwischen temporär oder dauerhaft getrennt lebenden Ehepartnern, bei Bau- und Umweltmediationen sowie bei Mediationen zwischen Unternehmen mit regionaler oder nationaler Bedeutung der Fall, in denen häufig auch öffentliche Interessen betroffen sind.104 3. Gefahren für die Rechtsordnung. Schließlich kann die von den Parteien getroffene Einigung, wenn sie den Werten und Normen der Rechtsordnung widerspricht, zu Beeinträchtigungen der normativen Integrität des rechtlichen oder gesellschaftlichen Systems führen.105 Indem die Parteien die allgemein geltenden, aus einem demokratisch legitimierten Gesetzgebungsverfahren hervorgegangenen Normen des positiven Rechts derogieren, schaffen sie durch ihre Einigung „autonomes Recht“ und damit ein konkurrierendes System außerrechtlicher Verhaltensstandards, das im Fall fehlender Kongruenz mit dem Gesetzesrecht die wirklichkeitsformende Kraft des Gesetzes mindern und unterlaufen kann. Durch den damit einhergehenden Verlust der Steuerungsfunktion des Rechts als einer der letzten Instanzen absoluter Verbindlichkeiten wird die Leitbildfunktion des Privatrechts, die sich wesentlich im Urteil verwirklicht, geschwächt und die Krise der Rechtsnorm, die Erosion des Rechts und damit der Norm- und Werterelativismus als Ausdruck einer postmodernen Weltsicht weiter verstärkt. Vor allem in den USA sind die mit der Privatisierung der Justiz verbundenen Gefahren eines Widerspruches zu den öffentlichen Interessen und den der Verfassungsordnung
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Vgl. hierzu Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 122 ff. Zu dieser Probematik eingehend oben S. 156 ff. Grundsätzlich zur Kris der Rechtsnorm oben S. 50 ff. 105
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zugrunde liegenden Werten (public values), des unzureichenden Rechtsschutzes ärmerer und benachteiligter Bevölkerungsgruppen und der Erosion verfassungsrechtlich verbürgter Rechte Gegenstand einer lebhaften Diskussion.106 bb) Privatautonomie, Neutralitätspflicht und Verfahrensgerechtigkeit Das Mediationsverfahren ist damit vor allem für die Parteien mit einer Reihe erheblicher Risiken verbunden. Für das zu untersuchende Rollenverständnis des Mediators ist nun vor allem entscheidend, wem diese Risiken im Einzelnen zuzurechnen sind, wer für sie Verantwortung übernimmt, mit anderen Worten: Wen die konkrete Verpflichtung trifft, dafür Sorge zu tragen, dass sich diese Risiken nicht in einer tatsächlichen Schädigung der Parteien oder Dritter realisieren. In der Literatur wie auch in der Mediationspraxis ist diese für das Rollenverständnis des Mediators zentrale Frage weitgehend ungeklärt.107 Aufgrund der Gesamtverantwortung des Mediators als Hüter der Integrität des Verfahrens sprechen gute Gründe dafür, diese Verantwortung entsprechend dem Mediator zuzuweisen. Eine Klärung des Zuweisungsproblems wird jedoch dadurch erschwert, dass sich zunächst schablonenartig drei verbreitete Überlegungen gegen eine Verantwortung des Mediators aufdrängen, die bei näherer Betrachtung für die Beantwortung der Frage indes keinen unmittelbaren Beitrag zu leisten vermögen: 1) Die Privatautonomie der Parteien, 2) die Neutralität des Mediators und 3) die Annahme des prozeduralen Gerechtigkeitspostulats, dass Verfahrensgerechtigkeit auch Ergebnisgerechtigkeit hervorbringt. 1. Privatautonomie. Im Hinblick auf die Privatautonomie der Parteien ist vor allem in der Mediationspraxis die Annahme verbreitet, dass den Mediator keinerlei Verantwortung für den Inhalt der ausgehandelten Vereinbarung treffe, weil diese der Privatautonomie der Parteien unterliege und sie allein deshalb, weil die Parteien sie wollen, richtig sei. Den Mediator gehe die Vereinbarung nichts an, und erscheine sie auch als noch so unbillig, denn den Parteien stehe es ja frei, die Vereinbarung abzuschließen oder nicht. Eine derartige Überlegung ist indes aus mehreren Gründen nicht haltbar: Zum einen geht sie offensichtlich von der Vorstellung einer Gleichsetzung formeller Wirksamkeit und materieller Gerechtigkeit von Verträgen aus, die sich – wie wir bereits gesehen haben – als mit den Grundpostulaten der Privatrechtsordnung unvereinbar erwiesen hat. Ein von materiellen Inhalten losgelöster, 106 Deutlich etwa Nolan-Haley, 74 Wash. U. L.Q. 47, 77 (1996) „Mediation, as a constitutive part of the ADR movement, is susceptible to some of the recurring objections to ADR: it fails to protect public values, represents inferior justice for poor people, and forgoes several constitutional rights.“ Eingehend zur Problematik oben S. 152 ff. 107 Vgl. etwa zur Problematrik eingeschränkter Selbstbestimmung strukturell schwächerer Parteien im Kontext gerichtsverbundener Mediationsprogramme Weckstein, 33 Willamette L. Rev. 501 (1997); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); McAdoo/Welsh, 5 Nev. L.J. 399 (2005).
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streng formeller Gerechtigkeitsbegriff ist ein Widerspruch in sich und damit nicht denkbar: Denn selbstverständlich ist nicht jede Vereinbarung allein dadurch, dass sie abgeschlossen wird, gerecht, auch wenn sie zunächst – vorbehaltlich der Regelungen der §§ 119, 123, 134, 138, 242 BGB – wirksam ist. Die Parteien unterliegen, will die objektive Rechtsordnung ihre Integrität bewahren, einer normativen Bindung. Darüber hinaus ist ein materiell unausgewogenes, erst recht ein grob unbilliges Verhandlungsergebnis stets ein Indikator für eine Informations- oder Machtasymmetrie und damit für ein möglicherweise bestehendes Defizit in der tatsächlichen (Mit-)Gestaltungsmacht einer Partei. Die unterlegene Partei ist an der tatsächlichen Ausübung ihrer Privatautonomie gehindert, die schablonenmäßige Annahme voller Privatautonomie eine Fiktion. Dass entsprechende Vorstellungen in der Praxis dennoch verbreitet sind, gehört zu den Herausforderungen, denen die Mediationsausbildung gegenübersteht. 2. Neutralitätspflicht. Die Annahme, dass der Inhalt des auszuhandelnden Mediationsvergleiches ausschließlich Sache der Parteien sei, hat zwangsläufig zur Folge, dass jede Inanspruchnahme von Ergebnisverantwortlichkeit als Verletzung der Neutralitätspflicht des Mediators angesehen und daher vermieden wird. Entsprechend ziehen sich Mediatoren häufig auf eine passive Position zurück und halten sich aus der Ausgestaltung des Mediationsvergleiches heraus. Mit der gleichen Begründung sehen Mediatoren häufig von einem Ausgleich von Paritätsstörungen ab, weil sie darin die Gefahr erblicken, die eine Partei gegenüber der anderen zu bevorzugen, ihre neutrale Position zu verlassen und sich so auf eine Seite zu stellen (taking sides). Auch wenn die Notwendigkeit eines ausgleichenden Eingreifens erkannt wird, wird aus Unsicherheit oder Angst vor einer vermeintlichen Verletzung der Neutralitätspflicht häufig auf eine Intervention verzichtet. Eine derartige Zurückhaltung des Mediators ist allerdings durch seine Neutralitätspflicht nicht geboten, sondern im Gegenteil mit ihr im Kern unvereinbar. Denn dem Mediator kommt als Hüter der Integrität des Verfahrens die zentrale Aufgabe zu sicherzustellen, dass die Parteien auch in tatsächlicher Hinsicht eine informierte und damit autonome Verhandlungsentscheidung treffen. Besteht ein Machtungleichgewicht oder eine Informationsasymmetrie, so würde der Mediator seine Pflicht zu strikter Neutralität gerade dadurch verletzen, dass er es sehenden Auges zulässt, dass die geschäftlich unerfahrene, schwächere, schlechter informierte Partei ausgenutzt und gleichsam „über den Tisch gezogen“ wird. Indem er die überlegene Partei gewähren lässt und ihr durch seine Passivität sekundiert, wechselt er gerade die Seiten und verletzt in eklatanter Weise die ihm zukommende Pflicht zur allparteilichen Neutralität. Denn ihm kommt die Verantwortung dafür zu, dass die Parteien in einem Prozess gleichberechtigter Kommunikation gemeinsam eine Lösung ihres Konfliktes erarbeiten. Und weil die Mediation insgesamt nicht auf ein beliebiges, sondern auf ein gutes, d.h. ein faires, interessengerechtes, beziehungsförderndes, dauerhaftes, nachhaltiges, praktisch umsetzbares und
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wertschöpfendes Verhandlungsergebnis gerichtet ist108, bei dessen Scheitern das Verfahren seinen Zweck verfehlt, kommt ihm kraft seiner Rolle als Hüter der Verfahrensintegrität – freilich innerhalb der zu beachtenden Grenzen der Privatautonomie109 – eine Verantwortung auch für das Verfahrensergebnis zu. 3. Prozedurales Gerechtigkeitspostulat. Die beiden Grundannahmen – dass eine aktive Rolle des Mediators mit der Privatautonomie der Parteien sowie mit der Neutralitätspflicht des Mediators nicht vereinbar sei – gehen schließlich häufig mit einem prozeduralen Gerechtigkeitsverständnis einher, demzufolge Verfahrensgerechtigkeit stets Ergebnisgerechtigkeit hervorbringt. Danach ist der Mediator vor allem auch deshalb auf eine passive Rolle beschränkt, weil das Verfahren selbst ja bereits zu ausgewogenen Verhandlungsergebnissen führe. Allerdings haben wir im Kontext unserer Diskussion prozeduraler Gerechtigkeitsmodelle gesehen, dass es nicht möglich ist, aus reiner Form Inhalt, allein aus einem Verfahren materielle Wertungen zu generieren und daher ein rein prozedurales Verständnis von Gerechtigkeit notwendig scheitern muss. Stattdessen wird das Verhandlungsergebnis nicht etwa durch das Verfahren vorurteilsfrei und im inhaltlich neutralen Raum allein aus sich selbst heraus generiert, sondern durch die Wertvorstellungen der Verfahrensbeteiligten und die objektive Rechtsordnung selbst präjudiziert. Damit ein gutes Verhandlungsergebnis erzielt werden kann, sind indes eine gleichberechtigte Partizipation der Parteien und eine Kongruenz jedenfalls mit den der Verfassungsordnung immanenten Wertvorstellungen erforderlich. Hierfür ist Verfahrensgerechtigkeit eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung. Damit bleibt als Ergebnis festzuhalten, dass eine aktive Rolle des Mediators im Sinne einer Ergebnisverantwortung und eines aktiven Ausgleichs von Verhandlungsimparitäten mit den Grundsätzen der Privatautonomie110 der Parteien, der Neutralitätspflicht111 des Mediators und der Verfahrensgerechtigkeit nicht nur vereinbar, sondern durch diese Grundsätze im Gegenteil sogar geboten ist. Zentrale Aufgabe des Mediators ist die Wahrung der Integrität des Verfahrens. Er hat darüber hinaus dafür Sorge zu tragen, dass das Verfahren seinen Zweck nicht verfehlt, sondern zu einem guten Verhandlungsergebnis führt. Der Schutz der Privatautonomie der Parteien, die Neutralitätspflicht des Mediators und die Wahrung der Vertragsgerechtigkeit können es gerade erfordern, dass der Mediator im Rahmen der Verhandlung bei gleichzeitiger Thematisierung
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Vgl. zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses oben S. 160 ff. Zu Inhalt, Umfang und Grenzen der Ergebnisverantwortung des Mediators im Einzelnen unten S. 360 ff. (vertragsautonome Mediation), S. 408 ff. (gerichtsverbundene Mediation). 110 Vgl. hierzu unten S. 459 ff. 111 Vgl. hierzu unten S. 479 f. 109
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 427
des Rechts auch aktiv interveniert.112 Deshalb kommt ihm eine maßgebliche Mitverantwortung im Hinblick auf die Vermeidung und Reduzierung der mit dem Mediationsverfahren verbundenen Risiken zu. cc) Eigenverantwortliche Selbstschädigung durch Vertrag? Bevor wir uns der Frage zuwenden, wie diese Verantwortung im Einzelnen konkret auszugestalten ist, wollen wir die Qualität der von dem Mediator zu adressierenden Risiken, vor allem die Gefahren für die Privatautonomie der Parteien, im Kontext zivilrechtlicher Dogmatik näher in den Blick nehmen. Unser Ziel ist dabei 1) die Ursachen und Wirkmechanismen aufzuspüren, die zu einer Selbstschädigung der Parteien durch Vertrag führen und 2) zu untersuchen, wie die Privatrechtsordnung auf derartiges Parteiverhalten reagiert. Die mit dem Mediationsverfahren idealtypisch verbundenen Risiken zeigen, dass das Postulat der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus nicht uneingeschränkt gilt. Wie wir im Rahmen der Diskussion des Spannungsverhältnisses zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch der deutschen Privatrechtsordnung gesehen haben, handelt es sich bei der Annahme der materiellen Gerechtigkeit, bei dem Postulat der inhaltlichen Ausgewogenheit privatautonom geschlossener Vereinbarungen, um eine widerlegbare Vermutung zugunsten der Rechtssicherheit des Geschäftsverkehrs, die zunächst zur formellen Wirksamkeit einer Vereinbarung führt. Diese Vermutung ergibt sich aus der berechtigten Erwartung, dass sich die Parteien durch die getroffene Vereinbarung nicht gegenseitig schädigen, sondern sich durch ihre vertraglichen Beziehungen wie auch ihre sonstigen sozialen Beziehungen zueinander gegenseitig bei der Entfaltung ihrer Person und ihrer individuellen und sozialen Anlagen unterstützen. Denn wie wir gesehen haben, muss auch in der Wirtschaftsordnung als einer der „großen Ordnungen des Lebens“113 der „Sinn, den die Individuen mit ihren subjektiven Willensentscheidungen und Handlungen verfolgen, … an den objektiven Sinn der Lebensordnung, in der sie handeln, anschließen, und der Sinn und Zweck der jeweiligen Ordnung des Lebens muß wiederum seinen Ort in der teleologischen Struktur des menschlichen Lebens und der menschlichen Seele besitzen.“114 Aus dieser Zielrichtung vertraglicher Beziehungen innerhalb der Privatrechtsordnung ergibt sich eine „sittliche Bindung“115 der Parteien, die ihr Handeln aufeinander hin ordnet und
112 Zu den Möglichkeiten aktiverer Ergebnisverantwortung des Mediators vgl. oben S. 309 ff., insbesondere S. 317 ff. sowie grundlegend Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 30 ff. (1996). Vgl. auch Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111, 112 f. (1994). 113 Koslowski, Die Ordnung der Wirtschaft (1994), S. 1. 114 Koslowski, Die Ordnung der Wirtschaft (1994), S. 1. 115 Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6.
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den Inhalt der Vertragsfreiheit normativ bestimmt. Denn wie jede Freiheitsgewährung ist auch die Vertragsfreiheit eine Freiheit, die verpflichtet, „eine Freiheit mithin, die als ethische die Sittlichkeit … sich selbst zum Gesetz macht“116. Der normative Inhalt dieser sittlichen Bindung ergibt sich aus der objektiven Rechtsordnung, der Moral als sozialem Normensystem sowie in seiner unmittelbarsten Form den überpositiven, der Verfassung immanenten Werten der Gerechtigkeit, die dem Einzelnen selbst eingepflanzt und vermittelt durch das lumen rationale verstandesmäßig erkennbar sind. Die Rechtsordnung vertraut daher schon aus Gründen der Rechtssicherheit darauf, dass unter den Bedingungen tatsächlicher Vertragsparität grundsätzlich ausgewogene und gerechte Vereinbarungen getroffen werden. Dass die Parteien die Grenzen, die sich aus ihrer normativen Bindung ergeben, überschreiten, gehört seit jeher zur Realität des Wirtschaftslebens als Teil sozialer Interaktion. Wird die Vermutung der Richtigkeitsgewähr der getroffenen Vereinbarung widerlegt, so ist die Rechtsordnung zur Aufrechterhaltung ihrer Integrität zur Korrektur materiell rechtswidriger Ergebnisse angehalten. Zuzurechnen ist dieser Eingriff den Parteien selbst, da sie für ihre Vereinbarung zwar die Autorität des Rechts einschließlich des staatlichen Durchsetzungsapparates der Justiz in Anspruch nehmen wollen, jedoch ihrer rechtlichen Pflicht zur Verwirklichung des ius cogens und ihrer sittlichen Pflicht zur Verwirklichung der Gebote der Billigkeit auch im privaten Rechtsverkehr nicht nachgekommen sind. Aus Gründen der Rechtssicherheit übt sie diese korrigierende Inhaltskontrolle indes zurückhaltend innerhalb der von den §§ 119, 123, 134, 138, 242 BGB gezogenen Grenzen aus. Wenn sich die Rechtsordnung angesichts inhaltlich nicht aufrechtzuerhaltender Vereinbarungen zu einer aktiven Intervention gedrängt sieht, kann dies für das Mediationsverfahren, das kein mit der Rechtsordnung konkurrierendes Normensystem etablieren, sondern allein einen alternativen Weg zur Streitbeilegung im Schatten dieser Rechtsordnung aufzeigen will, nicht ohne Folgen bleiben. Erforderlich ist vor allem eine nähere Auseinandersetzung mit den Risiken für die tatsächliche Autonomie der Parteien in jenen Fällen, in denen eine strukturelle Störung der Vertragsparität besteht. Vor dem Hintergrund des rationalen Handlungsparadigmas ist eine bewusste Selbstschädigung eigentlich ausgeschlossen, da sie in keiner Weise den Interessen des Einzelnen entspricht. Dass die Parteien freiwillig unvorteilhafte Vereinbarungen eingehen, dass sie sehenden Auges ohne erkennbare Gegenleistung auf ihnen zustehende Rechtsansprüche verzichten und sich bewusst selbst schädigen erscheint daher zunächst irrational und ist mit dem Verständnis eines rational handelnden Individuums nicht vereinbar. Es entspricht nicht der in der Praxis verbreiteten Vorstellung von den Parteien als zwei rational handelnden, in gleicher Weise geschäftstüchtigen Verhandlungspartnern. Dass 116
Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 6.
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derartige Vereinbarungen zur Alltagspraxis vertraglicher Verhandlungen gehören, ist indes seit jeher Teil der rechtstatsächlichen Wirklichkeit. Die verhandlungstheoretische Forschung hat eine ganze Reihe von Wahrnehmungsverzerrungen aufgedeckt, die im Viereck der Schlüsselfaktoren die Entscheidung der Parteien erheblich beeinflussen. Neben kognitionspsychologischen Ursachen hat die empirische Forschung vor allem in den USA jedoch nachgewiesen, dass die Realisierung objektiv fairer, beiderseits interessengerechter Ergebnisse in erheblichem Maße auch von der sozialen Prägung, der Herkunft und der Geschäftserfahrung der Parteien abhängig ist. So konnte beispielsweise für die Mediation von Mietstreitigkeiten an USamerikanischen Gerichten eine deutliche Benachteiligung der strukturell schwächeren Mieter nachgewiesen werden. Ähnliche Ergebnisse sind für Vergleiche in Mietsachen sowie für arbeitsgerichtliche Vergleiche in Deutschland empirisch nachgewiesen worden.117 Die Befunde haben zu einer deutlichen Kritik an der ADR-Bewegung und dem Mediationsverfahren allgemein mit der Begründung geführt, dass informale Verfahren der Streitbeilegung zu einer systematischen Benachteiligung ärmerer und strukturell schwächerer Parteien führten, die von den Gerichten abgehalten und in Verfahren gedrängt werden, in denen der für eine gleichberechtigte Vertretung ihrer Interessen notwendige schützende Mantel prozessualer Garantien fehlt. Plastisch beschreibt dies Lazerson in seiner Untersuchung des New York Housing Court: „A legal system that encourages conciliation between landlords and tenants – two parties of vastly unequal resources – by curtailing the procedural rights of the weaker can only succeed in amplifying that inequality. Procedural formality recognizes inequality and attempts to compensate for it by making both parties conform to the same standards. Once formality is withdrawn the courts are transformed into collection agencies operating with the seal of the state of New York.”118 dd) Grenzen privatautonomen Handelns: Drei Fallstudien Angesprochen ist damit das Problem der Grenzen tatsächlichen privatautonomen Handelns insbesondere im Kontext ungleicher Verhandlungsstärke, die bei der Rollendefinition des Mediators zu beachten sind. Obwohl die Frage des 117 So führen Vergleiche nur in 5 % aller Fälle zur Fortsetzung des Mietverhältnisses, im Übrigen allenfalls zu einer Verlängerung der Räumungsfristen. Rottleuthner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 145, 150 mit Verweis auf Hilden, Rechtstatsachen im Räumungsrechtsstreit (1976), S. 165 ff. In arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten sind die entscheidenden Berufsrichter in 40 % der abgeschlossenen Vergleiche in Kündigungssachen der Auffassung, dass der Arbeitnehmer voraussichtlich zu Unrecht gekündigt worden ist. Falke/Höland/Rhode/Zimmermann, Kündigungspraxis und Kündigungsschutz (1981), S. 777, 810. 118 Lazerson, in: Abel (Hrsg.), The Politics of Informal Justice (1982), S. 119, 159. Hervorhebungen durch den Verfasser.
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Umgangs mit strukturellen Machtasymmetrien in der Mediation seit Langem den Gegenstand verhandlungstheoretischer Forschung bildet119, herrscht vor allem in der Praxis häufig Unklarheit über Ausmaß und Qualität der sich aus einer vertraglichen Imparität ergebenden Risiken für die betroffenen Parteien. In der Tendenz ergibt sich der Eindruck, dass Mediatoren – vielleicht mit Ausnahme der Güterichter in gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen in Deutschland – aus Unklarheit über ihre konkrete Rolle im Verfahren, aus Unsicherheit im Hinblick auf Umfang und Grenzen ihrer Interventionspflichten und aus Unkenntnis der tatsächlichen Grenzen privatautonomen Handelns im Fall struktureller Machtasymmetrien in der Praxis regelmäßig auf eine Intervention zugunsten der unterlegenen Partei verzichten. Die drei maßgebenden Ursachen haben wir bereits herausgearbeitet: Sie liegen im Wesentlichen in der Unklarheit über die Rolle der tatsächlichen Privatautonomie der Parteien, der Neutralitätspflicht des Mediators und des Zusammenhanges von Verfahrensund Ergebnisgerechtigkeit begründet. Die Folge ist eine Verletzung der Integrität des Mediationsverfahrens, die sich in Risiken für eine informierte, von Täuschung, Manipulation oder Druck freie und damit selbstbestimmte Einigungsentscheidung der Parteien realisiert und die vom Mediator innerhalb der Grenzen der ihm zugewiesenen Rolle als Hüter des Verfahrens zu verantworten ist. Um Verletzungen der Verfahrensintegrität zulasten der Parteien zu vermeiden, bedarf die für die Dogmatik wie die Praxis der Mediation zentrale Frage der Verfahrensrisiken für die Parteien und der daraus folgenden Rolle des Mediators einer sorgfältigen Klärung. Nachdem wir in den vorangegangenen Abschnitten das Spannungsverhältnis zwischen (formaler) Privatautonomie und objektiver Gerechtigkeit aus dogmatischer Perspektive in den Blick genommen haben, wollen wir unsere Betrachtung durch drei Fallstudien auf der Grundlage empirischer Mediationspraxis abschließen. (1) Woodruff Corp. v. Lacrete Im Fall Woodruff Corp. v. Lacrete geht es um eine Räumungsklage zur Durchsetzung eines Mediationsvergleichs zwischen Mieter und Vermieter, die vor dem Civil Court des Staates New York verhandelt worden ist.120 Gegenstand der Klage sind zwei Vereinbarungen, die Lucien Lacrete im Rahmen Verfahrens vor dem New York City Housing Court unterschrieben hat, um eine an diesem Gericht anhängige Räumungsklage einvernehmlich zu beenden. In den von ihr unterzeichneten Vergleichen verpflichtete sie sich zur Zahlung einer Achtmonatsmiete zu einem Mietzins, der die gesetzlich maximal zulässige 119
Vgl. nur zur US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 120 154 Misc.2d 301, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992).
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Miete für ihre mietgebundene Wohnung um mehr als das Doppelte überstieg. Da sie aufgrund des Ausbleibens staatlicher Unterstützung zu einer Zahlung der überhöhten Achtmonatsmiete nicht in der Lage gewesen war, betrieb der Vermieter die Räumung ihrer Wohnung wegen Zahlungsverzuges. Nachdem gegen sie ein Säumnisurteil erlassen worden war, wurde sie im Wege der Zwangsvollstreckung aufgefordert, ihre Wohnung innerhalb von 72 Stunden zu räumen. Gegen diesen Räumungstitel konnte sie eine gerichtliche Anordnung zur Aussetzung der Räumung erlangen. In der darauffolgenden gerichtlichen Verhandlung macht sie geltend, dass sie den Vergleich in Unkenntnis ihrer gesetzlichen Rechte abgeschlossen hat und in der Vergleichsverhandlung nicht anwaltlich vertreten war. Der Vermieter, die Woodruff Corp., bestreitet eine gesetzeswidrige Überhöhung der Miete nicht, besteht indes weiterhin auf einer Leistung, da sich Lucien Lacrete schließlich schriftlich zur Zahlung dieses Betrages verpflichtet hat und die Möglichkeit bestand, anwaltlichen Beistand einzuholen, worauf sie jedoch verzichtete.121 Der Civil Court des Staates New York erklärte den Vergleich für nichtig, da die Vereinbarung unbillig sei und eine Seite unangemessen benachteilige.122 Dies werde insbesondere dadurch deutlich, dass eine einseitige Verpflichtung zur Zahlung einer Miete eingegangen wurde, die den gesetzlich zulässigen Rahmen weit übersteigt und die ohne vorherigen Rechtsrat von einer anwaltlich nicht vertretenen Partei eingegangen wurde, die keinerlei Kenntnis über rechtsvernichtende Einwendungen verfügte, die zu einem Wegfall des Anspruchs des Mieters führen würden. Die Feststellungen des Gerichtes ergaben, dass dem „Vergleich“ weder eine nennenswerte Verhandlung noch eine Information Lucien Lacrete’s über ihre Rechte vorangegangen war: „The settlement was made between the parties in the hallways of the courthouse and was brought into the court for ‚so ordering‘. At the time, only petitioner had counsel. The court's ‘allocution’ (or review of the stipulation) lasted approximately six minutes and was devoted chiefly to questioning respondent about how she would make the payments due under the stipulation and to ascertaining whether respondent understood the stipulation as written and the consequences of default. The allocution was not designed to elicit whether respondent had an overcharge defense to petitioner's rent claims. Nor could it have done so, as an overcharge defense is based on complex legal and factual issues, and respondent had no knowledge of the facts supporting her defense until she subsequently obtained counsel.”123 Das Gericht nahm den Fall zum Anlass, die Praxis der einvernehmlichen Streitbeilegung zwischen strukturell ungleichen Parteien am New York Housing Court einer umfangreichen kritischen Prüfung zu unterziehen. Es stellte 121
154 Misc.2d 301, 30,1 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992). Mit dem Urteil 154 Misc.2d 301, 306, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992). 123 154 Misc.2d 301, 306, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992). 122
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sich heraus, dass die Mehrzahl der geschlossenen Vereinbarungen unter rechtsstaatlich nicht mehr vertretbaren Bedingungen zustande gekommen waren und Mieter dabei regelmäßig erheblich benachteiligt wurden: „Based on allocutions of approximately 5,000 such cases in the past year, this court's conclusion is that the stipulations are generally signed without knowledge of possible defenses and out of fear of eviction or the sense that there is no alternative. The overwhelming majority of unrepresented tenants lack even basic understanding about their legal rights and the defenses which they may have to the petitioners' claims for rent. … Few tenants have any idea whether their rents are legal. Virtually none understand the differing legal consequences of the various enforcement remedies for which the stipulations provide (for example, the difference between an installment agreement with a provision for entry of judgment upon default, and a judgment with issuance of a warrant of eviction forthwith and stay of execution provided payments are made). Many do not seem to be aware that the stipulations are supposed to be the result of negotiations, and that they are not required to sign the stipulations as drafted by the landlords' attorneys. Most tenants do sign whatever is presented to them, frequently without reading it or having it read to them first, and often even when they are not sure whether they owe or dispute the amount the landlord claims is due. Startlingly, many tenants appear to be unaware not only of what their defenses are but of the fact that they may have defenses. Perhaps for this reason, tenants frequently do not see the need to seek counsel even when given the opportunity to do so. …”124 Die Praxis des Housing Court hat nach den Feststellungen des Gerichts offenkundig dazu geführt, dass rechtlich nicht vertretene Mieter regelmäßig der Zahlung gesetzlich unzulässiger Wuchermieten sowie der Räumung ihrer eigenen Wohnung zustimmen, ohne dass dies rechtlich geboten oder auch nur zulässig wäre. Sie tun dies in der Regel in völliger Unkenntnis ihrer Rechte und der Natur des „freiwillig“ abgeschlossenen Vergleichsvertrages. Dies ist nach Auffassung des Gerichts umso bedenklicher, als eine Räumung in dem betroffenen Milieu regelmäßig die Obdachlosigkeit der Mieter zur Folge hat. (2) Wright v. Brockett Auch im Fall Wright v. Brockett ist eine Räumungsklage zur Durchsetzung eines zwischen Mieter und Vermieter abgeschlossenen Mediationsvergleichs Gegenstand des Konfliktes. Brockett bewohnte fast zwanzig Jahre lang eine illegale Kellerwohnung im Zweifamilienhaus von Wright. Das Gericht lehnte 1989 einen Mietzinsanspruch des Vermieters aufgrund der Illegalität der Kellerwohnung ab. Die Beziehung zwischen den Parteien war zerrüttet. Als der Vermieter Wright seiner Untermieterin schließlich u.a. angeblich die Heizung 124
154 Misc.2d 301, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992).
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abstellte, erstattete Brockett gegen ihn Strafanzeige wegen Bedrohung, fahrlässiger Gefährdung und weiterer Straftaten. Das Strafgericht verwies das Strafverfahren als Nachbarschaftsstreit entsprechend der üblichen Praxis an ein örtliches Schieds- und Mediationsprogramm, das IMCR Dispute Resolution Center. In einer Sitzung mit einem „mediator-arbitrator“ legten die Parteien ihren Konflikt durch eine mit „Schiedsspruch“ (award) überschriebene Vereinbarung bei, in der sich Brockett plötzlich verpflichtete, die von ihr 20 Jahre lang bewohnte Wohnung ohne weiteres zu räumen. Die Vereinbarung wurde von Brockett indes nicht umgesetzt. Nachdem Wright vergeblich die Räumung betrieben hatte, erhob er Räumungsklage, die schließlich vor dem Supreme Court der New Yorker Bronx verhandelt wurde.125 Brockett hält der Klage unter anderem entgegen, dass die Einigung einseitig und ohne jede Gegenleistung erfolgte, sie nicht rechtlich vertreten wurde und der Mediator sie in keiner Weise über ihre Rechte aufgeklärt hat. Im Übrigen habe sie nur deshalb zugestimmt, weil die Situation im Hinblick auf ihre Wohnung für sie unerträglich geworden sei. Das Gericht wies die Räumungsklage mit der Begründung ab, dass ohne weitere Feststellungen nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Vereinbarung ohne Druck zustande gekommen ist. Da Mieter in rechtlichen Auseinandersetzungen mit ihren Vermietern häufig auf nahezu sämtliche ihnen zustehende Rechte verzichten, sind entsprechende Vergleiche Gegenstand besonderer gerichtlicher Kontrolle.126 (3) Boston Housing Court (BHC) Unser dritter Fall betrifft einen Vergleich, der ohne Unterstützung eines Mediators am Boston Housing Court (BHC) geschlossen worden ist und von dem Erica Fox in einem Beitrag für die Harvard Negotiation Law Review berichtet: „I met Tashana while interviewing tenants in the hallway of the Boston Housing Court (BHC). It was Thursday morning and, as usual, the docket listed hundreds of summary eviction cases. With her case among the majority sent to ‚mediation‘, Tashana sat waiting to negotiate over her residential security. She showed me pictures that she had brought of defects in her apartment. Images depicted her broken home: Shattered windows the landlord ‚repaired‘ by taping paper over them, warping floors where months-old leaks had decayed the surface, holes in the walls. With the law on her side, I imagined that Tashana would return with a commitment for genuine repairs. Instead, after negotiating in the hallway with the landlord's lawyer, she had agreed to pay outstanding rent and to vacate the apartment within three months. When I asked her about the windows and the floors, she said simply: ‘It didn't come up.’”127
Der Fall entspricht in Ablauf, Struktur und Ergebnis den beiden vorangegangenen Fällen, mit dem Unterschied, dass er ohne Drittunterstützung verhandelt 125
150 Misc.2d 1031 571 N.Y.S.2d 660 (9.5. 1991). Zum Ganzen 50 Misc.2d 1031, 571 N.Y.S.2d 660 (9.5. 1991). 127 Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85 (1996). 126
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worden ist. Angesichts der Parallelen zwischen den drei Fällen kam der Anwesenheit eines neutralen Dritten offensichtlich keine nennenswerte Bedeutung zu. Auch die Verhandlungsbedingungen entsprachen sich weitgehend: „At the time of this study, one judge sat in the housing court, and eighty percent of the scheduled cases were handled either through mediation with a housing specialist or through negotiation in the hallway. … When tenants arrived at court, an official directed most of them upstairs to mediation. I joined tenants up the stairs and sat with them in the hallways. Tenants received little guidance through the process. The court officials gave no explanation of mediation, nor did they mention its voluntary nature. Mediation was never distinguished from negotiation, the process in which most tenants participated. No information was available regarding the rights and responsibilities of landlords or tenants. Similarly, no one was available to answer questions. Finally, no screening was used to determine the appropriateness of mediation or negotiation in any particular case.”128
ee) Schlussfolgerungen Die Ergebnisse der untersuchten Fälle verwundern, denn sie sind mit den Grundannahmen des in der Verhandlungstheorie gängigen rationalen Handlungsmodells nicht vereinbar: Im ersten Fall verpflichtete sich Lucien Lacrete zur Zahlung einer gesetzeswidrig überhöhten Miete129, im zweiten Fall unterzeichnete Emma Brockett die Räumung ihrer eigenen Wohnung, in der sie seit über 20 Jahren lebte130, und im letzten Fall stimmte Tashana, anstatt die Reparatur ihres vom Vermieter vernachlässigten Apartments durchzusetzen131, ebenfalls der Räumung ihrer Wohnung und darüber hinaus der Zahlung angeblich noch ausstehender Miete zu. Ein gutes, d.h. ein faires, den Interessen beider Parteien entsprechendes, beziehungsförderndes, dauerhaftes, nachhaltiges, praktisch umsetzbares und kreativ-wertschöpfendes Verhandlungsergebnis ist derartigen Vereinbarungen nicht zu sehen. Denn in allen drei Fällen hätten den betroffenen Parteien nach den Feststellungen der befassten Gerichte und dem Sachverhalt mit hoher Wahrscheinlichkeit durchgreifende Einwendungen gegen die jeweiligen Forderungen des Vermieters zugestanden.132 Stattdessen haben die Parteien in erheblichem Umfang gegen ihre eigenen Interessen gehandelt. Ihr Verhandlungsverhalten stellt die Grundannahmen der Verhandlungstheorie gleichsam auf den Kopf: Anstatt in einem kooperativen Verfahren zu einem gerechten Ausgleich ihrer dem Streit tatsächlich zugrunde liegenden beiderseitigen Interessen zu gelangen, ist es einer Partei gelungen, ihre Verhandlungspositionen einseitig durchzusetzen. Anstatt eine gemeinsame Lösung des konfliktursächlichen Problems zu erarbeiten, wurde die Vereinbarung von einer Seite einseitig diktiert. Anstatt die Beziehung zwischen 128
Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85, 91 f. (1996). 154 Misc.2d 301, 301 f., 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992). 130 150 Misc.2d 1031, 1032, 571 N.Y.S.2d 660 (9.5. 1991). 131 Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85 (1996). 132 Vgl. nur 154 Misc.2d 301, 303 f., 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992). 129
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 435
Parteien durch eine versöhnende Orientierung aufeinander hin neu zu gestalten, wurde sie mit einem Szenario einseitiger Benachteiligung beendet. Die Ergebnisse unserer Fallstudien werden durch den anekdotischen Befund des Vergleichsverhaltens an deutschen Gerichten bestätigt, wonach die Parteien in zivilgerichtlichen Verfahren häufig Vergleiche abschließen, die zu einem Verlust wesentlicher Rechtsgüter, etwa der eigenen Wohnung, führen.133 (1) Die Fiktion der Privatautonomie in Ungleichgewichtslagen Die empirischen Ergebnisse unserer Fallstudie bestätigen den zuvor dargestellten Befund: Parteien handeln im Kontext alternativer Streitbeilegung bei Vorliegen struktureller Machtungleichgewichte, Informationsasymmetrien und mangelnder Parität im Hinblick auf ihre geschäftliche Erfahrung in tatsächlicher Hinsicht häufig nicht privatautonom, sondern im Widerspruch zu ihren Interessen. Und sie tun dies in einem Umfang, der von der Rechtsordnung nicht ohne Schaden für die Integrität ihrer Normen und der von ihr zur Verfügung gestellten Verfahren toleriert werden kann.134 Den Parteien kann daher auch im Rahmen des Mediationsverfahrens nicht ohne weiteres stets ein umfassend privatautonomes Handeln unterstellt werden. Dem Mediator ist ein Rückzug auf eine weitgehend passive Rolle mit Verweis auf das frei verantwortliche Handeln der Parteien versperrt, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Parteien in tatsächlicher Hinsicht an der Ausübung ihrer Privatautonomie gehindert sind. Entsprechend stellte auch der Civil Court of the City of New York im Fall Woodruff Corp. v. Lacrete fest: „This case provides a textbook example of a one-sided stipulation unadvisedly signed by a pro se litigant who lacked knowledge of a defense which would have substantially defeated petitioner's claims. … the court cannot permit itself the illusion, comforting though it might
133
Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 280 mwN.; Hilden, Rechtstatsachen im Räumungsrechtsstreit (1976), S. 71 f. (bei einem Endurteil besteht eine beträchtlich höhere Chance, in der Wohnung bleiben zu können, als bei einem Vergleich). 134 Überzeugend hierzu im Kontext der Problematik anwaltlich nicht vertretener Parteien in „Mediationen” vor den Housing Courts: The Committee to Improve the Availability of Legal Services (Marrero Commission ): „Moreover, the imbalance between the need for legal services and their availability undermines the legitimacy of the legal system itself. It is grotesque to have a system in which the law guarantees to the poor that their basic human needs will be met but which provides individuals no realistic means with which to enforce that right. The absence of legal assistance to the poor goes to the essence of some fundamental principles ingrained in our jurisprudence: simple equity, due process, equal protection, equal elementary access to the judicial system to redress wrongs … a justice system which allows vast disparities in access to justice based on ability to pay cannot truly be called a system of justice at all.” Zitiert nach 154 Misc.2d 301, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992). Hervorhebungen durch den Verfasser.
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be … , that settlements in Housing Court are generally the result of arm's length transactions between parties of equal bargaining power.” (2) Das Phänomen mangelnder self-agency Als eine mögliche Ursache ist in der Literatur das Phänomen der self-agency, der mangelnden Vertretung der eigenen Interessen, identifiziert worden.135 Danach hängt das Verhalten von Parteien bei einer Vertretung in eigenen Angelegenheiten in Verhandlungssituationen nicht allein von ihren Fähigkeiten (capabilities), d.h. der Bildung, den rhetorischen, argumentativen und kognitiven Fähigkeiten sowie den rechtlichen, ökonomischen oder sonstigen relevanten Kenntnissen, sondern darüber hinaus auch von der subjektiven Legitimität (legitimacy) ab, die die Parteien einer Vertretung ihren eigenen Interessen und der Vertretung dieser Interessen zumessen.136 Die subjektive Legitimität zur Vertretung der eigenen Interessen wird von den Parteien dabei weitgehend unabhängig davon beantwortet, ob die geltend gemachten Interessen und Rechtsansprüche vor dem Hintergrund der objektiven Rechtsordnung tatsächlich gerechtfertigt sind oder nicht. Stattdessen ist sie abhängig von einer Reihe sozialer, kultureller und persönlicher Faktoren, die in ihrer Zusammensetzung und ihrer Kausalität noch nicht vollständig geklärt sind. Aufgrund des empirischen Befundes gesichert ist indes eine enge Korrelation der subjektiven Legitimität und damit der self-agency mit dem sozialen Status der Parteien: So halten sich sozial benachteiligte Parteien aus armen Bevölkerungsschichten häufig nicht für berechtigt, ihre Interessen gegenüber Angehörigen einer höheren sozialen Schicht effektiv zu vertreten. Die soziale Prägung ist der wirkungsmächtigste, allerdings nur einer von mehreren Faktoren, die das Verhandlungsverhalten der Parteien beeinflussen. Das Phänomen mangelnder self-agency tritt offensichtlich in unterschiedlichem Umfang in allen sozialen Schichten und unabhängig von den Fähigkeiten, dem Bildungsniveau oder dem Beruf des Einzelnen auf. Es kann, abhängig vom jeweiligen Kontext, auch für dieselbe Person variieren. Selbst erfahrene Verhandler wie etwa Anwälte, Manager oder Diplomaten können vom Phänomen mangelnder selfagency betroffen sein, wenn sie für sich selbst verhandeln.137 c) Die Konkretisierung der Rolle des Mediators Aus diesem Befund ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Ausgestaltung der Rolle des Mediators als Hüter der Verfahrensintegrität und damit zugleich der Privatautonomie der Parteien. Sind die Parteien aufgrund eines
135
Grundlegend: Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85, 86 ff. (1996). Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85, 94 f. (1996). 137 Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85, 111 f. (1996). 136
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 437
strukturellen Machtungleichgewichtes, aufgrund von Informationsasymmetrien oder infolge sonstiger Verhandlungsimparitäten nur eingeschränkt in der Lage, ihre Interessen effektiv wahrzunehmen, und liegt damit ein Defekt in der self-agency vor, so wird üblicherweise ein Ausgleich dieser Imparität durch die Thematisierung des Rechts oder das Hinzuziehen eines anwaltlichen Vertreters vorgeschlagen.138 Allerdings ist die Mitwirkung professioneller Parteivertreter im Mediationsverfahren nicht unbedenklich, da sie die Flexibilität der Gesprächsführung und darüber hinaus die Möglichkeiten des Mediators erheblich einschränken, eine unmittelbare Kommunikation zwischen den Parteien als den vom Konflikt direkt betroffenen Beteiligten herzustellen. Darüber hinaus besteht stets die Gefahr, dass die kooperative Perspektive auf den Konflikt durch ein weitgehend kontradiktorisches Konfliktverhalten ersetzt wird. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die von den Parteivertretern wahrgenommene Aufgabe der Repräsentation der Parteien durch die allparteiliche Funktion des Mediators als Hüter der Privatautonomie der Parteien zu ersetzen. aa) Verfassungsrechtliche Anforderungen Die Sicherung der tatsächlichen Privatautonomie ist aufgrund der besonderen Gefahrenlage für die Parteien im Mediationsverfahren von verfassungsrechtlicher Relevanz. Sie ist es vor allem deshalb, weil den Parteien trotz gleicher Schutzbedürftigkeit im Rahmen des Mediationsverfahrens nicht die gleichen Verfahrensgarantien einschließlich der Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe zur Verfügung stehen, wie dies im Zivilprozess der Fall ist, der allen Verfahrensbeteiligten gerade zum Ausgleich struktureller Machtungleichgewichte eine „verfassungsrechtlich gewährleistete Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter“139 gewährt. Zwar bindet das Verfassungsrecht den Mediator als privates Rechtssubjekt jedenfalls in der vertragsautonomen Mediation keineswegs in gleicher Weise wie den hoheitlich handelnden Richter im Zivilprozess. Will sich die Mediation als Alternative zum Zivilprozess indes in das System der Konfliktbehandlung der deutschen Privatrechtsordnung einfügen, muss es den grundlegenden verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an ein Verfahren der Streitbeilegung im Rechtsstaat zu stellen sind, genügen. Dies gilt umso mehr, als die Wirkungen eines ungünstigen Vergleiches hinsichtlich seines Inhaltes und der Möglichkeit der nachträglichen Korrektur insbesondere für verhandlungsschwache Parteien weitaus gravierender sind, als
138
Vgl. hierzu nur Riskin, 37 U. Fla. L. Rev. 19, 27 (1985): „The normal solution to this kind of imbalance is to bring in law or a lawyer.” 139 BVerfGE 52, 131, 156 = NJW 1979, 1925.
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dies bei einem ungünstigen Gerichtsurteil der Fall wäre. Während sich ein zivilgerichtliches Urteil inhaltlich am materiellen Recht orientiert140, das eine angemessene Berücksichtigung der Rechtsgüter beider Parteien und damit auch ein materiell objektiv gerechtes Ergebnis jedenfalls indiziert, ist der Mediationsvergleich das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses141. Verfügen beide Verhandlungspartner über annähernd gleiche Verhandlungsmacht, so liegen damit Voraussetzungen vor, unter denen ein angemessener Interessenausgleich durch eine wertschöpfende Vereinbarung erzielt werden kann. Ist die notwendige Parität der Verhandlungspartner jedoch nicht gegeben, so wird das Verhandlungsergebnis regelmäßig von der verhandlungsstärkeren Partei bestimmt. Für die verhandlungsschwächere Partei bewirkt dies Fremdbestimmung.142 Dieser prozedurale Verlust an Privatautonomie schlägt sich materiellrechtlich regelmäßig in einem die stärkere Partei einseitig begünstigenden Vergleichsvertrag nieder, der sich jedoch im Gegensatz zum zivilgerichtlichen Urteil nicht am objektiven Recht, sondern vielmehr an den Partikularinteressen der anderen Partei orientiert, die aus dem freien Spiel der Kräfte als Sieger hervorgegangen ist. Aus diesen Gründen erweist sich die Verhandlung in Fällen eines ungleichen Kräfteverhältnisses zwischen den Parteien als untaugliches Instrument des Interessenausgleichs. Verschärft wird die Problemlage durch die Tatsache, dass der unterlegenen Partei regelmäßig durch Fehlen ausreichender Bedenkzeit nicht nur die Möglichkeit einer hinreichend informierten, vollumfänglich privatautonomen Entscheidung versagt bleibt, sondern ihr mit ihrer Zustimmung zum Vergleichsvertrag zugleich jede Möglichkeit der nachträglichen Korrektur genommen wird. Überschreitet der Vergleich nicht die aus Gründen der Rechtssicherheit sehr weit gezogene Grenze der Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit, gilt der Grundsatz der Vertragstreue – pacta sunt servanda. Die unterlegene Partei bleibt auf Dauer an den Vertrag gebunden. Die Möglichkeit, gegen den nachteiligen Vergleich durch Beschreiten des Rechtsweges in gleicher Weise vorzugehen, wie dies gegen ein nachteiliges Urteil möglich wäre, besteht nicht, weil – unbeschadet der üblichen, aber regelmäßig nicht eingreifenden Anfechtungsgründe – unwiderlegbar angenommen wird, dass die Partei den sie benachteiligenden Vertrag gewollt hat. Es ist offensichtlich, dass dieses erkennbar systemwidrige Ergebnis der Korrektur bedarf. Ein Ausgleich ist allerdings nicht nur aus dogmatischer Sicht, sondern auch aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten, wie die Rechtsprechung des BVerfG deutlich macht:
140
Vgl. hierzu oben S. 133 f. Vgl. hierzu oben S. 134. Zur Bedeutung des materiellen Rechts in der Mediation oben S. 282 ff. 142 Vgl. hierzu oben S. 337 ff., 348 ff. 141
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 439 „Im Vertragsrecht ergibt sich der sachgerechte Interessenausgleich aus dem übereinstimmenden Willen der Vertragspartner. Beide binden sich und nehmen damit zugleich ihre individuelle Handlungsfreiheit wahr. Hat einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung …. Allerdings kann die Rechtsordnung nicht für alle Situationen Vorsorge treffen, in denen das Verhandlungsgleichgewicht mehr oder weniger beeinträchtigt ist. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit darf ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert werden. Handelt es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen läßt, und sind die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so muß die Zivilrechtsordnung darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen. Das folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG). Die Schöpfer des Bürgerlichen Gesetzbuchs gingen zwar, auch wenn sie verschiedene Schutznormen für den im Rechtsverkehr Schwächeren geschaffen haben, von einem Modell formal gleicher Teilnehmer am Privatrechtsverkehr aus, aber schon das Reichsgericht hat diese Betrachtungsweise aufgegeben und, in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt‘ … Heute besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs taugt und daß der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört. … Im Sinne dieser Aufgabe lassen sich große Teile des Bürgerlichen Gesetzbuchs deuten.“143
Aus dieser Aufgabe des Privatrechts zur Korrektur gestörter Verhandlungsparität, die keinen Eingriff in die Vertragsfreiheit darstellt, sondern im Gegenteil gerade der verfassungsrechtlich gebotenen Gewährleistung der Privatautonomie dient, ergibt sich eine Pflicht des Richters, im Rahmen des Zivilprozesses die nachteiligen Folgen unausgewogener Verträge, die unter den Bedingungen gleicher Verhandlungsmacht abgeschlossen worden sind, zu kompensieren: „Für die Zivilgerichte folgt daraus die Pflicht, bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln darauf zu achten, daß Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen. … Ist aber der Inhalt des Vertrages für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen, so dürfen sich die Gerichte nicht mit der Feststellung begnügen: ‚Vertrag ist Vertrag‘. Sie müssen vielmehr klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen. Wie sie dabei zu verfahren haben und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssen, ist in erster Linie eine Frage des einfachen Rechts, dem die Verfassung einen weiten Spielraum läßt. Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie kommt aber dann in Betracht, wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht wird.“144
143 144
BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38 f. (Bürgschaft). BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 39. (Bürgschaft).
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Wenn indes schon der Richter als verhandlungsferner Dritter, dem nur nachträgliche Korrekturen eines bereits abgeschlossenen Vertrages möglich sind, zur Behebung der Folgen ungleicher Verhandlungsmacht berufen und verpflichtet ist, so muss erst recht den an der Verhandlung unmittelbar beteiligten Mediator, der nicht nur die Folgen, sondern mit der Willensbildung und der Information der Parteien auch die Ursachen ungleicher Verhandlungsstärke beheben kann, eine Pflicht zum korrigierenden Eingreifen treffen. Denn der Mediator ist als Verhandlungsleiter nicht nur unmittelbar Beteiligter und steht damit dem problemverursachenden Geschehen ungleich näher als ein an der Verhandlung unbeteiligter Richter. Er ist darüber hinaus an der Entstehung des Vergleichsvertrages unmittelbar beteiligt. Er ist somit nicht darauf beschränkt, lediglich retroaktiv und kurativ die Folgen ungleicher Verhandlungsmacht nachträglich zu korrigieren, sondern kann stattdessen proaktiv und präventiv auf die Ursachen entsprechender Imparitäten einwirken, noch bevor sie sich in einem unangemessenen Vertrag realisieren. Weil es bei dieser Korrektur nicht um die nachträgliche Aufhebung bereits entstandenen Parteirechts und damit eine Frage der Rechtssicherheit, sondern stattdessen um die Frage geht, wie das zu schaffende Individualvertragsrecht im Einzelnen auszugestalten ist, und weil der Mediator unmittelbar an dessen Entstehung mitwirkt, unterliegt er nicht der gleichen Zurückhaltung, die dem Richter im Hinblick auf die nachträgliche Korrektur bereits abgeschlossener Vereinbarungen auferlegt ist. Er kann und muss zum Schutz der tatsächlichen Privatautonomie der Parteien bereits dann eingreifen, wenn die Unangemessenheit des Vergleiches die Grenze der Nichtigkeit noch nicht überschritten hat. Diese Pflicht ergibt sich für den Mediator aus den Wertgrundsätzen, die der Privatrechtsordnung insgesamt zugrunde liegen und die in dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Privatautonomie gem. Art. 2 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG normativ Gestalt angenommen haben. bb) Verfahrensimmanente Anforderungen an den Mediator Die verfassungsrechtlich begründeten Handlungspflichten des Mediators können darüber hinaus auch aus den Grundsätzen des Mediationsverfahrens als verfahrensimmanente Pflichten hergeleitet werden. 1. Sicherung der Verfahrensintegrität.145 Wie wir gesehen haben, ist der Mediator zunächst Hüter des Verfahrens und seiner Grundsätze. Er wacht darüber, dass die Grundprinzipien des Mediationsverfahrens146 – Privatautonomie der Parteien, Kooperation, Orientierung an Parteiinteressen, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität des Verfahrens, Vermittlung durch neutralen Dritten – weder durch Handlungen der Parteien oder Dritte noch durch die 145 146
Vgl. hierzu oben S. 116 ff. Vgl. hierzu oben S. 127 f.
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 441
Gestaltung des Verfahrens beeinträchtigt werden, schafft die zu ihrer Verwirklichung notwendigen Rahmenbedingungen und wirkt im Falle erkannter Defizite auf eine Wiederherstellung der Verfahrensintegrität und eines optimalen Verfahrensablaufes hin. 2. Umsetzung der Verfahrensziele. Der Mediator ist zugleich Garant für die weitestmögliche Umsetzung der Verfahrensziele, die prozessual in der Versöhnung der Parteien durch eine Neuausrichtung ihrer Beziehung aufeinander hin sowie materiell in einem guten, d.h. einem fairen, beiderseits interessengerechten, beziehungsfördernden, dauerhaften, nachhaltigen, praktisch umsetzbaren und kreativ-wertschöpfenden Verhandlungsergebnis bestehen.147 Dem Mediator kommt dabei eine dienende und aufgrund des Unvermögens der Parteien zur eigenverantwortlichen Beilegung ihres Konfliktes auch eine konstitutive, ermöglichende Funktion zu. Im Kern besteht die Aufgabe des Mediators daher darin, die Parteien zu einer eigenverantwortlichen Beendigung ihres Konfliktes zu befähigen und so die Grundbedingungen privatautonomen Handelns herzustellen. 3. Überwachungs-, Förderungs- und Interventionspflicht. Aus dieser Doppelfunktion des Mediators ergibt sich im Hinblick auf die Umsetzung der Verfahrensziele eine Förderungs- und hinsichtlich der Sicherung der Integrität des Verfahrens eine Überwachungs- und Interventionspflicht, da die dem Mediator obliegende Schutzfunktion andernfalls leer laufen würde. Diese Handlungspflichten des Mediators sind in Struktur und Wesen des Mediationsverfahrens selbst begründet und damit als verfahrensimmanente Rollendefinition konstitutiver Teil des Verfahrens. Ihre Konkretisierung erfolgt im Licht der Verfahrensprinzipien der Mediation sowie der typischen Risiken, denen die Parteien durch ihre Teilnahme ausgesetzt sind. cc) Berufsrechtliche Anforderungen an den Mediator Besondere Anforderungen an den Pflichtenkreis des Mediators ergeben sich darüber hinaus aus den berufsrechtlichen Regelungen für das Mediationsverfahren: (1) Den Richtlinien und Verfahrensordnungen der Mediationsverbände, (2) europäischen Rahmenreglungen sowie (3) verbindlichem nationalen Gesetzesrecht. (1) Richtlinien und Verfahrensordnungen der berufsständischen Verbände Als berufsrechtliche Regelwerke iwS. bilden die Richtlinien und Verfahrensordnungen der berufsständischen Organisationen (Mediationsverbände, Rechtsanwaltskammern, Industrie- und Handelskammern) die primäre Quelle, aus der sich normative Vorgaben für die Verantwortlichkeit des Mediators ergeben. Rechtsverbindlichkeit erlangen sie indes nur insoweit, als sie durch den 147
Vgl. hierzu oben S. 160 ff mwN.
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Mediatorvertrag bzw. eine Mediationsvereinbarung zwischen den Beteiligten zum Gegenstand vertragsautonomer Regelung gemacht werden. Soweit der Mediator Mitglied einer berufsständischen Vereinigung ist, binden ihn die Richtlinien der Verbände nach Maßgabe des jeweiligen Binnenrechts. Regelmäßig haben die Richtlinien der berufsständischen Organisationen allerdings lediglich das Ziel, „den Diskussionsstand seiner Mitglieder zu den Grundlagen und Vorgehensweisen von Mediation zusammen[zu]fassen“148 sowie als Grundlage speziellerer dienst-, berufs- und standesrechtlicher Vorschriften zu dienen, und gelten daher nicht unmittelbar.149 Inhaltlich regeln sie insbesondere die Grundsätze des Mediationsverfahrens und die Rechte und Pflichten der Parteien. Danach gehören die Eigenverantwortlichkeit und Informiertheit der Parteien regelmäßig zu den wesentlichen Grundsätzen des Verfahrens, für dessen Sicherung der Mediator verantwortlich ist. Eigenverantwortlichkeit bedeutet, dass die Parteien ihre Interessen selbst wahrnehmen und sie vertreten, was die Fähigkeit voraussetzt, „für sich selbst und die eigenen Interessen einzustehen“150. Eigenverantwortlichkeit setzt die Informiertheit der Parteien voraus, denn „eine selbstverantwortete Entscheidung der Konfliktpartner ist nur auf der Grundlage eigener sachlicher Informiertheit möglich. Jede Konfliktpartei muß ausreichend Gelegenheit haben, sämtliche Informationen, die entscheidungserheblich sind, in ihrer Tragweite zu erkennen und zu gewichten, damit sie sich der Konsequenzen der getroffenen Entscheidungen voll bewußt ist.“151 Zu den entscheidungsrelevanten Informationen gehört vor allem auch die Kenntnis der Rechtslage und der den Parteien zustehenden Rechtsansprüche, so dass die Verhandlungspartner wissen, „auf welche rechtlichen Ansprüche sie gegebenenfalls verzichten und was sie stattdessen gewinnen.“152
148
Richtlinien für Mediation in Wirtschaft und Arbeitswelt des Bundesverbandes Mediation in Wirtschaft und Arbeitswelt e.V. (BMWA), Präambel, Stand: 10/2004. Ähnlich auch die Richtlinien der Bundes-Arbeitsgemeinschaft für Familien-Mediation für die Mediation in Familienkonflikten (BAFM), Stand: 16. November 2008, https://www.bafm-mediation.de/verband/organisation/richtlinien-der-bafm/ (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 149 Vgl. hierzu die gleichlautende Regelung in den Richtlinien des BMWA (I.) und der BAFM (1.): „Die in den Richtlinien niedergelegten Grundsätze sollen in dienst-, berufs- und standesrechtliche Vorschriften einfließen.“ Nachweise oben Fn. 148. 150 Richtlinien des BMWA, Nr. 2.2. und gleichlautend Richtlinien der BAFM, Nr. 3.1. Vgl. hierzu oben S. 354, Fn. 148 151 Richtlinien des BMWA, Nr. 1.3.(4). Vgl. auch Richtlinien der BAFM, Nr. 2.3.3. Vgl. hierzu oben S. 354, Fn. 148 152 Richtlinien der BAFM, Nr. 4.1. Vgl. hierzu oben S. 354, Fn. 148
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 443
Der Mediator ist „für die Strukturierung des Mediationsprozesses, die Beachtung der Prinzipien sowie die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen“153 und damit auch für die Beachtung der Eigenverantwortlichkeit und Informiertheit der Parteien als wesentlicher und in den Richtlinien ausdrücklich normierter Verfahrensprinzipien verantwortlich. Er hat aufgrund seiner Verfahrensverantwortung damit auch nach den berufsständischen Vorschriften sicherzustellen, dass die Parteien auch tatsächlich die entscheidungserheblichen Informationen und Umstände des Konfliktes einschließlich der Rechtslage kennen, verstehen und in ihrer Tragweite und den mit ihr verbundenen Konsequenzen sachgerecht erfassen. Daraus ergibt sich eine umfassende Überwachungs-, Förderungs- und Interventionspflicht des Mediators. Dieser Pflichtenkreis ist in den berufsständischen Vorschriften in seiner konkreten Ausgestaltung regelmäßig zwar nicht expressis verbis normiert, folgt jedoch zwingend aus der Verfahrensverantwortung des Mediators, die insbesondere auch die Verantwortung für „die Beachtung der Prinzipien“154 der Mediation durch die Parteien umfasst. Dass dem Mediator hier weitgehende Interventionspflichten zukommen, folgt aus den Vorschriften über den Ausgleich von Machtungleichgewichten, die in einem Teil der Regelungswerke normiert sind und die den Mediator verpflichten, das Mediationsverfahren zu beenden, sollte er zu der Überzeugung kommen, dass eine Partei aufgrund einer Verhandlungsimparität nicht in der Lage ist, für sich und ihre Interessen selbst einzustehen.155 (2) Europäische Rahmenreglungen Auf europäischer Ebene enthalten der Verhaltenskodex für Mediatoren156 und die Empfehlung 2001/310/EG v. 4. 4. 2001 über die Grundsätze für an der einvernehmlichen Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten beteiligte außergerichtliche Einrichtungen157 unverbindliche Anforderungen an die Rolle des Mediators.158
153 Richtlinien des BMWA, Nr. 2.2. und gleichlautend Richtlinien der BAFM, Nr. 3.1. Vgl. hierzu oben S. 354, Fn. 148. Hervorhebungen durch den Verfasser. 154 Richtlinien der BAFM, Nr. 3.1. Vgl. hierzu oben S. 354, Fn. 148. 155 So etwa die Richtlinien der BAFM, Nr. 2.3.6: „Machtbalance: Falls dauerhaft keine Machtbalance zwischen den Konfliktpartner/innen erreicht wird und der/die Mediator/in zur Überzeugung kommt, dass eine/r der Partner/innen in der Mediation nicht für sich einstehen kann muss er/sie die Mediation beenden.“ Ebenda. 156 Abgedruckt in ZKM 2004, 148 f. Im Internet abrufbar unter http://www.ec.europa.eu/ civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct_en.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 157 Abl. EG 2001 L 109, S. 56. 158 Die europäische Mediationsrichtlinie ( Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3) regelt mit den Problemkreisen des Vertraulichkeitsschutzes, der Vollstreckbarkeit und Verjährung von Mediationsvergleichen dagegen weitgehend Fragen, die den Schnittpunkt
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Der europäische Verhaltenskodex trifft nicht nur Regelungen im Hinblick auf die Information der Parteien, sondern enthält auch detaillierte Vorschriften für die Mitwirkung der Parteien, die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens sowie die Inhaltskontrolle des ausgehandelten Vergleichs durch den Mediator. Er geht in seinem Umfang insoweit deutlich über Regelwerke der berufsständischen Vereinigungen hinaus. So muss sich der Mediator nicht nur darüber vergewissern, dass die Parteien das Verfahren und die entsprechenden Rollen der Beteiligten verstanden haben, sondern er muss zudem alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, „dass eine einvernehmliche Einigung der Parteien in voller Kenntnis der Sachlage erzielt wird und dass alle Parteien die Bedingungen der Regelung verstehen.“159 Der Mediator „berücksichtigt die jeweiligen Umstände des Falls, einschließlich einer ungleichen Machtverteilung und des Rechtsstaatsprinzips“160. Darüber hinaus muss er im Rahmen der Sicherung der „Fairness des Verfahrens“161 sicherstellen, dass „alle Parteien in angemessener Weise in das Verfahren eingebunden sind.“162. Kommt er im Ergebnis einer Inhaltskontrolle des vereinbarten Mediationsvergleichs zu dem Ergebnis, dass „die vereinbarte … nicht durchsetzbar oder … vorschriftswidrig“163 ist, kann er das Mediationsverfahren trotz der erzielten, jedoch gesetzeswidrigen oder aufgrund sonstiger Umstände nicht umsetzbaren Vereinbarung beenden. Noch weitergehende Regelungen finden sich in der Empfehlung 2001/310/EG v. 4. 4. 2001 über die Grundsätze für an der einvernehmlichen Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten beteiligte außergerichtliche Einrichtungen. In Konkretisierung der Grundsätze der Informiertheit (Transparenz) als zentralem Verfahrensprinzip und der Ergebnisgerechtigkeit (Fairness) als wesentlichem Verfahrensziel enthält sie detaillierte Informationspflichten des Mediators sowie konkrete Vorgaben für die Ausgestaltung des Verfahrens (z.B. eine angemessene Bedenkzeit für die Parteien). Als verbraucherschützende Regelung regelt sie das Mediationsverfahren in einem typischen Kontext mangelnder Vertragsparität. Wie schon nach den berufsständischen Richtlinien und dem europäischen Verhaltenskodex muss der Mediator auch nach dieser Regelung zur Gewährleistung tatsächlicher Privatautonomie sicherstellen, dass die Parteien in formeller Hinsicht über die Grundsätze des
zwischen der Mediation und dem gerichtlichen Verfahren betreffen und enthält daher keine Regelungen des Pflichtenkreises des Mediators. 159 Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, Nr. 3.3. Vgl. auch Nr. 3.1. des Verhaltenskodex. Vgl. hierzu oben Fn. 156. 160 Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, Nr. 3.1. Vgl. hierzu oben Fn. 156. 161 Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, Nr. 3.2. Vgl. hierzu oben Fn. 156. 162 Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, Nr. 3.2. Vgl. hierzu oben Fn. 156. 163 Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, Nr. 3.2. Vgl. hierzu oben Fn. 156.
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 445
Mediationsverfahrens und die Rolle der Beteiligten sowie in materieller Hinsicht über alle entscheidungserheblichen Umstände ausreichend informiert sind. Diese Informationspflicht des Mediators ist im Hinblick auf die Art der von ihm zur Verfügung zu stellenden Informationen in einem eigenen Abschnitt der Vorschrift umfassend konkretisiert. Danach sollten den Parteien insbesondere Informationen über den Ablauf, die Kosten und die Rechtsgrundlagen des Verfahrens, „möglicherweise anwendbare materiell-rechtliche Vorschriften (Rechtsvorschriften, anerkannte Industrie-Praxis, Billigkeitsgrundsätze, Verhaltenskodizes)“ sowie Informationen über die Rechtswirkungen des Mediationsvergleichs zugänglich gemacht werden.164 Insbesondere soll der Mediator gewährleisten, dass die Parteien über ihr Recht informiert werden, „sich nicht an dem Verfahren zu beteiligen oder sich jederzeit und in jedem Verfahrensabschnitt aus dem Verfahren zurückzuziehen und den Rechtsweg zu beschreiten oder sich zur Streitbeilegung an andere außergerichtliche Stellen zu wenden.“165 Um ein Überrumpeln des Verbrauchers als strukturell verhandlungsschwächerer Partei unter Einigungsdruck zu vermeiden, sieht die Empfehlung besondere Regelungen zum Schutz der tatsächlichen Privatautonomie beider Parteien unmittelbar vor Abschluss des Mediationsvergleiches vor. Dadurch soll gewährleistet werden, dass die schwächere Partei über sämtliche entscheidungserhebliche Informationen verfügt und sich der Tragweite und den Konsequenzen ihrer Entscheidung vollumfänglich bewusst ist. Entsprechend soll der Verbraucher, bevor er einer angeregten Lösung zustimmt, „in klarer und verständlicher Sprache“166 über die Freiwilligkeit des Vergleichs, die Möglichkeit des Einholens von Rechtsrat, die Rechtswirkungen sowie die Tatsache informiert werden, dass „die angeregte Lösung … für ihn ungünstiger sein (könnte) als eine gerichtliche Entscheidung, die aufgrund der geltenden Rechtsvorschriften ergeht.“167 Ergänzt wird die Informationspflicht durch eine verfahrensgestaltende Regelung zum Übereilungsschutz, wodurch einer der häufigsten in der Praxis relevanten Risiken in Fällen ungleicher Verhandlungsstärke begegnet wird: „Die Fairness des Verfahrens sollte gewährleistet sein.
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Empfehlung 2001/310/EG v. 4.4. 2001 (Vermittlung), Abl. EG 2001 L 109, S. 56, 60. Empfehlung 2001/310/EG v. 4.4. 2001 (Vermittlung), Abl. EG 2001 L 109, S. 56, 60. 166 Empfehlung 2001/310/EG v. 4.4. 2001 (Vermittlung), Abl. EG 2001 L 109, S. 56, 60. 167 Empfehlung 2001/310/EG v. 4.4. 2001 (Vermittlung), Abl. EG 2001 L 109, S. 56, 60: „Bevor der Verbraucher einer angeregten Lösung zustimmt, sollte er in klarer und verständlicher Sprache über Folgendes informiert werden: a) Es steht ihm frei, der angeregten Lösung zuzustimmen oder sie abzulehnen, b) Die angeregte Lösung könnte für ihn ungünstiger sein als eine gerichtliche Entscheidung, die aufgrund der geltenden Rechtsvorschriften ergeht. c) Er hat das Recht, sich von einem unabhängigen Dritten beraten zu lassen, bevor er der angeregten Lösung zustimmt oder sie ablehnt. … g) Die Rechtswirkung einer einvernehmlichen Lösung.“ 165
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Insbesondere sollten … die Parteien, bevor sie einer angeregten Lösung zur Beilegung der Streitigkeit zustimmen, eine angemessene Bedenkzeit erhalten, um diese Lösung zu prüfen.“168 (3) Nationales Gesetzesrecht In Deutschland sind die Pflichten des Mediators seit 2012 umfassend in § 2 MedG geregelt. Dabei legen die Vorschriften des MedG169 besonderen Wert auf die Sicherstellung einer auch in tatsächlicher Hinsicht freien, informierten und damit privatautonomen Mitwirkung der Parteien an der Mediation als Voraussetzung einer verantwortbaren Einigungsentscheidung.170 So trifft den Mediator die Pflicht, sich zu vergewissern, „dass die Parteien die Grundsätze und den Ablauf des Mediationsverfahrens verstanden haben und freiwillig an der Mediation teilnehmen.“171 Er muss entsprechend seiner Neutralitätspflicht gewährleisten, „dass die Parteien in angemessener und fairer Weise in die Mediation eingebunden sind.“172 Mit Blick auf die Gestaltung des Mediationsvergleichs soll er im Fall einer Einigung darauf hinwirken, „dass die Parteien die Vereinbarung in Kenntnis der Sachlage treffen und ihren Inhalt verstehen“173 und die Parteien gegebenenfalls auf die Möglichkeit hinweisen, „die Vereinbarung bei Bedarf durch externe Berater überprüfen zu lassen.“174 Und schließlich kann er die Mediation jederzeit beenden, „wenn er der Auffassung ist, dass eine eigenverantwortliche Kommunikation oder eine Einigung der Parteien nicht zu erwarten ist.“175 Eine Besonderheit besteht allerdings für Mediatoren, die zugleich als Rechtsanwälte tätig sind (Anwaltsmediatoren): Während sich für nicht-anwaltliche Mediatoren umgekehrt die Frage stellt, in welchem Umfang sie überhaupt
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Empfehlung 2001/310/EG v. 4.4. 2001 (Vermittlung), Abl. EG 2001 L 109, S. 56, 60. Eingeführt durch Art. 1 des MedFördG (Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung) v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 170 Eine ähnliche Regelung besteht in Österreich. Hier sind die Pflichten des eingetragenen Mediators durch das Zivilrechts-Mediations-Gesetz (ZivMediatG) gesetzlich geregelt. Nach § 16 Abs. 2 S. 2 ZivMediatG hat er die Parteien über das Wesen und die Rechtsfolgen der Mediation aufzuklären und nach § 16 Abs. 3 der Vorschrift auf einen Bedarf an Beratung, der sich im Zusammenhang mit der Mediation insbesondere in rechtlicher Hinsicht ergibt, hinzuweisen. 171 § 2 Abs. 2 MedG. 172 § 2 Abs. 3 S. 2 MedG. 173 § 2 Abs. 6 S. 1 MedG. 174 § 2 Abs. 6 S. 2 MedG. 175 § 2 Abs. 5 S. 2 MedG. 169
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rechtliche Hinweise geben dürfen, ohne gegen § 3 des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) zu verstoßen,176 ergibt sich für Anwaltsmediatoren das Problem, ob sie sich überhaupt auf einen moderierenden Mediationsstil zurückziehen können oder ob das Berufsrecht sie nicht zu einer umfassenden rechtlichen Beratung und Information verpflichtet. Eine solche Pflicht wurde vom OLG Hamm unter Verweis auf § 18 BORA bejaht, wonach der als Vermittler, Schlichter oder Mediator tätige Rechtsanwalt den Regeln des Berufsrechts und damit auch der sich aus § 1 Abs. 3 ergebenden Pflicht zur umfassenden Beratung unterliegt. Nach Ansicht des Gerichts ist der Mediator daher „verpflichtet, den von beiden Parteien offen gelegten streiterheblichen Sachverhalt zu würdigen und beide Parteien über ihre jeweiligen Rechte und Pflichten umfassend zu informieren, ohne Rücksicht darauf, ob dies die Einigung letztlich erschwert oder nicht.“177 Der Auffassung des Gerichts ist mit der Begründung entgegengetreten worden, dass eine derartige Verpflichtung des Mediators mit seiner Rolle unvereinbar sei, gegen das Verbot der Prävarikation, der Vertretung widerstreitender Interessen, verstoßen würde178 und den Mediator im Übrigen dazu zwingen würde, rechtliche Fragen in den Mittelpunkt des Verfahrens zu rücken, auch wenn dies den Erwartungen der Parteien sowie der Art des Konflikts nicht gerecht wird.179 Die Vorschrift sei daher im Licht des Zwecks der Mediation auszulegen. Aus der Rolle des Mediators ergebe sich, dass der Anwaltsmediator nicht zur umfassenden rechtlichen Beratung der Parteien verpflichtet sei, da er andernfalls seine Funktion als neutraler Vermittler nicht ausüben könne.180 Der Kritik kann indes nicht uneingeschränkt gefolgt werden. Wie wir gesehen haben, besteht die Aufgabe des Mediators als Hüter der Verfahrensintegrität gerade darin, die Privatautonomie der Parteien als einen zentralen Grundsatz des Mediationsverfahrens zu schützen und die Parteien in ihrem Bemühen um eine auch in tatsächlicher Hinsicht informierte und damit erst wirklich eigenverantwortliche Einigungsentscheidung zu unterstützen. Eigenverantwortlichkeit setzt indes Information voraus. Zwar darf sich der Mediator genauso wenig wie ein gleichfalls zur Neutralität verpflichteter Notar zum Anwalt einer
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Bei rechtlichen Hinweisen des Mediators im Rahmen des Mediationsverfahrens dürfte es sich indes um nach § 5 i.V. § 3 RDG erlaubte Rechtsdienstleistungen im Zusammenhang mit einer anderen Tätigkeit handeln, da das Erteilen rechtlicher Hinweise, wie wir gesehen haben, durchaus als Nebenleistung zum Berufs- oder Tätigkeitsbild eines Mediators gehört. 177 OLG Hamm v. 20.10.1998, 28 U 79/97, Rn. 41 (juris). Kritisch hierzu Czech, ZKM 2001, 46, 46; Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 88. Vgl. zur Problematik auch Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 91. 178 Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 88. 179 Czech, ZKM 2001, 46, 46. 180 Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 88.
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der Parteien machen, „von sich aus besondere Umstände … ermitteln, die die Gefahr eines einem Beteiligten drohenden Schadens begründen“,181 „wie ein einseitiger Interessenvertreter einen von den Vertragsparteien ausdrücklich nicht mitgeteilten, einer der Parteien jedoch möglicherweise günstigen Sachverhalt … erforschen“182 oder die Parteien „‘ins Blaue hinein‘ über alle sich möglicherweise ergebenden eventuellen Verpflichtungen … belehren“183. Dies wird von ihm nach der Rechtsprechung indes auch nicht verlangt.184 Er muss jedoch, will er seiner Rolle gerecht werden, dafür Sorge tragen, dass die Parteien die Tragweite ihrer Entscheidung, die sie rechtlich auf Dauer bindet und in der sie möglicherweise eigene Rechte aufgeben, tatsächlich vollumfänglich erkennen oder jedenfalls realistisch einschätzen können. Diese Verpflichtung ist verfahrensimmanent und mit Wesen und Natur des Mediationsverfahrens untrennbar verbunden. Mediation ist ein privatautonomes Verfahren. Die Parteien müssen sich, wenn sie einen Mediationsvergleich schließen, über die mit einem Vergleichsvertrag verbundenen Konsequenzen und die ihnen nach dem objektiven Recht zustehenden Rechte im Klaren sein. Die Beteiligung eines neutralen Dritten und der damit verbundene Eindruck des rechtlichen Schutzes, die besondere Konfliktsituation, in der sich die Parteien zu Beginn der Mediation befinden und die Unterschiede zu Vertragsschlüssen im gewöhnlichen, nicht konfliktregulierenden Rechtsverkehr gebieten es, an die Voraussetzungen des tatsächlichen Willens privatautonomen Handelns der Parteien erhöhte Anforderungen zu stellen. Begeben sich die Parteien in ein Mediationsverfahren, so muss der Mediator sicherstellen, dass die Parteien ihre Entscheidung auch tatsächlich privatautonom treffen. Wie wir gesehen haben, gehen auch die Richtlinien der Mediationsverbände und die europäischen Rahmenregelungen von einer Verpflichtung des Mediators aus, durch den Einsatz erforderlicher und ihm möglicher Maßnahmen sicherzustellen, dass die getroffene Einigungsentscheidung tatsächlich eine informierte, sachkundige und privatautonome Entscheidung der Parteien ist. Das Mediationsverfahren wie auch das erzielte Ergebnis legitimieren sich durch die Autonomie der Parteien. Diese Legitimation entfällt, wenn die Einigung nicht auch in tatsächlicher Hinsicht informiert und damit eigenverantwortlich erfolgt ist. Und die Entscheidung wird, kommt es zu einer Schädigung einer der Parteien, auch nicht von Dauer sein und so zur nachhaltigen Beilegung des Konfliktes beitragen können. Wenn bereits ein nicht-anwaltlicher Mediator verpflichtet ist, die Parteien auf das Einholen von rechtlichem Rat 181
OLG Hamm v. 20.10.1998, 28 U 79/97, Rn. 45 (juris). OLG Hamm v. 20.10.1998, 28 U 79/97, Rn. 45 (juris). 183 OLG Hamm v. 20.10.1998, 28 U 79/97, Rn. 45 (juris). 184 Die Zulässigkeit einer strategischen Beratung der Parteien, die über die Würdigung des von beiden Parteien offengelegten Sachverhalts und eine umfassende Information der Parteien über ihre jeweiligen Rechte und Pflichten hinausgeht, wird vom Gericht ausdrücklich abgelehnt. 182
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 449
hinzuweisen, so darf ein Rechtsanwalt, der vermittelnd tätig wird, sich dem berechtigten Informationsinteresse der Parteien, das allein auf eine informierte Entscheidung gerichtet ist, nicht entziehen. Wie wir gesehen haben, kann eine Beeinträchtigung der Neutralität im Gegenteil gerade darin begründet sein, dass der Mediator etwa bei Vorliegen struktureller Verhandlungsimparität untätig bleibt und so sehenden Auges zulässt, dass eine Partei in dem von ihm geleiteten Verfahren eine nicht hinreichend informierte und damit nicht tatsächlich privatautonome Einigungsentscheidung trifft. Zuzustimmen ist der Kritik indes insoweit, als eine uneingeschränkte Anwendung des anwaltlichen Berufsrechts auf den Anwaltsmediator abgelehnt und stattdessen eine korrigierende teleologische Auslegung im Licht des Zwecks des Mediationsverfahrens vorgeschlagen wird. Allerdings hat das OLG Hamm eine solche enge Auslegung bereits vorgenommen, indem es den Umfang der Beratungspflicht des allparteilichen Anwaltsmediators erheblich beschränkt und ihm gerade nicht die Pflicht auferlegt, „wie ein einseitiger Interessenvertreter“185 den Sachverhalt zu erforschen und die Parteien gleichsam „ins Blaue hinein“ umfassend über sich möglicherweise ergebende Verpflichtungen zu belehren.186 Als Ergebnis bleibt damit festzuhalten, dass der Anwaltsmediator nach der zutreffenden Ansicht der Rechtsprechung dem Berufsrecht und damit einer Beratungs- und Informationspflicht unterliegt, die jedoch mit Blick auf die Rolle des Mediators in ihrem Umfang beschränkt wird. d) Die Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht des Mediators Fassen wir die Ergebnisse unserer bisherigen Untersuchung zusammen: Wie wir gesehen haben, kommt dem Mediator als Hüter der Privatautonomie aufgrund verfahrensimmanenter und berufsrechtlicher Anforderungen eine für das Mediationsverfahren konstitutive Funktion zu: Es ist seine Aufgabe sicherzustellen, dass die Parteien über alle wesentlichen rechtlichen Aspekte des Falles, die Tragweite und die Konsequenzen ihrer Entscheidung vollumfänglich informiert und so in die Lage versetzt werden, für ihre Interessen effektiv einzustehen. Diese umfassende Information der Parteien befähigt sie zu einer tatsächlich eigenverantwortlichen und damit formell legitimen Einigungsentscheidung und bildet die Voraussetzung für eine faire, nachhaltige und dauerhafte Beilegung des Konfliktes. Die Verantwortung des Mediators für ein faires und privatautonomes Verfahren verdichtet sich damit – freilich innerhalb der Grenzen seiner ihm durch die Verfahrensprinzipien der Mediation vorgegebenen Rolle und Aufgaben – zu einer Ergebnisverantwortung.187 Diese wird prozessual durch eine Hinweis185
OLG Hamm v. 20.10.1998, 28 U 79/97, Rn. 45 (juris). OLG Hamm v. 20.10.1998, 28 U 79/97, Rn. 45 (juris). 187 So auch Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 78. 186
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, Aufklärungs- und Interventionspflicht operationalisiert. Umgesetzt werden diese Handlungspflichten des Mediators durch einen weitgehend evaluierenden Mediationsstil (umfassende Beurteilung), der im oberen rechten Quadranten des klassischen Riskin-Grid zu verorten ist, da eine ausschließlich moderierende Mediation aufgrund der geringen Interventionsdichte des Mediators hierfür kaum geeignet ist. Diese aus dem Verfahren selbst erwachsende Interventionspflicht trifft den Mediator – freilich in unterschiedlichem Umfang – sowohl in der vertragsautonomen als auch in der gerichtsverbundenen Mediation und damit grundsätzlich unabhängig vom Kontext des Verfahrens. Sie ist in ihrer konkreten Ausgestaltung darüber hinaus abhängig von seiner juristischen Qualifikation. Während bei nicht juristisch ausgebildeten Mediatoren keine allzu hohen Anforderungen an den Inhalt der Hinweis- und Aufklärungspflicht zu stellen sind und in aller Regel ein deutlicher Hinweis auf eventuell bestehenden juristischen Beratungsbedarf genügt, sind Anwaltsmediatoren entsprechend dem – nach der Rechtsprechung beschränkt auch in der Mediation geltenden – anwaltlichen Berufsrecht verpflichtet, den streiterheblichen Sachverhalt zu würdigen und beide Parteien über ihre jeweiligen Rechte und Pflichten umfassend zu informieren.188 Allerdings sind auch nichtanwaltliche Mediatoren durch den Verweis auf externen Rechtsrat nicht von der ihnen zukommenden Pflicht zur Gewährleistung der eigenverantwortlichen Willensbildung der Parteien entbunden. Es genügt daher nicht, die Parteien formularmäßig auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rechtsrat zu verweisen und sich im Übrigen jeder weiteren Verantwortung für die tatsächliche Möglichkeit und Fähigkeit der Parteien, diesen Rechtsrat in Anspruch zu nehmen und für die eigenen Interessen einzustehen, zu entziehen. Als Garant für die Integrität des Verfahrens muss auch der nicht-anwaltliche Mediator alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Parteien ihre Einigungsentscheidung in Kenntnis aller relevanten rechtlichen Umstände des Falles treffen und sich der Tragweite ihrer Entscheidung auch tatsächlich bewusst sind. Daher kann es geboten sein, den Parteien unter Umständen die Bedeutung rechtlichen Rates noch einmal in eindrücklicher Weise vor Augen zu führen, sie im Fall offenkundiger Informationsdefizite auf konkreten Beratungsbedarf hinzuweisen oder aber, wie es Nr. 2.3.6. der Richtlinien der BAFM und Nr. 3.2. des europäischen Verhaltenskodex für die vertragsautonome Mediation vorsehen, die Mediation zu beenden, „falls dauerhaft keine Machtbalance zwischen den Konfliktpartner[n] … erreicht wird“189 oder
188
OLG Hamm v. 20.10.1998, 28 U 79/97, Rn. 41 (juris). Vgl. hierzu eingehend oben S. 357 ff. 189 Richtlinien der BAFM, Nr. 2.3.6. Vgl. hierzu oben S. 354, Fn. 148.
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 451
der Mediator „aufgrund der Umstände und seiner einschlägigen Urteilsfähigkeit die vereinbarte Regelung für nicht durchsetzbar oder für vorschriftswidrig hält“190. Die sich hieraus ergebenden Abgrenzungsfragen wollen wir im Folgenden näher konkretisieren. Für die Parteien geht es dabei um die Frage, in welchem Umfang die tatsächliche Wahrnehmung der ihnen zukommenden Privatautonomie durch das Verfahren selbst gewährleistet wird und sie vor Benachteiligungen geschützt sind. Für den Mediator geht es um die Frage der angemessenen Balance im Spannungsverhältnis zwischen dem von ihm geforderten Schutz der Verfahrensintegrität einschließlich der Gewährleistung eines auch objektiv gerechten Ergebnisses und seiner Verpflichtung zu parteilicher Neutralität. aa) Interventionspflicht gegenüber rechtlich vertretenen Parteien Sind beide Parteien rechtlich vertreten, ist das Informationsproblem weitgehend entschärft. Indem sie professionellen Rechtsrat in Anspruch nehmen, sind die Parteien regelmäßig über die wesentlichen rechtlichen Aspekte des Falles, ihre jeweiligen Rechte und Pflichten sowie über ihre Verfahrensalternativen im Fall eines Scheiterns der Mediation umfassend informiert. Da die Parteianwälte im Gegensatz zum Anwaltsmediator auch im Hinblick auf ihre Beratungspflicht in vollem Umfang dem Berufsrecht unterliegen, ist die den Parteien zustehende Beratungsleistung deutlich umfassender als die rechtlichen Hinweise, die sie im Zweifel von einem Anwaltsmediator erwarten dürfen. Darüber hinaus stellt die anwaltliche Vertretung regelmäßig ein effektives Mittel zur Lösung des Problems mangelnder self-agency und damit zum Ausgleich struktureller Machtungleichgewichte dar, so dass auch verhandlungsschwache oder geschäftlich unerfahrene Parteien in die Lage versetzt werden, für ihre Interessen effektiv einzustehen.191 Damit sind die Voraussetzungen für eine auch in tatsächlicher Hinsicht informierte und damit frei verantwortliche Einigungsentscheidung der Parteien regelmäßig gegeben, so dass der Mediator in seiner Funktion als Hüter der Privatautonomie der Parteien weitgehend entlastet ist. Problematisch ist indes die Frage, ob und ggf. inwieweit der Mediator zur Intervention berechtigt oder sogar verpflichtet ist, wenn die Parteianwälte ihrer Beratungspflicht nur unzureichend nachkommen und etwa wesentliche rechtliche Aspekte des Falles übersehen. Der Mediator befindet sich damit in einer ähnlichen Lage wie ein Richter, der eine angemessene Abwägungsentscheidung zwischen seiner materiellen Prozessleitungspflicht gem. § 139 ZPO und seiner Pflicht zu parteilicher Neutralität treffen muss. Die Rechtsprechung geht 190
Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, Nr. 3.2. Vgl. hierzu oben S. 356 Fn.
156. 191
Zur Problematik mangelnder self-agency vgl. eingehend oben S. 349 ff. sowie die Fallstudien oben S. 344 ff.
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für die richterliche Hinweispflicht nach § 139 ZPO davon aus, dass diese unvermindert auch dann fortbesteht, wenn die Parteien anwaltlich vertreten sind. Denn Zweck der Vorschrift ist der Schutz der tatsächlichen prozessualen Parität, die Herstellung der „verfassungsrechtlich gewährleistete(n) Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter“192. Irrtümer, Unterlassungen und sonstige Mängel seitens der Anwälte sollen nicht den Parteien zugerechnet werden, die Wahrung des materiellen Rechts soll nicht aufgrund offensichtlich nicht beabsichtigter Informationsdefizite scheitern. Diese Grundsätze lassen sich auch auf das Mediationsverfahren übertragen. Zwar liegt die Verantwortung zur umfassenden rechtlichen Information der Parteien bei den Anwälten und die Letztverantwortung für das vereinbarte Ergebnis bei den Parteien. Doch ist der Mediator in seiner verfahrensleitenden Funktion dafür verantwortlich, dass die Parteien ihre Entscheidung auch in tatsächlicher Hinsicht auf der Grundlage zutreffender Informationen und in der Kenntnis der materiellen Rechtslage treffen bzw. treffen können. Als Hüter der Privatautonomie der Parteien hat er sie vor vermeidbaren Informationsdefiziten zu schützen, auch wenn diese durch eine mangelhafte Beratung seitens der Parteianwälte verschuldet sind. Der Schutz, der den Parteien und ihrer freien Willensentschließung zukommt, kann nicht davon abhängen, ob die Anwälte ihrer Beratungspflicht auch tatsächlich nachkommen oder nicht. Die Mediation ist ein privatautonomes Verfahren. Die Entscheidung der Parteien ist nur insoweit legitimiert und damit auch nachhaltig und dauerhaft, als sie auch tatsächlich frei verantwortlich und auf der Grundlage zutreffender Kenntnisse und hinreichender Informationen getroffen wurde. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass eine Partei eine Vereinbarung abgeschlossen hat, in der sie irrtümlich auf wesentliche Rechtspositionen verzichtet, sich durch einen für sie einseitig nachteiligen und damit materiell ungerechten Vergleich belastet und sich auf diese Weise in ihren Interessen und Rechten selbst schädigt, so wird eine solche Vereinbarung nicht wesentlich zu einer dauerhaften und nachhaltigen Beilegung des Konfliktes beitragen. Sie wird im Gegenteil zu einer Quelle weiterer Streitigkeiten und kann so zu einer weiteren Eskalation des Konfliktes führen. Der Verweis auf mögliche Regressansprüche der Parteien gegenüber ihren Anwälten hilft hier nicht weiter, weil ein solcher Anspruch die für die dauerhafte Beilegung des Konfliktes notwendige Qualität des abgeschlossenen Mediationsvergleichs nicht berührt und die Möglichkeit eines Regressanspruchs der Parteien nur theoretisch bleibt, wenn die Parteien den Beratungsmangel
192 BVerfGE 52, 131, 156 = NJW 1979, 1925. Vgl. auch MünchKomm/Fritsche, ZPO (5. Aufl. 2016), Rn. 1 f.
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nicht erkennen. Dem Mediator ist es daher verwehrt, sich auf seine vermeintlich „neutrale“193 Position als Vermittler zurückzuziehen und die Parteien sehenden Auges eine Entscheidung auf unzutreffender Informationsgrundlage treffen zu lassen, denn es ist die ureigenste, aus Wesen und Natur des Mediationsverfahrens194 selbst begründete Aufgabe des Mediators, die Parteien bei ihrem Bemühen um eine eigenverantwortliche Einigung195 zu unterstützen. Sind sie hierzu nicht uneingeschränkt in der Lage, so muss er sie zu einer solchen Entscheidung befähigen, indem er sich – etwa durch einen rechtlichen Hinweis – um die Herstellung der Grundlagen einer informierten und eigenverantwortlichen Entscheidung bemüht. Haben die Anwälte daher wesentliche rechtliche Aspekte des Falles verkannt oder zentrale Rechtsansprüche der Parteien übersehen, so muss der Mediator, wie dies nach der Rechtsprechung zu § 139 ZPO in gleicher Weise für den Richter gilt, die Parteien und Anwälte auf einen entsprechenden Beratungsbedarf hinweisen, wenn der Beratungsbedarf offensichtlich und für den Mediator aufgrund seines Sachverstandes auch erkennbar ist. Eine Beratung der Parteien durch ihre Anwälte kann unter Umständen eine Unterbrechung oder eine Vertagung des Mediationsverfahrens auf einen späteren Termin erforderlich machen, um den Parteianwälten eine hinreichende Einarbeitung in die relevanten rechtlichen Fragen zu ermöglichen. Die mit einer solchen Unterbrechung verbundenen Nachteile für die weitere Verhandlung werden indes durch die Stärkung der Privatautonomie der Parteien und den Schutz der Integrität des Verfahrens, der durch eine umfassende Information der Parteien gewonnen wird (Empowerment), kompensiert, weil nur eine hinreichend informierte Einigungsentscheidung der Parteien die Gewähr für eine interessengerechte, faire und dauerhafte Beilegung des Konfliktes bietet.196
193 Der Verweis auf die Neutralitätspflicht des Mediators ist hier fehl am Platz, da eine Verletzung der Pflicht des Mediators, eine tatsächlich informierte und privatautonome Mitwirkung der Parteien an der Einigungsentscheidung zu gewährleisten, keineswegs mit Verweis auf seine Pflicht zu sachlicher und parteilicher Neutralität legitimiert werden kann. Im Gegenteil verlangt gerade die Neutralitätspflicht vom Mediator, im Fall eines strukturellen Machtungleichgewichts aktiv in das Verhandlungsgeschehen einzugreifen, um so tatsächliche Waffengleichheit zwischen den Parteien herzustellen. Tut er dies nicht, so steht er damit gleichsam im Lager der verhandlungsstärkeren Partei, indem er sehenden Auges eine Verletzung wesentlicher Verfahrensprinzipien der Mediation in Kauf nimmt. 194 Vgl. hierzu oben S. 124 ff. 195 Zur Bedeutung tatsächlicher Privatautonomie als zentralem Verfahrensgrundsatz der Mediation oben S. 336 ff. sowie unten S. 459 ff., 586 ff. 196 In diesem Sinne auch Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 82.
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bb) Interventionspflicht gegenüber rechtlich nicht vertretenen Parteien Gegenüber anwaltlich nicht vertretenen Parteien trifft den Mediator dagegen grundsätzlich eine umfassendere Interventionspflicht, weil die durch die Parteianwälte wahrgenommene Informations- und Vertretungsfunktion entfällt. Die Interventionsdichte des Mediators hängt dabei von dem erforderlichen Kompensationsbedarf der Parteien und damit etwa von den Machtverhältnissen zwischen den Verhandlungspartnern, den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie ihrer Fähigkeit ab, für ihre eigenen Interessen effektiv einzustehen. Weil sich das Maß an Intervention, das zur Herstellung tatsächlicher Privatautonomie der Parteien notwendig ist, aufgrund der individuellen Umstände jedes Konfliktes von Fall zu Fall unterscheidet, ist der Pflichtenkreis des Mediators auf der Grundlage einer Einzelfallbetrachtung zu konkretisieren. Den Maßstab bilden dabei die Grundsätze, die wir im Hinblick auf die Rolle des Mediators als 1) Hüter der Verfahrensintegrität und 2) Garant für die Verwirklichung der Verfahrensziele herausgearbeitet haben: Der Mediator muss sicherstellen, dass die Parteien ihre Einigungsentscheidung tatsächlich privatautonom und damit auch in vollem Umfang informiert treffen (Verfahrensintegrität)197 und die Verhandlung auf ein weitgehend interessengerechtes, faires, beziehungsförderndes, dauerhaftes, nachhaltiges, praktisch umsetzbares und kreativ-wertschöpfendes Verhandlungsergebnis gerichtet ist (Verfahrensziele)198. Sind die Parteien hierzu nicht selbständig in der Lage, muss er alle geeigneten, erforderlichen und ihm möglichen Maßnahmen ergreifen, um sie zu einer solchen Verhandlungsentscheidung zu befähigen. In dieser unterstützenden Befähigung der Parteien zur informierten und privatautonomen Beilegung ihres Konfliktes durch ein gutes Verhandlungsergebnis liegt der Kern der Aufgabe des Mediators und durch sie ist sein Handeln überhaupt erst legitimiert. Wie die vom Mediator zu ergreifenden Maßnahmen im Hinblick auf seine Hinweis-, Informations- und Interventionspflicht zu konkretisieren sind, wollen wir im Folgenden am Beispiel typischer Fallkonstellationen ungleicher Verhandlungsmacht der Parteien untersuchen und auf dieser Grundlage Richtlinien für das Interventionsverhalten des Mediators entwickeln. (1) Strukturelles Machtungleichgewicht Ein ausgleichendes Eingreifen des Mediators ist vor allem in Fällen eines strukturellen Machtungleichgewichts zwischen den Parteien indiziert. Konflikte zwischen Parteien „strukturell ungleicher Verhandlungsmacht“ bzw.
197 Zum Prinzip der strukturellen Integrität eingehend oben S. 116 f. sowie unten S. 546 ff. 198 Zu den Funktionen des Mediationsverfahrens, in denen die Verfahrensziele zum Ausdruck kommen eingehend unten S. 558 ff.
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„vertraglicher Imparität“ bilden die klassische Fallgruppe, für die im verhandlungstheoretischen Schrifttum wie auch im Privatrecht die Notwendigkeit einer prozeduralen oder materialen Korrektur angenommen wird. Für den Mediator stellt sich damit zunächst die analytische Aufgabe, strukturelle Machtungleichgewichte zuverlässig zu erkennen, um sein verhandlungsleitendes Handeln entsprechend auszurichten. Dies setzt ein Verständnis von Verhandlungsmacht und den sie bedingenden Faktoren voraus. Der Begriff der Verhandlungsmacht beschreibt die Fähigkeit einer Partei, auf die gemeinsame Verhandlungsentscheidung effektiv Einfluss zu nehmen und so die eigenen Interessen wirksam zu vertreten (self-agency).199 Sie wird durch eine Reihe von Faktoren bestimmt, die sich regelmäßig im Verhandlungsergebnis niederschlagen, dies jedoch in der konkreten Verhandlungssituation nicht zwangsläufig müssen. Verhandlungsmacht kann aus drei unterschiedlichen Quellen erwachsen: Den sachlichen Eigenschaften des Konfliktes, den personalen Eigenschaften der Parteien und ihrer Beziehung zueinander.200
199
So auch Fisher, 27 Am. Behavioral Sci. 149, 150 (1987), der „’real’ negotiating power“ definiert als „ability to influence the decisions of others assuming they know the truth.” und damit von der – selbstverständlich abzulehnenden – bloßen Täuschung über Verhandlungsmacht abgrenzt. Im Ergebnis ebenso für diese weite Definition: Mayer, 16 M.Q. 75, 78 (1987): „Power can be considered to include a variety of approaches to exerting influence over others and may stern from a number of different sources.” Vgl. auch Breidenbach, Mediation (1995), S. 103, wonach mit den Elementen der Verhandlungsmacht „ein Potential beschrieben (wird), das sich nicht notwendig im Ergebnis niederschlagen muss, das gleichwohl aber Plausibilität und eine Erfahrungsbasis für sich in Anspruch nimmt.“ Zur Schwierigkeit der Definition und des Verständnisses von Verhandlungsmacht auch Schelling, The Strategy of Conflict (1980), S. 22 ff. 200 Zur Klassifizierung der Quellen von Verhandlungsmacht sind eine Reihe weiterer Typologien entwickelt worden. Während Breidenbach, Mediation (1995), S. 104 ff. zwischen 1. Rechtslage, 2. Einstellung zum Risiko, 3. Transaktionskosten, 4. Öffentlichkeit und 5. strategisch-taktischen Fähigkeiten unterscheidet, identifiziert Fisher, 27 Am. Behavioral Sci. 149, 153 (1987) sechs Elemente der Verhandlungsmacht: „(1) The power of skill and knowledge, (2) The power of a good relationship, (3) The power of a good alternative to negotiating, (4) The power of an elegant solution, (5) The power of legitimacy, (6) The power of commitment”. Ähnlich auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 97 ff., 106, 177 ff. Mayer, 16 M.Q. 75 (1987) differenziert dagegen zwischen zehn Kategorien möglicher Quellen von Verhandlungsmacht: 1. formal authority, 2. expert/information power, 3. associational power (or referent power), 4. resource power, 5. procedural power, 6. sanction power, 7. nuisance power, 8. habitual power, 9. moral power, 10. personal power. Vgl. auch Adler/Silverstein, 5 Harv. Negot. L. Rev. 1, 22 ff. (2000), die zwischen personal power, organizational power, information power und moral power unterscheiden.Vgl. auch Lax/Sebenius, The Manager as Negotiator (1986), S. 255 ff.; Adler/Silverstein, 5 Harv. Negot. L. Rev. 1, 22 (2000) mwN.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 28, 67 ff. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 237, 253, 284 f.
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I. Konflikt 1. Nichteinigungsalternativen 2. Interessen beider Parteien (z.B. Reputation, Öffentlichkeit) 3. Kreative Einigungsoptionen 4. Objektive Kriterien (z.B. materielles Recht, Moral) 5. Gerechtigkeit, Marktpreis) II. Partei 1. Sozialer Status 2. Kognitive und argumentative Fähigkeiten 3. Information und Wissen 4. Risiko- und Zeittoleranz 5. Beziehungen, Allianzen 6. Einbindung in eine Organisation 7. Finanzielle Ressourcen 8. Eigener Handlungsspielraum (commitment) III. Beziehung 1. Einseitige Abhängigkeit (z.B. Mieter-Vermieter) 2. Strukturelle Imparität (z.B. Verbraucher-Unternehmer, EinzelpersonOrganisation) 3. Kommunikation und Kooperation Tabelle 5: Quellen von Verhandlungsmacht Bei diesen Elementen handelt es sich jedoch keineswegs um notwendige oder auch nur hinreichende Bedingungen zur Begründung von Verhandlungsmacht. Verhandlungsmacht als Fähigkeit zu effektiver self-agency im spezifischen Kontext von Verhandlungen ist nicht zwangsläufig abhängig von dem Maß der zur Verfügung stehenden materiellen oder immateriellen Ressourcen (geschäftliche Fähigkeiten, Erfahrung, Wissen, finanzielle Mittel etc.) und damit von der Macht im herkömmlichen Sinne, über die eine Partei in anderem Kontext verfügt.201 Ein bestimmtes Maß an konventioneller Macht führt daher nicht notwendigerweise zu einem besseren Verhandlungsergebnis für die „mächtigere“ Partei. Sie kann in der spezifischen Verhandlungssituation leerlaufen oder sich sogar als kontraproduktiv erweisen, so dass sich der „mächtigere“ Verhandlungspartner letztlich in einer schwächeren Verhandlungsposition befinden kann als die vermeintlich „ärmere“ Partei.202
201 Vgl. Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 178 („‘Resources‘ are not the same as ‚negotiation power‘“) und Adler/Silverstein, 5 Harv. Negot. L. Rev. 1, 7 (2000): „ … greater power, by itself, does not necessarily produce more favorable agreements for the powerful.” 202 Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür liefert Breidenbach/Henssler, Mediation für Juristen (1997), S. 103. Das Fallbeispiel macht allerdings auch den atypischen Charakter
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Allerdings werden derartige Fallkonstellationen weitgehend auf Ausnahmen beschränkt sein. Darüber hinaus sind sie häufig bereits das Ergebnis besonderer Maßnahmen zur Neutralisierung ungleicher Verhandlungsmacht, etwa im Rahmen interessenorientierter Verhandlung203, finanzieller Ausgleichsleistungen204 oder des staatlichen Rechtsschutzes.205 Für die ganz überwiegende Mehrheit der Verhandlungen muss daher regelmäßig davon ausgegangen werden, dass die Verfügbarkeit materieller und immaterieller Ressourcen, wie etwa finanzielle Mittel sowie persönliche Fähigkeiten, Informationen, Erfahrungen und das Verhandlungsgeschick der Parteien, das Verhandlungsergebnis erheblich beeinflussen. Dieser Zusammenhang ist vor allem für den sozialen Status, die Information der Parteien über die ihnen zustehenden Rechte und die Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen auch empirisch nachgewiesen worden.206
derartiger kontraintuitiver Kausalverläufe deutlich. Vgl. hierzu auch, indes ebenfalls mit atypischen Beispielen, Schelling, The Strategy of Conflict (1980), S. 22: „’Bargaining power’, ‘bargaining strength’, ‘bargaining skill’ suggest that the advantage goes to the powerful, the strong, or the skillful. It does, of course, if those qualities are defined to mean only that negotiations are won by those who win. But, if the terms imply that it is an advantage to be more intelligent or more skilled in debate, or to have more financial resources, more physical strength, more military potency, or more ability to withstand losses, then the term does a disservice. These qualities are by no means universal advantages in bargaining situations; they often have a contrary value.“ 203 Durch interessenorientierte Verhandlung können Unterschiede etwa im Zugang zu materiellen Ressourcen durch die Stärkung alternativer Quellen der Verhandlungsmacht (Analyse der Interessen, Generierung von Nichteinigungsalternativen, Entwicklung kreativer Einigungsoptionen, Berufung auf objektive Kriterien) ausgeglichen werden. Vgl. hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 178 („‘Resources‘ are not the same as ‚negotiation power‘“). 204 Ein klassisches Beispiel hierfür bildet die Prozesskostenhilfe nach §§ 114 ff. ZPO, die den Vorteil der finanziell stärkeren Partei und damit ihre insoweit stärkere Verhandlungsmacht durch gleichen tatsächlichen Zugang beider Parteien zu den Gerichten (Access to Justice) ausgleicht. Die Klage wird dadurch auch für die finanziell schwächere Partei zu einer realistischen Nichteinigungsalternative. 205 So weist etwa Gessner, Recht und Konflikt (1976), S. 192 ff. auf die Bedeutung des Rechts und rechtlicher Verfahren zur Neutralisierung von Macht hin. 206 Vgl. hierzu die Fallstudien oben S. 344 und vor allem die Anmerkungen des Civil Court des Staates New York, 154 Misc.2d 301, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992): „Based on allocutions of approximately 5,000 such cases in the past year, this court's conclusion is that the stipulations are generally signed without knowledge of possible defenses and out of fear of eviction or the sense that there is no alternative … “. Zur Situation am New York Housing Court näher Lazerson, in: Abel (Hrsg.), The Politics of Informal Justice (1982), S. 119 und am Boston Housing Court Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85 (1996).
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Die Eigenschaften des Konflikts, der Parteien und ihrer Beziehung zueinander als Quellen von Verhandlungsmacht sind für jeden Konflikt jeweils einzigartig und können sich aufgrund ihres dynamischen Charakters im Verlauf der Mediation auch verändern. Die den Parteien jeweils zukommende Verhandlungsmacht ist daher regelmäßig nicht kongruent. Stattdessen sind „Machtungleichgewichte … wenn auch in unterschiedlicher Stärke, Merkmal der meisten Konflikte.“207 Nicht jede ungleiche Verteilung von Verhandlungsmacht bedarf indes des korrigierenden Ausgleichs durch den Mediator. Eine Intervention des Mediators ist nur dann angezeigt, aber auch geboten, wenn die ungleiche Verteilung von Verhandlungsmacht dazu führt, dass die betroffene Partei nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist, ihre Interessen effektiv wahrzunehmen (mangelnde self-agency). Maßstab ist damit die effektive Gewährleistung tatsächlicher Privatautonomie. Eine Gefährdung der Privatautonomie wird regelmäßig bei Defiziten im Hinblick auf die personalen Eigenschaften der Parteien und ihre Beziehung zueinander anzunehmen sein. In der Rechtspraxis haben sich hierfür typische Fallgruppen struktureller Verhandlungsimparität herausgebildet, die ein für die Wahrnehmung der Privatautonomie relevantes Machtungleichgewicht indizieren: 1. Einseitige Abhängigkeit (etwa zwischen Mieter und Vermieter)208, 2. strukturelle Unterlegenheit (etwa zwischen Unternehmer und Verbraucher)209, 3. sozialer Status und finanzielle Ressourcen210. Diese drei klassischen Fallgruppen struktureller Machtungleichgewichte sind im Privatrecht zugleich Gegenstand spezieller gesetzlicher Regelungen zum besonderen Schutz der betroffenen Personengruppen. Entsprechende Vorschriften finden sich im Mietrecht (§§ 557 ff., 566 ff., 573 ff. BGB), im Verbraucherschutzrecht (§§ 312 ff., 474 ff., 481 ff., 491 ff., 505 BGB), im Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§§ 305 ff. BGB) sowie im Hinblick auf soziale Leistungsansprüche etwa im Rahmen der Prozesskostenhilfe (§§ 114 ff. ZPO). Aufgrund der durch die strukturelle Ungleichgewichtslage bedingten Risiken für die Privatautonomie211 der Parteien ist der Mediator in diesen Fällen in 207
Gessner, Recht und Konflikt (1976), S. 192. Vgl. zur Schutzbedürftigkeit des „sozial schwächeren Mieter(s)“ Staudinger/Emmerich, Eckpfeiler (2014), O. Rn. 3. 209 Eingehend zum „Konzept des strukturell unterlegenen Verbrauchers“ vgl. MünchKomm/Micklitz/Purnhagen, BGB (7. Aufl. 2015), Vor §§ 13, 14 Rn. 68 ff. 210 Vgl. nur Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1076 (1984): „In these cases, the distribution of financial resources, or the ability of one party to pass along its costs, will invariably infect the bargaining process, and the settlement will be at odds with a conception of justice that seeks to make the wealth of the parties irrelevant … First, the poorer party may be less able to amass and analyze the information needed to predict the outcome of the litigation, and thus be disadvantaged in the bargaining process.“ 211 Vgl. zu den Grenzen privatautonomen Handelns und dem Problem mangelnder selfagency die Fallstudien unten S. 344 ff. 208
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besonderer Weise zum Ausgleich bestehender Imparitäten berufen, wie dies z.B. auch die Richtlinien der berufsständischen Organisationen und der Europäische Verhaltenskodex für Mediatoren vorsehen. Um eine Gefährdung seiner parteilichen Neutralität und Eingriffe in die Verhandlungsdynamik zu minimieren, sollte der Mediator dabei von mehreren zur Verfügung stehenden, in gleicher Weise geeigneten Interventionsmitteln das Instrument der geringsten Intensität bei gleicher Wirksamkeit wählen (Erforderlichkeit). Im Kontinuum verfügbarer Handlungsoptionen kann er sich jeglicher geeigneter Maßnahmen bedienen: Hierzu gehören Hinweise, der Verweis auf Rechtsanwälte, das unmittelbare Informieren der Parteien, die verfahrensgestaltenden Mittel der Einzelgespräche (caucus), der Unterbrechung der Mediation zur Prüfung (Bedenkpause), der Inhaltskontrolle sowie der Möglichkeit der Verfahrensbeendigung als ultima ratio. Die Wahl der einzelnen Maßnahmen hängt dabei von Art und Umfang des Machtungleichgewichtes ab. Während Informationsdefizite regelmäßig durch allgemeine oder konkrete Hinweise auf bestehenden rechtlichen Beratungsbedarf, den unmittelbaren Verweis auf die Parteianwälte oder eine rechtliche Bewertung des Sachverhaltes durch den Anwaltsmediator ausgeglichen werden können, kommen für die Neutralisierung struktureller Machtimparitäten, die unmittelbar auf die freie Willensentschließung gerichtet sind, vor allem verfahrensgestaltende Maßnahmen in Betracht (caucus, Unterbrechungen, Bedenkzeit, Vertretung durch Parteianwälte). Die Interventionsdichte des Mediators richtet sich dabei nach dem Umfang des zu kompensierenden Machtungleichgewichts, der Fähigkeit der Parteien, bestehende Imparitäten selbst zu beheben sowie den tatsächlich bestehenden Voraussetzungen privatautonomen Handelns der Parteien. Je weniger die Parteien zu einer informierten und damit tatsächlich eigenverantwortlichen Entscheidung in der Lage sind, umso mehr muss der Mediator auf die Herstellung tatsächlicher Privatautonomie hinwirken. Den Maßstab bildet dabei nicht die – im Übrigen wohl stets vorliegende – lediglich theoretische Möglichkeit privatautonomen Handelns, sondern die tatsächliche Fähigkeit der Parteien, eine umfassend informierte Einigungsentscheidung zu treffen. Der Mediator muss sowohl die besonderen Risiken berücksichtigen, denen die Parteien in der Ausübung ihrer Privatautonomie ausgesetzt sind, als auch die konkreten Fähigkeiten der Parteien in den Blick nehmen, im jeweiligen Einzelfall für ihre Interessen wirksam einzustehen. Ziel ist nicht eine Einigung um jeden Preis als „erfolgreicher“ Abschluss des Mediationsverfahrens212, sondern vielmehr eine hinreichend informierte, in tatsächlicher Hinsicht freie und damit vollumfänglich eigenverantwortliche Ent-
212 Zum Problem des unzulässigen Einigungsdrucks (settlement pressure) Jennings, 6 Ohio St. J. on Disp. Resol. 313 (1991); Lande, 50 UCLA L. Rev. 69, 86 ff. (2003); Bone, 28 Cardozo L. Rev. 1961, 2011 (2007).
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scheidung der Parteien. Daher ist es dem Mediator verwehrt, sich seiner Aufgabe als Wächter der Verfahrensintegrität, als Hüter der Privatautonomie und als Garant für ein gutes und damit objektiv angemessenes, dauerhaftes und nachhaltiges Ergebnis dadurch zu entziehen, dass er die Parteien stets auf die Möglichkeit verweist, sich über die entscheidungserheblichen Aspekte des Konfliktes selbst zu informieren. Ein solcher Verweis ist zur Gewährleistung tatsächlicher Privatautonomie der Parteien nur dann geeignet, wenn diese zu einer eigenverantwortlichen Information oder zur Inanspruchnahme rechtlichen Rates auch tatsächlich in der Lage sind. Hiervon kann insbesondere bei Defiziten, die in der Person der Partei selbst begründet sind – etwa im Hinblick auf den sozialen Status, die Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen oder die geschäftliche Erfahrung – nicht immer ausgegangen werden. So werden etwa Parteien, die sich aufgrund ihres sozialen Status nicht zur effektiven Vertretung ihrer eigenen Interessen legitimiert213 oder aufgrund ihrer beschränkten finanziellen Mittel hierzu nicht in der Lage sehen214, von dem Angebot rechtlicher Beratung regelmäßig kaum Gebrauch machen, auch wenn hierzu theoretisch die Möglichkeit besteht. Eine Rentnerin, die in ihrem Leben noch keinen Rechtsbeistand in Anspruch genommen hat und deren finanzielle Ressourcen begrenzt sind, wird sich realistischerweise eher auf eine Vereinbarung durch gutes Zureden einlassen, als mit Hilfe eines Rechtsanwaltes für die Verwirklichung ihrer Interessen zu kämpfen. Dass der bloße Verweis auf die Inanspruchnahme von Rechtsrat in derartigen Situationen nicht weiterführt,
213
Auf diesen Zusammenhang hat Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85, 111 (1996) überzeugend hingewiesen: „In the Boston Housing Court, tenant negotiators do not exercise self-agency effectively. Both internal and external obstacles produce this result. Even without supporting data, it seems a likely hypothesis that this phenomenon occurs generally when disadvantaged people negotiate in formal settings. This may result from the frequent denial of their agentic legitimacy by more privileged people. … To my ears, Mr. Jackson answered that it is an integral part of being poor that one is not self-agentic.” Der Mangel an selfagency manifestiert sich dabei im sanction effect, im subversion effect und im silencing effect. Vgl. hierzu auch den empirischen Fall bei Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85, 98 (1996): „As a negotiator, Arnold had the capacity to make a persuasive case for himself. In fact, he had convinced an entire hallway of people that the landlord owed him something. He clearly believed that his interests were legitimate, and his soliloquy made it plain that legal justifications were available to defend his non-payment of rent. Yet Arnold lacked a belief in the legitimacy of pursuing his interests during the negotiation. The absence of the second element of self-agency undermined the negotiation, failed to ensure the protection of his legal rights, and prevented his participation in constructing a durable outcome.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 214 Die abschreckende Wirkung möglicher Zusatzkosten durch das Einholen rechtlichen Rates ist insbesondere deshalb für die Praxis von erheblicher Bedeutung, weil die Beratungskosten durch Parteianwälte in einem außergerichtlichen Mediationsverfahren im Rahmen der Prozesskostenhilfe nach §§ 114 ff. regelmäßig nicht erstattet werden.
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zeigt anschaulich der Fall Woodruff Corp. v. Lacrete: Hier bestand der Vermieter, der rechtswidrig mehr als das Doppelte der rechtlich zulässigen Miete verlangte, auf der Vollstreckung der Räumung wegen Nichterfüllung des in diesem Sinne abgeschlossenen Vergleiches, mit der Begründung, dass der Mieterin ja die Möglichkeit freigestanden hatte, einen Anwalt beizuziehen. Das Gericht erklärte den Vergleich dennoch für nichtig, und zwar gerade mit der Begründung, dass die Partei in der Vergleichsverhandlung rechtlich nicht vertreten gewesen war und dadurch einen unangemessen einseitigen und damit unbilligen Vergleich abgeschlossen hatte: „A party's lack of representation at the time of entry into the stipulation is a significant factor to be considered in determining whether good cause exists to vacate the stipulation … While lack of representation is not sufficient to invalidate a stipulation, good cause for vacatur exists where the lack of representation has resulted in a stipulation whose terms are unduly one-sided or unfair. Unfairness will be found where a pro se tenant has failed to assert a substantial defense to the landlord's claims in the proceeding.”215 Dabei machte das den Vergleich überprüfende Gericht deutlich, dass die Mieterin nicht nur in Unkenntnis ihrer Rechte und Gegenansprüche gehandelt hatte, sondern ihr darüber hinaus auch der Nutzen rechtlichen Beistands nicht hinreichend klar gewesen war: „Moreover, at the time of the allocution, respondent not only lacked knowledge of her defenses but was apparently also unaware even of the possible usefulness of legal representation. The record is devoid of any evidence that respondent made an informed or knowing choice to proceed without counsel. Quite the opposite appears from the record of the allocution and the factual showing made in respondent's motion papers as to the circumstances under which respondent attempted to defend this proceeding pro se.”216 Dass die mangelnde Inanspruchnahme rechtlichen Beistands eine Realität darstellt, die in der Mediation in besonderer Weise zu berücksichtigen ist, hat das Gericht in einem äußerst ungewöhnlichen Schritt mit Verweis auf die empirischen Erfahrungen mit Vergleichsverhandlungen in seinem Jurisdiktionsbereich deutlich gemacht. Angesichts der massiven Häufung objektiv unbilliger und rechtswidriger Vergleiche, die aus Verhandlungen und Mediationen mit strukturell schwächeren und anwaltlich nicht vertretenen Parteien hervorgegangen sind, sah sich das Gericht dazu veranlasst, die „Mediationspraxis“ am New York Housing Court einer kritischen Überprüfung zu unterziehen und auf das drängende Problem mangelnder Vertretung sozial benachteiligter Parteien hinzuweisen. Die massive Zunahme rechtswidriger Vergleiche in Fällen struktureller Machtungleichgewichte hatte ein Ausmaß angenommen, vor dem 215 154 Misc.2d 301, 302, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992). Hervorhebungen durch den Verfasser. 216 154 Misc.2d 301, 306, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992). Hervorhebungen durch den Verfasser.
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die mit den Fällen befassten Gerichte aus rechtspolitischer Sicht nicht mehr die Augen verschließen konnten. Nach den Feststellungen des Gerichts, die allein auf der Grundlage von 5.000 vergleichbaren, allein in einem Jahr angefallenen Fällen getroffen wurden, werden Vereinbarungen grundsätzlich in Unkenntnis zustehender Rechte und Einwendungen, ohne rechtlichen Beistand und in der Angst vor Räumung abgeschlossen: „ … This court's conclusion is that the stipulations are generally signed without knowledge of possible defenses and out of fear of eviction or the sense that there is no alternative. The overwhelming majority of unrepresented tenants lack even basic understanding about their legal rights and the defenses which they may have to the petitioners' claims for rent. … Virtually none understand the differing legal consequences of the various enforcement remedies for which the stipulations provide.“217 Während die Vermieter in 8090 % aller Fälle anwaltlich vertreten waren, war dies nur bei 10-15 % der Mieter der Fall. Die überwältigende Mehrheit der anwaltlich nicht vertretenen Mieter gehörte armen Bevölkerungsschichten, ethnischen Minderheiten oder dem farbigen Teil der Bevölkerung an. Die Ungleichheit im Zugang zu anwaltlicher Vertretung hatte dabei in erheblichem Umfang die Zwangsräumung der betroffenen Parteien zur Folge. Dies ist umso problematischer, als eine Räumung bei sozial benachteiligen Parteien die Gefahr der Obdachlosigkeit erheblich erhöht.218 Die wesentliche Ursache für die mangelnde Inanspruchnahme rechtlichen Beistands vermutet das Gericht nicht nur in der Unkenntnis der Parteien über den Inhalt der ihnen zustehenden Rechte, sondern vor allem in der Unkenntnis darüber, dass ihnen überhaupt Rechte zustehen könnten: „Startlingly, many tenants appear to be unaware not only of what their defenses are but of the fact that they may have defenses. Perhaps for this reason, tenants frequently do not see the need to seek counsel even when given the opportunity to do so.”219 Ist der Hinweis auf das Einholen von Rechtsrat aufgrund bestehender Defizite aufseiten der Parteien nicht geeignet, eine hinreichend informierte Entscheidung zu gewährleisten, muss der Mediator weitere Maßnahmen ergreifen, 217 154 Misc.2d 301, 307, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992). Hervorhebungen durch den Verfasser. 218 154 Misc.2d 301, 304 f., 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992): „Studies have shown that landlords are represented in approximately 80% to 90% of summary eviction proceedings, while tenants are unrepresented in all but 10% to 15% of such proceedings; that the overwhelming majority of unrepresented tenants are poor persons, most of whom are members of racial and ethnic minorities; and that this inequality in access to representation results in eviction in a significant number of cases. A 1986 study found, for example, that over 25% of the City's shelter population cite eviction as the cause of their homelessness. … Deny a poor family counsel in an eviction proceeding and it greatly increases the likelihood that the family will become homeless ... .” 219 154 Misc.2d 301, 308, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992).
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um die Privatautonomie der Parteien effektiv zu schützen. Eine besondere Verantwortung trifft ihn insbesondere dann, wenn einer Partei besondere Schutzrechte zustehen, die gerade vor den mit einem Machtungleichgewicht verbundenen Folgen schützen sollen. Besteht die Gefahr, dass die verhandlungsschwächere Partei einer Vereinbarung zustimmt, mit der sie auf ihr zustehende grundlegende Rechte oder zentrale Rechtspositionen verzichtet – wie dies in den von uns untersuchten Sachverhalten im Hinblick auf die freiwillige Zahlung deutlich überhöhter Miete oder der freiwilligen Wohnungsräumung der Fall ist –, so muss der Mediator sicherstellen, dass die Parteien positiv Kenntnis der ihnen zustehenden Rechte erhalten, diese verstehen und sich der Tragweite einer Zustimmung zu einem Vergleich vollumfänglich bewusst sind. Das kann etwa dadurch geschehen, dass der Mediator den Parteien die Bedeutung rechtlichen Rates mit dem Hinweis auf einen möglichen Rechtsverlust noch einmal in besonders eindringlicher Weise nahelegt, sie auf das Bestehen konkreter Ansprüche hinweist oder bei der Mediation durch einen Anwaltsmediator beide Parteien selbst umfassend über die Rechtslage und die ihnen gegenseitig zustehenden Rechte aufklärt. Kann dennoch keine Balance zwischen den Parteien hergestellt werden, so bleibt dem Mediator als ultima ratio die Möglichkeit, die Mediation ohne Abschluss einer Vereinbarung zu beenden, wie dies etwa Nr. 3.2 des europäischen Verhaltenskodex für Mediatoren und Nr. 2.3.6. der Richtlinien der BAFM vorsehen. (2) Informationsasymmetrie Machtungleichgewichte beruhen häufig auf einer ungleichen Verteilung der entscheidungsrelevanten Informationen. Dies ist im Rahmen des Mediationsverfahrens in mehrfacher Hinsicht problematisch. 1. Folgen von Informationsasymmetrien. Zum einen führen Informationsasymmetrien zu einer erheblichen Blockade kooperativen Handelns und verhindern damit regelmäßig die Entwicklung beiderseits interessengerechter Vereinbarungen (win-win-Lösungen)220. Da das in jedem Konflikt verfügbare Potenzial zur gemeinsamen Wertschöpfung und zur Verwirklichung pareto-optimaler Kooperationsgewinne regelmäßig nur unter den Bedingungen eines umfassenden Informationsaustauschs realisiert werden kann, führen Störungen der Kommunikation und Informationsasymmetrien zu suboptimalen und damit ineffizienten Verhandlungsergebnissen221. Zum anderen ist einer Partei, die
220 Hierzu eingehend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff. (invent options for mutual gain) sowie Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim. Vgl. auch BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 221 Zur Ineffektivität intuitiven Verhandelns instruktiv Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 3 ff.; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution
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nicht über alle entscheidungserheblichen Informationen verfügt, eine informierte und damit tatsächlich eigenverantwortliche Einigungsentscheidung kaum möglich. Dieses Defizit an tatsächlich verfügbarer Privatautonomie kann zu unausgewogenen und objektiv unbilligen Vereinbarungen führen, welche die mangelhaft informierte Partei unangemessen benachteiligen und in erheblichem Widerspruch zu den Normen und Wertungen des materiellen Rechts stehen. Derartige einseitig vorteilhafte Vereinbarungen bilden regelmäßig keine geeignete Grundlage für eine ursächliche, nachhaltige und dauerhafte Beilegung des Konfliktes. Deutlich wird dies insbesondere dann, wenn das einseitige Informationsdefizit nachträglich behoben wird und die übervorteilte Partei von den ihr eigentlich zustehenden Rechten und ihr vorenthaltenen Sachverhaltsinformationen Kenntnis erlangt. Wird die objektive Benachteiligung der mangelhaft informierten Partei durch eine Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit offensichtlich, so ist nicht nur die Umsetzung der benachteiligenden Vereinbarung durch die übervorteilte Partei zu Recht infrage gestellt, sondern es droht darüber hinaus auch eine Fortsetzung und Eskalation des Konfliktes. Um derartige Beeinträchtigungen der Privatautonomie, unbillige und zugleich ineffiziente Verhandlungsergebnisse sowie eine Schädigung der Parteien infolge ungleicher Verteilung entscheidungsrelevanter Informationen zu vermeiden, ist der Mediator grundsätzlich zum Ausgleich von Informationsasymmetrien berufen. 2. Eingriffsschwelle. Allerdings bedarf nicht jede asymmetrische Verteilung rechtlicher oder sachlicher Informationen des vermittelnden Ausgleichs durch den Mediator. In bestimmtem Umfang ist ein Informationsgefälle zwischen den Parteien unvermeidbar und notwendiger Bestandteil einer jeden Verhandlung. Nur selten werden beide Parteien gleichermaßen über sich entsprechende Informationen verfügen. Im Hinblick auf die Eingriffsschwelle gelten daher die Grundsätze, die wir bereits für die Intervention des Mediators zum Ausgleich von Machtungleichgewichten im Allgemeinen entwickelt haben: Interventionen des Mediators sind nur insoweit gerechtfertigt, aber auch geboten, soweit sie erforderlich sind, um die Parteien zu einer informierten und damit auch tatsächlich eigenverantwortlichen Entscheidung zu befähigen. Ein vom Mediator auszugleichendes Informationsdefizit besteht immer dann, wenn die Parteien nicht über die berechtigten entscheidungserheblichen Informationen verfügen und dieser Mangel von den Parteien nicht ohne weiteres autonom behoben werden kann. Dabei ist zwischen rechtlichen und sachlichen Informationen zu unterscheiden. 3. Rechtliche Informationen. Über rechtliche Informationen, insbesondere die ihr zustehenden Rechtsansprüche und Einwendungen, darf und muss jede (2005), S. 279, 288 ff. sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff.
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Partei – freilich soweit diese für die Beilegung des Konfliktes relevant sind – in vollem Umfang verfügen, um die Konsequenzen ihrer Entscheidung sowie mögliche Nichteinigungsalternativen zuverlässig beurteilen zu können. Das notwendige Maß der erforderlichen Informationen hängt dabei von der Relevanz rechtlicher Aspekte für den konkreten Konflikt, die Art und Intensität der Intervention des Mediators von der tatsächlichen Kenntnis der Parteien und ihrer Fähigkeit ab, sich die notwendigen Informationen ohne weiteres zu verschaffen. Allgemeinverbindliche Richtlinien sind hierbei ebenso problematisch wie eine ausdifferenzierte Kasuistik. Der Mediator sollte sich bei der Bestimmung des Maßes seines ausgleichenden Handelns indes stets bewusst sein, dass ihm als Wächter der Privatautonomie222, als Hüter der Verfahrensintegrität223 und als Garant für ein gutes224 und damit ausgewogenes und faires Ergebnis die Aufgabe zukommt, dafür Sorge zu tragen, dass die Parteien ihre Entscheidung auf einer zutreffenden und ausreichenden Informationsgrundlage treffen. Eine besondere Informationspflicht trifft den Mediator vor allem dann, wenn Schutzrechte, Rechtsansprüche und besonders geschützte Rechtspositionen der mangelhaft informierten Partei auf dem Spiel stehen und sie aufgrund eines strukturellen Machtungleichgewichts, ihres sozialen Status oder begrenzter finanzieller Ressourcen nur eingeschränkt in der Lage ist, die notwendigen entscheidungserheblichen Informationen zu erlangen und sachgerecht zu verarbeiten. 4. Sachliche Informationen. Im Hinblick auf sachliche Informationen sind die Anforderungen an eine Intervention deutlich höher. Hier ist ein Ausgleich von Informationsdefiziten nur insoweit geboten, als der mangelhaft unterrichteten Partei ein Informationsanspruch zusteht oder ein Verschweigen verhandlungsrelevanter Information rechtswidrig oder strafbar wäre. Handelt es sich dagegen um Informationen, deren Freigabe nicht rechtlich geboten, sondern lediglich zur Entwicklung wertschöpfender, beiderseits interessengerechter Vereinbarungen sinnvoll wäre, ist der Mediator nicht zu einem ausgleichenden Handeln verpflichtet. Im Interesse wertschöpfender Einigungsergebnisse und einer nachhaltigen Beilegung des Konfliktes sollte sich der Mediator allerdings mit Nachdruck um einen möglichst umfassenden Informationsaustausch und die Schaffung des hierfür notwendigen gegenseitigen Vertrauens bemühen. Hierzu kann er die Parteien über die Bedeutung eines möglichst ungehinderten
222 Zur Bedeutung der Privatautonomie als Grundsatz des Mediationsverfahrens vgl. oben S. 336 ff. sowie unten S. 459 ff., 586 ff. 223 Zum Prinzip der strukturellen Integrität vgl. eingehend oben S. 116 f. sowie unten S. 546 ff. 224 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses vgl. oben S. 160 ff., unten S. 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff.
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Informationsflusses für die Entwicklung kreativer Einigungsoptionen aufklären, sie gegebenenfalls in Einzelgesprächen zu einer Offenbarung bislang zurückgehaltener Informationen motivieren und sich im Übrigen durch den Einsatz geeigneter Kommunikationstechniken (aktives Zuhören, Reframing, Reflecting, Paraphrasieren, Fragentechniken) um einen möglichst umfassenden Informationsaustausch zwischen den Parteien bemühen. Dabei muss er freilich stets die berechtigten Interessen der Parteien am Schutz vertraulicher Informationen wahren und ihre informierte Entscheidung respektieren, entscheidungserhebliche Sachinformationen nicht zu offenbaren. In keinem Fall darf er die Parteien zu einer nicht rechtlich gebotenen Offenlegung bislang zurückgehaltener Informationen drängen oder die freie Willensentschließung der Parteien durch unzulässigen Druck beeinträchtigen.225 5. Vertraulichkeitspflicht. Der Mediator ist daher bei seinen Bemühungen um einen angemessenen Ausgleich entscheidungserheblicher Informationen zwischen den Parteien zu einer strikten Wahrung der Vertraulichkeit sowie der Unabhängigkeit und parteilichen Neutralität als wesentlichen Grundsätzen des Mediationsverfahrens verpflichtet.226 Ihm ist es somit verwehrt, Informationen, die ihm im Rahmen von vertraulichen Einzelgesprächen anvertraut worden sind, an die andere Partei weiterzugeben, wenn ihn die informierende Partei hierzu nicht ausdrücklich ermächtigt hat. a) Folgen. Problematisch wird die Verpflichtung des Mediators zu absoluter Vertraulichkeit allerdings, wenn das Verschweigen der für eine informierte Einigungsentscheidung erforderlichen Informationen zu einer unangemessenen Benachteiligung der anderen Partei, zu einem grob unbilligen Ergebnis oder zu einer Schädigung Dritter führen würde. Das wäre etwa der Fall, wenn sich die Parteien über den Eigentumsübergang einer Sache einigen würden und eine Partei die durch einen erheblichen Mangel eingetretene Wertminderung der Sache arglistig verschweigt. Der Mediationsvergleich wäre dann zwar rechtswidrig und nach § 123 Abs. 1 S. 1 BGB anfechtbar. Abgesehen von dem praktischen Problem, dass der geschädigten Partei eine Anfechtung nur dann möglich ist, wenn sie von dem Mangel auch tatsächlich Kenntnis erlangt (was etwa bei versteckten Mängeln nicht ohne weiteres angenommen werden kann), bleibt
225 Dieser Gefahr dürfte indes nur geringe praktische Bedeutung zukommen. Entsprechend der in der Praxis zu beobachtenden Tendenz zu einer weitgehend passiven Einstellung des Mediators im Hinblick auf den Ausgleich von Machtungleichgewichten wird sich indes regelmäßig das umgekehrte Problem stellen, dass sich der Mediator nicht in hinreichendem Maße um die rechtlich gebotene Offenlegung entscheidungserheblicher Informationen bemüht. 226 Vgl. zu den gesetzlichen Verschwiegenheitspflichten des Mediators § 4 S. 1 MedG sowie zusätzlich des anwaltlichen Mediators § 43a Abs. 2 BRAO und § 18 BORA, für das entsprechende Zeugnisverweigerungsrecht § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO.
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der Mediator jedoch an seine Verschwiegenheitspflicht gebunden. Eine Aufklärung der benachteiligten Partei, sei sie sachlich auch noch so dringend geboten, ist ihm aufgrund seiner Rolle als Mediator verwehrt. Allerdings muss ihm trotz seiner Verschwiegenheitspflicht eine Intervention zugunsten der benachteiligten Partei möglich sein. Denn würde der Mediator die Mediation mit Verweis auf seine Verschwiegenheits- und Neutralitätspflicht unbeanstandet weiterführen, würde er sehenden Auges die Schädigung der seiner Verfahrensleitung anvertrauten Partei in Kauf nehmen und so gleichzeitig zum „Mitwisser“ und passiven „Mittäter“ eines objektiv rechtswidrigen und möglicherweise sogar strafbaren Rechtsgeschäfts werden. Er würde zu Recht den Vorhaltungen der geschädigten Partei ausgesetzt sein, die Seiten gewechselt, sie getäuscht und zu einer nicht hinreichend informierten Entscheidung veranlasst zu haben. Die Folge wäre nicht nur das Verfehlen einer gegenseitigen Integration der Interessen als Grundlage einer nachhaltigen Beilegung des Konfliktes und damit das Scheitern des Mediationsverfahrens, sondern zugleich ein erheblicher Vertrauens- und Reputationsverlust für den von der benachteiligten Partei nicht mehr als neutral beurteilten Mediator. b) Spannungsverhältnis: Vertraulichkeitspflicht vs. Interventionsgebot. Damit ergibt sich für den Mediator ein Spannungsverhältnis zwischen den auf den ersten Blick widerstreitenden Pflichten zur Wahrung der Vertraulichkeit auf der einen und dem Schutz der Privatautonomie der Parteien, der Gewährleistung eines fairen Verfahrens und der Förderung eines beiderseits interessengerechten, dauerhaften und nachhaltigen Ergebnisses auf der anderen Seite.227 Das Ziel der Mediation als gerechtem Verfahren ist es, beide Parteien im Hinblick auf ihren Konflikt besser und nicht schlechter zu stellen und somit letztlich die Verwirklichung eines über den Gerechtigkeitsanspruch des Gerichtsverfahrens hinausgehenden Maßes objektiver Gerechtigkeit. Der Mediator befindet sich damit in einem prima facie nur schwer lösbaren Dilemma: Während es ihm einerseits aufgrund seiner Verschwiegenheitspflicht228 verwehrt ist, die ihm anvertrauten Informationen gegenüber der anderen Partei oder Dritten zu offenbaren, so darf er es andererseits aufgrund seiner Verfahrensverantwortung nicht zulassen, dass eine Partei eine nicht hinreichend informierte und damit in tatsächlicher Hinsicht nicht vollumfänglich privatautonome Entscheidung trifft und durch die irrtümliche, von ihr indes tatsächlich nicht gewollte Zustimmung zu einer unangemessen benachteiligenden und daher objektiv ungerechten Vereinbarung geschädigt wird. Dadurch würde das Mediationsverfahren gleichsam in sein Gegenteil verkehrt und vom Mittel beiderseits interessengerechter Konfliktbeilegung zu einem Instrument der missbräuchlichen
227
Vgl. zum Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie und objektiver Gerechtigkeit bereits oben S. 336 ff. 228 § 4 S. 1 MedG bzw. § 43a Abs. 2 BRAO und § 18 BORA (Anwaltsmediatoren).
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Benachteiligung strukturell verhandlungsschwacher oder unzureichend informierter Parteien deformiert. Das Dilemma lässt sich indes ohne Verletzung sowohl der Vertraulichkeitsals auch der Schutzpflicht des Mediators dadurch lösen, dass er sich zunächst in einem Einzelgespräch (caucus)229 darum bemüht, die über die Informationen verfügende Partei im Interesse einer nachhaltigen Beilegung des Konfliktes zu einer Freigabe der zurückgehaltenen Informationen zu bewegen. Bleiben seine Bemühungen ohne Erfolg und kann er der benachteiligten Partei die entscheidungserheblichen Informationen nicht ohne Verletzung seiner Neutralitäts- oder Verschwiegenheitspflicht selbst verschaffen, etwa weil es sich nicht lediglich um rechtliche, sondern auch um sachliche Informationen handelt, so verbleibt ihm letztlich als ultima ratio nur die Möglichkeit, nach vorherigem Hinweis das Mediationsverfahren ohne Abschluss einer Vereinbarung abzubrechen. Eine Beendigung der Mediation in Fällen eines nicht mehr ausgleichbaren Machtungleichgewichtes oder rechtlich nicht vertretbarer Vereinbarungen ist vor allem nach den Richtlinien der berufsständischen Organisationen vorgesehen: „Falls dauerhaft keine Machtbalance zwischen den Konfliktpartner[n] … erreicht wird und der … Mediator … zur Überzeugung kommt, dass eine(r) der Partner … in der Mediation nicht für sich einstehen kann, muss [sic!] er … die Mediation beenden.“230 Eine entsprechende Regelung findet sich darüber hinaus auch im europäischen Verhaltenskodex für Mediatoren: „Der Mediator kann das Mediationsverfahren gegebenenfalls beenden und hat die Parteien davon in Kenntnis zu setzen, wenn – er aufgrund der Umstände und seiner einschlägigen Urteilsfähigkeit die vereinbarte Regelung für nicht durchsetzbar oder für vorschriftswidrig hält oder – er der Meinung ist, dass eine Fortsetzung des Verfahrens aller Voraussicht nach nicht zu einer Regelung führen wird.“231 c) Verstoß gegen zwingendes Recht. Verstößt die Vereinbarung gegen zwingendes Recht oder würde ihr Abschluss gar zu einer Strafbarkeit eines der Beteiligten führen, ist der Mediator zum Abbruch des Mediationsverfahrens verpflichtet, soweit dies die einzige Möglichkeit darstellt, einen rechtswidrigen Vergleich zu verhindern. Hat die angestrebte Vereinbarung die Grenze zur Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit noch nicht überschritten, würde jedoch zu einer einseitigen, grob unbilligen Benachteiligung der schwächeren Partei führen, die mit den Zielen des Mediationsverfahrens unvereinbar wäre, bedarf die
229 Zur sog. Caucus-Mediation eingehend Calkins, 54 Drake L. Rev. 259 (2006); MenkelMeadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 355 ff. 230 Richtlinien der BAFM, Nr. 2.3.6. Hervorhebungen durch den Verfasser. 231 Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, Nr. 3.2. Abgedruckt in ZKM 2004, 148. Abrufbar unter http://ec.europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct_de.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017).
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Entscheidung zur Beendigung des Mediationsverfahrens der abwägenden Entscheidung des Mediators im Einzelfall. Dabei hat er insbesondere die Integrität des Verfahrens232, die Verwirklichung seiner Ziele233 und den Schutz der Privatautonomie234 der Parteien zu berücksichtigen. Das Leitbild bildet insoweit die Struktur der Mediation als privatautonomes und faires Verfahren, in dem sich die Parteien gemeinsam um eine nachhaltige und dauerhafte Beilegung ihres Konfliktes durch einen wertschöpfenden, gerechten und beiderseits vorteilhaften Ausgleich ihrer gegenseitigen Interessen bemühen. Je mehr das infrage stehende Verfahren von diesem Leitbild abweicht, umso mehr ist der Mediator zu ausgleichenden Interventionen berufen. Zum Schutz der beteiligten Parteien vor unangemessenen Benachteiligungen und zum Schutz ihrer Privatautonomie sollte er im Zweifel auf eine Beendigung des Mediationsverfahrens hinwirken. Zusammenfassend ist festzuhalten: Der Mediator ist zum Ausgleich von Informationsasymmetrien verpflichtet, soweit dies erforderlich ist, um eine informierte und damit auch tatsächlich selbstbestimmte Einigungsentscheidung zu gewährleisten. Während den Parteien rechtliche Informationen, soweit sie im Einzelfall entscheidungserheblich sind, in vollem Umfang zur Verfügung stehen müssen, ist ein Austausch von sachlichen Informationen nur insoweit erforderlich, als hieran ein berechtigtes Interesse besteht. Der Mediator hat im Rahmen seiner ausgleichenden Tätigkeit dabei sowohl seine Pflicht zu absoluter Vertraulichkeit als auch seine Verpflichtung zur Wahrung der Privatautonomie der Parteien, zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens und zur Förderung eines den Zielen der Mediation entsprechenden Verhandlungsergebnisses zu beachten. Eine Pflichtenkollision ist im Zweifel durch Einzelgespräche mit den Parteien (caucus) oder – wenn diese ohne Erfolg bleiben – durch Beendigung des Mediationsverfahrens aufzulösen. (3) Unterschiedliches Verhandlungsgeschick Unterschiede in den Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen und damit im Verhandlungsgeschick sind notwendiger Bestandteil jeder Verhandlung, weil sie in der Einzigartigkeit und Individualität der Parteien als Personen selbst angelegt sind. Jede Partei verfügt über das ihr eigene Maß an Verhandlungsgeschick, Training und Erfahrung. Zugleich hat die empirische Forschung wie auch die Praxis gezeigt, dass die grundlegende Fähigkeit, die eigenen Interessen in Verhandlungen zu vertreten, innerhalb einer bestimmten Bandbreite von
232
Zur strukturellen Integrität vgl. eingehend oben S. 116 f. sowie unten S. 546 ff. Hierzu eingehend unten S. 558 ff. (Funktionen des Mediationsverfahrens). 234 Zur Bedeutung der Privatautonomie als zentralem Grundsatz des Mediationsverfahrens vgl. oben S. 336 ff. sowie unten S. 459 ff., 586 ff. 233
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Ausprägungen weitgehend einheitlich ausgestaltet ist. Unterschiede im Verhandlungsgeschick, die sich innerhalb dieses Normbereiches bewegen, bedürfen keiner Intervention seitens des Mediators. Hiervon sind allerdings jene Fälle zu unterscheiden, in denen die Parteien aufgrund ihrer personalen Eigenschaften – insbesondere ihrer Erfahrung, ihrer Ausbildung oder aufgrund ihrer sonstigen Fähigkeiten – über ein derart geringes Maß an Verhandlungsgeschick verfügen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Interessen effektiv zu vertreten.235 In diesen Fällen sind die Parteien nicht nur infolge ihres „mangelnden Geschicks“ benachteiligt, sondern aufgrund ihrer Unerfahrenheit und anderer Gründe in der Ausübung der ihr zustehenden Privatautonomie erheblich beschränkt. Das klassische Beispiel bildet etwa die ältere Dame, die sich zu einer Verhandlung mit ihrem strukturell stärkeren und regelmäßig gewandteren Vermieter bereit erklärt und von diesem übervorteilt und damit gleichsam „über den Tisch gezogen“ wird.236 Im Gegensatz etwa zur Verhandlung zweier Wirtschaftsanwälte, die zwar ebenfalls über unterschiedliche Verhandlungsstärke verfügen mögen, deren Fähigkeit zur effektiven Vertretung der von ihnen wahrgenommenen Interessen indes keinen Zweifeln unterliegt, mangelt es der älteren Dame bereits an der Voraussetzung, eine informierte, eigenverantwortliche und ihren tatsächlichen Interessen entsprechende Einigungsentscheidung zu treffen. Sie weiß zwar, was sie erreichen will, vermag ihrem Verhandlungspartner indes kaum etwas entgegenzusetzen. Der empirische Befund legt nahe, dass derartige Defizite in der self-agency typische Folge struktureller Ungleichgewichtslagen sind und vor allem mit dem sozialen Status der betroffenen Partei korrelieren.237 Sie führen in der Regel zu objektiv benachteiligenden Vereinbarungen und bedürfen daher nach den Regeln, die wir bereits für den Umgang mit strukturellen Machtungleichgewichten entwickelt haben, der ausgleichenden Intervention des Mediators.238
235 Zu entsprechenden Fällen mangelnder self-agency auch aus der Sicht der Praxis eingehend oben S. 344 ff., 350. 236 Vgl. hierzu die instruktiven Fallbeispiele oben S. 344 ff. 237 154 Misc.2d 301, 304, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992): „Studies have shown that landlords are represented in approximately 80 % to 90 % of summary eviction proceedings, while tenants are unrepresented in all but 10 % to 15 % of such proceedings; that the overwhelming majority of unrepresented tenants are poor persons, most of whom are members of racial and ethnic minorities; and that this inequality in access to representation results in eviction in a significant number of cases. A 1986 study found, for example, that over 25% of the Cityʼs shelter population cite eviction as the cause of their homelessness …“ 238 Instruktiv insoweit der Fall 154 Misc.2d 301, 305, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992), in dem das Gericht allerdings eine Lösung der Problematik durch effektive anwaltliche Beratung vorschlägt: „This failure takes an intolerable toll not only on the poor but on the public as a whole. The absence of effective legal counsel and the consequent denial of access to resources made available by law impose significant social and economic costs. Deny a poor
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(4) Günstigeres Ergebnis eines Gerichtsverfahrens oder einer direkten Verhandlung Problematisch ist indes die Frage, ob der Mediator auch zu einer Intervention verpflichtet ist, wenn die ausgehandelte Lösung hinter dem zu erwartenden Ergebnis eines möglicherweise nachfolgenden Gerichtsverfahrens zurückbleibt. Nach den Grundsätzen der Verhandlungstheorie erscheint ein derartiges Verhandlungsergebnis auf den ersten Blick als suboptimal, weil die Parteien einer gemeinsam entwickelten Entscheidung regelmäßig nur dann zustimmen, wenn sie sich für beide Parteien als günstiger erweist als die beste ihnen jeweils zur Verfügung stehende Nichteinigungsalternative (BATNA).239 Allerdings bemessen sich die Qualität einer Einigung und ihre Eignung zur nachhaltigen Beilegung des Konfliktes nicht ausschließlich an ihrer Kongruenz mit der materiellen Rechtslage, sondern vielmehr am Umfang der Verwirklichung der Interessen beider Parteien. Damit kann es für die Parteien durchaus sinnvoll sein, eine vom materiellen Recht abweichende Vereinbarung zu treffen, wenn diese zu einem besseren Ausgleich der tatsächlichen Interessen der Parteien führt. Wie wir am Beginn unserer Untersuchung gesehen haben, ist das materielle Gesetzesrecht aufgrund seiner systemimmanenten Schwächen nur eingeschränkt geeignet, eine an den tatsächlichen Bedürfnissen der Parteien orientierte Beilegung des Konfliktes herbeizuführen. Darüber hinaus lässt sich der Ausgang eines Zivilprozesses kaum mit Sicherheit prognostizieren, und es ist gerade das Ziel der Verhandlung, eine Entscheidung unter der Bedingung der Unsicherheit herbeizuführen, um die Belastungen eines Zivilprozesses zu vermeiden. Die Tatsache, dass sich die Parteien auf eine Vereinbarung einigen, die nicht dem materiellen Recht entspricht und jedenfalls für einen der Beteiligten hinter dem wahrscheinlichen Ergebnis eines möglichen Zivilprozesses zurückbleibt, ist damit nicht notwendig Anhaltspunkt für eine unangemessene Benachteiligung und vermag als solche daher noch keine Interventionspflicht des Mediators zu begründen.
family counsel in an eviction proceeding and it greatly increases the likelihood that the family will become homeless ... Moreover, the imbalance between the need for legal services and their availability undermines the legitimacy of the legal system itself. It is grotesque to have a system in which the law guarantees to the poor that their basic human needs will be met but which provides individuals no realistic means with which to enforce that right. The absence of legal assistance to the poor goes to the essence of some fundamental principles ingrained in our jurisprudence: simple equity, due process, equal protection, equal elementary access to the judicial system to redress wrongs.” 239 Best Alternative to a Negotiated Agreement. Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 97 ff. Zur Bedeutung der Nichteinigungsalternativen eingehend BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 26 ff., 73 ff., 96 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 170, 235 ff.
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Indes bleibt es auch in diesen Fällen bei dem Grundsatz des Vorrangs der Privatautonomie. Ergibt sich in einem möglichen nachfolgenden Gerichtsverfahren für eine Partei ein nominell besseres Ergebnis, so steht es der betreffenden Partei zwar selbstverständlich frei, sich auf ein insoweit „schlechteres“ Verhandlungsergebnis zu einigen. Eine derartige Vereinbarung muss jedoch das Ergebnis einer informierten Entscheidung der Parteien sein. Da das materielle Recht jedenfalls ein gerechtes Ergebnis indiziert240, gehören der Ausgang eines nachfolgenden Prozesses als Nichteinigungsalternative und damit das Bestehen möglicher Rechtsansprüche zu den essentialia, deren Kenntnis für eine informierte und damit vollumfänglich privatautonome Einigungsentscheidung der Parteien unerlässlich ist. Dem Mediator kommt daher die Aufgabe zu, die Parteien darauf hinzuweisen, sich hinreichend über die ihnen zustehenden Rechtsansprüche und über die Erfolgsaussichten eines nachfolgenden Gerichtsverfahrens zu informieren. Hierfür wird es in aller Regel genügen, den Parteien die Bedeutung der Kenntnis des objektiven Rechts als entscheidungserheblichen Aspekt der Verhandlung und als objektiven Maßstab der zu entwickelnden Einigung241 vor Augen zu führen. Weitergehende Pflichten treffen den Mediator im Normalfall nicht, solange er dafür Sorge trägt, dass die Parteien ihre Entscheidung in Kenntnis aller relevanten Umstände treffen bzw. treffen können und er auf die Realisierung eines beiderseits interessengerechten, objektiv fairen Ergebnisses hinwirkt. Insbesondere ist es nicht seine Aufgabe, die Parteien vor den Folgen eines lediglich nachteiligen Ergebnisses zu bewahren. Allerdings verdichtet sich diese Hinweis- und Gewährleistungspflicht zu einer Informations- und Interventionspflicht, wenn zentrale Rechtspositionen der Parteien, Schutzrechte oder unveräußerliche Rechte der Parteien infrage stehen und ein erhebliches Machtungleichgewicht besteht. In einem solchen Fall ist der Mediator verpflichtet, die schwächere Partei in einem ersten Schritt auf das Bestehen möglicherweise eingreifender Schutzrechte hinzuweisen, sie – soweit er etwa als Anwaltsmediator hierzu in der Lage und berechtigt ist – in einem zweiten Schritt über ihre Rechte zu informieren und schließlich notfalls die Verhandlung abzubrechen, wenn ein grob unbilliges Ergebnis zu erwarten ist. (5) Grob unbilliges oder rechtswidriges Ergebnis Eine ungleiche Verteilung von Verhandlungsmacht und der Fähigkeit, für die eigenen Interessen wirksam einzustehen, wirkt sich nicht nur auf der „Tatbestandseite“, der Verfügbarkeit von Informationen, Ressourcen und persönlichen Fähigkeiten aus, sondern schlägt sich regelmäßig auch auf der „Rechts240
Zum Gerechtigkeitsgehalt des objektiven Gesetzesrechts oben S. 294 f. Zur Bedeutung des objektiven Rechts als unverbindlicher normativer Maßstab der Einigung oben S. 293 ff. 241
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folgenseite“ in einem die schwächere Partei benachteiligenden Ergebnis nieder. Ein solches für die schwächere Partei nachteiliges, für sich selbst indes einseitig vorteilhaftes Ergebnis ist häufig das Ziel der Bemühungen der verhandlungsstärkeren Partei, die auf die möglichst weitgehende eigennützige Verwirklichung der eigenen Partikularinteressen gerichtet sind. Stimmt eine Partei einer Vereinbarung zu, die ihren tatsächlichen Interessen in erheblichem Umfang widerspricht oder in der sie sich einseitig wesentlicher Rechtspositionen begibt, muss regelmäßig eine schwere Störung der Privatautonomie der betroffenen Partei angenommen werden. Denn unter den Bedingungen rationalen Handelns kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Parteien bewusst selbst schädigen wollen. 1. Verstoß gegen zwingendes Recht. Die Rechtsordnung hat der Benachteiligung des Vertragspartners aufgrund des Widerspruchs zum materiellen Recht und zu den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Werten seit jeher Grenzen gesetzt. Verstößt eine Vereinbarung gegen zwingendes Recht, ist sie etwa nach § 134 BGB aufgrund eines gesetzlichen Verbotes oder nach § 138 BGB wegen Sittenwidrigkeit nichtig, so trifft den Mediator die Pflicht, die Parteien auf diesen Mangel hinzuweisen.242 Insbesondere in Fällen strukturell ungleicher Verhandlungsmacht sollte der Mediator die Parteien anhalten, Parteianwälte als Vertreter beizuziehen243, und ihnen die Erforderlichkeit rechtlicher Beratung aufgrund des drohenden Verlustes wesentlicher Rechtspositionen eindringlich vor Augen führen.244 Gehen die Parteien auf das Angebot des Mediators dagegen nicht ein, so ist der Mediator verpflichtet, die Mediation unverzüglich abzubrechen. In keinem Fall darf er zulassen, dass die Parteien im Rahmen des Mediationsverfahrens einen rechtswidrigen und aufgrund seines Inhaltes nichtigen Vergleich abschließen. Ein derartiges Verhalten eine schwere Pflichtverletzung und ist mit der Rolle des Mediators und seiner Pflicht, die informierte, eigenverantwortliche Entscheidung beider Parteien zu schützen und auf ein gerechtes, nachhaltiges und dauerhaftes Verhandlungsergebnis hinzuwirken, schlechthin unvereinbar. Er würde beiden Parteien mit der Duldung eines solchen Ergebnisses darüber hinaus auch keinen Dienst erweisen, weil eine nichtige oder anfechtbare
242
Hierzu Wendenburg, Schutz (2013), S. 312 unter Verweis auf Maute, 4 Geo. J. Legal Ethics 503, 533 (1991). 243 Dies ist bei strukturell schwächeren Parteien typischerweie nicht der Fall. Vgl. zum empirischen Befund die in 154 Misc.2d 301, 305, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992) zitierte Studie. Vgl. hierzu oben S. 378 Fn. 238. 244 Dass strukturell schwächeren Parteien die Bedeutung einer abgemessen anwaltlichen Vertretung häufig nicht einmal klar ist, zeigt eindrücklich der Fall 154 Misc.2d 301, 306, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992): „Moreover, at the time of the allocution, respondent not only lacked knowledge of her defenses but was apparently also unaware even of the possible usefulness of legal representation.“ Hervorhebungen durch den Verfasser.
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Vereinbarung kaum von Dauer ist und stattdessen zur Quelle weiterer Konflikte werden kann. Zudem besteht die Gefahr, dass sich die rechtlich mangelhaft informierte Partei irrtümlich in Unkenntnis der Rechtslage an eine nichtige Vereinbarung gebunden fühlt. Damit wird jedoch eine vertragliche Rechtswirkung geschaffen, die von der Rechtsordnung zu Recht missbilligt wird und die Gefahr in sich birgt, dass dadurch eine ihr widersprechende, faktisch indes wirksame autonome Ordnung parallelen Individualvertragsrechts geschaffen wird. Dem Mediator kommt somit jedenfalls im Hinblick auf die Vereinbarkeit des Vergleichs mit zwingendem Gesetzesrecht eine Befugnis und Verpflichtung zur Inhaltskontrolle des Mediationsvergleichs zu. 2. Benachteiligende oder grob unbillige Vereinbarung. Häufig werden die Parteien indes einer Vereinbarung zustimmen, die zwar die Grenze rechtlicher Unwirksamkeit noch nicht überschritten hat, inhaltlich indes eine Seite in erheblichem Maß benachteiligt und damit materiell als grob unbillig anzusehen ist. Zwar ist die Rechtsordnung aus Gründen der Rechtssicherheit zurückhaltend, einen einmal abgeschlossenen Vertrag, auch wenn er auf der Grundlage ungleicher Verhandlungsmacht der Parteien zustande gekommen ist, nachträglich infrage zu stellen. Solange die Parteien jedoch noch nicht verbindlich einer Vereinbarung zugestimmt haben, ist die Rechtssicherheit nicht betroffen, so dass für das Mediationsverfahren, in dem es gerade um die vertragsgestaltende Entwicklung einer in Zukunft abzuschließenden Vereinbarung geht, eine deutlich geringere Eingriffsschwelle gelten muss. Die Grenze zulässiger Intervention des Mediators wird dabei zum einen durch a) die Privatautonomie der Parteien, zum anderen durch b) den Inhalt des Vertrages bestimmt. a) Privatautonomie der Parteien. Im Hinblick auf die Privatautonomie der Parteien ist zu fragen, inwieweit die abzuschließende Vereinbarung überhaupt noch als von Druck und Zwang freie, hinreichend informierte und tatsächlich eigenverantwortliche Entscheidung auch der verhandlungsschwächeren Partei angesehen werden kann. b) Inhalt des Vertrages. Im Hinblick auf den Inhalt der infrage stehenden Vereinbarung ist zum einen zu untersuchen, inwieweit sie den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses245 entspricht, d.h. inwieweit es sich um eine Vereinbarung handelt, die objektiv fair ist, die Interessen beider Parteien zu einem angemessenen Ausgleich bringt, ihre Beziehung zueinander fördert, sie mit Blick auf die Zukunft transformiert und dadurch zu echter Versöhnung und einer Orientierung der Parteien aufeinander hin246 führt und eine effiziente, 245 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses vgl. eingehend oben S. 160 ff., unten S. 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 246 Zur Transformation der Parteibeziehung durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin als zentralem Wesenselement der Mediation eingehend oben S. 124 ff. sowie unten
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nachhaltige, dauerhafte und praktisch umsetzbare Beilegung des Konfliktes durch eine kreativ-wertschöpfende Verhandlungslösung zur Folge hat. Zum anderen ist zu fragen, inwieweit die getroffene Vereinbarung innerhalb des Spielraums, der den Parteien aufgrund ihrer Privatautonomie zusteht, überhaupt noch mit dem materiellen Recht und den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Werten vereinbar ist. Die Entscheidung des Mediators zur Intervention ist dabei das Ergebnis eines umfassenden Abwägungsvorgangs, innerhalb dessen ihm ein weiter Ermessensspielraum zukommt. Wie auch bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe im Privatrecht ist insoweit lediglich eine Annäherung an den mit einer solchen Abwägungsentscheidung verfolgten Zweck möglich. Konkrete Richtlinien für das richtige Verhalten des Mediators lassen sich aus den entwickelten Kriterien aufgrund der notwendigen Flexibilität und der Unbestimmtheit der Rechtsbegriffe nicht herleiten. c) Abwägungskriterien. Unerlässlich ist es jedoch, dass sich der Mediator im Rahmen seiner Abwägungsentscheidung stets den Zweck und die Grundsätze des Mediationsverfahrens vor Augen hält: Die Mediation dient nicht der „Einigung um jeden Preis“, sondern hat die ursächliche, dauerhafte und nachhaltige Beilegung des Konfliktes durch den Ausgleich der gegenseitigen Interessen und die Versöhnung beider Parteien zum Ziel. Dieses Ziel kann nur dann erreicht werden, wenn beide Parteien gleichermaßen an der wertschöpfenden Entwicklung des Verhandlungsergebnisses beteiligt sind (participation) und sich in Kenntnis aller relevanten Umstände in tatsächlich freier Willensentschließung für eine ganz bestimmte Vereinbarung entscheiden und diese auch tatsächlich wollen (autonomous and informed decision). Davon ist bei einem Vergleich, der eine Partei in erheblichem Umfang unangemessen benachteiligt und in dem sich die Interessen der einen Partei auf Kosten derjenigen der anderen Partei in nicht mehr hinnehmbaren Maße einseitig durchsetzen, nicht auszugehen. Das Mediationsverfahren hat in diesem Fall seinen zentralen Zweck verfehlt, weil eine Vereinbarung, die nicht zu einem ausgewogenen Ausgleich der dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen beider Parteien führt, bei der gebotenen realistischen Betrachtung nicht geeignet ist, den Konflikt tatsächlich nachhaltig, dauerhaft und damit endgültig beizulegen.247 Der Mediator ist aufgrund seiner verfahrensleitenden Funktion daher angehalten, in Fällen eines grob unbilligen Verhandlungsergebnisses auch deutlich
S. 471 ff. Vgl. auch Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971): „ … The central quality of mediation, namely, its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.” 247 Zur Konfliktbeilegungsfunktion der Mediation (Service Delivery Project) eingehend unten S. 560 ff.
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unterhalb der Grenze der Nichtigkeit und Anfechtbarkeit, bei deren Überschreiten die Rechtsordnung selbst formwirksam zustande gekommene Verträge nachträglich aufhebt oder ex tunc als unwirksam betrachtet, auf ein den Zielen des Mediationsverfahrens entsprechendes Ergebnis hinzuwirken. Dabei steht ihm die ganze Bandbreite möglicher Maßnahmen zur Förderung eines solchen Ergebnisses zur Verfügung, wobei er sich regelmäßig um den Ausgleich von Machtungleichgewichten als der Ursache derartiger Verhandlungsergebnisse bemühen wird.248 Führen diese Maßnahmen nicht zum Ziel und ist der angestrebte Vergleich vor diesem Hintergrund nicht zu verantworten, so kann er das Mediationsverfahren ohne Abschluss eines Vergleiches beenden. Wie wir bereits gesehen haben, steht die Neutralitätspflicht einer ausgleichenden Intervention des Mediators dabei nicht nur in keiner Weise entgegen, sondern verpflichtet den Mediator im Gegenteil, die Privatautonomie beider Parteien effektiv zu schützen. Eine passive Haltung, die der stärkeren Partei freie Hand lässt und sie damit durch die gleichwohl fortdauernde Anwesenheit des Mediators effektiv in ihrem schädigenden Handeln unterstützt, würde eine schwerwiegende Verletzung der Neutralitätspflicht des Mediators und damit eine Beeinträchtigung der Integrität des gesamten Mediationsverfahrens zur Folge haben, die mit der sich aus dem Wesen des Verfahrens selbst ergebenden Rolle des Mediators in keiner Weise vereinbar ist. Freilich wird es sich in diesen Fällen regelmäßig um atypische Verhandlungssituationen handeln, die ein ausgleichendes Handeln des Mediators erfordern, das in Art und Umfang von seinem verfahrensleitenden Handeln im Normalfall abweicht. cc) Besondere Regeln für die Mediation in Ungleichgewichtslagen: Die Notwendigkeit eines Zwei-Phasen-Modells Es erscheint daher aus dogmatischer Sicht sinnvoll, im Hinblick auf die Konkretisierung der Handlungspflichten des Mediators gleichsam in einem ZweiPhasen-Modell deutlich zwischen dem Normalfall und dem atypischen Fall ungleicher Verhandlungsmacht zu unterscheiden, da beide Verhandlungssituationen ein stark voneinander abweichendes Programm konkreter Handlungspflichten erfordern. 1. Anlass für das Zwei-Phasen-Modell. Das vorgeschlagene Modell dient der größeren dogmatischen Klarheit und reagiert auf ein drängendes Problem
248 Hier werden vor allem bewertende Mediationstechniken (evaluative mediation) zum Einsatz kommen, etwa die ledigliche Rechte in den Blick nehmende umfassende Sachbeurteilung (narrow evaluative mediation) und die Rechte und Interessen umschließende umfassende Beurteilung (broad evaluative mediation). Vgl. hierzu oben S. 317 ff., 326 ff. Grundlegend Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 30 ff. (1996). Vgl. auch Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111, 112 f. (1994).
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der Praxis: Obwohl die Verteilung von Verhandlungsmacht zwischen den Parteien in Abhängigkeit vom jeweiligen Sachzusammenhang erhebliche Unterschiede aufweist, die notwendigerweise ein differenziertes Handeln des Mediators erfordern, sind Mediatoren in der Ausgestaltung ihres Rollenverständnisses häufig weitgehend festgelegt. Wie auch der empirische Befund nahelegt249, sehen Mediatoren mit Verweis auf die ihnen obliegende Neutralitätspflicht250 sowie die Sachentscheidungskompetenz251 der Parteien im Hinblick auf den Inhalt der Vereinbarung auch in Fällen erheblicher Machtungleichgewichte häufig von einer aktiven Intervention ab, weil ein solches verfahrensleitendes Handeln mit ihrem Rollenverständnis als Mediator – das sich indes regelmäßig am Normalfall der rationalen Verhandlung zweier Parteien annähernd gleicher Verhandlungsmacht und nicht am tatsächlichen eingreifenden atypischen Fall orientiert – nicht vereinbar ist. Wird das verfahrensleitende Handeln des Mediators indes implizit der Prämisse unterstellt, dass die Entwicklung des Vergleiches unabhängig von seinem Inhalt Sache der Parteien bleibt und es dem Mediator verwehrt ist, auf die laufende Verhandlung einseitig einzuwirken, will er sich nicht dem Vorwurf der Parteilichkeit aussetzen, so besteht die ernste Gefahr, dass der Mediator dem Verhandlungsgeschehen freien Lauf lässt und sich im freien Spiel der Kräfte erwartungsgemäß die verhandlungsstärkere Partei durchzusetzen vermag. 2. Folgen unflexibler Rollenfixierung. Die Folgen wären erheblich: Die Mediation würde gerade jene Vorteile einbüßen, aufgrund derer sie sich als Alternative zum Zivilprozess im Rechtsverkehr etabliert hat, und die verhandlungsschwächere Partei dabei schlechter stellen, als sie im Fall eines Gerichtsverfahrens stehen würde.252 Von einem gerechten Verfahren zur effektiven Konfliktbeilegung, das zu deutlich besseren Ergebnissen als eine streitige Konfliktlösung durch gerichtliches Urteil führt, würde die Mediation zu einem Instrument der systematischen Benachteiligung verhandlungsschwacher Parteien deformiert, das zur nachhaltigen Konfliktlösung nicht mehr geeignet wäre, sondern im Gegenteil zur weiteren Eskalation des ursprünglichen Konfliktes beitragen würde. Der Mediator, dem die Parteien als neutraler Instanz vertrauen und in dessen verfahrensleitende Obhut sich die Parteien begeben, würde sehenden Auges die Schädigung einer ihm anvertrauten Partei hinnehmen und so einem Geschehen vorstehen, das von der Rechtsordnung missbilligt und mit Überschreiten der Anfechtungs- und Nichtigkeitsgrenze auch sanktioniert wird. Das Mediationsverfahren hätte sein Ziel253 verfehlt und würde in sein
249
Vgl. nur die Fallstudien oben S. 344 ff. mwN. Hierzu eingehend oben S. 132 f., 309 ff. sowie unten S. 340 ff., 479 f. 251 Hierzu eingehend oben S. 130 ff. 252 Vgl. nur die Fallstudien oben S. 344 ff. 253 Zu den funktionalen Dimensionen der Mediation eingehend unten S. 558 ff. 250
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Gegenteil verkehrt: Statt zu einem die Beziehung beider Parteien durch Versöhnung fördernden ausgewogenen und damit fairen, beiderseits interessengerechten, nachhaltigen, dauerhaften, effektiven und wertschöpfend kreativen Ergebnis254 als Ausdruck informierten, privatautonomen Handelns der Parteien würde es zu einer die Beziehung durch bewusste Schädigung weiter zerrüttenden, unausgewogenen, nach objektiven Maßstäben unfairen Vereinbarung führen, die einseitig weitgehend den Interessen der verhandlungsstärkeren Partei dient und den Konflikt damit kaum mehr dauerhaft, nachhaltig, effektiv und wertschöpfend-kreativ beizulegen vermag. 3. Ursachen. Diese Folgen wären unausweichlich, würde sich der Mediator korrigierender Interventionen weitgehend enthalten. Die Ursache für eine Fixierung des Mediators in einer passiven Handlungsposition dürfte in dem in der Verhandlungstheorie vorherrschenden rationalen Verhaltensmodell begründet sein, das dem Rollenverständnis und der Ausbildung des Mediators implizit zugrunde liegt: Das rationale Verhaltensmodell geht davon aus, dass in der Mediation eine Verhandlung zwischen rational handelnden, hinreichend informierten und in vollem Umfang privatautonomen Parteien annähernd gleicher Verhandlungsmacht erfolgt, die tatsächlich in der Lage sind, ihre Interessen effektiv zu vertreten. Dieses Modell erfasst innerhalb des notwendigen Spielraums unterschiedlicher Verhandlungsmacht der Parteien den Normalfall der Mediation und vermag das Verhandlungsverhalten der Parteien in diesen Fällen zutreffend zu beschreiben. Es versagt indes, sobald seine Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind und die Parteien aufgrund einer erheblichen Imparität an Verhandlungsstärke in ihrer Fähigkeit, eine informierte, privatautonome Einigungsentscheidung zu treffen, beschränkt und damit nur noch begrenzt in der Lage sind, ihre Interessen wirksam zu vertreten. Die für den Normalfall entwickelten Grundsätze der Verhandlungstheorie haben in diesen Fällen keine Geltung.255 In der Praxis werden den atypischen Fällen indes häufig die sich aus dem rationalen Handlungsmodell ergebenden Regeln für den Normalfall zugrunde gelegt, etwa weil Machtungleichgewichte oder die Erforderlichkeit besonderer Regeln nicht erkannt oder dem Rollenverständnis des Me-
254 Vgl. für die Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses vgl. oben S. 160 ff., unten S. 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 255 Wie die Fälle 154 Misc.2d 301, 304 f., 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992) und 150 Misc.2d 1031 571 N.Y.S.2d 660 (9.5. 1991) sowie der in Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85 (1996) ankedotisch berichtete Fall zeigen, stellen Fälle struktureller Machtungleichgewichte in Mietstreitigkeiten vor sog. housing courts gerade den Normfall dar. Instruktiv hierzu ebenfalls Lazerson, in: Abel (Hrsg.), The Politics of Informal Justice (1982), S. 119 ff. sowie für Deutschland Hilden, Rechtstatsachen im Räumungsrechtsstreit (1976), S. 255 f.
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diators ohne weitergehende Reflexion undifferenziert stets das rationale Verhaltensmodell und die sich aus ihm ergebenden Regeln zugrunde gelegt werden. 4. Rechtspolitische Notwendigkeit. Die Etablierung besonderer Regeln für die Mediation in Situationen ungleicher Verhandlungsmacht ist neben praktischen auch aus rechtspolitischen Gründen von besonderer Dringlichkeit, wie ein Blick auf die Institutionalisierungsdebatte in den USA zeigt.256 Dort wird die zunehmende Institutionalisierung der Mediation teilweise mit der Begründung abgelehnt, dass diese zu einer Benachteiligung sozial schwacher oder aus anderen Gründen benachteiligter Gruppen und Minderheiten führe, die Gestaltung der Mediation als Vorschaltverfahren den gerichtlichen Rechtsschutz erschwere und die Mediation drohe, zu einem Instrument systematischer Benachteiligung durch wirtschaftlich stärkere Gruppen und Interessenverbände missbraucht zu werden.257 Die ADR-Bewegung muss sich daher, will sie diesen berechtigten Einwänden begegnen, qualifiziert und effektiv mit dem Problem der Kompensation ungleicher Verhandlungsmacht und dem Schutz der Privatautonomie auseinandersetzen. Dies kann indes nicht dadurch geschehen, dass das Problem mit Verweis auf die Privatautonomie weitgehend ignoriert wird. Will sich das Mediationsverfahren in das System der Konfliktbehandlung innerhalb der Privatrechtsordnung einfügen, können für den Schutz und die Grenzen der Privatautonomie keine anderen Grundsätze gelten als jene, die im Privatrecht allgemein anerkannt sind. Andernfalls drohen der Verlust der Legitimität und die Verformung in ein Verfahren, das mit Wesen, Zielen und Grundsätzen der Mediation als besserer Alternative zum Zivilprozess und gerechtem Verfahren informaler Billigkeit kaum mehr vereinbar ist. Es gilt daher die Schlussfolgerung, die der Civil Court of the City of New York im Fall Woodruff Corp. v. Lacrete getroffen hat: „The court cannot permit itself the illusion, comforting though it might be … , that settlements … are generally the result of arm's length transactions between parties of equal bargaining power.”258 3. Die Rolle des Mediators in der gerichtsverbundenen Mediation Nachdem wir die Rolle des Mediators in der vertragsautonomen Mediation als dem Grundfall des Mediationsverfahrens in den Blick genommen haben259, wollen wir dem Verhältnis von Regel und Ausnahme folgend nun untersuchen, 256 Vgl. zur US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte eingehend oben S. 46 ff. sowie Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 257 Delgado/Dunn/Brown/Lee/Hubbert, 1985 Wis. L. Rev. 1359, 1359 (1985). 258 154 Misc.2d 301, 308, 585 N.Y.S.2d 956. 259 Vgl. oben S. 333 ff.
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ob und gegebenenfalls wie sich die besonderen Bedingungen der gerichtsverbundenen Mediation auf das Rollenverständnis des Mediators auswirken. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen steht dabei das Problem der Integration des materiellen Rechts in das Mediationsverfahren und damit die Frage, inwieweit der Güterichter durch rechtliche Hinweise, rechtlichen Rat oder eine Inhaltskontrolle zur Thematisierung des Rechts berechtigt oder sogar verpflichtet ist. Von diesen Überlegungen ausgehend wollen wir unser Verfahrensmodell nun auch für die gerichtsverbundene Mediation als Schnittpunkt der strukturell antagonistischen Verfahren der Mediation und des Zivilprozesses fortentwickeln. Für die Konfliktbeteiligten unterscheidet sich das gerichtsverbundene Mediationsverfahren von der vertragsautonomen Mediation materiell und prozedural in vielfacher Hinsicht: Statt in einem ausschließlich privatvertraglichen Rahmen erfolgt es im Kontext eines hoheitlichen Verfahrens unter der Ägide der staatlichen Justiz. Die Verfahrensleitung obliegt nicht einem von den Parteien bestimmten und durch einen Mediatorvertrag beauftragten Mediator, sondern typischerweise einem nach dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts zuständigen vermittelnden Güterichter.260 Im Gegensatz zur vertragsautonomen Mediation erfolgt die Mediation darüber hinaus nicht in einem ausschließlich freiwilligen Kontext: Zumindest die beklagte Partei ist in Reaktion auf eine Klage und damit aus heteronomen Gründen Teil des Zivilprozesses, in dessen Rahmen die (indes unverbindliche) Anregung der Mediation durch den Prozessrichter erfolgt. Auch in materieller Hinsicht befinden sich die Parteien in einer gänzlich anderen Ausgangslage: Der Konflikt ist bereits eskaliert und wird vor Gericht ausgetragen. Der Konfliktstoff ist in hohem Maße verrechtlicht und professionalisiert. Die Parteien haben ihre Rechtspositionen längst in Schriftsätzen geltend gemacht und regelmäßig Anwälte als professionale Parteivertreter eingeschaltet. Mit ihrer Teilnahme am Zivilprozess sind ihnen die kontradiktorischen Rollen des Klägers und des Beklagten zugewiesen, die ihnen den ungehinderten Rückzug in die Rolle des Problemlösers versperren. Sie haben Zeit, Kosten und Mühe aufgewendet und befinden sich häufig bereits in einem character contest261, einem abgeleiteten Metakonflikt262 über die ma-
260 Eingehend zu den damit verbundenen prozessualen Fragen Ahrens, NJW 2012, 2465; Carl, ZKM 2012, 16; Steffek, ZEuP 2013, 528; Fritz/Schroeder, NJW 2014, 1910; Greger, MDR 2014, 993. Zu empirischen Erfahrungen mit dem Güterichtermodell vgl. Greger, ZRP 2006, 229; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006); Greger, Abschlussbericht (2007); Spindler, ZKM 2007, 79; Greger, ThürVBl. 2010, 6; Greger, AnwBl. 2013, 504; Klamt/Moltmann-Willisch, ZKM 2013, 112. 261 Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff. Hierzu auch Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. Eingehend oben S. 23 f. 262 Hierzu eingehend oben S. 15 ff. mwN. sowie Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 104 f.; Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie
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terielle Rechtslage, der mit einer unabwendbaren Eigengesetzlichkeit unweigerlich auf eine Letztentscheidung zuläuft und den Beteiligten die Rolle des Siegers oder des Verlierers zuweist.263 Zusammenfassend ist die gerichtsverbundene Mediation damit geprägt durch drei zentrale Strukturmerkmale: Eine größere Bedeutung des Rechts, einen höheren Eskalationsgrad und die besondere Autorität des Güterichters als staatlichem Amtsträger. Aus dieser besonderen Ausgangslage ergeben sich erhebliche Konsequenzen für die Rolle des Güterichters innerhalb des gerichtsverbundenen Mediationsverfahrens. Zum einen ist für ihn die umfassende Thematisierung des Rechts aufgrund des hohen Grades an Verrechtlichung des Konfliktstoffes grundsätzlich unausweichlich. Zum anderen wirft seine Stellung als staatlicher Amtsträger die Frage nach der verfassungsrechtlichen Bindung auf, die sich auf sein verfahrensleitendes Handeln in zweifacher Hinsicht, nämlich ich ermöglichend und beschränkend, auswirken kann: Während sie ihn als Handlungsgebot einerseits zu einer umfassenden rechtlichen Aufklärung der Parteien über die Rechtslage als entscheidungserheblichen Aspekt des Konfliktes berechtigen und verpflichten könnte, vermag sie seinen Einigungsbemühungen andererseits im Hinblick auf die Ausübung unzulässigen Einigungsdrucks durch ein Handlungsverbot Grenzen zu setzen. Dass diese Fragen von erheblicher praktischer Relevanz sind, haben die Erfahrungen mit court-annexed mediation programs in den USA und die rechtspolitische Diskussion über die kompetenzrechtliche Zulässigkeit der gerichtsverbundenen Mediation in Deutschland gezeigt. In einem ersten Schritt wollen wir daher der Frage nachgehen, ob die Mediation zu den Kernaufgaben rechtsprechender Gewalt nach Art. 92 Abs. 2 GG gehört und auf welcher Rechtsgrundlage die gerichtsverbundene Mediation in Deutschland erfolgt. In einem zweiten Schritt wollen wir uns dann der Frage zuwenden, welche verfassungsrechtlichen Anforderungen sich daraus für den Güterichter und das von ihm geleitete gerichtsverbundene Mediationsverfahren ergeben, um in einem dritten Schritt die Rolle des Güterichters im Hinblick auf eine mögliche Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht näher zu konkretisieren. a) Gerichtsverbundene Mediationsprogramme in Deutschland Der Entwicklung in den USA und anderen Ländern folgend ist in den vergangenen Jahren auch in Deutschland an zahlreichen Gerichten eine Vielzahl un-
(1972), S. 113, 139; Aubert, The Hidden Society (1965), S. 98 f.; Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186. 263 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 115.
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terschiedlicher Modellprojekte zur gerichtsverbundenen Mediation entstanden.264 So bestanden im Jahr 2006 in der ordentlichen Gerichtsbarkeit an insgesamt 66 Gerichten in 9 Bundesländern Mediationsprogramme, in denen ca. 216 Richter als Mediatoren tätig waren.265 Nachdem die Modellphasen der meisten Projekte erfolgreich abgeschlossen worden sind, wird die Mediation an einer wachsenden Zahl von Gerichten nunmehr dauerhaft als Alternative zum streitigen Verfahren angeboten. Diese Entwicklung entspricht einem weltweit zu beobachtenden Trend der Institutionalisierung des Mediation, der vor allem in der engen Verzahnung von Mediation und zivilgerichtlichem Entscheidungsverfahren Gestalt annimmt. Für eine Reihe von Modellprojekten liegen bereits die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung in Form von Abschluss- und Erfahrungsberichten vor. Die ganz überwiegende Mehrzahl der gerichtsverbundenen Mediationsprogramme sieht dabei eine Mediation durch spezielle Güterichtern vor, während die Einbeziehung anwaltlicher Mediatoren noch auf einige wenige Pilotprojekte beschränkt ist. Im Folgenden soll unserer Untersuchung daher auch die gerichtliche Mediation durch Güterichtern als Regelfall zugrunde gelegt werden. Aufgrund des föderalen Systems staatlicher Justizgewährung in Deutschland hat sich gleichsam im natürlichen Labor des föderalen Staates eine Fülle unterschiedlicher Ansätze zur Integration der Mediation in den Zivilprozess entwickelt. Auch wenn sich die Projekte in Organisation, Durchführung und Verfahrensdesign zum Teil voneinander unterscheiden, hat sich dabei ungeachtet der vorhandenen Vielfalt eine für alle Projekte vergleichbare Grundstruktur gerichtsverbundener Mediation – Zuordnung zur Mediation durch Prozessrichter, Mediation durch Güterichter – herausgebildet, die für die Mehrheit der Mediationsprogramme charakteristisch ist. aa) Praxis vor der Reform des § 278 Abs. 5 ZPO durch das MedFördG 2012 Die erkennenden Prozessrichter prüfen zunächst als Fallmanager alle in ihrem Geschäftsbereich eingehenden Verfahren auf ihre Eignung zur vergleichsweisen Erledigung im Wege der Mediation (Screening-Phase). Erscheint ein Fall als für die Mediation geeignet, setzt sich der erkennende Prozessrichter mit den Parteien oder ihren Prozessbevollmächtigten in Verbindung, um sie über die
264 Vgl. zu den Erfahrungen mit den Modellprojekten nur Greger, ZRP 2006, 229; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006); Greger, Abschlussbericht (2007); Spindler, ZKM 2007, 79; Greger, ThürVBl. 2010, 6; Greger, AnwBl. 2013, 504; Klamt/Moltmann-Willisch, ZKM 2013, 112. 265 Darunter waren 4 Oberlandesgerichte, 30 Landgerichte und 32 Antsgerichte. Dokumentation des 1. länderübergreifenden Erfahrungsaustauschs „richterliche Mediation“ am 17. und 18. November 2006 in der Justizakademie NRW in Recklinghausen, S. 2.
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Möglichkeit und die konkreten Rahmenbedingungen der gerichtlichen Mediation zu informieren (Informationsphase) und mit ihnen die angebotenen Verfahrensalternativen zu erörtern (Beratungsphase). Teilweise wird allerdings auch auf eine gesonderte Prüfung der Mediationseignung verzichtet. So hat sich im Rahmen des Modellprojekts „gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen“ eine Vorgehensweise als praktikabel erwiesen, bei der das Prozessgericht die Sache ohne gesonderte Prüfung auf Mediationseignung an den Güterichter abgibt.266 Dieser kontaktiert – ebenfalls ohne weitere Prüfung auf Mediationseignung – sodann die Parteien bzw. ihre Anwälte, um ihnen eine Mediation vorzuschlagen.267 Bei diesem Verfahren der „Pauschalverweisung“ in die – nach wie vor freiwillige – Mediation werden schlicht alle Verfahren als mediationsgeeignet betrachtet, in denen die Parteien noch bereit sind, miteinander zu sprechen.268 Stimmen beide Parteien einer Mediation zu, wird durch den erkennenden Richter das Ruhen des zivilgerichtlichen Verfahrens angeordnet und die Sache zur Durchführung der Mediation an den Güterichter abgegeben (Überleitungsphase). Dieser führt mit den Parteien ein Mediationsverfahren oder ein ganz überwiegend an den Grundsätzen der Mediation ausgerichtetes Güteverfahren durch, wobei die Parteien in der Praxis häufig anwaltlich vertreten sind (Mediationsphase).269 Die Dauer der Mediationsverfahren hat sich in der Praxis auf einen Zeitraum von einer bis drei Stunden eingependelt, wobei – teilweise in einer nicht unerheblichen Zahl an Fällen270 – auch deutliche Abweichungen nach oben möglich sind.271 Gelangen die Parteien zu einer Einigung, wird das gerichtliche Verfahren regelmäßig durch einen gerichtlichen Prozessvergleich nach § 779 BGB, § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO beendet, den sie vor dem Prozessrichter oder dem Güterichter abschließen.272 Scheitert die Mediation, so wird das streitige Verfahren vor dem erkennenden Prozessrichter fortgesetzt.273
266
Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 7. Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 7. 268 Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 7. 269 Vgl. nur Greger, Abschlussbericht (2007), S. 26. 270 So etwa im bayrischen Modellversuch Güterichter, Greger, Abschlussbericht (2007), S. 97. 271 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 97 272 Daneben bestehen die übliche Möglichkeiten, den Rechtsstreit durch Klagerücknahme (§ 269 ZPO), Klageverzicht (§ 306 ZPO), Anerkenntnis (§ 307 ZPO) oder Erledigterklärung zu beenden, doch kommt der Streiterledigung durch Prozessvergleich gem. § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO im Rahmen gerichtlicher Mediation mit Abstand die größte Bedeutung zu. 273 Vgl. eingehend zum Ganzen die umfassende Untersuchung von v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 72 ff. 267
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bb) Praxis nach der Reform des § 278 Abs. 5 ZPO durch das MedFördG 2012 Diese im Rahmen der Modellprojekte gewachsene Grundstruktur hat durch die Reform des § 278 Abs. 5 ZPO nach Art. 2 Nr. 5 MedFördG274 2012 nur unwesentliche Änderungen erfahren. Auch hier werden eingehende Fälle im Rahmen einer Screening-Phase in der Regel zunächst vom erkennenden Prozessgericht auf ihre Mediationseignung hin untersucht. Im Rahmen einer Informations- und Beratungsphase wird das Gericht im Fall der Mediationseignung die Parteien sodann über das Güterichterverfahren informieren sowie ggf. weitere Verfahrensalternativen, etwa die – freiwillige – Durchführung einer außergerichtlichen Mediation oder eines anderen Verfahrens der außergerichtlichen Konfliktbeilegung nach § 278a ZPO erörtern. Lediglich in der Überleitungsphase ist mit der Möglichkeit der verbindlichen Verweisung der Parteien in das Güterichterverfahren gem. § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO eine neue Handlungsalternative hinzugekommen. Das Güterichterverfahren ist nach § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO nicht auf die Mediation festgelegt, sondern methodenoffen angelegt. Der Güterichter kann daher „alle Methoden der Konfliktbeilegung einschließlich der Mediation einsetzen“275, wobei mit Blick auf die Modellprojekte in der Praxis wohl eine stark evaluierende Mediation mit schlichtungsähnlichen Einigungsvorschlägen zu erwarten ist. b) Richterliche Mediation als Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG Trotz des enormen praktischen Erfolges gerichtsverbundener Mediationsprogramme war die Rechtsgrundlage, auf die das vermittelnde Handeln des Güterichters gestützt werden kann, bis zur Reform des § 278 Abs. 5 ZPO durch Art. 2 Nr. 5 MedFördG 2012276 nicht mit letzter Sicherheit geklärt. Während die Gerichte wie auch der überwiegende Teil der Literatur die gerichtliche Mediation dem Güterichter in analoger Anwendung der §§ 278 Abs. 1, 5 S. 1, 362 ZPO a.F. als ersuchten Richter277 übertragen wollten, wurde teilweise als Rechtsgrundlage auch die Vorschrift des § 4 Abs. 2 Nr. 1 DRiG herangezogen
274 Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 275 § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO. 276 Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 277 v. Olenhusen, ZKM 2004, 104, 105; Baumann, IDR 2005, 9, 17 Fn. 34; Löer, ZZP 119 (2006), 199, 204, 209; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 7, 41 ff.; Greger, Abschlussbericht (2007), S. 8, 110 f.; Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2739, 2742.
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und die richterliche Mediation als – neben der Rechtsprechung zulässige – Aufgabe der Gerichtsverwaltung eingestuft278. Mit der Reform des § 278 Abs. 5 ZPO durch Art. 2 Nr. 5 des MedFördG279 vom 21. Juli 2012 ist die Streitfrage durch den Gesetzgeber entschieden worden, der mit der Vorschrift des § 278 Abs. 5 ZPO eine Rechtsgrundlage für die Tätigkeit des Güterichters geschaffen hatte. Jedenfalls aus dogmatischer Perspektive nicht ohne weiteres klar ist die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die Qualifizierung der güterichterlichen Vermittlungstätigkeit nach § 278 Abs. 5 ZPO als Rechtsprechung iSd. Art. 92 GG ergeben. Hinter der Unsicherheit im Hinblick auf die zutreffende Rechtsgrundlage steht ein grundlegendes staatsfunktionsrechtliches Problem: Es geht um die Frage, ob es sich bei der richterlichen Mediation um eine Kernaufgabe staatlicher Rechtsprechung oder lediglich um eine Aufgabe der Justizverwaltung handelt. Die Zuordnung der Mediation zur Rechtsprechung hat prima vista erhebliche Konsequenzen: Während Richter im Bereich der Justizverwaltung nicht die gleichen verfassungsrechtlich verbürgten Rechte in Anspruch nehmen können, die ihnen im Rahmen ihrer rechtsprechenden Funktion zustehen (etwa die richterliche Unabhängigkeit), und möglicherweise geringeren Anforderungen im Hinblick auf die von ihnen zu gewährleistenden Verfahrensgarantien unterworfen sind, gelten für ihr rechtsprechendes Handeln in vollem Umfang die ihnen zustehenden verfassungsrechtlich verbürgten Privilegien und Pflichten.280 Darüber hinaus ergeben sich aus der Zuordnung richterlicher Tätigkeit zum rechtsprechenden oder verwaltenden Bereich justiziellen Handelns Konsequenzen für die Anrechnung bestimmter Tätigkeiten auf die Richterpensen. Allerdings haben die Erfahrungen der Modellprojekte deutlich gezeigt, dass sich die staatsfunktionsrechtliche Einordnung der Mediation indes in der Praxis, insbesondere in der Ausgestaltung der Mediationsprogramme, dem Verfahrensdesign sowie der Organisation, kaum auswirkt. Wesentliche Unterschiede zwischen den gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen, die auf eine unterschiedliche Einschätzung im Hinblick auf die Qualifikation der Mediation als Kernaufgabe richterlicher Tätigkeit und auf die damit in Anspruch genommene Rechtsgrundlage zurückzuführen wären, sind in der Praxis kaum feststellbar.
278
Hierzu instruktiv v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 260 mwN. Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 280 Zu dieser Problematik eingehend v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 256 ff. 279
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Relevant wird die verfassungsrechtliche Qualifikation des Mediationsverfahrens allerdings im Hinblick auf die Rollenidentität des Richters, dem maßgeblichen Richterbild, das dem Handeln staatlicher Justiz zugrunde gelegt wird.281 Im Kern geht es dabei um die Frage, ob das vermittelnde Handeln des Richters im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme als Kernaufgabe der Rechtsprechung aufrechterhalten und ausgebaut werden muss, oder ob in der Mediation durch Richter stattdessen vielmehr eine „Übergangslösung“ zu sehen ist, weil die Förderung der einvernehmlichen Beilegung von Rechtsstreitigkeiten nicht zu den Kernaufgaben der Justiz gehört und damit eine Rechtsdienstleistung angeboten würde, die der Anwaltschaft oder anderen vorbehalten ist.282 Die Klärung des Rechtsprechungsbegriffs im Hinblick auf die einvernehmliche Streitbeilegung ist daher von erheblicher rechtspolitischer Bedeutung. Dabei geht es letztlich um die Frage, ob die begonnene Institutionalisierung der Mediation durch gerichtsverbundene Mediationsangebote fortgesetzt wird oder sich die staatliche Justiz aus dem Mediationsangebot zurückzieht und die Mediation ausschließlich dem Markt privater Mediatoren überlassen bleibt. In dogmatischer Hinsicht ist zugleich eines der zentralen Probleme unserer Untersuchung angesprochen: Gehört die Mediation im Sinne einer umfassenden Konfliktbehandlungslehre zu den Verfahren, die als Teil des in einer Gesellschaft verfügbaren Instrumentariums zur Konfliktbehandlung von der staatlichen Justiz im Rahmen eines Multi-Door Courthouse zur Verfügung gestellt werden sollten? Oder sollte die staatliche Konfliktbearbeitung auf den Zivilprozess als „Königsweg“283 beschränkt bleiben?
281
Zum Verbot der Rollenvermischung (role confusion) vor dem Hintergrund von Fullers Prinzip der strukturellen Integrität vgl. eingehend oben S. 114 ff., 327 Fn. 66 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 404 ff. (1978). Vgl. auch Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999). 282 Dass das letzte Argument nicht durchgreifen kann, wird bereits durch die Tatsache deutlich, dass der Richter jedenfalls im Hinblick auf die anhängigen Verfahren seines Geschäftsbereiches stets und in jedem Fall nach § 278 Abs. 1 ZPO gesetzlich zur Förderung einer gütlichen Einigung verpflichtet ist. Hierfür kann er sich auch speziell ausgebildeter Hilfspersonen, insbesondere auch anderer Richter bedienen (§ 278 Abs. 5 S. 21 ZPO). Dass die Mediation nicht notwendig eine Rechtsdienstleistung darstellt und daher auch nicht ausschließlich der Anwaltschaft vorbehalten ist, zeigt bereits das interdisziplinär geprägte Berufsbild des Mediators. Daher lässt sich im Gegenteil zu Recht die Frage stellen, ob die Mediation, die eine Auseinandersetzung über Rechtspositionen gerade vermeiden will und stattdessen vielmehr auf den Ausgleich gegenseitiger Interessen gerichtet ist, überhaupt als Rechtsdienstleistung angesehen werden kann. 283 So Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5.
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aa) Interdisziplinärer Befund als Rahmen Aus rechtsvergleichender, rechtshistorischer und dogmatischer Perspektive lässt sich die Frage ohne weiteres zugunsten der Mediation beantworten: Die Institutionalisierung der Mediation als Teil des staatlichen Justizangebotes ist eine weltweit zu beobachtende Entwicklung, die durch eine Reihe von Initiativen auf internationaler (UNCITRAL Model Law on International Commercial Conciliation), europäischer (europäische Mediationsrichtlinie und ADRRichtlinie) und nationaler Ebene (Uniform Mediation Act in den USA, ZivMediatG in Österreich)284 auch vonseiten des Gesetzgebers und der Politik intensiv gefördert wird. Ein Ausscheren aus dieser Entwicklung würde geradezu anachronistisch anmuten und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Justiz im internationalen Vergleich erheblich mindern. Rechtshistorisch ist der Gütegedanke als Ausprägung informaler Billigkeit und Kehrseite des strengen Rechts stets untrennbarer Bestandteil des Rechts und darüber hinaus sogar Ursprung staatlicher Rechtsgewährung durch die Justiz gewesen, der im anglo-amerikanischen Rechtskreis durch das Prinzip der Equity und die Courts of Equity eine besonders deutliche Ausprägung erfahren hat.285 In dogmatischer Hinsicht ergibt sich die Einbettung der alternativen Streitbeilegung in ein umfassendes staatliches Verfahrensangebot aus dem Prinzip des Verfahrenspluralismus und der Verfahrenslehre, deren Grundzüge wir auf der Grundlage von Lon L. Fullers Institutionenlehre286 entwickelt haben. Die Ergebnisse unserer rechtstheoretischen und rechtssoziologischen Untersuchung stützen diesen Befund: Die systemimmanenten Schwächen streitiger Konfliktbehandlung durch den Zivilprozess haben deutlich gemacht, dass die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit als Zweck des Rechts durch das Instrument des Zivilprozesses prozedural nur unvollkommen gelingt und die Mediation, auch unter dem Gesichtspunkt interessengerechter Ergebnisse und des Rechtsfriedens als öffentlichem Gut, hierfür ein oft geeigneteres Instrument darstellt. Unsere rechtssoziologische Untersuchung hat schließlich ergeben, dass die Institutionalisierung der Mediation einem Wandel staatlicher Steuerung und staatlichen Handelns hin zu informalen und kooperativen Handlungsformen entspricht, der auch international in weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sichtbar wird. Aus diesem Befund – der, wie wir sehen werden, seinerseits auf den Rechtsprechungsbegriff zurückwirkt – ergibt sich, dass die Zuordnung der Mediation zu den Aufgaben der dritten staatlichen Gewalt, wenn nicht sogar zwingend, so doch in hohem Maße plausibel ist. Dieses 284
ZivMediatG v. 6.6. 2003, BGBl I, 29. Vgl. zur Geschichte des Gütegedankens Düll, Der Gütegedanke im römischen Zivilprozessrecht (1931); Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff.; Peters, Gütegedanke (2004). 286 Fuller, The Morality of Law (1964); Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981) sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3 (1963); Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305 (1971) und Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353 (1978). Vgl. hierzu eingehend S. 111 ff. sowie unten S. 493 ff. 285
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Ergebnis gilt es nun auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des verfassungsrechtlichen Schrifttums zu überprüfen. bb) Mediation als Annex zur richtenden Tätigkeit? Völlig unstreitig ist, dass den Richter eine Pflicht zur Förderung einer gütlichen Beilegung des Rechtsstreites jedenfalls als Annex seiner streitentscheidenden Tätigkeit trifft. Diese Pflicht ist für den Zivilprozess einfachgesetzlich in der Vorschrift des § 278 Abs. 1 ZPO konkretisiert. Entsprechende Regelungen finden sich ebenfalls in den verwaltungsrechtlichen und arbeitsgerichtlichen Verfahrensordnungen, so in § 87 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 VwGO und § 173 S. 1 VwGO, § 278 Abs. 1 ZPO287 sowie §§ 54 Abs. 1, 57 Abs. 2 ArbGG. Da § 278 Abs. 5 ZPO die Übertragung der vermittelnden Tätigkeit an nicht in der Sache entscheidende Güterichter vorsieht, gehört die gerichtsverbundene Mediation im Rahmen der vergleichsweisen Beilegung anhängiger Zivilverfahren jedenfalls als Annex ohne weiteres zum Aufgabenspektrum richterlicher Tätigkeit. Ist der erkennende Richter gem. § 278 Abs. 1 ZPO verpflichtet, in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtstreits hinzuwirken, so kann es nicht darauf ankommen, ob er dieser Verpflichtung durch eigene Einigungsbemühungen oder dadurch nachkommt, dass er einen zur einvernehmlichen Streitbeilegung besonders ausgebildeten und fachkundigen Güterichter hinzuzieht, wie dies die Vorschrift des § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO als – freilich in das Ermessen des erkennenden Gerichts gestellte288 – Möglichkeit vorsieht. Allerdings sagt die Qualifikation der richterlichen Mediation als Annex zur streitentscheidenden Tätigkeit des Richters per se noch nichts darüber aus, ob die vermittelnde Vergleichsförderung durch den Richter dem Bereich der
287 Die § 87 VwGO entsprechende Vorschrift zur Vorbereitung des sozialgerichtlichen Verfahrens findet sich in § 106 SGG. Nach § 106 Abs. 2 SGG hat der Vorsitzende bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Hierzu kann er nach § 106 Abs. 3 Nr. 7 SGG u.a. einen Termin anberaumen, das persönliche Erscheinen der Beteiligten hierzu anordnen und den Sachverhalt mit diesen erörtern. Von einer gütlichen Beilegung des Rechtsstreits ist in dieser Vorschrift hingegen nicht die Rede. Auch sonst findet sich keine Norm im Sozialgerichtsgesetz, die eine solche anordnet. Daraus könnte man schlussfolgern, dass der Gesetzgeber im Bereich des sozialrechtlichen Gerichtsverfahrens bewusst auf das Instrument der gütlichen Streitbeilegung verzichtet hat, so dass für § 278 Abs. 5 ZPO kein Raum ist. Möglicherweise hat der Gesetzgeber zum Zeitpunkt der letzten Reform des § 106 SGG aber auch gar nicht an die Möglichkeiten einer außergerichtlichen Streitbeilegung gedacht. Beim Projekt „gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen“ wird die Auffassung vertreten, dass es sich hier um eine Regelungslücke handelt, die durch die entsprechende Anwendung der ZPO-Regelungen zu schließen ist. 288 BeckOK/Bacher, ZPO (26. Ed. 2017), § 278 Rn. 20; Musielak/Voit/Foerste, ZPO (13. Aufl. 2016), § 278 Rn. 14; Greger, MDR 2014, 993, 995.
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Rechtsprechung oder der Gerichtsverwaltung zuzuordnen ist. Hierfür ist eine Klärung auf der Grundlage des Rechtsprechungsbegriffs des Art. 92 GG erforderlich. cc) Der Rechtsprechungsbegriff des Art. 92 GG Nach Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt ausschließlich den Richtern anvertraut. Die Vorschrift konkretisiert den Grundsatz der Gewaltenteilung des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG und konstituiert eine eigenständige dritte Gewalt, die jedenfalls in ihrem Kernbereich dem disponierenden Zugriff des Gesetzgebers wie der (Justiz-)Verwaltung entzogen ist.289 Die in ihrem Inhalt weit über Art. 103 WRV hinausgehende Vorschrift weist den Richtern ein Rechtsprechungsmonopol zu, das die Ausübung „rechtsprechender Gewalt“ im Verhältnis zu den zwei anderen staatlichen Gewalten ausschließlich auf staatliche Richter beschränkt. Angelegenheiten der Rechtsprechung iSv. Art. 92 HS. 1 GG dürfen nicht anderen staatlichen Stellen als den Gerichten zugewiesen werden. Die Exklusivität des Rechtsprechungsmonopols gilt in Konkretisierung des Gewaltenteilungsprinzips des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG allerdings nur gegenüber den anderen staatlichen Gewalten, nicht dagegen gegenüber Privaten. Dem staatlichen Gewaltmonopol korrespondiert kein staatliches Rechtsprechungsmonopol.290 Aus dieser Sonderstellung der Rechtsprechung im Gefüge des Verfassungsstaates ergeben sich weitreichende Einwirkungsmöglichkeiten auf die übrigen beiden Gewalten im Staat, jedoch ist die Rechtsprechung umgekehrt vor Kompetenzüberschreitungen der Legislative wie der Exekutive umfassend geschützt.291 Je weiter der Begriff der rechtsprechenden Gewalt gefasst wird, desto weiter verschiebt sich die Grenze ausschließlichen richterlichen Handelns, was zu Kompetenzverlusten bei den übrigen staatlichen Gewalten führt.292 Je enger er gefasst wird, umso kleiner wird der dem Einzelnen zugewiesene Bereich des gerichtlichen Rechtsschutzes.293 Der Rechtsprechungsbegriff ist daher vor dem Hintergrund eines ausgewogenen Verhältnisses zu den beiden anderen Staatsgewalten zu bestimmen und von diesen abzugrenzen.294
289 Maunz/Dürig/Hillgruber, GG (80. EL. 2017), Art. 92 Rn. 19. Vgl. zur Frage der Gewaltenteilung im Zuammenhang mit Art. 92 GG eingehend v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 151 ff. 290 Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke/Hopfauf, GG (13. Aufl. 2014), Vorb. v. Art. 92 Rn. 4, Art. 92 Rn. 6 ff. 291 Vgl. v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 149. 292 Darauf hat insbesondere v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 149 hingewiesen. 293 v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 149 294 Maunz/Dürig/Hillgruber, GG (80. EL. 2017), Art. 92 Rn. 21.
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Wird die gerichtsverbundene Mediation durch Güterichtern der Staatsaufgabe Rechtsprechung zugeordnet, so ergäbe sich daraus gem. Art. 92 GG im Hinblick auf die Gewaltenteilung nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG die Konsequenz, dass die Mediation rechtshängiger Verfahren unter der Ägide des Staates ausschließlich Richtern vorbehalten und dem Zugriff der anderen Gewalten entzogen wäre. Güterichtern könnten dann die Kompetenzen und Privilegien in Anspruch nehmen, die ihnen im Rahmen rechtsprechender Tätigkeit zustehen. Umgekehrt würde ihr Handeln den verfassungsrechtlichen Anforderungen staatlicher Justizgewährung unterliegen.295 Die Zulässigkeit der Tätigkeit privater Mediatoren auch im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation wird hiervon nicht berührt, weil sie – wie die ebenfalls private Schiedsgerichtsbarkeit – nicht von dem Exklusivitätsanspruch der rechtsprechenden Gewalt gem. Art. 92 GG erfasst wird. Der Begriff der rechtsprechenden Gewalt ist dogmatisch noch nicht endgültig geklärt. Der Normtext des Art. 92 gibt für die nähere Bestimmung des Rechtsprechungsbegriffes nicht viel her, sondern ist in hohem Maße auslegungsbedürftig.296 Das BVerfG wendet einen formellen, materiellen wie auch einen funktionalen Rechtsprechungsbegriff nebeneinander an, ohne deren Verhältnis zueinander abschließend zu konkretisieren. Auch in der Literatur ist die grundlegende Diskussion darüber, was unter dem Begriff der „rechtsprechenden Gewalt“ zu verstehen ist, keineswegs abgeschlossen, sondern hat vielmehr eine Fülle unterschiedlicher Ansätze hervorgebracht.297 Einstimmigkeit herrscht indes insoweit, als eine Kongruenz der Begriffe der Rechtsprechung und der Rechtspflege abgelehnt wird.298 Denn während die Rechtsprechung allein dem Richter vorbehalten ist, bleibt seine Tätigkeit jedoch nicht hierauf beschränkt. Daher ist nicht alles, was zu den Aufgaben der Gerichte gehört, ausschließlich den Richtern vorbehaltene Ausübung rechtsprechender Gewalt iSv. Art. 92 GG. Die Rechtsprechung ist abzugrenzen von der Gerichtsverwaltung, die den Gerichten außerhalb ihres verfassungsrechtlichen Rechtsprechungsauftrages durch den Gesetzgeber zugewiesen ist.299
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So auch v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 148, 228. Zu weitgehend aber Sachs/Detterbeck, GG (7. Aufl. 2014), Art. 92 Rn. 2 („Auslegungsbedürftige Blankettformel“). 297 Vgl. nur v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 165 ff. mwN. 298 Maunz/Dürig/Hillgruber, GG (80. EL. 2017), Art. 92 Rn. 19; v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 199 mwN. Vgl. zur Rechtspflege oder Rechtsprechung im weiteren Sinn Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 33 f. 299 Maunz/Dürig/Hillgruber, GG (80. EL. 2017), Art. 92 Rn. 19. Vgl. hierzu BVerfGE 22, 49, 77; 76, 100, 106. 296
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 491
(1) Der formelle Rechtsprechungsbegriff Zur Bestimmung des Rechtsprechungsbegriffs des Art. 92 GG lassen sich zunächst die im Grundgesetz und in einfachgesetzlichen Vorschriften enthaltenen Richtervorbehalte und Rechtswegeröffnungen heranziehen.300 Der normative Befund wird dabei nicht als inhaltliche Auslegungshilfe zur Bestimmung abstrakter materieller Kriterien, sondern allein formell als abschließendes Zuordnungsregime verwertet. Zur Rechtsprechung im formellen Sinne gehören daher diejenigen Aufgaben, die den Gerichten durch die Verfassung selbst oder durch einfaches Recht zugewiesen sind.301 Dabei kommt der unmittelbaren Zuordnung durch die Verfassung in zweifacher Hinsicht besondere Bedeutung zu: Zum einen ergeben sich die herkömmlicherweise wichtigsten Aufgaben der Gerichte, die aufgrund der Schwere des Eingriffs und ihrer Grundrechtsrelevanz in besonderer Weise des gerichtlichen Rechtsschutzes bedürfen, bereits unmittelbar aus dem Grundgesetz.302 Zum anderen wird damit der Begrenzung der rechtsprechenden Gewalt durch die Legislative der Boden entzogen und ein Ergebnis vermieden, das durch die Privilegierung der rechtsprechenden Gewalt in Art. 92 GG gerade verhindert werden soll. Allerdings wird nach der Rechtsprechung des BVerfG die formelle Zuordnung gerichtlichen Handelns zur rechtsprechenden Gewalt nicht ausschließlich durch die Verfassung, sondern darüber hinaus von der „durch den Gesetzgeber vorgenommenen Qualifizierung“ bestimmt.303 Die Einbeziehung einfachgesetzlicher Zuordnungsvorschriften ist indes bedenklich, weil Art. 92 GG sonst
300 Während für die formelle Zuordnung gerichtlichen Handelns zur rechtsprechenden Gewalt in erster Linie die Verfassung selbst herangezogen wird, kann diese nach BVerfGE 64, 175 = NJW 1983, 2812, 2812 indes von der „durch den Gesetzgeber vorgenommenen Qualifizierung“ abhängen. Danach „handelt (es) sich um materielle Rechtsprechung, wenn der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren hoheitlicher Streitbeilegung vorsieht und den dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung verleiht, die nur unabhängige Gerichte herbeiführen können.“ BVerfGE, 103, 111; BVerfG NJW-RR 2010, 1063, 1064, 1064. 301 Maunz/Dürig/Hillgruber, GG (80. EL. 2017), Art. 92 Rn. 32 f. Vgl. auch BVerfGE 22, 49, 75 ff.; 103, 111, 137; zuletzt BVerfG NJW 2004, 2725, 2726; BVerfG NJW-RR 2010, 1063, 1064, 1064. Die Rechtsprechung kann missverständlich sein, weil gleichwohl von einem Verständnis der „Rechtsprechung in einem materiellen Sinn“ (BVerfGE 22, 49, 74 f., 76 f.; BVerfGE 103, 111, 137) die Rede ist, der Rechtsprechungsbegriff jedoch an die Aufgabenzuweisung durch andere Vorschriften angeknüpft wird. Das Problem entschärft sich jedoch erheblich, wenn man berücksichtigt, dass das Gericht nicht bei der formalen Zuordnung stehenbleibt, sondern den Inhalt der grundgesetzlichen Zuordnungsvorschriften nutzt, um den Rechtsprechungsbegriff materiell anzureichern. 302 BVerfGE 103, 111. 303 BVerfGE 64, 175 = NJW 1983, 2812, 2812. Vgl. insoweit auch BVerfGE, 103, 111; BVerfG NJW-RR 2010, 1063, 1064, 1064. Danach „handelt (es) sich um materielle Recht-
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unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt stünde, der sich der Vorschrift indes gerade nicht entnehmen lässt.304 Ein rein formales Verständnis des Rechtsprechungsbegriffs vermag daher nicht zu überzeugen. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil den Gerichten mit der Gerichtsverwaltung gesetzlich Aufgaben zugewiesen sind, die unstreitig nicht zu der Ausübung rechtsprechender Gewalt gehören. Aus der Aufgabenzuweisung als solcher lässt sich damit keine hinreichende inhaltliche Bestimmung des Rechtsprechungsbegriffes erzielen. Dies zeigt in besonderer Deutlichkeit gerade das vorliegende Problem der staatsfunktionalen Qualifizierung der gerichtsverbundenen Mediation: Zwar weist der Gesetzgeber den Richtern in § 278 Abs. 1 ZPO die Aufgabe zu, in jeder Lage des Verfahrens vermittelnd auf eine gütliche Einigung des Rechtsstreites hinzuwirken und sich dabei – im Wege der Verweisung – auch eines Güterichters zu bedienen, § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO. Auf der Grundlage des formellen Rechtsprechungsbegriffs wäre die gerichtsverbundene Mediation durch Richter aufgrund gesetzlicher Aufgabenzuweisung daher ohne weiteres als Rechtsprechung zu qualifizieren. Allerdings ist gerade zu klären, ob aufgrund der Vorschrift in der Mediation eine rechtsprechende oder nur lediglich verwaltende Tätigkeit des Richters zu sehen ist. Eine ausschließliche Anknüpfung an die vom Gesetzgeber vorgesehene Zuweisung wäre daher zirkulär. (2) Der materielle Rechtsprechungsbegriff Das BVerfG hat den Begriff der rechtsprechenden Gewalt daher seit jeher auch von den jeweiligen sachlichen Tätigkeitsbereichen her materiell bestimmt. Dabei hat es zunächst zwar auch auf die Vorschriften der Verfassung selbst oder einfachgesetzliche Regelungen zurückgegriffen, durch die den Richtern hoheitliche Aufgaben übertragen werden. Jedoch ist es nicht bei der bloßen Feststellung einer formalen Zuständigkeitseröffnung stehengeblieben, sondern hat den inhaltlichen Gehalt der jeweiligen Verweisungsnormen und die in ihnen angesprochenen sachlichen Tätigkeitsbereiche fruchtbar gemacht, um mit ihrer Hilfe den Rechtsprechungsbegriff des Art. 92 GG materiell anzureichern. Daneben hat das BVerfG über den Kreis der in der Verfassung ausdrücklich genannten Aufgaben hinaus in historischer Auslegung auch die traditionellen Kernbereiche der Rechtsprechung – die bürgerliche Rechtspflege und die Strafgerichtsbarkeit – der rechtsprechenden Gewalt zugerechnet, weil sie in ih-
sprechung, wenn der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren hoheitlicher Streitbeilegung vorsieht und den dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung verleiht, die nur unabhängige Gerichte herbeiführen können.“ BVerfG NJW-RR 2010, 1063, 1064, 1064 304 Die Einbeziehung einfachgesetzlicher Zuordnungen in BVerfGE 64, 175 und BVerfGE, 103, 111 ist daher bedenklich. So auch v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 165.
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 493
rer Existenz vom Verfassungsgeber vorausgesetzt worden sind. Um Rechtsprechung in einem materiellen Sinn handelt es sich daher immer dann, wenn bestimmte hoheitliche Befugnisse bereits durch die Verfassung oder das Gesetz den Richtern zugewiesen sind oder dem traditionellen Kernbereich der Rechtsprechung zugehören.305 Insbesondere ist die Entscheidung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten vermögensrechtlicher Art als typische Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt anzusehen.306 Ob auch die gerichtsverbundene Mediation durch Richter selbst nach einem materiellen Verständnis des Rechtsprechungsbegriffs als Ausübung rechtsprechender Gewalt iSd. Art. 92 GG anzusehen ist, ist verfassungsrechtlich indes noch nicht geklärt, weil hierzu bisher keine Veranlassung bestand. Allerdings hat das BVerfG in einer jüngeren Entscheidung klargestellt, dass die Bewältigung einer „zunächst streitigen Problemlage durch eine einverständliche Lösung … auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung“ sei.307 Entsprechend hat der BGH bereits vor über 40 Jahren klargestellt, dass die gütliche Beilegung von Rechtsstreitigkeiten „neben der Entscheidung durch Urteil zu den bedeutungsvollsten Aufgaben des Richters (gehört) und … daher ebenso wie der Rechtsspruch dem Kernbereich richterlicher Tätigkeit zuzuordnen“ sei.308 Sie spiele erfahrungsgemäß in der gerichtlichen Praxis eine erhebliche Rolle, so dass das Gericht unter Inanspruchnahme seiner verfassungsrechtlich geschützten „richterliche(n) Unabhängigkeit zu prüfen und zu entscheiden (habe), ob ein Vergleich überhaupt anzustreben ist, welche Vorbereitungen für eine Einigung der Parteien getroffen werden sollen und in welcher Weise dies geschehen soll.“309 Der höchstrichterlichen Rechtsprechung folgend hat nun auch das OLG Rostock mit Blick auf die gerichtsverbundene Mediation klargestellt, „dass die … richterliche Mediation als rechtsprechende Gewalt, wenn selbstverständlich auch nicht als Spruchrichtertätigkeit, angesehen werden kann.“310 Die Entscheidung stützt sich insbesondere auf das Argument, dass die Förderung einer 305 Das BVerfG verwendet im Hinblick auf den materiellen Rechtsprechungsbegriff dabei überwiegend zwei Formeln, die sich im Wesentlichen durch die Einbeziehung des einfachen Gesetzes unterscheiden. BVerfG NJW 2004, 2725: „Um Rechtsprechung in einem materiellen Sinn handelt es sich, wenn bestimmte hoheitliche Befugnisse bereits durch die Verfassung den Richtern zugewiesen sind oder dem traditionellen Kernbereich der Rechtsprechung zugehören.“ Ähnlich auch BVerfGE 22, 49, 76 f. Vgl. demgegenüber BVerfGE 64, 175, 179: „Ob die Wahrnehmung einer Aufgabe als ‚Rechtsprechung‘ anzusehen ist, hängt wesentlich von der verfassungsrechtlichen, traditionellen oder durch den Gesetzgeber vorgenommenen Qualifizierung ab.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 306 BVerfGE 14, 56, 66; 103, 111. 307 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 308 BGHZ 47, 275 = NJW 1967, 2054, 2056. 309 BGHZ 47, 275 = NJW 1967, 2054, 2056. 310 OLG Rostock NJ 2007, 76. Vgl. auch OLG Greifswald, NordÖR 2006, 299, 300.
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gütlichen Einigung durch den Richter gem. § 278 Abs. 1, 2 ZPO unbestritten als „rechtsprechende Tätigkeit des Richters bzw. Vorbereitung der rechtsprechenden Tätigkeit angesehen wird“ und gleiches auch für die Tätigkeit eines gem. § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO a.F. beauftragten oder ersuchten Richters in der Güteverhandlung gelten müsse.311 Diesem Ergebnis ist zuzustimmen. Diese Grundsätze sind darüber hinaus ohne weiteres auf die aktuelle Rechtslage nach der Reform der Vorschrift durch das MedFördG 2012312 übertragbar und gelten daher erst Recht für den Güterichter iSd. § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO. Die Förderung gütlicher Einigung gehört damit zum Kernbereich der Rechtsprechung, was angesichts der hohen und stetig steigenden Vergleichsquote auch empirisch bestätigt wird.313 (3) Der funktionelle Rechtsprechungsbegriff Um dem Begriff der rechtsprechenden Gewalt schärfere Konturen zu verleihen, beschränkt sich das BVerfG nicht auf die Bestimmung der sachlichen Tätigkeitsbereiche rechtsprechenden Handelns, sondern stellt darüber hinaus auf die Art und Weise der konkreten sachlichen Tätigkeit ab. Dem allgemeineren Begriff der Rechtsprechung im materiellen Sinn wird der konkretisierende Begriff der Rechtsprechung im funktionellen Sinn zur Seite gestellt. Danach ist rechtsprechende Gewalt iSd. Art. 92 GG auch dann gegeben, wenn der Gesetzgeber für einen Sachbereich, der nicht bereits materiell dem Rechtsprechungsbegriff unterfällt, eine Ausgestaltung wählt, die bei funktioneller Betrachtung auf die rechtsprechende Gewalt zugeschnitten ist.314 Es handelt sich ungeachtet des jeweiligen sachlichen Gegenstands um Rechtsprechung im funktionellen Sinn, wenn der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren hoheitlicher Streitbeilegung vorsieht und den dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung verleiht, die ausschließlich den unabhängigen Gerichten vorbehalten ist.315 Zu den wesentlichen Begriffsmerkmalen der Rechtsprechung gehören dabei insbesondere die Elemente der Entscheidung, der letztverbindlichen, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs dessen, was im konkreten Fall rechtens ist.316 Kennzeichen rechtsprechender Tätigkeit ist typischerweise die letztverbindliche Klärung der Rechtslage im Rahmen eines
311
OLG Rostock NJ 2007, 76. Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 313 Vgl. hierzu oben S. 62 ff. 314 BVerfGE 103, 111. 315 BVerfGE 103, 111. 316 BVerfGE 103, 111; BVerfG NJW 2004, 2725, 2726. Vgl. auch BVerfGE 7, 183, 188 f.; BVerfGE 31, 43, 46; BVerfGE 60, 253, 269 f. 312
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 495
verfahrensrechtlich entsprechend ausgestalteten förmlichen Verfahrens, das die hierfür erforderlichen prozessualen Sicherungen gewährleistet.317 In Konkretisierung dieser Formeln hat das BVerfG über die Jahre hinweg eine Reihe von Elementen herausgearbeitet, die für die rechtsprechende Tätigkeit typischerweise charakteristisch sind. Danach ist Rechtsprechung hinsichtlich ihrer Entscheidungswirkungen auf die Herbeiführung rechtskraftfähiger, letztverbindlicher Entscheidungen über Rechtsansprüche in Rechtsstreitigkeiten gerichtet, wobei die Entscheidung ausschließlich auf der Grundlage rechtlicher Maßstäbe, insbesondere des Gesetzesrechts, erfolgt. Diese Entscheidung erfolgt, wenn man die Eigenschaften des Entscheidenden in den Blick nimmt, durch eine an der Streitsache unbeteiligte, unparteiische und neutrale dritte Instanz, deren Mitglieder jedenfalls zum Teil rechtskundig sind und im Rahmen ihrer Spruchtätigkeit keinen Weisungen unterliegen. Sie genießen sachliche Unabhängigkeit iSd. Art. 97 Abs. 1 GG und verfügen zu deren Sicherung über eine nach Art. 97 Abs. 2 GG institutionell gesicherte persönliche Unabhängigkeit.318 Die Strukturelemente des funktionellen Rechtsprechungsbegriffs bilden zugleich das Einfallstor für eine kaum mehr überschaubare Fülle weiterer Ansätze, mit denen sich die Literatur um eine verlässliche abstrakt-generelle Definition rechtsprechenden Handelns bemüht. Betrachten wir das Ringen um eine konkretisierende Klärung des Inhaltes rechtsprechenden Handelns im Vergleich zum materiellen Ansatz näher, so wird in methodischer Hinsicht deutlich, dass sich das BVerfG mit seinem funktionellen Ansatz vor allem darum bemüht, über die bereits mit dem materiellen Rechtsprechungsbegriff abgedeckten sachlichen Tätigkeitsbereiche typischer Rechtsprechung hinaus nun auch die Art und Weise rechtsprechenden Handelns des Richters unabhängig vom jeweils betroffenen Sachgebiet in seinem funktionellen Wirkzusammenhang zu erfassen. Neben ein thematisch-sachbezogenes tritt nun ein funktionell-tätigkeitsbezogenes Verständnis. Beide Ansätze haben indes gemeinsam, dass sie auf ihre je eigene Art die Kernbereiche und Kennzeichen richterlichen Handelns zu beschreiben versuchen, die typischerweise zum traditionellen Kernbereich der Rechtsprechung gehören. Sie sind daher beide gleichermaßen darauf angewiesen, auf das traditionelle Leitbild klassischen richterlichen Handelns zurückzugreifen. Der begrifflichen Bestimmung rechtsprechenden Handelns wird daher zum einen das historische Verständnis des vom Verfassungsgeber als existent vorausgesetzten Rechtsprechungsbegriffs, zum anderen das Verhältnis der rechtsprechenden zu den beiden übrigen Gewalten im System der Gewaltenteilung des Staates zugrunde gelegt.319 Während sie damit das historisch tradierte Bild der
317
BVerfGE 103, 111; BVerfG NJW 2004, 2725, 2726. Vgl. auch BVerfGE 4, 358, 363. Maunz/Dürig/Hillgruber, GG (80. EL. 2017), Art. 92 Rn. 38. 319 Zum methodischen Zugang zur Problematik vgl. eingehend MD/ Rn. 20 f. 318
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Rechtsprechung als Teil des Verfassungsgefüges als einheitlichen Ausgangspunkt und Quelle der weiteren Begriffsbestimmung gemeinsam haben, unterscheiden sie sich dagegen in der Methode, mit der sie dieses Bild beschreiben: Während der materielle Ansatz die sachlich-thematische Seite (res) der Rechtsprechung erschließt, deckt der funktionelle Ansatz die funktional-operative (modus) Seite der Staatsfunktion Rechtsprechung ab. Aus dieser Einsicht ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Frage, ob die vermittelnde Tätigkeit des Richters im Rahmen der gerichtsnahen Mediation zur Rechtsprechung iSd. Art. 92 GG zu rechnen ist. Vor dem Hintergrund der aufgeworfenen Frage der Qualifikation vermittelnder Tätigkeit des Richters fällt zunächst auf, dass das richterliche Handeln in der Ausübung rechtsprechender Gewalt nahezu ausschließlich als letztverbindliche, rechtskraftfähige Entscheidung über Rechtsansprüche beschrieben und damit auf die kontradiktorische Streitbeilegung durch heteronom-hoheitliche Drittentscheidung reduziert wird. Aus diesem Grunde wird die gerichtsverbundene Mediation von einem Teil des Schrifttums nicht der Rechtsprechung, sondern vielmehr der Gerichtsverwaltung zugeordnet. Allerdings hat das BVerfG stets betont, dass der „Begriff der rechtsprechenden Gewalt … durch die Verfassungsrechtsprechung nicht abschließend geklärt“ sei.320 Das bedeutet im Ergebnis, dass aus der Tatsache, dass die schlichtende Tätigkeit des Richters im Allgemeinen und die gerichtsverbundene Mediation im Besonderen in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bislang nicht expressis verbis dem Aufgabenbereich der rechtsprechenden Gewalt zugewiesen worden sind, keinesfalls geschlossen werden kann, dass sie deshalb aus dem Bereich rechtsprechender Tätigkeit des Richters herausfallen. Dies gilt umso mehr, als das Strukturelement der letztverbindlichen, rechtskraftfähigen Entscheidung über Rechtsansprüche lediglich eine nicht abschließende Konkretisierung typischer rechtsprechender Tätigkeit darstellt und nicht als abstrakte Definition des Rechtsprechungsbegriffs iSd. Art. 92 GG verstanden werden darf. Denn eine Formel, die sämtliche Aspekte rechtsprechender Tätigkeit zuverlässig zu erfassen vermag und die zudem eine breite Gefolgschaft hinter sich versammeln würde, ist noch nicht gefunden worden. Im Gegenteil ist gerade unklar, welche Strukturelemente und Tätigkeiten von einer solchen Formel zu erfassen wären. Entsprechend kann eine Begriffsbestimmung nur eine – keineswegs abschließende – fragmentarische Annäherung an das historisch tradierte Leitbild rechtsprechender Gewalt bleiben, die unter dem Vorbehalt der Ergänzung steht. Solange eine verlässliche Möglichkeit deduktiver Begriffsbestimmung auf der Grundlage einer abstrakt-generellen Definition fehlt, bleibt lediglich die Möglichkeit, den Rechtsprechungsbegriff möglichst umfassend, jedoch stets schlaglichtartig auszuleuchten. Dies kann stets nur in dem Bewusstsein erfolgen, dass zentrale Bereiche des Begriffes 320
BVerfGE 103, 111, 136.
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 497
noch nicht erfasst worden sind, weil allein die für die jeweilige konkrete Entscheidung im Einzelfall relevanten Teilbereiche in das Licht des entscheidenden Gerichtes treten. Eine Klärung ist daher nur auf induktivem Wege auf der Grundlage des normativen und historischen Befundes möglich. Einen verlässlichen Anhaltspunkt für die inhaltliche Bestimmung rechtsprechender Staatsgewalt kann zum einen das historische Leitbild rechtsprechenden Handelns liefern, das eine Konkretisierung der traditionellen Kernbereiche der Rechtsprechung erlaubt. Zum anderen ergeben sich aus dem einfachen Recht sowie aus den Vorschriften der Verfassung selbst inhaltliche Anhaltspunkte dafür, was als Rechtsprechung iSd. Art. 92 GG anzusehen ist. Entsprechend hat auch das BVerfG diese drei Quellen zur Grundlage der weiteren Begriffsbestimmung gemacht. Ob die Wahrnehmung einer Aufgabe als Rechtsprechung anzusehen ist, hängt danach „wesentlich von der verfassungsrechtlichen, traditionellen oder durch den Gesetzgeber vorgenommenen Qualifizierung ab.“321 Wie wir gesehen haben, ist die rechtsprechende Tätigkeit des Richters keineswegs auf das Richten, d.h. auf die Herbeiführung letztverbindlicher, rechtskraftfähiger Entscheidungen über Rechtsansprüche beschränkt. Zwar nimmt die Spruchrichtertätigkeit einen wesentlichen Teil richterlichen Handelns ein und ist für die Identität wie auch die Praxis der Rechtsprechung zweifellos prägend. Jedoch hat das BVerfG zu Recht klargestellt, dass das Bemühen, „eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, … auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung“ sei.322 Dem entspricht das Primat der Mediation im Kontinuum sämtlicher Streiterledigungsverfahren, insbesondere gegenüber dem Zivilprozess, das wir im Rahmen unserer Strukturanalyse herausgearbeitet haben. Entsprechend hat auch der BGH festgestellt, dass die „gütliche Beilegung von Rechtsstreiten … erfahrungsgemäß in der gerichtlichen Praxis eine erhebliche Rolle“323 spielt und einen erheblichen Teil richterlicher Tätigkeit ausmacht. Sie gehört daher neben der Spruchrichtertätigkeit zu den bedeutungsvollsten Aufgaben des Richters und ist dem Kernbereich richterlicher Tätigkeit zuzuordnen.324 Da heute an den Landgerichten ebenso viele Vergleiche abgeschlossen wie Urteile gesprochen und die Praxis der Gerichte
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BVerfGE 64, 175. BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 323 BGHZ 47, 275 = NJW 1967, 2054, 2056. 324 BGHZ 47, 275 = NJW 1967, 2054, 2056. So schon Arndt, NJW 1967, 1585, 1585 ff. (zur Friedensaufgabe des Richters); Stürner, DRiZ 1976, 202, 203 ff.; Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 270 („Die Führung von Vergleichsverhandlungen ist deshalb vom BGH zu Recht dem rechtsprechenden Tätigkeitsbereich im weiteren Sinn zugerechnet worden, der den Schutz der richterlichen Unabhängigkeit genießt“); Stürner, JR 1979, 133, 135 ff.; Freund, DRiZ 1983, 136, 138 („Auch im Bemühen um eine sinnvolle Konfliktlösung durch Vergleich übt 322
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durch eine deutliche Zunahme der Vergleichs- (seit 1975 um 55 %)325 und drastische Abnahme der Urteilsquote (86 % im gleichen Zeitraum)326 geprägt ist, kann das schlichtende Handeln des Richters schlechterdings nicht dem Bereich rechtsprechender Gewalt entzogen und Rechtsprechung auf bloße Spruchrichtertätigkeit beschränkt werden. Dem entspricht auch der deutliche Ausbau der Vergleichsförderungspflicht des Richters in § 278 ZPO durch den Reformgesetzgeber327, die als Ausprägung des Gütegedankens das gesamte richterliche Handeln durchzieht und das historisch tradierte Leitbild rechtsprechender Gewalt bis heute prägt. Dass das BVerfG in seiner Judikatur zur staatsfunktionsrechtlichen Qualifizierung der streitvermittelnden Tätigkeit des Richters vor dem Hintergrund des Rechtsprechungsbegriffs des Art. 92 GG bislang noch nicht Stellung genommen hat, darf nicht verwundern, weil diese Frage erst mit Beginn des gerade am Anfang stehenden Institutionalisierungsprozesses der richterlichen Streitvermittlung im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme mit größerer Dringlichkeit aktuell geworden ist.328 Damit ergibt sich auch aufgrund des funktionellen Verständnisses rechtsprechender Gewalt das Ergebnis, dass die gerichtsverbundene Mediation ohne weiteres dem Bereich rechtsprechenden richterlichen Handelns iSd. Art. 92 GG zuzuordnen ist. c) Verfassungsrechtliche Anforderungen an den Güterichter Aus der Qualifikation der gerichtsverbundenen Richtermediation als Rechtsprechung iSd. Art. 92 GG ergeben sich besondere verfassungsrechtliche Anforderungen an das gerichtliche Mediationsverfahren.329 Während der Güterichter einerseits die ihm durch die Verfassung gewährte Garantie der persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG in Anspruch
der Richter sein Amt der rechtsprechenden Gewalt aus und unterliegt dabei dessen Grenzen und Bindungen.“); Freund, DRiZ 1981, 221, 222. Vgl. zum rechtssoziologischen Befund auch Rogowski, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 171. 325 Vgl. oben S. 60 f. 326 Vgl. oben S. 60 f. 327 Hatte die Vorschrift bereits im Rahmen des ZPO-RG vom 27.7.2001 (BGBl. I 2001, 1887 ff.) – insbesondere durch Berücksichtigung der ADR-Verfahren – eine grundlegende Umgestaltung erfahren, so sind die Möglichkeiten des Gerichts zur Vergleichsförderung mit den Änderungen iRd. MedFördG vom 21.07.2012 (BGBl. I 2012, 1577 ff.) noch einmal erheblich erweitert worden. 328 Im Vergleich etwa zum BGH macht sich hierbei auch die aufgrund der strengen Zulässigkeitsvoraussetzungen nach dem BVerfGG und der Subsidiarität gegenüber den Fachgerichten geringe Falldichte des Bundesverfassungsgerichts bemerkbar. 329 Hierzu eingehend Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 58 ff.
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 499
nehmen kann und insoweit keinen Weisungen seitens der Justizverwaltung unterliegt, ist er andererseits als Träger rechtsprechender Staatsgewalt nach Art. 97 Abs. 1 GG an Recht und Gesetz gebunden.330 Den Parteien stehen im Rahmen gerichtlicher Mediation grundsätzlich dieselben justiziellen Grundrechte als rechtsstaatliche Gewährleistungen der Gerichtsbarkeit zu, die sie auch als Prozessgrundrechte im Rahmen des Zivilprozesses als gerichtlichem Entscheidungsverfahren in Anspruch nehmen können. Dazu gehören neben dem Anspruch auf Gleichbehandlung und Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 2 GG), auf Wahrung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) der Anspruch auf ein faires Verfahren (Rechtsstaatsprinzip iVm. Art. 2 Abs. 1 GG). Allerdings erfahren diese ursprünglich für ein kontradiktorisches Entscheidungsverfahren geschaffenen Vorschriften in der gerichtlichen Mediation zum Teil eine korrigierende Überformung, weil sie, um thematisch weiter anwendbar bleiben zu können, aufgrund der unterschiedlichen Struktur von Mediation und Zivilprozess in ihrem materiellen Gehalt auf die Besonderheiten der nicht entscheidenden, sondern lediglich vermittelnden Tätigkeit des Mediators angepasst werden müssen. Diese im Wege der teleologischen Interpretation vorzunehmende normative Korrektur muss verfassungskonform und unter Berücksichtigung des Sinnund Wesensgehaltes der jeweiligen grundgesetzlichen Garantien erfolgen und darf zu keiner Minderung des verfassungsrechtlichen Schutzniveaus führen. Wir wollen den durch die grundgesetzlichen Gewährleistungen geschaffenen verfassungsrechtlichen Rahmen nun vor dem Hintergrund des Rollenbildes des Güterichters näher in den Blick nehmen. aa) Richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) Das Grundgesetz garantiert in Art. 97 die Unabhängigkeit der Richter. Die richterliche Unabhängigkeit ist für die Ausübung rechtsprechender Gewalt schlechthin konstitutiv und entspricht als Konkretisierung des Grundsatzes der Gewaltenteilung nach Art. 20 Abs. 3 GG der Sonderstellung, die der dritten Gewalt im Gefüge des Verfassungsstaates zukommt. Unabhängigkeit bedeutet dabei vor allem sachliche Unabhängigkeit vor Eingriffen der Legislative und der Exekutive: Richter sind in ihrer rechtsprechenden Funktion keinen Weisungen unterworfen und somit auch gegenüber der Justizverwaltung als ihrem Dienstherren vor steuernden Eingriffen geschützt. Institutionell abgesichert wird die sachliche Unabhängigkeit der Richter durch die ihnen zukommenden Garantien der grundsätzlichen Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit als Ausprägungen persönlicher Unabhängigkeit. Geschützt ist dabei das gesamte Spektrum richterlicher Tätigkeit, soweit diese als Ausübung rechtsprechender 330
Ablehnend Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 74.
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Gewalt iSd. Art. 92 Abs. 1 GG und nicht als Justizverwaltung zu qualifizieren ist. Wird die vermittelnde Tätigkeit des Güterichters im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes331 und die neuere obergerichtliche Judikatur332 zu Recht dem Bereich rechtsprechenden Handelns zugeordnet333, so steht ihm daher auch im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation in vollem Umfang die verfassungsrechtliche Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit zu.334 Damit ist es der Justizverwaltung verwehrt, die Einrichtung gerichtsverbundener Mediationsprogramme von rechtspolitischen Erwägungen abhängig zu machen oder durch dienstliche Weisung, die Verkürzung der Mediationsdauer oder Einigungsdruck in unzulässiger Weise in das gerichtliche Mediationsverfahren einzugreifen. Der Güterichter kann die ihm als Träger rechtsprechender Staatsgewalt durch die Verfassung zukommende Garantie sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit in der Mediation in gleicher Weise in Anspruch nehmen wie im Rahmen seiner spruchrichterlichen Tätigkeit. bb) Anspruch auf ein faires Verfahren (Rechtsstaatsprinzip iVm. Art. 2 Abs. 1 GG) Auf der anderen Seite hat der Güterichter in der gerichtsverbundenen Mediation den Anspruch der Parteien auf ein faires Verfahren zu beachten. Eine solche Pflicht des Mediators entspricht der Natur des Mediationsverfahrens als gerechtem Verfahren und der Verfahrensgerechtigkeit als eines der die Mediation prägenden Grundprinzipien, die wir bereits in den vorangegangenen Abschnitten kennengelernt haben. Über das allgemeine Prozessgrundrecht der Verfahrensfairness, das vom BVerfG aus dem Rechtsstaatsprinzip iVm. dem Grundsatz der freien Entfaltung der Persönlichkeit gem. Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitet wird, findet der Grundsatz des fairen Verfahrens für den Bereich der gerichtsverbundenen Mediation seine verfassungsrechtliche Verankerung. Es verpflichtet den Güterichter, das Mediationsverfahren so zu gestalten, wie es die Parteien von ihm erwarten dürfen, und sein Handeln am Fairnessgebot auszurichten. Aus dem Gebot der Verfahrensfairness ergibt sich damit sowohl die Neutralitätspflicht des Mediators wie auch seine Verpflichtung, über die Einhaltung der wesentlichen Grundsätze des Mediationsverfahrens zu wachen. Er darf darüber hinaus aus seinen eigenen oder den ihm zurechenbaren Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile für die Parteien ableiten und ist verpflichtet, gegenüber den Parteien mit Blick auf ihre individuelle Situation in einer Weise Rücksicht zu nehmen, dass sie ihr Recht auf informierte, 331
BGHZ 47, 275 = NJW 1967, 2054, 2056. OLG Greifswald, NordÖR 2006, 299, 300; OLG Rostock NJ 2007, 76. 333 Vgl. hierzu oben S. 396 ff. 334 Ebenso Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 53 ff., 62 f.; v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 145 ff., 227 ff. mwN. 332
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 501
privatautonome und gemeinsame Sachentscheidung effektiv wahrnehmen können. Anders als Art. 6 EMRK, der auf gerichtsverbundene Mediationsverfahren keine Anwendung findet, setzt das grundgesetzlich garantierte Recht auf ein faires Verfahren nicht das Vorhandensein eines „auf Gesetz beruhenden Gerichts“ voraus und hat damit auch in der gerichtsverbundenen Mediation Geltung. Es steht in einem engen Zusammenhang zum Anspruch auf rechtliches Gehör und den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Waffengleichheit, denen aufgrund ihrer gesonderten Normierung in Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 2 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip als besondere Ausprägungen der Verfahrensfairness im deutschen Verfassungsrecht eine über die Verfahrensfairness hinausgehende eigenständige Bedeutung zukommt. cc) Gleichbehandlungsgrundsatz und Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 2 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und das Rechtsstaatsprinzip garantieren den Parteien die Gleichwertigkeit ihrer prozessualen Stellung vor Gericht, die gleichmäßige Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang und im Interesse materieller Gerechtigkeit damit eine gleiche Rechtsanwendung durch den Richter.335 Für die Parteien bedeutet dies Waffengleichheit vor Gericht, für den Richter Neutralität. Dem Richter ist es verwehrt, eine Partei gegenüber der anderen zu bevorzugen oder sich bei der Prozessleitung und der richterlichen Entscheidung von sachfremden Erwägungen leiten zu lassen. In formeller Hinsicht ergibt sich daraus der Grundsatz der Allparteilichkeit336. In materieller Hinsicht garantiert sie die Chancengleichheit bei der Durchsetzung der subjektiven Rechte im Prozess. Diese Grundsätze gelten in gleicher Weise in der gerichtsverbundenen Mediation: Während die formelle Waffengleichheit den vermittelnden wie schon den entscheidenden Richter zu allparteilicher Neutralität verpflichtet, kommt dem Grundsatz der materiellen Waffengleichheit im Hinblick auf den gebotenen Ausgleich struktureller Macht- und Informationsasymmetrien eine besondere Bedeutung zu. Wie wir gesehen haben, gebietet der Schutz der ebenfalls grundgesetzlich nach Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Privatautonomie, dass die Parteien nicht nur formell und damit lediglich theoretisch, sondern auch materiell und damit tatsächlich in die Lage versetzt werden müssen, von der 335 BVerfGE 3, 377; 37, 57. Vgl. zu weiteren Begründungsansätzen Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 30 f. mwN 336 Hierzu – den Begriff als Synonym für Neutralität verwendend – v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 21 ff. Den Begriff – aktive Allparteilichkeit – als Alternative zur Neutralität verwendend dagegen Montada/Kals, Mediation (3. Aufl. 2013), S. 63 ff. Den Begriff ablehnend Hess, DJT-Gutachten (2008), S. F 122; Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 27 ff.; Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1074.
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ihnen zustehenden Handlungsfreiheit wirksam Gebrauch zu machen. Der Mediator ist daher bereits aufgrund seiner Rolle im Verfahren verpflichtet, zwischen den Parteien bestehende Machtungleichgewichte oder Informationsasymmetrien auszugleichen. Dadurch sollen sie überhaupt erst in die Lage versetzt werden, die ihnen durch die Verfassung garantierten Rechte auch wirksam auszuüben. Für den staatlichen Richter als grundrechtsverpflichteten Adressaten des Gleichheitssatzes ergibt sich diese Verpflichtung nun auch aus Art. 3 Abs. 1 GG. Er hat die Unterschiede zwischen den Parteien daher so auszugleichen, dass jede von ihnen in die Lage versetzt wird, ihre Interessen wirksam zu vertreten. dd) Anspruch auf Wahrung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) Zu den wesentlichen rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien gehört der grundgesetzlich gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 109 Abs. 1 GG. Dieser Grundsatz des audiatur et altera pars337 ist als „prozessuales Urrecht“338 des Menschen das Prozessgrundrecht schlechthin, das als objektivrechtliches Verfahrensprinzip „für ein gerichtliches Verfahren iSd. GG konstitutiv und grundsätzlich unabdingbar ist“339. Es bewahrt den Einzelnen davor, zum bloßen Objekt des Verfahrens degradiert zu werden und gewährt ihm das Recht, zum Verfahrensgegenstand Stellung zu nehmen und so auf die seine Rechte betreffende Entscheidung Einfluss zu nehmen. Als Abwehrrecht gegen staatliche Willkür soll es durch Informationsrechte und Äußerungsbefugnisse der betroffenen Partei sowie durch umfassende Informations- und Berücksichtigungsgebote des Entscheidenden gewährleisten, dass die richterliche Entscheidung auf einer umfassenden Tatsachengrundlage beruht. Damit ist der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs indes in einer Weise auf die verbindliche Drittentscheidung zugeschnitten, die eine unmittelbare Anwendung auf das Mediationsverfahren ausschließt. Denn dem Mediator steht eine solche Drittentscheidungsbefugnis gerade nicht zu. Vielmehr sind es die Parteien, die letztlich selbst die Sachentscheidung durch Einigung herbeiführen. Die Gefahr, dass die einzelne Partei zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht und durch eine sie selbst betreffende nachteilige Entscheidung in ihren Rechten verletzt wird, besteht gerade nicht, weil sie selbst diese Entscheidung trifft. Dem Mediator kommt lediglich eine die Verhandlung und die Sachentscheidung der Parteien unterstützende Funktion zu. Eine Anwendung des Verfahrensgrundrechts auf die Mediation kann nur dann in Betracht kommen, wenn sein Inhalt auf der Grundlage des Normzwecks und vor dem Hintergrund der Besonderheiten des Mediationsverfahrens neu bestimmt wird. Sinn und Zweck des Grundrechts ist die Sicherung der 337
Heyde, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdBVerfR (2. Aufl. 1994), S. 1579, 1607. Heyde, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdBVerfR (2. Aufl. 1994), S. 1579, 1607. 339 Henkel, ZZP 110 (1997), 91, 93. 338
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 503
Partizipation der Parteien an der Entscheidung. Die Gewährung aktiver Partizipationschancen im Verfahren ist indes eine Forderung, die sowohl für den Zivilprozess als auch für das Mediationsverfahren von zentraler Bedeutung ist. Während diese Verfahrensgarantie im Kontext des streitigen Gerichtsverfahrens das Recht umfasst, über alle prozeduralen und materiellen Aspekte des Verfahrens informiert zu werden, selbst Stellung zu nehmen und vom Gericht eine Kenntnisnahme und Verwertung des Sachvortrages zu erwarten, ist die Partizipation der Parteien in der Mediation darauf gerichtet, den Sachverhalt gegenüber der anderen Partei und gegenüber dem Mediator aus der eigenen Perspektive darzustellen, die für eine informierte Entscheidung erforderlichen Informationen im Dialog mit den übrigen Beteiligten einzuholen und vom Mediator Gelegenheit zur Stellungnahme zu erhalten und sein Anliegen auch gegenüber dem jeweiligen Verhandlungspartner „zu Gehör“ zu bringen. Der Mediator darf den Sachvortrag der Parteien nicht ignorieren, sondern muss den von den Parteien vorgetragenen Konfliktstoff berücksichtigen und ihn in die verfahrensleitende Verarbeitung des Konfliktmaterials einbeziehen, soweit dies für die Lösung des Konfliktes erforderlich ist. Die Äußerungsrechte und Berücksichtigungsgebote der Parteien in der Mediation sind damit nicht auf die Versorgung des Mediators mit Informationen, sondern auf die Gewährleistung einer optimalen Kommunikation zwischen den Parteien als Grundlage der Entwicklung einer gemeinsamen Einigungsentscheidung gerichtet. Ein derartiges Partizipationsrecht der Parteien ist für die Mediation unbestritten und ihr als privatautonomem Verfahren immanent. Es ergibt sich regelmäßig ausdrücklich oder implizit aus der Verhandlungsabrede der Mediationsvereinbarung und dem Mediatorvertrag. Im Kontext gerichtsverbundener Mediation spricht nichts dagegen, diese Verfahrensgewährleistung im Wege der teleologischen Interpretation darüber hinaus aus dem Anspruch auf die Gewährung rechtlichen Gehörs herzuleiten. Dass ein solcher Anspruch gegenüber dem Güterichter zum Schutz der Privatautonomie der Parteien erforderlich sein kann, haben unsere Fallstudien340, insbesondere der Fall Wright v. Brockett341, eindrucksvoll gezeigt. Gerade im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme, in denen der Mediator den Beteiligten mit der Autorität eines richterlichen Amtsträgers gegenübertritt, besteht in besonderer Weise die Gefahr, dass die Parteien durch unzulässigen Einigungsdruck, unzureichende Diskussion oder mangelhafte Information zu einem für sie ungünstigen Vergleich gedrängt werden. Der Anspruch der Parteien auf aktive Teilhabe am Verfahren durch die Gewährung rechtli-
340 341
Vgl. oben S. 344 ff. 154 Misc.2d 301, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992).
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chen Gehörs ist damit auch und gerade im gerichtsinternen Mediationsverfahren von Bedeutung. Die Zulässigkeit vergleichsfördernder Einzelgespräche342 des Mediators mit den Parteien steht dem nicht entgegen. Solche Gespräche können nur dann ihre einigungsfördernde Wirkung entfalten, wenn die Parteien auf die Vertraulichkeit derartiger Gespräche vertrauen dürfen. Die im Zivilprozess geltende umfassende Informationspflicht der Parteien kann auf die Verhandlungssituation des Mediationsverfahrens nicht unbesehen übertragen werden. Während die Partei im streitigen Gerichtsverfahren zur Inanspruchnahme der aktiven Mitwirkungschancen am Verfahren gerade auf umfassende Informationen angewiesen ist, sind es in der Mediation die Parteien selbst, die darüber entscheiden, welche Informationen sie den Beteiligten zur Verfügung stellen. Ein Anspruch der Parteien gegenüber dem Güterichter, die ihm im Rahmen der Einzelgespräche von der anderen Partei offenbarten vertraulichen Informationen offenzulegen, besteht nicht und wäre mit dem privatautonomen Charakter der Mediation nicht vereinbar. Der Inhalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist vielmehr im Licht der Grundsätze des Mediationsverfahrens auszulegen. ee) Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) Das Handeln des Güterichters ist darüber hinaus am verfassungsrechtlich in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Gebot des effektiven Rechtsschutzes als besonderer Ausprägung des weitergehenden allgemeinen Justizgewährungsanspruchs zu messen, den das BVerfG aus Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip herleitet. Im Kontext gerichtsverbundener Mediation folgt aus diesem Grundsatz insbesondere, dass der Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer Weise erschwert wird. Dies ist bei den gem. § 278a Abs. 1 ZPO angeregten und von den Parteien stets freiwillig durchgeführten Mediationsverfahren oder sonstigen Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung stets der Fall. Zudem hat das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Zulässigkeit der obligatorischen Streitschlichtung nach § 15a EGZPO selbst ein gesetzlich angeordnetes ADR-Verfahren mit dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes für vereinbar erklärt.343 ff) Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) Nicht anwendbar auf die gerichtsverbundene Mediation ist der Grundsatz des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Da der Güterichter nicht
342 Zur sog. Caucus-Mediation vgl. eingehend Calkins, 54 Drake L. Rev. 259 (2006); Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 355 ff. 343 BVerfG NJW-RR 2007, 1073 (obligatorisches Schlichtungsverfahren) und BVerfG NJW-RR 2009, 1026 (Schlichtungsverfahren bei Nachbarstreitigkeiten).
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 505
entscheidend, sondern gem. § 278 Abs. 5 S. 1, 2 ZPO lediglich vermittelnd tätig wird, ist der Schutzbereich der Vorschrift nicht eröffnet. Der Güterichter ist nicht gesetzlicher Richter iSd. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG344, sondern wird den Parteien häufig von dem zuständigen Prozessrichter – der gesetzlicher Richter iSd. Vorschrift ist – nach einem eigenen Geschäftsverteilungsplan345 zugewiesen. gg) Bindung des Güterichters an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) Wir haben gesehen, dass der Richter nach Art. 97 GG sachliche und persönliche Unabhängigkeit genießt. Dieser weitreichenden Unabhängigkeit des Richters steht eine enge Bindung an Recht und Gesetz als notwendiges Korrelat gegenüber (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG). Die Gesetzesunterworfenheit ist integraler Bestandteil des Richteramtes, und sie ist es, welche die Sonderstellung des sachlich und persönlich unabhängigen Richters erst legitimiert. (1) Die Bedeutung richterlicher Gesetzesbindung Die dem unmittelbaren Einfluss der übrigen Staatsgewalten entzogene rechtsprechende Gewalt erfährt damit ihre Beschränkung durch Gesetz und Recht. Der Begriff des Gesetzes verweist auf jede positive Rechtsnorm im Sinne des formellen Gesetzesrechts und exekutiver Normen mit unmittelbarer Außenwirkung.346 Der Begriff des Rechts umfasst das überpositive Recht und damit insbesondere das Gewohnheitsrecht, das Richterrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze, d.h. die aus dem überpositiven Naturrecht erwachsenden grundlegenden Gerechtigkeitsprinzipien.347 (a) Materielle Inhaltsbindung: Anwendungsgebot und Abweichungsverbot Bindung bedeutet dabei Anwendungsgebot und Abweichungsverbot: Der Richter ist in Ausübung seiner rechtsprechenden Tätigkeit verpflichtet, das positive Gesetz und die Grundsätze des überpositiven Rechts anzuwenden und nicht von
344 Ebenso Musielak/Voit/Foerste, ZPO (13. Aufl. 2016), 278 Rn. 14; Zöller/Greger (31. Aufl. 2016), § 278 Rn. 26; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 6. A.A. BeckOK/Bacher, ZPO (26. Ed. 2017), § 278 Rn. 22.1; MünchKomm/Prütting, ZPO (5. Aufl. 2016), § 278 Rn. 34; v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 145 ff., 281 ff. mwN.; Hartmann, MDR 2012, 941, 942. 345 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 8 f. Allerdings kann und sollte die Fallzuweisung trotz Bestimmung im Geschäftsverteilungsplan flexibel erfolgen, Zöller/Greger (31. Aufl. 2016), § 278 Rn. 26. 346 Maunz/Dürig/Grzeszick, GG (80. EL. 2017), Art. 20 Rn. 60 ff. 347 Maunz/Dürig/Grzeszick, GG (80. EL. 2017), Art. 20 Rn. 63 ff.
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ihnen abzuweichen. Ihm ist es trotz seiner sachlichen Unabhängigkeit verwehrt, sich über Gesetz und Recht hinwegzusetzen und die ihm vorliegenden Streitigkeiten nach eigenen normativen Maßstäben zu entscheiden. Gesetzesbindung bedeutet nicht die Bindung an den Wortlaut, den Buchstaben, sondern vielmehr an den inhaltlichen Sinn des Gesetzestextes und den vom Gesetzgeber vorgenommenen typisierten Interessenausgleich (bedingte Inhaltsbindung). Sie legitimiert und verpflichtet den Richter zur Bestimmung der dem Gesetz zugrunde liegenden Wertentscheidung im Wege der Interpretation und zur Konkretisierung des abstrakten Rechtssatzes auf den konkreten Einzelfall.348 Dass die Rechtsanwendung dabei zu einer komplexitätsreduzierenden Transformation des Konfliktstoffes in einen abgeleiteten Metakonflikt führt und die auf diesem Wege herbeigeführte Rechtsfolge häufig nur beschränkt zu einer nachhaltigen und dauerhaften Beilegung des Konfliktes beizutragen vermag, ist in der begrifflichen Unschärfe des abstrakt-generellen Gesetzesrechts und den systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses begründet. Der Richter ist deshalb gerade aufgrund seiner Bindung an die dem geschriebenen Gesetz zugrunde liegende Wertentscheidung und die ungeschriebenen Grundsätze des Rechts dazu berufen, die Besonderheiten des Einzelfalls im Rahmen seiner richterlichen Tätigkeit zu berücksichtigen und die Härte strikter Rechtsanwendung durch eine flexible Einzelfallbetrachtung zur kompensieren. (b) Prozedurale Berücksichtigungsgebote: Kenntnisnahme- und Darlegungspflicht Seine prozedurale Entsprechung findet die bedingte inhaltliche Bindung des Richters an die vom Gesetzgeber vorgenommene Wertentscheidung in einem Berücksichtigungsgebot, das in einer Kenntnisnahme- und Darlegungspflicht konkrete Gestalt annimmt. Im Rahmen seiner Kenntnisnahmepflicht als notwendiger Voraussetzung der inhaltlichen Gesetzesbindung ist der Richter angehalten, die dem Gesetzesrecht immanente Interessenentscheidung des Gesetzgebers zu ermitteln und zur Kenntnis zu nehmen.349 Die Darlegungspflicht begründet das grundsätzliche Gebot, die dem Urteil jeweils zugrunde gelegte Wertentscheidung in den Gründen zu nennen.350 Die Prinzipien verfassungsunmittelbarer Gesetzesbindung des Richters gelten grundsätzlich auch im Rahmen richterlicher Vergleichstätigkeit und in der gerichtsverbundenen Mediation. Sie sind jedoch aufgrund der Besonderheiten vermittelnder Tätigkeit teleologisch überformt und durch spezielle Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflichten des Güterichters konkretisiert, die wir im Folgenden näher in den Blick nehmen wollen. 348
Vgl. hierzu eingehend oben S. 12 ff. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht (2007), S. 489. 350 Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht (2007), S. 489. 349
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d) Die Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht des Mediators Die ihm kraft Verfassung obliegende Bindung des Richters an Recht und Gesetz gilt grundsätzlich sowohl für die entscheidende Tätigkeit als Spruchrichter im Zivilprozess als auch für die vermittelnde Tätigkeit als Güterichter in der gerichtsverbundenen Mediation. Diese Konsequenz ergibt sich zwingend aus der Qualifikation der richterlichen Vermittlungstätigkeit als Ausübung rechtsprechender Gewalt iSd. Art. 97 GG. Selbst wenn die Tätigkeit von Güterichtern nicht den Kernaufgaben der Rechtsprechung, sondern stattdessen dem Bereich der Gerichtsverwaltung zugeordnet wird, ergibt sich eine entsprechende Gesetzesbindung jedenfalls aus Art. 20 Abs. 3 GG. Dies gilt aufgrund der Bindung jeder staatlichen Gewalt an Recht und Gesetz im Übrigen unzweifelhaft auch dann, wenn die Mediation anstelle von Richtern durch Rechtspfleger oder andere Hoheitsträger durchgeführt wird. Allerdings kann ebenso wenig bezweifelt werden, dass die auf das kontradiktorische Entscheidungsverfahren des Zivilprozesses zugeschnittene richterliche Gesetzesbindung der Korrektur bedarf, soweit der Richter nicht hoheitlich entscheidend, sondern vermittelnd tätig wird und die Parteien lediglich in ihrer privatautonomen Einigungsentscheidung unterstützt. Damit ist die Frage aufgeworfen, in welchem Umfang der vermittelnde Güterichter auch im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation an Recht und Gesetz gebunden ist und inwiefern er einer Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht gegenüber den Parteien unterliegt. aa) Die Ausgangslage Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet dabei zunächst die besondere Struktur der gerichtsverbundenen Mediation im Schnittpunkt hoheitlich-heteronomer und individuell-privatautonomer Streitbeilegung.351 (1) Die Struktur der gerichtsverbundenen Mediation Die Rolle, die dem Güterichter zukommt, ist dabei ambivalent: Zunächst ist die Eingriffsintensität des vermittelnden Güterichters mit der eines entscheidenden Spruchrichters in keiner Weise vergleichbar. Der Güterichter wird nicht hoheitlich entscheidend, sondern lediglich vermittelnd tätig. Die Entscheidungskompetenz liegt ausschließlich bei den Parteien. Das Mediationsverfahren ist für beide Parteien regelmäßig freiwillig. Der Übergang in das streitige gerichtliche Verfahren bleibt jederzeit möglich. Allerdings unterscheidet sich die gerichtsverbundene Mediation, wie wir gesehen haben, deutlich von einem vertragsautonomen Mediationsverfahren. Die 351
Vgl. hierzu auch den empirischen Befund bei Greger, Abschlussbericht (2007), S. 99 f.
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Mediation erfolgt stets aus einem streitigen Zivilprozess heraus in den Räumlichkeiten und unter der Ägide der Justiz. Der Güterichter ist als Richter, wenn auch nicht gesetzlicher Richter iSd. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG352, so doch hoheitlicher Amtsträger und wird den Parteien regelmäßig auf der Grundlage des internen Geschäftsverteilungsplanes zugewiesen.353 Der Konflikt ist bereits in hohem Maße verrechtlicht und infolge der Klageerhebung eskaliert. Die Parteien sind regelmäßig durch Anwälte vertreten. Die größere Bedeutung des Rechts, der höhere Eskalationsgrad und die besondere Autorität des Güterichters als staatlichem Amtsträger bilden die prägenden Strukturmerkmale der gerichtlichen Mediation. (2) Unvollständiger Rollenwechsel des Güterichters Im Hinblick auf die Person des vermittelnden Güterichters erfolgt zunächst ein Rollenwechsel. Er verlässt die ihm aufgrund seines Amtes primär zukommende Rolle des entscheidenden Spruchrichters und wird zum vermittelnden Mediator. Mit der Rolle des neutralen Dritten wechselt zugleich das Verfahren, an dem die Parteien beteiligt sind. Da Mediation und Zivilprozess durch ein Verhältnis struktureller Komplementarität gegensätzlicher, sich ergänzender Strukturmerkmale geprägt sind, verändert das Verfahren sein Gepräge und wird im Hinblick auf die strukturellen Eigenschaften gleichsam in sein Gegenteil verkehrt: Der formale, kontradiktorische, auf die heteronome Drittentscheidung über Rechtsansprüche durch Hoheitsakt gerichtete Zivilprozess wird durch das informale, kooperative, auf die privatautonome Einigung über die gegenseitigen Interessen orientierte Mediationsverfahren ersetzt. Aus der Perspektive von Fullers Verfahrenslehre ist ein derartiger Verfahrens- und Rollenwechsel ohne weiteres möglich, solange die Grundsätze der Rollentrennung und der Verfahrensintegrität als zentrale Ordnungsprinzipien beachtet werden. Dies ist bei der Mediation durch vermittelnde Richter indes nicht ohne weiteres gegeben. Schon Fuller hatte in der Mediation durch einen Schiedsrichter eine Mischform der Konfliktsteuerung gesehen („mixed form of ordering“), die
352
Zum Streitstand vgl. die Nachweise oben S. 504 Fn. 344. BT-Drucks. 17/8058, S. 21 (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum MedFördG); Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), § 278 Rn. 19; Musielak/Voit/Foerste, ZPO (13. Aufl. 2016), § 278 Rn. 14; § 278 Rn. 14; Greger, Abschlussbericht (2007), S. 8 f.; Ahrens, NJW 2012, 2465, 2469; Hartmann, MDR 2012, 941, 942. Für die Möglichkeit einer trotz Geschäftsverteilungsplan gleichwohl flexiblen Fallzuweisung MünchKomm/Prütting, ZPO (5. Aufl. 2016), § 278 Rn. 35; Zöller/Greger (31. Aufl. 2016), § 278 Rn. 26. A.A. BeckOK/Bacher, ZPO (26. Ed. 2017), § 278 Rn. 22.1 (Auswahl des Güterichters steht im Ermessen des verweisenden Gerichts). 353
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besondere Probleme der Rollenkonfusion aufwirft.354 In der Tat wird der Rollenwechsel des Güterichters vom Entscheider zum Vermittler nicht vollständig vollzogen, und zwar auch dann nicht, wenn der Güterichter – wie dies aufgrund der strikten Rollentrennung von Prozessrichter und Mediator regelmäßig der Fall ist – den Parteien ausschließlich in seiner Funktion als Mediator gegenübertritt. Zwar wird der Güterichter ausschließlich vermittelnd tätig. Doch knüpft die Rolle, die ihm zugewiesen wird, nicht nur an seine Tätigkeit und Funktion, sondern darüber hinaus auch an seinen Status und seine Identität an. Auch wenn er lediglich vermittelnd tätig wird, handelt er keineswegs als Privatmann, sondern stets als Richter und damit als Amtsträger und staatliches Organ der Rechtspflege, das mit rechtsprechender Gewalt betraut ist.355 Im Gegensatz zum Mediator in einer ausschließlich vertragsautonomen Mediation agiert er im Rahmen eines staatlichen Verfahrens in Ausübung seines Richteramtes.356 Hinter dem Mediator steht damit stets der Richter mit dem Gewicht und der Autorität seines Amtes und wirkt so, ob er dies beabsichtigt oder nicht, unweigerlich auf die Einigungsentscheidung der Parteien ein.357 Dieses Ergebnis wird durch die empirischen Erfahrungen in gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen bestätigt. So wurde von den Beteiligten am bayrischen Modellversuch Güterichter dem gerichtlichen Charakter des Mediationsverfahrens die entscheidende Rolle für die Einigung beigemessen und diese insbesondere auf die richterliche Autorität, die Neutralität sowie den Druck durch den bereits anhängigen Zivilprozess zurückgeführt.358 Darüber hinaus erwarteten die Parteien und ihre Anwälte von den Güterichtern eine aktive Verhandlungsführung, die Hinweise zur Rechtslage, zum Prozessrisiko oder eigene Lösungsvorschläge der Güterichter umfasste.359 Kritik, soweit sie insbesondere vonseiten der Anwälte geäußert wurde, bezog sich daher vor allem darauf, dass die Güterichter zu wenig aktiv in die Verhandlung eingegriffen hatten.360 Das erhebliche Vertrauen der Parteien in die Güterichter als staatliche Organe der Justiz wird schließlich dadurch deutlich, dass sie bei zukünftigen Konflikten in erheblichem Maße nichtrichterlichen Mediatoren vorgezogen werden würden: Nach ihrem zukünftigen Konfliktverhalten befragt gaben die
354 Vgl. Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 369 f. (1978): „But it is obvious that in such a case the arbitrator steps out of the role of adjudicator and assumes that of mediator. This kind of case presents the problem of “mixed forms” of ordering … .” 355 Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 272. 356 Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 272. 357 Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 272. 358 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 100. 359 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 100. 360 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 100.
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Parteien an, in zukünftigen Konflikten zu 92 % wieder eine Verhandlungslösung zu wählen, und zwar ausschließlich bei Güterichtern, während sich lediglich 3,8 % für einen nichtrichterlichen Mediator entscheiden würden.361 (3) Der dogmatische und empirische Befund Aus dem dogmatischen und empirischen Befund ergeben sich Konsequenzen, die für die weitere Rollendefinition des Güterichters von Bedeutung sind. 1. In der gerichtsverbundenen Mediation nimmt der Güterichter aus der Rolle des Richters die ihm verliehene Amtsautorität in die Rolle des Mediators mit hinein. Dies führt aus dogmatischer Perspektive zunächst zu einer Rollenkonfusion, einer „mixed form of ordering“, die nach Fullers Verfahrenslehre aufgrund der damit verbundenen Risiken für die Verfahrensintegrität zu vermeiden ist. Denn nach Fuller hat jedes Verfahren gesellschaftlicher Ordnung seine eigene innere Struktur und sein eigenes Wesen, die für jedes einzelne Verfahren jeweils einzigartig sind. Werden die Rollen, die dem neutralen Dritten in den jeweiligen Verfahren zukommen, vermischt, so besteht die Gefahr, dass das Verfahren ein anderes Gepräge erhält und in seinem zentralen Wesenskern, seiner internal morality, beschädigt wird. Es kann dann seine Aufgabe nicht mehr uneingeschränkt erfüllen und aufgrund seiner Dysfunktion zu unerwünschten, die Beteiligten schädigenden Folgen führen. Wechselt etwa ein Mediator in die Rolle des Entscheidenden, so droht eine schwerwiegende Verletzung der strukturellen Integrität des Mediationsverfahrens, das für eine verbindliche Drittentscheidung gerade nicht geeignet ist. Risiken für die Beteiligten entstehen dabei insbesondere dadurch, dass der Rollenwechsel schrittweise erfolgt und aufgrund der Vermischung verschiedener Rollen für die Beteiligten oft nur schwer erkennbar ist. So kann etwa der stark direktive Mediationsstil eines mit Autorität ausgestatteten Güterichters in Verbindung mit erheblichem Einigungsdruck dazu führen, dass der Mediator ein bestimmtes Ergebnis ohne wesentliche Mitwirkung der Parteien nahezu einseitig durchsetzen kann und die Parteien die Vereinbarung, die unter Umständen sogar ihren Interessen und ihrem Willen widerspricht, lediglich nachträglich autorisieren. Eine derartige Einigung ist nicht mehr das Ergebnis gemeinsamen, privatautonomen Verhandelns, sondern ein „Urteil in Vergleichsform“362, das in einem entscheidungsähnlichen Verfahren zustande gekommen ist, das den Parteien lediglich formal ein Mitspracherecht einräumt. Dass die Gefahr derartiger Rollenkonfusionen gerade im Kontext ge-
361
Greger, Abschlussbericht (2007), S. 100. So Stürner, JR 1979, 133, 136. Eingehend zum Problem des unzulässigen Einigungsdrucks (settlement pressure) Jennings, 6 Ohio St. J. on Disp. Resol. 313 (1991); Lande, 50 UCLA L. Rev. 69, 86 ff. (2003); Bone, 28 Cardozo L. Rev. 1961, 2011 (2007). 362
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richtlicher Mediation und Vermittlung von erheblicher praktischer und rechtspolitischer Bedeutung ist, haben die US-amerikanische Institutionalisierungsdiskussion363 und die Judikatur des Bundesgerichtshofes gezeigt364. 2. Eine durch den Güterichter ausgelöste Rollenkonfusion hat indes nicht zwangsläufig eine Verletzung der Integrität des Mediationsverfahrens365 zur Folge. Diese tritt erst dann ein, wenn der Mediator die Grenze zur gleichsam richtenden Tätigkeit überschritten hat und den Parteien einen Vergleich geradezu aufdrängt. In diesen Fällen sind eine effektive Mitwirkung der Parteien an der Entwicklung der Einigungsentscheidung und eine eigenverantwortliche Entscheidung kaum mehr möglich. 3. Die Rollenvermischung erfolgt graduell und ist von der in Anspruch genommenen Amtsautorität des Güterichters abhängig. Sie äußert sich in einer aktiven Verhandlungsführung, die im rechten oberen Quadranten des klassischen Riskin-Grid366 zu verorten ist (Sachbeurteilung) und die Hinweise zur Rechtslage, Einschätzungen zu den Prozessaussichten sowie eigene Vorschläge des Güterichters umfasst. Eine derartige aktive Verhandlungsführung muss sich indes nicht zwangsläufig negativ auswirken, sondern entspricht nach dem empirischen Befund im Gegenteil den Rollenerwartungen der Parteien und ihrer Anwälte. 4. Auf der Grundlage dieses Befundes sind gerichtsverbundene Mediationsprogramme so zu gestalten, dass die Auswirkungen der Rollenkonfusion minimiert und die Gefahr einer Verletzung der Verfahrensintegrität vermieden wird. Im Mittelpunkt steht dabei der Umfang der steuernden Intervention des Güterichters, der auf der Grundlage der Struktureigenschaften und Grundsätze des Mediationsverfahrens zu bestimmen ist. Hierbei kommt der Rechtsbindung des Güterichters als begrenzendes Kriterium eine entscheidende Rolle zu.
363 Zur vgl. US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte eingehend oben S. 46 ff. sowie Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 364 BGH NJW 1966, 2399. 365 Vgl. zum Prinzip der strukturellen Integrität eingehend oben S. 116 f. sowie unten S. 546 ff. 366 Grundlegend Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7 (1996). Vgl. auch Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111 (1994); Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1 (2003). Hierzu eingehend oben S. 312 ff. sowie Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 88 ff.
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§ 5 Mediation und materielles Recht
(4) Das Spannungsverhältnis zwischen privatautonomer Einigung und richterlicher Gesetzesbindung Aus der Rollenkonfusion des mit richterlicher Autorität ausgestatteten Mediators und der gerichtsverbundenen Mediation ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen privatautonomer Einigung und richterlicher Gesetzesbindung: Während der neutrale Dritte in der gerichtsverbundenen Mediation als Mediator an einer privatautonomen, an den Interessen beider Parteien ausgerichteten Einigung interessiert ist, muss er als Richter, der er stets bleibt, zugleich der ihm obliegenden Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3, 97 GG genügen. Entsprechend den Grundsätzen der Verfahrenslehre Fullers367, die wir im Rahmen unserer vergleichenden Strukturanalyse von Mediation und Zivilprozess herausgearbeitet haben, muss sich eine Auflösung dieses Spannungsverhältnisses an den Grundsätzen, der Struktur und am Wesenskern („internal morality“)368 des Mediationsverfahrens orientieren. Hierbei sind insbesondere die Prinzipien der Privatautonomie und der Ergebnisgerechtigkeit, die durch die Übereinstimmung mit dem materiellen Recht indiziert wird, als Determinanten von besonderer Bedeutung. Der Güterichter muss daher dafür Sorge tragen, dass die Parteien 1) ihre Einigungsentscheidung auch in tatsächlicher Hinsicht privatautonom und in Kenntnis aller entscheidungsrelevanten Umstände einschließlich des materiellen Rechts treffen und 2) das ausgehandelte Ergebnis objektiv gerecht ist. Dabei kommt ihm jedenfalls im Hinblick auf die Vereinbarkeit des Verhandlungsergebnisses mit zwingendem Recht die Befugnis zur Inhaltskontrolle des von den Parteien vorgeschlagenen Mediationsvergleichs zu. bb) Umfang der Gesetzesbindung des Güterichters Damit ist indes noch nichts über den Umfang der Gesetzesbindung des Güterichters gesagt. Hierfür bieten sich mehrere Ansätze an.369 So hat Wolf eine Parallele zwischen dem Verhältnis von richterlicher Vergleichs- und Entscheidungsstätigkeit und dem Verhältnis zwischen staatlicher Leistungs- und staatlicher Eingriffsverwaltung gezogen und eine abgestufte
367 Vgl. hierzu eingehend S. 111 ff., unten S. 493 ff.sowie Fuller, The Morality of Law (1964); Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981) sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3 (1963); Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305 (1971) und Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353 (1978). 368 Vgl. hierzu oben S. 115 Fn. 61 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 f. (1963) sowie Fuller, 71 Harv. L. Rev. 630, 644, 650 (1958).; Fuller, The Morality of Law (1964), S. 46 ff., 152 ff. Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 33 f., 37 ff.; Bone, 75 B.U. L. Rev. 1273, 1286, 1300 (1995). 369 Vgl. hierzu auch Kocher, Funktionen der Rechtsprechung (2007), S. 448, die angesichts der „seltenen Versuche einer normativen Begrenzung der richterlichen Schlichtungstätigkeit“ auf den Mangel an aktueller Forschung zu diesem Thema hinweist.
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Gesetzesbindung vorgeschlagen.370 Wie der Staat im Rahmen der Leistungsverwaltung geringeren Anforderungen als im Rahmen der Eingriffsverwaltung unterliegt, so ist er im Rahmen richterlicher Vergleichstätigkeit, die als beratende Justizgewährung eine vergleichbar geringe Eingriffsintensität aufweist, nicht in gleichem Maße der Gesetzesbindung unterworfen.371 Ist der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif und die Klage schlüssig, so kann der vermittelnde Richter auf unsicherer Tatsachengrundlage einen Vergleichsvorschlag abgeben, der sich indes unter Berücksichtigung der Beweislastregeln und sozialer Schutzgesetze an der bei einer vorläufigen Prüfung erkennbaren wahrscheinlichen Rechtslage orientiert.372 Ist der Rechtsstreit dagegen entscheidungsreif, so ist grundsätzlich durch Urteil zu entscheiden. Ist es aus Gründen des Vollstreckungsschutzes gerechtfertigt, ist die gesetzliche Rechtsfolge als ultima ratio anzusehen, und handelt es sich um eine unbestimmte Rechtsfolge oder kann bei der rechtlich gebotenen Interessenabwägung keinem Interesse der Vorzug gegeben werden, steht dem Richter indes wahlweise auch die Möglichkeit des Vergleichsschlusses zu.373 Strecker geht einen ähnlichen Weg und macht den Umfang der Gesetzesbindung in umgekehrter Kongruenz von der Nähe der vermittelnden Tätigkeit des Mediators zum Richten abhängig.374 Je mehr die Parteien in die Entwicklung der Einigungsentscheidung einbezogen werden und Verantwortung für das Ergebnis übernehmen und je weiter sich damit die vermittelnde Tätigkeit des Güterichters von der des Richtens unterscheidet, desto weniger unterliegt er der Gesetzesbindung.375 Vor Entscheidungsreife des Rechtsstreits ist der Vergleich „in einer Art Gedankenexperiment“376 auf der Grundlage des gegenseitigen Prozessrisikos am mutmaßlichen Ausgang des Verfahrens zu orientieren. Im Fall der Entscheidungsreife hält auch Strecker einen Vergleich nur dann für gerechtfertigt, wenn er geeignet und erforderlich ist, die Parteien vor dem Prozessrisiko in der nächsten Instanz zu bewahren oder wenn über den Inhalt eines möglichen Urteils hinaus weitere Aspekte geregelt werden.377 Beide Ansätze vermögen insbesondere vor dem Hintergrund der mittlerweile umfassenden verhandlungstheoretischen Forschung sowie der fortgeschrittenen Institutionalisierung der Mediation nicht zu überzeugen. Sie werden dem berechtigten Bedürfnis der Parteien an einer nicht nur an den Rechtsansprüchen, sondern auch an Interessen orientierten Konfliktbeilegung nicht
370
Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 273. Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 273. 372 Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 275 ff. 373 Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 283 ff. 374 Strecker, DRiZ 1983, 97, 104. 375 Strecker, DRiZ 1983, 97, 104. 376 Strecker, DRiZ 1983, 97, 99. 377 Strecker, DRiZ 1983, 97, 99. 371
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§ 5 Mediation und materielles Recht
gerecht und schränken gerade im Hinblick auf den weitgehenden Urteilszwang im Fall der Entscheidungsreife des Rechtsstreits die Privatautonomie der Parteien zu weit ein. Der Umfang der Gesetzesbindung des Güterichters ist daher auf der Grundlage der Struktur des Mediationsverfahrens und vor allem von der Privatautonomie der Parteien her zu bestimmen. Dabei können wir auf die Grundsätze zurückgreifen, die wir für die Rolle des Mediators in der vertragsautonomen Mediation herausgearbeitet haben.378 Wie wir gesehen haben, ist der Mediator Wächter der Privatautonomie379, Hüter der Verfahrensintegrität380 und Garant für ein gutes und damit ein ausgewogenes und faires Verhandlungsergebnis381. Er hat dafür Sorge zu tragen, dass die Parteien ihre Entscheidung auf einer zutreffenden und ausreichenden Informationsgrundlage treffen und so auch in tatsächlicher Hinsicht eigenverantwortlich handeln. Sind die Parteien hierzu nicht in der Lage oder verfügen sie nicht über die notwendigen Informationen, ist der Mediator zum korrigierenden Eingreifen verpflichtet. Dies gilt insbesondere dann, wenn Schutzrechte, Rechtsansprüche und besonders geschützte Rechtspositionen der mangelhaft informierten Partei auf dem Spiel stehen. cc) Konkretisierung der Gesetzesbindung durch ein Über- und Untermaßverbot Diese Grundsätze gelten in besonderer Weise auch für den Güterichter im gerichtlichen Mediationsverfahren. Aufgrund seiner Stellung als Träger rechtsprechender Gewalt unterliegt er einer umfassenden Gesetzesbindung, die im Zusammenspiel mit seinem juristischen Fachwissen in einer gegenüber vertragsautonomen Mediatoren deutlich höheren Informations-, Hinweis- und Interventionspflicht resultiert. Die Gesetzesbindung des Güterichters kann in ihren jeweiligen Grenzen gleichsam in Form eines Untermaß- und eines Übermaßverbotes konkretisiert werden. (1) Untermaßverbot: Informations- und Mitwirkungspflichten Im Rahmen des Untermaßverbotes trifft den Güterichter die dreifache Pflicht 1) ein gegen zwingendes Recht verstoßendes Verhandlungsergebnis praeter le-
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Vgl. hierzu oben S. 333 ff. Zur Bedeutung der Privatautonomie in der Mediation vgl. oben S. 336 ff. sowie unten S. 459 ff., 586 ff. 380 Zum Prinzip der strukturellen Integrität eingehend oben S. 116 f. sowie unten S. 546 ff. 381 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses vgl. oben S. 160 ff., 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 379
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gem zu unterbinden, 2) Defizite in der effektiven Wahrnehmung der Privatautonomie wie etwa Machtungleichgewichte und Informationsasymmetrien aktiv auszugleichen und 3) wenn nicht schon auf ein dem materiellen Recht entsprechendes Verhandlungsergebnis hinzuwirken, so doch zumindest sicherzustellen, dass die Parteien hinreichend über die Rechtslage informiert sind. (a) Rechtswidriges oder grob unbilliges Ergebnis Dabei ist seine Pflicht zur aktiven Intervention durch rechtliche Hinweise, Informationen über die Rechtslage oder eigene Vergleichsvorschläge umso größer, je weiter sich das Verhandlungsergebnis von der materiellen Rechtslage entfernt. Da das materielle Recht jedenfalls ein objektiv gerechtes Ergebnis indiziert, sind an die tatsächliche Information der Parteien und ihre Fähigkeit, wirksam für die eigenen Interessen einzustehen, hohe Anforderungen zu stellen. In keinem Fall darf der Richter als staatlicher Amtsträger sehenden Auges zulassen, dass die Parteien einen Vergleich abschließen, der wegen Verstoßes gegen zwingendes Recht etwa nach den §§ 123, 134, 135, 138 BGB anfechtbar oder nichtig ist, grob unbillig ist oder eine Seite in unangemessener Weise benachteiligt. (b) Umfassende Informationspflicht Anders als ein Mediator in der vertragsautonomen Mediation ist er dabei stets zur Information der Parteien in der Lage und auch verpflichtet. Aufgrund der ihm obliegenden umfassenden Informationspflicht sowie den auch empirisch nachgewiesenen entsprechenden Erwartungen der Parteien und ihrer Anwälte ist er damit grundsätzlich zu einer aktiven Verhandlungsführung berufen. Insbesondere kommt ihm die Aufgabe zu, den Parteien die Rechtslage zu erläutern, sie über bestehende Ansprüche und etwaige Schutzrechte aufzuklären382 und darüber hinaus auch eigene Einigungsvorschläge zu unterbreiten. Er kann sich dabei nicht auf die Annahme zurückziehen, dass die Parteien selbst dafür verantwortlich seien, sich umfassend zu informieren. Eine solche Haltung wird weder den tatsächlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten der Parteien und damit den Anforderungen an eine informierte und eigenverantwortliche Einigungsentscheidung noch der mit dem Richteramt verbundenen Verantwortung gerecht. Denn die Informationspflicht trifft ihn nicht nur aufgrund der ihm obliegenden Gesetzesbindung, sondern auch aufgrund des berechtigten Vertrauens, dass die Parteien in die Justiz als Garanten für ein faires, nach rechtsstaatlichen
382 Vgl. hierzu den Fall Woodruf etc., wo die Klägerin erst in einem Gerichtsverfahren den Hinweis erhielt, dass die Stipulation möglicherweise gar nicht wirksam ist.
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Grundsätzen durchgeführtes Verfahren und ein faires Ergebnis setzen.383 Damit wäre es schlechterdings unvereinbar, ließe es der Mediator zu, dass die Parteien eine Vereinbarung abschließen, in die sie sich aus Unkenntnis wesentlicher Rechtsansprüche begeben. Denn die Parteien werden mit dem Schweigen des vermittelnden Richters regelmäßig die Erwartung verbinden, dass der Vereinbarung zwingendes Recht nicht entgegensteht und sie auch im Übrigen der materiellen Rechtslage des dispositiven objektiven Rechts entspricht. Durch die Information der Parteien schafft der Mediator die Basis, die eine freie, selbstbestimmte Entscheidung erst ermöglicht und dient damit der Verwirklichung der Privatautonomie als wesentlichem Grundsatz des Verfahrens.384 (c) Günstigerer Ausgang eines nachfolgenden Gerichtsverfahrens Dies bedeutet indes nicht, dass der Güterichter und die Parteien in ihren Einigungsbemühungen ihrerseits an das materielle Recht zwingend gebunden wären. Angesichts der systemimmanenten Schwächen des abstrakt-generellen Gesetzesrechts385 muss es den Parteien selbstverständlich auch und gerade in der gerichtsverbundenen Mediation freistehen, ihre Einigungsentscheidung an ihren gegenseitigen Interessen und nicht ausschließlich an Rechtspositionen auszurichten.386 Dabei müssen sie sich nicht an den Ergebnissen einer im Wege der Prozessrisikoanalyse ermittelten Prognose der Prozessaussichten orientieren, sondern können auch eine von einem möglichen nachfolgenden Gerichtsverfahren abweichende Lösung wählen. Der Güterichter kann und muss die Parteien in ihrem Bemühen um eine interessengerechte Beilegung des Konfliktes aktiv unterstützen und kann ihnen auch Einigungsvorschläge unterbreiten, die nicht an den jeweiligen Rechtsansprüchen, sondern an den Parteiinteressen orientiert sind. Die ihm kraft Verfassung obliegende Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3, 97 GG hindert den 383
Der Zusammenhang zwischen ausreichender Information der Beteiligten und der Ergebnisgerechtigkeit ist auch rechtsgeschichtlich belegt. So war der Richter nach dem Jüngeren Regensburgischen Reichsabschied von 1654 verpflichtet, vor der Leitung von Vergleichsverhandlungen „in den Sachen sich wohl (zu) informiren“, um der Gefahr eines sonst drohenden materiell ungerechten Vergleichs zu begegnen. Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 223. 384 Stürner, DRiZ 1976, 202, 204. 385 Eingehend hierzu oben S. 12 ff. 386 Vgl. zur Bedeutung des Schrittes von den Positionen zu den Interessen eingehend oben S. 15 f. sowie Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff.; Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27, 30 (2000); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff., 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 46 f., 167 ff.
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Güterichter nicht daran, in Anwendung der Grundsätze des Mediationsverfahrens die Interessen der Parteien und nicht ihre Rechte zum Maßstab ihrer Einigung zu machen. Sie verpflichtet ihn jedoch dafür Sorge zu tragen, dass die Derogation materieller Rechtsansprüche das Ergebnis einer vollumfänglich informierten Entscheidung der Parteien ist und diese sich über die Tragweite ihres Handelns vollkommen im Klaren sind. Dies gilt umso mehr, je weiter sich die ausgehandelte Vereinbarung vom Ausgang eines möglichen nachfolgenden Zivilprozesses entfernt. (d) Strukturelle Machtungleichgewichte und Informationsasymmetrien Eine besondere Verantwortung trifft den Güterichter dabei im Hinblick auf den ihm obliegenden Schutz verhandlungsschwacher Parteien vor Benachteiligungen. Besteht zwischen den Parteien ein strukturelles Machtungleichgewicht, eine Informationsasymmetrie oder ist eine der Parteien aus sonstigen Gründen nur eingeschränkt in der Lage, für ihre Interessen einzustehen, so trifft den vermittelnden Richter eine besondere Fürsorgepflicht. Diese Fürsorgepflicht fließt aus der allgemeinen Pflicht des Mediators zum Schutz der Privatautonomie der Parteien und ist damit Ausdruck einer Selbstverständlichkeit: Dem Grundsatz, dass jegliches rechtsgeschäftliche und sogar soziale Handeln auf der Grundlage einer informierten, vollumfänglich eigenverantwortlichen Willensentscheidung des Einzelnen beruht. Wie wir im Gang unserer Untersuchung gesehen haben, kann davon im Fall struktureller Macht- und Informationsasymmetrien regelmäßig nicht ausgegangen werden.387 Wir haben auch gesehen, dass Mediatoren häufig einen aktiven Ausgleich derartiger Machtasymmetrien vermeiden und sich mit Verweis auf ihre Neutralität und die Eigenverantwortlichkeit der Parteien auf eine passive Haltung zurückziehen.388 Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Sie liegen in einem undifferenzierten Verständnis des Neutralitätsbegriffes, dem vorherrschenden rationalen Handlungsmodell des Menschen und einem vorgeprägten Rollenbild des Mediators begründet, das häufig schematisch auf die Situation struktureller Machtungleichgewichte angewendet wird und so gerade zu jener Verletzung der Privatautonomie führt, die sie eigentlich vermeiden will. Wie ein Blick auf die Erfahrungen in den USA zeigt, sind gerichtsverbundene Mediationsprogramme für derartige Risiken in besonderer Weise anfällig. Risikofaktoren bilden dabei vor allem die enge Bemessung der zur Verfügung stehenden Verhandlungszeit389, die Gefahr einer entindividualisierten
387
Vgl. oben S. 337 ff. Hierzu oben S. 340. 389 Instruktiv hierzu 154 Misc.2d 301, 306, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992): „These cases are disposed of at an average rate of five to 14 minutes per case, with many settlements in the range of five minutes or less. Thus, most cases are settled with only minimal super-vision 388
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Massenabfertigung anhängiger Rechtsstreitigkeiten im Wege der Mediation sowie ein fehlerhaftes Verständnis der Rolle des Mediators als Hüter von Privatautonomie und Verfahrensintegrität sowie der Gesetzesbindung des Richters nach Art. 20 Abs. 3, 97 GG. Angesichts der weitreichenden Folgen für die Beteiligten, der rechtspolitischen Konsequenzen – die etwa in unseren Fallstudien im Hinblick auf die Situation an den Housing Courts in den USA deutlich geworden sind – und den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gerichtliche Mediation als Ausübung rechtsprechender Gewalt ist der Güterichter zu einer besonderen Sorgfalt hinsichtlich des Schutzes strukturell verhandlungsschwacher Parteien berufen. Dies gilt umso mehr, als die Parteien häufig gerade aufgrund des Vertrauens, das sie in die Justiz und die staatliche Richterschaft setzen, den schützenden Rahmen des rechtsstaatlichen Zivilverfahrens verlassen und sich in einem für sie häufig noch fremden Verfahren der Verfahrensleitung des Güterichters anvertraut haben. (2) Übermaßverbot: Unzulässiger Einigungsdruck des Güterichters Während das Untermaßverbot die Gefahr des Güterichters adressiert, aufgrund einer zu passiven Verhandlungsführung die Parteien zu einer nicht hinreichend informierten und damit auch nicht umfassend privatautonomen Einigungsentscheidung zu veranlassen und dadurch objektiv rechtswidrige oder grob unbillige Vereinbarungen in Kauf zu nehmen, thematisiert das Übermaßverbot das umgekehrte Problem: Die Gefahr, dass die Privatautonomie der Parteien nicht durch eine zu passive, sondern zu aktive Intervention des Güterichters beeinträchtigt wird. Diese Gefahr besteht insbesondere dann, wenn der Güterichter die Autorität seines Amtes benutzt, um die Parteien durch Einigungsdruck zu einer schnellen Einigung oder zur Annahme eines von ihm unterbreiteten Vergleichsvorschlags zu bewegen. Aufgrund der ihm zukommenden Amtsautorität, der aus dem Zivilprozess erlernten, eingefahrenen, oft sehr direktiven Verhandlungsführung und der ihm obliegenden Bewertung der materiellen Rechtslage ist der Güterichter in besonderer Weise der Gefahr unzulässigen Einigungsdrucks gegenüber den Parteien ausgesetzt.
by the court. Yet, housing laws and regulations are so complex – in the words of the Court of Appeals, an ‚impenetrable thicket, confusing not only to laymen but to lawyers‘ … The settlement was made between the parties in the hallways of the courthouse and was brought into the court for ‚so ordering‘. … The courtʼs ‚allocution‘ (or review of the stipulation) lasted approximately six minutes and was devoted chiefly to questioning respondent about how she would make the payments due under the stipulation and to ascertaining whether respondent understood the stipulation as written and the consequences of default.“ Ähnlich Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85, 92 (1996): „Actual negotiations generally take fewer than ten minutes.“ Hervorhebungen durch den Verfasser.
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Das Risiko des Einigungsdrucks im Mediationsverfahren ist von erheblicher praktischer Relevanz und vor allem in den USA Gegenstand intensiver rechtspolitischer Diskussion. Aber auch in Deutschland ist das Thema bereits früh in den Blickpunkt des Interesses gerückt. So stellt Freund fest, „von Anwälten (werde) berichtet, daß manche Partei den Eindruck hat, das Gericht wolle ihr durch das Hinwirken auf einen Vergleich ihr ‚gutes Recht‘ gleichsam abschwatzen.“390 Und Röhl konstatiert: „Kritiker haben längst bemerkt, daß der therapeutische Ansatz der Vermittlung von manipulativen Verhandlungsmethoden überlagert wird, denn von den Vermittlern wird erwartet, daß sie nie das Ziel einer Einigung aus dem Auge verlieren und deshalb bei jedem Zeichen von Nachgiebigkeit zupacken, die Parteien auf Konzessionen festnageln und die einmal erreichte Einigung sofort festschreiben, damit keine Diskussion darüber aufkommt, und daß sie fehlender Einigungsbereitschaft notfalls mit Hinweisen auf ein drohendes Strafverfahren nachhelfen.“391 (a) Rechtsgeschichtlicher Befund: Einigungsdruck als Teil richterlichen Handelns Die Neigung des Richters, Prozesse durch die Ausübung von Druck oder Zwang vorzeitig zu beenden,392 ist auch durch die rechtsgeschichtliche Forschung zuverlässig belegt. So wurden Zwangsmittel im gemeinen Recht lange als zulässig angesehen, und auch in den auf Güteverfahren bezogenen Rechtstexten findet sich häufig eine Vielzahl abgestufter Zwangsmittel, mit denen der Widerstand der Parteien gegen eine Einigung überwunden werden sollte.393 Eine vor allem im Hochmittelalter verbreitete Strategie bestand darin, wiederholte Einigungsversuche mit Unannehmlichkeiten äußerer Art zu verbinden, sie etwa „so lange in einem Zimmer (zu) verschliessen, oder von einem Orte
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Freund, DRiZ 1983, 136, 136. Röhl/Röhl, DRiZ 1979, 33, 37. 392 Vgl. zu der aus einem inneren Konflikt des Richters erwachsenden Versuchung auch Stürner, DRiZ 1976, 202, 205: „Die Forderung nach rascher Erledigung und die eigene Bequemlichkeit können leicht dazu verführen, statt der wünschenswerten zurückhaltenden, informativen Schlichtungsmethode Formen ausgesprochener ‚Zwangsschlichtung‘ zu huldigen. Jeder, der schon praktisch tätig war und ehrlich bleibt, kennt die Stärke dieser Versuchung. Der Richter muß diesen Konflikt durchschauen und zugunsten der grundsätzlich für richtig erkannten, informativen Schlichtungsmethode lösen.“ Hierzu aus anwaltlicher Sicht auch Schnabel, in: Gottwald/Hutmacher/Röhl u.a. (Hrsg.), Der Prozeßvergleich (1983), S. 53, 55 ff. 393 Eingehend hierzu Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 225. 391
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zum andern reiten, oder auch in geschlossenen Schranken fechten zu lassen, bis sie das Recht gefunden hatten“394. Entsprechend wurde in einer Urkunde aus dem Jahr 1305 zwischen Simon von der Lippe und dem Bischof Ludolf von Osnabrück ein Vergleichsverfahren vereinbart, in dem der Druck auf die Parteien dadurch kontinuierlich erhöht wurde, dass man sie von Stadt zu Stadt schickte, bis sie zu einer Einigung gelangten: „Und wenn es unter ihnen wieder zum Konflikt kommt, so sollen die Parteien jeweils vier ihrer Dienst- oder Burgleute gemeinsam an einen dritten Ort schicken, an dem sie die Streitigkeit innerhalb von 15 Tagen entweder zur Güte oder zu Recht beenden. Wird der Streit innerhalb von 15 Tagen nicht beigelegt, so sollen sich diese acht Vertreter (Schiedsleute) nach Bielefeld, und wenn sie den Streit auch dort nicht innerhalb von 15 Tagen beilegen nach Herford begeben und so lange alle 15 Tage von einer Stadt in die andere gehen, bis sie sich durch Vergleich geeinigt haben.“395 Zwangsmaßnahmen gegen vergleichsunwillige Parteien haben später insbesondere in den Prozessordnungen Niederschlag gefunden, bis mit dem Verbot von Zwangsvergleichen durch die Reichshofratsordnung der Aspekt der Abschlussfreiheit in den Vordergrund rückte. So finden sich in den Prozessordnungen Zwangsmaßnahmen unterschiedlicher Intensität, die auf der ersten Stufe eine Wiederholung des Gütetermins bis zur Einigung, auf der zweiten Stufe Kostensanktionen und auf der dritten Stufe Zwangsvergleiche vorsahen. Eine solche Regelung – der ersten Stufe eines Anreizsystems der gütlichen Einigung entsprechend – enthält etwa die Wolfenbütteler Hofgerichtsordnung, die für den Fall des Scheiterns einer gütlichen Einigung vorsieht, dass in der Hoffnung, „daß die Parteyen sich weiter besinnen und anders erklären mögen“, ein weiterer Termin anzusetzen sei.396 Einen Schritt weiter ging der Codex
394 Möser, Patriotische Phantasien I (1780), S. 303 („Über die Art und Weise, wie die Alten Processe abgekürzet haben“). Hierauf hinweisend Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 225. 395 Im vollständigen Originaltext der Urkunde heißt es: „Ponemus quatuor de nostris ministerialibus sive castellanis, qui ad aliquam competentem locum convenient, et intra 15 mam a die notificationis injuriae, propter quam discordia est exorta, terminabunt discordiam vel in amicitia vel in jure, et si intra 15 mam ipsam dictam discordiam non terminarent, intrabunt oppidum Bilevelde, in quo jacebunt per continuam 15 mam, et si intra ipsam 15 mam praedictam discordiam non decident, per proximam 15 mam tunc sequentem jacebunt indo oppido Hervorde, et sic vicissim in oppidis dictis jacebunt inde nun exituri, antequam ipsam discordiam decident vel in amicitia vel in jure; et si aliquis et quoties aliquis praedictorumm ministerialium vel castellanorum obierit, statuetur statim alius pro eodem etc. anno 1305, die beatorum Kiliani et Sociorum.“ Möser, Patriotische Phantasien I (1780), S. 295 f. Hervorhebungen durch den Verfasser. Übersetzung nach Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 225. 396 „Solten auch die gütliche Mittel, so bey der ersten Verhör vorkommen, nicht zureichen wollen, und noch einige Hofnung, daß die Parteyen sich weiter besinnen und anders erklären
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Friedericianus von 1747397, der – ähnlich den reformierten britischen Civil Procedure Rules (CPR)398 – Kostensanktionen für den Fall vorsah, dass sich die Parteien einem Vergleich widersetzen: „Wenn bei dem künftigen Urteil diejenige Partei, die sich dem Vergleich widersetzt, ganz unterliegt oder weniger erhält, als ihr im Vergleich angeboten wurde, so hat sie der anderen Partei ihre Kosten zu erstatten. Der Anwalt indes, der vom Vergleich abgeraten hatte, verliert den Anspruch auf seine Gebühren, die stattdessen der Sportelkasse zugesprochen werden.“399 Als ultima ratio sah das Prozessrecht schließlich die Möglichkeit des Zwangsvergleichs vor, in dem die Richter den Parteien die gütliche Einigung gleichsam von Amts wegen diktierten.400 Sie war eigentlich aus Gründen objektiver Gerechtigkeit nur zum Schutz strukturell verhandlungsschwacher Parteien, von „Wittiben, Waysen, und sonsten miserabiles personas“401, zulässig, wurde jedoch bald aus prozessökonomischen Gründen eingesetzt.402 Entsprechend gewährte die Celler Hofgerichtsordnung den Richtern die Vollmacht, „die streitige Theile ex officio ad transigendum [zum Abschluss] zu nöthigen“ und dabei in ihrem eigenen Interesse „gewisse billigmäßige Verträge zu errichten und vorzuschreiben“: „Und weil die Rechtswissenschaft in zahlreichen Fällen einem gewissenhaften Richter erlaubt, die Parteien kraft Amtes (ex officio) zum Abschluss einer Vereinbarung (ad transigendum) zu zwingen und ihnen entsprechend billige Verträge vorschreibt, deshalb sollen auch Unsere Statthal-
mögten, übrig wäre, soll die Güte nicht so fort aufgehoben, sondern nach Gelegenheit nochmahliger Terminus dazu beramet werden“. Hasen, Processus Iudiciarius Provinciarum Brunsvico-Luneburgicarum (1732), S. 55. Zitiert nach Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 225. 397 Cod Fr. IV. 7. § 6. Vgl. hierzu Hempeln, Königlich Preußisches Allgemeines Processual-Lexicon (1750), S. 180 f. 398 Auch die CPR sehen die Möglichkeit vor, im Fall der verweigerten Mitwirkung an einer gütlichen Einigung die Kosten des Rechtsstreits der verweigernden Partei aufzuerlegen. Im Gegensatz zur Regelung der Braunschweig-Lüneburgischen Landesordnung ist dies indes selbst dann möglich, wenn die eine Mediation verweigernde Partei in dem Rechtstreit obsiegt, Rule 44.3. (2) (b), (4) (a), (5) (a) iVm. Rule 1.3, 1.4 (1), (2) (a) (e) (f) CPR. Hierzu eingehend Greger, JZ 2002, 1020, 1021 ff.; Wagner, ZKM 2004, 100, 102 f.; Althammer, JZ 2006, 69, 69 ff.; Engelhardt, Die Woolf-Reform in England (2007). 399 Der Originaltext lautet: „Wann bey dem künftigen Urtheil derjenige Theil, welcher den Vergleich refusiret, verlieret, oder noch weniger, als ihm durch den Vergleich offeriret worden, erhält: so soll er allezeit dem Gegentheil die Kosten erstatten; der Advocat aber, welcher den Vergleich abgerathen, seine Gebühren verlieren, welche der SportulCasse zugesprochen werden müssen.“ Hempeln, Königlich Preußisches Allgemeines ProcessualLexicon (1750), S. 180 f. Hierauf hinweisend Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 226. 400 Vgl. hierzu Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 226. 401 Hasen, Processus Iudiciarius Provinciarum Brunsvico-Luneburgicarum (1732), S. 53 f. Zitiert nach Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 226. 402 Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 226.
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ter, Kanzler und Beamten nach ihrem billigem Ermessen in solchen Fällen gegen den Willen der Parteien (in vitis partibus) verfahren und damit den Streit zwischen den Parteien zu ihrem eigenen Besten beenden.“403 In dem Maße, in dem sich die Einsicht in die Abschlussfreiheit als legitimierender Grundlage des Prozessvergleichs durchzusetzen begann, wurden Zwangsvergleiche zunehmend als unangemessen angesehen. So waren nach Titel II, § 5 der Reichshofratsordnung von 1654 die Richter zwar gehalten, im Rahmen einer Vergleichsförderungspflicht ähnlich dem heutigen § 278 Abs. 1 ZPO „die strittigen Sachen zur gütlichen Handlung und Vertrag zu weisen“, jedoch hatte dies so zu geschehen, „daß kein Parthey wider ihren Willen zu einigem Vergleich getrungen werde“404. Eine Vergleichsverhandlung ganz ohne Zwangsmomente war indes (noch) nicht denkbar. Daher entsprach es der Vergleichspraxis am Reichshofrat, dass den Richtern „zur gütlichen Composition“ das Recht zustand, dann, wenn keine der Parteien zuerst ein Vergleichsangebot unterbreiten wollte, diese zur gleichzeitigen Abgabe von Einigungsvorschlägen zu verpflichten.405 (b) Rechtspraktischer Befund: Risiken in der aktuellen Rechtspraxis Dass das Risiko der Nötigung der Parteien406 zu einem von ihnen eigentlich abgelehnten Vergleich unter Ausnutzung richterlicher Autorität als reales Phänomen der Rechtspraxis nicht zu vernachlässigen ist, zeigt die Tatsache, dass
403 Im Originaltext heißt es: „Und dann bey denen Rechtsgelahrten etliche Fälle zu befinden, worin einem gewissenhafften Richter erlaubet, die streitige Theile ex officio ad transigendum zu nöthigen und dero Belitiff gewisse billigmäßige Verträge zu errichten und vorzuschreiben; So mögen Unsere Statthalter, Cantzler und Malte nach Befindung in solchen terminis auf billige Wege damit ebener Gestalt, auch endlich invitis partibus verfahren und dadurch die Partheyen zu ihrem selbsteigenen besten in Ruhe setzen.“ Hasen, Processus Iudiciarius Provinciarum Brunsvico-Luneburgicarum (1732), S. 53. Hervorhebungen durch den Verfasser. Zitiert nach Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 226. 404 Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates: 1550-1766. Band 2 (1990), S. 45 ff. 405 „Es pflegen aber die Commissarii zur gütlichen Composition gemeiniglich folgender Cautelen zugebrauchen: … Falls keiner von beyden Theilen zu erst Vorschläge thun will / alsdann sie dahin nothigen / daß sie ihre Vorschläge zugleich auff eine Zeit übergeben.“ v. Uffenbach, Tractatus de Consilio Caesareo-Imperiali Aulico (1700), S. 298. Zitiert nach Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff., 228. Vgl. auch Moser, Einleitung zu dem Reichs-Hof-RathsProceß, 4. Teil (2. Aufl. 1747), Nr. XII, S. 855. 406 Vgl. hierzu auch die Glosse in NJW 1957, 131: „Sie tun es, indem sie das Prozeßrisiko übertreiben oder die Entscheidung so lange verweigern, bis die Parteien für einen Vergleich ‚reif‘ sind. Ganz Mutige gehen bis hart an die Grenze der Justizverweigerung.“ Zur Vergleichspraxis aus Sicht der Anwaltschaft kritisch ebenfalls Schnabel, in: Gottwald/Hutmacher/Röhl/Strempel (Hrsg.), Der Prozeßvergleich (1983), S. 53, 55 ff. Zu den „Versuchungen“ des Richters Stürner, DRiZ 1976, 202, 205.
III. Verfahrensmodell: Die Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 523
derartige Fälle Gegenstand auch höchstrichterlicher Rechtsprechung geworden sind. So hatte der BGH einen Fall zu entscheiden, in dem der Richter nach der Ankündigung eines Urteils zu Ungunsten des Beklagten und unter Hinweis auf ein angeblich bindendes Beratungsergebnis gegenüber der beklagten Partei den Abschluss eines entsprechenden Vergleichs anregte, den diese entgegen dem ausdrücklichen Rat ihres Anwaltes auch unterzeichnete.407 Der BGH sah hierin eine unzulässige Drohung, die nach § 123 BGB zur wirksamen Anfechtung des Vergleichs berechtige.408 Dabei ging er unter anderem auch auf die Abgrenzung zwischen bloßen Hinweisen auf die Rechtslage und einer unzulässigen Drohung mit einem nachteiligen Urteil ein. Denn, so das Gericht, „es handelte sich nicht nur um einen Hinweis auf Möglichkeiten, die sich aus dem Scheitern der Verhandlungen von selbst ergaben … Insofern hebt sich der vorliegende Fall eindeutig von den Fällen ab, in denen das Gericht im Laufe von Vergleichsverhandlungen den Parteien seine nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens gewonnene Rechtsansicht darlegt und ihnen das Risiko vor Augen führt, das ihnen nach seiner Auffassung bei Fortführung des Rechtsstreits droht. Während solche Hinweise des Gerichts berechtigt und in vielen Fällen für die Parteien erwünscht sind, sollte hier der Hinweis des Vorsitzenden auf ein – angeblich – bindendes Beratungsergebnis dazu dienen, den bereits eindeutig geäußerten, auf Ablehnung des Vergleichsvorschlags gerichteten Willen des Beklagten zu beugen, m.a.W. einen Zwang auf seine Entschließung auszuüben. Dabei ist zu berücksichtigen, daß auch jede ‚Drohung‘ dem Bedrohten die Wahl läßt, ob er sich fügen will oder nicht … , und daß daher die Grenzlinie zwischen der nicht zu beanstandenden bloßen Warnung und der Drohung dort verläuft, wo die in dem Bedrohten erregte Furcht vor dem Eintritt des angedrohten Übels nach der Absicht des Drohenden so groß ist, daß eine freie Abwägung des zu fassenden Entschlusses nicht mehr zu erwarten ist.“409 Dass der Einigungsdruck so groß sein kann, dass es nicht ausreicht, die schwächere Partei nicht auf die ihr zukommende Eigenverantwortlichkeit des Handelns oder die Inanspruchnahme anwaltlicher Vertretung zu verweisen, zeigen die weiteren Ausführungen des Gerichts: „Daß der Beklagte solchen Überlegungen nicht mehr zugänglich war, sondern glaubte, sich der Autorität des Gerichts beugen zu müssen, zeigt gerade der Umstand, daß er den Rat seines Anwalts, den Vergleichsvorschlag weiterhin abzulehnen, nicht befolgte; der Druck, dem er sich von Seiten des Gerichts ausgesetzt sah, erwies sich vielmehr stärker als die beim Laien nach der Lebenserfahrung vorhandene Neigung, im Rechtsstreit entsprechend der Empfehlung des Anwalts zu verfahren.“410 407
BGH NJW 1966, 2399, 2401. BGH NJW 1966, 2399, 2401. 409 BGH NJW 1966, 2399, 2400. Hervorhebungen durch den Verfasser. 410 BGH NJW 1966, 2399, 2401. Hervorhebungen durch den Verfasser. 408
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(c) Abgrenzungskriterien: Der Güterichter zwischen Vergleichsförderung und Vergleichszwang Im Rahmen seiner vermittelnden Tätigkeit bewegt sich der Güterichter in einem auf den ersten Blick nur schwer beherrschbaren Spannungsverhältnis: Während ihn auf der einen Seite gem. § 278 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 ZPO die Pflicht trifft, die Parteien bei ihren Einigungsbemühungen zu unterstützen, ist es ihm auf der anderen Seite verwehrt, sie durch Zwang, einseitige Informationen oder sonstige manipulative Einwirkungen auf ihre Entschließungsfreiheit zum Abschluss eines so von ihnen nicht gewollten Vergleiches zu bewegen. Die Abgrenzung unzulässigen Einigungsdrucks zur zulässigen Förderung der Vergleichsbemühungen der Parteien etwa durch Mitwirkung an der Erarbeitung von Lösungsoptionen oder durch das Einbringen eigener Lösungsvorschläge kann im Einzelfall durchaus schwierig sein. Problematisch ist dabei insbesondere die Frage, unter welchen Bedingungen die notwendige Erörterung der Prozessaussichten als Nichteinigungsalternative411 durch den Güterichter noch als Erfüllung seiner Informationspflicht gegenüber den Parteien anzusehen ist und wann er die Grenze zur unzulässigen Drohung mit einem ungünstigen Ausgang eines nachfolgenden Prozesses überschreitet. Eine derartige Drohung hatte der BGH in der besprochenen Entscheidung vom 6. Juli 1966 angenommen und die Anfechtbarkeit des abgeschlossenen Vergleichs nach § 123 Abs. 1 Alt. 2 BGB bestätigt.412 Dabei hatte er deutlich zwischen den Fällen zulässiger Hinweise auf die Rechtslage und unzulässiger Drohung unterschieden: Während der Richter den Parteien im ersten Fall seine vorläufige Rechtsansicht darlegt, sie auf die Möglichkeiten hinweist, die sich aus dem Scheitern der Verhandlungen ergeben und ihnen das Risiko eines nachfolgenden Zivilprozesses vor Augen führt, setzt er sich im zweiten Fall bewusst über den ausdrücklich geäußerten Willen der Parteien, der auf eine Ablehnung des Vergleiches gerichtet ist, hinweg, um den Willen der Parteien durch die Ausübung von Zwang auf ihre Entschließungsfreiheit zu beugen. Diese Grundsätze machen deutlich, dass für die Entwicklung geeigneter Abgrenzungskriterien auf die Beeinträchtigung des Willens der Parteien als Schutzgut richterlicher Selbstbeschränkung abzustellen ist. Maßgebliches Abgrenzungskriterium muss daher die Absicht sein, sich über den erkennbaren oder erklärten Willen der Parteien hinwegzusetzen und sie auch dann zur Zustimmung zu einem bestimmten Ergebnis zu nötigen, wenn sie bereits erkennbar und wiederholt ihre Ablehnung signalisiert haben. Um jene Fälle auszuscheiden, in denen der Güterichter zulässigerweise versucht, Einigungshindernisse sich gegenseitig blockierender Parteien durch Argumentation und beharrliche Überzeugungsarbeit und nicht durch die Drohung mit 411 Zur Prozessrisikoanalyse vgl. Eidenmüller, ZZP 113 (2000), 5; Aaron, in: Moffitt/ Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 202. 412 BGH NJW 1966, 2399, 2401.
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einem nachteiligen Ausgang des Zivilprozesses zu überwinden, ist das voluntative Element qualitativ zu konkretisieren. Entscheidend muss es dabei darauf ankommen, dass den Parteien stets die Freiwilligkeit ihrer Entscheidung als Konsequenz der ihnen zukommenden verfassungsrechtlich geschützten Privatautonomie vor Augen geführt wird und ihnen bewusst bleibt, dass der Abschluss eines Vergleichs eine von mehreren möglichen Einigungsoptionen darstellt. Insbesondere ist der Güterichter zu einer sorgfältigen und objektiven Bewertung der Rechtslage verpflichtet, soweit ihm dies aufgrund des Sach- und Streitstandes möglich ist. Ist die Sache nicht entscheidungsreif, sind die allgemeinen Beweislastregeln anzuwenden, wobei der Güterichter auch von den Möglichkeiten einer Prozessrisikoanalyse Gebrauch machen kann. Ihm ist es insbesondere verwehrt, die Risiken eines Zivilverfahrens übertrieben und einseitig darzustellen, die Gefahren eines Vergleiches für die subjektiven Rechte der Parteien zu verschweigen, sich trotz vorliegender umfassender Sachverhaltsinformationen und überschaubaren Zeitaufwandes auf eine oberflächliche, lediglich kursorische Prüfung der Rechtslage zu beschränken oder durch die zeitliche Gestaltung des Verhandlungsrahmens die Parteien zu einer zügigen Einigung zu drängen.413 Dabei muss nicht bereits die Grenze zur Drohung iSd. § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB überschritten sein, da der Güterichter aufgrund der Rollentrennung zwischen Mediator und Prozessrichter auf die Verwirklichung des in Aussicht gestellten Übels keinen Einfluss hat. (d) Pauschalkompromisse: Zurückhaltung bei Abweichungen von der Rechtslage Besondere Zurückhaltung hat er insbesondere dann walten zu lassen, wenn der Abschluss eines von der Rechtslage abweichenden Vergleichs infrage steht. Zwar kann eine umfassende, ursächliche und nachhaltige, an den tatsächlichen Interessen der Parteien orientierte Beilegung des Konfliktes durchaus von der materiellen Rechtslage abweichen. Aufgrund der systemimmanenten Grenzen abstrakt-generellen Gesetzesrechts, das nur eine von mehreren relevanten Konfliktdimensionen thematisiert und standardisierte Binär-Lösungen typisierter
413 So auch Stürner, DRiZ 1976, 202, 204, der auch auf die amtshaftungsrechtlichen Folgen verweist: „Die Grenze von der Information zur Manipulation wird indessen überschritten, wenn der Richter Nachteile des Vergleichs verharmlost oder gar verschweigt. Der Richter verkennt beispielsweise seine Informationsaufgabe, falls er in der Vergleichsverhandlung die Summe ohne Zinsen nennt, um die betroffene Partei auf diese Weise zu überrumpeln. Eine grobe Verletzung der richterlichen Fürsorgepflicht liegt im Verschweigen möglicher gewichtiger Nachteile des Vergleichsschlusses … Dabei geht es m.E. nicht nur um ein richterliches ‚nobile officium‘: Amtspflichtverletzungen im Rahmen des Vergleichsschlusses unterfallen nach richtiger Ansicht nicht dem Spruchrichterprivileg, so daß ähnlich wie bei der Verletzung notarieller Belehrungspflichten die Amtshaftung durchgreift.“
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Fallkonstellationen erlaubt, wird dies sogar häufig der Fall sein.414 Allerdings muss der Güterichter unbedingt vermeiden, die Parteien aufgrund prozessökonomischer Erwägungen zu einem objektiv nicht gerechtfertigten „Pauschalkompromiss“ im Sinne einer hälftigen Teilung zu drängen.415 Ein Nachgeben gegenüber der ursprünglich erhobenen Forderung ist nur dann angemessen, wenn das Vergleichsergebnis der materiellen Rechtslage entspricht, etwa weil die zuvor erhobene Forderung überzogen gewesen ist, oder wenn die weitergehenden Interessen der Parteien ein Zurückbleiben hinter den der jeweils betroffenen Partei zustehenden Ansprüchen rechtfertigen.416 Andernfalls droht die Gefahr des Missbrauchs des Mediationsverfahrens durch verhandlungsstärkere Parteien, die durch geschickte Verhandlungsführung – häufig mit Erfolg – doch noch etwas zu erlangen suchen, was ihnen rechtlich nicht zusteht.417 Der Anspruchsberechtigte wird so um sein „gutes Recht“ gebracht und verliert das Vertrauen in die staatliche Justiz, weil er sich „im Kampf um das Recht“, den das Mediationsverfahren eigentlich zu vermeiden angetreten ist, mit seinem Rechtsanspruch gegenüber der gewandteren Partei nicht vollständig durchzusetzen vermag.418 Weil das Mediationsverfahren vor einem staatlichen Gericht dem materiellen Recht nicht zur Durchsetzung verhilft, entstehen Gefahren für die Autorität und die Befolgung des Rechts. Das Ziel des Mediationsverfahrens, den Konflikt durch eine den Interessen beider Seiten entsprechende objektiv gerechte Vereinbarung nachhaltig und dauerhaft
414
Vgl. hierzu eingehend oben S. 12 ff. Zur Praxis hälftiger „Pauschalkompromisse“ vgl. Greger, JZ 2002, 1020, 9; Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 275 ff. 416 Zu den Bewertungsfaktoren, die der Einigungsentscheidung der Parteien im gerichtlichen Vermittlungsverfahren zugrunde liegen, vgl. Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 275 ff.; Ekelöf, FS Bruns (1980), S. 3, 8 ff. Eingehend zu den Grundsätzen der Einigungsentscheidung in Verhandlungssituationen Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 158 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 23 ff. Zu den Gesichtspunkten, auf die Richter an Arbeits- und Landesarbeitsgerichten die Beteiligten hinweisen, um sie zum Anschluss eines Vergleiches zu bewegen, vgl. die empirische Untersuchung von Falke/Höland/Rhode/Zimmermann, Kündigungspraxis und Kündigungsschutz (1981), S. 818. 417 So ausdrücklich auch Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 265 f., 271; Breidenbach, Mediation (1995), S. 313 ff. (der in diesem Zusammenhang das Individual Autonomy Projekt als Ziel des Mediationsverfahrens formuliert); Kocher, Funktionen der Rechtsprechung (2007), S. 450 f. Vgl. hierzu auch die Glosse in NJW 1957, 131: „Es werden heute viele Klagen erhoben, deren Chance der Kläger allein darin sieht, daß der Beklagte unter dem Druck der richterlichen Meinungsäußerung bereit sein wird, eine Leistung zu erbringen, deren Berechtigung höchst zweifelhaft ist. In diesen Fällen wäre dem Kläger das Kostenrisiko zu groß, wenn er den Prozeß nicht wegen der Vergleichsfreudigkeit unserer Gerichte wagen könnte.“ 418 So auch MünchKomm/Münch, ZPO (5. Aufl. 2017), vor § 1025 Rn. 35, der darauf hinweist, dass „die beliebige Verfügbarkeit („Basaratmosphäre“) … schleichend Bürgervertrauen schwinden“ läßt. 415
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beizulegen, wird verfehlt. Der Mediator ist seiner Aufgabe als Wächter der Privatautonomie, Hüter der Verfahrensintegrität und Garant für ein gutes und damit ein ausgewogenes und faires Verhandlungsergebnis nicht gerecht geworden. Das Ansehen der Rechtspflege wird beschädigt, das Vertrauen in die Justiz erschüttert. Exemplarisch hierfür sind etwa die Vergleiche, die zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber im arbeitsgerichtlichen Güteverfahren nach § 54 Abs. 1 ArbGG geschlossen werden. Einer empirischen Untersuchung zufolge wird nach Einschätzung der entscheidenden Berufsrichter an Arbeits- und Landesarbeitsgerichten in 40 % der Vergleiche in Kündigungssachen zu Unrecht gekündigt und dem Arbeitnehmer das Kündigungsrecht gleichsam „abgekauft“.419 In diesen Fällen werden Vergleiche abgeschlossen, obwohl sie nach dem Sach- und Streitstand voraussichtlich als unwirksam anzusehen sind.420 Darüber hinaus kommt arbeitsgerichtlichen Vergleichen regelmäßig keine integrierende Kraft zu. Lediglich in 6 % aller Fälle führt der Vergleich zu einer Wiederherstellung der Arbeitsverhältnisse.421 Mit dem Vergleich wird die Beendigung des Arbeitsverhältnisses daher gleichsam „beurkundet“.422 Die Zufriedenheit der Arbeitnehmer als strukturell schwächerer Partei ist daher regelmäßig gering.423 Ähnliche Ergebnisse werden von Mietstreitigkeiten berichtet. Dort führt der Vergleich nur in 5 % der Fälle zu einer Fortsetzung des Mietverhältnisses, in allen übrigen Fällen allenfalls zu einer Verlängerung der Räumungsfristen.424 Dass der Versuch, auf dem Vergleichsweg ungerechtfertigte Forderungen durchzusetzen eine Realität der Rechtspraxis darstellt, der sich der Richter nicht verschließen kann, haben die empirischen Erfahrungen in den USA überzeugend nachgewiesen. Die Einschätzung, dass die Gerichte zu Erfüllungsgehilfen einzelner Interessengruppen werden könnten, hat hier ihren Ursprung.425
419 Falke/Höland/Rhode/Zimmermann, Kündigungspraxis und Kündigungsschutz (1981), S. 777, 810; Rottleuthner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 145, 150. 420 Falke/Höland/Rhode/Zimmermann, Kündigungspraxis und Kündigungsschutz (1981), S. 810. 421 Falke/Höland/Rhode/Zimmermann, Kündigungspraxis und Kündigungsschutz (1981), S. 809, 912. 422 Rottleuthner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 145, 150. 423 Schönholz, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 153, 163 f. Allerdings ist nur eine leicht geringere Zufriedenheit als bei anderen Vergleichen feststellbar. 424 Rottleuthner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 145, 150 mit Verweis auf Hilden, Rechtstatsachen im Räumungsrechtsstreit (1976), S. 67 ff. 425 Zu dieser Einschätzung gelangt Lazerson, in: Abel (Hrsg.), The Politics of Informal Justice (1982), S. 119, 159. Im Hinblick auf die Situation am New York Housing Court:
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Dass dies systematisch geschieht, gehört zu den zentralen Argumenten, die gegen eine weitgehende Institutionalisierung der Mediation ohne die Gewährleistung minimaler Verfahrensgarantien vorgebracht werden.426 Die den Vergleichsverhandlungen häufig pauschal zugrunde gelegte Maxime, dass ein „magerer Vergleich einem fetten Prozess vorzuziehen sei“, ist in dieser Form daher nicht haltbar.427 Würde eine Partei nach der objektiven Rechtslage obsiegen und gebieten auch die Interessen der Parteien, zu denen freilich auch das Bedürfnis nach einer schnellen und gütlichen Beilegung des Streites gehört, kein anderes Ergebnis, so kann ein guter Mediationsvergleich auch darin bestehen, dass die wahrscheinlich unterliegende Partei den geltend gemachten Anspruch anerkennt. Im Kern geht es bei der hier gebotenen Abgrenzung darum jene Fälle auszuscheiden, in denen das Mediationsverfahren zur Durchsetzung ungerechtfertigter Forderungen missbraucht wird. Erfasst werden sollen dabei jene Fälle, in denen die eine Partei den Verhandlungsspielraum durch die Geltendmachung unberechtigter Forderungen als Ankerposition (anchoring)428 künstlich erweitert und bewusst darauf spekuliert, dass sich beide Verhandlungspartner ohnehin „in der Mitte treffen“ und die benachteiligte Partei aufgrund der besonderen Situation der Vergleichsverhandlung ein objektiv ungerechtfertigtes und unter Umständen sogar unbilliges Ergebnis akzeptiert.429 Dies wird typischerweise häufig dann gegeben sein, wenn zwischen den Parteien ein strukturelles Machtungleichgewicht besteht, wie dies etwa zwischen Mieter und Vermieter oder Unternehmer und Verbraucher der Fall ist. In diesen Fällen hat sich der Güterichter nicht nur jedes Einigungsdrucks zu enthalten, sondern ist im Gegenteil dazu aufgerufen, die Privatautonomie der Parteien durch den Ausgleich von Machtasymmetrien zu schützen.
„Once formality is withdrawn the courts are transformed into collection agencies operating with the seal of the state of New York.” Dabei handelt es sich indes nicht um ein Gericht, sondern um eine Schlichtungsinstitution, die indes als staatliche Behörde hoheitlich tätig wird. 426 Vgl. zu der Problematik Lazerson, in: Abel (Hrsg.), The Politics of Informal Justice (1982), S. 119 ff. sowie Delgado/Dunn/Brown/Lee/Hubbert, 1985 Wis. L. Rev. 1359, 1359 (1985). Instruktiv hierzu auch 154 Misc.2d 301, 304, 585 N.Y.S.2d 956 (6.4. 1992), vgl. oben S. 378, Fn. 237. 427 Vgl. hierzu auch den instruktiven Beispielsfall bei Breidenbach/Henssler, Mediation für Juristen (1997), S. 313 f. im Anschluß an Ekelöf, FS Bruns (1980), S. 3, 9. 428 Vgl. hierzu eingehend Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 38 f. 429 Hierzu Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 271.
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(3) Verhaltensanforderungen an den Güterichter Aus unseren Überlegungen ergeben sich praktische Verhaltensanforderungen für die vermittelnde Tätigkeit des Güterichters. 1. Allgemeine verfahrensimmanente Anforderungen. Sie entsprechen zunächst denen des Mediators in der vertragsautonomen Mediation, die ihm als Hüter der Verfahrensintegrität und als Garant für die Verwirklichung der Verfahrensziele obliegen. a) Sicherung der Verfahrensintegrität. Der Güterichter ist für die Wahrung der Verfahrensgrundsätze und damit die strukturelle Integrität des Mediationsverfahrens verantwortlich. Zu diesen Grundsätzen gehören – wie wir gesehen haben430 – die Prinzipien der Privatautonomie, Kooperation, Orientierung an Parteiinteressen, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität des Verfahrens und die Neutralität des Mediators.431 Entsprechend den typischen Risiken des Mediationsverfahrens432 sind dabei die Privatautonomie der Parteien, die Orientierung an den Interessen, die Transformation der Beziehung sowie die Neutralität von besonderer Bedeutung. b) Umsetzung der Verfahrensziele. Darüber hinaus kommt ihm die Aufgabe zu, auf die Verwirklichung der Verfahrensziele und damit auf ein beiderseits interessengerechtes, faires, nachhaltiges, dauerhaftes, effektives und wertschöpfend kreatives Verhandlungsergebnis hinzuwirken, das die Parteien durch Versöhnung wieder aufeinander hin ausrichtet und ihre Beziehung transformiert.433 Von besonderer Bedeutung ist hier, dass sich der Güterichter aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Gesetzesbindung um ein objektiv gerechtes Verhandlungsergebnis bemüht, das regelmäßig durch ein materiell rechtmäßiges Ergebnis indiziert wird. Allerdings kann die Verwirklichung von Interessen ein Abweichen von der Rechtslage gebieten, doch sind insoweit an die Information der Parteien besondere Anforderungen zu stellen. Der Güterichter ist in diesen Fällen aufgerufen, gegenüber den Parteien Zurückhaltung walten zu lassen und sie nicht zu einem Verzicht auf ihnen zustehende Rechtspositionen zu drängen. c) Förderungs-, Überwachungs- und Interventionspflicht. Wie den Mediator in der vertragsautonomen Mediation trifft auch den Richtermediator in der ge-
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Dazu oben S. 124 f. Vgl. hierzu auch eingehend unten S. 459 ff. Zu den Grundsätzen des Mediationsverfahrens vgl. oben S. 459 ff. 432 Zu den Risiken des Mediationsverfahrens eingehend unten S. 604 ff. 433 Zur den Funktionen des Mediationsverfahrens eingehend unten S. 558 ff. sowie zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses vgl. oben S. 160 ff., unten S. 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 431
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richtsverbundenen Mediation aufgrund seiner Doppelfunktion eine Förderungs-, Überwachungs- und Interventionspflicht, welche die ihm obliegenden Schutzfunktionen operationalisiert. 2. Besondere verfahrensimmanente Anforderungen. Aus seiner Stellung als nach Art. 20 Abs. 3, 97 GG an Gesetz und Recht gebundenen434 Träger rechtsprechender Staatsgewalt und der mit dem Richteramt verbundenen Amtsautorität erwachsen besondere Anforderungen an den Güterichter, die ihn zu einer besonderen Sorgfalt im Hinblick auf typische Risikobereiche verpflichten. a) Untermaßverbot: Hinreichende Information der Parteien und Ausgleich von Macht- und Informationsasymmetrien. Der Güterichter ist zunächst zu einer umfassenden, aktiven Information der Parteien über die materielle Rechtslage verpflichtet, wobei er Prognosen über die Erfolgsaussichten des möglicherweise wieder fortzusetzenden Gerichtsverfahrens abgeben oder eigene Einigungsvorschläge unterbreiten darf. Darüber hinaus muss er sich aktiv um den Ausgleich struktureller Machtungleichgewichte und Informationsasymmetrien bemühen. b) Übermaßverbot: Vermeidung von Einigungsdruck. Der Güterichter ist aufgrund der ihm zukommenden Amtsautorität in besonderer Weise der Gefahr ausgesetzt, die Willensentschließung der Parteien durch unzulässigen Einigungsdruck auf die Privatautonomie zu beeinflussen. Er muss sich daher der Auswirkungen der Autorität seines Richteramtes auf die Privatautonomie der Parteien und der damit verbundenen Gefahr des Einigungsdrucks stets bewusst sein. Er unterliegt daher in besonderer Weise den verfassungsrechtlichen Bindungen der Art. 20 Abs. 3, 103 Abs. 1 GG.435 Die Regelungen des mediationsgesetzes, va. die Pflichten nach § 2 Abs. 2, 3 MedG sind auf ihn nicht anwendbar.436 Neben einer guten Vorbereitung, der Aufbereitung der Sach- und Rechtslage und der ersten Analyse möglicher Interessen sollte, wie es auch – wie es jetzt auch § 278 Abs. 3 S. 1 ZPO als Soll-Vorschrift vorsieht – das persönliche Erscheinen der Parteien angeordnet werden. Allerdings können sich die Parteien dieser Anordnung nach § 278 Abs. 3 S. 2 ZPO iVm. § 141 Abs. 3 S. 2 ZPO entziehen, indem sie einen Vertreter entsenden, der zur Aufklärung des Tatbestandes in der Lage und zum Abschluss eines Vergleichs ermächtigt ist. Mit Blick auf die Bedeutung einer vertrauensvollen Beziehung zwischen den Parteien selbst wie auch emotionaler Aspekte für die Lösung von Sachkonflikten ist eine solche Delegation von Einigungsbemühungen auf Vertreter in der Regel freilich wenig hilfreich. Darüber hinaus soll der Güterichter die Parteien umfassend über die Sach- und Rechtslage aufklären und sich sodann
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Hierzu eingehend oben S. 406 ff. MünchKomm/Prütting, ZPO (5. Aufl. 2016), § 278 Rn. 36. 436 Ebenda. 435
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darum bemühen, die hinter den Rechtspositionen stehenden Interessen herauszuarbeiten. Gemeinsam mit den Parteien kann er auf dieser Grundlage Einigungsoptionen entwickeln und im Fall einer Einigung die getroffene Vereinbarung als Prozessvergleich gem. nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO beurkunden.437
437
MünchKomm/Prütting, ZPO (5. Aufl. 2016), § 278 Rn. 39.
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IV. Zusammenfassung 1. Mediation vollzieht sich nicht im rechtlosen Raum, sondern im „Schatten des Rechts“. Dem Recht kommt in der Mediation daher eine Schlüsselrolle zu. In seiner dienenden Rolle erfüllt es im Mediationsverfahren (1) eine konstitutive, (2) eine durchsetzende, (3) eine nährende und eine (4) begrenzende Funktion. Neben seiner Funktion als prozeduraler Rahmenregelung, dem Recht der Mediation, kommt dem Recht darüber hinaus auch als Recht in der Mediation eine zentrale Funktion als materieller Maßstab für die Parteien zu. 2. Das materielle Recht erfüllt im Mediationsverfahren vielfältige Funktionen: Es dient den Parteien als Maßstab der Inhaltskontrolle, als Orientierungsmaßstab für die Einigungsentscheidung, als Instrument zur Objektivierung irrealer Rechtsvorstellungen, als Mittel der Legitimation und damit der Akzeptanz späterer Entscheidungen, als Medium des Ausgleichs von Machtungleichgewichten, als formeller Rahmen sowie als Rückgriffsordnung. 3. Materielles Recht wirkt in der Mediation auf verschiedenen Ebenen: a) bei der Entwicklung von Einigungsoptionen, b) bei der Bewertung von Nichteinigungsalternativen, c) in der Gestaltung der Abschlussvereinbarung sowie d) als objektives Kriterium für die Wertverteilung. 4. Die Thematisierung des Rechts birgt im Mediationsverfahren für die Parteien eine Reihe von Gefahren. So können die Autorität des Rechts und seine Dominanz im Verfahren den Parteien den Blick auf ihre tatsächlichen Interessen verstellen und den gemeinsamen, auf die Entwicklung kreativer Lösungen gerichteten Wertschöpfungsprozess einer richterlichen Vergleichsverhandlung annähern. Die Mediation wäre dann gerade jener Verfahrensvorteile beraubt, die sie gegenüber dem Zivilprozess auszeichnen. 5. Darüber hinaus kann die Thematisierung des Rechts zu einer Eskalation des bisherigen Konfliktes führen, weil die Parteien mit dem Überschreiten der Thematisierungsschwelle zu dem von Goffman beschriebenen character contest gedrängt werden. Durch die binäre Struktur rechtlicher Alles-oder-NichtsEntscheidungen verstärkt die Thematisierung des Rechts das Verständnis des Konfliktes als Nullsummenspiel (Nullsummenmythos) und kann so eine auf den Ausgleich der gegenseitigen Interessen gerichtete Einigung blockieren. 6. Eine Lösung bietet das von Friedman und Himmelstein entwickelte Understanding-based Model of Mediation. Der Ausgleich rechtlicher Informationsdefizite erfolgt dabei auf drei Ebenen: 1) durch die Information der Parteien über den Inhalt des materiellen Rechts, 2) durch die Vermittlung des Verständnisses der dem Recht zugrunde liegenden Prinzipien und Wertentscheidungen des Gesetzgebers und 3) durch die Aufklärung der Parteien über den dispositiven Charakter des materiellen Rechts im Mediationsverfahren. 7. Die Integration des materiellen Rechts in die Mediation erweist sich aufgrund seiner vielfältigen Funktionen, der zugrunde liegenden strukturellen An-
IV. Zusammenfassung
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tinomie einander entgegengesetzter Ordnungssysteme sowie aufgrund der Erforderlichkeit der Thematisierung des Rechts auf der einen und der damit verbundenen Gefahren auf der anderen Seite als komplexes Verfahrensproblem. Zentraler Angelpunkt für die Entwicklung eines entsprechenden Verfahrensmodells ist insoweit die Rollendefinition des Mediators. 8. Dem Mediator kommt mit Blick auf die Integration des Rechts in die Mediation eine Schlüsselfunktion zu. In welchem Umfang oder auf welche Art und Weise er hierbei auf das Verfahren Einfluss nimmt, hängt dabei maßgeblich von dem von ihm eingesetzten Mediationsstil und dem daraus folgenden Rollenverständnis ab. 9. Das Spektrum der Möglichkeiten des Mediators, den Konflikt durch eine unterschiedliche Ausgestaltung seiner Rolle zu steuern, hat Leonard Riskin auf der Grundlage einer Matrix von vier idealtypischen Mediationsstilen beschrieben, die sich aus der Kombination der Parameter des Umfangs des Konfliktgegenstandes und der Interventionsdichte des Mediators ergeben (Riskin-Grid). Hieraus folgen die vier idealtypischen Rollen des Mediators: Sachmoderation, umfassende Moderation, Sachbeurteilung und umfassende Beurteilung. 10. Im Hinblick auf den Umfang des Konfliktgegenstandes erweist sich eine umfassende Konfliktbehandlung einer engen Definition des Konfliktgegenstandes deutlich überlegen. Ausnahmsweise kommt eine Beschränkung des Konfliktgegenstandes auf Rechtsfragen nur dann in Betracht, wenn 1) rechtliche Fragen auch in tatsächlicher Hinsicht und nicht nur aufgrund des positionsbezogenen Vortrages der Parteien den Schwerpunkt des Konfliktes bilden und 2) weitere Konfliktdimensionen keinen wesentlichen Beitrag zur interessengerechten, nachhaltigen und dauerhaften Beilegung des Konfliktes im Sinne eines guten Verhandlungsergebnisse leisten können. 11. Auf der Grundlage der vergleichenden Analyse der unterschiedlichen Rollen des Mediators nach dem Riskin-Grid und ihrer Auswirkungen auf das Mediationsverfahren wurde das kombinierte Rollenmodell – Grundsatz: umfassende Moderation, Ausnahme: umfassende Beurteilung – entwickelt. 12. Im Hinblick auf die Interventionsdichte des Mediators erweist sich danach die Moderation gegenüber der bewertenden Mediation als vorzugswürdig. Als Grundorientierung des Mediators und damit als Regelfall für das Mediationsverfahren empfiehlt sich zunächst die Moderation bei einer weiten Definition des Konfliktgegenstandes (umfassende Moderation). Ergibt sich im Verlauf der Verhandlung ein erhöhter Bedarf an einer stärkeren Intervention des Mediators oder äußern die Parteien selbst den Wunsch nach einer bewertenden Mitwirkung des Mediators, so kann dieser zu einem evaluierenden Mediationsstil übergehen. Dies ist allerdings nur dann und soweit zulässig, als dies zur Sicherung der Privatautonomie der Parteien und zur Gewährleistung eines den Zielen der Mediation entsprechenden beiderseits interessengerechten, nachhaltigen und dauerhaften Ergebnisses erforderlich ist.
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§ 5 Mediation und materielles Recht
13. Aus den Zielen der Mediation und Verfahrensgrundsätzen ergibt sich die Rolle Mediators als Hüter der Verfahrensintegrität, Wächter der Privatautonomie und Garant für die weitestmögliche Umsetzung der Verfahrensziele. Aus dieser Funktion des Mediators folgt eine umfassende Überwachungs-, Förderungs- und Interventionspflicht. Als verfahrensimmanente Rollendefinition ist dieser Pflichtenkanon konstitutiver Teil des Mediationsverfahrens. Er ist mit Blick auf die Verfahrensprinzipien der Mediation sowie auf die typischen Risiken, denen die Parteien im Mediationsverfahren ausgesetzt sind, konkretisiert. 14. Darüber hinaus finden sich besondere Verhaltensanforderungen in den berufsrechtlichen Regelungen für das Mediationsverfahren: (1) den Richtlinien und Verfahrensordnungen der Mediationsverbände, (2) europäischen Rahmenreglungen (Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, Empfehlung 2001/310/EG) sowie (3) verbindlichem nationalen Gesetzesrecht (§ 2 MedG, § 3 RDG, § 18 BORA). 15. Als Hüter der Verfahrensintegrität, Wächter der Privatautonomie und Garant für die weitestmögliche Umsetzung der Verfahrensziele kommt dem Mediator die zentrale Aufgabe zu sicherzustellen, dass die Parteien tatsächlich zu einer eigenverantwortlichen Einigungsentscheidung in der Lage und damit fähig sind, für ihre eigenen Interessen einzustehen. Vor diesem Hintergrund verdichtet sich die Verfahrensverantwortung des Mediators zu einer – freilich inhaltlich begrenzten – Ergebnisverantwortung. 16. Den Mediator trifft insoweit eine umfassende Hinweis-, Aufklärungsund Interventionspflicht. Zwar ist es ihm verwehrt, die eigenverantwortliche Einigungsentscheidung der Parteien durch einen Lösungsvorschlag nach seinen eigenen Vorstellungen zu ersetzen. Allerdings trifft ihn als Garant für die weitestmögliche Umsetzung der Verfahrensziele die Pflicht sicherzustellen, dass das Ergebnis des Mediationsverfahrens auch tatsächlich Ausdruck einer eigenverantwortlichen Einigungsentscheidung der Parteien ist. 17. Gegenüber rechtlich vertretenen Parteien ist die Interventionspflicht des Mediators begrenzt, da die Information und rechtliche Beratung der Parteien bereits durch die Parteianwälte wahrgenommen wird. Ein Eingreifen von Seiten des Mediators ist nur dann erforderlich aber auch geboten, wenn die Anwälte ihrer Beratungspflicht nicht oder nicht in ausreichendem Maße nachgekommen sind. Hier trifft den Mediator die Verpflichtung, die Parteien vor vermeidbaren Defiziten tatsächlicher Privatautonomie zu schützen, selbst wenn diese auf eine mangelhafte Beratung seitens der Parteianwälte beruhen. Die Möglichkeit zur tatsächlich privatautonomen Teilnahme am Mediationsverfahren kann nicht von der Qualität anwaltlicher Beratung abhängen. 18. Gegenüber rechtlich nicht vertretenen Parteien trifft den Mediator dagegen eine deutlich umfassendere Interventionspflicht. Insbesondere im Fall struktureller Machtungleichgewichte zwischen den Parteien ist der Mediator zum Ausgleich entsprechender Defizite an Verhandlungsmacht berufen. Ihm
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stehen zur Intervention eine Reihe unterschiedlicher Instrumente zur Verfügung: Neben Hinweisen, dem Verweis auf die Inanspruchnahme anwaltlichen Rates, die unmittelbare Information der Parteien über ihnen zustehende Rechte oder entsprechenden Beratungsbedarf gehören hierzu auch verfahrensgestaltende Mittel wie Einzelgespräche (caucus), die Unterbrechung der Mediation zur eingehenden Prüfung der Rechtslage (Bedenkpause), die unmittelbare Inhaltskontrolle sowie als ultima ratio die Möglichkeit der Verfahrensbeendigung. 19. Ein Abbruch des Mediationsverfahrens kommt dabei insbesondere dann in Betracht, wenn der Mediationsvergleich erkennbar grob unbillig wäre, gegen zwingendes Recht verstoßen würde oder eine der Parteien erkennbar nicht in der Lage ist, eine tatsächlich eigenverantwortliche Einigungsentscheidung zu treffen. Entsprechend sieht auch § 2 Abs. 5 S. 2 MedG die Möglichkeit der Beendigung des Mediationsverfahrens vor, wenn der Mediator der Auffassung ist, „dass eine eigenverantwortliche Kommunikation oder eine Einigung der Parteien nicht zu erwarten ist.“ 20. Zur Bestimmung der Interventionsdichte des Mediators insbesondere in Fällen struktureller Machtgleichgewichte wurde ein Zwei-Phasen-Modell entwickelt, um die Gefahren einer unflexiblen Rollenfixierung des Mediators zu vermeiden. Während für den Normalfall eine geringere Interventionsdichte angenommen wird, greifen für den atypischen Fall struktureller Machtungleichgewichte besondere Verhaltensanforderungen, die insgesamt eine höhere Interventionsdichte und eine intensivere verfahrensleitende Rolle des Mediators zur Folge haben. 21. In der gerichtsverbundenen Mediation wird die Rollendefinition des Güterichters zusätzlich durch spezielle berufsrechtliche Regelungen, insbesondere verfassungsrechtliche Anforderungen bestimmt. Richterliche Mediation, etwa im Rahmen des gerichtsinternen Güterichterverfahrens nach § 278 Abs. 5 ZPO, ist als Rechtsprechung iSv. Art. 92 GG zu qualifizieren. Die für Richter geltenden verfassungsrechtlichen Anforderungen sind dabei jedoch nur zum Teil auf den Güterichter übertragbar. Während dieser die richterliche Unabhängigkeit iSv. Art. 97 Abs. 1 GG in Anspruch nehmen kann, ist er umgekehrt an den klassischen Pflichtenkreis der Träger rechtsprechender Gewalt gebunden. Eine Ausnahme gilt lediglich für den Anspruch der Parteien auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, der auf den vermittelnden Güterichter nicht anwendbar ist, da dieser nicht dem erkennenden Prozessgericht angehört (§ 278 Abs. 5 S. 1 ZPO). Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus die Bindung des Güterichters an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG, 97 Abs. 1 GG), die aufgrund der Besonderheiten vermittelnder Güterichtertätigkeit allerdings teleologisch überformt und durch spezielle Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflichten des Güterichters konkretisiert ist. 22. Im Rahmen eines Untermaßverbotes unterliegt der Güterichter insoweit besonderen Informations- und Mitwirkungspflichten. Insbesondere trifft ihn
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die dreifache Pflicht 1) ein gegen zwingendes Recht verstoßendes Verhandlungsergebnis praeter legem zu verhindern, 2) Defizite in der effektiven Wahrnehmung der Privatautonomie, insbesondere strukturelle Machtungleichgewichte und Informationsasymmetrien aktiv auszugleichen und 3) jedenfalls sicherzustellen, dass die Parteien hinreichend über die Rechtslage informiert sind. 23. Im Rahmen des Übermaßverbotes ist er verpflichtet, jegliche Beeinflussung der freien Willensentschließung der Parteien durch unzulässigen Einigungsdruck zu vermeiden. Aufgrund der ihm zukommenden Amtsautorität unterliegt er dabei besonderen Sorgfaltspflichten. Mit Blick auf den rechtshistorischen und rechtspraktischen Befund bestehen hier besondere Risiken für die Parteien. Die aus einem „aktivem case management“ proaktiver Güterichter (managerial judges) erwachsenden Gefahren für die Privatautonomie der Parteien und die strukturelle Integrität des Mediationsverfahrens gehören in den USA zu den im Rahmen der Institutionalisierung der Mediation am heftigsten diskutierten Problemen.
§ 6 Mediation und Verfahrensrecht Wie wir im vorangegangenen Abschnitt gesehen haben, ist das materielle Recht für das Mediationsverfahren von zentraler Bedeutung. Die Mediation findet nicht im Dunkel eines rechtsfreien Raumes selbstgeschaffenen, subjektiven Parteirechts, sondern vielmehr im Licht der objektiven Rechtsordnung statt. Als materieller Maßstab, als formeller Rahmen und als Rückgriffsordnung wirkt das positive Recht über eine Vielzahl von „Einfallstoren“ in das Mediationsverfahren hinein und erfüllt hier vielfältige Funktionen.1 Vor dem Hintergrund der Rollendefinition des Mediators haben wir schließlich ein praktisches Verfahrensmodell zur Integration des materiellen Rechts in das Mediationsverfahren entwickelt.2 Der Einfluss des objektiven Rechts auf die Mediation ist allerdings nicht auf das materielle Recht beschränkt. Im Gegenteil sind es gerade verfahrensrechtliche Fragen, die im Mittelpunkt der rechtspolitischen Diskussion und der Gesetzgebung auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene stehen: Mit Regelungen zum Vertraulichkeitsschutz3, zur Vollstreckbarkeit von Mediationsvergleichen4, zur Qualifikation von Mediatoren5 und zur Integration in das Gerichtsverfahren6 erfüllt das Verfahrensrecht für das Mediationsverfahren zentrale Funktionen. 1. Konstitutive Funktion: Indem es den für die Mediation notwendigen Rechtsrahmen zur Verfügung stellt, wirkt das Verfahrensrecht für die Mediationsverfahren konstitutiv. So ermöglicht erst ein zuverlässiger Vertraulichkeitsschutz über § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm. § 4 S. 1 MedG bzw. § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm. § 43a Abs. 2 BRAO und § 18 BORA die für die Mediation erforderliche Offenheit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit. 2. Durchsetzende Funktion: Das Verfahrensrecht erfüllt darüber hinaus eine durchsetzende Funktion, indem es der in der Mediation getroffenen Vereinbarung vollstreckungsfähige Rechtswirkung verleiht. So bilden die verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Vollstreckbarkeit von Mediationsvergleichen nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (Prozessvergleich), § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO
1
Vgl. hierzu oben S. 282 ff. Vgl. hierzu oben S. 309 ff. 3 § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm. § 4 S. 1 MedG bzw. bei Anwaltsmediatoren zusätzlich aus § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm. § 43a Abs. 2 S. 1 BRAO, § 18 BORA 4 § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (Prozessvergleich), § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO (Vollstreckung aus notarieller Urkunde) sowie §§ 796a-c ZPO (Anwaltsvergleich). 5 § 5 MedG. 6 § 278 Abs. 5 ZPO, § 278a ZPO. 2
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
(Vollstreckung aus notarieller Urkunde) und §§ 796a-c ZPO (Anwaltsvergleich) die Voraussetzung dafür, dass der Mediationsvergleich die Parteien nicht nur subjektiv bindet, sondern auch objektiv rechtlich durchsetzbar ist. 3. Nährende Funktion: Die Dogmatik des Verfahrensrechts stellt eine Vielzahl von Rechtsfiguren, Grundsätzen und Prinzipien zur Verfügung, die für das Mediationsverfahren fruchtbar gemacht werden können und es inhaltlich nähren. So kann etwa zur Konkretisierung der Rolle des Mediators beim Ausgleich von Macht- und Informationsasymmetrien auf die im Zivilverfahrensrecht entwickelten Grundsätze zur Waffengleichheit der Parteien oder auf die Rechtsprechung zur materiellen Prozessleitungspflicht nach § 139 ZPO zurückgegriffen werden.7 4. Begrenzende Funktion: Das Verfahrensrecht erfüllt schließlich eine begrenzende Funktion, indem es etwa den Rahmen des zulässigen Handelns über die verfassungsrechtlichen Verfahrens- und die allgemeinen Prozessgrundsätze, soweit sie auch auf das Mediationsverfahren anwendbar sind, begrenzt. Wie das Verfahrensrecht durch diese vier Funktionen auf das Mediationsverfahren einwirkt, wollen wir im Folgenden näher untersuchen. Dabei werden wir in einem ersten Schritt die Rechtsgrundlagen in den Blick nehmen und uns einen Überblick über die unterschiedlichen Quellen des Verfahrensrechts in der Mediation verschaffen (I.)8. In einem zweiten Schritt werden wir uns dann den verfahrensrechtlichen Grundsätzen zuwenden, die das Mediationsverfahren bestimmen (II.)9, um auf dieser Grundlage schließlich die verfahrensrechtliche Verzahnung der beiden strukturell antagonistischen Verfahren Mediation und Zivilprozess und damit die Frage der Integration der Mediation in den Zivilprozess zu untersuchen (III.).10
I. Rechtliche Grundlagen: Das Recht der Mediation Neben das materielle Recht, das als Recht in der Mediation auf vielfältige Weise in das Mediationsverfahren hineinwirkt, tritt als Recht der Mediation11 das Verfahrensrecht, das den verfahrensrechtlichen Rahmen für die Durchführung des Mediationsverfahrens zur Verfügung stellt. Es findet seine Grundlage in drei Rechtsquellen: Dem Vertragsrecht, dem Gesetzesrecht und der Rechtsprechung.
7 So etwa Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 79. 8 Vgl. hierzu sogleich unten. 9 Vgl. hierzu unten S. 447 ff. 10 Vgl. hierzu unten S. 492 ff. 11 Zu dieser Unterscheidung instruktiv S. 46 f.
I. Rechtliche Grundlagen: Das Recht der Mediation
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1. Vertragliche Verfahrensregelungen Vertraglichen Vereinbarungen über die Gestaltung des Verfahrens kommt in der Mediation als privatautonomem Streitbeilegungsinstrument eine zentrale Bedeutung zu. Die grundlegenden Regelungen über Einleitung, Ablauf und Grundsätze des Mediationsverfahrens finden sich nicht in den gesetzlichen Rahmenvorschriften, sondern werden, dem Wesen der Mediation als privatautonomen Verfahren entsprechend, von den Parteien vertraglich vereinbart. Neben a) individualvertraglichen Regelungen, der Mediationsvereinbarung und dem Mediatorvertrag, finden sich b) Verfahrensvorschriften vor allem in den formularmäßigen Verfahrens- und Mediationsordnungen der verschiedenen Mediationsorganisationen oder anerkannten Gütestellen nach § 15a EGZPO, die entweder durch ausdrückliche Vereinbarung der Parteien oder konkludent durch die Mediation unter dem Schirm des jeweiligen Mediationssverbandes für das Mediationsverfahren Geltung erlangen. Daneben ist in jüngster Zeit c) die Collaborative Law Vereinbarung getreten, die als mehrseitiger Verfahrensvertrag die Grundsätze des Collaborative Law Verfahrens als „Mediation ohne Mediator“12 regelt. a) Mediationsvereinbarung und Mediatorvertrag Die Mediationsvereinbarung enthält als Dauerschuldverhältnis mit atypischem Inhalt (§ 311 Abs. 1 BGB) die Einigung der Parteien über die Durchführung einer Mediation hinsichtlich eines bestimmten Konfliktgegenstandes.13 Sie betrifft inhaltlich Regelungen (1) zur verfahrensmäßigen Ausgestaltung des Mediationsverfahrens, (2) zum Streitgegenstand und (3) zum Verhältnis der Mediation zu einem parallelen oder nachfolgenden staatlichen Gerichtsverfahren, die zum Teil materiell-rechtlich, zum Teil prozessvertraglich einzuordnen sind.
12
So plastisch Engel, Collaborative Law (2010), S. 3, 91 ff., 152. So die h.M. Vgl. hierzu Eidenmüller, in: Breidenbach/CoesterWaltjen/Hess/Nelle/Wolf (Hrsg.), Konsensuale Streitbeilegung (2001), S. 45, 52 ff. und Hacke, Der ADR-Vertrag (2001), S. 37 ff., 63 f., der sie als schuldrechtlichen Vertrag sui generis mit Nähe zum Gesellschaftsvertrag nach § 705 BGB einordnet, dessen Hauptleistungspflichten nach § 317 Abs. 1 BGB im Zweifel vom Mediator zu bestimmen sind. A.A. Hutner, Das internationale Privat- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2005), S. 38 ff., 186 f.; Hutner, SchiedsVZ 2003, 226, 229 ff., der die Mediationsvereinbarung als Gesellschaftsvertrag einer Innengesellschaft iSv. § 705 BGB und Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1059 ff., der sie als prozessuale Vereinbarung qualifiziert. Für das schweizerische Recht nimmt Eiholzer, Die Streitbeilegungsabrede (1998), Rn. 481 ff. ebenfalls eine gesellschaftsrechtliche Qualifikation an. 13
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
Als „Grundgesetz“ im Verhältnis zwischen den Parteien14 rsegelt die Mediationsvereinbarung im Rahmen einer Verhandlungsvereinbarung zunächst die Einleitung und Durchführung des Mediationsverfahrens.15 Darüber hinaus trifft sie Regelungen im Hinblick auf den Streitgegenstand, etwa durch Abreden zur Verjährungshemmung16, Stundungsabreden zur Vermeidung von Verzugszinsen nach §§ 286 ff. BGB oder den Ausschluss einer Aufrechnungsbefugnis nach §§ 389, 390 BGB.17 Die „verfahrensrechtlichen Regelungen“ der Mediation sind schwerpunktmäßig materiell-rechtlich zu qualifizieren, da sie die Grundregeln der Verhandlung zwischen zwei Privatrechtssubjekten zum Gegenstand haben und damit – entgegen der Begrifflichkeit – nicht dem Prozessrecht angehören.18 Das Verfahrensrecht der Mediation ist daher nach ganz überwiegend materielles Privatrecht. Prozessualer Natur sind ausschließlich die neben die materiell-rechtlichen Regelungen tretenden prozessvertraglichen Vereinbarungen, die der verfahrensrechtlichen Absicherung des Mediationsverfahrens im Verhältnis zu einem parallelen oder nachfolgenden Gerichtsverfahren dienen, wie etwa ein dilatorischer Klageverzicht (pactum de non petendo), das Aussetzen eines möglichen
14
So plastisch Eidenmüller, Vertrags- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2001), S. 51. 15 Vgl. hierzu Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1059; Hutner, Das internationale Privat- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2005), S. 17 ff.; Eidenmüller, Vertrags- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2001), S. 58 ff.; Hacke, Der ADR-Vertrag (2001), S. 45 ff. 16 Zwar tritt nach § 203 BGB eine Hemmung der Verjährung während schwebender Verhandlungen ein, doch sind die Konturen der Vorschrift vor allem im Hinblick auf die Frage, ab welchem Zeitpunkt von einem Beginn des Schwebens von Verhandlungen ausgegangen werden kann, noch weitgehend unscharf. Gerade vor dem Hintergrund der Entscheidung des BGH in NJW 2009, 1806 ff., der ein Ende der Verjährungshemmung durch das „Einschlafen“ von Verhandlungen bejaht, bietet es sich an, Beginn, Ende und Umfang der Verjährungshemmung in der Mediationsvereinbarung genau zu bestimmen. Vgl. zu der Problematik Klose, NJ 2010, 100 ff.; Jänig, ZGS 2009, 350 und Eidenmüller, SchiedsVZ 2003, 163, 167 ff. 17 Hierzu Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1061; Hutner, Das internationale Privat- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2005), S. 21; Eidenmüller, Vertrags- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2001), S. 55, 69 f. 18 So auch Eidenmüller, in: Breidenbach/Coester-Waltjen/Hess/Nelle/Wolf (Hrsg.), Konsensuale Streitbeilegung (2001), S. 45, 53; Hutner, Das internationale Privat- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2005), S. 36 ff. Kritisch dagegen Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1062 f., der auch die vereinbarten Verfahrensregelungen dem Prozessrecht unterstellt.
I. Rechtliche Grundlagen: Das Recht der Mediation
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parallelen Gerichtsverfahrens oder eine Vertraulichkeitsabrede durch Vortrags- und Beweismittelbeschränkung.19 Die materiell-rechtlichen und prozessvertraglichen Abreden der Mediationsvereinbarung bilden nach § 139 BGB ein einheitliches Rechtsgeschäft, das nach der h.M. insgesamt materiell-rechtlich zu qualifizieren ist, weil die prozessvertraglichen Abreden nicht das Mediationsverfahren als solches, sondern lediglich ihr Verhältnis zum staatlichen Gerichtsverfahren betreffen und der Schwerpunkt der Vereinbarung daher im materiellen Recht zu verorten ist.20 Die Mediationsvereinbarung kann als selbstständige Mediationsabrede oder als Teil eines Sachvertrages in Form einer unselbständigen Mediationsklausel getroffen werden.21 Dabei kommt der präventiven Vereinbarung einer Mediation bereits ex ante, d.h. vor Entstehung des Konfliktes, gegenüber einer nach Ausbruch des Konfliktes ad hoc geplanten Mediation erhebliche Bedeutung zu. Denn die Parteien werden sich nach Ausbruch des Konfliktes häufig nicht mehr ohne weiteres auf ein bestimmtes Verfahren, erst recht nicht auf die Einzelheiten des Mediationsverfahrens einigen können, so dass sich das Aushandeln einer detaillierten Mediationsvereinbarung zu einem Stellvertreterkonflikt ausweiten kann.22 Der Mediatorvertrag regelt dagegen – soweit der Mediator entgeltlich tätig wird – als Dienstvertrag mit Geschäftsbesorgungscharakter (Geschäftsbesorgungsvertrag iSd. §§ 611, 675 Abs. 1 BGB)23 das Rechtsverhältnis zwischen
19 Vgl. Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1060 f.; Hutner, Das internationale Privat- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2005), S. 22 ff.; Eidenmüller, Vertrags- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2001), S. 55 ff.; Hacke, Der ADR-Vertrag (2001), S. 46, 116 ff. 20 So auch Eidenmüller, in: Breidenbach/Coester-Waltjen/Hess/Nelle/Wolf (Hrsg.), Konsensuale Streitbeilegung (2001), S. 45, 52 f.; Hutner, Das internationale Privat- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2005), S. 36 ff. A.A. dagegen Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1062 f., der aufgrund der prozessualen Strukturierung des Mediationsverfahrens und des eigenständigen Gerechtigkeitsgehaltes prozessualer Vorschriften auch die vereinbarten Verfahrensregelungen dem Prozessrecht unterstellt. 21 Zur Gestaltung von Mediationsvereinbarungen vgl. Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1059 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 298 ff.; Tochtermann, ZKM 2008, 57; Tochtermann, ZKM 2008, 89; Tochtermann, ZZPInt 11 (2006), 429; Böttcher/Laskawy, DB 2004, 1247; Friedrich, MDR 2004, 481; Risse, Wirtschaftsmediation (2003), S. 13 ff.; Nelle/Hacke, ZKM 2002, 257; Eidenmüller, Vertrags- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2001), S. 54 ff.; Hacke, Der ADR-Vertrag (2001), S. 89 ff. 22 So auch Eidenmüller, Vertrags- und Verfahrensrecht der Wirtschaftsmediation (2001), S. 50 ff. 23 Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1065; Nölting, Mediatorenverträge (2003), S. 29; Eidenmüller, in: Breidenbach/Coester-
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dem Mediator und den Parteien und bestimmt die Rechte und Pflichten beider Seiten. Zentraler Regelungsgegenstand wird hier vor allem die Neutralitätspflicht des Mediators sein, doch kann der Mediatorvertrag um weitere prozedurale Bestimmungen, etwa zur Rollenerwartung an den Mediator, seine Befugnis zur Erteilung von Rechtsrat sowie zur umfassenden Verfahrensleitung, ergänzt werden.24 Oft werden die Parteien allerdings keine umfassenden Regelungen zur Verfahrensgestaltung treffen, sondern sich auf die essentialia des Mediationsverfahrens, etwa die Vertraulichkeitsabrede, und den wesentlichen Rechts- und Pflichtenkreis des Mediators beschränken oder auch nur mündlich eine Mediation vereinbaren und den Mediator ad hoc bestimmen. Denn die rechtliche Gestaltung des Verfahrensdesigns ist mit erheblichem Aufwand verbunden und verlangt eine eingehende Kenntnis des Mediationsverfahrens, über das die Parteien in der Regel nicht verfügen. Darüber hinaus wird die individuelle Erstellung einer verbindlichen Verfahrensordnung dem Umfang der zu verhandelnden Konfliktfälle oft nicht angemessen sein und bereits im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Abwägung ausscheiden. b) Verfahrensordnungen In der Praxis werden daher regelmäßig vorgefertigte Verfahrensordnungen – gleichsam als „Allgemeine Geschäftsbedingungen“ – in das dreiseitige Rechtsverhältnis zwischen Mediator und Parteien einbezogen.25 Diese enthalten umfassende Regelungen etwa zur Verfahrenseinleitung und -beendigung, zu Umfang, Inhalt und Durchsetzung der Vertraulichkeitsabrede, dem Pflichtenkreis des Mediators einschließlich seiner Neutralitätspflicht und Haftung gegenüber den Parteien sowie Vereinbarungen über die Aussetzung eines ggf. anhängigen Zivilprozesses, ein pactum de non petendo oder eine Verjährungsvereinbarung. Die Bezugnahme auf Musterverfahrensordnungen der Mediationsverbände hat für die Konfliktparteien einen erheblichen Entlastungseffekt: Zum einen wären sie mit der Ausarbeitung einer Verfahrensordnung, die zur Lösung des Sachkonfliktes hinzutritt, regelmäßig überfordert. Aufgrund der Eskalation des Konfliktes ist die Kommunikation zwischen den Parteien bereits erheblich gestört. Waltjen/Hess/Nelle/Wolf (Hrsg.), Konsensuale Streitbeilegung (2001), S. 45, 71; Hacke, Der ADR-Vertrag (2001), S. 77 ff., 87. 24 Eidenmüller, in: Breidenbach/Coester-Waltjen/Hess/Nelle/Wolf (Hrsg.), Konsensuale Streitbeilegung (2001), S. 45, 73. 25 Vgl. hierzu Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 300 ff.; Risse, Wirtschaftsmediation (2003), S. 105 ff. Zu Mediationsklauseln in allgemeinen Geschäftsbedingungen vgl. Friedrich, SchiedsVZ 2007, 31; Böttcher/Laskawy, DB 2004, 1247; Risse, Wirtschaftsmediation (2003), S. 95 ff.; Eidenmüller, in: Breidenbach/CoesterWaltjen/Hess/Nelle/Wolf (Hrsg.), Konsensuale Streitbeilegung (2001), S. 45, 58 ff.; Wagner, BB 2001, Beilage Mediation & Recht, 30.
I. Rechtliche Grundlagen: Das Recht der Mediation
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Das Mediationsverfahren soll gerade dazu dienen, die Parteien zu einer rationalen Behandlung ihrer Sachprobleme zu befähigen. Zum anderen sind die Verfahrensordnungen der Mediationsverbände das Ergebnis langjähriger, praktischer Erfahrungen und bieten dadurch, dass sie von einer neutralen, nicht am Konflikt beteiligten Organisation erarbeitet worden sind, die Gewähr für eine ausgewogene Regelung des Mediationsverfahrens. Bei diesen Regelungen handelt es sich um Ausformungen der Grundsätze der Kooperation (intersubjektive Orientierung der Parteien aufeinander hin) und des Prinzips der Gleichheit, die wir als zentrale Gestaltungsprinzipien struktureller Gerechtigkeit der Mediation aus der klassischen thomistischen Gerechtigkeitstheorie hergeleitet haben und die das Mediationsverfahren insgesamt strukturell prägen.26 c) Sonderfall: Collaborative Law Vereinbarung Eine besondere Form individualvertraglicher Verfahrensregelungen stellen mehrseitige Verfahrensverträge dar, in denen sich die Parteien auf die Durchführung eines sogenannten Collaborative Law Verfahrens einigen.27 Dieses in den USA entstandene Verfahren steht im Spektrum der Streitbeilegungsformen als „Mediation ohne Mediator“ zwischen der dyadischen Verhandlung und der triadisch strukturierten Mediation und nimmt als Hybridverfahren eine Sonderrolle ein. Während die Parteien im Rahmen der Verhandlung weitgehend auf sich allein gestellt sind, erhalten die Parteien im Collaborative Law Verfahren wie auch in der Mediation die Unterstützung durch einen neutralen Dritten. Allerdings wird diese Rolle hier nicht von einem Mediator, sondern von den Parteianwälten und damit den unmittelbar Beteiligten selbst wahrgenommen. Als Collaborative Law Anwälte verfügen sie über eine ausreichende berufliche Qualifikation in Verhandlungsmanagement und Mediation und verpflichten sich durch eine Collaborative Law Vereinbarung zu einer an den Grundsätzen
26 Vgl. oben S. 179 ff. Die Regelungen der Verfahrensordnungen sind Ausprägungen der zwei zentralen Kriterien struktureller Gerechtigkeit und konkretisieren zugleich die sieben Verfahrensprinzipien der Mediation. Die unterschiedlichen Ordnungen oder Ebenen des Verfahrensdesigns stehen zueinander in einem sich nach unten hin ausdifferenzierenden hierarchischen Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen: Kooperation (intersubjektive Orientierung der Parteien aufeinander hin) und Gleichheit sind die zentralen, abstrakten Gestaltungsprinzipien struktureller Gerechtigkeit, die im Mediationsverfahren in Form der sieben Verfahrensprinzipien der Mediation konkrete Gestalt angenommen haben. Diese sieben Verfahrensprinzipien werden auf einer weiteren Ebene durch die einzelnen Regelungen der Verfahrensordnungen kodifiziert und in rechtlich handhabbare Handlungsanweisungen übersetzt. Allerdings können Verfahrensordnungen gleichwohl Bestimmungen enthalten, die nicht unmittelbar auf eines der sieben Verfahrensprinzipien zurückzuführen sind, sondern sich direkt aus den Grundprinzipien struktureller Gerechtigkeit ableiten. 27 Vgl. hierzu eingehend Engel, Collaborative Law (2010).
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interessenorientierter Verhandlung und Mediation orientierten, kooperativen Mitwirkung an der Beilegung des Konfliktes. Diese Collaborative Law Vereinbarung, die häufig in einem Vertragsdokument zusammengefasst wird, bildet die Grundlage des Verfahrens und besteht aus unterschiedlichen Verfahrensverträgen, die alle Beteiligten, d.h. die Parteien und die Anwälte, miteinander abschließen:28 1. Verhandlungsvereinbarung: Ähnlich einer Mediationsvereinbarung im klassischen Mediationsverfahren schließen die Parteien zunächst eine Verhandlungsvereinbarung ab, in der sie sich darauf einigen, ihren Konflikt einvernehmlich und kooperativ in einem problemlösungsorientierten Verhandlungsverfahren zu bewältigen und gemeinsam nach fairen und den Interessen beider Parteien gleichermaßen entsprechenden interessengerechten Lösungen zu suchen. Wie auch eine individualvertragliche Mediationsvereinbarung oder die Verfahrensordnungen der Mediationsverbände enthält die Verhandlungsvereinbarung im Rahmen eines Collaborative Law Verfahrens grundlegende Verfahrensprinzipien (ground rules) sowie Regelungen im Hinblick auf den Streitgegenstand, etwa eine Verjährungsabrede, die Vereinbarung einer Stundung fälliger Ansprüche oder den Ausschluss des Aufrechnungsrechts. Darüber wird sie auch Regelungen umfassen, die das Verhältnis zum staatlichen Zivilprozess bestimmen, wie z.B. eine durch prozessvertragliche Vortrags- und Beweismittelbeschränkungen gesicherte Vertraulichkeitsabrede, einen dilatorischen Klageverzicht (pactum de non petendo) sowie die Vereinbarung der Verfahrensaussetzung. Ergänzt wird das einer klassischen Mediationsvereinbarung weitgehend entsprechende Regelungsprogramm durch besondere Verpflichtungen zur ernsthaften Verhandlung nach Treu und Glauben (good faith mediation), die beide Parteien dazu anhalten, den ihnen von ihrem Verhandlungspartner gewährten Vertrauensvorschuss nicht zu ihren eigenen Gunsten auszunutzen. 2. Mandatsvereinbarung: Daneben schließen auch die Parteien mit ihren jeweiligen Anwälten eine besondere Mandatsvereinbarung, die den klassischen anwaltlichen Rechtsdienstleistungsvertrag modifiziert und um die Verpflichtung der Anwälte zu kooperativem Verhandlungsverhalten ergänzt. Zugleich enthält die Mandatsvereinbarung eine Bestimmung, die sie von typischen Rechtsdienstleistungsverträgen grundlegend unterscheidet und ihr das für ein Collaborative Law Verfahren typische Gepräge gibt: Der Ausschluss der gerichtlichen Rechtsverfolgung durch die Parteianwälte. Indem sich die Anwälte verpflichten, die Parteien ausschließlich im außergerichtlichen Collaborative 28
Da Collaborative Law Vereinbarungen in der Praxis häufig in Form eines einzigen Vertragsdokuments abgeschlossen werden, dient die Differenzierung der einzelnen Vertragsbeziehungen vor allem der dogmatischen Klarheit. Die Beteiligten werden sich der Struktur der einzelnen Vertragsbestandteile in der Praxis regelmäßig nicht im Einzelnen bewusst sein.
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Law Verfahren zu vertreten und im Fall der Fortsetzung des Konfliktes in einem zivilgerichtlichen Verfahren das Mandat niederzulegen, setzen sie selbst einen starken Verhaltensanreiz für kooperatives Verhalten. Es liegt nun im Eigeninteresse der Anwälte, das Kooperationspotential kreativer, problemlösungsorientierter Verhandlung auszuschöpfen und aktiv auf eine beiderseits interessengerechte Beilegung des Konfliktes hinzuwirken. Indem sie als Konfliktmittler aktiv in die Beilegung des Konfliktes eingebunden werden, werden die Anwälte als potentielle Störquelle auf dem Weg zu einer einvernehmlichen Beilegung des Konfliktes neutralisiert und das Problem der Blockade kooperativen Verhandelns aufgrund der Mitwirkung aggressiv agierender Parteivertreter weitgehend entschärft. 3. Kooperationsvereinbarung: Diese Verpflichtung der Anwälte zur Kooperation erfolgt nicht nur intern zwischen den Parteien und ihren Anwälten, sondern darüber hinaus auch extern mit den Anwälten der Gegenseite. Ebenso wie die Parteien verpflichten sich die Anwälte gegenseitig auf eine den Grundsätzen interessenorientierten Verhandelns entsprechende Beilegung des Konfliktes durch wertschöpfende Kooperation. Diese Kooperationspflicht entspricht der spezifischen Aufgabe, die den Parteianwälten als Konfliktmittlern im Collaborative Law Verfahren zukommt. Wie wir im Folgenden sehen werden, übernehmen die Parteianwälte die in der klassischen Mediation dem Mediator zukommende Aufgabe des Konfliktmittlers, der die Parteien in ihren Einigungsbemühungen aktiv unterstützt. In dieser ihnen eigenen Rolle sind sie weniger Gegner als vielmehr Teampartner, die sich ähnlich wie Co-Mediatoren in einem klassischen Mediationsverfahren um die einvernehmliche Lösung eines gemeinsamen Problems bemühen. Die Kooperationspflicht der Parteianwälte hat damit nicht etwa die Qualität einer passiven „Stillhaltevereinbarung“, sondern ist die Kehrseite ihrer Rolle und Verantwortung als aktive Konfliktmittler. Als Motoren der Einigung ziehen sie die Parteien gleichsam in eine Dynamik der Kooperation und sind damit die eigentlichen treibenden Kräfte der Einigung. 4. Verfahrensleitungsverträge: Im Collaborative Law Verfahren wird die verfahrensleitende Funktion, die in der klassischen Mediation dem Mediator zukommt, von den Parteianwälten wahrgenommen. Um diese Rollenverteilung verfahrensrechtlich abzubilden, schließen die Parteien mit den Anwälten ihres jeweiligen Konfliktpartners spezielle Verfahrensleitungsverträge, in denen sie diese mit der Verfahrensleitung betrauen. Zwar bleiben die Parteianwälte Interessenvertreter ihrer Mandanten, doch nehmen sie diese Funktion vor dem sehr viel weiteren Hintergrund eines auf Kooperation und die Integration der gegenseitigen Interessen ausgerichteten Konfliktverständnisses wahr: Weil die gegnerische Partei einem Einigungsvorschlag zustimmen können muss und weil sich das im Konflikt angelegte Wertschöpfungspotential nur durch problemlösungsorientierte Kooperation erschließen lässt, ist den Interessen der Mandanten durch ein tatsächlich kooperatives Konfliktlösungsverfahren am
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besten gedient. Und weil die Parteien aufgrund der Eskalation des Konfliktes, der damit einhergehenden Verhärtung der Fronten und aufgrund der systembedingten Schwächen herkömmlicher Strategien der Konfliktbehandlung zu einer eigenverantwortlichen Beilegung ihres Streites oft nicht in der Lage sind, kommt den Anwälten als Parteivertretern die zentrale Aufgabe zu, durch ihre Drittunterstützung die Parteien wie ein Mediator zu einer eigenverantwortlichen Beilegung ihres Konfliktes zu befähigen. Ihre Stellung als Konfliktmittler steht damit nicht, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, im Widerspruch zu ihrem Auftrag zur Interessenvertretung, sondern ergibt sich im Gegenteil gerade aus dem Mandatsverhältnis und einem der modernen Verhandlungsforschung entsprechenden Konfliktverständnis: Wenn der Anwalt die Interessen seines Mandanten tatsächlich optimal vertreten und zu einer beiderseits interessengerechten, dauerhaften, nachhaltigen, objektiv gerechten, zeit- und kosteneffizienten, kreativ wertschöpfenden und die Beziehung der Parteien versöhnend wiederherstellenden Beilegung des Konfliktes beitragen will, muss er sich aktiv um eine kooperative Verhandlungsführung bemühen und die Parteien darin effektiv unterstützen. Ähnlich einem Mediator sind die Anwälte daher 1) Hüter der Privatautonomie, 2) Wächter der Verfahrensintegrität und 3) Garant für die Verwirklichung der Verfahrensziele. Einzig in der fehlenden Verpflichtung zu strikter Neutralität unterscheidet sich ihre Rolle wesentlich von der eines Mediators. Sie bleiben Interessenvertreter, aber – und hierin liegt der wesentliche Unterschied zum typischen Mandatsverhältnis – sie wissen, dass sie die Interessen ihres Mandanten an einer einvernehmlichen Konfliktlösung umso besser vertreten, je mehr sie zugleich auch die Interessen des jeweiligen Konfliktpartners in den Blick nehmen und so eine wertschöpfende und auch nachhaltige Beendigung des Konfliktes ermöglichen. 2. Gesetzliche Verfahrensregelungen Neben die vertraglichen Vereinbarungen über die Gestaltung des Mediationsverfahrens treten in zunehmendem Umfang gesetzliche Regelungen29, die mit unterschiedlichem Anknüpfungspunkt und in unterschiedlicher Regelungsdichte das Verfahren bestimmen.
29 Zu den gesetzlichen Regelungen zählen wir in diesem Zusammenhang nicht nur Normen, die im Rang eines formellen nationalen Gesetzes oder eines europäischen Rechtsaktes stehen, sondern sämtliche gesetzgebende Rechtstexte und damit auch die zur Umsetzung in einen legislativen Rechtsakt vorgesehenen Modellgesetze, wie etwa das UNCITRAL Modellgesetz zur Vermittlung (UNCITRAL Model Law on International Commercial Conciliation) oder der US-amerikanische Uniform Mediation Act.
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a) Internationale Regelungen Auf internationaler Ebene liegt mit dem 2002 verabschiedeten UNCITRALModellgesetz für Vermittlung (UNCITRAL Model Law on International Commercial Conciliation)30 eine umfangreiche Verfahrensregelung für drittunterstützte Vermittlungsverfahren vor.31 Es ist in seinem sachlichen Anwendungsbereich nicht auf das Mediationsverfahren beschränkt, sondern erfasst mit dem weiten Begriff des „Vermittlungsverfahrens“ (conciliation) eine Vielzahl unterschiedlicher Verfahren alternativer Streitbeilegung mit Drittunterstützung, wie etwa die Mediation, die Early Neutral Evaluation und den Mini Trial, bei denen der neutrale Dritte keine verbindliche Entscheidung des Konflikts herbeiführt, sondern die Parteien lediglich in ihren Einigungsbemühungen unterstützt.32 Das Modellgesetz enthält neben wenigen Grundsätzen des Vermittlungsverfahrens (v.a. Privatautonomie der Parteien und „fair treatment“ durch den Vermittler) vor allem Vorschriften zum Verfahrensablauf, zur Bestellung und Ablehnung des Vermittlers, zur Zulässigkeit von Einzelgesprächen, zum Vertraulichkeitsschutz einschließlich entsprechender Beweismittelbeschränkungen sowie Regelungen zur Rollendefinition des Mediators. So ist der Mediator zwar berechtigt, den Parteien Einigungsvorschläge zu unterbreiten, doch ist ihm zugleich die Rolle des Schiedsrichters verwehrt. Das UNCITRAL-Modellgesetz folgt damit dem Prinzip der Rollentrennung, das wir als Ausprägung des Grundsatzes der strukturellen Integrität als zentrale Forderung von Fullers Verfahrenslehre kennengelernt haben.33 Insgesamt regelt das Modellgesetz wie die meisten gesetzlichen Verfahrensregelungen nur
30
UN-Doc. A/57/17, Annex I, S. 54-58. Das 2002 verabschiedete Modellgesetz und sämtliche Materialien können unter http://www.uncitral.org/pdf/english/texts/ arbitration/ml-conc/03-90953_Ebook.pdf abgerufen werden (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). Zur internationalen Mediationsgesetzgebung vgl. Hutner, ZKM 2002, 201. 31 Binder, International Commercial Arbitration and Conciliation in UNCITRAL Model Law Jurisdictions (3. Aufl. 2010); Beck, Mediation und Vertraulichkeit (2009), S. 242 ff.; Cimmino, Das UNCITRAL-Modellgesetz über internationale ADR-Verfahren in Wirtschaftsstreitigkeiten (2008); Hess, DJT-Gutachten (2008), S. F 87 ff.; Duve, FS Haase (2006), S. 227; Friedrich, Das UNCITRAL-Modellgesetz über die internationale Handelsschlichtung (2006); Friedrich, SchiedsVZ 2004, 297; v. Ginkel, 21 J. Int'l Arb. 1 (2004); Niggemann, IDR 2004, 143; Sanders, The Work of UNCITRAL on Arbitration and Conciliation (2. Aufl. 2004). Zum Vertraulichkeitsschutz des Modellgesetzes vgl. Duve/Prause, IDR 2004, 126. 32 Gleichwohl wird der Anwendungsbereich aufgrund der geringen praktischen Bedeutung von Early Neutral Evaluation und Mini Trial weitgehend auf die Mediation als dem für die Praxis maßgebenden Konfliktbeilegungsverfahren beschränkt bleiben. Vgl. hierzu auch oben S. 107. 33 Vgl. Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff., 27 ff., 36 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381 f., 404 f. (1978). Hierzu eingehend oben S. 116 f.
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einige wenige Teilbereiche und wichtige Zweifelsfragen, wie etwa den Vertraulichkeitsschutz und die Bestellung des Vermittlers. Auf eine umfangreiche Regelung des Mediationsverfahrens oder die Definition leitender Grundprinzipien der Mediation, wie es etwa in den Verfahrensordnungen der Mediationsverbände der Fall ist, wurde dagegen verzichtet. In der Praxis ist das Modellgesetz, das von lediglich vier Staaten umgesetzt worden ist, daher auch nur von geringer Bedeutung.34 b) Europäische Rahmenregelungen Einen weitaus größeren Einfluss auf die Rechtspraxis hat dagegen die europäische Mediationsrichtlinie entfaltet, die als europäische Rahmenregelung zentrale Aspekte des Verhältnisses zwischen Mediation und allgemeinem Zivilverfahrensrecht näher bestimmt.35 Dabei handelt es sich vor allem um die praktisch wichtigen Vorschriften zum Vertraulichkeitsschutz, zur Hemmung der Verjährung und zur Vollstreckung von Mediationsvergleichen, die einer individualvertraglichen Regelung nicht zugänglich sind und daher zwingend einer gesetzlichen Regelung bedürfen.36 Daneben regelt die Richtlinie Maßnahmen zur Qualitätskontrolle bei der Erbringung von Mediationsdiensten, die Information der Öffentlichkeit sowie mögliche Übergänge vom gerichtlichen Verfahren in die Mediation durch Anregung oder verbindliche Verweisung.37 Im Hinblick auf den Ablauf des Mediationsverfahrens und die insoweit anwendbaren Grundsätze trifft sie keine Regelung, sondern überlässt diese Aspekte der privatautonomen Bestimmung durch die Parteien. Die Richtlinie stellt erstmals einen europaweit einheitlichen Rechtsrahmen für das Mediationsverfahren zur Verfügung, der aufgrund der Umsetzungsverpflichtung die nationalen Gesetzgebungen maßgeblich beeinflusst. Zwar gilt sie in ihrem sachlichen Anwendungsbereich nur für grenzüberschreitende Streitigkeiten, doch hat sie in der Praxis eine einheitliche Umsetzung der Vorschriften auch für inländische Mediation zur Folge, da das nationale Recht in den betroffenen Regelungsbereichen regelmäßig nicht zwischen
34 Umgesetzt wurde das Modellgesetz bislang in Albanien (2003), Kanada (2005), Kroatien (2003), Nicaragua (2005), Slovenien (2008) und Ungarn (2002), http://www.uncitral.org/uncitral/en/uncitral_texts/arbitration/2002Model_conciliation_status.html (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 35 ABl. EU L 136 v. 24.5. 2008, S. 3. Vgl. aus dem umfangreichen Schrifttum nur Richter, SchAZtg 2010, 10; Sujecki, EuZW 2010, 7; Bamberger, RuP 2009, 37; Graf-Schlicker, ZKM 2009, 83; Probst, JR 2009, 265; Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737; Prütting, JZ 2008, 847; Wagner/Thole, ZKM 2008, 36; Wagner/Thole, FS Kropholler (2008), S. 915; Mayr/Weber, ZfRV 2007, 163; Bercher, IDR 2005, 169; Duve/Prause, IDR 2004, 126; Duve, AnwBl 2004, 1. 36 Art. 6-8 der Richtlinie. 37 Art. 4-5 und 9-10 der Richtlinie.
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grenzüberschreitenden und inländischen Sachverhalten unterscheidet. Für Deutschland ergibt sich indes nur ein geringer Umsetzungsbedarf, da das deutsche Recht im Hinblick auf die Hemmung der Verjährung und die Vollstreckbarkeit von Mediationsvergleichen den Anforderungen der Richtlinie genügt.38 Lediglich im Hinblick auf den Vertraulichkeitsschutz bestand Regelungsbedarf, da Personen, die nur gelegentlich als Mediatoren tätig sind und die auch nicht kraft Gesetzes einer beruflichen Schweigepflicht unterliegen, bislang nicht vom § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO erfasst waren.39 Mit der Vorschrift des § 4 S. 1 MedG hat der deutsche Gesetzgeber – wenn auch vergleichsweise spät40 – die Forderung des Art. 7 Abs. 1 der europäischen Mediationsrichtlinie41 nach einem effektiven Vertraulichkeitsschutz in deutsches Recht umgesetzt. Neben der Mediationsrichtlinie, die sich mit der Trias der Verjährung, der Vertraulichkeit und der Vollstreckung weitgehend auf die Regelung materiellrechtlicher und zivilprozessualer Kernfragen beschränkt, existieren auf europäischer Ebene zugleich auch Verfahrensregelungen, die in den Empfehlungen der Kommission niedergelegt sind.42 Sie enthalten vor allem das Verfahren als Ganzes prägende Grundsätze, wie etwa die Unparteilichkeit des Mediators sowie die Transparenz, Effizienz und Fairness des Verfahrens.43 Darüber hinaus hat die Kommission in Zusammenarbeit mit den Mediationsverbänden der einzelnen Mitgliedsstaaten einen ebenfalls unverbindlichen Verhaltenskodex für Mediatoren veröffentlicht, der Rolle und Pflichten des Mediators sowie einige Fragen des Verfahrens wie die Schriftform der Mediationsvereinbarung, die Gewährleistung von Verfahrensfairness und die Vereinbarung der Gebühren regelt.44
38 So Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2740 ff. Vgl. jedoch auch Wagner/Thole, ZKM 2008, 36, die aus Gründen eines umfassenden Vertraulichkeitsschutzes für einen Anpassung der gesetzlichen Rechtslage plädieren. 39 So Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2741 f. 40 Nach Art. 12 der Mediationsrichtlinie war diese bis zum 21.5.2011 umzusetzen. Das deutsche MedG – (Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung) v. 12.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. – ist mit fast einjähriger Verspätung am 26. Juli 2012 in Kraft getreten. 41 Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivilund Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3. 42 Empfehlung 2001/310/EG v. 4.4. 2001 (Vermittlung). Die Empfehlung 98/257/EG v. 30.3.1998 (Schlichtung) regelt dagegen das Schlichtungsverfahren. 43 Vgl. Empfehlung 2001/310/EG v. 4.4. 2001 (Vermittlung). 44 Abrufbar unter http://ec.europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct_de.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). Vgl. auch unten S. 444.
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c) Einzelstaatliche Regelungen Auf einzelstaatlicher Ebene ist das Mediationsverfahren in unterschiedlichem Umfang und auf unterschiedliche Weise geregelt. Die Rechtslage wird bestimmt durch eine Vielzahl verschiedener Regelungsmodelle, die sich auf einer Makroebene jedoch in Abhängigkeit von ihrer Regulierungsdichte in zwei Regelungstypen einordnen lassen: Auf der einen Seite steht eine weitgehende, zum Teil auch umfassende Regulierung, die zivil- und verfahrensrechtliche Fragen sowie Fragen des Berufsrechts in einer großen Detailtiefe und in der Regel auch verbindlich regelt. Auf der anderen Seite steht ein zurückhaltendes Regulierungsprogramm, das auf eine systematische Regelung der speziellen Sachprobleme der Mediation weitgehend verzichtet und stattdessen auf die allgemein anwendbaren Vorschriften zurückgreift. Das deutsche Recht der Mediation, das durch die Umsetzung der europäischen Mediationsrichtlinie durch das am 26. Juli 2012 in Kraft getretene MedfördG45 eine grundlegende Neugestaltung und Erweiterung erfahren hat, geht einen mittleren Weg. So liegt mit dem MedG46 zunächst eine umfassende spezialgesetzliche Kodifikation verfahrensrechtlicher Regelungen für das Mediationsverfahren vor. Neben der Bestimmung grundlegender Anforderungen an das Verfahren sowie der Aufgaben und Pflichten des Mediators (§ 2 MedG) – insbesondere seiner Offenbarungs- (§ 2 Abs. 1 MedG) und Verschwiegenheitspflichten (§ 4 MedG) – sowie seiner Tätigkeitsbeschränkungen (§ 3 Abs. 2 – 4 MedG) enthält das Mediationsgesetz Regelungen zur Aus- und Fortbildung (§ 5 Abs. 1 MedG), zur Zertifizierung der Mediatoren (§ 5 Abs. 2 MedG) und zur finanziellen Förderung der Mediation (§ 7 MedG). Ähnlich wie auch das österreichische Zivilrechtsmediationsgesetz (ZivMediatG)47 sieht das deutsche MedG keine eigenständige Regelung zivilprozessualer Zeugnisse weich vor, sondern statuiert in § 4 MedG lediglich eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht, die in Verbindung mit der allgemeinen zivilprozessualen Vorschrift des § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO dem Mediator ein Zeugnisverweigerungsrecht einräumt. Gleiches gilt für die Hemmung der Verjährung, wo es – anders
45
Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung, BGBl. I 2012, 1577 ff. 46 Eingeführt durch Art. 1 des MedFördG (Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung) BGBl. I 2012, 1577 ff. Vgl. hierzu nur Thole, ZZP 127 (2014), 339, 339 ff.; Fischer/Unberath, Mediationsgesetz (2013); Schreiber, KritV 2013, 102, 102 ff.; Wagner, ZKM 2012, 110, 110 ff., 115 sowie im europäischen Vergleich Serbu, Mediationsgesetz (2016). Vgl. für Einzelheiten die einschlägige Kommentarliteratur Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung (2. Aufl. 2016); Fritz/Pielsticker, Mediationsgesetz (2013); Horstmeier, Mediationsgesetz (2013). 47 ZivMediatG v. 6.6. 2003, BGBl I, 29. Vgl. hierzu Oberhammer/Domej, ZKM 2003, 144
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als etwa in Österreich48 – keiner spezialgesetzlichen Regelung bedurfte, sondern stattdessen die allgemeine Vorschrift des § 203 BGB (Hemmung der Verjährung bei schwebenden Verhandlungen) eingreift. Darüber hinaus ist mit dem MedFördG49 eine umfassende Neuregelung der Integration der Mediation in den Zivilprozess, insbesondere des Verfahrensübergangs in §§ 278 Abs. 5, 278a ZPO hinzugekommen. So kann etwa das Prozessgericht die Parteien nach § 278 Abs. 5 S. 1 BGB bindend in das Güterichterverfahren verweisen, das nach § 278 Abs. 5 S. 2 BGB zwar nicht zwingend nach den Grundsätzen der Mediation ausgestaltet sein muss, sich in der Praxis jedoch in der Regel dem – durch evaluative Elemente angereicherten50 – Mediationsverfahren orientiert51. Die Vollstreckung von Mediationsvergleichen erfolgt nach den allgemeinen Regelungen der §§ 794 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 5, 796 a-c ZPO. Am 1.4.2016 ist in Umsetzung der am 21.5.2013 verabschiedeten ADRRichtlinie52 darüber hinaus das neue Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG) in Kraft getreten, das mit der Einführung eines speziellen Schlichtungsverfahrens die Durchsetzung von Verbraucherrechten erheblich erleichtern soll. Seine Ausgestaltung als gerichtsähnliches, schriftliches und summarisches Vorschlagsverfahren wirft aufgrund der damit verbundenen Gefahren für die privatautonome Entscheidung der Verbraucher jedoch erhebliche Risiken auf, die den Nutzen des Verfahrens für den Verbraucher grundlegenden Frage stellen. Befürchtet „rough justice53“ ein „law enforcement light54“, eine Parralleljustiz zweiter Klasse, die sich mit Blick auf die Durchsetzung materiellen Verbrauchrechts mit einem groben Näherungswert55 zufrieden gibt und durch die Schaffung einer Paralleljustiz zweiter Klasse letztlich den Zugang zu staatlicher Gerichtsbarkeit erschwert und diese im Bereich des Verbraucherrechts weitgehend verdrängt.56
48
Hier ist die Verjährungshemmung spezialgesetzlich in § 22 ZivMediatG geregelt. Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 50 Zur evaluativen Mediation vgl. unten S. 317 sowie Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 30 ff. (1996). Vgl. auch Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111, 112 f. (1994). 51 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 37. 52 Richtlinie 2013/11/EU v. 21.5.2013, ABl. EU Nr. L 165, 63. 53 Wagner, ZKM 2013, 104 105. 54 Ebenda. 55 Stürner, ZZP 127 (2014), 271 331. 56 Hierzu Greger, in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung (2. Aufl. 2016), § 1 VSBG Rn. 2; Wendland, KritV 2016, 301; Greger, ZZP 128 (2015), 137, 137 ff.. Zur kritischen rechtspolitischen Diskussion vgl. nur Eidenmüller, ZKM 2015, 131; Eidenmüller/Engel, ZZP 128 (2015), 149, 153; Engel, NJW 2015, 1633, 1634 ff.; Hess, JZ 2015, 548, 551 ff.; Roth, DRiZ 2015, 24, 25 ff.; Schulte-Nölke, EuCML 2015, 135, 137 ff.; Meller-Hannich/Höland/Krausbeck, ZEuP 2014, 8, 31 ff.; Stürner, ZZP 127 (2014), 271, 49
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Auch andere Staaten verfolgen einen umfassenden Regelungsansatz und unterwerfen die Mediation einer weitreichenden gesetzlichen Regelung. Hiervon haben insbesondere Österreich57, Frankreich58, Japan59 sowie zahlreiche Bundesstaaten der USA60 Gebrauch gemacht. In Österreich liegt mit dem Zivilrechtsmediationsgesetz (ZivMediatG)61 ein umfangreiches Regelungswerk vor, das neben den Pflichten der Mediatoren, etwa ihrer Verpflichtung zur Neutralität, Vertraulichkeit und Aufklärung über das Mediationsverfahren sowie Regelungen zur Hemmung der Verjährung, vor allem berufsrechtliche Vorschriften zur Qualifikation der Mediatoren und zum Marktzugang enthält.62 Andere Staaten wie Frankreich haben die verfahrensrechtlichen Vorschriften zur Regelung der Mediation in die Zivilprozessordnung integriert.63 In den USA finden sich verfahrensrechtliche Regelungen des Mediationsverfahrens vor allem im Recht der einzelnen Bundesstaaten (state law)64 sowie in den lokalen Verfahrensordnungen der einzelnen Gerichte (court rules)65, zum Teil auch im Bundesrecht (federal law)66. Die Dichte und die inhaltliche Ausgestaltung der einzelnen Regelungen variiert dabei stark zwischen den einzelnen Bundesstaaten.67 Grundsätzlich lässt sich jedoch eine starke Verrechtlichung
320 f.; Wagner, CMLR 2014, 165, 171; Eidenmüller/Engel, ZIP 2013, 1704, 1705 ff.; Roth, JZ 2013, 637, 641 ff.; Stürner, GPR 2014, 122, 123; Wagner, ZKM 2013, 104, 105 ff. 57 ZivMediatG v. 6.6. 2003, BGBl I, 29. Vgl. hierzu auch Roth/Gherdane, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 105 ff.; Oberhammer/Domej, ZKM 2003, 144 58 Vgl. hierzu Deckert, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 183 ff. 59 Baum/Schwittek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 483 ff. 60 Kulms, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 403 ff. 61 ZivMediatG v. 6.6. 2003, BGBl I, 29. 62 Hierzu eingehend Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 108 ff. Vgl. auch Beck, Mediation und Vertraulichkeit (2009), S. 280; Laukemann, ZZPInt 12 (2007), 91; Köper, ZKM 2004, 161; Oberhammer/Domej, ZKM 2003, 144. 63 V.a. Art. 131 des Code de procédure civile. Vgl. hierzu Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 189 ff., 1009 ff.; Kayser, Alternative Formen gerichtlicher und außergerichtlicher Streitbeilegung im deutschen und französischen Zivilprozess, (2006); Ralle-Köhler, IDR 2006, 69; Lacabarats, ZKM 2003, 153. 64 Etwa die Rules 1.700 – 1730 der Florida Rules of Civil Procedure und Rules 44.406 – 44.1011 der Florida Statutes. 65 Rule 4 (Mediation of Small Claims Actions) der Massachusetts Uniform Magistrate Rules und Rule 13 (Mediation) der Rules of Local Practice des Court of Common Pleas, Clermont County, Ohio. 66 28 United States Code § 651 (a) und Rule 501 der Federal Rules of Evidence. Die letztgenannte Vorschrift enthält eine allgemeine beweisrechtliche Regelung, die für die Beurteilung eines Beweisverwertungsverbotes im Kontext des Vertraulichkeitsschutzes des Mediationsverfahrens relevant ist. 67 Umfassende Regelungen des Mediationsverfahrens finden sich insbesondere in Florida, Kalifornien, Ohio und Texas. Vgl. hierzu Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 414 f.
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und Institutionalisierung der Mediation vor allem im Bereich der gerichtsverbundenen Mediationsprogramme mit zum Teil sehr weitgehenden Regelungen feststellen.68 Daneben ist 2002 auf bundesstaatlicher Ebene mit dem Uniform Mediation Act ein umfangreiches Modellgesetz verabschiedet worden, das sich im Wesentlichen auf Vorschriften zum Vertraulichkeitsschutz beschränkt, diesen jedoch einer umfangreichen Regelung unterwirft.69 Im Gegensatz zu anderen gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Vertraulichkeit in der Mediation verfolgt er keinen engen personen-, sondern einen umfassenderen sachbezogenen Ansatz, der nicht lediglich durch Zeugnisverweigerungsrechte und Verschwiegenheitspflichten an die Person des Informationsträgers, sondern vielmehr an die Information als solche anknüpft, die er einem umfangreichen Beweisverwertungs- und Vortragsverbot unterstellt.70 Er ist in einer Reihe von Bundesstaten in lokales state law umgesetzt worden.71 3. Verhaltenskodizes Eine Sonderstellung nehmen unverbindliche, aber gleichwohl für die Praxis prägende Verhaltenskodizes an. In dem Gefüge von verbindlichen privatautonomen und gesetzlichen Regelungen kommt ihnen für die Gestaltung des Mediationsverfahrens und der prozeduralen Implementierung von Verfahrensgerechtigkeit eine wichtige grundsatzformende Leitbildfunktion zu. Sie werden sowohl von staatlichen oder überstaatlichen Institutionen als auch von berufsständischen Organisationen erarbeitet und beeinflussen als dispositives Recht unmittelbar, als Modell für konkrete Verfahrensordnungen mittelbar das Verfahrensdesign. Sie gehen in ihrem Regelungsumfang regelmäßig über die Verfahrensordnungen hinaus und enthalten zusätzlich spezielle Verhaltensrichtlinien, etwa ein Verbot von Zwang, Drohungen, Täuschungen, Manipulationen und unwahren Tatsachenbehauptungen.72 Auf europäischer Ebene enthalten
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Vgl. Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 417 ff. Abrufbar unter http://www.uniformlaws.org/shared/docs/mediation/mediat_am00.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 70 Vgl. zu diesem Ansatz und einem entsprechenden Regelungsvorschlag für das europäische Rahmenrecht Duve/Prause, IDR 2004, 126, 132. 71 Der UMA ist bislang in 12 Bundesstaaten implementiert worden: District of Columbia, Hawaii, Idaho, Illinois, Iowa, Nebraska, New Jersey, Ohio, South Dakota, Utah, Vermont, Washington. In den Bundesstaaten Massachusetts und New York wurden entsprechende Gesetzgebungsverfahren eingeleitet. 72 Vgl. den Verhaltenskodex für Anwälte (Model Rules of Professional Conduct), Rule 4.1 ff. Abrufbar unter http://www.abanet.org/dispute/webpolicy.html (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). Allerdings werden die Regelungen durch einen offiziellen Kommentar oft wieder eingeschränkt. Insoweit kritisch Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 213. 69
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der europäische Verhaltenskodex für Mediatoren73 sowie die Empfehlungen 98/257/EG v. 30.3.1998 (Schlichtung) und 2001/310/EG v. 4. 4. 2001 (Vermittlung) umfassende Leitlinien für die Verfahrensgestaltung. In den USA haben berufsständische Organisationen wie die American Arbitration Association, die American Bar Association und die Society of Professionals in Dispute Resolution einen gemeinsamen Verhaltenskodex veröffentlicht (Model Standards of Conduct for Mediators), der im Schrifttum rezipiert und intensiv diskutiert wird.74 4. Rechtsprechung Neben dem privaten Vertrags- und dem staatlichen Gesetzesrecht hat in jüngster Zeit vor allem die Rechtsprechung dem Verfahrensrecht der Mediation verstärkt Konturen verliehen.75 Schwerpunkte bilden dabei vor allem das Berufs, das Prozesskosten- und das Verfassungsrecht: So hat die Rechtsprechung im Berufsrecht mit ihren Entscheidungen zur Definition der Rolle des Mediators
73 Abrufbar unter http://www.ec.europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct_en.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 74 Abrufbar unter http://www.abanet.org/dispute/webpolicy.html (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 75 Auf die Frage, ob dem Richterrecht tatsächlich Rechtsquellenqualität in strengem Sinn zuerkannt werden kann, kommt es hier nicht an. Diese Frage ist weiterhin lebhaft umstritten und wird von der h.M. mit der Begründung abgelehnt, dass die Rechtsprechung das objektiv geltende Recht nicht konstitutiv ändert, sondern lediglich deklaratorisch feststellt. Für unsere Untersuchung ist indes allein entscheidend, aus welchen Quellen sich das weitgehend rechtspraktisch wie rechtswissenschaftlich wenig durchdrungene Verfahrensrecht der Mediation speist und woher es seine Konturen gewinnt. Hier kommt der Rechtsprechung mittlerweile eine entscheidende Bedeutung zu.
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in Abgrenzung zu der des Schlichters76, zur Neutralitäts- und rechtlichen Informationspflicht des Anwaltsmediators77, zur Unzulässigkeit rechtsbesorgender Tätigkeit durch nichtanwaltliche Mediatoren78, zur Vergütung79 sowie zur Werbung mit anwaltlicher Mediatorentätigkeit80 Inhalt, Umfang und Grenzen des vermittelnden Handelns des Mediators geklärt. Im Zivilprozessrecht haben die Gerichte zu zentralen verfahrensrechtlichen Fragen der Mediation Stellung genommen, wie etwa dem Vertraulichkeitsschutz81, der Frage der Befangenheit eines zuvor zwischen den Parteien als Mediator vermittelnden Richters82, der
76 Bayr. VerwGH München, PersV 2007, 189 ff.: „Mediatoren lenken nur das Verfahren und den Kommunikationsprozess, entscheiden aber nicht in der Sache und schlagen auch keine Lösungen vor. Die Mediation dient der gütlichen Einigung zwischen den Parteien, fragt nicht nach der ‚Schuld‘, sondern danach, wie die Parteien in Zukunft miteinander umgehen wollen (lösungs- und zukunftsorientiert). Dabei entscheiden nicht der Mediator, sondern ausschließlich die Parteien, worüber sie verhandeln und wie sie ihren Konflikt lösen wollen. Die Freiwilligkeit der Parteien ist unbedingte Voraussetzung einer Mediation.“ 77 „Der Mediator ist verpflichtet, den von beiden Parteien offen gelegten streiterheblichen Sachverhalt zu würdigen und beide Parteien über ihre jeweiligen Rechte und Pflichten umfassend zu informieren, ohne Rücksicht darauf, ob dies die Einigung letztlich erschwert oder nicht. … Aufgrund seiner Verpflichtung zur Neutralität hat der Mediator lediglich den von beiden Vertragsparteien unterbreiteten Sachverhalt zu würdigen, nicht aber wie ein einseitiger Interessenvertreter einen von den Vertragsparteien ausdrücklich nicht mitgeteilten, einer der Parteien jedoch möglicherweise günstigen Sachverhalt zu erforschen.“ OLG Hamm v. 20.10.1998, 28 U 79/97, Rn. 45 (juris). 78 LG Leipzig, NJW 2004, 3784 ff. 79 KG Berlin, ZKM 2010, 31 ff. (Der Rechtsanwalt hat gegen die Staatskasse einen Auslagenvergütungsanspruch bei einer vom Prozessgericht angeregten gerichtsnahen Mediation, wenn Prozesskostenhilfe bewilligt und der Rechtsanwalt einschränkungslos beigeordnet worden ist); OLG Braunschweig, ZKM 2007, 30 ff. (Keine zusätzlichen Rechtsanwaltsgebühren für Teilnahme eines Rechtsanwalts an gerichtsinterner Mediation); OLG Hamm v. 20.10.1998, 28 U 79/97 (juris) (Gebührenanspruch nach § 20 BRAGO, wenn die Parteien den Rechtsanwalt als „Schlichter“ beauftragen). 80 BGH NJW 2002, 2948 ff. Danach ist die Verwendung der Bezeichnung „Mediator“ im Briefkopf zulässig, sofern der Anwalt durch eine geregelte Ausbildung nachweisen kann, die Grundsätze der Mediation zu beherrschen. 81 OLG München, ZKM 2009, 158 ff. (Akteneinsicht in gerichtliche Mediationsakten ist trotz Vertraulichkeit des Mediationsverfahrens auch nach Abschluss des Verfahrens möglich); Anwaltsgericht Mecklenburg-Vorpommern, ZKM 2007, 194 ff. (keine strafbewehrte gesetzliche Schweigepflicht durch vertragliche Vertraulichkeitsabrede). 82 LAG Hessen, ZKM 2009, 191 ff. (nicht ohne weiteres Begründung der Befangenheit; kann sich nur aus dem spezifischen Ablauf der Mediation im Einzelfall ergeben; zweifelt Richter selbst seine Unbefangenheit an, ist Selbstablehnung gerechtfertigt). Vgl. aber LSG Niedersachsen-Bremen, ZKM 2005, 139 f. (Tätigkeit als richterlicher Mediator im Rahmen gerichtsinterner Mediation als solche genügt noch nicht, um eine Selbstablehnung in einem nach Beendigung der Mediation fortzusetzenden Klageverfahren zu rechtfertigen).
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Gewährung von Prozesskostenhilfe bei vorheriger Ablehnung eines Mediationsverfahrens83, der Gewährung von „Mediationskostenhilfe“84, der Möglichkeit der Nachholung eines obligatorischen Güteverfahrens gem. § 15a EGZPO nach Klageerhebung85 oder zu den Auswirkungen eines gerichtsinternen Mediationsverfahrens auf die Berufungsbegründungs-86 bzw. die Klageerwiderungsfrist87. Im Verfassungsrecht hat schließlich das BVerfG mit seinen Entscheidungen zur Zulässigkeit des obligatorischen Streitschlichtungsverfahrens nach § 15a EGZPO nicht nur die Vereinbarkeit der Vorschrift mit dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) als Ausfluss des allgemeinen Justizgewährungsanspruches festgestellt.88 Indem es die einverständliche Streitbeilegung als eine gegenüber der richterlichen Streitentscheidung in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdige Form der Konfliktlösung anerkannte, hat es den ADR-Verfahren eine besondere, verfassungsrechtlich garantierte und gegenüber dem Zivilprozess privilegierte Stellung im System staatlicher Konfliktsteuerung zugewiesen.89 Die Konsequenzen, die sich aus dieser Rechtsprechung vor dem Hintergrund von Fullers Institutionen für die Standortbestimmung der Mediation im Verhältnis
83 OLG Hamm, ZKM 2003, 232 ff. (Lehnt der Antragsteller eine unentgeltlich angebotene Mediation ab, so ist Prozesskostenhilfe nicht wegen Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung abzulehnen, wenn auch die Gegenseite eine notwendige konstruktive Mitwirkung an einer Mediation von vornherein verweigert). Vgl. allerdings demgegenüber AG Bochum, ZKM 2003, 233 (Gewährung von Prozesskostenhilfe ist wegen Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung abzulehnen, wenn die Parteien eines Rechtsstreits ein Mediationsangebot seitens des Jugendamts mit der bloßen Begründung ablehnen, die Gegenseite sei nicht gesprächsbereit). 84 OLG Dresden, ZKM 2006, 190 (Keine Prozesskostenhilfe für die Durchführung eines Mediationsverfahrens). 85 BGHZ 161, 145 = NJW 2005, 437 ff. (Durchführung des Güteverfahrens nach § 15a EGZPO stellt eine Zulässigkeitsvoraussetzung für eine Klageerhebung dar, so dass eine Nachholung während des laufenden Verfahrens ausgeschlossen ist). Ebenso OLG Saarbrücken, ZKM 2010, 61 f. 86 OLG Dresden, ZKM 2009, 91 (Die Durchführung eines gerichtsinternen Mediationsverfahrens als besondere Ausgestaltung des gerichtlichen Güteverfahrens hemmt nicht den Lauf der Berufungsbegründungsfrist.). 87 LG Osnabrück, ZKM 2008, 92 ff. (In der mit der Einleitung eines gerichtsinternen Mediationsverfahrens regelmäßig verbundenen Anordnung des Ruhens des Verfahrens für die Dauer eines Mediationsverfahrens liegt zugleich die konkludente Verlängerung eines mit der Zustimmung zur Durchführung des Mediationsverfahrens gestellten Antrages auf Verlängerung der Frist zur Klageerwiderung.). 88 BVerfG NJW-RR 2007, 1073 (obligatorisches Schlichtungsverfahren) und BVerfG NJW-RR 2009, 1026 (Schlichtungsverfahren bei Nachbarstreitigkeiten). 89 BVerfG NJW-RR 2007, 1073 (obligatorisches Schlichtungsverfahren).
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zum Zivilprozess auf der Grundlage einer umfassenden Konfliktbehandlungslehre ergeben, werden wir im abschließenden Abschnitt der Arbeit näher in den Blick nehmen. Im anglo-amerikanischen Rechtskreis ist die Bedeutung der Rechtsprechung für das Verfahrensrecht der Mediation naturgemäß größer, so dass sich hier eine umfangreiche Judikatur entwickelt hat.90 So ist insbesondere in den USA seit dem Beginn der ADR-Bewegung91 eine umfangreiche Judikatur gewachsen, die alle wesentlichen Problembereiche des Mediationsverfahrens erfasst:92 Durchsetzung der Vertraulichkeitsabrede93, obligatorische Mediation94, Vertraulichkeitsverletzung in der Mediation durch Prozessrichter95, Interessenkonflikt des Anwaltsmediators96, formelle und inhaltliche Anforderungen an den Mediationsvergleich.97 Die Rechtsprechung ist somit auf zweifache Weise an der Verwirklichung der Verfahrensgerechtigkeit durch Einwirkung auf das Verfahrensdesign beteiligt: Sie wirkt auf konkret-individueller Ebene im Rahmen der individuellen Rechtsverfolgung rechtsverwirklichend und prägt darüber hinaus auf abstrakt-genereller Ebene objektiv rechtsgestaltend die Verhaltenskodizes und Verfahrensordnungen.
90 Vgl. zur Situation in den USA etwa Coben/Thompson, 11 Harv. Negot. L. Rev. 43 (2006); Tetunic, 28 Nova L. Rev. 87 (2003); Biltman, 70 Fla. B.J. 44 (10/1996). Zur Entwicklung der Judikatur im Anschluß an die Woolf-Reform der Civil Procedure Rules vgl. Newmark, SchiedsVZ 2003, 23. Zur vieldiskutierten Entscheidung Dunnett v. Railtrack PLC, [2002] EWCA Civ 303 = [2002] 2 All ER 850 = [2002] 1 WLR 2434, in der der Beklagten trotz vollem Obsiegens in der Sache die Kosten des Berufungsverfahrens wegen ihrer Verweigerung der Teilnahme an einer Mediation auferlegt wurden, vgl. vor allem Engelhardt/Greger, ZKM 2003, 4. 91 Vgl. zur Geschichte der ADR-Bewegung oben S. 60 ff. 92 Hierzu instruktiv Tetunic, 28 Nova L. Rev. 87 (2003). 93 Verletzung der Vertraulichkeitsabrede führt zur Klageabweisung im nachfolgenden Verfahren, Paranzino v. Barnett Bank of South Florida, N.A., 690 So.2d 725 (1997). 94 Klageabweisung bei Nichterscheinen zu einer zuvor gerichtlich angeordneten Mediation, vgl. Transglobal Land Trust v. Balamour, 9 Fla. L. Weekly Supp. 202 (17th Cir. Ct. Jan. 14, 2002). 95 Vom Gericht für unzulässig erklärt, vgl. Evans v. State, So. 2d, S. 17 ff. (1992). 96 Einem Anwaltsmediator ist es untersagt, die Partei eines Mediationsverfahrens anwaltlich zu vertreten, wenn er in dieser Mediation als Mediator tätig geworden ist. Verpflichtung zur Durchführung eines außergerichtlichen Schlichtungsverfahrens vor einer Inanspruchnahme der staatlichen Gerichte, vgl. Mediator Qualifications Advisory Panel, Op. 94-003. 97 Vgl. Wilson v. Forte Hotels, Inc., 632 So. 2d 271 (Fla. 1st Dist. Ct. App. 1994) (Schriftformerfordernis).
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II. Verfahrensgrundsätze Das Verfahrensrecht der Mediation, das seine Grundlage in vertraglichen oder gesetzlichen Regelungen findet und durch die Rechtsprechung kontinuierlich konkretisiert und fortentwickelt wird, ist nicht unbeschränkt der Gestaltungsmacht der Parteien, des Gesetzgebers oder der Gerichte unterworfen. Es folgt wie das Regelungsprogramm bzw. Prozessrecht jedes Verfahrens spezifischen Verfahrensgrundsätzen98, über die nicht verfügt werden kann, ohne dass das jeweilige Verfahren seinen prägenden Charakter verliert. Dabei handelt es sich um tragende Wertprinzipien, Strukturmerkmale und Verhaltensregeln, die als „Bauplan“ die grundsätzliche Ausgestaltung des Verfahrens und seinen Ablauf bestimmen und für das Verfahren als solches konstitutiv und von derart großer Bedeutung sind, dass ihre Verletzung zu einer schwerwiegenden Störung der Integrität des Verfahrens und einer Gefährdung der Verfahrensziele führt. Im Einzelfall kann das Verfahren bei einer schwerwiegenden Verletzung tragender Strukturmerkmale sogar seine prägende Gestalt verlieren, so dass es gleichsam seine Natur verändert und im Ergebnis ein anderer Verfahrenstypus vorliegt. Überlässt etwa der neutrale Dritte in einem „Mediationsverfahren“ die Entscheidung nicht mehr den Parteien, sondern trifft eine eigene Entscheidung in der Sache, so liegt durch die Einschränkung des Grundsatzes der Privatautonomie je nach Verbindlichkeit der Entscheidung keine Mediation, sondern eine Schlichtung bzw. ein schiedsähnliches Verfahren vor.99 Die Verfahrensgrundsätze verleihen damit jedem Verfahren seine individuelle Gestalt und das ihm eigene Gepräge. Es ist ebendiese Einsicht in die identitätsstiftende Funktion der Verfahrensgrundsätze, die hinter Fullers Postulaten der Rollentrennung und der Verfahrensintegrität, der „internal morality“100 der „primary processes“101 steht. Als zentrale Ordnungsprinzipien prozeduraler Legalität“ beschreiben sie den Wesenskern der jeweiligen Verfahren. Und weil sie ihnen ihre unverkennbaren Eigenschaften und ihre unverwechselbare Gestalt verleihen, schließen sie sich häufig gegenseitig aus und stehen – wie wir
98 Zur notwendigen terminologischen Differenzierung zwischen Maximen, Prinzipien, Grundsätzen, Regeln und Regelungsmodellen vergleiche die präzise Analyse von Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407. 99 Die Übergänge zwischen Strukturmerkmalen und Verfahrensgrundsätzen sind fließend. 100 Vgl. hierzu oben S. 115 Fn. 61 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 f. (1963). Zur Problematik auch auch Fuller, 71 Harv. L. Rev. 630, 644, 650 (1958).; Fuller, The Morality of Law (1964), S. 46 ff., 152 ff. Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 33 f., 37 ff.; Bone, 75 B.U. L. Rev. 1273, 1286, 1300 (1995). 101 Sander/Goldberg, 10 Neg. J. 49, 50 (1994). Zur Trias der Primärverfahren eingehend oben S. 102 ff.
II. Verfahrensgrundsätze
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es bereits am Beispiel des Vertraulichkeitsprinzips der Mediation und des Öffentlichkeitsgebotes des Zivilprozesses gesehen haben – in einem Spannungsverhältnis zueinander. Die Verfahrensgrundsätze haben über ihre dogmatisch-systembildende Funktion hinaus eine erhebliche praktische Bedeutung: Sie dienen nicht nur der Auslegung individualvertraglich vereinbarten oder gesetzlich normierten Verfahrensrechts, sondern bilden mit ihren Verhaltensregeln auch einen Orientierungsrahmen für das Handeln der Beteiligten. Darüber hinaus ist die Einhaltung bestimmter Verfahrensgrundsätze und Mindeststandards die Voraussetzung für den Eintritt verbindlicher Rechtswirkungen. So finden die strengen Rechtsfolgen der Vollstreckbarkeit, die eine gerichtliche Inhaltskontrolle der den Vollstreckungstiteln zugrunde liegenden Vergleiche weitgehend ausschließen, ihre Rechtfertigung in der Richtigkeitsgewähr des tatsächlich privatautonomen Vergleichsschlusses und der Einhaltung bestimmter verfahrensrechtlicher Mindestgarantien.102 Ihre Begründung und ihren Ursprung finden die Verfahrensgrundsätze in der Funktion und den Zielen des jeweiligen Verfahrens, deren Verwirklichung sie dienen sollen, und damit auch in den in den jeweiligen Verfahren typischerweise auftretenden Gefährdungssituationen. Der Begriff des Verfahrensgrundsatzes hat dabei eine zweifache Bedeutung. In einem weiten Sinne beschreibt er jene Gestaltungsprinzipien und Eigenschaften, die dem jeweiligen Verfahren seine jeweils eigene, typische Gestalt verleihen und die wir bereits als Strukturmerkmale des Mediations- und des zivilgerichtlichen Verfahrens kennengelernt haben: Für die Mediation sind dies die Grundsätze der Privatautonomie, Kooperation, Interessenorientierung, Beziehungsgerechtigkeit, Vertraulichkeit, Flexibilität und Vermittlung durch einen neutralen Dritten. Für den Zivilprozess sind es die komplementären Grundsätze der Heteronomie, der kontradiktorischen Interaktionsstruktur, der Orientierung an Rechtsansprüchen, der Ergebnisorientierung, der Öffentlichkeit, der Formalität des Verfahrens und der verbindlichen Entscheidung durch einen neutralen Dritten. In einem engeren Sinne beschreibt der Begriff des Verfahrensgrundsatzes dagegen prägende Wertprinzipien, deren Verletzung nicht notwendig zu einem Wechsel der Verfahrensidentität führt – wie dies etwa bei dem Übergang von der Privatautonomie der Parteien zur verbindlichen Drittentscheidung der Fall ist –, sondern sich regelmäßig auf eine nicht identitätsverändernde Gefährdung der Verfahrensziele103 beschränkt. In diesem engeren Sinn wollen wir den Begriff der Verfahrensgrundsätze im Folgenden verwenden. Für den Zivilprozess sind dies prägende und zur Verwirklichung seiner Funktion unabdingbare Prinzipien, die als Prozessmaximen anerkannt sind: So 102
Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1073. Zur den Funktionen des Mediationsverfahrens vgl. eingehend unten S. 558 ff., zu jenen des Zivilprozesses eingehend unten S. 614 ff. 103
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etwa der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 101 Abs. 1 GG, der Grundsatz des fairen Verfahrens nach Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip, die Verhandlungs- und Dispositionsmaxime oder der Öffentlichkeitsgrundsatz nach § 169 S. 1 GVG.104 Für die Mediation sind die Verfahrensmaximen dagegen weitgehend mit inneren und äußeren Strukturmerkmalen identisch. Es wird regelmäßig nicht zwischen Verfahrensgrundsätzen im engeren und im weiteren Sinne differenziert, sondern überwiegend auf einen einheitlichen Kanon der „Grundsätze der Mediation“ verwiesen, der im Wesentlichen den herausgearbeiteten Strukturmerkmalen der Mediation entspricht. Das Ergebnis wirft die weitgehend noch ungeklärte Frage nach einer weiteren Konkretisierung der die Mediation prägenden Verfahrensgrundsätze auf. Zu klären ist insbesondere, ob die verfassungsrechtlich garantierten Verfahrensgrundrechte als übergreifende Grundsätze des Verfahrens auch auf die Mediation anwendbar sind und ob die spezifischen Prozessmaximen des gerichtlichen Verfahrens auf die Mediation übertragen werden können. Dies ist vor allem für die dogmatische Verortung der Mediation innerhalb einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre und ihr Verhältnis zum Zivilprozess von besonderer Bedeutung. Diesen Fragen wollen wir im Folgenden in einem Dreischritt nachgehen: In einem ersten Schritt wollen wir uns mit der Frage der Anwendbarkeit der verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien auf das Mediationsverfahren auseinandersetzen, wobei zwischen gerichtsinterner und vertragsautonomer Mediation zu differenzieren sein wird. In einem zweiten Schritt werden wir sodann die spezifischen Verfahrensgrundsätze der Mediation in den Blick nehmen, um schließlich in einem letzten Schritt zu untersuchen, ob und ggf. in welchem Umfang die Prozessmaximen des Zivilprozesses auf das Mediationsverfahren übertragen werden können. 1. Verfassungsrechtliche Verfahrensgrundsätze Das Verfassungsrecht wirkt über Verfahrensgrundrechte und Verfassungsgrundsätze wie das Rechtsstaatsprinzip auf vielfache Weise gestaltend auf das Verfahrensrecht ein und ist daher für die Prozessrechtslehre von besonderer Bedeutung. Regelungsgegenstand ist hier vor allem der Zivilprozess als hoheitliches Verfahren verbindlicher Drittentscheidung. Allerdings ist im Einzelfall zu klären, ob und in welchem Umfang verfassungsrechtliche Garantien auf das Mediationsverfahren übertragbar sind. Im Hinblick auf die Mediation ergeben sich insoweit drei unterschiedliche Anknüpfungspunkte: 1) Ihre unmittelbare Anwendbarkeit, etwa im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation, 104
Hierzu MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 312 ff.; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 26 ff.; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 43 ff.
II. Verfahrensgrundsätze
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2) ihre mittelbare Drittwirkung im Verhältnis zwischen Privaten im Rahmen der Generalklauseln und 3) ihre ebenfalls mittelbare Wirkung als Leitbild und Wertemodell. Dabei ist zunächst zwischen gerichtsverbundener und privatautonomer Mediation zu unterscheiden.105 a) Gerichtsverbundene Mediation Im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation wird der Güterichter als staatlicher Amtsträger in Ausübung der Kernaufgaben rechtsprechender Gewalt nach Art. 92 Abs. 2 GG und insoweit als Hoheitsträger tätig und unterliegt somit in vollem Umfang der Bindung an verfassungsrechtlich verbürgte Verfahrensgarantien, soweit diese thematisch anwendbar sind. Wie wir im Rahmen unserer Untersuchung der Rolle des Güterichters gesehen haben106, sind damit zentrale grundgesetzliche Verfahrensgarantien unmittelbar anwendbar. aa) Anspruch auf ein faires Verfahren (Rechtsstaatsprinzip iVm. Art. 2 Abs. 1 GG) Aus dem Anspruch der Parteien auf ein faires Verfahren ergibt sich das Neutralitätsgebot des Mediators und seine Verpflichtung, die Einhaltung der wesentlichen Grundsätze des Mediationsverfahrens107 zu gewährleisten, so dass die Parteien ihr Recht auf informierte und privatautonome gemeinsame Sachentscheidung tatsächlich effektiv wahrnehmen können. Aus den ihm zurechenbaren Fehlern oder Versäumnissen dürfen für die Parteien keine Verfahrensnachteile entstehen. Als umfassendes, indes nicht explizit geregeltes Prozessgrundrecht tritt die Verfahrensfairness hinter die sich aus ihr ergebenden spezielleren Garantien der Gleichbehandlung und Waffengleichheit bzw. des Anspruchs auf Wahrung rechtlichen Gehörs zurück. Sie lässt sich als materielle Verhandlungspflicht zusammenfassend mit der Pflicht der Parteien zur Vornahme sämtlicher für das Mediationsverfahren förderlicher und zum Unterlassen aller für die Mediation nachteiliger Schritte kennzeichnen.108 Sie umfasst damit vor allem das Gebot, sich aktiv, kooperativ
105 Anders als der privatautonom von den Parteien beauftragte Mediator wird der Güterichter nicht aufgrund einer privatrechtlichen Mediationsvereinbarung, sondern auf Ersuchen des Prozessgerichts im Rahmen einer gerichtlichen Güteverhandlung tätig, die ihre Grundlage in einem auf § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO analog beruhenden Beschluss des Prozessgerichts findet. Vgl. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 109, 112, der § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO unmittelbar anwenden will. Für eine analoge Anwendung Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737. 106 Vgl. hierzu oben S. 401 ff. 107 Vgl. hierzu unten S. 459 ff. 108 So Hacke, Der ADR-Vertrag (2001), S. 46.
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und ernsthaft an der Verhandlung zu beteiligen und sie nicht treuwidrig zu verzögern, Angebote zu unterbreiten und jene der Gegenseite ernsthaft zu prüfen, den jeweils bestehenden Aufklärungspflichten nachzukommen und insbesondere die für die Beilegung des Konfliktes wesentlichen Informationen offenzulegen sowie Täuschungen, widerrechtliche Drohungen und sonstige unzulässige Einwirkungen auf die freie Willensentschließung zu unterlassen.109 Darüber hinaus ist es den Parteien untersagt, das Ergebnis der Verhandlungen vorwegzunehmen, vollendete Tatsachen zu schaffen und so zur Eskalation des Konfliktes beizutragen.110 Auf keinen Fall sind die Parteien zur Einigung verpflichtet oder gar auf ein bestimmtes Ergebnis festgelegt. Die Verhandlungspflicht verlangt aber und beschränkt sich zugleich auch darauf, dass sich die Parteien mit ihrem jeweiligen Verhandlungspartner gemeinsam auf die Suche nach einer Lösung ihres Konfliktes begeben.111 bb) Gleichbehandlungsgrundsatz und Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 2 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip) Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip ergibt sich für die Parteien das Recht auf die Gleichwertigkeit ihrer prozessualen Stellung vor Gericht und damit Waffengleichheit, für den Güterichter Neutralität und Allparteilichkeit. Aus der aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz fließenden Gewährleistung einer gleichen Verfahrensstellung ergibt sich für den Güterichter im Grundsatz die Pflicht zum Ausgleich struktureller Macht- und Informationsasymmetrien. cc) Anspruch auf Wahrung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) Der Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs („audiatur et altera pars“) ist als „prozessuales Urrecht“112 auch in der gerichtsverbundenen Mediation anwendbar und wird auf der Grundlage des Normzwecks und der Besonderheiten des Mediationsverfahrens ausgelegt. Er enthält ein umfassendes Partizipationsrecht der Parteien im Mediationsverfahren, das in dreifacher Hinsicht, nämlich als Informationsrecht, als Äußerungsbefugnis und gegenüber dem Güterichter als Berücksichtigungsgebot, konkretisiert ist. Die Parteien haben in der Mediation einen Anspruch darauf, die für eine informierte Entscheidung erforderlichen Informationen im Dialog mit den übrigen Beteiligten einzuholen und vom Mediator Gelegenheit zur Stellungnahme zu erhalten. Der 109
Vgl. Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 465 f.; Hacke, Der ADR-Vertrag (2001), S. 46. Vgl. hierzu auch die umfangreiche Liste bei Berger, RIW 2000, 1, 7. 110 Hacke, Der ADR-Vertrag (2001), S. 46; Horn, AcP 181 (1981), 255, 284. 111 Hacke, Der ADR-Vertrag (2001), S. 46; Nelle, Neuverhandlungspflichten (1993), S. 17, 324. 112 Heyde, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdBVerfR (2. Aufl. 1994), S. 1579, 1607.
II. Verfahrensgrundsätze
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Mediator ist gehalten, die von den Parteien vorgetragenen Sachverhalte zu berücksichtigen und diese, soweit sie für die Lösung des Konfliktes relevant sind, in die verfahrensleitende Verarbeitung des Streitstoffes einzubeziehen. dd) Richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) und Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) Dem Güterichter kommt im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation als Träger rechtsprechender Staatsgewalt die Garantie sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit in gleicher Weise zu, wie er diese im Rahmen seiner spruchrichterlichen Tätigkeit in Anspruch nehmen kann. Im Gegenzug obliegt er, wie dies auch für seine entscheidende Tätigkeit als Spruchrichter im Zivilprozess der Fall ist, auch im Rahmen seiner vermittelnden Tätigkeit als Güterichter in der gerichtsverbundenen Mediation der Bindung an Recht und Gesetz. Daraus ergibt sich eine Pflicht zu einer besonderen Sorgfalt im Hinblick auf typische Risikobereiche: Im Rahmen eines Untermaßverbotes eine hinreichende Information der Parteien sowie der Ausgleich von Macht- und Informationsasymmetrien, im Rahmen eines Übermaßverbotes das Verbot unangemessenen Einigungsdrucks. Von den übrigen in Betracht kommenden Verfahrensgarantien ist der Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) nicht einschlägig, da er auf den Güterichter wegen dessen Bestellung nach § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO nicht anwendbar ist. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) wird durch ein freiwillig durchgeführtes gerichtsverbundenes Mediationsverfahren nicht betroffen. Die Zulässigkeit obligatorischer Güteverfahren nach § 15a EGZPO wurde vom BVerfG ausdrücklich bestätigt. b) Vertragsautonome Mediation In der vertragsautonomen Mediation kommt eine Anwendung verfassungsrechtlicher Verfahrensgarantien vor allem über die mittelbare Drittwirkung
von Grundrechten im Rahmen der Generalklausel des § 242 BGB in Betracht. Seit der Lüth-Entscheidung113 ist anerkannt, dass dem Verfassungsrecht mittelbare Ausstrahlungswirkung als Leitbild und „Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts“114 zukommt. aa) Mittelbare Drittwirkung von Grundrechten Der normausfüllende Rückgriff auf verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien ergibt sich aus der thematischen Einschlägigkeit der jeweiligen Vorschriften und drängt sich – wie etwa beim Grundsatz des fairen Verfahrens – als natürlicher Anknüpfungspunkt geradezu auf. Denn der für die Mediation zentrale 113 114
BVerfGE 7, 198 = NJW 1958, 257 (Lüth). BVerfGE 7, 198, 205 = NJW 1958, 257, 257 (Lüth).
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und geradezu konstitutive Grundsatz des fairen Verfahrens ergibt sich als verfahrensübergreifender Grundsatz unmittelbar aus dem Verfassungsrecht und ist – abgesehen von dem nicht anwendbaren Art. 6 EMRK – einfachgesetzlich nicht geregelt. Da dem Verfassungsrecht als „objektive(r) Wertordnung“115 und „Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts“116 Leitbildfunktion für die gesamte objektive Rechtsordnung zukommt und die Rechtsordnung über die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Rahmen der Generalklauseln als Einfallstore eine Anwendbarkeit dieser Verfassungsgrundsätze auch im horizontalen Verhältnis zwischen Privaten vorsieht, ist kein Grund ersichtlich, warum die funktional einschlägigen und sinnvollen Verfahrensgrundsätze – wie etwa die der Verfahrensfairness – nicht für die vertragsautonome Mediation fruchtbar gemacht werden sollten. Die vom Verfassungsgeber und der Rechtsprechung getroffenen Wertentscheidungen haben – soweit sie sachlich übertragbar sind – auch und gerade für das Mediationsverfahren Gültigkeit und dürfen nicht ignoriert werden. Die im Schrifttum teilweise geäußerte Furcht vor einer Überstrapazierung des Verfassungsrechts117 ist nicht angezeigt, weil ihm die das Privatrecht prägende Funktion als Wertsystem von der Rechtsordnung gerade zugewiesen wurde und die rechtsgewährleistende Leitbildfunktion zu den zentralen und vornehmsten Aufgaben des Verfassungsrechts gehört. Soweit die Verfahrensgrundrechte – etwa der Anspruch auf Gewährleistung eines fairen Verfahrens als grundlegendes prozessuales Urrecht118 – durch die Rechtsprechung des BVerfG Konturen gewonnen haben, kann auf diese Grundsätze zur Konkretisierung der allgemeinen Rechtspflicht zur fairen Verhandlung durch die Parteien bzw. zur fairen Verhandlungsleitung durch den Mediator nach dem Grundsatz von Treu und Glaube gem. § 242 BGB zurückgegriffen werden. Die Privatautonomie des Mediationsverfahrens steht dem nicht entgegen, das sich die Parteien bewusst für ein Verfahren mit ganz spezifischen Verfahrensqualitäten und Grundprinzipien entschieden haben. Hierfür auf das Verfassungsrecht als einzig verfügbarer und zugleich maßgebender Rechtsquelle für einen verfahrensübergreifend anwendbaren Grundsatz der Verfahrensfairness zurückzugreifen, der als Rechtssatz höchster Ordnung über seinen unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus Leitbildfunktion für alle Bereiche des Rechts beanspruchen kann, ist sachlich sinnvoll und rechtlich geboten. Die Orientierung der Privatrechtsbeziehungen an den Wertentscheidungen des Verfassungsrechts ist kein dem Privatrecht wesensfremder Fremdkörper, sondern gerade in
115
BVerfGE 7, 198, 205 = NJW 1958, 257, 257 (Lüth). BVerfGE 7, 198, 205 = NJW 1958, 257, 257 (Lüth). 117 Für die Neutralität und Unabhängigkeit des Mediators Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 43. 118 Heyde, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdBVerfR (2. Aufl. 1994), S. 1579, 1607. 116
II. Verfahrensgrundsätze
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Zeiten zunehmender Rechtszersplitterung in besonderer Weise erforderlich. Das Verfassungsrecht ist bei der Auslegung schuldrechtlicher Verträge stets zu beachten.119 Dies gilt umso mehr, als mit dem Fairnessgebot bereits ein hinreichend ausdifferenziertes normatives Leitbild von Verfassungsrang zur Verfügung steht. Als Ertrag bleibt damit festzuhalten: 1. Vertragsrecht als Grundlage. Die Verfahrensgrundsätze der Mediation ergeben sich grundsätzlich ausdrücklich oder implizit aus der Mediationsvereinbarung und dem Mediatorvertrag als den dem Mediationsverfahren zugrunde liegenden Vertragsbeziehungen. 2. Auslegungsgrundsätze. Die vertraglichen Grundlagen der Mediation sind vor allem dort, wo sie keine ausdrückliche Regelung treffen, im Lichte des anerkannten Leitbildes des Mediationsverfahrens als eines Verfahrens auszulegen, das durch spezifische Strukturmerkmale und Verfahrensgrundsätze gekennzeichnet ist. 3. Verfassungsrecht als Leitbild. Soweit diese Verfahrensgrundsätze durch das Verfassungsrecht eine Regelung und durch die verfassungsrechtliche Judikatur eine Konkretisierung erfahren haben, sind sie in entsprechender Weise auf das Mediationsverfahren anwendbar. Denn das Verfassungsrecht stellt keine wertneutrale Ordnung dar, sondern richtet eine objektive Wertordnung auf, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten muss.120 Von ihm gehen auch für das Privatrecht „Richtlinien und Impulse“ aus. Es beeinflusst damit „selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.“121 Einigen sich die Parteien mit der Mediation auf ein Verfahren, das als „gerechtes Verfahren“ in besonderer Weise durch den Grundsatz der Verfahrensfairness ausgezeichnet ist und das in seinen allgemein anerkannten Verfahrensgrundsätzen auf verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien Bezug nimmt122, so ist der Inhalt dieser
119 BVerfGE 84, 192 = NJW 1991, 2411, 2411 f.: „Der Richter hat kraft Verfassungsgebots zu prüfen, ob von der Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften im Einzelfall Grundrechte berührt werden. Trifft das zu, dann hat er diese Vorschriften im Lichte der Grundrechte auszulegen und anzuwenden … . Verfehlt der Richter diese Maßstäbe und beruht sein Urteil auf der Außerachtlassung dieses verfassungsrechtlichen Einflusses auf das Privatrecht, so verstößt er nicht nur gegen objektives Verfassungsrecht, indem er den Gehalt der Grundrechtsnorm (als objektiver Norm) verkennt, er verletzt vielmehr als Träger öffentlicher Gewalt durch sein Urteil das Grundrecht des Bürgers.“ Vgl. auch BVerfGE 7, 198 = NJW 1958, 257; BVerfGE 81, 40 = NJW 1990, 1352, 1353. Hervorhebungen durch den Verfasser. 120 BVerfG NJW 2004, 2008, 2009; NJW 2000, 2495, 2495; BVerfGE 73, 261 = NJW 1987, 827, 827. 121 BVerfGE 7, 198, 205. 122 Vgl. den europäischen Verhaltenskodex für Mediatoren, ZKM 2004, 148. Abrufbar unter http://ec.europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct_en.pdf (zuletzt abgerufen
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
Verfahrensgrundsätze zunächst dem Verfassungsrecht als legislativem, für die gesamte Rechtsordnung verbindlichem Leitbild zu entnehmen. Maßgebend sind dabei die Verfahrensgarantien, wie sie durch die konkretisierende Rechtsprechung des BVerfG Gestalt angenommen haben. 4. Teleologische Auslegung. Dass die grundgesetzlichen Verfahrensgarantien auf das richterliche Entscheidungsverfahren und damit auf eine vom Mediationsverfahren in seiner Struktur grundsätzlich verschiedene Gefährdungssituation zugeschnitten sind, steht einer Anwendung im Wege mittelbarer Drittwirkung nicht entgegen. Die verfassungsrechtlichen Garantien sind vielmehr auf den ihnen zugrunde liegenden verallgemeinerungsfähigen Wesensgehalt zurückzuführen und im Wege der teleologischen Interpretation entsprechend ihres Sinns und Zweckes auf das Mediationsverfahren zu übertragen. Als abstraktes Verfassungsprinzip enthält etwa der Grundsatz des fairen Verfahrens den allgemeinen Anspruch auf gleiche und angemessene Partizipation der Beteiligten am Verfahren, so dass dessen Zweck effektiv verwirklicht werden kann. Die Konkretisierung dieses allgemeinen Grundsatzes erfolgt entsprechend der Struktur und des Zweckes der jeweiligen Verfahren. Im Kern geht es damit um den Schutz der den Beteiligten jeweils zukommenden Verfahrensposition. Während dieser Schutz im gerichtlichen Verfahren auf die Gewährleistung einer umfassend informierten Sachentscheidung durch den Richter gerichtet ist – was voraussetzt, dass dieser sich durch gleiche Äußerungsmöglichkeiten der Parteien ein ausgewogenes Bild von der Sach- und Rechtslage verschaffen kann –, ist sie in der Mediation auf die Gewährleistung einer umfassend informierten, tatsächlich freien Sachentscheidung durch die Parteien gerichtet. Eine solche auf Privatautonomie der Parteien gegründete Partizipation am Verfahren ist trotz des privatautonomen Charakters der Entscheidungsstruktur gefährdet, wenn eine Partei ihre Verfahrensposition zu ihrem eigenen Vorteil und zum Nachteil des Verhandlungspartners ausnutzt und diesen an der tatsächlichen, wirksamen Mitwirkung an der Sachentscheidung hindert. 5. Schutzbedürfnis auch im horizontalen Verhältnis zwischen Privaten. Auch im horizontalen Verhältnis zwischen Privaten besteht ein erhebliches
am 27.11.2017). „Der Mediator leitet das Verfahren in angemessener Weise und berücksichtigt die jeweiligen Umstände des Falls, einschließlich einer ungleichen Machtverteilung und des Rechtsstaatsprinzips … .“ Vgl. auch den englischen Text der Vorschrift: „The mediator shall conduct the proceedings in an appropriate manner, taking into account the circumstances of the case, including possible power imbalances and the rule of law … .“ Der Verhaltenskodex wurde von der Europäischen Kommission nach intensiven Beratungen mit den europäischen Mediationsverbänden als unverbindliche Empfehlung verabschiedet. Auch wenn er keine verbindliche Rechtsgeltung beanspruchen kann, so spiegelt er doch den geltenden Konsens über die allgemein anerkannten Grundsätze für das Verhalten von Mediatoren im Mediationsverfahren wider. (Hervorhebungen durch den Verfasser).
II. Verfahrensgrundsätze
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Schutzbedürfnis des Einzelnen vor einer Beeinträchtigung seiner grundlegenden subjektiven Rechte, das auch und gerade in einer liberalen Privatrechtsordnung die Anwendung von Grundrechten gebietet, die ursprünglich als Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat verstanden worden sind. Gerade der Schutz der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Privatautonomie gebietet es, Beeinträchtigungen ihrer tatsächlichen Ausübung mit den Mitteln des Verfassungsrechts entgegenzutreten. Denn auch wenn sich „im Vertragsrecht … der sachgerechte Interessenausgleich aus dem übereinstimmenden Willen der Vertragspartner“ ergibt, so wird er zur Illusion, wenn „einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht hat, daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann“123. Ist dies der Fall, so bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung.124 Gerade um den auf die freie Willensausübung der Beteiligten gegründeten Rechtsverkehr im Privatrecht zu schützen, hat die Rechtsordnung die tatsächliche Ausübung der Privatautonomie in besonderer Weise zu schützen. Ein solcher Schutz grundlegender Rechtspositionen ist kein dem Privatrecht fremder Zweck. Im Gegenteil ist heute anerkannt, „daß die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs taugt und daß der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört … Im Sinne dieser Aufgabe lassen sich große Teile des Bürgerlichen Gesetzbuchs deuten.“125 Diese Zielrichtung des Privatrechts darf nicht als Beschränkung des privatautonomen Handelns der Vertragspartner missverstanden werden. Denn tatsächlich ist sie auf nicht weniger, aber auch nicht auf mehr als das Ziel gerichtet, eine tatsächliche Ausübung der grundgesetzlich geschützten Handlungsfreiheit im privaten Rechtsverkehr sicherzustellen. Sie zwingt dabei gleichwohl zu einem nüchternen, bisweilen schmerzhaften Blick auf die Realität des Rechtsverkehrs, der einen Abschied von irrealen Wunschvorstellungen des Zusammenwirkens grundsätzlich gleich starker Verhandlungspartner erfordert. Entsprechend hat schon das Reichsgericht das Modell einer ausschließlich formal gleichen Teilnahme der Parteien am Privatrechtsverkehr aufgegeben und „in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt“126. Die aktuelle Rechtsentwicklung ist – wie etwa die stetig wachsende Gesetzgebung zum Verbraucherschutz zeigt – sowohl auf einzelstaatlicher wie auch auf europäischer Ebene von einer zunehmenden verfahrensrechtlichen Privatautonomie im horizontalen Verhältnis zwischen Privaten geprägt. Die Notwendigkeit des Rückgriffs auf verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien ergibt sich dabei insbesondere aus dem Fehlen hinreichend konkreter privater Schutznormen. 123
BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 39 (Bürgschaft). BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 39 (Bürgschaft). 125 BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38 f. (Bürgschaft). 126 BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38 (Bürgschaft). 124
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
6. Generalklauseln als Einfallstore für Verfassungsrecht. Dieser Schutz erfolgt in weitem Umfang durch Verfassungsrecht, das durch die Generalklauseln als Einfallstore in das Privatrecht hineinwirkt. Denn „der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektive Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften. Wie neues Recht im Einklang mit dem grundrechtlichen Wertsystem stehen muß, so wird bestehendes älteres Recht inhaltlich auf dieses Wertsystem ausgerichtet; von ihm her fließt ihm ein spezifisch verfassungsrechtlicher Gehalt zu, der fortan seine Auslegung bestimmt. … In diesem Zusammenhang haben die Generalklauseln des Bürgerlichen Gesetzbuchs zentrale Bedeutung.“127 Sie bilden den Rahmen, innerhalb dessen die Wertordnung des Grundgesetzes in das Privatrecht und damit auch in die Rechtsbeziehung zwischen Privaten ausstrahlt. 7. Verfassungsrecht als Maßstab des § 242 BGB. Den normativen Anknüpfungspunkt bildet die Pflicht der Parteien nach § 242 BGB, ihr Verhalten an den Maßstäben von Treu und Glauben und an der Verkehrssitte auszurichten. Die Vorschrift unterwirft die Beteiligten auf der Grundlage der zwischen ihnen geschlossenen Mediationsvereinbarung bzw. des Mediatorvertrages einer vertraglichen Nebenleistungspflicht, die sie zu besonderer Rücksichtnahme und zur uneingeschränkten Förderung des zwischen ihnen geschlossenen Verfahrensvertrages verpflichtet. Nimmt dieser Vertrag mit der Vereinbarung eines Mediationsverfahrens auf das allgemein anerkannte Leitbild eines Verfahrens interessenorientierter Verhandlung mit Drittunterstützung128 Bezug, so sind die dieses Verfahren prägenden Grundsätze der Verkehrssitte, soweit sie im Verfassungsrecht Konturen gewonnen haben, dem Verfassungsrecht zu entnehmen. Für das Mediationsverfahren sind seit jeher in Literatur und Praxis etwa die Verfahrensgrundsätze der Neutralität des Mediators und der Fairness des Verfahrens (good faith mediation)129 anerkannt. Allerdings besteht in der Frage, was unter diesen Grundsätzen im Einzelnen zu verstehen ist, kein allgemein anerkannter Konsens. Hier kann zur inhaltlichen Konkretisierung auf die verfassungsrechtlichen Leitbilder der richterlichen Neutralität und des fairen Verfahrens zurückgegriffen werden, die durch die Judikatur des BVerfG eine klare Kontur erhalten haben. Als Wertmaßstäbe haben sie, soweit sie thematisch einschlägig sind, für alle Bereiche des Rechts und damit auch für die Auslegung privatvertraglicher Verfahrensregelungen Geltung. Dies gilt umso mehr, als sich Anhaltspunkte für eine inhaltliche Konkretisierung häufig weder aus den der Mediation zugrunde liegenden Verfahrensverträgen der Parteien noch aus der Verkehrssitte oder einfachgesetzlichen Regelungen ergeben. In 127
BVerfGE 7, 198, 205 = NJW 1958, 257, 257 (Lüth). Zur Definition des Mediationsverfahrens vgl. oben S. 38 Fn. 8, zu seiner Struktur oben S. 107 ff., zu seiner Funktion unten S. 558 ff. 129 Hierzu Biller, 18 Campbell L. Rev. 281 (1996); Kovach, Winter 1997 Disp. Resol. Mag. 9 (1997); Alfini/McCabe, 54 Ark. L. Rev. 171, 171, 173 ff. (2001). 128
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diesen Fällen sieht die Rechtsordnung über das Medium der Generalklauseln einen Rückgriff auf verfassungsrechtliche Wertungen vor. Die grundgesetzlich verankerten Verfahrensgarantien sind dabei auf ihren Kerngehalt zurückzuführen und im Rahmen einer teleologischen Interpretation entsprechend auf das Mediationsverfahren als privatautonomes Konsensualverfahren zu übertragen. bb) Verfahrensfairness Über den Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB wird dabei auch in der vertragsautonomen Mediation insbesondere der Grundsatz des fairen Verfahrens anwendbar, der als allgemeines Prozessgrundrecht den Auffangtatbestand und die zentrale Anspruchsgrundlage für den Themenkomplex der Verfahrensgerechtigkeit bildet. In der Mediationspraxis und im verhandlungstheoretischen Schrifttum ist das Gebot des fairen Verfahrens seit jeher als wesentlicher Grundsatz des Mediationsverfahrens allgemein anerkannt. Dieser Grundsatz findet seine Grundlage regelmäßig in der Mediationsvereinbarung bzw. dem Mediatorvertrag, in denen er entweder ausdrücklich geregelt ist oder aus denen er sich als implizite Nebenpflicht ergibt. Denn die der Mediation zugrunde liegenden Vertragsverhältnisse sind regelmäßig im Licht der anerkannten Grundsätze des Mediationsverfahrens auszulegen, deren prozeduraler Verwirklichung sie zu dienen bestimmt sind. Zu diesen Grundsätzen gehört nach allgemeiner Ansicht seit jeher das Fairnessgebot, das sich als verfahrensimmanentes Prinzip unmittelbar aus der Natur des Mediationsverfahrens ergibt, das nur ein faires, auf Kooperation gegründetes Verfahren denkbar ist.130 Im anglo-amerikanischen Recht hat dieser Grundsatz als „good faith mediation“ Konturen gewonnen. Im deutschen Recht ergibt sich aus § 242 BGB die allgemeine Rechtspflicht, nach dem Grundsatz von Treu und Glaube zu verhandeln.131 Dabei strahlt der verfassungsrechtliche Grundsatz des Anspruchs der Parteien auf ein faires Verfahren im Wege der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte in die gebotene ausfüllende Konkretisierung der Generalklau-
130 Zur Qualität der Mediation als gerechtes Verfahren oben S. 179 ff., zur Mediation als New Equity oben S. 230 ff. sowie Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329 (2005). 131 So ausdrücklich Berger, RIW 2000, 1, 3. Zu den konkreten Verhaltensanforderungen an die Parteien im Fall von Neuverhandlungspflichten Hacke, Der ADR-Vertrag (2001), S. 45 f., 252; Nelle, Neuverhandlungspflichten (1993), S. 304; Horn, AcP 181 (1981), 255, 283 f.; Horn, in: Justiz (Hrsg.), Gutachten Schuldrecht I (1981), S. 551, 641. Für eine materielle Verhandlungspflicht ebenfalls Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 465; Eidenmüller, in: Breidenbach/CoesterWaltjen/Hess/Nelle/Wolf (Hrsg.), Konsensuale Streitbeilegung (2001), S. 45, 64; Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz (1999), S. 709 ff., 790 ff., 823 ff.; A.A. dagegen für das Schweizer Recht Eiholzer, Die Streitbeilegungsabrede (1998), S. 542 ff., 552 ff.
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
sel des § 242 BGB hinein und wird selbst durch die Anwendung auf das Verhältnis der Parteien zueinander auf der einen und zum Mediator auf der anderen Seite aktualisiert. Danach sind die Parteien zur Einhaltung der wesentlichen Grundsätze des Mediationsverfahrens und zu einem Verhalten verpflichtet, der der jeweils anderen Seite eine effektive Wahrnehmung ihres Rechts auf informierte, privatautonome Sachentscheidung ermöglicht. Den Mediator trifft der gleiche Pflichtenkanon wie den Güterichter im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation: Er ist als Hüter der Privatautonomie und Wächter der Verfahrensintegrität dafür verantwortlich, dass das Mediationsverfahren entsprechend der ihm immanenten Grundsätze durchgeführt wird und die Parteien die ihnen zukommende Rolle effektiv wahrnehmen können. cc) Gleichbehandlungsgrundsatz und Waffengleichheit Wie in der gerichtsverbundenen Mediation ergibt sich aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG auch für die vertragsautonome Mediation – jedenfalls mittelbar – das Gebot der Waffengleichheit der Parteien und der Grundsatz der Neutralität des Mediators. Neutralität kann und darf dabei nicht bedeuten, dass der Mediator die Parteien gleich behandelt, obwohl sie tatsächlich ungleich sind. Aus der Gewährleistung einer gleichen Verfahrensstellung folgt für den Güterichter stattdessen die grundsätzliche Pflicht zum Ausgleich struktureller Macht- und Informationsasymmetrien. Die Kriterien, die dabei konkret anzuwenden sind, haben wir bereits im Rahmen unseres Verfahrensmodells herausgearbeitet.132 dd) Rechtliches Gehör Im Rahmen der vertragsautonomen Mediation sind als Leitbild ebenfalls die Grundsätze heranzuziehen, die in Konkretisierung des Anspruchs der Parteien auf die Gewährung rechtlichen Gehörs entwickelt worden sind. Dabei handelt es sich um die Ausgestaltung konkreter Verfahrensgrundsätze, die für die Mediation seit jeher unbestritten anerkannt sind und die im Verfassungsrecht ihre normative Ausprägung erfahren haben. Mit ihrer Verortung in den verfassungsrechtlich garantierten Verfahrensgrundrechten werden sie auf eine normative Grundlage gestellt und im System des objektiven Rechts verankert. Soweit sie als Ergebnis der Judikatur des BVerfG auf den Zivilprozess bezogen sind, müssen sie von der Orientierung auf ein Drittentscheidungsverfahren losgelöst und teleologisch auf die Situation des vermittelnden Mediationsverfahrens übertragen werden.133
132 133
Vgl. hierzu oben S. 365 ff. Vgl. hierzu eingehend oben S. 404 f.
II. Verfahrensgrundsätze
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Die Trias der Verfahrensgrundsätze der Informationsrechte und Äußerungsbefugnisse der Parteien sowie des Berücksichtigungsgebotes des Mediators findet auch in der vertragsautonomen Mediation Anwendung: Weil die Beilegung des Konfliktes eine informierte, privatautonome Entscheidung und eine kooperative Zusammenarbeit der Parteien erfordert, muss den Parteien die Möglichkeit zustehen, die für eine solche Entscheidung erforderlichen Informationen zu erhalten.134 Darüber hinaus müssen beide Parteien ausreichend Gelegenheit erhalten, sich zu äußern und zum Konflikt inhaltlich Stellung zu nehmen. Schließlich darf der Mediator die Diskussion der Parteien nicht ignorieren, sondern muss durch aktives Zuhören, Paraphrasieren, Zusammenfassen und spezielle Fragetechniken den vorgetragenen Konfliktstoff verarbeiten, für die Parteien aufbereiten und in eine mögliche Lösung mit einbeziehen. 2. Grundsätze des Mediationsverfahrens Nachdem wir im vorangegangenen Abschnitt die Frage der Anwendbarkeit der verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien auf das Mediationsverfahren untersucht haben135, wollen wir nun die spezifischen Verfahrensgrundsätze der Mediation in den Blick nehmen. Dabei handelt es sich um Grundsätze, die für das Mediationsverfahren konstitutiv prägend sind und ihm seine ihm eigene, unverwechselbare Struktur verleihen. In der Mediationspraxis136 wie auch in der Literatur137 hat sich schon früh ein allgemein anerkannter Kanon von Verfahrensgrundsätzen herausgebildet, der das Mediationsverfahren insgesamt charakterisiert. Während über den Inhalt dieses Kanons weitgehend Einigkeit besteht, ist im Detail indes häufig unklar, was unter den Verfahrensgrundsätzen im Einzelnen zu verstehen ist. Ziel unserer Untersuchung ist daher vor allem eine inhaltliche Klärung vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen und dogmatischen Befundes. Zu
134
Zur zentralen Bedeutung tatsächlicher Privatautonomie in der Mediation vgl. oben oben S. 336 ff., 459 ff. sowie unten S. 586 ff. 135 Vgl. oben S. 450 ff. 136 Vgl. nur Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, Abgedruckt in ZKM 2004, 148 f., abrufbar unter http://www.ec.europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct _en.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017), die Verfahrensordnung des Bundesverbandes für Mediation in Wirtschaft und Arbeitswelt e.V. (BMWA); http://www.bmwa-deutschland.de/index.php/de/downloads/16.html (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). Vgl. auch die Richtlinien der Bundes-Arbeitsgemeinschaft für Familien-Mediation (BAFM) für die Mediation in Familienkonflikten, https://www.bafm-mediation.de/verband/organisation/richtlinien-der-bafm/ (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 137 Duve, 15 Alternatives to High Cost Litig. 126 (1997); Hoffman, Alternatives to High Cost Litig. 147 (2000); Kovach, Mediation (3. Aufl. 2004), S. 211 ff., 262 ff., 395 ff.; Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 5, 10 ff., 59 ff.; Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2013), S. 3 ff.
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Beginn unserer Betrachtung der Verfahrensgrundsätze haben wir bereits gesehen, dass diese im Mediationsverfahren – anders als im Zivilprozess – weitgehend mit jenen Strukturmerkmalen identisch sind, die wir im Rahmen unserer Strukturanalyse herausgearbeitet haben. Inhaltlich bestehen darüber hinaus Überschneidungen mit den verfassungsrechtlich begründeten Verfahrensprinzipien des vorangegangenen Abschnitts: Die speziellen Verfahrensprinzipien der Mediation finden ihre Begründung zu weiten Teilen auch im Verfassungsrecht. Im Folgenden wollen wir die einzelnen Verfahrensprinzipien der Mediation und ihre Begründung eingehend in den Blick nehmen, sie inhaltlich bestimmen und schließlich typische Gefährdungen sowie geeignete Strategien zu ihrem wirksamen Schutz untersuchen. a) Privatautonomie Die Privatautonomie gehört zu den zentralen Verfahrensgrundsätzen der Mediation. Sie ist für das Mediationsverfahren in besonderer Weise prägend und zugleich konstitutiv: Die Mediation ist, weil sie den Konsens der Parteien voraussetzt und in ihrer gesamten Struktur auf eine eigenverantwortliche Entscheidung ausgerichtet ist, nur als privatautonomes Verfahren denkbar. Die Privatautonomie ist damit zugleich auch das zentrale Merkmal, das die Mediation vom Zivilprozess als heteronomem Verfahren hoheitlicher Drittentscheidung unterscheidet. Sie ergibt sich aus dem Wesen des Verfahrens selbst und der in der Mediationsvereinbarung enthaltenen Verhandlungsabrede, die auf die Beilegung des Konfliktes durch die Einigung der Parteien auf einen Mediationsvergleich gerichtet ist. aa) Begriffsbestimmung Der Begriff der Privatautonomie bezeichnet dabei die Befugnis des Einzelnen, seine privaten Lebensverhältnisse im Rahmen der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen und entsprechend seiner Bedürfnisse mit den Mitteln des Rechts frei zu gestalten.138 Als Kehrseite der grundgesetzlich in Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit garantiert die Privatautonomie die „Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben“139. Sie gewährt ihm einen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch darauf, seine Konflikte eigenverantwortlich und ohne Inanspruchnahme der staatlichen Gerichte beizulegen und selbst zu bestimmen, wie bestehende Interessenkonflikte aus seiner Sicht 138
Grundlegend BVerfGE 72, 155) = NJW 1986, 1859, 1860 im Anschluss an Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 1: „das Prinzip der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den Einzelnen nach seinem Willen“. Ebenso v. Hippel, Privatautonomie (1936), S. 62; Bydlinski, Privatautonomie (1967), S. 173; Wolf, Entscheidungsfreiheit (1970), S. 19; Lorenz, Schutz (1997), S. 15; Larenz/Wolf, BGB AT (9. Aufl. 2004), S. 26. 138 Vgl. hierzu bereits die Nachweise oben Fn. 138 genannten Nachweise. 139 BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38 (Bürgschaft).
II. Verfahrensgrundsätze
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angemessen auszugleichen sind. Kennzeichen privatautonomen Handelns ist damit auf der einen Seite die Freiheit der eigenverantwortlichen Selbstbestimmung auf der Grundlage der eigenen Bedürfnisse, auf der anderen Seite seine Legitimation, Verwirklichung und Begrenzung durch die Rechtsordnung. Für das richtige Verständnis der Privatautonomie und damit auch des Verhältnisses von Mediation und Verfahrensrecht sind beide Dimensionen von entscheidender Bedeutung. Die Perspektive auf die Privatautonomie bleibt nämlich einseitig, wenn sie allein auf die Freiheit der Rechtsgestaltung, die Regelungsautonomie und die Nichteinmischung des Staates in die Privatrechtsgestaltung reduziert wird. Die Freiheit zur eigenverantwortlichen Gestaltung der Lebensverhältnisse lässt sich nicht einfach auf eine von der objektiven Rechtsordnung losgelöste, vorrechtliche „Selbstgesetzgebung“ des Einzelnen reduzieren.140 Die Privatautonomie stellt keine Rechtsquelle eigener Art dar. Die Parteien schaffen nicht, wie es im Schrifttum bisweilen anklingt, ihr „eigenes Recht“.141 Die Privatautonomie wird von der Rechtsordnung nicht als ihr zugrunde liegendes Prinzip vorausgesetzt, sondern leitet sich im Gegenteil erst aus ihr ab, sie bedarf der Rechtsordnung notwendig als Korrelat.142 Denn privatautonome Selbstbestimmung ist als rechtliches, d.h. über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinauswirkendes Handeln überhaupt erst dann denkbar, wenn sie von der Gemeinschaft als Ganzes aufgrund allgemeingültiger Regeln als legitim anerkannt wird. Dies setzt voraus, dass die Rechtsordnung materielle und prozessuale Regelungen zur Verfügung stellt, um der privaten Willensäußerung rechtliche Wirkung zu verleihen. Die Beteiligten sind zur rechtlichen Durchsetzung ihrer Vereinbarung auf die Rechtsordnung angewiesen. Privatautonomie bezeichnet damit einen Rechtsgestaltungsfreiraum, den die Rechtsordnung den Parteien ausdrücklich einräumt und dessen Grenzen sie zugleich bestimmt. Diese Bedingtheit der Privatautonomie durch die Rechtsordnung kennzeichnet zugleich das Verhältnis der Mediation zum Recht, das wir bereits eingehend in den Blick genommen haben: Die Mediation als klassische Form privatautonomer Streitbeilegung erfolgt im „Schatten des Rechts“. Wie wir gesehen haben, konstituiert sie keineswegs eine vom Recht abgekoppelte autonome Ordnung, sondern ist auf vielfältige Weise mit dem Recht verflochten und auf rechtliche Durchsetzungsmechanismen angewiesen.
140
Busche, Privatautonomie (1999), S. 16. Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 107, Warwel, Gerichtsnahe Mediation (2007), S. 28. 142 Larenz/Wolf, BGB AT (9. Aufl. 2004), S. 642; Lorenz, Schutz (1997), S. 15 f.; Canaris, AcP 184 (1984), 201, 217 ff.; Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 1 ff. 141
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bb) Voraussetzungen: Information und self-agency Aus dieser Verknüpfung mit dem materiellen und prozessualen Recht ergeben sich zwei wesentliche Anforderungen an die Ausübung der Privatautonomie, die für die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens, insbesondere für die Rollendefinition des Mediators von erheblicher Bedeutung sind: Zum einen die Informiertheit der Beteiligten, zum anderen die tatsächliche Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln (self-agency)143. Informiertheit. Privatautonomes Handeln setzt Information voraus. Nur wenn die Parteien hinreichend über alle sachlichen und rechtlichen Aspekte des Konfliktes informiert sind, sind sie auch in der Lage, eine in tatsächlicher Weise eigenverantwortliche Einigungsentscheidung zu treffen. Da dem Mediator der Schutz der Verfahrensintegrität und damit auch die Wahrung der Privatautonomie als grundlegendem Verfahrensgrundsatz obliegen144, bestimmen die Anforderungen an die effektive Ausübung der Privatautonomie zugleich den Pflichtenkreis des Mediators. Als „Hüter der Privatautonomie“ kommt ihm die zentrale Aufgabe zu sicherzustellen, dass die Parteien ihre Einigungsentscheidung auf ausreichender Tatsachengrundlage und damit hinreichend informiert getroffen haben. Ihn trifft daher eine Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht, deren Umfang von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängt.145 self-agency. Privatautonomie setzt zudem nicht nur die theoretische, sondern auch die tatsächliche Fähigkeit des Einzelnen voraus, seine Interessen effektiv wahrzunehmen. Ist dies – etwa aufgrund eines erheblichen Machtungleichgewichts oder aufgrund einer Informationsasymmetrie – nicht der Fall, ist der Mediator zum Ausgleich einer bestehenden Verhandlungsimparität verpflichtet, soweit dies erforderlich ist, um die Voraussetzung privatautonomen Handelns herzustellen. Diese Verhaltenspflicht des Mediators ist dogmatisch in der Privatautonomie der Parteien als wesentlichem Verfahrensgrundsatz verortet.
143 Zur Bedeutung tatsächlicher Privatautonomie als prägendem Wesensmerkmal und Grundsatz des Mediationsverfahrens oben S. 336 ff., 459 ff. sowie sowie unten S. 586 ff. Zur Problematik mangelnder self-agency eingehend oben S. 344 ff., 350. 144 Zur Rolle des Mediators eingehend oben S. 309 ff. 145 Eingehend hierzu oben S. 360 ff. (vertragsautonome Mediation) sowie oben S. 408 (gerichtsverbundene Mediation).
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cc) Privatautonomie und Freiwilligkeit: Zulässigkeit der obligatorischen Mediation Dem Begriff der Privatautonomie ist darüber hinaus der Begriff der Freiwilligkeit immanent.146 Privatautonomes Handeln ist stets nur als freies Handeln vorstellbar. Ein Zwang zur Privatautonomie ist ein Widerspruch in sich. Allerdings ist im Kontext der Mediation deutlich zwischen der Freiwilligkeit der Einigung (Abschlussfreiheit) und der Freiwilligkeit der Teilnahme am Mediationsverfahren (Verhandlungsfreiheit) zu differenzieren.147 Während die Abschlussfreiheit der Mediation – wie auch jedem rechtsgeschäftlichen Handeln – immanent ist und freilich auch nicht infrage gestellt wird, ist die Verhandlungsfreiheit, wie schon ein Blick in die Praxis obligatorischer gerichtsverbundener Mediationsprogramme in den USA zeigt, nicht notwendig Teil privatautonomer Streitbeilegung.148 Im Gegenteil eröffnet häufig erst die Verpflichtung zur Teilnahme an einer Mediation den Parteien die tatsächliche Möglichkeit, bestehende Vorurteile gegenüber alternativen Streitbeilegungsverfahren zu überwinden und ihren Konflikt tatsächlich eigenverantwortlich beizulegen. Denn die Verpflichtung, an einer Mediation teilzunehmen, bedeutet nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die Optionen für privatautonomes Handeln kennenzulernen, zu prüfen und sich frei für oder gegen die eigenverantwortliche Beilegung des Konfliktes zu entscheiden. Damit ist indes keine Einengung, sondern im Gegenteil eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten und damit ein Freiheitsgewinn im Sinne privatautonomen Handelns der Beteiligten verbunden. b) Kooperation Ebenso wie die Privatautonomie und die übrigen Verfahrensgrundsätze ist der Grundsatz der Kooperation der Mediation immanent. Mediation ist nur als ein zwingend kooperatives Verfahren denkbar. Das Kooperationsgebot ist bereits in der Struktur der Mediation als konsensualem Verfahren angelegt und ergibt sich darüber hinaus unmittelbar aus dem Grundsatz der Privatautonomie. Durch das Fehlen eines heteronom entscheidenden Dritten ist das Mediationsverfahren auf eine eigenverantwortliche Einigungsentscheidung der Parteien angelegt, die zu ihrer Verwirklichung eines Mindestmaßes an Kooperation be-
146 Vgl. hierzu Art. 3a S. 1 der Mediationsrichtlinie, vgl. hierzu oben S. 61, Fn. 340 mwN.; Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2738, 2742; Löer, ZZP 119 (2006), 199, 199, 201 ff. 147 Eingehend hierzu Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2742. 148 Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2742. A.A. Oehlerking, in: Greger/Unberath (Hrsg.), Zukunft der Mediation (2008), S. 55, 60. Eingehend zu der Problematik aus der empirischen Perspektive der Modellprojekte in Deutschland Gottwald, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963, 967 f.
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darf. In ihrer kooperativ-privatautonomen Struktur stellt sie den komplementären Gegenpol zu dem auf eine heteronome Entscheidung in einem kontradiktorischen Verfahren ausgerichteten Zivilprozess dar. aa) Ursprung und Struktur des Kooperationsgebotes Seinen Ursprung findet das Kooperationsgebot als grundlegendes Prinzip menschlichen Lebens in der auf die caritas gegründeten Ausrichtung des Menschen auf sein Gegenüber, die in der regula aurea als „sittliche(r) Grundformel der Menschheit“149, als „Naturgesetz“150 und „elementare(m) Gesetz allen Rechts schlechthin“151 ihre konkrete, in eine praktische Verhaltensnorm operalisierbare Ausprägung gefunden hat. Der Grundsatz der Kooperation, der schon nach seinem Wortsinn (co-operatio) ein Mit- und Zusammenwirken zur Verwirklichung eines gemeinsamen Zieles umfasst, bildet als Grundprinzip des Lebens152 die Grundlage der Erhaltung der notwendigen Lebensbedingungen und darüber hinaus der vollen Entfaltung des Einzelnen und seiner individuellen und sozialen Anlagen, die nicht in der abgeschotteten Isolation der Selbstbezogenheit, sondern nur in der menschlichen Gemeinschaft gelingen kann, die in einem organischen Wechselverhältnis stets auch auf den anderen hin ausgerichtet und auf ihn angewiesen ist. Kooperation ist als natürliche, seinem Wesen zutiefst entsprechende Handlungsform dem Menschen damit gleichsam eingestiftet, der in seiner Natur stets nur als soziales und somit als von seinem innersten Kern her kooperatives Wesen verstanden werden kann. Eine Abkehr von dem natürlichen Kooperationsverhalten des Menschen durch aggressives Konfliktverhalten – nicht notwendigerweise Konflikte als solche – stellt deshalb grundsätzlich eine ihm wesensfremde, seiner Natur und der ihm eingestifteten Ordnung widersprechende Störung dar, die sich in vielfacher Hinsicht – etwa auf emotionaler, ökonomischer oder politischer Ebene – negativ auswirkt. Es sind ebendiese materiellen und immateriellen Konfliktkosten, die zu einer Hinwendung zur alternativen Streitbeilegung als Teil eines tiefgreifenden Wandels staatlicher Steuerung hin zum „kooperativen Staat“153 149
Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 74. Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 454 mwN. 151 Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. 152 Vgl. hierzu nur die Forschungen des Entwicklungsbiologen Martin Nowak, dem Direktor am Program for Evolutionary Dynamics an der Harvard University, Sigmund/Nowak, 414 Nature 403 (2001); Nowak/Sasaki/Taylor/Fudenberg, 428 Nature 646 (2004); Rand/Dreber/Ellingsen/Fuenberg/Nowak, 325 Science 1272 (2009); Rand/Dreber/Haque/Kane/Nowak/Coakley, 4 Religion. Brain. Behav. 31 (2014); Rand/Peysakhovich/Kraft-Todd u.a., 5 Nature Comm. 1 (2014) sowie instruktiv Nowak/Highfield, SuperCooperators (2011), passim. Eingehend hierzu unten S. 795 f., 799 f. 153 Eingehend hierzu oben S. 38 ff. 150
II. Verfahrensgrundsätze
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geführt haben. Durch spieltheoretische Experimente, insbesondere das Gefangenendilemma, ist die existenzielle Bedeutung des Kooperationsprinzips für das Gemeinwesen als Form menschlicher Gemeinschaft auch empirisch belegt. Dieser aus rechtsphilosophischer Perspektive und auch empirisch gesicherte Befund, der dem Primat der Mediation im Spektrum der Streitbehandlungsformen entspricht, wird später für die Einordnung des Mediationsverfahrens in das System einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre von besonderer Bedeutung sein. In seiner Struktur ist der Grundsatz der Kooperation auf Reziprozität des Verhaltens und damit auf die Etablierung von Rechten und Pflichten gerichtet. Er ist dabei auf vielfältige Weise sowohl mit den Verfahrenszielen als auch mit den übrigen Verfahrensgrundsätzen in der Weise verknüpft, dass er sie als zwingende Voraussetzung überhaupt erst ermöglicht und zugleich fördert. Im Hinblick auf die Verfahrensziele entspricht dieser Zusammenhang der instrumentellen Funktion, die dem Verfahren grundsätzlich als Mittel ihrer Verwirklichung zukommt. Nach Fuller zielt das Mediationsverfahren seinem Wesen nach auf die Ausrichtung der Parteien aufeinander hin, die eine Neuordnung, eine Transformation der bestehenden Beziehung erfordert und als notwendige Nebenfolge auf diese Weise zugleich zu einer interessengerechten Lösung des Sachproblems führt. Bei einer engen Definition des Begriffs der Verfahrensziele, die nicht auch die verfahrensexternen, etwa die gesellschaftlichen Auswirkungen umfasst, sondern sich lediglich auf die verfahrensinternen Wirkungen beschränkt, sind diese weitgehend identisch mit den im verhandlungstheoretischen Schrifttum diskutierten Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses: Eine die Parteien versöhnende Wiederherstellung ihrer Beziehung zueinander, die eine faire, dauerhafte, nachhaltige, effiziente, aufgrund ihrer Kreativität wertschöpfende und zugleich beiderseits interessengerechte Einigung ermöglicht.154 Die Verwirklichung dieser Verfahrensziele setzt eine intensive Kooperation der Parteien voraus. In einem ersten Schritt ermöglicht kooperatives Verhalten die versöhnende Neuordnung der bisher zerrütteten, durch die kontradiktorische Zuweisung gegnerischer Rollen in Konfrontation festgefahrenen Beziehung zwischen den Parteien.155 Auf dieser Grundlage können die Parteien an-
154
Vgl. zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses oben S. 160 ff., 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 155 Zur Bedeutung der Transformation der Parteibeziehung durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin als zentralem Wesenselement der Mediation eingehend oben S. 124 ff. sowie unten S. 471 ff. Vgl. hierzu auch Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971): „ … The central quality of mediation, namely, its capacity to reorient the parties toward each other,
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schließend daran gehen, ihre gegenseitigen Interessen zu erforschen und entsprechende Einigungsoptionen zu entwickeln. Ein solcher kreativer Wertschöpfungsprozess ist ohne eine echte Kooperation der Parteien, die durch offene Kommunikation und einen Perspektivwechsel vom Positionendenken hin zum problemlösenden Interessenverständnis vermittelt wird, nicht denkbar. Er ermöglicht die privatautonome Beilegung des Konfliktes in einer Weise, die von beiden Parteien als fair empfunden wird und damit auch dauerhaft, nachhaltig und effizient ist. Gleiches gilt für eine Reihe weiterer Verfahrensgrundsätze, wie etwa die Interessen- und Beziehungsorientierung sowie die Fairness des Verfahrens. bb) Wirkungen des Kooperationsgebotes Kooperation ist ein Verhaltensmodell von enormer Wirkungsmacht. Als Gegenstück zum aggressiven Konfliktverhalten verändert es die Wahrnehmung und das weitere Interaktionsverhalten der Parteien, gibt dem Verfahren insgesamt das ihm eigene Gepräge, die ihm eigene Struktur und die ihm eigene Wirksamkeit und hat damit erheblichen Einfluss auf die materiellen Verhandlungsergebnisse. Kooperation und das mit ihr verbundene Potenzial materieller und immaterieller Wertschöpfung ist das „Geheimnis“ des Mediationsverfahrens und seines Erfolges. Es hat seinen Ursprung nicht lediglich in einem effizienten Mechanismus zur Realisierung der in jedem Konflikt verborgenen Wertschöpfungspotentiale, sondern in der schöpferischen Kraft der dem Wesen des Menschen zutiefst entsprechenden caritas, jener ἀγάπη, die nicht bei sich selbst stehenbleibt, nicht bei sich selbst stehenbleiben kann, nicht in den Begrenzungen der Selbstbezogenheit des Einzelnen gefangen ist, sondern stattdessen über sich hinausgeht und gerade in der Ausrichtung auf den anderen hin ihre Fruchtbarkeit gewinnt. Diese Fruchtbarkeit wird durch die Verfahrenseigenschaften der Mediation realisiert, die unter dem Schlagwort der „Vorteile des Mediationsverfahrens“ in der verhandlungstheoretischen Forschung bereits eingehend untersucht worden sind. Sie wird wirksam in den unterschiedlichen, vom Konflikt betroffenen Lebensbereichen, die in ihrer Gesamtheit nur interdisziplinär, in der Zusammenschau der jeweils einschlägigen wissenschaftlichen Teildisziplinen erfasst werden kann. 1. Kognitionspsychologische Ebene. Auf der Ebene der Kognitionspsychologie führt Kooperation zunächst zu einem Ausgleich der durch selektive
not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.“
II. Verfahrensgrundsätze
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Wahrnehmung bedingten Wahrnehmungsverzerrungen (debiasing) und zu einer Begrenzung der negativen Auswirkungen kognitiver Barrieren.156 Überoptimismus, attributionelle Verzerrungen und der damit verbundene Mechanismus der reaktiven Abwertung können von den Parteien in dem Maße überwunden werden, in dem sie sich der Perspektive ihres Verhandlungspartners, seinen Beweggründen, Zwängen und Sorgen, aber auch seinen Interessen und Nichteinigungsalternativen öffnen und auf der Grundlage dieses Perspektivwechsels nun auch die eigenen Schlüsselfaktoren des Verhandlungsgeschehens kritischer betrachten können. Die damit einhergehende Überwindung des Nullsummenmythos als kognitiver Einigungsblockade öffnet so den Weg zu einer wertschöpfenden, beiderseits interessengerechten Einigung. Dass dieser Perspektivwechsel zugleich dem reifen Gebrauch der regula aurea und somit dem Gebot fairen und gerechten Handelns aus der Perspektive der Verfahrensgerechtigkeit entspricht, ist – wie wir bereits gesehen haben157 – von Kohlberg im Rahmen seines Stufenmodells moralischer Urteilsfähigkeit nachgewiesen worden.158 Insgesamt wirkt Kooperation auf kognitiver Ebene daher auf vierfache Weise: a) Eigenwahrnehmung: Der mit ihr verbundene und durch Kommunikation vermittelte Informationsaustausch ermöglicht eine kritische Bewertung der eigenen Nichteinigungsalternativen und damit eine Überwindung des einigungshindernden Überoptimismus. b) Fremdwahrnehmung: Der mit Kooperation stets verbundene Perspektivwechsel ermöglicht eine Annäherung der Parteien durch die Überwindung attributioneller Verzerrungen und reaktiver Abwertungsmechanismen. Die größere Nähe der Parteien zueinander und ihre höhere gegenseitige Exposition hat darüber hinaus einen positiven Effekt auf die emotionale Beziehung der Beteiligten und richtet sie aufeinander hin aus (exposure effect, propinquity effect). Finden sich aufgrund der Kooperation Gemeinsamkeiten, die sich bereits aus dem Wechsel in die Problemlösungsperspektive ergeben, so wird ihr jeweiliger Verhandlungspartner deutlich positiver wahrgenommen und das Beziehungsband zwischen den Parteien gefestigt transformiert (similarity-attraction effect). c) Überwindung des Nullsummenmythos. Die Kommunikation der gegenseitigen Interessen ermöglicht es den Parteien, den Nullsummenmythos (fixed pie
156
Vgl. zum Problem der Wahrnehmungsverzerrungen eingehend Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. Hierzu auch Jones/Yarn, 2003 J. Disp. Resol. 427, 444 ff. (2003), die einen empirischen Nachweis über die Auswirkungen von Wahrnehmungsverzerrungen auf das Verhandlungsergebnis vorlegen. 157 Vgl. hierzu oben S. 249 ff. 158 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204.
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conception) und damit eine wesentliche Einigungsbarriere zu überwinden. Wie durch empirische Untersuchungen nachgewiesen werden konnte, kommt der Überwindung des Nullsummenmythos für die Realisierung interessengerechter Verhandlungsergebnisse eine zentrale Bedeutung zu. c) Wechsel vom Positionen- zum Interessendenken. Schließlich ermöglicht kooperatives Verhandlungsverhalten den Wechsel vom aggressiv-kontradiktorischen Positionen- hin zum deeskalierend-konsensualen Interessendenken.159 Der Schritt von den Positionen hin zu den Interessen verändert dabei nicht nur den Fokus des Verhandlungsobjektes, sondern stellt einen grundlegenden Wechsel des Verhandlungsverhaltens dar. Die Parteien verlassen die festgelegten antagonistischen Rollen einander sich feindlich gegenüberstehender Gegner und nehmen die Rolle des mit ihrem jeweiligen Verhandlungspartner kooperierenden Problemlösers ein. Dieser Rollenwechsel hat erhebliche Auswirkungen auf die weitere Dynamik des Konfliktes, der in seiner eskalierenden Tendenz nun weitgehend entschärft wird. 2. Sozialpsychologische Ebene. Auf der Ebene der Sozialpsychologie stehen nicht die Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Einzelnen, sondern vielmehr die durch diese veränderte Wahrnehmung bedingten Folgen für das Interaktionsverhalten der Parteien im Vordergrund. So konnte in empirischen Studien nachgewiesen werden, dass kooperatives Verhandlungsverhalten im Gegensatz zu kompetitiven Strategien zu deutlich besseren, regelmäßig beiderseits interessengerechten Ergebnissen führt. Es ermöglicht in deutlich höherem Maße kreative, wertschöpfende und auf die Bedürfnisse und Interessen beider Parteien jeweils zugeschnittene Einigungen. Kompetitives Verhandlungsverhalten, das regelmäßig dem intuitiven Verhandlungsverhalten nicht entsprechend geschulter Parteien entspricht, ist dagegen im Hinblick auf die wertschöpfende Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne weitgehend ineffizient und kann zu regelrechten lose-lose agreements führen.160 3. Ökonomik: Auf ökonomischer Ebene lassen sich durch additive und synergetische Kooperation in materieller Hinsicht erhebliche Wertschöpfungspotentiale realisieren. Dabei können – etwa im Rahmen von Einkaufsgemeinschaften oder des besseren Zugangs einer Partei zu Finanzierungsoptionen – nicht nur durch Poolen der vorhandenen Ressourcen optimierende Skaleneffekte erzielt werden. Durch das koordinierte Zusammenwirken der Parteien ist darüber hinaus die Realisierung von Kooperationsgewinnen möglich, die auch 159 Vgl. zur Bedeutung des Wechsels vom Positionen- zum Interessendenken eingehend oben S. 15 f. sowie Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff.; Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27, 30 (2000); BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff., 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 46 f., 167 ff. 160 Thompson/Hrebec, 120 Psychol. Bull. 396, 400 ff. (1996).
II. Verfahrensgrundsätze
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ihrer Art nach etwas grundlegend Neues darstellen und von den Beteiligten allein nicht hervorgebracht werden können. Erst durch die Kooperation werden damit Einigungsoptionen – etwa bestimmte Projekte – möglich, die in ihrem Ergebnis die Summe der den Parteien jeweils einzeln zur Verfügung stehenden Möglichkeiten übersteigen. 4. Spieltheorie. Diese Wirkungen kooperativen Verhaltens sind im Kontext der Verhandlungsforschung vor allem durch die mathematische Spieltheorie eingehend untersucht worden.161 So konnte im Rahmen des Gefangenendilemmas162 und der entsprechenden Lösungsstrategie „Tit for Tat“ nachgewiesen werden, dass einzig kooperative Strategien zu einem maximalen Nutzen aller Beteiligten führen können.163 5. Neurobiologie. Auch die Neurobiologie stützt den durch die übrigen Teildisziplinen nachgewiesenen Befund. Sie konnte nachweisen, dass der Mensch auch von der Grundstruktur seiner neuronalen Korrelate her nicht auf Wettbewerb, Konkurrenz, Überlegenheit und Stärke, sondern vielmehr auf Zuwendung und Kooperation hin ausgerichtet ist. Aus neurobiologischer Sicht sind Menschen Beziehungswesen, die nicht für eine Umwelt eines streitigen Überlebenskampfes, der Verdrängung und der Isolation, sondern für Gemeinschaft, für ein Miteinander, für Kooperation geschaffen und damit ihrer Natur nach aufeinander hin ausgerichtet sind. Störungen auf der Beziehungsebene können zu einem Funktionsversagen des Motivationssystems bis hin zu depressiven Störungen führen und aktivieren das Stresssystem. 6. Rechtssoziologie. Der Wandel vom streitigen zu kooperativen Streitbeilegungsverfahren ist seit längerer Zeit Gegenstand der Rechtssoziologie. Sie hat die Vorteile kooperativen Verhaltens für den Einzelnen wie auch für das Gemeinwesen eingehend untersucht und in den Kontext des allgemeinen Wandels staatlicher Steuerung hin zum kooperativen Staat eingeordnet. 7. Rechtsphilosophie. Der von den Natur- und Sozialwissenschaften nachgewiesene Befund wird schließlich vonseiten der Rechtsphilosophie bestätigt164 und mit seiner Verortung in der regula aurea als elementarer Grundregel des Lebens auf eine normativ-ethische Grundlage gestellt. In seinem innersten Kern geht es dabei nicht mehr um eine bloß philosophische, sondern um eine theologische Aussage. Menschliches Handeln ist von seinem innersten Wesen her auf Kooperation ausgerichtet, weil der Mensch in seinem Kern nicht davon
161
Hierzu bereits oben S. 287 ff. Grundlegend hierzu Rapoport/Chammah/Rapoport, Prisoner's dilemma (1965), passim. Vgl. auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 83 f., 138 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 59 ff., 62 f. 163 Zur Tit for Tat-Strategie eingehend Axelrod/Hamilton, 211 Science (N.S.) 1390 (1981); Axelrod, The Evolution of Cooperation (1984), S. 113 ff., 130 ff. 164 Eingehend hierzu oben S. 235 ff., 252 ff. 162
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lebt, dass er sich gegenüber anderen durchzusetzen vermag, sondern auf das Große hin geschaffen ist: Nämlich zu lieben und geliebt zu werden. Auf den Punkt gebracht vollzieht das Kooperationsgebot des Mediationsverfahrens als Sollenssatz nach, was dem Menschen aufgrund seiner Natur, seiner biologischen Anlagen entspricht, was aus ökonomischer und spieltheoretischer Perspektive sinnvoll und aus soziologischer nützlich für die Gemeinschaft ist und was ihn in philosophischer Hinsicht im Kern seines Wesens ausmacht und seinem Leben Sinn verleiht: Das Ausbrechen aus den Grenzen zerstörerischer Selbstbezogenheit, die Überwindung der durch den Konflikt herbeigeführten gegenseitigen Isolation und die erneute Ausrichtung der Parteien aufeinander hin, die durch Kooperation ihre Fruchtbarkeit entfaltet und so wertschöpfende Einigungen und damit die Entfaltung des Einzelnen und der ihm eigenen Anlagen ermöglicht. cc) Implementierung kooperativen Verhandlungsverhaltens in das Mediationsverfahren Das Kooperationsgebot läuft indes leer, wenn es nicht verfahrensmäßig operationalisiert und in konkretes Handeln der Parteien umgesetzt wird. Anders als der Zivilprozess ist das ohnehin grundsätzlich informale Mediationsverfahren einer sanktionierenden Regulierung allerdings weitgehend entzogen. Die Etablierung konkreter Verhaltensstandards, die über ein abstraktes Kooperationsgebot hinausgehen und darüber hinaus auch prozessual durchgesetzt werden können, ist im Rahmen der Mediation daher weder möglich noch wäre sie zur Realisierung tatsächlichen Kooperationsverhaltens ausreichend. Stattdessen versucht das Mediationsverfahren durch seine besondere Verfahrensstruktur und durch die Vermittlung des Mediators bei den Parteien einen Lernprozess in Gang zu setzen, der sie schrittweise in die Lage versetzt, ihren Konflikt im Wege der Kooperation eigenverantwortlich beizulegen. Die Mediation bietet dabei durch das ihr eigene Verfahren einen Rahmen, der kooperatives Verhandlungsverhalten in besonderer Weise fördert: Durch die Vertraulichkeit, die Interessenorientierung, die intensive Kommunikation zwischen den Parteien und die Ausrichtung der Parteien auf ein gemeinsames Ziel wird die Kooperation der Parteien begünstigt. Der Mediator nutzt diesen Rahmen, um in einem mehrstufigen Verfahren die Parteien aus der Blockade kontradiktorischen Konfliktverhaltens zu lösen und schrittweise auf gegenseitige Kooperation hin auszurichten. Hierfür steht ihm eine Vielzahl unterschiedlicher Techniken – etwa Einzelgespräche165, Fragetechniken166, Analysetools
165 Zur sog. Caucus-Mediation eingehend Calkins, 54 Drake L. Rev. 259 (2006); MenkelMeadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 355 ff. 166 Hierzu etwa Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 335 ff. sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009),
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wie etwa Prozessrisiko-167 und Szenarioanalysen168 sowie Kreativitätstechniken169 – zur Verfügung. Die Struktur und die Zielrichtung des Mediationsverfahrens sind insoweit einzigartig: Anders als der Zivilprozess stellt die Mediation zugleich die Mittel zur Umsetzung der von ihr geforderten Verhaltensgebote zur Verfügung. c) Interessenorientierung Die Mediation ist ein interessenorientiertes Verfahren. In ihrem Rückgriff auf die tatsächlichen Interessen der Parteien als zentralem Entscheidungskriterium unterscheidet sie sich wesentlich von dem auf Rechtspositionen ausgerichteten Zivilprozess und vermeidet so die systemimmanenten Grenzen einer an abstrakt-generellen Regelungen ausgerichteten Konfliktbeilegung. Anders als der Zivilprozess, der in seinem Streitgegenstand lediglich auf den prozessualen Anspruch gerichtet ist, den eine Partei auf der Grundlage eines bestimmten Lebenssachverhaltes in einem gerichtlichen Verfahren geltend macht, ist die Perspektive des Mediationsverfahrens auf den Konflikt erheblich weiter. Die Mediation nimmt in ihrem Konfliktbehandlungsgegenstand den Konflikt in der Gesamtheit seiner vielfältigen Dimensionen – seines Kontextes, seiner Ursachen, seiner Genese und seiner Auswirkungen auf die Zukunft – in den Blick. Erst durch diese Perspektiverweiterung ist sie in der Lage, die hinter den geltend gemachten Rechtspositionen stehenden tatsächlichen Interessen der Parteien zu erkennen und den Sachkonflikt ursächlich und nachhaltig beizulegen. Methodisch gelingt das dadurch, dass das Verfahren den Konflikt bereits vor seiner verfremdenden Verformung in abstrakt-generelle Rechtsansprüche und damit vor seiner Transformation in einen abgeleiteten Metakonflikt in seiner ursprünglichen Gestalt erfasst, die betroffenen Interessen als konfliktsteuernde Faktoren identifiziert, den Parteien kommuniziert und diese zu dem in der Regel stets möglichen Ausgleich bestehender Interessengegensätze bzw. zur Klärung etwaiger Normverstöße führt. Aus diesem weiten Zugriff des Verfahrens auf den Konflikt und aus der Bedeutung der Interessen als konfliktsteuernde Faktoren ergibt sich die Orientierung des Mediationsverfahrens auf die Interessen als zentralem Entscheidungsmaßstab.
S. 117 ff. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 147 f. 167 Hierzu Eidenmüller, ZZP 113 (2000), 5; Aaron, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 202. 168 Vgl. hierzu Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 99 ff., 107 f. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 180 f. 169 HierzuBühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 144 ff. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 196 ff.
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aa) Begriff der Interessen Der Begriff der Interessen ist dabei auf die tatsächlichen Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche der Parteien gerichtet.170 Als „silent movers behind the hubbub of positions“171 sind sie die jedem menschlichen Verhalten zugrunde liegenden, in der Natur des Menschen selbst begründeten Motivatoren, die das menschliche Handeln steuern. Im Kern ist es das Bedürfnis jedes menschlichen Wesens nach Daseinserhaltung, nach der vollen Entfaltung seines Seins, seiner Anlagen und seiner Person. Und weil jeder Einzelne grundsätzlich denselben Begrenzungen menschlichen Seins unterworfen ist, haben die Parteien in vielfacher Hinsicht auch dieselben Interessen: Das Interesse an der Erhaltung der physischen Grundbedürfnisse, auf einer höheren normativen Ebene der Schutz der diese Grundbedürfnisse verbürgenden subjektiven Rechtsgüter und schließlich die Gewährleistung der objektiven Rechtsordnung. Die Konkretisierung dieser Interessen auf der Ebene der praktischen Lebenswirklichkeit ist allerdings für jede Person entsprechend ihrer individuellen Lebensumstände jeweils einzigartig. Und weil die Interessen Ausdruck der innersten Lebensbedürfnisse des Einzelnen sind, sind sie zentraler Maßstab der Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva). bb) Der multilaterale Perspektivwechsel nach der regula aurea Den Interessen kommt im Rahmen des Mediationsverfahrens wie auch in den Interaktionsbeziehungen der Menschen zueinander daher eine entscheidende Bedeutung zu. Die eigenen Interessen bestimmen dabei nicht nur den Inhalt der Forderungen, die der Einzelne gegenüber seinem Verhandlungspartner gleichsam als Anspruch erhebt. Im Rahmen der regula aurea werden sie in Anwendung des Reziprozitätsprinzips zugleich zum Maßstab des eigenen Handelns gegenüber dem anderen. Denn der vollständige Perspektivwechsel, zu dem das Mediationsverfahren die Parteien führt und der nach Kohlbergs empirischen Untersuchungen allein einem reifen Gebrauch der regula aurea entspricht, macht nicht jene Interessen und das Maß ihrer Verwirklichung zum Maßstab des eigenen Handelns gegenüber dem anderen, die ich selbst ihm zubillige. Vielmehr werden meine eigenen Interessen und der Geltungsanspruch, den ich selbst für mich in Anspruch nehme, dem anderen zugesprochen: Das
170
Hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff., 75 ff. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff. 171 So Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41. Ähnlich Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27, 30 (2000): „Interests are the underlying and inescapable human motivators that press us into action.”
II. Verfahrensgrundsätze
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Maß der Interessenverwirklichung, das ich selbst beanspruche, muss auch für meinen Verhandlungspartner gelten: „Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris.“172 Verfahrensmäßig umgesetzt wird diese sehr einfache und zugleich tiefe, in ihrem Kern zutiefst transzendente Regel durch das Gedankenexperiment des multilateralen Rollentauschs (role taking, trading places, putting yourself into their shoes173), zu dem der Mediator die Parteien – vermittelt durch die Struktur des Verfahrens – führt. Vielleicht liegt in diesem erstaunlichen Mechanismus, der in der Goldenen Regel als Ausdruck eines tatsächlichen, elementaren Grundprinzips des Lebens angelegt ist, das zweite Geheimnis des Mediationsverfahrens: Dass dadurch, dass meine eigenen Forderungen gegenüber dem anderen gleichsam „umgedreht“ und so zum Maßstab der legitimen Forderungen des anderen gegenüber mir selbst gemacht werden, die zerstörerische Dynamik der den eigenen Nutzen maximierenden Selbstbezogenheit in ihrer negativen Wirkung neutralisiert und für wertschöpfendes, kooperatives Handeln fruchtbar gemacht wird.174 cc) Interessen und Rechte Die Interessenorientierung des Mediationsverfahrens bedeutet indes nicht, dass das Recht in der Mediation bedeutungslos geworden wäre und sich die Parteien bei der Beilegung ihres Konfliktes ausschließlich an ihren subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen orientieren. Wie wir gesehen haben, kommt dem Recht in der Mediation eine ganz zentrale Rolle zu und es ist für das Verfahren geradezu konstitutiv. Im Rahmen seiner konstitutiven, durchsetzenden, nährenden und begrenzenden Funktion erfüllen sowohl das formelle wie auch das materielle Recht vielfältige Aufgaben. Während das formelle Recht das Mediationsverfahren in die Rechtsordnung einbettet und auf diese Weise den für die Mediation erforderlichen formellen Rechtsrahmen zur Verfügung stellt, auf der Ebene des Gesetzesrechts etwa durch Regelungen zum Vertraulichkeitsschutz, zur Vollstreckung sowie zur Verknüpfung mit dem gerichtlichen Verfahren, auf der individualvertraglichen Ebene durch die verfahrenssteuernde Mediationsvereinbarung, den Mediatorvertrag und Verfahrensordnungen, wird das materielle Recht vor allem innerhalb des Verfahrens wirksam. Es dient hier als verbindliche Entscheidungsgrundlage, als inhaltlicher Orientierungsmaßstab, als 172 Vgl. zu dieser für die Rezeption zentralen Textfassung der goldenen Regel eingehend Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 104 mwN. Hierzu eingehend oben S. 238 ff. 173 Grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23 f. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. Zum Perspektivwechsel Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. Eingehend hierzu auch oben S. 248 ff. 174 Eingehend hierzu oben S. 245. Vgl. auch Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/ Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1 ff, Lk 6, 31.
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bestimmendes Kriterium der Nichteinigungsalternativen, als zwingende Schranke sowie als kautelarjuristisches Gestaltungsmittel der Einigungsoptionen. d) Beziehungsorientierung Aus der Natur der Mediation als privatautonomes Verfahren, das eine wechselseitige Kooperation und die Einbeziehung der gegenseitigen Interessen bedingt, ergibt sich eine besondere verfahrensprägende Bedeutung der Parteibeziehung für das Mediationsverfahren. Die Mediation zielt in ihrem Kern nicht allein auf die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne, sondern als hierfür notwendige Voraussetzung zunächst auf die Wiederherstellung der Parteibeziehung.175 Wie wir im Rahmen unserer Strukturanalyse gesehen haben, ist die Mediation nach Fuller in ihrem Wesen auf die versöhnende Transformation der Beziehung der Parteien gerichtet.176 Zentrales Verfahrensziel der Mediation ist die Ausrichtung der Parteien aufeinander hin, um sie dadurch in die Lage zu versetzen, ihren Konflikt auf der Grundlage einer durch Perspektivwechsel veränderten, sehr viel weiteren und realistischeren Wahrnehmung ihrer gegenseitigen Interessen und ihrer Beziehung zueinander ursächlich, nachhaltig und interessengerecht und damit allein effektiv beizulegen.177 aa) Die Bedeutung der Parteibeziehung für den Konflikt Die zentrale Bedeutung der Parteibeziehung für den Konflikt und seine Beilegung im Rahmen des Mediationsverfahrens bedarf allerdings der dogmatischen Klärung. Denn die Fokussierung der Beteiligten auf das materielle Einigungsergebnis in der Praxis der Wirtschaftsmediation mag dazu verleiten, die Beziehungsdimension jedenfalls für reine Wirtschaftskonflikte für irrelevant zu erachten und sie in erster Linie der therapeutischen, „transformativen“ Familienmediation178 zuzuweisen. Und in der Tat klingt unter Verweis auf das rationale Handlungsmodell auch im Schrifttum bisweilen der Gedanke an, dass die Versöhnung der Parteien und die Wiederherstellung ihrer Beziehung zwar für Konfliktsituationen mit anhaltenden Dauerbeziehungen und für den familiären Kontext, nicht jedoch für Wirtschaftskonflikte relevant sind.
175 Hierzu eingehend oben S. 124 ff., 471 ff. sowie Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 176 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 177 Vgl. nur Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971): „ … The central quality of mediation, namely, its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.” 178 Zur transformativen Mediation grundlegend Bush/Folger, 13 M.Q. 263 (1996); Bush/Folger, The Promise of Mediation (2. Aufl. 2005), S. 52 f. sowie oben S. 124 f.
II. Verfahrensgrundsätze
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Die interdisziplinäre Verhandlungsforschung hat allerdings übereinstimmend nachgewiesen, dass eine vertrauensvolle, belastbare und konstruktive Beziehung zwischen den Parteien für den Erfolg des Mediationsverfahrens im Sinne eines „guten Verhandlungsergebnisses“ nicht nur förderlich, sondern zwingend erforderlich ist. Eine faire, nachhaltige und dauerhafte Einigung, welche die Interessen beider Parteien gleichermaßen berücksichtigt und durch kreative Einigungsoptionen das im Konflikt angelegte Wertschöpfungspotential realisiert, ist das Ergebnis einer guten Beziehung zwischen den Parteien. Diese Beziehung ist für die Mediation von entscheidender, verfahrensprägender Bedeutung: Sie erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Einigung und macht erst eine wertschöpfende, beiderseits interessengerechte Einigung möglich, indem sie den Konflikt auf einer ursächlichen und nicht lediglich symptomatischen Ebene behandelt. Die Ansicht, die Beziehungsebene spiele gerade bei Wirtschaftskonflikten keine entscheidende Rolle und finde ihr Anwendungsgebiet vor allem in den Sonderfällen transformativer Familienmediation, beruht auf einem in der Praxis häufig verbreiteten Irrtum, der sich aus einer entsprechenden Fokussierung auf die Perspektive der im Konflikt befangenen Parteien ergibt.179 In der Tat steht gerade für Akteure aus dem Wirtschaftsleben die rationale Kosten-Nutzen-Rechnung des Konflikts und damit das materielle Verhandlungsergebnis im Vordergrund ihres Interesses. An den „emotionalen“ Aspekten des Konfliktfalles sind sie nicht oder nur insoweit interessiert, als dies für eine materiell sinnvolle Beilegung des Konfliktes erforderlich ist. Allerdings ist es aus konflikttheoretischer Perspektive vor allem die Beziehung zwischen den Parteien, die darüber entscheidet, auf welche Art und Weise der Konflikt ausgetragen wird, ob die Interessen der anderen Partei überhaupt Berücksichtigung finden, die eigenen Forderungen entsprechend angepasst werden und wie gegebenenfalls eine Wertverteilung vorgenommen wird.180 Ist die Beziehung zwischen den Parteien intakt, so werden auch in materieller Hinsicht Einigungen möglich, die im Falle einer belasteten Parteibeziehung unwahrscheinlich sind. Die Begrenzungen und Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens, das ganz wesentlich von Emotionen bestimmt wird, gelten auch für Verhandlungssituationen im wirtschaftlichen Kontext. Auch Verhandler sind nicht bloßes Sprachrohr der Organisation oder des Unternehmens, das sie vertreten, sondern in erster Linie Menschen.181 Sie werden nicht nur in ihrem alltäglichen Handeln, sondern auch im Rahmen der Mediationsverhandlung von Emotionen,
179
Ebenso Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 134. Instruktiv hierzu Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 44 ff., 121 f. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 133 ff. 181 Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 134. 180
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
Ängsten, Wünschen und Hoffnungen bestimmt.182 Die Praxis der Wirtschaftsmediation zeigt eindrucksvoll, dass gerade im wirtschaftlichen Kontext Emotionen und Beziehungsfragen von entscheidender Bedeutung sind, hinter die Sachprobleme deutlich zurücktreten. Die verfahrensformende und konfliktentscheidende Bedeutung der Parteibeziehung für den Konflikt und seine Beilegung im Wege der Mediation wird vor allem im Hinblick auf ihre Rolle bei der Konfliktentstehung deutlich. bb) Störungen der Parteibeziehung als Konfliktursache Konflikte sind unabhängig von ihrem konkreten Gegenstand stets und in erster Linie auch Beziehungskonflikte. Dies gilt vor allem auch dann, wenn Sachprobleme im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen. Denn Wert- und Interessengegensätze gehören unvermeidbar zum menschlichen Alltag und sind Teil der Lebenswirklichkeit. Ihr Ausgleich gehört zu den Anforderungen an das menschliche Sein unter den Bedingungen dieser Welt. Zum Konflikt werden diese Gegensätze erst dann, wenn der Ausgleich nicht gelingt, sie unvereinbar aufeinandertreffen (confligere) und ein Wettbewerb bzw. ein Kampf darum entsteht, wessen Interessen bzw. Werte sich am Ende durchsetzen. Ob es so weit kommt, d.h. ob ein Wert- oder Interessengegensatz zu einem Konflikt eskaliert, hängt allerdings nicht von der Sachfrage, sondern allein von der Beziehung der Parteien zueinander ab. Denn in der Sache ist ein Ausgleich stets möglich: Bei Interessengegensätzen durch Einigungsoptionen in der Sache, die einen unmittelbaren Gegensatz der Interessen beider Parteien vermeiden, einen Gleichlauf der Interessen suchen bzw. bei einem unvermeidbaren Interessengegensatz auf eine faire Wertverteilung gerichtet sind. Bei Wertgegensätzen183, die in der Sache nicht im Wege des Kompromisses aufgelöst werden können, durch eine Beziehungsstruktur, die die identitätsstiftende Integrität der von beiden Parteien vertretenen Werte respektiert und zugleich ein konstruktives, friedliches Miteinander beider Parteien ermöglicht. Ist allerdings die Beziehung zwischen den Parteien gestört, so wird im Fall von Interessengegensätzen die Perspektive der jeweils anderen Partei keine oder nur wenig Berücksichtigung finden. Im Fall von Wertgegensätzen wird der in der Sache nicht auflösbare Wertkonflikt auf aggressivem Weg auf der Beziehungsebene weitergeführt. Damit ist es bei den durch die Begrenzungen der Lebenswirklichkeit gegebenen unvermeidbaren Sachproblemen stets die Beziehung zwischen den Parteien, die darüber entscheidet, ob ein Sachproblem zu einem Konflikt eskaliert
182
Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 134 Zur Problematik von Wertkonflikten vgl. Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178 ff.; Lax/Sebenius, The Manager as Negotiator (1986), S. 69; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 18 f. 183
II. Verfahrensgrundsätze
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oder nicht. Ist die Beziehung zwischen den Parteien intakt, so werden die Parteien für jedes Sachproblem eine angemessene Lösung finden. Ist die Beziehung der Parteien allerdings gestört, so ist der für die Lösung der Sachprobleme notwendige Ausgleich nicht mehr ohne weiteres möglich. Der Interessen- oder Wertgegensatz eskaliert und es entsteht ein Konflikt, der eine eigene destruktive Dynamik entfaltet und von den Parteien nicht mehr selbst beherrscht werden kann.184 Diese Dynamik wird durch die Vermischung von Beziehungs- und Sachebene weiter verschärft, weil die geschädigte Beziehung in ihren negativen Auswirkungen auf das Sachproblem übergreift.185 Damit kommt der Beziehung der Parteien zueinander bei der Entstehung von Konflikten die zentrale Rolle zu. Als Ertrag unserer Untersuchung ist insoweit zunächst die Erkenntnis festzuhalten, dass eskalierte Konflikte ihre Ursache regelmäßig nicht – wie es prima vista erscheinen mag – in erster Linie auf der Sachebene, in Interessenoder Wertgegensätzen, sondern vor allem auf der Beziehungsebene, in Störungen der Beziehung zwischen den Parteien zueinander, finden. Diese Beziehungsstörungen bilden das zentrale Einfallstor für Sachkonflikte, die lediglich als Zweitursache wirken und die sich in einer intakten Beziehung in der Regel nicht zu einem derart eskalierten Konflikt verschärfen würden. cc) Vom homo oeconomicus zur behavioral economics-Forschung Die zentrale verfahrensgestaltende Funktion der Parteibeziehung für das Mediationsverfahren wird durch den interdisziplinären Befund bestätigt, den wir bereits zur Herleitung des Kooperationsgebotes herangezogen haben. Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Von seinen natürlichen Anlagen und der Struktur seiner neuronalen Korrelate ist er auf Gemeinschaft, Kooperation und dauerhafte Beziehung und damit auf den anderen hin ausgerichtet.186 Eine Situation des beständigen Wettbewerbes, der Konkurrenz und des Überlebenskampfes stellt eine seiner Natur widersprechende Störung dar, die er nicht ohne
184
Zur Konfliktdynamik eingehend oben S. 12 ff. Grundlegend bereits Fisher/Brown, Getting Together (1989); Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 17 ff. („Separate persons from the problem.“). Hierzu näher Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 9. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 22 ff., 52 f., 129 ff. 186 Hiezu instruktiv Bauer, Prinzip Menschlichkeit (2008), S. 23 ff.; Bauer, Das kooperative Gen (2008), S. 32 f. Vgl. auch die Untersuchungen Nowaks Sigmund/Nowak, 414 Nature 403 (2001); Nowak/Sasaki/Taylor/Fudenberg, 428 Nature 646 (2004); Rand/Dreber/Ellingsen/Fuenberg/Nowak, 325 Science 1272 (2009); Rand/Dreber/Haque/Kane/Nowak/Coakley, 4 Religion. Brain. Behav. 31 (2014); Rand/Peysakhovich/Kraft-Todd/Newman/Wurzbacher/Nowak/Greene, 5 Nature Comm. 1 (2014) sowie instruktiv Nowak/Highfield, SuperCooperators (2011), passim. Eingehend hierzu unten S. 795 f., 799 f. 185
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
Beeinträchtigung seiner sozialen Interaktionsstrukturen auf Dauer zu verkraften vermag.187 In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ausgehend von den Erkenntnissen der Neurobiologie und der experimentellen Ökonomik die Sichtweise auf das menschliche Entscheidungsverhalten grundlegend verändert. Bis Mitte der 1990er Jahre war in den Wirtschaftswissenschaften das aus dem 19. Jahrhundert als Zeitalter der Industrialisierung stammende theoretische Verhaltensmodell des homo oeconomicus188 als rationalem Nutzenmaximierer verbreitet, diese Verhaltenshypothese konnte in zahlreichen Versuchen jedoch nicht empirisch bestätigt werden. Auch als abstraktes Verhaltensmodell war das neoklassische Konzept des homo oeconomicus aufgrund seiner Eindimensionalität und der an der mechanischen Physik orientierten mathematischen Rigorosität damit kaum noch tauglich, weil ihm wesentliche verhaltenssteuernde Dimensionen fehlten. Auf der Grundlage der interdisziplinären Forschung, bei der unterschiedliche Disziplinen wie etwa die Neurobiologie, die Psychologie, die Soziologie und die Ökonomik zusammenwirken, weiß man heute, dass rationales Verhalten und primär vernunftgesteuerte Entscheidungen beim Menschen eher die Ausnahme als die Regel sind.189 Dies gilt nicht nur für den persönlichen Bereich, sondern ebenso für wirtschaftliche und politische Entscheidungen. Menschliches Handeln wird weniger von rationalen Überlegungen als von Emotionen, Interaktionsbeziehungen zu anderen und Kooperations-, Beziehungs- und Harmoniebedürfnis bestimmt. Von entscheidender Bedeutung sind dabei vor allem die neueren Erkenntnisse der Neurobiologie, die nachgewiesen hat, dass Menschen von ihrer neurobiologischen Struktur her auf Kooperation, vertrauenswürdiges Handeln und die Erhaltung guter Beziehungen ausgerichtet sind.190 So werden als Anerkennung für einen kooperativen Beitrag Emotionen wie Ehrfurcht, Hochstimmung und Dankbarkeit ausgelöst, während
187
Bauer, Prinzip Menschlichkeit (2008), S. 23 ff., 97 ff., 135 ff. Hierzu Spranger, Lebensformen (1966), S. 148; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (3. Aufl. 2005), S. 28 ff.; Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse (5. Aufl. 2012), S. 95 ff. 189 Zu den interdisziplinären Befunden der Verhaltensökonomik grundlegend Kahneman/Tversky, 185 Science 1124 (1974); Kahneman/Tversky, Choices, values, and frames (2000); Kahneman/Tversky, 47 Econometrica 263 (1979); Kahneman/Knetsch/Thaler, 5 J. Econ. Perspect. 193 (1991); Hastie/Dawes, Rational choice (2. Aufl. 2010), S. 87 ff.; Kahneman/Slovic/Tversky (Hrsg.), Judgment under uncertainty (2008), passim; Eisenberg, Stan. L. Rev. 211 (1995); Sinn, Economic decisions under uncertainty (1989), S. 11 sowie instruktiv Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse (5. Aufl. 2012), S. 103 ff. 190 Instruktiv Bauer, Prinzip Menschlichkeit (2008), S. 23 ff. 188
II. Verfahrensgrundsätze
591
Normverletzungen negative Emotionen die Verlegenheit, Scham und Schuldgefühle nach sich ziehen.191 Auch die Kognitions- und die Sozialpsychologie haben nachgewiesen, dass Menschen ihr Verhalten nicht ausschließlich am Eigeninteresse ausrichten.192 Vielmehr sind auch die Interessen anderer, Fairness und Reziprozität von entscheidender Bedeutung. Menschliches Handeln erfolgt stets unter den Bedingungen durch Wahrnehmungsverzerrungen begrenzter Rationalität, begrenzter Willenskraft und eines eingeschränkten Egoismus. Die Einbindung des Menschen in ein Gefüge sozialer Beziehungen zu anderen, ohne die menschliches Sein nicht denkbar ist, hat Rolf Dahrendorf mit seinem Konzept des homo sociologicus beschrieben. Die Spieltheorie hat schließlich den mathematischen Nachweis der Überlegenheit kooperativer vor kompetitiven Strategien und damit für die Notwendigkeit stabiler Beziehungen erbracht. Kooperation, insbesondere in interaktiven Situationen, setzt Beziehung voraus. Entsprechend versuchen neuere Ansätze in der Ökonomik im Rahmen der behavioral economics-Forschung auf der Grundlage der interdisziplinären Forschung ein realistisches Verhaltensmodell des Menschen zu entwickeln. dd) Transformation der Beziehung als Strategie der Konfliktbeilegung Dieser Befund hat weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung geeigneter Strategien zur ursächlichen und nachhaltigen Beilegung von Konflikten. Soll ein Konflikt zwischen den Parteien durch die Beseitigung seiner Ursachen effektiv beigelegt werden, so dürfen die Bemühungen seiner Lösung nicht auf der Sachebene stehenbleiben, sondern müssen auf der Beziehungsebene ansetzen. Eine Lösung des Sachproblems durch einen auf welche Weise auch immer ausgestalteten Interessenausgleich muss notwendig symptomatisch bleiben und vermag darüber hinaus nicht das Potenzial auszuschöpfen, das eine ursächliche Beseitigung der Beziehungsstörung verspricht. Für das Mediationsverfahren ergibt sich daraus die Konsequenz, dass das Verfahren als Ganzes nicht allein auf das Herbeiführen eines optimalen Einigungsergebnisses gerichtet sein kann, sondern stattdessen zunächst auf die Wiederherstellung der Beziehung zwischen den Parteien gerichtet sein muss.
191
Ruckriegel, Happiness Research (2008), S. 9. Vgl. hierzu etwa das bekannte spieltheoretische Experiment des sog. UltimatumSpiels, Nowak/Page/Sigmund, 289 Science 1773, 1773 (2000). Hierzu auch Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse (5. Aufl. 2012), S. 109 mwN.; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 219; Halali/Bereby-Meyer/Ockenfels, 7 Front. Hum. Neurosci. 1 (2013). Zur interdisziplinären Gerechtigkeitsforschung vgl. nur Ockenfels, Fairneß, Reziprozität und Eigennutz (1999), S. 37 ff., 131 ff. Bolton/Ockenfels, in: Plott/Smith (Hrsg.), Handbook of experimental economics results I (2008), S. 531; Bolton/Ockenfels, in: Baurmann/Lahno (Hrsg.), Perspectives in Moral Science (2009), S. 199; Ockenfels/Raub, KZfSS (Sonderheft 50) 2010, 119. 192
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
Denn wertschöpfende, pareto-optimale Lösungen setzen ein Maß an Kooperation voraus, das nur unter den Bedingungen einer vertrauensvollen, robusten Arbeitsbeziehung möglich ist. Ist dies gelungen, so ergibt sich eine Lösung des Sachproblems gleichsam als natürliche Folge der wiederhergestellten Parteibeziehung. Entsprechend hat Fuller das Wesen des Mediationsverfahrens nicht ausschließlich in einem angemessenen materiellen Ausgleich gesehen, einem „optimum settlement, a settlement in which each party gives up what he values less, in return for what he values more.”193 Vielmehr ist die Mediation, wie wir gesehen haben, nach Fuller zunächst auf die Transformation der Beziehung zwischen den Parteien als Voraussetzung für die angemessene Lösung der Sachprobleme gerichtet: „ … The central quality of mediation, namely, its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.”194 Ermöglicht wird diese Transformation durch die der Mediation eigene Verfahrensstruktur: Auf kognitionspsychologischer Ebene durch die Neutralisierung von Wahrnehmungsverzerrungen sowie einen durch einen multilateralen Rollentausch ermöglichten Perspektivwechsel, der den Parteien die Interessen und die Entscheidungssituation ihres Verhandlungspartners vermittelt und im Wege der Prozessrisikoanalyse oder von Einzelgesprächen mit dem Mediator eine realistische Einschätzung der eigenen Nichteinigungsalternativen ermöglicht. Auf emotionaler Ebene durch die Begrenzung negativer Emotionen und die Förderung gegenseitiger Sympathie, wobei entsprechenden psychologischen Mechanismen wie etwa dem exposure effect195, dem propinquity effect196 sowie dem similarity-attraction effect197 eine wesentliche Rolle zukommt. Auf sozialpsychologischer Ebene durch die Herstellung gegenseitigen Vertrauens insbesondere durch intensive Einbindung der anderen Partei in den Entscheidungsprozess, Verhaltensmuster der Zuverlässigkeit und berechenbares Verhalten.198 Durch Versöhnung, die durch Anerkennung und Bestätigung des Geschehenen, gegenseitiges Verständnis für die Motive und Begrenzungen des
193
Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 (1963). Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 195 Zajonc, 9 J. Pers. Soc. Psychol. 1 (1968). Vgl. hierzu auch Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138. 196 Segal, 30 J. Pers. Soc. Psychol. 654 (1974). Vgl. hierzu auch Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138 f. 197 Griffin/Sparks, 7 J. of Soc. and Pers. Relationships 29 (1990). Vgl. hierzu auch Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138. 198 Zur Bedeutung des Vertrauens in der Verhandlung und Mediation vgl. Deason, 54 U. Kan. L. Rev. 1387 (2006); Lewicki/Carolyn, in: Deutsch/Coleman/Marcus (Hrsg.), The 194
II. Verfahrensgrundsätze
593
jeweiligen Handelns sowie Vergebung und den Willen zur Neugestaltung der gegenseitigen Beziehung auf die Zukunft hin möglich wird. Eine strukturierte Möglichkeit für die Transformation der Beziehung der Parteien im Mediationsverfahren bietet das Stufenmodell von Fisher und Brown199, in dem durch Rationalität, Verständnis, Kommunikation, Zuverlässigkeit, Überzeugung und Akzeptanz die Beziehung der Parteien hergestellt und diese aufeinander hin ausgerichtet werden sollen. Rationalität („Balance emotions with reason“)200 zielt dabei auf die Bedeutung von Emotionen im Konflikt, Verständnis („Learn how they see things“)201 auf einen Perspektivwechsel, Kommunikation („Always consult before deciding – and listen“)202 auf die gegenseitige Einbindung in Entscheidungsprozesse, Aktives Zuhören auf das Vermeiden gemischter Botschaften, Zuverlässigkeit („Be wholly trustworthy, but not wholly trusting“)203 auf die Etablierung eines vertrauenswürdigen und berechenbaren Verhaltens, Überzeugung („Negotiate side by side“)204 auf ein Muster kooperativen, problemlösungsorientierten Verhandelns und Akzeptanz („deal seriously with whom we differ”)205 auf die Vermeidung von Ablehnung und die bedingungslose Annahme der anderen Partei unabhängig von bestehenden sachlichen Differenzen. e) Vertraulichkeit Während die Verfahrensgrundsätze der Privatautonomie, der Kooperation sowie der Orientierung des Verfahrens an den Interessen und der Beziehung der Parteien die Mediation in ihrem Wesen grundlegend prägen, kommt den Geboten des Vertraulichkeitsschutzes, der Informalität sowie der Neutralität des Mediators insoweit eine unterstützende Funktion zu. Deutlich wird dieser Funktionszusammenhang insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Vertraulichkeit. Denn die Mediation entfaltet ihre Wirksamkeit gerade dadurch, dass die Parteien die konfliktrelevanten Informationen miteinander austauschen und dabei offen über ihre jeweiligen Interessen kommunizieren. Die Bemühungen der Parteien um eine kooperative, vertrauensvolle Arbeitsbeziehung, die eine an den Interessen beider Parteien orientierte, privatautonome Beilegung des Konfliktes erst ermöglicht, bedürfen allerdings eines geschützten Verfahrensrahmens, der den Parteien garantiert, dass ihre Offenheit Handbook of Conflict Resolution (2. Aufl. 2006), S. 92 ff. sowie BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 141 ff.; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 160 ff. 199 Fisher/Brown, Getting Together (1989). 200 Fisher/Brown, Getting Together (1989), S. 43 ff. 201 Fisher/Brown, Getting Together (1989), S. 64 ff. 202 Fisher/Brown, Getting Together (1989), S. 84 ff. 203 Fisher/Brown, Getting Together (1989), S. 107 ff. 204 Fisher/Brown, Getting Together (1989), S. 132 ff. 205 Fisher/Brown, Getting Together (1989), S. 149 ff.
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
in einem nachfolgenden gerichtlichen Verfahren von ihrem Verhandlungspartner nicht ausgenutzt wird. Entsprechend bedarf die Mediation eines wirksamen Vertraulichkeitsschutzes, der garantiert, dass die im Mediationsverfahren offengelegten Informationen nicht als Beweismittel in einem nachfolgenden Zivilprozess eingeführt und verwertet werden können. Realisiert wird der Vertraulichkeitsschutz in der Mediation durch vertragliche und gesetzliche Regelungen. Vertragliche Vereinbarungen zum Schutz der Vertraulichkeit sind regelmäßig Bestandteil der Mediationsvereinbarungen. Sie enthalten prozessual wirkende Vortrags- und Beweismittelbeschränkungen, die zur prozessualen Unbeachtlichkeit abredewidrigen Sachvortrags, zur Unzulässigkeit entsprechender Beweisanträge führen. Derartige Prozessverträge sind ohne weiteres innerhalb der Grenzen des ius cogens möglich.206 Eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht ergibt sich für den Mediator aus § 4 S. 1 MedG, für Anwaltsmediatoren zusätzlich aus § 43a Abs. 2 BRAO, § 18 BORA. Sie ist durch ein Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO verfahrensrechtlich abgesichert. Auf europäischer Ebene ist der Grundsatz der Vertraulichkeit des Mediationsverfahrens durch Art. 7 der – freilich grundsätzlich umsetzungsbedürftigen – europäischen Mediationsrichtlinie (2008/52/EG)207 normiert, der für grenzüberschreitende Mediationsverfahren ein Aussageverweigerungsrecht des Mediators und seiner Hilfspersonen vorsieht. Auf internationaler Ebene finden sich in Art. 9 des UNCITRAL Model Law on International Commercial Conciliation sowie in sec. 4-6 des US-amerikanischen Uniform Mediation Act Regelungen zum Vertraulichkeitsschutz, die allerdings im Gegensatz zum lediglich personenbezogenen ein sehr viel weiteres gegenstandsbezogenenes Schutzkonzept vorsehen. Dabei werden die vertraulichen Informationen nicht lediglich punktuell durch Zeugnisverweigerungsrechte und verschiedene Pflichten vor missbräuchlicher Verwertung in einem nachfolgenden Zivilprozess geschützt, sondern als solche einem umfassenden Beweisverwertungsverbot unterworfen.208 f) Informalität Im Gegensatz zu dem durch die Zivilprozessordnung detailliert geregelten Zivilverfahren zeichnet sich die Mediation durch ein hohes Maß an Informalität 206 Hierzu gehören die Vorschriften der §§ 138, 242, 305 ff. BGB sowie der verbraucherschützenden Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen 93/13/EWG = ABlEG Nr. L 95 v. 5.4. 1993, S. 29. Vgl. hierzu eingehend Eidenmüller, in: Breidenbach/Coester-Waltjen/Hess/Nelle/Wolf (Hrsg.), Konsensuale Streitbeilegung (2001), S. 45, 67. 207 Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivilund Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3. 208 Vgl. hierzu Duve/Prause, IDR 2004, 126, 131; Eidenmüller, SchiedsVZ 2005, 124, 127 f.; Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2741.
II. Verfahrensgrundsätze
595
und Flexibilität aus. Die Mediation ist kein rechtsförmliches Verfahren. Die Beteiligten sind nicht Adressaten fest umrissener, formalisierter Rechte und Pflichten. Auch stehen ihnen keine prozessualen Ansprüche zu, wie dies im Zivilprozess der Fall ist. Dies bedeutet freilich keineswegs, dass die Mediation nicht konkreten Verfahrensregeln unterworfen wäre. Wie wir gesehen haben, wird sie durch eine ganze Reihe von Verfahrensgrundsätzen bestimmt, die sich aus dem Wesen des Verfahrens selbst ergeben, ihm immanent und für die Erhaltung seiner funktionalen strukturellen Integrität unabdingbar sind. Diese Verfahrensgrundsätze können in der Mediationsvereinbarung, dem Mediatorvertrag oder den Verfahrensordnungen näher konkretisiert sein, wobei derartigen Verhaltenspflichten regelmäßig nur Leitbildfunktion zukommt und sie – anders als zivilprozessuale Pflichten – nicht unmittelbar sanktionierbar sind.209 Eingeführt werden sie in das Mediationsverfahren allerdings typischerweise durch den Mediator, der die Parteien im Eröffnungsstatement mit den Grundzügen des Verfahrens vertraut macht und sie im Übrigen durch Umsetzung im Rahmen seiner verfahrensleitenden Funktion in das Verfahren einführt. Die durch die fehlende Rechtsförmlichkeit bedingte Flexibilität bildet dabei einen wesentlichen Vorteil des Verfahrens. Sie vermeidet die systembedingten Schwächen, die mit der Fixierung der Parteien in den kontradiktorischen Rollen antagonistisch gegenüberstehender Gegner und dem eskalationsfördernden Gepräge eines öffentlichen, dem Muster der gewohnten vertrauensvollen Alltagskommunikation widersprechenden Tribunals verbunden sind. Die mit der Flexibilität gewonnene Freiheit der Verfahrensgestaltung versetzt die Beteiligten in die Lage, den Gang des Verfahrens flexibel an die Dynamik des Verhandlungsgeschehens anzupassen und so durch das Verfahren selbst steuernd auf den Konflikt einzuwirken. Dabei haben die Parteien nur mittelbar über ihre Mitwirkung und die Verhandlungsdynamik Einfluss auf die Verfahrensgestaltung. Die Verfahrensleitung (process control) liegt ausschließlich in den Händen des Mediators, der die Parteien durch Stärkung ihrer Autonomie, ihrer Beziehung zueinander und damit ihrer Fähigkeit zu kooperativer Problemlösung in die Lage versetzt, eigenverantwortlich eine ihnen allein zustehende Sachentscheidung herbeizuführen (substance control). Durch die Flexibilität des Verfahrens wird den Parteien eine ihren Alltagsgewohnheiten sehr viel stärker entsprechende Kommunikation und auf diese Weise eine unmittelbare und aktive Partizipation am Verfahren ermöglicht, da eine – etwa im Zivilprozess stets notwendige – Vermittlung und „Übersetzung“ des Konfliktes in eine rechtsförmliche Verfahrenssprache durch professionelle Parteivertreter entbehrlich
209 Eine Ausnahme bilden hierbei grobe Pflichtverletzungen des Mediators, die unter Umständen eine zivilrechtliche Haftung nach sich ziehen können.
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
ist210. Die Parteien werden durch die informale und flexible Struktur des Verfahrens befähigt, den Konflikt auf natürliche und, wie wir gesehen haben211, dem Wesen des Menschen in seinem Kern entsprechende Weise beizulegen. Die Auswirkungen sind erheblich: Durch die der natürlichen Kommunikation und dem natürlichen Konfliktverhalten des Menschen entsprechende Verfahrensstruktur werden nicht nur die mit dem Zivilprozess verbundenen Belastungen vermieden, sondern darüber hinaus erst die Voraussetzungen für eine gemeinsame, kreative und wertschöpfende Beilegung des Konfliktes geschaffen. Dies setzt die Transformation der Beziehung und die Ausrichtung der Parteien aufeinander hin212 voraus, die kaum in einem formalisierten Verfahren, sondern sehr viel eher in einem Verfahren gelingen kann, das in seiner Struktur dem natürlichen Kommunikations- und Interaktionsverhalten des Menschen entspricht. Die Formalität des Mediationsverfahrens entspricht dabei einem allgemeinen Trend hin zu informalen Steuerungsformen des Staates, der sich vom Obrigkeits- über den normativ regelnden zum „kooperativen Staat“ gewandelt hat.213 g) Neutralität Das Mediationsverfahren wird auf der Ebene der Verfahrensgrundsätze schließlich auch durch die Neutralität des Mediators geprägt. Der Begriff der Neutralität beschreibt dabei – wie auch die verwandten Begriffe der Allparteilichkeit, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit – das Gebot an den Mediator, das Verfahren unvoreingenommen und ohne Ansehen der einzelnen Parteien zu leiten und keine keinen der Beteiligten zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Der Neutralitätsgrundsatz trifft als Verhaltensgebot zwar auch den Richter im Zivilprozess, doch erfüllt er in beiden Verfahren eine jeweils unterschiedliche Funktion: Während die Neutralität des Richters im Zivilprozess dazu dient, eine sachlich unabhängige und damit richtige Sachentscheidung zu gewährleisten, ermöglicht die Neutralität des lediglich vermittelnden und nicht entschei-
210 Zum Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit adversarialer Konfliktbeilegung eingehend oben S. 27 ff. 211 Vgl. hierzu oben S. 246 ff. 212 Zur Bedeutung der Transformation der Parteibeziehung durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin als zentralem Wesenselement der Mediation eingehend oben S. 124 ff. sowie unten S. 471 ff. Vgl. hierzu grundlegend Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 213 Vgl. hierzu oben S. 38 ff. sowie Ritter, AÖR 104 (1979), 389; v. Alemann/Heinze, Kooperativer Staat (1981); Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 558 ff.; Voigt (Hrsg.), Der kooperative Staat (1995); Böhret, in: Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung (1997), S. 119, 126 ff.; Treutner, Verhandlungsstaat oder kooperativer Staat? (1999); Frick, Der freundliche Staat (2001); Baer, Bürger im Verwaltungsrecht (2006), S. 93 f., 130 ff.; Pöllmann, Kooperativer Staat (2007).
II. Verfahrensgrundsätze
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denden Mediators die Sicherung der gleichen Verfahrensstellung und Partizipationschancen und so die „Waffengleichheit“ der Parteien im Verfahren. Erst eine gleichberechtigte Möglichkeit der Mitwirkung der Parteien an der Einigungsentscheidung versetzt sie in die Lage, ihre im Übrigen das Verfahren wie das Ergebnis erst legitimierende Privatautonomie auch tatsächlich auszuüben und eine ihren jeweiligen Interessen entsprechende, nachhaltige, dauerhafte und faire Einigungsentscheidung herbeizuführen. Die Neutralität des Mediators schützt damit die Privatautonomie der Parteien und sichert auf diese Weise zugleich die Qualität des Einigungsergebnisses. Trotz der Selbstverständlichkeit, mit der die Verpflichtung des im angloamerikanischen Sprachraum häufig sogar als neutral bezeichneten Mediators zu allparteilicher Neutralität allgemein anerkannt ist214, ist das Neutralitätsgebot von erheblicher praktischer Bedeutung. Wie wir bereits gesehen haben, kommt es in der Praxis immer wieder zu gravierenden Verletzungen des Neutralitätsgebots des Mediators215, die jedenfalls im Fall des Untermaßverbotes auf ein fehlerhaftes Verständnis des Inhalts der Neutralitätspflicht zurückgeführt werden können. In der Praxis sind vor allem zwei Fallkonstellationen von Relevanz: Auf der einen Seite die Verletzung des Untermaßverbotes in den Fällen, in denen der Mediator trotz massiver Macht- oder Informationsasymmetrien gerade unter Verweis auf seine Neutralitätspflicht passiv bleibt und einen die gleiche Mitwirkung beider Parteien am Verfahren ermöglichenden Ausgleich unterlässt. Auf der anderen Seite die Verletzung des Übermaßverbotes durch massiven Einigungsdruck des Mediators, bei der die Parteien gleichsam zu einem „Urteil in Vergleichsform“216 gedrängt werden. In beiden Fällen liegt eine gravierende Verletzung der Neutralitätspflicht des Mediators vor. Im Fall der Verletzung des Untermaßverbotes ist der Mediator zu einer aktiven Intervention verpflichtet, welche die unterlegene Partei in die Lage versetzt hätte, wieder eigenverantwortlich an der Einigungsentscheidung mitzuwirken. Wie wir gesehen haben, ist es dem Mediator versagt, sich unter Verweis auf das – hier nur vermeintlich eingreifende – Neutralitätsgebot jeglicher Intervention zu enthalten und so sehenden Auges in Kauf zu nehmen, dass die privatautonome Mitwirkung einer der beiden Parteien erheblich beeinträchtigt oder unmöglich gemacht wird. Aufgrund seiner Funktion als Hüter der Privatautonomie und der Verfahrensintegrität muss der Mediator gerade im Rahmen seiner Neutralitätspflicht dafür Sorge tragen, dass beide Parteien gleichermaßen die Möglichkeit erhalten, an dem Verfahren aktiv mitzuwirken und eine
214
Vgl. nur Kovach, Mediation (3. Aufl. 2004), S. 211 ff.; MenkelMeadow/Love/Schneider, Mediation, (2006), S. 343 ff.; Alfini/Press/Sternlight/Stulberg, Mediation Theory and Practice (2. Aufl. 2006), S. 114 ff. 215 Vgl. nur die Fallstudien oben S. 344 ff. 216 Stürner, JR 1979, 133, 136.
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informierte und damit auch in tatsächlicher Hinsicht privatautonome Einigungsentscheidung zu treffen. Dem entspricht die Wahrnehmung der strukturell schwächeren Partei, dass der Mediator sie durch seine Passivität, die den stärkeren Verhandlungspartner frei gewähren lässt, im Stich gelassen und sich damit gleichsam auf die Seite des verhandlungsstärkeren Konfliktgegners gestellt hat. Dieser Verletzung der Neutralitätspflicht kann der Mediator nur durch ein flexibles Interventionsverhalten begegnen, durch das er die tatsächliche Partizipation beider Parteien am Mediationsverfahren gewährleistet. Versagt der Schutz durch den Mediator, bleibt der schwächeren Partei lediglich die Stärkung der self-agency durch Inanspruchnahme eines rechtlichen Vertreters. Die Grundsätze für einen entsprechenden Verhaltensrahmen haben wir ausgehend von drei empirischen Fallstudien im Kontext der Rollendefinition des Mediators herausgearbeitet. Der entgegengesetzte Fall einer Verletzung des Übermaßverbotes wird dagegen eher im Kontext gerichtsverbundener Mediationsverfahren auftreten und ist regelmäßig die Folge eines stark direktiven Mediationsstils. Auch hier können sich die Parteien vor Übergriffen des Mediators auf die ihnen als Parteien allein zustehende Sachentscheidung durch anwaltliche Vertretung schützen. Eine retrospektive gerichtliche Überprüfung entsprechender Mediationsvergleiche bietet dagegen aufgrund der hiermit verbundenen Beweisprobleme und des aus Gründen der Rechtssicherheit sehr weiten Toleranzspielraumes nur in Ausnahmefällen hinreichenden Schutz. Das Neutralitätsgebot ergibt sich für die vertragsautonome Mediation aus dem Mediatorvertrag, für die gerichtsverbundene Mediation aus einer verfassungsrechtlichen Gesamtschau der Art. 97, 101 Abs. 1 S. 2, 3 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip.217 Im Vorfeld des Mediationsverfahrens kann die Neutralität des Mediators durch geeignete Auswahlmechanismen, die Offenlegung etwaiger Interessenkonflikte, berufsrechtliche Tätigkeitsverbote sowie die Unwirksamkeit der Mediationsvereinbarung nach § 138 BGB oder wegen Verstoßes gegen das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, während des Mediationsverfahrens durch entsprechende individualvertragliche Vereinbarungen die Kündigung des Mediatorvertrages nach den §§ 626, 627 BGB oder die Anfechtung nach den §§ 119 Abs. 2, 123 BGB gesichert werden. Nach Abschluss des Mediationsverfahrens kommt eine Aufhebung des vereinbarten Mediationsvergleichs nach den §§ 119 Abs. 2, 123, 138 und 313 BGB in Betracht.218
217 Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 40 ff. 218 Vgl. hierzu eingehend Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators (2008), S. 215 ff.
II. Verfahrensgrundsätze
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3. Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses in der Mediation? Wie wir im Rahmen der vorangegangenen Untersuchung des Mediationsverfahrens gesehen haben, wird die Mediation durch eine Reihe klar umrissener Verfahrensgrundsätze219 bestimmt, die weitgehend jenen inneren und äußeren Strukturmerkmalen220 entsprechen, die wir im Rahmen unserer Strukturanalyse der Mediation im Vergleich zum Zivilprozess herausgearbeitet haben und die dem Mediationsverfahren die ihm eigene, prägende Gestalt verleihen: Privatautonomie, Kooperation, Interessenorientierung, Beziehungsgerechtigkeit, Vertraulichkeit, Flexibilität und Neutralität des Mediators. Für den Zivilprozess ergibt sich dagegen ein deutlich anderes Bild. Hier ist als Ergebnis einer fortlaufenden dogmatischen Durchdringung und richterlicher Rechtsfortbildung seit Langem ein eigener, von den Strukturmerkmalen und Gestaltungsprinzipien des gerichtlichen Verfahrens weitgehend unterschiedener Kanon der Verfahrensgrundsätze bzw. Prozessmaximen anerkannt. Neben diese Strukturmerkmale, die den Zivilprozess als komplementären Gegenpol zum Mediationsverfahren prägen – Heteronomie statt Privatautonomie, kontradiktorische Entscheidungsstruktur statt Kooperation, Rechts- statt Interessenorientierung, Ergebnis- statt Beziehungsgerechtigkeit, Öffentlichkeit statt Vertraulichkeit, Formalität statt Informalität und Entscheidung statt Vermittlung durch neutralen Dritten – treten die klassischen Prozessmaximen: Der Dispositionsgrundsatz, der Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz, die Beschleunigungs- und Konzentrationsmaxime, der Grundsatz der richterlichen Prozessleitung, der Grundsatz der Mündlichkeit, der Unmittelbarkeits- sowie der Öffentlichkeitsgrundsatz.221 Dabei handelt es sich um jene Wertgrundsätze und Strukturprinzipien, die als Rechtsgrundsätze den Zivilprozess seinem Wesen nach prägen und damit gleichsam den „Bauplan“ des Verfahrens enthalten. Als Prinzipien des geltenden Rechts ergeben sie sich entweder unmittelbar aus dem Gesetz bzw. der Verfassung oder lassen sich gleichsam als Destillat aus einer Gesamtschau der verfahrensbestimmenden Einzelvorschriften herleiten. Als grundlegende Wertentscheidungen der Verfahrensgestaltung sind sie vor allem für die Auslegung des Zivilverfahrensrechts und das Ausfüllen von Gesetzeslücken von Bedeutung. Aus ihnen ergeben sich Verhaltensnormen für die Beteiligten, und ihre Einhaltung ist regelmäßig die Voraussetzung für den Eintritt der Rechtswirkungen des Verfahrens. Ihnen kommt im Rahmen unserer Untersuchung vor allem im Hinblick auf die Einordnung des Mediations- und Zivilverfahrens in
219
Vgl. oben S. 447 ff. Vgl. oben S. 107 ff. 221 Vgl. zu den Verfahrensgrundsätzen des Zivilprozesses MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 309 ff.; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 26 ff.; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 43 ff. 220
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das System einer umfassenden Konfliktbehandlungslehre eine zentrale dogmatische Ordnungsfunktion zu. In diesem Zusammenhang wird insbesondere die Frage relevant, ob sich aus den Verfahrensprinzipien Aussagen über das dogmatische Verhältnis von Mediation und Zivilprozess gewinnen lassen. Gibt es übergreifende Verfahrensprinzipien, die für Mediation und Zivilprozess gleichermaßen gelten? In welchem Maße lassen sich Unterschiede oder Überschneidungen feststellen? Und schließlich wirft vor allem die gerichtsverbundene Mediation die Frage auf, ob die allgemeinen Prozessmaximen auch auf das Mediationsverfahren Anwendung finden oder ob sie eine dem Wesen und der Natur der Mediation entsprechende Überformung erfahren. Die Ergebnisse dieser Untersuchung können darüber hinaus zur Überprüfung der auf der Basis von Fullers Institutionenlehre entwickelten Grundsätze der Verfahrensintegrität222 und der Rollentrennung223 als wesentliche Elemente einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre herangezogen werden. Auf der Grundlage des auf diese Weise gewonnenen dogmatischen Rahmens können nun konkrete Gestaltungsprinzipien für die Integration des Mediationsverfahrens in den Zivilprozess entwickelt werden. a) Dispositionsgrundsatz Als Spiegelbild der im materiellen Recht geltenden Privatautonomie wird der Zivilprozess ganz wesentlich durch den Dispositionsgrundsatz geprägt. Dieser Grundsatz gewährt den Parteien als Herren des Verfahrens die Befugnis, über Inhalt und Gang des Verfahrens im Ganzen zu verfügen. Da es jedem Einzelnen aufgrund der ihm zustehenden Privatautonomie überlassen bleibt, ob und wie er seine subjektiven Rechte geltend macht, muss er auch frei darüber entscheiden können, ob er hierfür die zuständigen Institutionen staatlicher Justiz in Anspruch nimmt. Seine Freiheit bezieht sich dabei allerdings nur auf Inhalt, Einleitung, Gang und Beendigung, nicht dagegen auf die strukturelle Gestaltung des Verfahrens und seiner Grundsätze. Hat er sich einmal für ein bestimmtes Verfahren entschieden, muss er die insoweit geltenden Grundsätze beachten und sich an die im Zivilverfahrensrecht normierten „Spielregeln“ des Verfahrens halten. Entsprechend wird der Zivilprozess grundsätzlich nur auf Initiative der Parteien durch Klage bzw. Rechtsmittelantrag in Gang gesetzt (§§ 253, 688, 690 ZPO sowie §§ 920, 936 ZPO) und kann von ihnen ohne richterliche Entscheidung in der Hauptsache durch Klage- oder Antragsrücknahme (§§ 269, 515,
222
Vgl. zum Prinzip der strukturellen Integrität eingehend oben S. 116 f. sowie unten S. 546 ff. 223 Vgl. zum Prinzip der Rollentrennung oben S. 114 ff., 327 Fn. 66 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 404 ff. (1978). Vgl. auch Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999).
II. Verfahrensgrundsätze
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566 ZPO), durch Erledigungserklärung (§ 91a ZPO) oder durch Prozessvergleich (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) beendet werden.224 Durch den nach Inhalt und Form bestimmten Antrag legt die klagende Partei darüber hinaus den Streitgegenstand225 und damit den thematischen Inhalt des weiteren Verfahrens fest. An ihn sind das Gericht (§ 308 Abs. 1 S. 1 ZPO), aber auch die Parteien im Weiteren gebunden, da der einmal gestellte Klageantrag nicht mehr ohne weiteres geändert werden kann (§ 263 ZPO). Der Dispositionsbefugnis steht aufgrund der Bindungswirkung des gestellten Antrags auch für die Parteien damit eine entsprechende Dispositionslast gegenüber. Darüber hinaus können die Parteien durch Anerkenntnis (§ 307 ZPO) und Verzicht (§ 306 ZPO) eine Entscheidung des Gerichts in der Hauptsache herbeiführen, dem indes aufgrund der Bindung an Anerkenntnis und Verzichtsantrag eine inhaltliche Prüfung versagt ist. Dispositionsbefugnis der Parteien betrifft allerdings nur die Einleitung, Beendigung und die Bestimmung des Gegenstands des Verfahrens. Die formelle und materielle Prozessleitung liegt dagegen in den Händen des Gerichts. Eine Einschränkung erfährt der Dispositionsgrundsatz als prozessuale Fortführung der materiell-rechtlichen Privatautonomie dort, wo der Verfahrensgegenstand aufgrund der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen auch der privatautonomen Verfügung der Parteien entzogen ist. Dies gilt aufgrund des bestehenden öffentlichen Interesses etwa für vereinzelte Bereiche des Ehe- und Kindschaftsrechts, doch sind derartige Verfügungsbeschränkungen grundsätzlich die Ausnahme. Berührt aber nicht beschränkt wird der Dispositionsgrundsatz durch die richterliche Hinweis- und Aufklärungspflicht nach § 139 Abs. 1 ZPO. Sie berechtigt und verpflichtet den Richter, in Fürsorge und Unterstützung der eigenverantwortlichen Prozessführung der Parteien durch Anregungen auf das Stellen sachdienlicher Anträge hinzuwirken, die er indes nicht erzwingen kann. Der Dispositionsgrundsatz gilt allerdings nur einseitig. Ist der Zivilprozess erst einmal in Gang gesetzt, muss sich der Beklagte dem Verfahren unterwerfen. Eine einseitige Beendigung des laufenden zivilgerichtlichen Verfahrens ist nur durch Anerkenntnis möglich. Für eine einvernehmliche Beendigung durch Erledigterklärung ist die Zustimmung der klagenden Partei erforderlich, die in der Praxis regelmäßig nur durch erhebliche Zugeständnisse oder ein Anerkenntnis gegeben werden wird. Der Beklagte ist darüber hinaus auch wie der
224
Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 64 ff.; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 196 ff., Rn. 619 ff. 225 Zum Theorienstreit und der herrschenden Theorie vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff MünchKomm/Becker-Eberhard, ZPO (5. Aufl. 2016), Vor. § 253 Rn. 32 ff.; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 68 ff.; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 97 ff. sowie Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 118 ff.; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 218 ff.
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Kläger und das Gericht inhaltlich an den Streitgegenstand gebunden. Eine Einwirkung auf den Verfahrensgegenstand ist nur durch Einleitung eines neuen Verfahrens im Wege der Widerklage möglich. Damit ist die Dispositionsbefugnis der Parteien im Hinblick auf die Möglichkeit des Verzichts bzw. des Anerkenntnisses von vornherein durch die geltend gemachten materiellen Ansprüche sowie für den Beklagten durch die Zustimmung des Klägers beschränkt. Der Dispositionsgrundsatz ist auf das Mediationsverfahren als idealtypisches privatautonomes Verfahren par excellence ohne weiteres übertragbar.226 Er gilt in der Mediation sogar in weitaus stärkerem Maße als im Zivilprozess, da die Parteien in ihr über sehr viel weitreichendere Möglichkeiten der Verfahrensgestaltung verfügen. So wird das Mediationsverfahren regelmäßig auf Initiative jedenfalls einer Partei und mit Zustimmung aller Beteiligten eingeleitet. Auch der Verfahrensgegenstand wird durch den von den Parteien aufgeworfenen Konflikt bestimmt.227 Es liegt in der Hand der Parteien, den Verfahrensgegenstand beliebig zu erweitern, zu begrenzen und dabei inhaltliche Schwerpunkte zu setzen. Die Dispositionsbefugnis der Mediationsparteien ist im Gegensatz zum Zivilprozess nicht ein-, sondern zweiseitig ausgestaltet. Die Parteien sind in ihrer Mitwirkung am Verfahren vollkommen frei und grundsätzlich nicht gezwungen, sich auf die Mediation oder eine Erweiterung des Gegenstandes einzulassen. Sie können die Mediation jederzeit – auch ohne Zustimmung der anderen Partei – beenden, was allerdings in der Regel die Fortsetzung des Konfliktes im streitigen Zivilprozess zur Folge hat. Eine „erfolgreiche“ Beendigung der Mediation durch Mediationsvergleich ist allerdings nur einvernehmlich auf der Grundlage einer gemeinsamen Einigung möglich. Es wird jedoch auch dem Mediator in Ausnahmefällen die Befugnis zuerkannt, das Verfahren ohne Zustimmung der Parteien zu beenden. Dies wird immer dann erforderlich sein, wenn er zu der Überzeugung gelangt, dass eine Partei aufgrund einer Verhandlungsimparität nicht in der Lage ist, sich selbst und ihre Interessen effektiv zu vertreten oder er die vereinbarte Regelung für nicht durchsetzbar oder rechtswidrig hält und eine Abhilfe durch die Parteien nicht erreicht werden kann.228 Begrenzt wird die Dispositionsfreiheit der Parteien darüber hinaus in den Fällen obligatorischer Mediation. Wie wir gesehen haben, liegt darin indes kein Verstoß gegen den das Mediationsverfahren in seinem Wesen prägenden 226 Ebenso für das Güterichterverfahren nach § 278 Abs. 5 ZPO v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 299. 227 Welche Konfliktthemen und Sachverhaltsinformationen dann im Einzelnen zum Gegenstand der Mediation gemacht werden, ist allerdings nicht mehr Inhalt des Dispositionsgrundsatzes, sondern betrifft den Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz. Vgl. hierzu unten S. 355, 362, 372, 376, 382, 569. 228 Vgl. hierzu oben S. . Vgl. auch Richtlinien der BAFM, Nr. 2.3.6.; Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, Nr. 3.2.
II. Verfahrensgrundsätze
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Grundsatz der Privatautonomie. Denn die den Parteien auferlegte Verpflichtung, sich vor dem Ingangsetzen eines Zivilprozesses zunächst um eine gütliche Einigung zu bemühen, betrifft nicht die Abschluss-, sondern allein die Verhandlungsfreiheit und damit lediglich den Randbereich des privatautonomen Handelns der Parteien. Der Gesetzgeber legt ihnen mit dem obligatorischen Güteversuch lediglich die Pflicht auf, sich mit der Mediation als alternativer Verfahrensposition einer außergerichtlichen Einigung auseinanderzusetzen, sie ernsthaft zu prüfen und auf dieser Grundlage sodann eine freie Entscheidung über die weitere Verfahrensgestaltung zu treffen. Die Erforderlichkeit eines obligatorischen Güteversuchs erwächst dabei aus der in der Rechtspraxis empirisch nachgewiesenen Verstrickung der Parteien in die intuitiven Muster kontradiktorischen, aggressiven Konfliktverhaltens und ihrer vor allem durch gesellschaftliche Prägung bedingten Unfähigkeit zu einer eigenverantwortlichen, kooperativen Beilegung ihres Konfliktes. Der obligatorische Güteversuch dient daher dadurch, dass er den Parteien in ihrem eigenen Interesse die Inanspruchnahme eines privatautonomen Verfahrens nahelegt, letztlich der Stärkung der Privatautonomie. Der Einwand des Paternalismus wird dadurch entkräftet, dass es den Parteien freisteht, die Mediation nach dem Scheitern einer Einigung fortzuführen oder stattdessen zum zivilgerichtlichen Verfahren überzugehen. Damit wird die Entscheidungsfreiheit der Parteien in keiner Weise beschnitten, sondern im Gegenteil durch zusätzliche Handlungsoptionen erweitert. Der obligatorische Güteversuch trägt darüber hinaus der Tatsache Rechnung, dass die Entscheidung der Parteien gegen das privatautonome und für das heteronome gerichtliche Zivilverfahren regelmäßig durch fehlende Information und bestehende Vorurteile bedingt wird, die sich am effektivsten durch eine Teilnahme am Mediationsverfahren beseitigen lassen. Da die Dispositionsbefugnis nicht weiter reichen kann als die ihr spiegelbildlich zugrunde liegende Privatautonomie, unterliegt der obligatorische Güteversuch keinen Bedenken.229 b) Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz Der Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz weist den Parteien das Recht, aber auch die Pflicht zu, die für die richterliche Sachentscheidung erforderlichen Tatsachen in das Verfahren einzuführen. Es sind damit die Parteien, die mit bindender Wirkung für das Gericht darüber entscheiden, welcher Tatsachenstoff im Prozess vorgebracht und der Entscheidung zugrunde gelegt wird
229
Zu diesem Ergebnis wird man auch dann gelangen, wenn man in ihm eine Beschränkung der Privatautonomie erblicken würde. Denn dann wäre ein derartiger Eingriff in die Privatautonomie der Parteien jedenfalls durch die Stärkung der materiellen Selbstbestimmung und die individuellen sowie die gesamtgesellschaftlichen Vorteile des Mediationsverfahrens gerechtfertigt.
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(„da mihi facta, dabo tibi ius“, „iura novit curia“).230 Dem Gericht ist es im Rahmen des Zivilverfahrens – im Gegensatz zu dem von der Inquisitionsmaxime bestimmten Strafprozess – verwehrt, selbst die für die Entscheidung erforderlichen Tatsachen zu ermitteln und in den Prozess einzubringen. Mit der Befugnis der Parteien, über den das Verfahren inhaltlich bestimmenden Tatsachenstoff bindend zu verfügen, korrespondiert die gegenüber dem Gericht und der anderen Partei bestehende Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht (§ 138 Abs. 1 ZPO).231 Als Konsequenz aus der prozessrechtlichen Lauterkeitspflicht, d.h. der Pflicht zur redlichen, sorgfältigen und sachgemäßen Prozessführung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 138 Abs. 1 ZPO), sind die Parteien verpflichtet, ihre Tatsachenerklärungen vollständig und wahrheitsgemäß abzugeben. Seine Grenze findet der Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz in der richterlichen Frage- und Hinweispflicht (§§ 139, 278 Abs. 2 S. 2 ZPO), in der Möglichkeit der Anordnung des persönlichen Erscheinens der Parteien (§§ 141 Abs. 1, 278 Abs. 3 S. 1 ZPO) sowie der Pflicht zur Vorlage von Beweismitteln zur Substantiierung vorgetragener Tatsachen (§§ 142 ff. ZPO).232 Der Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz gilt auch im Mediationsverfahren.233 Die Mediation als privatautonomes Verfahren ist sogar in besonderer Weise durch die Mitwirkung der Parteien geprägt und auf diese angewiesen. Auch hier sind es die Parteien, die als unmittelbare Konfliktbeteiligte den Konfliktstoff in das Verfahren einbringen und auch nur selbst einbringen können. Denn nur sie selbst verfügen über die Kenntnis aller notwendigen Konfliktdimensionen und damit über die einigungsrelevanten Informationen, die für eine ursächliche, interessengerechte, nachhaltige und dauerhafte Beilegung des Konfliktes erforderlich sind. Die dem Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz entsprechende Sachvortragsverantwortung und -befugnis der Parteien ist dabei vor allem auf den Konflikt, die aus ihrer Perspektive relevanten Aspekte sowie die konfliktbestimmenden Faktoren gerichtet. Allerdings kommt ihr in der Mediation eine grundlegend andere Funktion als im Zivilprozess zu: Während der von den Parteien vorgetragene Tatsachenstoff im Zivilprozess die Grundlage für seine 230 Zu dem in diesen Wendungen zum Ausdruck kommenden Amtsermittlungsgrundsatz Zeiss/Schreiber, Zivilprozessrecht (12. Aufl. 2014), Rn. 177. Zur Herkunft Meder, Ius non scriptum (2009), S. 199. 231 Hierzu Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 77 f.; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 154 ff. 232 Dabei ist eine entsprechende Vorlage von Beweismitteln ausschließlich zur Substantiierung und Präzisierung des Parteivortrages sowie für ein besseres Verständnis des Prozessstoffes durch das Gericht zulässig. Keinesfalls darf die Beweismittelvorlage zu einem Ausforschungsbeweis führen, der den von den Parteien vorgetragenen Tatsachenstoff um zusätzliche Themen ergänzt. 233 Ebenso für das Güterichterverfahren nach § 278 Abs. 5 ZPOv. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 301 ff., 313.
II. Verfahrensgrundsätze
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Subsumption unter die einschlägigen Rechtsnormen und damit für die richterliche Entscheidung bildet, dient er in der Mediation dazu, den Parteien ein Verständnis der Ursachen des Konfliktes, ihrer Interessen und gegenseitigen Perspektiven auf den Konflikt sowie mögliche Einigungsoptionen zu vermitteln und sie so zu einer eigenverantwortlichen Beilegung des Konfliktes zu befähigen. Im Anschluss an die Sachverhaltsaufklärung unterliegt die weitere formelle und materielle Leitung des Verfahrens und damit die weitere prozessuale Verarbeitung der aufgeworfenen Themen dagegen dem Mediator. Er wird zwar im Gespräch mit den Parteien regelmäßig die ihnen jeweils wichtigen Themenkomplexe herausarbeiten und sie zum Gegenstand der weiteren Erörterung machen. Ist der Gegenstand des Verfahrens aber erst einmal auf diese Weise festgelegt, so kommt ihm die zentrale Aufgabe zu, die Perspektive der Parteien von den geltend gemachten Rechtspositionen auf die ihnen zugrunde liegenden Sachinteressen und darüber hinaus einigungsrelevante Konfliktdimensionen zu lenken. Dazu gehören etwa emotionale, normative und Reputationsfragen, Auswirkungen auf Dritte und die mögliche Bedeutung des öffentlichen Interesses, die von den Parteien zunächst nicht als konfliktrelevant erachtet werden, deren Diskussion aber für eine nachhaltige Beilegung des Konfliktes erforderlich ist. Als für das Mediationsverfahren typische Besonderheit ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass sich der von den Parteien eigenständig in die Mediation eingebrachte Tatsachenstoff regelmäßig auf Aspekte des Konfliktes beschränken wird, die für eine effektive Beilegung des Konfliktes nicht ausreichend sind, sondern stattdessen lediglich einen ersten Ansatz für eine weitere Sachverhaltserforschung durch den Mediator bilden. So werden sich die Parteien typischerweise auf den Vortrag ihrer Rechtspositionen und der sie stützenden Tatsachen beschränken, während andere Sachverhaltsdimensionen ausgeblendet werden und sich die Parteien ihrer Interessen oft nicht bewusst sind. Es bedarf der Initiative und der Intervention des Mediators, im Rahmen des von den Parteien thematisierten Konfliktprogramms durch die Erforschung der Interessen, das Aufspüren möglicher Ursachen des Konfliktes und die Thematisierung weiterer Konfliktdimensionen234 – etwa emotionaler Aspekte – die Parteien dazu zu motivieren, die für eine Einigung tatsächlich notwendigen Tatsachen miteinander auszutauschen. Ihm kommt die Aufgabe zu, den Parteien Informationen zu entlocken, die sie von sich aus zunächst nicht preisgeben würden, weil ihnen ihre Bedeutung für die Konfliktlösung (noch) nicht bewusst ist. Ihm kommt damit die gleichsam pädagogische Aufgabe235 zu, die
234 Zur Bedeutung der Thematisierung aller Konfliktdimensionen und die Folgen der komplexitätsreduzierenden Transformation in einen Metakonflikt eingehend oben S. 12 ff. 235 Hierzu näher unten S. 598 ff.
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Parteien aufeinander hin auszurichten und sie aus ihrer Verstrickung in ein antagonistisches Positionendenken herauszulösen, um sie auf diese Weise zu einer offenen Kommunikation der einigungsrelevanten Informationen zu führen.236 Neben der Präzisierung und der Erörterung der tatsächlichen Sachverhaltsinformationen kann der Mediator ohne weiteres auch eine rechtliche Bewertung des Sachverhaltes vornehmen. Für den Güterichter ergibt sich eine entsprechende Befugnis aus einer analogen Anwendung der Vorschriften des § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO bzw. der § 278 Abs. 1, 5 S. 1 und § 362 ZPO. c) Richterliche Prozessleitung Während die Dispositionsmaxime und der Verhandlungs- bzw. Beibringungsgrundsatz den Parteien die Verantwortung für Eröffnung, Beendigung und Gegenstand des Verfahrens zuweisen, obliegt dem Gericht die formelle und materielle Leitung des Prozesses. Es hat sicherzustellen, dass das Verfahren gesetz- und zweckmäßig sowie effizient durchgeführt und innerhalb eines angemessenen Zeitraums beendet wird. Die formelle richterliche Prozessleitung betrifft dabei den äußeren Gang des Verfahrens, etwa die Anberaumung von Terminen, Ladung der Parteien, das Setzen von Fristen sowie die Verfahrensbindung oder -trennung. Die materielle Prozessleitung des Gerichts (§ 139 ZPO) hingegen ist darauf gerichtet, die Parteien durch richterliche Hinweise zur sachdienlichen Mitwirkung am Verfahren anzuhalten, unter Beachtung des Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatzes den Sachverhalt aufzuklären sowie in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Konfliktes hinzuwirken (§ 278 Abs. 1 ZPO). Ziel der richterlichen Prozessleitung ist damit die Beschleunigung des Verfahrens, die materielle Vorbereitung der Sachentscheidung sowie die Unterstützung der Parteien, um ihnen die sachgerechte Ausübung ihrer prozessualen Befugnisse zu ermöglichen. Die richterliche Prozessleitungsbefugnis findet im Mediationsverfahren ihre Entsprechung in der verfahrensleitenden Funktion des Mediators.237 Wie wir gesehen haben, liegt die Einleitung des Verfahrens in den Händen der Parteien. Die strukturierte Durchführung und Leitung der Mediation obliegt dagegen dem Mediator. Dieser nimmt die Parteien gleichsam „an der Hand“ und führt sie durch die unterschiedlichen Phasen des Verfahrens, indem er sie bei der Aufklärung des Sachverhalts begleitet, durch spezielle Fragetechniken ihre jeweiligen Interessen herausarbeitet, sie bei der Entwicklung wertschöpfender Einigungsoptionen unterstützt und schließlich bei der Fixierung des Einigungsergebnisses in einen schriftlichen Mediationsvergleich begleitet. Wie wir im 236
Zur grundlegenden Bedeutung des damit verbundenen multilateralen Rollentauschs vor dem Hintergrund der regula aurea und der entwicklungspsychologischen Forschung eingehend oben S. 249 ff. 237 Ebenso für das Güterichterverfahren nach § 278 Abs. 5 ZPOv. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 314.
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Rahmen unserer Untersuchung der Rollendefinition des Mediators gesehen haben, steht ihm dabei eine weite Bandbreite möglicher Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung. Insbesondere in Fällen von Informations- oder Machtasymmetrien kann der Mediator im Rahmen seiner Verfahrensleitungsbefugnis aktiv in das Verhandlungsgeschehen eingreifen, etwa indem er die Rechtslage oder die Prozessaussichten bewertet, Parteien über ihre Rechte aufklärt oder ihnen eigene Einigungsvorschläge unterbreitet. Während dem entscheidenden Richter im Rahmen des Zivilprozesses sowohl eine Prozessleitungs- als auch eine Sachentscheidungsbefugnis zustehen, ist der Mediator in seiner Rolle als Vermittler ausschließlich auf die Befugnis zur Leitung des Verfahrens beschränkt (process control). Die Sachentscheidung steht dagegen ausschließlich den Parteien zu (substance control). d) Beschleunigungs- bzw. Konzentrationsmaxime Effektiver Rechtsschutz ist stets auch Rechtsschutz in angemessener Zeit. Wird die gerichtliche Durchsetzung materieller Rechtsansprüche unangemessen verzögert, so wird das Recht entwertet oder für die Partei sogar wertlos.238 Die zeitliche Dimension justizieller Rechtsverwirklichung ist damit ein wesentlicher Aspekt staatlicher Gerechtigkeitsgewährung. Daraus folgt, dass die Prozessbeschleunigung kein Wert an sich ist, sondern stets im Dienst der Gerechtigkeit steht. Der Beschleunigungs- bzw. Konzentrationsgrundsatz ergibt sich als Bestandteil der Rechtsschutzgarantie aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie ausdrücklich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Er unterwirft das Gericht wie auch die Parteien durch eine besondere Prozessförderungspflicht der Verpflichtung, den Zivilprozess zügig durchzuführen und ihn auf die sachlich notwendige Dauer zu beschränken. In der Regel soll der Rechtsstreit in einem umfassend vorbereiteten mündlichen Hauptverhandlungstermin erledigt werden (§ 272 Abs. 1 ZPO). Diesem Ziel dienen eine Reihe von Einzelvorschriften, die das Gericht zur Förderung einer gütlichen Einigung (§ 278 Abs. 1 ZPO) sowie zu einer sorgfältigen Vorbereitung des mündlichen Verhandlungstermins (§§ 272 Abs. 1, 273, 276 f. ZPO) und die Parteien zu einem frühzeitigen Vorbringen ihrer Angriffs- und Verteidigungsmittel verpflichten (§§ 282 Abs. 3, 296 ZPO bzw. § 277 ZPO). Auch wenn die Verfahrensbeschleunigung in der Prozessrechtsgeschichte stets von erheblicher Bedeutung gewesen ist und in der jüngeren Zeit insoweit erhebliche Fortschritte erzielt werden konnten239, ist die Frage der Verfahrensbeschleunigung nach wie vor von hoher praktischer Relevanz. Durch die stetig wachsende Komplexität der Lebenssachverhalte, die hohe Dynamik des sich 238
Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 62. MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 356 („Verfahrensbeschleunigung war das Ziel nahezu jeder Reform der ZPO im vergangenen Jahrhundert“). 239
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immer schneller ändernden Rechts, die mit der Verrechtlichung einhergehende steigende Anzahl der Rechtsvorschriften und die Zunahme grenzüberschreitender Sachverhalte mit der Folge der Anwendbarkeit europäischen oder ausländischen Rechts steht das rechtspolitische Ziel einer zügigen Verfahrensbeendigung vor erheblichen Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund ist auch in der Justiz eine verstärkte Hinwendung zu Formen alternativer Konfliktbeilegung erkennbar, die in den in der jüngeren Zeit entstandenen gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen Ausdruck gefunden hat. Insbesondere an den Einsatz der Mediation wird vonseiten der Rechtspolitik die Erwartung einer kostengünstigen und schnellen Erledigung ziviler Streitigkeiten und damit eine deutliche Entlastung der Justiz geknüpft. Das Mediationsverfahren ist daher nicht nur mit der Beschleunigungs- und Konzentrationsmaxime vereinbar, sondern dient in besonders effektiver Weise ihrer Verwirklichung.240 Der wesentliche Vorteil der Mediation gegenüber dem Zivilprozess besteht gerade darin, dass Konflikte schneller und nachhaltiger als in einem förmlichen zivilgerichtlichen Verfahren beigelegt werden können. Nach den empirischen Erfahrungen gerichtsverbundener Mediationsprojekte kann das Mediationsverfahren regelmäßig in einem ein- bis dreistündigen Termin erfolgreich beendet werden.241 Das Risiko einer Verlängerung der Verfahrensdauer im Fall des Scheiterns der Mediation und eines nachfolgenden Zivilprozesses ist angesichts der sehr kurzen Dauer des Verhandlungstermins und der hohen Erfolgsquote vergleichsweise gering. Dies gilt umso mehr, als sich typischerweise frühzeitig in der Mediation herausstellt, ob das Verfahren durch eine einvernehmliche Einigung abgeschlossen werden kann. Darüber hinaus führt das Mediationsverfahren zwar in der Regel zu einer schnellen Beilegung des Konfliktes. Es ist jedoch kein Schnellverfahren.242 Die Mediation entfaltet ihre Wirksamkeit gerade dadurch, dass der Konflikt in der Komplexität seiner unterschiedlichen Dimensionen in einem strukturierten Verfahren sorgfältig analytisch aufbereitet wird, was eine präzise Erforschung der Interessen der Parteien, der Ursachen und weiterer Aspekte des Konfliktes voraussetzt.243 Die Parteien sollen durch einen Perspektivwechsel gerade in die Lage versetzt werden, die Interessen und Entscheidungsbedingungen ihres Verhandlungspartners zu erkennen und emotional wie rational
240 Im Ergebnis ebenso für das Güterichterverfahren nach § 278 Abs. 5 ZPOv. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 318 f. 241 Vgl. für den bayrischen Modellversuch „Güterichter“ Greger, Abschlussbericht (2007), S. 26, 29, 97. Nicht berücksichtigt ist hierbei die Zeit für die Akquise und Vorbereitung, die bei Güteverhandlungen ohne Einigung regelmäßig vier, bei erfolgreichen Güteverhandlungen fünf und bei Güteverhandlungen mit Regelungen, die über den Gegenstand des Prozesses hinausgehen, sechs Stunden beträgt. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 97. 242 v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 319. 243 So zutreffend v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 319.
II. Verfahrensgrundsätze
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nachzuvollziehen.244 Dies setzt eine Entschleunigung der Konfliktdynamik sowie des Verfahrensablaufs voraus, die es verbietet, ohne die nötige Vorbereitung vorschnell Einigungsoptionen zu entwickeln und unmittelbar „zur Lösung zu springen.“245 Trotz des strukturierten und insoweit verlangsamten Verfahrensablaufs kann das Mediationsverfahren regelmäßig in deutlich kürzerer Zeit als ein vergleichbarer Zivilprozess abgeschlossen werden.246 Die Mediation stellt damit eines der wirksamsten Instrumente der Verfahrensbeschleunigung dar.247 e) Mündlichkeitsgrundsatz Das zivilgerichtliche Verfahren ist ein mündliches Verfahren (§ 128 Abs. 1 ZPO). Das Gericht darf nur aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden und seiner Entscheidung nur denjenigen Tatsachenstoff zugrunde legen, der von den Parteien in der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden ist. Umgekehrt muss alles, was mündlich vorgetragen und entscheidungsrelevant ist, in der Entscheidung berücksichtigt werden. Der Grundsatz der Mündlichkeit des Zivilprozesses verwirklicht den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und den Grundsatz der Unmittelbarkeit und gewährleistet bei Kollegialgerichten die Beteiligung aller beisitzenden Richter. Allerdings wird dieser Grundsatz in der Praxis durch die nach § 137 Abs. 3 ZPO erlaubte Bezugnahme auf vorbereitende Schriftsätze, Protokolle und Urkunden in erheblichem Umfang aufgeweicht. Das Mediationsverfahren folgt dem Mündlichkeitsgrundsatz in noch stärkerem Umfang als der Zivilprozess.248 So ist die schriftliche Durchführung selbst einzelner Verfahrensabschnitte kaum sinnvoll möglich.249 Denn die für eine Einigung notwendige Transformation der Beziehung beider Parteien zueinander, die einen Perspektivwechsel und einen offenen Austausch aller sachverhaltsrelevanten Informationen, das Erforschen der Parteiinteressen durch spezielle Fragetechniken des Mediators sowie das kreative Entwickeln wertschöpfender Einigungsoptionen voraussetzt, erfordert zudem eine unmittelbare, umfassende und auch emotionale Aspekte berücksichtigende Kommunikation aller Beteiligten miteinander, die durch den Austausch von Schriftsätzen nicht 244
v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 319. v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 319. 246 v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 319. 247 Ähnlich v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 319, der feststellt, dass die Mediation dem Beschleunigungs- und Konzentrationsgrundsatz Rechnung trägt. 248 Ebenso für das Güterichterverfahren nach § 278 Abs. 5 ZPOv. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 314. 249 Eine Ausnahme bildet die „Online-Mediation“, bei der es indes fraglich erscheint, inwieweit hier überhaupt die für das Wesen der Mediation prägende Transformation der Parteibeziehung möglich ist. Eingehend zur Online-Mediation Lüer, AnwBl. 2001, 601; Herrmann, ZKM 2005, 150; Zielasko, EBay-Bewertungssystem (2012), S. 162 ff. 245
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sinnvoll geleistet werden kann. Zwar spielen Visualisierungstechniken im Mediationsverfahren eine zentrale Rolle, jedoch können diese den mündlichen Sachvortrag lediglich unterstützen, so dass ihnen keine eigenständige Bedeutung zukommt. f) Unmittelbarkeitsgrundsatz Eng verwandt mit dem Gebot der Mündlichkeit ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz. Er gebietet, dass mündliche Verhandlung und Beweisaufnahme unmittelbar vor dem erkennenden Gericht stattfinden und von ihm selbst durchgeführt werden müssen, ohne dass sich das Gericht richterlicher Mittelspersonen bedienen darf. Dadurch soll sichergestellt werden, dass das Gericht seine Sachentscheidung auf der Grundlage des unmittelbar miterlebten Prozesses und der unmittelbaren Anschauung der Parteien sowie der beigebrachten Beweismittel trifft. Das Gericht soll so in die Lage versetzt werden, ein qualitativ gutes und gerechtes Urteil in der Sache zu treffen. Für das Mediationsverfahren ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz ohne Bedeutung. Denn im Gegensatz zum Zivilprozess wird die Sachentscheidung nicht von einem unbeteiligten Dritten, sondern von den unmittelbar am Konflikt beteiligten Parteien selbst getroffen, so dass die Unmittelbarkeit bereits durch die Person der Parteien selbst gewährleistet ist. Relevant ist aber der Gedanke, der in diesem Verfahrensgrundsatz enthalten ist: Da für eine tatsächlich interessengerechte, nachhaltige und dauerhafte Beilegung des Konfliktes die Kenntnis aller relevanten Konfliktdimensionen erforderlich ist, sollten an dem Mediationsverfahren auch die unmittelbar beteiligten Parteien selbst teilnehmen. Eine Vertretung durch Rechtsanwälte oder – etwa im Fall größerer Unternehmen – durch konfliktferne Vertreter ist für eine sachgerechte Einigung wenig hilfreich und sollte daher vermieden werden. g) Öffentlichkeitsgrundsatz Der Zivilprozess ist ein öffentliches Verfahren (§ 169 S. 1 GVG). Der Grundsatz der Öffentlichkeit als tragendes Prinzip rechtsstaatlicher Justizgewährung dient der demokratischen Kontrolle richterlicher Tätigkeit, sichert die richterliche Neutralität und gewährt jedermann freien Zutritt zu Gerichtsverhandlungen. Die Verfahrensöffentlichkeit steht im Widerspruch zu dem für eine erfolgreiche Mediation erforderlichen Schutz der Vertraulichkeit.250 Denn der für eine effektive Beilegung des Konfliktes erforderliche offene Austausch von Informationen und die dafür erforderliche vertrauensvolle Atmosphäre bedürfen eines geschützten Raumes rechtlich gesicherter Vertraulichkeit. Dass der 250
Ebenso für das Güterichterverfahren nach § 278 Abs. 5 ZPOv. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 316 f.
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Öffentlichkeitsgrundsatz mit den Grundsätzen des Mediationsverfahrens kaum vereinbar ist, ist daher ohne weiteres einsichtig. Weniger selbstverständlich ist indes der Ausschluss des Öffentlichkeitsgrundsatzes in der gerichtsverbundenen Mediation. Denn hier handelt es sich um die Ausübung richterlicher Tätigkeit im Sinne des Art. 92 GG, die auf den ersten Blick grundsätzlich dem zwingenden Öffentlichkeitsgebot des § 169 S. 1 GVG unterfallen könnte. Allerdings gilt die Vorschrift ausschließlich für die „Verhandlung vor dem erkennenden Gericht“251. Daher ist die Güteverhandlung nur dann öffentlich, wenn sie nach § 278 Abs. 2 S. 1 ZPO vor dem erkennenden Gericht durchgeführt wird. Erfolgt sie dagegen nach § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO vor einem Güterichter, der nach der Legaldefinition des nach § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO nicht entscheidungsbefugt ist und daher nicht zum Spruchkörper des erkennenden Gerichts gehören kann, ist sie dagegen stets nicht-öffentlich.252 Der Vertraulichkeitsschutz der Mediation ist daher auch im gerichtsverbundenen Mediationsverfahren ohne weiteres mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz vereinbar.
III. Verfahrensintegration: Mediation und Zivilprozess Im vorangegangenen Teil unserer Untersuchung haben wir uns dem Verhältnis von Mediation und Verfahrensrecht aus unterschiedlichen Perspektiven genähert. Ausgehend von einer systematischen Betrachtung der unterschiedlichen Funktionen,253 die dem Verfahrensrecht für das Mediationsverfahren zukommt, insbesondere ihrer konstitutiven, durchsetzenden, nährenden und ihrer begrenzenden Rolle haben wir zunächst die verfahrensrechtlichen Rechtsquellen des Rechts der Mediation und damit die vertraglichen, internationalen, europäischen und einzelstaatlichen Verfahrensregelungen in den Blick genommen (I.).254 Sodann haben wir die Frage untersucht, welchen Verfahrensgrundsätzen die Mediation folgt, ob die verfassungsrechtlichen und sonstigen Grundsätze des Zivilprozesses auch auf das Mediationsverfahren Anwendung finden und schließlich, ob es übergreifende Verfahrensprinzipien gibt, die für die Mediation, aber auch für den Zivilprozess Geltung beanspruchen können (II.).255 Als Ergebnis unserer Untersuchung haben wir gesehen, dass die Mediation zunächst ganz spezifischen, ihr eigenen und sie vom Zivilprozess deutlich unterscheidenden Verfahrensgrundsätzen folgt, die im Wesentlichen den äußeren 251
§ 169 S. 1 GVG. Hervorhebungen durch den Verfasser. BeckOK/Bacher, ZPO (26. Ed. 2017), § 278 Rn. 10, 26; Ahrens, NJW 2012, 2465, 2470; Hartmann, MDR 2012, 941, 942. 253 Vgl. hierzu oben S. 432. 254 Vgl. hierzu oben S. 433 ff. 255 Vgl. hierzu oben S. 447 ff. 252
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und inneren Strukturmerkmalen des Mediationsverfahrens entsprechen. Zugleich ergab sich der überraschende Befund, dass sowohl die verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien als auch die dem Zivilprozess kraft seiner Natur eigenen Prozessmaximen bis auf ganz wenige Ausnahmen in ihrem Wesensgehalt trotz der erheblichen Strukturunterschiede in beiden Verfahrensarten auch auf das Mediationsverfahren übertragbar sind, auch wenn sie in ihm eine jeweils eigene Ausprägung erfahren. Auf diese Weise gerüstet wollen wir nun in einem dritten Schritt die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen beiden Verfahrensarten näher untersuchen (III.). Dabei soll mit der gerichtsverbundenen Mediation jene Fallkonstellation im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehen, in der die beiden Verfahren immanenten Antinomien wie in einem Brennglas aufeinandertreffen und in der die Frage der wechselseitigen Verfahrenswirkungen damit in besonderer Weise relevant wird. Zu klären sind dabei insbesondere die Voraussetzungen, Struktur und Folgen des Verfahrensübergangs, die prozessuale Ausgestaltung der Schnittstelle zwischen beiden Verfahrensarten und schließlich die Frage der prozessualen Durchsetzung des Vergleichs als Ergebnis des Mediationsverfahrens. 1. Dogmatische Grundlagen a) Fullers Verfahrens- und Institutionenlehre Als Grundlage unserer weiteren Untersuchung ist zunächst die dogmatische Ausgangslage zu klären. Dabei folgen wir der im Rahmen unserer bisherigen Untersuchung gewählten Methode, konkrete prozessuale Strukturen und Verfahrensdesigns deduktiv aus allgemeingültigen Grundsätzen und Prinzipien des Rechts sowie aus den Bindungen und Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens in gesellschaftlichen Systemen zu entwickeln und die Ergebnisse induktiv auf der Grundlage empirischer Erfahrungen der Rechtspraxis und der Ergebnisse der interdisziplinären Forschung zu überprüfen. Wie wir gesehen haben, bildet Fullers Verfahrens- und Institutionenlehre256 den Ausgangspunkt unseres Verfahrensverständnisses, das wir der prozessualen Konzeption der Mediation und des Zivilprozesses zugrunde legen. Fuller hatte seine Verfahrens- und Institutionenlehre im Anschluss an Henry Harts naturrechtliche Konzeption des Rechts257 als System prozeduralen Naturrechts entwickelt. Hart hatte erkannt, dass jede Gesellschaft aufgrund der natürlichen Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen menschlichen Lebens über einen Satz
256 Hierzu eingehend oben S. 116 f. sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff., 27 ff., 36 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381 f., 404 f. (1978). 257 Hart, The Concept of Law (1960), S. 189 ff. Hierzu eingehend Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 24 ff.
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rechtlicher Mindestregelungen verfügen muss, die durch die Vernunft vermittelt werden.258 Fuller entwickelte diesen Gedanken prozedural weiter, indem er davon ausgeht, dass ebenso wie der materielle Gehalt der Regeln zur Ordnung einer Gesellschaft auch die prozessuale Form der diese Regeln umsetzenden Verfahren und gesetzlichen Institutionen von den natürlichen Bedingtheiten menschlichen Zusammenlebens bestimmt wird. Aus ihnen ergibt sich ein Satz idealtypischer, in Wesen und Struktur klar bestimmter, jeder entwickelten menschlichen Gesellschaft verfügbarer Verfahren, die mit den materiellen Regelungen, die sie umsetzen, in Wechselwirkung stehen: Materielle Regeln sind das Produkt des Verfahrens und das Verfahren wird selbst durch die materiellen Regeln geformt. Aus diesen Überlegungen ergeben sich das Konzept des Verfahrenspluralismus und der Kanon der fünf primären Verfahren gesellschaftlicher Ordnung. Eine Teilmenge dieser Verfahren ist zur Beilegung von Konflikten geeignet: Es ist die Trias der Primärverfahren der Konfliktbehandlung, Verhandlung, Mediation und verbindliche Drittentscheidung. Diese Verfahren sind keine amorphen Gebilde ohne jede Kontur, über die die Parteien frei verfügen können, sondern sie sind im Gegenteil durch ein klares, ihnen jeweils eigenes Wesen (morality)259 und eine sich daraus ergebende, ihnen eigene innere Struktur (design)260 geprägt. Jedes Verfahren verfügt über eine ihm eigene, individuelle Identität. Während die das Wesen der Verfahren bestimmenden Grundprinzipien ihren Zweck und ihre Natur beschreiben, betrifft ihre Struktur den ihnen jeweils eigenen Mechanismus der Entscheidungsfindung im Sinne spezifischer Verfahrensschritte. b) Die Prinzipien der Verfahrensintegrität und der Rollentrennung Verhandlung, Mediation und verbindliche Drittentscheidung verfügen als Primärverfahren der Konfliktbehandlung über eine jeweils unverwechselbare Struktur, ein ihnen eigenes Wesen, eine spezifische Identität. Hieraus ergibt sich das Prinzip der der strukturellen Verfahrensintegrität261 und der Grundsatz der Rollentrennung262: Jedes der Verfahren im Kontinuum der Konfliktbehandlung folgt jeweils unterschiedlichen Zielen und eigenen Grundsätzen, die 258
Hart, The Concept of Law (1960), S. 189 ff. Hierzu oben S. 115 Fn. 61 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 f. (1963) sowie Fuller, 71 Harv. L. Rev. 630, 644, 650 (1958).; Fuller, The Morality of Law (1964), S. 46 ff., 152 ff. Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 33 f., 37 ff.; Bone, 75 B.U. L. Rev. 1273, 1286, 1300 (1995). 260 Hierzu oben S. 115 f. sowie Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 28. 261 Zum Prinzip der strukturellen Integrität eingehend oben S. 116 f. sowie unten S. 546 ff. 262 Zum Verbot der Rollenvermischung (role confusion) vgl. oben S. 114 ff., 327 Fn. 66 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 404 ff. (1978). Vgl. auch Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999). 259
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durchaus in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehen und sich darüber hinaus auch gegenseitig ausschließen können. Daher ist mit Blick auf den Schutz der inneren Integrität des Verfahrens eine Kombination der Strukturprinzipien einzelner Verfahrensarten wie auch eine Vermischung der Rollen grundsätzlich ausgeschlossen. Wie wir gesehen haben, ist Fullers Sorge um die „makellose Reinheit“ der Struktur der einzelnen Verfahren daher keineswegs ein dogmatisches Glasperlenspiel, sondern ein Gebot von hoher praktischer Relevanz das in Dienst der jeweiligen Verfahren selbst steht. Denn wenn die Beteiligten über die Struktur der Verfahren frei verfügen könnten, so würden sie ihre Funktion nicht mehr ordnungsgemäß erfüllen und ihren Zweck verfehlen. Der Schutz der Verfahrensintegrität ist umso wichtiger, als ein Funktionsdefizit der einzelnen Verfahren die Erwartungen der Verfahrensbeteiligten mit Blick auf das Verfahren selbst enttäuschen würde, ohne dass sie sich diese dessen ohne weiteres bewusst wären. Diese Grundsätze sind in besonderer Weise dann zu beachten, wenn beide Verfahren aufeinandertreffen und miteinander verzahnt werden. Ein Verfahrensdesign, das sich um eine effektive Integration des Mediationsverfahrens in den Zivilprozess bemüht, muss sich deshalb um die Erhaltung der Integrität beider Verfahren und die Wahrung ihrer Grundsätze bemühen. Dass dies in der Praxis eine erhebliche Herausforderung darstellt, hat – wie wir gesehen haben – die anhaltende Debatte um die Institutionalisierung der Mediation eindrucksvoll gezeigt. Insbesondere in den USA ist die Praxis der gerichtsverbundenen Mediation wiederholt auf heftige Kritik gestoßen. Die Einbettung des Mediationsverfahrens in den Zivilprozess und seine Steuerung durch Gerichte habe dazu geführt, dass die Mediation selbst in ihrem Gepräge verändert und ihrer wesentlichen Grundsätze beraubt werde, die sie gerade auszeichnen und mit denen sie das Zivilverfahren eigentlich selbst positiv verändern sollte. Aus dieser Kritik ist die Forderung erwachsen, dass die Mediation von den Gerichten befreit werden müsse, um ihr Wesen und ihre Bedeutung zu bewahren. Die Gestaltung des Verfahrensübergangs, der Schnittstelle zwischen beiden Verfahrensarten, und die Art und Weise der Integration des Mediationsverfahrens in den Zivilprozess dürfen sich daher nicht allein an rechtspolitischen Zielvorgaben, wie etwa der Forderung nach der Entlastung der Justiz oder einer möglichst schnellen Erledigung anhängiger Prozesse, orientieren. Sie muss vielmehr durch die dogmatische Funktion der Mediation im System der Verfahrensarten, die Verfahrensgrundsätze sowie das Bemühen um eine Wahrung der Verfahrensintegrität bestimmt werden. Ist dies der Fall, so können beide Verfahrensarten ihre jeweils eigenen Qualitäten und Vorteile in vollkommener Weise – effektiv und in weitestmöglichem Umfang – zur Entfaltung bringen. Die rechtspolitisch geforderte Verfahrenseffizienz ergibt sich als typische, der Mediation eigene Verfahrenswirkung damit gleichsam en passant.
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c) Das Primat der Mediation als Grundlage der Verfahrenswahl Für die Ausgestaltung des Verfahrensübergangs ist darüber hinaus eine zweite dogmatische Überlegung von Bedeutung. Sie folgt als Konsequenz aus dem Grundsatz des Verfahrenspluralismus263 und dem Verhältnis der drei Primärverfahren der Konfliktbehandlung zueinander: Verhandlung, Mediation und verbindliche Drittentscheidung stehen – wir bereits gesehen haben – mit Blick auf ihre Eignung zur effektiven Konfliktbeilegung nicht gleichrangig nebeneinander. Vielmehr hat sich im Anschluss an die Überlegungen Fullers eine methodische Vorrangstellung der Mediation gegenüber Verhandlung und Zivilprozess ergeben.264 Aufgrund ihrer besonderen Verfahrenseigenschaften ergibt sich daher ein grundsätzliches Primat der Mediation gegenüber allen übrigen Verfahren im Kontinuum der Konfliktbehandlung.265 Es gilt damit Grundsatz der Verfahrenshierarchie, der lediglich im Ausnahmefall durchbrochen wird. Dabei handelt es sich um Fallgruppen, für die ausnahmsweise ADR-Verfahren wie etwa Verhandlungsmediation nicht in Betracht kommen, sondern die für eine heteronome Drittentscheidung (z.B. im Rahmen eines Zivilprozesses) besonders geeignet sind. In allen übrigen Fällen bleibt es beim Vorrang des Mediation, dass sich darüber hinaus auch nach den interdisziplinären Befund als das der Natur des Menschen zutiefst entsprechende, ihm gemäße Verfahren der Konfliktbehandlung erweist. Vor diesem Hintergrund kann es dann auch kaum verwundern, dass sich die Mediation auch in der Rechtspraxis als das zentrale Verfahren der ADR-Verfahren durchgesetzt hat. Der dogmatische Befund wird damit durch die Entwicklung der ADR-Bewegung selbst bestätigt. Für die Verfahrenswahl ergibt sich damit eine eindeutige Präferenz für das Mediationsverfahren. Die Entscheidung für ein bestimmtes Konfliktbeilegungsverfahren kann dabei entweder im Vorfeld des Konfliktes vorsorgend ex ante oder erst nach dem Auftreten eines Konfliktes ex post erfolgen. Häufig wird im letztgenannten Fall zunächst ein gerichtliches Verfahren eingeleitet, aus dem heraus dann die Durchführung eines Mediationsverfahrens vorgeschlagen wird. Die Notwendigkeit des Verfahrensübergangs ergibt sich in diesen Fällen aus dogmatischer Perspektive aus dem Bemühen, die mit der Klageerhebung vorgenommene Verfahrensentscheidung für den Zivilprozess zu korrigieren und den Konflikt nunmehr durch das geeignetere und entsprechend der Verfahrenshierarchie 263 Hierzu aus der Perspktive von Fullers Institutionen- und Verfahrenslehre eingehend oben S. 114 f. sowie als Element einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre eingehend unten S. 541 ff. 264 Vgl. zum Mediationsprimat eingehend oben S. 110 ff. unten 729 ff., 735 ff., 740 ff. 265 Hierzu bereits eingehend oben S. 107 ff. (insbesondere Fn. 23) und S. 110 ff. sowie unten S. 729 ff., 735 ff., 740 ff. Zur These Mediationsprimat vgl. such Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32, 41 (2006); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 600 (2007).
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vorzugswürdige Mediationsverfahren beizulegen. Diese rechtspolitische Grundentscheidung, die letztlich dem theoretisch wie interdisziplinär belegten Vorrang des Mediationsverfahrens entspricht, liegt auch den zivilprozessualen Vorschriften zur Förderung des Gütegedankens zugrunde, etwa §§ 278, 278a ZPO oder § 15a EGZPO. Bedingt ist die mit dem Verfahrensübergang verbundene Korrektur der ursprünglichen Verfahrenswahl durch die verengte Ausrichtung des bestehenden Systems der Konfliktbeilegung auf den Zivilprozess als Standardverfahren und „komfortabel ausgebauten Königsweg.“266 Er ist damit zugleich Ausdruck eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, der nicht nur Formen gesellschaftlicher staatlicher Steuerung, sondern auch die Art der Konfliktbeilegung bestimmt. Die Wahl des Mediationsverfahrens ist damit nicht selbstverständlich. Es hat in vielen Bereichen immer noch Pioniercharakter und muss bestehende Vorurteile, Informationsdefizite und Beharrungskräfte überwinden. Aus dieser Einsicht ergeben sich Konsequenzen für die Gestaltung und die Legitimierung des Verfahrensübergangs: So können bestehende Vorurteile und Informationsdefizite aufseiten der Parteien267 und Anwälte268 die Einrichtung eines vorgeschalteten Mediationsverfahrens als obligatorischen Güteversuch erforderlich machen und zugleich legitimieren. Als Ertrag unserer Überlegungen und Grundlage unserer weiteren Untersuchung ist daher folgender Befund festzuhalten: 1. Das Verhältnis zwischen Mediation und Zivilprozess und damit auch die Gestaltung des Übergangs zwischen beiden Verfahren wird ganz wesentlich durch das Primat der Mediation bestimmt. 2. Dem steht das Primat des Zivilprozesses in der Praxis gegenüber: Das intuitive Konfliktverhalten wird bislang weitgehend durch eine aggressiv-kontradiktorische Konfliktbehandlung geprägt. Das Instrumentarium der Streitbeilegungsverfahren ist weitgehend auf den Zivilprozess verengt. 3. Die Umsetzung des Mediationsprimats hat den Charakter eines Paradigmenwechsels. Die Verfahrenswahl der Mediation ist damit zugleich Ausdruck eines Wandels der Konfliktkultur und der Formen gesellschaftlicher und staatlicher Steuerung. Sie muss daher bestehende Denkmuster konfrontativer Streitbeilegung und die institutionelle Engführung auf den streitigen Zivilprozess überwinden. Dies kann durch passiv wirkende „weiche Instrumente“ erfolgen, wie etwa die Information der die Verfahrenswahl treffenden Parteien, oder den Einsatz proaktiv wirkender „harter Instrumente“, wie etwa obligatorischer Güteverfahren, erforderlich machen. Insgesamt soll der Verfahrensübergang eine Korrektur der ursprünglichen Verfahrensentscheidung für den Zivilprozess und eine Umsetzung des Primats des Mediationsverfahrens ermöglichen. Dabei
266
Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5. Hierzu instruktiv Greger, Abschlussbericht (2007), S. 51 ff. 268 Hierzu instruktiv Greger, Abschlussbericht (2007), S. 57 f. 267
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sind die Grundsätze der Verfahrensintegrität und der Rollentrennung als notwendige Bedingungen für eine uneingeschränkte Funktion der Verfahren zu beachten. 2. Gestaltung des Verfahrensübergangs Auf der Grundlage unserer dogmatischen Überlegungen wollen wir nun die Voraussetzungen, Struktur und Folgen des Übergangs vom Zivilprozess in das Mediationsverfahren in den Blick nehmen. a) Strukturtypen Im Verhältnis zum Zivilprozess lassen sich drei Strukturtypen des Mediationsverfahrens unterscheiden: aa) die gerichtsexterne und bb) die gerichtsverbundene Mediation, mit der gerichtsnahen und der gerichtsinternen Mediation als Unterformen269 sowie cc) das Multi-Door Courthouse. aa) Gerichtsexterne Mediation: Mediation vor Klageerhebung Die gerichtsexterne oder vertragsautonome Mediation vollzieht sich autonom, in struktureller Unabhängigkeit vom Zivilprozess.270 Das Verfahren wird hier nicht durch gesetzliche Vorschriften, auf bindende Verweisung oder auf Anregung eines Gerichts, sondern ausschließlich auf die Initiative der Parteien hin in Gang gesetzt. Es ist stets von der Zustimmung beider Parteien abhängig. Dabei können sich die Parteien durch eine entsprechende Mediationsvereinbarung entweder vorsorglich ex ante noch vor dem Auftreten des Konflikts für die Durchführung eines Mediationsverfahrens entscheiden oder auf einen bestimmten Konflikt ex post mit einer ad hoc durchgeführten Mediation reagieren. (1) Vorsorgende Mediationsvereinbarung ex ante Im ersten Fall der präventiv-vorsorgenden Entscheidung für die Mediation bereits ex ante im Vorfeld eines Konfliktes wird die Verfahrenswahl weniger als selbständige Vereinbarung (Mediationsabrede), sondern regelmäßig im Zusammenhang mit einem konkreten Sachverhalt als Teil eines größeren Vertragswerkes getroffen werden (Mediationsklausel).271 Die Mediationsvereinbarung kann sich dabei auf einen konkreten Konflikt, auf bestimmte Konfliktarten 269 So die Klassifikation bei Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 20, der wir im Weiteren folgen wollen. 270 Vgl. hierzu näher Hess, DJT-Gutachten (2008), S. F 26 ff. 271 Hierzu Eidenmüller, in: Breidenbach/Coester-Waltjen/Hess/Nelle/Wolf (Hrsg.), Konsensuale Streitbeilegung (2001), S. 45, 51 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 332 ff.
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oder auf sämtliche Streitigkeiten zwischen den Parteien beziehen. Eine vorsorgende Vereinbarung der Mediation ex ante – bereits vor Konfliktentstehung – hat erhebliche Vorteile, da die Parteien die Vor- und Nachteile des Mediationsverfahrens auch in ihrer verhaltenssteuernden Wirkung unvoreingenommen beurteilen können. Darüber hinaus werden sich die Parteien nach dem Auftreten des Konfliktes regelmäßig – wenn überhaupt – nur unter großen Schwierigkeiten auf die Durchführung eines bestimmten Konfliktbeilegungsverfahrens und erst Recht über die konkrete Verfahrensgestaltung, die Wahl eines Mediators und die Kosten des Verfahrens verständigen können. Aus diesem Grund sollten die Parteien auch die Details der Verfahrensregelung in ihre Mediationsvereinbarung mit einbeziehen. Das Spannungsverhältnis zwischen dem gebotenen Umfang der notwendigen Verfahrensregelungen im Fall des Konfliktes und der gebotenen Kürze angesichts des Fehlens eines aktuellen Konfliktes lässt sich durch Verweis auf die Verfahrensordnung eines Mediationsverbandes auflösen. Eine vorsorgende Entscheidung für das Mediationsverfahren kann zudem im Rahmen abgestufter Konfliktmanagementsysteme erfolgen, in denen die Verfahrenswahl stets auf die Art und den Eskalationsgrad des Konfliktes abgestimmt ist.272 Darüber hinaus können die Parteien für den Konfliktfall auch eine ADR-Verfahrensberatung vereinbaren.273 Sie legen sich in diesem Fall nicht auf ein konkretes Konfliktbeilegungsverfahren fest, sondern verpflichten sich vorab, einen kundigen Dritten mit der Analyse des Konfliktes und der Beratung über ein geeignetes ADR-Verfahren zu beauftragen, dessen Empfehlung sie dann folgen. (2) Nachsorgende Mediationsvereinbarung ex post Im zweiten Fall der kurativ-nachsorgenden Entscheidung für die Mediation werden die Parteien die Verfahrensgestaltung und die Auswahl des Mediators bereits im Hinblick auf die Besonderheiten des konkreten Konfliktes treffen. Da der Konflikt durch die ihm eigene Dynamik und die von ihm ausgelösten kognitiven Prozesse regelmäßig zu Wahrnehmungsverzerrungen, emotionalen Blockaden und eine Verhärtung der gegenseitigen Positionen führt, begegnet die Entscheidung für das Mediationsverfahren im Vergleich zu einer ex ante
272 Zu Konfliktmanagementsysstemen (Dispute Systems Design) vgl. Ury/Brett/ Goldberg, Getting Disputes Resolved (1993); Costantino/Merchant, Designing Conflict Management Systems (1996); Schoen, Konfliktmanagementsysteme für Wirtschaftsunternehmen (2003); Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 325 ff. 273 Vgl. Hacke, Der ADR-Vertrag (2001), S. 111 mit einem konkreten Entwurf einer entsprechenden Klausel.
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Entscheidung einem grundsätzlich größeren Widerstand vonseiten der Parteien. Vor allem durch die Thematisierung des Rechts im Rahmen der Geltendmachung konkreter Ansprüche wird ein Prozess in Gang gesetzt, dessen Eigendynamik sich die Parteien nicht ohne weiteres entziehen können.274 Wie wir gesehen haben275, geraten sie in den „Trichter des Verfahrens“276, in dem die Kommunikation zwischen den Parteien mit der einer Eigengesetzlichkeit auf eine binäre Entscheidung zuläuft,277 die nicht nur den Sachkonflikt im Sinne des Obsiegens bzw. Unterliegens entscheidet, sondern in dem sich beide Parteien jeweils die Rolle des Siegers bzw. Verlierers zuweisen. Damit ist eine Situation entstanden, in der die Parteien gerade nicht mehr miteinander reden, geschweige denn kooperieren wollen.278 Dass der Weg aus dem Konflikt gerade in der durch Kommunikation vermittelten Kooperation besteht, muss den Parteien zunächst verständlich und erfahrbar gemacht werden. Vor dem Hintergrund ineffektiven und damit selbstschädigenden Konfliktverhaltens der Parteien findet die obligatorische Mediation damit ihre Rechtfertigung vor allem in ihrer privatautonomes Handeln konstituierenden Funktion, indem sie die Parteien in die Lage versetzt, Einigungen blockierende Verhaltensmuster zu überwinden und so ihren Konflikt tatsächlich eigenverantwortlich beizulegen. In der Rechtspraxis spielt die gerichtsexterne, ausschließlich vertragsautonome Mediation in Deutschland noch eine vergleichsweise geringe Rolle. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Der im Vergleich zu den USA noch relativ junge Entwicklungsstand der Mediation, die hohe Qualität und Effizienz des gerichtlichen Zivilverfahrens und schließlich das der besonderen Rolle des fürsorgenden Staates entsprechende Vertrauen in die staatliche Justiz. Anders stellt sich die Situation dagegen in den USA dar279: Hier kommt ihr aufgrund der exorbitant hohen Kosten des gerichtlichen Rechtsschutzes280, der durch die Beteiligung von Jurys bedingten vergleichsweise hohen Rechtsunsicherheit und der generellen Skepsis der amerikanischen Gesellschaft gegenüber dem 274
Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 60, 71. Vgl. auch Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff. 275 Hierzu oben S. 24 ff. 276 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 115. 277 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 115. 278 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 91 f. 279 Vgl. nur die empirische Untersuchung zur Verbreitung der Mediation in den USA auf der Grundlage des Mediation Receptivity Index (MRI) Prause, 13 Harv. Negot. L. Rev. 131 (2008). Zu den theoretischen Vorarbeiten vgl. Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599 (2007); Prause, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 610 (2007). 280 Dies war der wesentliche Grund für die Pound Conference 1976, vgl. nur Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 396 (1906) (ebenfalls abgedruckt in: Pound, in: Levin/Wheeler (Hrsg.), The Pound Conference (1979), S. 377 ff.) („real and serious dissatisfaction with courts and lack of respect for law which exists in the United States today.”).
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Staat, die einer in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens nachweisbaren Tendenz zur verstärkten Eigenverantwortung entspricht, eine wesentlich größere Rolle zu. Die strukturelle Unabhängigkeit der gerichtsexternen Mediation bedeutet dabei keine völlige Unabhängigkeit vom Zivilprozess. Diese bezieht sich ausschließlich auf den Modus der Verfahrenseinleitung. In der Durchsetzung und in ihren Wechselwirkungen auf ein nachfolgendes gerichtliches Verfahren ist auch die gerichtsexterne Mediation auf vielfältige Weise mit dem Zivilprozess verknüpft. Darüber hinaus erfolgt auch die vertragsautonome Mediation häufig parallel oder im Vorfeld eines Gerichtsverfahrens, so dass der Zivilprozess im Rahmen der Analyse der Prozessrisiken im Hinblick auf die Nichteinigungsalternativen auch materiell von Bedeutung ist. bb) Gerichtsverbundene Mediation: Mediation im Rahmen des Zivilprozesses Neben die vertragsautonome Mediation, die ausschließlich gerichtsextern und auf Initiative der Parteien durchgeführt wird, ist in den vergangenen Jahren im Anschluss an die in verschiedenen Bundesländern durchgeführten Modellprojekte zunehmend die gerichtsverbundene Mediation getreten. Sie hat sich nach dem erfolgreichen Abschluss der Modellprojekte innerhalb sehr kurzer Zeit an einer Vielzahl von Gerichten etabliert und gehört heute zum festen Bestandteil staatlicher Justizgewährung. Insbesondere im Vergleich zur vertragsautonomen Mediation kommt ihr in der Rechtspraxis eine erhebliche Bedeutung zu. Im Gegensatz zur vertragsautonom durchgeführten gerichtsexternen Mediation geht die Initiative zur Durchführung des Mediationsverfahrens in der gerichtsverbundenen Mediation nicht von den Parteien aus. Sie wird vielmehr durch bindende Verweisung oder unverbindliche Anregung des Gerichts oder aufgrund zwingender gesetzlicher Anordnung aus einem bereits anhängigen Gerichtsverfahren heraus in Gang gesetzt und – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – stets unter der Ägide der Justiz durchgeführt. Dabei ist das Mediationsverfahren jeweils in unterschiedlichem Umfang mit dem Gerichtsverfahren verzahnt: Es kann entweder als gerichtsnahe Mediation unter der Mitwirkung externer Mediatoren vom Gericht institutionell losgelöst oder als gerichtsinterne Mediation unter dem Einsatz von Güterichtern institutionell fest an das Gericht angebunden sein. Beide Formen der gerichtsverbundenen Mediation unterscheiden sich daher allein darin, von wem das Mediationsverfahren letztlich durchgeführt wird. Der zivilprozessuale Rahmen ist indes in beiden Fällen gleich. In beiden Fällen wird die Mediation durch das Gericht in Gang gesetzt: Im Fall der gerichtsnahen Mediation in Deutschland etwa durch den richterlichen Vorschlag gem.
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§ 278a Abs. 1 ZPO, ein außergerichtliches, durch externe Mediatoren vermitteltes Mediationsverfahren durchzuführen.281 Im Fall der gerichtsinternen Mediation durch bindende Verweisung der Sache an den Güterichter gem. § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO, der sich nach § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO der Mediation als Methode der Konfliktbeilegung bedienen kann, jedoch hierauf nicht festgelegt ist. Für das weitere Schicksal des Konflikts hat die Frage, ob das Mediationsverfahren durch einen Güterichter oder einen Laien durchgeführt worden ist, im Grundsatz keine Bedeutung. Dies gilt allerdings nur im Grundsatz und wie wir gesehen haben selbst auf der Ebene des kodifizierten Verfahrensrechts nicht ausnahmslos. Denn das Maß der Verfahrensintegration hat erhebliche prozessuale und rechtspraktische Folgen: So stellt sich die gerichtsinterne Mediation durch Güterichtern regelmäßig als Ausübung rechtsprechender Gewalt mit der Folge dar, dass über die Verfahrensgrundsätze der Mediation und die für das Mediationsverfahren anwendbaren Prozessmaximen hinaus auch die speziellen, für die richterliche Tätigkeit maßgebenden verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien anwendbar sind. Darüber hinaus hat die empirische Begleitforschung der gerichtsverbundenen Mediationsprogramme eindrucksvoll gezeigt, dass die mit dem Richteramt verbundene Autorität auch im Rahmen ausschließlich vermittelnder, nicht entscheidender richterlicher Tätigkeit von Bedeutung ist und sich erheblich auf die Verhandlungsdynamik und die Entwicklung von Einigungsoptionen auswirkt.282 Derartige Verfahrenswirkungen sind in der lediglich gerichtsnahen Mediation dagegen nur eingeschränkt möglich. Da hier keine Richter, sondern nur im Auftrag des Gerichtes tätige Laien als Mediatoren agieren, kann das Verfahren nur in beschränktem Umfang an der durch die Beauftragung vermittelten Autorität des Gerichts partizipieren. Neben den beiden genannten Formen der gerichtsverbundenen Mediation steht es dem erkennenden Richter des Prozessgerichts stets frei, im Gang des Verfahrens oder im Rahmen eines gesonderten Gütetermins mediative Methoden einzusetzen, ohne zugleich ein strukturiertes Mediationsverfahren durchzuführen.283 Im Rahmen der bestehenden Methodenvielfalt kann er als Vermittler oder Moderator die Rahmenbedingungen einer gütlichen Einigung auf vielfältige Weise fördern: Durch die Einbindung der Parteien in die Entwicklung von Einigungsoptionen, die Verbesserung der Kommunikation zwischen den
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Der Gesetzestext spricht hier in § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO ungenau von der Möglichkeit des Richters, eine „außergerichtliche Streitschlichtung“ vorzuschlagen. Im Schrifttum besteht allerdings mit Verweis auf die Gesetzesmaterialien weitgehend Einigkeit darüber, dass hiermit nicht das verbindliche Schlichtungsverfahren, sondern die privatautonome Beilegung des Konfliktes im Rahmen eines Mediationsverfahrens gemeint ist. 282 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 49, 57, 84, 99 f. 283 Dieser Ansatz wird vor allem im Rahmen des bayrischen Güterichtermodells verfolgt, vgl. hierzu Greger, Abschlussbericht (2007), S. 111, 128 f.
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Parteien, einen größeren Zeitrahmen und die Orientierung an den tatsächlichen Parteiinteressen. Da er nicht in seiner formalen Rolle als Mediator tätig wird, sondern in seiner klaren Funktion als in der Sache entscheidender Prozessrichter verbleibt, der sich lediglich darum bemüht, die Parteien zu einer gütlichen Einigung zu motivieren, liegt auch kein Verstoß gegen die Prinzipien der strukturellen Integrität und der Rollentrennung vor.284 Anders wäre es nur dann, wenn seine Vermittlungsbemühungen – etwa indem er ein zeitintensives, strukturiertes Mediationsverfahren in Gang setzt oder die Parteien zur Offenbarung vertraulicher Informationen bewegt – an Art und Umfang ein derartiges Maß erreichen, dass er faktisch wie ein Mediator agiert. In diesem Fall würde durch die Personenidentität von vermittelndem Mediator und entscheidendem Richter die Gefahr bestehen, dass die Parteien ohne den Schutz vertraulichkeitsschützender Vereinbarungen zu einer Preisgabe vertraulicher Informationen285 und durch die sachliche Voreingenommenheit des auch in der Sache entscheidungsbefugten Prozessrichters zu einer dem zu erwartenden Urteil weitgehend entsprechenden Einigung gedrängt werden, die nicht den tatsächlichen Interessen der Parteien entspricht. Daher kann dem Prozessrichter aufgrund der ihm zustehenden Entscheidungsbefugnis der Einsatz mediativer, einigungsfördernder Methoden nur in geringem Umfang gestattet werden. Hält er den Streit für mediationsgeeignet und können sich die Parteien nicht bereits in einem Gütetermin auf einen Vergleich einigen, so kann er den Streit stattdessen im Rahmen der gerichtsnahen Mediation an einen externen Mediator, im Rahmen der gerichtsinternen Mediation an einen Güterichter verweisen.
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Entsprechend haben sich auch im Rahmen der empirischen Begleitforschung der Modellprojekte Hinweise darauf ergeben, dass die Güterichtertätigkeit auch auf die Tätigkeit als Prozessrichter ausstrahlt Greger, Abschlussbericht (2007), S. 88, 90, 148. Vgl. insbesondere ebenda, S. 148: „Der Güterichter berichtete, dass seine Güterichtertätigkeit auch Auswirkungen auf seine Verhandlungspraxis in den eigenen Verfahren hat. Er gehe jetzt viel mehr auf die Parteien ein, lasse mehr Raum, lege nicht sogleich einen Vergleichsvorschlag vor, sondern lasse ihn erst in der Verhandlung entwickeln. Damit erziele er wesentlich mehr Einigungserfolge. In eigenen Verfahren an den Verhandlungstisch zu gehen, habe er erst einmal – ohne Erfolg – versucht. Gute Erfolge habe er dagegen damit gemacht, die streitige Verhandlung zu unterbrechen und in der Pause formlose Gespräche zwischen den Parteien zu arrangieren; dies breche oft die Verhandlungsfronten auf.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 285 Dass diese Gefahr selbst in separaten Güterichterverfahren – wenngleich in geringem Umfang – besteht, zeigt der empirische Befund von Greger, Abschlussbericht (2007), S. 81, 85 f.
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(1) Gerichtsnahe Mediation: Mediation durch externe Mediatoren In der gerichtsnahen Mediation ist das Mediationsverfahren zwar wie in der gerichtsinternen Mediation prozessual eng mit dem Gerichtsverfahren verwoben, im Gegensatz zu diesem in seiner Durchführung allerdings deutlich vom Gericht als Institution getrennt. Das Mediationsverfahren wird nicht durch die Justiz selbst unter Mitwirkung von Güterichtern durchgeführt, sondern als außergerichtliches Verfahren gleichsam „ausgelagert“ und an gerichtsunabhängige, externe Mediatoren – etwa Rechtsanwälte, Psychologen, Sozialpädagogen oder Angehörige anderer Berufsgruppen – delegiert. Dabei muss es nicht zwangsläufig außerhalb des Gerichtsgebäudes stattfinden. Die „Gerichtsnähe“ kann auch dadurch erhöht werden, dass die durch externe Mediatoren durchgeführten Mediationsverfahren vor Ort in den Gebäuden des Gerichtes stattfinden und damit jedenfalls räumlich stärker an die Institution des Gerichtes angebunden sind. Den Ausgangspunkt bildet auch hier – wie schon im Rahmen der gerichtsinternen Mediation – ein anhängiges zivilgerichtliches Verfahren, aus dem heraus die Parteien zum Mediationsverfahren übergehen. Für den Verfahrensübergang kommen wie in der gerichtsinternen Mediation drei Verweisungstypen in Betracht: (1) Unverbindliche Anregung und (2) verbindliche Verweisung durch das Gericht sowie (3) die gesetzliche Anordnung. In Deutschland haben die Gerichte bislang lediglich die Möglichkeit, nach § 278a S. 1 ZPO „den Parteien eine Mediation oder ein anderes Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung vor[zu]schlagen.“ Eine verbindliche Verweisung der Parteien in die gerichtsexterne Mediation ist – anders als bei der Verweisung in das gerichtsinterne Güterichterverfahren nach § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO – nicht möglich. In Deutschland hat die gerichtsnahe Mediation durch externe Mediatoren allerdings kaum praktische Bedeutung. Hier findet die gerichtsverbundene Mediation nahezu ausschließlich als gerichtsinterne Mediation statt, in der das Mediationsverfahren durch speziell ausgebildete Güterichtern bzw. „Güterichter“ durchgeführt wird. Für die mangelnde Akzeptanz der gerichtsnahen Mediation in der Praxis gibt es verschiedene Ursachen: Insbesondere die empirische Begleitforschung hat den Nachweis erbracht, dass die geringe Nutzung der Verweisungsmöglichkeit des § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO a.F. überwiegend auf Informationsdefizite bei den Richtern zurückzuführen ist, die die Vorteile gerichtsexterner Mediationsverfahren oft nicht adäquat einschätzen und darüber hinaus den Parteien auch keine hierfür geeigneten Mediatoren benennen können.286 Relevant dürften darüber hinaus auch die von den Parteien zusätzlich zu erbringenden Kosten des Mediationsverfahrens sein, die in der gerichtsinternen Mediation entfallen. Zudem fehlt hier die besondere Autorität und Vertrauenswürdigkeit der Güterichter, die auch in ihrer vermittelnden Tätigkeit 286
Greger, Abschlussbericht (2007), S. 127.
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dem Recht und Gesetz unterworfene Träger hoheitlicher Staatsgewalt bleiben, die aufgrund ihrer Qualifikation, ihrer beruflichen Stellung als Richter und schließlich aufgrund ihrer Rechtsbindung das besondere Vertrauen der Parteien genießen und daher die sichere Gewähr für eine qualitativ hochwertige, risikolose und sichere Durchführung des Mediationsverfahrens bieten.287 Schließlich sind die mit der Durchführung eines gerichtsexternen Mediationsverfahrens verbundenen praktischen Hürden für die Parteien, etwa die Suche nach einem geeigneten Mediator, die Auswahl der Mediationsordnung, der Abschluss der entsprechenden Vertragswerke und die Ungewissheit im Hinblick auf die Qualifikation des Mediators, häufig zu hoch, als dass die Parteien von dieser Verfahrensalternative regelmäßig Gebrauch machen würden. Anders stellt sich dagegen die Situation in den USA dar. Hier kommt neben der gerichtsinternen Mediation durch Güterichtern vor allem der durch externe Mediatoren getragenen gerichtsnahen Mediation eine erhebliche Bedeutung zu. Diese ist etwa durch die Einbindung externer Mediatoren in den täglichen Geschäftsablauf des Gerichts und die Durchführung der Mediation innerhalb des Gerichtsgebäudes teilweise eng mit dem Gerichtsverfahren verzahnt. So greift etwa das seit 1981 bestehende Harvard Mediation Program (HMP)288 auf einen Pool freiwilliger Mediatoren zurück, die sich an den small claims courts im Großraum Boston (Massachusetts) für die Durchführung von Mediationsverfahren zur Verfügung stellen. Dabei handelt es sich um mediationsinteressierte ehrenamtlich tätige Mediatoren oder um Studenten, die in einem zwei Wochenenden umfassenden Kurs in das Mediationsverfahren eingeführt werden. Der Verfahrensübergang erfolgt dabei durch einen case manager, der mediationsgeeignete Fälle unverbindlich in die Mediation verweist, wobei den Parteien stets die Entscheidung über die Durchführung eines Mediationsverfahrens verbleibt. In der Praxis erfolgt die Zuweisung bei dem morgens erfolgenden Aufruf der Fälle durch einen case manager. Dabei werden den zahlreichen an diesem Tag zu einem Gerichtstermin geladenen Parteien am
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Dies bedeutet freilich nicht, dass das Mediationsverfahren überdurchschnittlich risikobehaftet oder unsicher wäre. Die Skepsis zeugt allerdings von der Unsicherheit der Parteien im Hinblick auf ihnen unbekannte, neue Verfahren. 288 Vgl. hierzu http://clinics.law.harvard.edu/hmp/ (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). Das Harvard Mediation Program ist ein studentisches Mediationsprogramm, das auf ehrenamtlicher Basis gerichtsverbundene Mediationen im Großraum Boston vor allem in Streitigkeiten mit geringem Streitwert (small claims Courts) anbietet. Das Harvard Mediation Program wurde 1981 von der damaligen Studentin Karen Falkenstein Green mit Unterstützung des Richters John C. Cratsley (Massachusetts Superior Courts), ihrem Dozenten in einem praxisorientierten Kurs zu community courts, gegründet. Seitdem haben mehr als 700 Studenten das Programm durchlaufen. Vgl. https://today.law.harvard.edu/harvard-mediationprogram-celebrates-30-years-of-students-resolving-conflicts/ (zuletzt abgerufen am 27.11.2017)
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gleichen Tag stattfindende Verhandlungstermine vor einem magistrate zugewiesen. Hält der case manager einen Fall für mediationsgeeignet, so bietet er den anwesenden Parteien auf Zuruf die Durchführung eines Mediationsverfahrens an. Stimmen diese zu, so werden sie einem der auf Abruf verfügbaren Zweierteams von Co-Mediatoren zugeteilt, die in unmittelbarem Anschluss an die Zuweisung mit der Durchführung eines Mediationsverfahrens beginnen, für das ein Zeitbudget von circa zwei Stunden zur Verfügung steht. Kommt es zu einer Einigung, so wird der Mediationsvergleich durch die Co-Mediatoren protokolliert und durch das Gericht vollstreckbar gemacht, das auch die Erfüllung des protokollierten Vergleiches kontrolliert. Kommt es dagegen zu keiner Einigung, so können die Parteien den Rechtsstreit unmittelbar vor einem richterlich entscheidenden magistrate weiterführen. Der nachfolgende Gerichtstermin ist dabei so terminiert, dass die Parteien aufgrund der Durchführung des Mediationsverfahrens keine Nachteile in Kauf nehmen müssen. (2) Gerichtsinterne Mediation: Mediation durch Güterichter Die gerichtsinterne Mediation bildet das Hauptanwendungsfeld der gerichtsverbundenen Mediation in Deutschland. Gerichtsverbundene Mediation ist für das deutsche Recht damit im Wesentlichen gerichtsinterne Mediation. In ihr wird die Durchführung des Mediationsverfahrens nicht an Dritte ausgelagert, sondern bleibt jedenfalls institutionell in den Händen der Gerichte: Die Mediation wird stets in den Räumen des Gerichts durchgeführt und von besonders ausgebildeten, regelmäßig nicht in der Sache entscheidenden Güterichtern geleitet.289 Auch im Rahmen der gerichtsinternen Mediation sind alle drei der oben genannten Verweisungstypen anzutreffen. Mit Inkrafttreten des MedFördG290 am 26. Juli 2012 steht dem Gericht nunmehr die Möglichkeit offen, die Parteien gem. § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO zur Durchführung der Güteverhandlung an einen Güterichter zu verweisen, der sich gem. § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO insbesondere der Mediation als Konfliktbeilegungsverfahren bedienen kann. Er ist gem. § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO dabei jedoch nicht auf die Mediation festgelegt, sondern kann sich auch anderer Methoden der Konfliktbeilegung bedienen. Hierbei werden regelmäßig evaluative Methoden, insbesondere das Ausarbeiten von Vergleichsvorschlägen, im Mittelpunkt stehen. Die vermittelnde Tätigkeit der Güterichter im Rahmen des Mediationsverfahrens stellt dabei auch an eine Ausübung rechtsprechender Gewalt iSd. Art. 92 GG dar, die im Gegensatz zur
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Vgl. hierzu Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 6 f.; Greger, Abschlussbericht (2007), S. 3 ff. sowie umfassend v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 61 ff. 290 Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff.
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Tätigkeit von Laienmediatoren den entsprechenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen und Schranken unterliegt. In Deutschland ist die gerichtsinterne Mediation nicht nur von erheblicher praktischer Bedeutung, sondern durch die wissenschaftliche Begleitforschung der in der Anfangsphase durchgeführten Modellprojekte auch empirisch sehr gut erforscht.291 Dabei konnte nachgewiesen werden, dass gerichtsinterne Mediationsverfahren im Erfolgsfall quantitativ zu einer erheblichen Verkürzung des Rechtsstreits, qualitativ zu deutlich interessengerechteren Ergebnissen und subjektiv zu einer sehr hohen Zufriedenheit der Beteiligten – Parteien wie Richter – führen.292 In den USA gibt es dagegen aufgrund der meist fehlenden Freistellung von ihrer richtenden Tätigkeit und als Konsequenz der besonderen Rolle, die den Richtern dort zukommt, kaum Mediationsprogramme, die ausschließlich von Richtern getragen werden.293 Stattdessen wird, wie wir gesehen haben, überwiegend auf inhouse neutrals oder externe Mediatoren zurückgegriffen. Der Einsatz von Richtern als Mediatoren ist daher weitgehend auf Einzelfälle beschränkt. Neben dem erkennenden Prozessrichter, dessen mediative Tätigkeit auch im US-amerikanischen Schrifttum äußerst kritisch beurteilt wird, gibt es auch ausschließlich als Mediatoren tätige settlement judges, die indes nicht nur im Mediationsverfahren, sondern auch in anderen ADR-Verfahren wie der ENE und der gerichtsverbundenen Schiedsgerichtsbarkeit zum Einsatz kommen können.
291 Vgl. nur die Untersuchungen von Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 6 f.; Greger, Abschlussbericht (2007), S. 3 ff. sowie umfassend v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 61 ff. sowie Greger, ZRP 2006, 229; Spindler, ZKM 2007, 79; Greger, ThürVBl. 2010, 6; Greger, AnwBl. 2013, 504; Klamt/Moltmann-Willisch, ZKM 2013, 112. 292 Allerdings ist für die Zukunft unklar, ob gerichtsinterne Mediationsprogramme in der bereits bestehenden Weise aufrechterhalten werden können. Dies ist vor allem eine rechtspolitisch zu entscheidende Frage. Als problematisch wird dabei angeführt, dass die Aufrechterhaltung entsprechender Mediationsprogramme aufgrund der Unvertretbarkeit von Insellösungen die flächendeckende Übernahme neuer Justizaufgaben erfordern würde, was dem Ziel der Justizentlastung durch Förderung der alternativen Streitbeilegung widerspricht. Diesem Einwand lassen sich jedoch die positiven Ergebnisse der bereits bestehenden Mediationsprogramme einschließlich ihrer personellen und finanziellen Rahmenbedingungen entgegenhalten. Insbesondere das bayrische Güterichtermodell ist bereits in einer Weise an den Gerichten etabliert, dass nicht mehr lediglich von „Insellösungen“ gesprochen werden kann. Vgl. hierzu Greger, Abschlussbericht (2007), S. 124. 293 Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 106.
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cc) Das Multi-Door Courthouse Das Multi-Door Courthouse stellt neben der gerichtsexternen und der gerichtsverbundenen Mediation den dritten Strukturtyp des Mediationsverfahrens in seinem Verhältnis zum Zivilprozess dar. Es geht auf ein Konzept zurück, das der Harvard Professor Frank E. A. Sander auf der Pound Conference 1976 vorstellte und das seitdem als Ausgangspunkt der modernen ADR-Bewegung gilt. Während in der gerichtsexternen Mediation die Einleitung des Mediationsverfahrens ausschließlich den Parteien überlassen bleibt und in der gerichtsverbundenen Mediation als Korrektur einer bereits getroffenen Parteientscheidung für den Zivilprozess aus einem laufenden Gerichtsverfahren heraus erfolgt, bleibt das Multi-Door Courthouse nicht bei einer bloßen Umleitung vom kontradiktorischen zum konsensualen Verfahren stehen. Stattdessen setzt es entsprechend dem Distributionsmodell an einem sehr viel früheren Zeitpunkt in der Konfliktgenese an, an dem die Parteien noch keine endgültige Verfahrensentscheidung getroffen haben und damit die Frage die Verfahrenswahl noch offen ist.294 Entsprechend dem Grundgedanken Frank E.A. Sanders, dem konkreten Konflikt das für seine Beilegung besonders geeignete Verfahren zuzuweisen („fitting the forum to the fuss“)295, wird der Konflikt zunächst in einer screening conference eingehend analysiert, um sodann zu dem auf ihn zugeschnittenen Streiterledigungsverfahren verwiesen zu werden. Anders als im Fall der institutionellen Einbindung der Mediation in das Gerichtsverfahren, bei der eine Korrektur der ursprünglichen Verfahrensentscheidung der Parteien notwendig wird, wird der Konflikt hier gleich von Anfang an dem passenden Verfahren zugewiesen. Möglich wird dies durch die institutionelle Gewährleistung eines als Multi-Door Courthouse ausgestalteten Analyse- und Verweisungsverfahrens als Erstzugang, erster Anlauf- bzw. zentraler Konfliktbeilegungsstelle für die Parteien nach einem Konflikt und der Bereitstellung der notwendigen Verfahren gleichsam „unter einem Dach“. Die praktische Umsetzung des Konzeptes des Multi-Door Courthouse begegnet indes erheblichen Schwierigkeiten. Durch das auf aggressive Konfrontation ausgerichtete intuitive Konfliktverhalten und die Fokussierung der Rechtspraxis auf den streitigen Zivilprozess legen sich die Parteien vergleichsweise früh auf die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens fest, so dass 294 Eingehend hierzu oben S. 10 f. sowie unten S. 730 ff. Zum Konzept des Multi-Door Courthouse vgl. grundlegend Sander, 70 F.R.D 111, 131 (1976). Sowie Stempel, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 297 (1996); Savage/Stuart, 26 Colo. Lawer 13 (1997); Goldberg/Sander/ Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 439 f.; Weitz, 14 No. 1 Disp. Resol. Mag. 21 (2007). Zu empirischen Studien vgl. Kessler/Finkelstein, 37 Cath. U. L. Rev. 577 (1988); Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003); Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005). 295 Sander/Goldberg, 10 Neg. J. 49 (1994).
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für eine eingehende Konfliktanalyse und eine entsprechende Verfahrenszuweisung kein Raum verbleibt. Darüber hinaus bedarf es einer auch bei den Parteien anerkannten Institution, die in der Lage ist, die Aufgabe der Verfahrensanalyse und -zuweisung zu übernehmen. Entsprechend hat sich das Multi-Door Courthouse bislang nur in Modellprojekten bewähren können. Vor diesem Hintergrund stellen gerichtsverbundene Mediationsprogramme als Integrations- und Diversionssysteme einen Kompromiss dar, um unter den Bedingungen der Ausrichtung der Konfliktbeilegung auf den Zivilprozess den Parteien dennoch eine auf den Konflikt zugeschnittene Verfahrenswahl zu ermöglichen. Denn auch wenn der Konflikt aufgrund der bestehenden Vorurteile und Verhaltensmuster nicht von vornherein dem passenden Konfliktbeilegungsverfahren zugewiesen werden kann, so soll eine adäquate Verfahrenswahl zumindest in einem späteren Stadium durch die Überleitung in das Mediationsverfahren ermöglicht werden. Indem gerade Richter als den Konflikt analysierende screening officer für die Initiierung der Verfahrensüberleitung gewonnen werden, lässt sich der dominante Einfluss des Zivilverfahrens effektiv überwinden. Das Konzept des Multi-Door Courthouse hat daher in den gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen als realisierbarer Kompromiss die den Bedingungen der gegenwärtigen Konfliktkultur entsprechende Ausprägung erhalten. Die Institutionalisierung des Mediationsverfahrens steht als die Konfliktbeilegung prägender Prozess indes noch am Anfang. Daher könnten die gerichtsverbundenen Mediationsprogramme für eine Übergangszeit durchaus eine Mittlerfunktion übernehmen, bis sich die Konfliktkultur in einem Maße gewandelt und die Mediation als natürliche Alternative zum Zivilprozess in einem Umfang etabliert hat, der ein Multi-Door Courthouse im Sinne Frank E. A. Sanders möglich macht.296 Wie wir im Folgenden sehen werden, ist dabei allerdings zu erwarten, dass sich die mannigfaltige Vielzahl der „Türen“ des Multi-Door Courthouse auf den Dualismus der zwei „Türen“ des Mediationsverfahrens und des Zivilprozesses als den für die Praxis der Konfliktbeilegung zentralen Verfahren verengt.297 296 Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007): „We are now in the midst of the third phase, which can be characterized under the rubric of ‚Institutionalization‘ or ‚Mainstreaming.‘ The principal aim of this effort is to seek ways of working mediation into the fabric of dispute resolution, so mediation will be naturally considered in the process of resolving disputes, rather than putting the burden on the disputant who wants to invoke mediation.“ 297 Vgl. nur die weitgehend auf (evaluierende) Mediation ausgerichteten Modellprojekte Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 6 f.; Greger, Abschlussbericht (2007), S. 3 ff.; v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 61 ff. In diese Richtung gehen auch die Vorschriften der §§ 278 Abs. 5 S. 2 („alle Methoden der Konfliktbeilegung einschließlich der Mediation“), 278a ZPO Abs. 1 („eine Mediation oder ein anderes Verfahren“), die zwar grundsätzlich von einer Methodenoffenheit ausgehen, zugleich jedoch allein die Mediation als ADR-Verfahren gesondert erwähnen und ihr damit einen besonderen Stellenwert einräumen. Hervorhebungen durch den Verfasser.
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b) Verfahrensförderung Mit der durch die Strukturtypen angesprochenen Ordnung des Mediationsverfahrens in seinem Verhältnis zum Zivilprozess ist indes noch nichts über die Gestaltung des Übergangs zwischen den beiden Verfahrensarten gesagt. Abhängig von ihrer Intensität lassen sich hierbei Maßnahmen zur Förderung und zur Einleitung des Mediationsverfahrens unterscheiden. Eine effektive Konfliktbehandlung setzt voraus, dass der einzelne Konflikt bereits in einem frühen Stadium gleichsam „eingefangen“ und der Mediation als primärem Konfliktbeilegungsverfahren zugewiesen wird. Weil der streitige Zivilprozess in erheblichem Maße zu einer weiteren Eskalation des Konfliktes beiträgt, greift eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung des Mediationsverfahrens bereits unmittelbar nach Klageerhebung ein. aa) Prüfungspflicht der Parteien und der Anwälte Der Grundsatz, dass die Ausübung der Privatautonomie Information voraussetzt, gilt nicht nur im Hinblick auf materielle Entscheidungen der Parteien, sondern in besonderer Weise auch für die Verfahrenswahl. Im Hinblick auf die Mediation müssen dabei nicht nur Informationsdefizite, sondern vielfach auch eingefahrene Verhaltensmuster intuitiven Konfliktverhaltens der Parteien sowie bestehende Vorurteile überwunden werden. Die empirische Begleitforschung gerichtsverbundener Mediationsprogramme in Deutschland hat dabei nachgewiesen, dass weder bei den Parteien noch bei Richtern oder Rechtsanwälten die Verfahrenseigenschaften und Vorteile des Mediationsverfahrens als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können, die Beteiligten jedoch regelmäßig von den Vorteilen der Mediation überzeugt sind, wenn sie einmal selbst an einem Mediationsverfahren teilgenommen haben. Im Hinblick auf die Möglichkeiten der Verfahrensförderung kommt damit zunächst der umfassenden Information und Beratung der Prozessbeteiligten eine besondere Bedeutung zu. So sehen im internationalen Rechtsvergleich die Zivilverfahrensordnungen verschiedener Länder die Möglichkeit vor, die Parteien oder auch die Rechtsanwälte zu verpflichten, vor Erhebung der Klage die Möglichkeit der Mediation in qualifizierter Weise zu überprüfen. So verpflichtet in England etwa eine verbindliche practice direction die Parteien, bereits im Vorfeld eines Zivilverfahrens Möglichkeiten einer Einigung auszuloten und einen streitigen Zivilprozess zu vermeiden. So ist der zukünftige Kläger verpflichtet, dem potentiellen Beklagten bereits vor Klageerhebung die näheren Einzelheiten des geltend gemachten Anspruchs zu nennen und ihm mitzuteilen, ob er zur Durchführung einer Mediation oder eines anderen ADR-
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Verfahrens bereit ist.298 Im Falle eines Prozesses kann das Gericht von den Parteien den Nachweis verlangen, dass sie alternative Verfahren der Streitbeilegung hinreichend geprüft haben und einen Verstoß dieser Verfahrenspflicht bei der Bestimmung der Kosten berücksichtigen.299 In den USA können die local court rules dagegen vorsehen, dass die Parteien vor der sogenannten pre-trial oder case management conference zur Vorlage eines Mediation Statement verpflichtet werden, in dem sie den geltend gemachten Anspruch durch weitere Informationen substantiieren, Möglichkeiten der einvernehmlichen Lösung des Rechtsstreits vorschlagen sowie weitere Dokumente zur Verfügung stellen, die zur Beilegung des Konfliktes beitragen.300 Im Hinblick auf die Handhabung des Mediation Statement als Instrument der Verfahrensförderung besteht dabei – wie auch bei der Gestaltung der gerichtsnahen
298 „Parties to a potential dispute should follow a reasonable procedure, suitable to their particular circumstances, which is intended to avoid litigation. It should normally include – (a) the claimant writing to give details of the claim; (b) the defendant acknowledging the claim letter promptly; (c) the defendant giving within a reasonable time a detailed written response; and (d) the parties conducting genuine and reasonable negotiations with a view to settling the claim economically and without court proceedings. … The claimant's letter should … (f) state (if this is so) that the claimant wishes to enter into mediation or another alternative method of dispute resolution; and (g) draw attention to the court's powers to impose sanctions for failure to comply with this practice direction and, if the recipient is likely to be unrepresented, enclose a copy of this practice direction.“ Practice Direction on protocols (revision 43 as of March 2008) 4.2 f. Vgl. hierzu auch Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 21 f. 299 Practice Direction on protocols, 4.7 (vgl. Oben Fn. 298): „Both the Claimant and Defendant may be required by the Court to provide evidence that alternative means of resolving their dispute were considered. The Courts take the view that litigation should be a last resort, and that claims should not be issued prematurely when a settlement is still actively being explored. Parties are warned that if this paragraph is not followed then the court must have regard to such conduct when determining costs;”. 300 Vgl. für Kalifornien hierzu Rule 3.894 (b) (2) der Civil Rules der California Rules of Court: „The mediator may request that each party submit a short mediation statement providing information about the issues in dispute and possible resolutions of those issues and other information or documents that may appear helpful to resolve the dispute.“ Zwar gilt diese Vorschrift grundsätzlich nur für den Fall, dass tatsächlich ein Mediationsverfahren durchgeführt wird, doch geben etwa die local court rules des Superior Court Sacramento darüber hinaus und verlangen von den Parteien neben dem ohnehin üblichen Case Management Statement auch dann die Abgabe eines Mediation Statement, wenn noch unklar ist, ob tatsächlich ein Mediationsverfahren durchgeführt wird. Vgl. Rule 11.055 E der Local Rules des Superior Court of California, County of Sacramento v. 1.1.2010: „In cases where a Case Management Statement will be filed, the Mediation Statement shall be filed concurrently with the Case Management Statement as required under Local Rule 12.18 unless the parties have filed a Stipulation for Alternative Dispute Resolution form with the ADR Administrator at any time up to 15 calendar days prior to the Case Management Conference.” Vgl. hierzu auch Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 22.
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Mediation im Allgemeinen – eine erhebliche Vielfalt unterschiedlicher Regelungen, die sich je nach Bundesstaat, jedoch selbst innerhalb der einzelnen Bundesstaaten abhängig vom jeweiligen Gericht erheblich unterscheiden können. So gehen etwa die Local Rules des Superior Court of California, County of Sacramento über die Rahmenregelung der bundesstaatlichen Civil Rules der California Rules of Court hinaus, die in 3.894 (b) ein derartiges Mediation Statement lediglich für den Fall vorsehen, dass tatsächlich ein Mediationsverfahren durchgeführt wird. Nach Rule 11.055 E der Local Rules haben die Parteien mit den stets notwendigen Case Management Statements zugleich ein Mediation Statement vorzulegen, und zwar auch dann, wenn die Frage der Durchführung eines Mediationsverfahrens noch offen ist.301 Ein anderes Verfahren sehen dagegen die Local Rules des California Court of Appeal, Third Appellate District vor. Diese verpflichten die Parteien nur dann zur Vorlage eines Mediation Statement, wenn die Geschäftsstelle des Gerichts (clerk of the court) oder das Prozessgericht selbst das Verfahren für mediationsgeeignet hält. Ist das der Fall, erhalten die Parteien ein spezielles Formular (Civil Appeal Mediation Statement), das sie innerhalb von zehn Tagen nach Erhalt ausgefüllt an das Gericht zurückschicken müssen. Verletzen die Parteien die ihnen obliegende Pflicht zur Abgabe des Mediation Statement, führt dies bei einer Pflichtverletzung seitens des Berufungsklägers zur Abweisung der Berufung, bei einer Verletzung seitens des Beklagten zur Überprüfung der Mediationseignung ohne Berücksichtigung des Beklagtenvortrages.302 Eine weitere Möglichkeit, die Parteien über die Option eines Mediationsverfahrens aufzuklären, besteht schließlich in der umfassenden Einbindung der Rechtsanwälte in die Verfahrenswahl. So sind etwa in Kanada die Parteivertreter in bestimmten familienrechtlichen Auseinandersetzungen verpflichtet, die Parteien auf die Möglichkeit der Mediation hinzuweisen und mit ihnen gemeinsam den streitgegenständlichen Konflikt auf seine Mediationseignung zu überprüfen.303
301 Vgl. Rule 11.055 E der Local Rules des Superior Court of California, County of Sacramento v. 1.1.2010. Vgl. hierzu bereits oben Fn. 299. 302 Rule 1 (f) 3 (B) und 4 (B) der California Court of Appeal Third Appellate District Local Rules: „Failure to timely file either the Appellant's Civil Case Information Statement or the Appellant's Civil Appeal Mediation Statement will result in dismissal of the appeal, without prejudice to reinstatement upon a showing of good cause. … Failure to timely file a Respondent's Civil Appeal Mediation Statement will result in the appeal being assessed for mediation eligibility without input from the respondent.“ 303 Vgl. hierzu eingehend Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 23, 691 ff.
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bb) Mediations-Koordinatoren Die institutionelle Integration der Mediation in den Zivilprozess kann darüber hinaus auch durch die Einrichtung spezieller Mediations-Koordinatoren gefördert werden. Ihnen kommt die Aufgabe zu, anhängige Fälle auf ihre Mediationseignung zu überprüfen, die Parteien bei der Wahl des richtigen Verfahrens zu beraten, sie über die Vorteile der Mediation gegenüber dem Zivilprozess zu informieren und als zentrale Anlaufstelle bei der Auswahl der Mediatoren und der weiteren Durchführung des Mediationsverfahrens zu unterstützen. Derartige Mediations- oder ADR-Koordinatoren bestehen mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen an nahezu allen Gerichten mit gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen. Es handelt sich entweder um Richter, denen die Koordinierung des lokalen Mediationsprogramms als zusätzliche Aufgabe übertragen worden ist, oder nicht-richterliche Angestellte des Gerichtes, die darüber hinaus auch regelmäßig mit dem screening anhängiger Verfahren und der Begleitung der Parteien betraut werden. So wird etwa das gerichtsverbundene Mediationsprogramm am California Court of Appeal, Third Appellate District von einem Mediation Program Coordinator administriert, der unter der Leitung des Court of Appeal Mediation Program Committee tätig und vom Prozessgericht kontrolliert wird. Ihm obliegt die Versendung der Mediation Statements an die Parteien, ihre Benachrichtigung im Hinblick auf die Aufnahme in das gerichtsverbundene Mediationsprogramm und die Zuweisung der Mediatoren.304 cc) Kostenanreize Da die Verfahrenswahl der Parteien zu einem großen Teil auch von finanziellen Erwägungen bestimmt wird, kommt Kostenanreizen als verhaltenssteuerndem Instrument der Verfahrensförderung eine erhebliche Bedeutung zu. Im Rechtsvergleich haben die Prozessordnungen eine Vielzahl unterschiedlicher Regelungen hervorgebracht, die sich im Übrigen durch eine besondere Kreativität auszeichnen.305 Neben Regelungsmodellen, die Kostensanktionen im Fall der Verweigerung eines außergerichtlichen Einigungsversuches vorsehen und entsprechende Kostenanreize lediglich durch die Umverteilung den den Parteien
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Rule 1 (b) (f) 35 der California Court of Appeal Third Appellate District Local Rules. Vgl. hierzu die umfassende Untersuchung von Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 28 ff. 305
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auferlegten Kosten erreichen,306 bestehen in verschiedenen Jurisdiktionen zum Teil umfangreiche Förderprogramme.307 c) Verfahrenseinleitung Nachdem wir im Rahmen unserer Untersuchung der Strukturtypen den Rahmen betrachtet haben, in dem sich das Mediationsverfahren im Verhältnis zum Zivilprozess bewegen kann308, und sodann die vielfältigen Möglichkeiten der Verfahrensförderung309 im Vorfeld und während des Verfahrens untersucht haben, wollen wir mit der Frage der Verfahrenseinleitung nun die Schnittstelle zwischen Mediation und Zivilprozess näher in den Blick nehmen. Dabei wollen wir uns entsprechend der Thematik des Verhältnisses von Mediation und Verfahrensrecht auf prozessuale Aspekte des Zuweisungsproblems beschränken. Die Frage der materiellen Verweisungskriterien wird uns dagegen erst später bei unserer Untersuchung des Verhältnisses der unterschiedlichen Streiterledigungsverfahren im Rahmen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre beschäftigen. Sie ist für die Rechtspraxis trotz der verwirrenden Vielfalt der theoretisch möglichen ADR-Verfahren dadurch erheblich entschärft, dass sich die ADR-Praxis heute weitgehend auf das Mediationsverfahren als dem maßgeblichen konsensualen Streitbeilegungsverfahren reduziert.310 Das Multi-Door Courthouse verfügt damit im Wesentlichen über zwei Türen, die zum Mediationsverfahren auf der einen und zum Zivilprozess auf der anderen Seite führen. Dass sich dieser Befund als Ergebnis einer Konsolidierungsbewegung auch durch die Rechtspraxis bestätigen lässt, ist kein Zufall, sondern kann als empirische Bestätigung des Kanons der drei Primärverfahren der Konfliktbeilegung angesehen werden, die darüber hinaus sowohl rechtshistorisch als auch rechtsphilosophisch bereits vorgezeichnet sind. Im Hinblick auf die Gestaltung des Verfahrensübergangs sind drei Ebenen von Bedeutung: Der Zeitpunkt und die Verbindlichkeit der Zuweisung sowie die Person des Zuweisenden.
306
So etwa Rule 44.3. (2) (b), (4) (a), (5) (a) iVm. Rule 1.3, 1.4 (1), (2) (a) (e) (f) der 1999 im Zuge der Woolfe Reform reformierten Civil Procedure Rules. 307 So etwa kostenlose gerichtsverbundene Mediationsprogramme wie das Harvard Mediation Program, vgl. oben S. 503, Fn. 288 oder kostenlose Mediation im Rahmen der Modellprojekte an deutschen Gerichten, vgl. Greger, ZRP 2006, 229; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006); Greger, Abschlussbericht (2007); Spindler, ZKM 2007, 79; Greger, ThürVBl. 2010, 6; Greger, AnwBl. 2013, 504; Klamt/Moltmann-Willisch, ZKM 2013, 112. 308 Vgl. oben S. 107 ff. 309 Vgl. oben S. 507 ff. 310 Das gilt ohne Zweifel für Deutschland. Eine entsprechende Tendenz ist indes auch für die USA nachweisbar, vgl. Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 81, 84.
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
aa) Verfahrenseinleitung vor Klageerhebung: Mediation als obligatorisches Vorschaltverfahren Im Idealfall, der auch dem Konzept des Multi-Door Courthouse zugrunde liegt, leiten die Parteien bereits von Anfang an, vor Klageerhebung, das den Konflikt am ehesten entsprechende Verfahren ein. Dies ist, wie wir bereits gesehen haben, aufgrund seines methodischen Vorranges grundsätzlich das Mediationsverfahren, sofern nicht ausnahmsweise die besonderen Umstände des Einzelfalls eine Beilegung des Konfliktes im Rahmen des Zivilprozesses nahelegen. Da die Initiative zur Streitbeilegung zunächst stets von den Parteien ausgehen muss, liegt die Zuständigkeit für die Verfahrenseinleitung in der Person der Parteien. Diese können hierfür freilich die Hilfe von Rechtsanwälten, ADR-Experten oder – im Rahmen eines Multi-Door Courthouse-Projektes – von screenern bzw. case managern in Anspruch nehmen. Da die Gerichte erst nach Erhebung einer Klage und nicht kraft Amtes tätig werden können, scheidet eine verbindliche gerichtliche Verweisung in das Mediationsverfahren aus. Dies bedeutet indes nicht, dass die Mediation in jedem Fall ausschließlich freiwillig durchgeführt werden muss. Macht das Gesetz die Zulässigkeit einer zivilgerichtlichen Klage von der vorherigen Durchführung eines Mediationsverfahrens als Sachurteilsvoraussetzung abhängig, so kann einer derartigen „Mediationspflicht“ verhaltenssteuernde und insoweit indirekt bindende Wirkung zukommen. Eine entsprechende Regelung enthält beispielsweise § 15a EGZPO, der für bestimmte geringwertige oder in besonderer Weise die Person des Klägers betreffende Streitigkeiten ein vorheriges Güteverfahren vorsieht, das im Rahmen einer Mediation durchgeführt werden kann, aber notwendig durchgeführt werden muss. In den USA sind entsprechende Regelungen in den local court rules der Gerichte enthalten, die die Parteien abhängig von der Art der Streitigkeit und dem jeweiligen Streitwert vor der Erhebung der Klage kategorisch zunächst auf die vorherige Durchführung eines Mediationsverfahrens verweisen.311 Zusammenfassend lässt sich damit festhalten: Vor Klageerhebung liegt die Befugnis und Zuständigkeit für die Verfahrenswahl ausschließlich bei den Parteien. Rechtsanwälten, ADR-Experten und screenern kommt lediglich eine beratende Funktion zu. Die Verfahrenseinleitung erfolgt grundsätzlich freiwillig, sofern die Parteien nicht einen Zivilprozess in Gang setzen wollen und dieser als Zulässigkeitsvoraussetzung die vorherige Durchführung eines obligatorischen Mediationsverfahrens vorsieht.
311
Hierzu Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 78 f. mwN.
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bb) Verfahrenseinleitung nach Klageerhebung: Verfahrenssteuerung durch das Gericht In den in der Praxis häufigsten Fällen wird die Frage der Einleitung eines Mediationsverfahrens dagegen erst nach Klageerhebung relevant. Hier erfolgt die Verfahrenssteuerung grundsätzlich durch das prozessual zuständige erkennende Gericht.312 Die mögliche Verweisung in ein Mediationsverfahren ist dabei allerdings grundsätzlich jeweils in unterschiedlicher Verbindlichkeit ausgestaltet. (1) Bindende gesetzliche Verweisung Die Mediation kann zunächst als Zulässigkeitsvoraussetzung für das gerichtliche Verfahren bereits in Form eines obligatorischen Güteversuchs zwingend gesetzlich vorgeschrieben sein. Ob ein unterbliebener Güteversuch nach Erhebung der Klage nachgeholt werden kann, hängt dabei von den rechtlichen Rahmenbedingungen der Regelung ab. Für die Vorschrift des § 15a EGZPO ist dies vom BGH ausdrücklich verneint worden, da sonst aufgrund negativer Verhaltensanreize eine Einigung von vornherein unwahrscheinlich wäre.313 Denn es ist zu erwarten, dass sich der Kläger einer Einigung entzieht, da die bereits anhängig gemachte Klage im Fall einer Einigung unzulässig werden würde, so dass er die Verfahrenskosten zu tragen hätte. In den USA ist dagegen auch nach Klageerhebung die Durchführung eines von den local court rules geforderten obligatorischen Mediationsverfahrens regelmäßig ohne weiteres möglich. Zahlreiche Gerichte sehen darüber hinaus eine kategorische Verweisung (presumptive referral) anhängiger Fälle in die gerichtsverbundene Mediation vor. Dabei besteht eine Vermutung zugunsten der Mediationseignung, auf deren Grundlage die anhängigen Verfahren kategorisch, d.h. anhand des Konflikttyps zur ADR verwiesen werden, wobei ganz überwiegend die Mediation zur Anwendung kommt.314
312 Vgl. hierzu instruktiv für die deutschen Modellprojekte Greger, Abschlussbericht (2007), S. 4 ff.; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 6 f. sowie für gerichtsverbundene Mediationsprogramme in den USA (court-annexed mediation, courtconnected mediation) Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 52 ff.; Meyer, Courtconnected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 63 ff. 313 BGHZ 161, 145 = NJW 2005, 437, 438 f. Ebenso BGH VersR 2014, 601, 602; BGH MDR 2011, 1253, 1253 f. 314 Vgl. hierzu eingehend Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 70 f.
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
(2) Freiwillige Durchführung des Mediationsverfahrens Neben der verbindlichen Verweisung in das Güterichterverfahren steht dem Gericht darüber hinaus die Möglichkeit offen, den Parteien die freiwillige Durchführung eines gerichtsinternen oder gerichtsexternen ADR-Verfahrens vorzuschlagen. Vor der Reform des § 278 Abs. 5 ZPO durch das MedFördG 2012315 bildete diese Form der freiwilligen Verfahrenseinleitung den Normalfall und die einzige Möglichkeit der Integration von ADR-Verfahren in den Zivilprozess. Mittlerweile sieht das deutsche Zivilprozessrecht in § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO für das Gericht die Möglichkeit vor, die Parteien verbindlich in das gerichtsinterne Güterichterverfahren zu verweisen. Als wesensgleiches Minus ist in der Verweisungsbefugnis nach § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO dabei auch die Möglichkeit einer freiwilligen Anregung des Güterichterverfahrens enthalten. Aufgrund der Möglichkeit der verbindlichen Verweisung nach § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO wird sie in der Praxis indes nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung entfalten können. Darüber hinaus sieht die ebenfalls mit dem MedfördG316 vom 21. Juli 2012 eingefügte Vorschrift des § 278a ZPO für das Prozessgericht die Möglichkeit vor, „den Parteien eine Mediation oder ein anderes Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung vor[zu]schlagen.“ Angesprochen sind gerichtsexterne ADR-Verfahren, insbesondere die gerichtsexterne Mediation durch freiberufliche Mediatoren. Ein solches gerichtsexternes ADR-Verfahren unterscheidet sich im Hinblick auf die Verfahrensdynamik, die Rolle des neutralen Dritten sowie seinen Vermittlungs- bzw. Mediationsstil von vornherein grundlegend vom Güterichterverfahren nach § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO, in dessen Rahmen dem Güterichter als mit entsprechender richterlicher Autorität ausgestattetem Amtsträger a priori sicherlich eine grundlegend stärker bewertende Rolle (evaluative mediation, umfassende Sachbeurteilung)317 zukommen wird.318 Auch in den USA bemühen sich die vielfältigen, je nach Bundesstaat und gegebenenfalls Gericht unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen in der Tendenz eher darum, den Parteien die letzte Entscheidung über die Einleitung eines Mediationsverfahrens zu überlassen.319 Aufgrund der traditionell sehr hohen 315 Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 316 Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 317 Vgl. hierzu oben S. 317 sowie Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 30 ff. (1996). Vgl. auch Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111, 112 f. (1994). 318 Zur Rolle des Güterichters in der gerichtsinternen Mediation vgl. oben S. 385 ff. sowie zum damit verbundenen Problem des Einigungsdrucks eingehend oben S. 385 ff. 319 Vgl. zu gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen in den USA (court-annexed mediation, court-connected mediation) Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 52 ff.; Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 63 ff.
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Autorität der US-amerikanischen Richter ist die zwingende Anordnung eines Mediationsverfahrens regelmäßig nicht erforderlich, da die Parteien der Empfehlung des Gerichts grundsätzlich folgen. Darüber hinaus erleichtern sowohl die veränderte Rolle der Richter im US-amerikanischen Prozessrecht, denen vermehrt Aufgaben des Case Management zugewiesen werden, als auch das spezielle prozessuale Vorbereitungsverfahren der pre-trial conferences die Einbindung des Mediationsverfahrens in den Zivilprozess. Mit dem vorherigen Güteversuch, der im deutschen Zivilprozess als Güteverfahren nach § 278 Abs. 1 ZPO, im US-amerikanischen Zivilprozess als pretrial conference ausgestaltet ist, nähert sich die Struktur des Verfahrensübergangs wieder dem Konzept des Multi-Door Courthouse an. Dieses hatte in seiner ursprünglichen Form ein screening durch spezielle Koordinatoren, die sog. screener, vorgesehen, die den Konflikt eingehend analysieren und den Parteien die Einleitung eines speziellen, auf die Anforderungen des jeweiligen Konfliktes zugeschnittenen Streitbeilegungsverfahrens empfehlen sollten.320 Allerdings hat das analytische screening und die mit ihm verbundene individualisierte Verfahrenszuweisung in der ADR-Praxis aufgrund der Fokussierung auf die Mediation als nahezu einzigem und maßgeblichem ADR-Verfahren viel von seiner Bedeutung verloren. In der Praxis kommt den Gerichten daher als Verfahrenslotsen die entscheidende Beratungs- und Aufklärungsaufgabe zu, den Parteien die Vorteile einer gütlichen Einigung vor Augen zu führen und in geeigneten Fällen die Einleitung eines Mediationsverfahrens anzuregen.321 Durch die Vorbereitung des zur Entscheidung berufenen Gerichts ist der Einsatz spezieller screener weitgehend überflüssig geworden. Die Beratung der Parteien sowie die Anregung eines Mediationsverfahrens obliegen somit regelmäßig dem erkennenden Prozessgericht, das im Übrigen bereits eingehend mit dem Fall vertraut ist, die Parteien kennt und damit am ehesten in der Lage ist, die Beteiligten zu der Durchführung eines Mediationsverfahrens zu motivieren. 320
Hierzu eingehend Sander, 70 F.R.D 111, 125 ff. (1976) sowie Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 111 ff., 159 ff., 166 ff., 240 f.; Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 81 f. 320 Auf diesen Zusammenhang hat Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85, 111 (1996) überzeugend hingewiesen. 321 Vgl. hierzu die Perspektive der Modellprojekte in Deutschland Greger, Abschlussbericht (2007), S. 4 ff. Vgl. allerdings auch Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 7, der von der „praktikablen Vorgehensweise“ der generellen Abgabe der Verfahren an den Güterichter ohne gesondertes Screening berichtet. Zu dieser grundsätzlichen Vermutung zugunsten der Mediation bereits Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007): „We are now in the midst of the third phase, which can be characterized under the rubric of ‚Institutionalization‘ or ‚Mainstreaming.‘ The principal aim of this effort is to seek ways of working mediation into the fabric of dispute resolution, so mediation will be naturally considered in the process of resolving disputes, rather than putting the burden on the disputant who wants to invoke mediation.“
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Problematisch ist indes weniger die Befugnis des Prozessgerichts, den Parteien vergleichsfördernde Hinweise zu geben, sondern eher die entsprechende Bereitschaft und die Fähigkeit des Gerichts. Aufgrund bestehender Vorurteile, eingefahrener Verhaltensmuster sowie nach wie vor verbreiteter Informationsdefizite können Bereitschaft und Fähigkeit der Gerichte, die Inanspruchnahme konsensualer Streitbeilegungsformen anzuregen, erheblich beschränkt sein. Neben entsprechenden richterlichen Ausbildungsstandards, die jedenfalls die Kenntnis alternativer Verfahrensmöglichkeiten, insbesondere des Mediationsverfahrens, umfassen sollten, kommt daher der richterlichen Hinweispflicht eine erhebliche Bedeutung zu. Insoweit kann der Pflicht des Richters nach § 278 Abs. 1 ZPO, in jeder Phase des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits oder einzelner Streitpunkte bedacht zu sein, insbesondere im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 139 ZPO durchaus die Pflicht entnommen werden, die Parteien stets auf die Möglichkeit eines Mediationsverfahrens hinzuweisen, soweit die Umstände des Einzelfalls dem nicht entgegenstehen. Allerdings war bereits im Rahmen der Modellprojekte zur gerichtsverbundenen Mediation in Deutschland die Tendenz erkennbar, die individuelle Konfliktzuweisung zugunsten einer generellen Abgabe der Verfahren an den Güterichter und der – widerlegbaren – Vermutung der „ADR-Eignung“ zu ersetzen.322 (3) Bindende Verweisung durch das Gericht Neben der unverbindlichen Anregung einer Mediation, der aufgrund der hohen Autorität richterlicher Hinweise stets eine erhebliche praktische Bedeutung zukommt, kann der Verfahrensübergang auch als verbindliche Verweisung ausgestaltet sein, in deren Rahmen das Gericht die Durchführung eines Mediationsverfahrens durch Beschluss verbindlich anordnen kann. Eine derartige Verweisungsbefugnis ist im Rahmen der Neufassung des § 278 Abs. 5 ZPO durch das MedFördG323 vom 21. Juli 2012 in das Zivilverfahrensrecht aufgenommen worden. Danach kann „das Gericht kann die Parteien für die Güteverhandlung sowie für weitere Güteversuche vor einen hierfür bestimmten und nicht entscheidungsbefugten Richter (Güterichter) verweisen“324, der sich hierfür „alle Methoden der Konfliktbeilegung einschließlich der Mediation einsetzen“325 kann.326
322
Vgl. nur Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 7. Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 324 § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO. 325 § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO. 326 BT-Drucks. 17/8058, S. 21 (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum MedFördG); MünchKomm/Prütting, ZPO (5. Aufl. 2016), § 278 Rn. 36; 323
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Auch in anderen Prozessordnungen ist die Möglichkeit der bindenden Verweisung verbreitet. So gewähren vor allem die einzelstaatlichen Regelungen sowie die jeweiligen local court rules in den USA den Gerichten das Recht, die Mediation in ihnen geeignet erscheinenden Fällen sua sponte anzuordnen.327 Häufig ist ein derartiges gerichtliches Verweisungsrecht gepaart mit Regelungen über die verbindliche Einleitung der Mediation auf Antrag einer Partei, sofern diese bereit ist, die Kosten zu tragen. Wie wir bereits gesehen haben, wirft die obligatorische Mediation eine Reihe rechtspolitischer Fragen auf, die wir bereits eingehend untersucht haben. Neben der Problematik der Privatautonomie der Parteien als wesentlichem Verfahrensgrundsatz der Mediation sind dies vor allem die Erschwerung des Zugangs zu den Gerichten (Access to Justice) sowie Fragen der Prozessökonomie im Kontext der Wahl des richtigen Verfahrens. Unsere Betrachtung hat ergeben, dass die auf dieser Grundlage vorgebrachten Einwände im Ergebnis nicht durchgreifen: Die prozessuale Obliegenheit der Parteien, sich vor Inanspruchnahme der staatlichen Gerichte in qualifizierter Weise um eine gütliche Einigung zu bemühen, verletzt in keiner Weise ihre Befugnis, ihre rechtlichen Angelegenheiten eigenverantwortlich zu regeln (Privatautonomie). Sie betrifft als Sachurteilsvoraussetzung für einen Zivilprozess lediglich die Verhandlungsfreiheit als Übernahme einer prozessualen Last, nicht dagegen die allein maßgebliche Abschlussfreiheit.328 Auch verhindert und erschwert sie nicht den Zugang zu den Gerichten, da es den Parteien jederzeit freisteht, die Mediation abzubrechen und zum ordentlichen Gerichtsverfahren überzugehen. Die Inanspruchnahme staatlichen Rechtsschutzes an bestimmte formelle oder materielle Voraussetzungen zu knüpfen, gehört zu den grundlegenden Regelungsgegenständen des Zivilverfahrensrechts und begegnet insoweit auch verfassungsrechtlich keinen Bedenken.329 Schließlich entspricht die Verweisung der Parteien auf ein regelmäßig kostengünstigeres und schnelleres Verfahren gerade dem gebotenen Grundsatz der Prozessökonomie. Zwar kann es dann zu einer Verzögerung des Verfahrens kommen, wenn die Mediation ergebnislos abgebrochen und der Zivilprozess fortgesetzt wird. Aufgrund der auch empirisch nachgewiesenen hohen Eini-
Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), § 278 Rn. 20; BeckOK/Bacher, ZPO (26. Ed. 2017), § 278 Rn. 25; Musielak/Voit/Foerste, ZPO (13. Aufl. 2016), § 278 Rn. 15a; Ahrens, NJW 2012, 2465, 2469 ff.; Hartmann, MDR 2012, 941, 941 ff. 327 Vgl. nur § 44.102 Florida Statutes sowie beispielhaft für das gerichtsverbundenen ADR-Programm in Washington D.C. Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 52 ff.; Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 113. 328 Hierzu und zur notwendigen Differenzierung zwischen Teilnahme- und Abschlussfreiheit Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2742. 329 So für das Verfahren nach § 15a EGZPO BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren).
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gungsquote kommt diesen Fällen indes nur eine vergleichsweise geringe praktische Bedeutung zu. Die im Fall des Scheiterns der Mediation eintretenden Verzögerungen fallen daher sowohl im Hinblick auf ihren vergleichsweise geringen zeitlichen Umfang als auch ihr Verhältnis zu den übrigen Mediationen insgesamt nicht ins Gewicht und müssen insbesondere im Hinblick auf die erheblichen Zeit- und Kosteneinsparungen in den Fällen erfolgreicher Mediation im Rahmen einer Gesamtabwägung hingenommen werden. Wirkungen des Verfahrensübergangs Der Übergang zum Güterichterverfahren wirkt sich zunächst nicht unmittelbar auf den laufenden Zivilprozess aus. Auch das Verfahren vor dem Güterichter ist Güteverhandlung iSd. § 278 Abs. 2 S. 1 ZPO und damit Teil des laufenden gerichtlichen Verfahrens.330 Im Gegensatz zur außergerichtlichen Konfliktbeilegung gem. § 278a ZPO besteht kein Anlass für die Anordnung des Ruhens des Verfahrens.331 Allerdings ist der Güterichter gem. § 251 S. 1 ZPO befugt, selbst das Ruhen des Verfahrens insbesondere wegen des „Schwebens von Vergleichsverhandlungen“332 anzuordnen, wenn die begründete Aussicht auf eine außergerichtliche Einigung besteht.333 Nehmen die Parteien dagegen auf Vorschlag des Gerichts gem. § 278a ZPO freiwillig an einer außergerichtlichen Konfliktbeilegung vor einem gerichtsexternen Vermittler – z.B. einem gerichtsexternen, privaten Mediator – teil, so ordnet das Gericht nach § 278a Abs. 2 ZPO das Ruhen des Verfahrens an. Etwas komplexer gestaltet sich die Einleitung eines gerichtsexternen ADRVerfahrens auf Vorschlag des Gerichts nach § 278a Abs. 1 ZPO. Hier führt die in § 278a Abs. 2 ZPO vorgesehene Anordnung des Ruhens des Verfahrens nach § 204 Abs. 1 BGB zwar zunächst zur Beendigung der Hemmung der Verjährung, jedoch liegt mit der Einleitung eines gerichtsexternen ADR-Verfahrens zugleich der Hemmungstatbestand des § 203 BGB vor, so dass die Parteien insoweit vor Verjährungseintritt geschützt sind.334 Für das ADR-Verfahren tritt an die Stelle des zivilprozessualen Streitgegenstandes, d.h. des prozessualen Anspruchs, den eine Partei auf der Grundlage eines bestimmten Lebenssachverhaltes geltend macht, der sehr viel weitere Konfliktbehandlungsgegenstand, d.h. der dem Konflikt zugrunde liegende Sachverhalt in der Gesamtheit seiner verschiedenen Ebenen und Dimensionen. Das Prozessrechtsverhältnis, das ruhend weiterbesteht, tritt in den Hintergrund, während die Par-
330
BeckOK/Bacher, ZPO (26. Ed. 2017), § 278 Rn. 34. BeckOK/Bacher, ZPO (26. Ed. 2017), § 278 Rn. 34; MünchKomm/Prütting, ZPO (5. Aufl. 2016), § 278 Rn. 36; Ahrens, NJW 2012, 2465, 2470. 332 § 251 S. 1 Alt. 1 ZPO. 333 BeckOK/Bacher, ZPO (26. Ed. 2017), § 278 Rn. 34; Ahrens, NJW 2012, 2465, 2470. 334 MünchKomm/Ulrici, ZPO (5. Aufl. 2016), § 278a ZPO Rn. 18. 331
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teien mit dem Vermittler bzw. Mediator ein neues dreiseitiges Verhältnis eingehen.335 Scheitert das ADR-Verfahren, so steht dem neutralen Dritten bzw. dem Mediator nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm. § 4 S. 1 MedG bzw. bei sonstigen ADR-Verfahren nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO sowie bei der Mitwirkung von Anwaltsmediatoren oder anwaltlichen Schlichtern nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm. § 43a Abs. 2 BRAO, § 18 BORA ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Wechselseitige Verfahrenswirkungen ergeben sich darüber hinaus aber auch im Rahmen der ausschließlich vertragsautonomen Mediation im Hinblick auf ein nachfolgendes gerichtliches Verfahren. Haben die Parteien im Rahmen einer Mediationsklausel ex ante im Konfliktfall die Durchführung eines Mediationsverfahrens vereinbart, so liegt darin bei entsprechender Ausgestaltung ein Prozesshindernis, das dem Kläger im Falle des Verzichts auf die Mediation im Wege einer Einrede entgegengehalten werden kann und das der gerichtlichen Nachprüfung zugänglich ist.336 3. Durchsetzung des Verfahrensergebnisses Ist die Mediation erfolgreich, so erfolgt die Durchsetzung der erzielten Einigung mit den Mitteln des Verfahrensrechts. Zur Anwendung gelangen dabei die allgemeinen verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Vollstreckbarkeit von Urkunden nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (Prozessvergleich), § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO (Vollstreckung aus notarieller Urkunde) und §§ 796 a-c ZPO (Anwaltsvergleich). Damit hat sich der Kreis geschlossen: Indem das Verfahrensrecht die Mediation – etwa durch die Regelungen zum Güteverfahren und zum Zeugnisverweigerungsrecht des Mediators konstitutiv ermöglicht –, im Rahmen der Verfahrensgrundsätze begrenzt und nährt und so dem gefundenen Ergebnis schließlich durch das vollstreckungsrechtliche Instrumentarium zur Durchsetzung verhilft, schafft das Verfahrensrecht den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen sich das Mediationsverfahren vollzieht, und bestimmt innerhalb seines Anwendungsbereiches damit zugleich sein Verhältnis zum Zivilprozess.
335
Vgl. hierzu bereits oben S. 188 f. Auch wenn man zwischen der Mediationsvereinbarung und dem Mediatorvertrag unterscheidet, lassen sich beide Vertragsverhältnisse durchaus als unterschiedliche Aspekte eines einheitlichen Rechtsverhältnisses deuten. 336 Lüke, in: Bork/Hoeren/Pohlmann (Hrsg.), Recht und Risiko (2004), S. 397, 401 ff., 409 f.
IV. Zusammenfassung 1. Neben dem materiellen Recht kommt dem Verfahrensrecht in der Mediation eine zentrale Rolle zu. Dabei erfüllt es eine konstitutive, durchsetzende, nährende und begrenzende Funktion. 2. Indem es den für die Mediation notwendigen Rechtsrahmen zur Verfügung stellt, wirkt es konstitutiv. So ermöglicht etwa erst ein zuverlässiger Vertraulichkeitsschutz die für die ursächliche Beilegung des Konfliktes im Rahmen der Mediation erforderliche Offenheit der Parteien. Mit den Vorschriften über die Vollstreckbarkeit von Mediationsvergleichen nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (Prozessvergleich), § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO (Vollstreckung aus notarieller Urkunde) und den §§ 796a-c ZPO (Anwaltsvergleich) erfüllt das Verfahrensrecht darüber hinaus eine durchsetzende Funktion. Eine Vielzahl von dogmatischen Rechtsfiguren, Grundsätzen und Prinzipien des Verfahrensrechts lassen sich zudem für die Mediation fruchtbar machen, so dass ihm insoweit auch eine nährende Funktion zukommt. Zu denken ist dabei etwa an die Grundsätze zur Waffengleichheit der Parteien oder die Rechtsprechung zur materiellen Prozessleitungspflicht gem. § 139 ZPO, die für die Rollendefinition des Mediators und die Bestimmung seines Pflichtenkreises herangezogen werden können. Indem es etwa über die verfassungsrechtlichen Verfahrens- und die allgemeinen Prozessgrundsätze dem zulässigen Handeln des Mediators wie auch jenem der Parteien äußere Grenzen setzt, übt das Verfahrensrecht schließlich eine begrenzende Funktion aus. 3. Das auf die Mediation anwendbare Verfahrensrecht, das Recht der Mediation, findet sich in vertraglichen Verfahrensregelungen (Mediationsvereinbarung und Mediatorvertrag, Verfahrensordnungen, Collaborative Law Vereinbarung) sowie in gesetzlichen Verfahrensreglungen auf internationaler (UNCITRAL Model Law on International Commercial Conciliation), europäischer (europäische Mediationsrichtlinie, europäische Verhaltenskodex für Mediatoren, Empfehlung 2001/310/EG, teilweise ADR-Richtlinie) und einzelstaatlicher Ebene (MedG, §§ 278 Abs. 5, 278a, 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO, 794 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 5, 796 a-c ZPO, § 43a Abs. 2 BRAO, § 18 BORA). Darüber hinaus hat insbesondere die Rechtsprechung die Verhaltensanforderungen der Verfahrensbeteiligten näher konkretisiert. 4. Verfassungsrechtliche Verfahrensgrundsätze bestimmen auf vielfältige Weise die Ausgestaltung des Mediationsverfahrens. In der gerichtsverbundenen Mediation sind dabei aufgrund der Qualifikation der vermittelnden Tätigkeit des Güterichters als Ausübung rechtsprechender Gewalt iSv. Art. 92 Abs. 2 GG zentrale verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien unmittelbar anwendbar. In der vertragsautonomen Mediation kommt dagegen lediglich eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Rahmen der Generalklausel des
IV. Zusammenfassung
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§ 242 BGB bzw. eine Orientierungs- und Leitbildfunktion verfassungsrechtlicher Verfahrensgrundsätze in Betracht. Dabei wirken insbesondere der Grundsatz des fairen Verfahrens, der Gleichbehandlungsgrundsatz und der Grundsatz der Waffengleichheit sowie der Grundsatz des rechtlichen Gehörs jedenfalls als Leitbild und Orientierungsrahmen prägend auf die Gestaltung der Verfahrensprinzipien der Mediation zurück. Ein Gleichlauf der Verfahrensgrundsätze des Mediationsverfahrens mit entsprechenden verfassungsrechtlichen Verfahrensgrundsätzen ist dabei insbesondere mit Blick auf die Vorschrift des § 2 MedG erkennbar. 5. Die Mediation folgt spezifischen Verfahrensgrundsätzen, die sich aus der ihm eigenen unverfügbaren Struktur und ihrem Wesen ergeben. Dazu gehören die Privatautonomie sowie die Grundsätze der Kooperation, der Interessenorientierung, der Beziehungsorientierung, der Vertraulichkeit sowie der Informalität und Neutralität. 6. Die Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses sind dagegen nur begrenzt und nur insoweit auf die Mediation übertragbar, als sie mit Struktur und Wesen des Mediationsverfahrens vereinbar sind. So ist der Dispositionsgrundsatz auf die Mediation als idealtypisches privatautonomes Verfahren par excellence ohne weiteres übertragbar. Er gilt hier sogar in umfassenderem Maße als im Zivilprozess, da den Parteien insoweit sehr viel weitreichendere Möglichkeiten der Verfahrensgestaltung offenstehen. 7. Auch der Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz gilt gleichermaßen im Mediationsverfahren, da es gerade Sache der Parteien ist, ihren Konflikt eigenverantwortlich beizulegen und die hierfür notwendigen Informationen auszutauschen. 8. Der Grundsatz der richterlichen Prozessleitungsbefugnis findet im Mediationsverfahren in der verfahrensleitenden Funktion des Mediators eine funktionale Entsprechung. Allerdings unterscheidet sich die Rolle des Mediators mit Blick auf die Sachentscheidungsbefugnis grundlegend von jener des Richters. Während dem Mediator in seiner vermittelnden Funktion lediglich die Befugnis zur Leitung des Verfahrens zukommt (process control), bleibt die materielle Sachentscheidung ausschließlich den Parteien vorbehalten (substance control). 9. Auch im Hinblick auf die Beschleunigungs- und Konzentrationsmaxime besteht ein Gleichlauf zwischen Mediation und Zivilprozess. Dabei stehen allerdings erhebliche qualitative Unterschiede. So ist das Mediationsverfahren nicht nur mit der Beschleunigungs- und Konzentrationsmaxime vereinbar, sondern dient in besonders effektiver Weise ihrer Verwirklichung. Denn der Vorteil der Mediation gegenüber dem Zivilprozess bsteht gerade in der schnelleren und effektiveren Beilegung von Konflikten. 10. Gleiches gilt für den Mündlichkeitsgrundsatz, der im Mediationsverfahren in noch stärkerem Umfang gilt als im Zivilprozess. Die Mediation ist von
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§ 6 Mediation und Verfahrensrecht
ihrer Natur her ein grundsätzlich mündliches Verfahren, bei dem der Rückgriff auf Schriftsätze weitgehend in den Hintergrund tritt. 11. Ohne Bedeutung für das Mediationsverfahren ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz, da hier im Gegensatz zum zivilgerichtlichen Verfahren die Sachentscheidung nicht von einem unbeteiligten Dritten, sondern von den unmittelbar Konfliktbeteiligten getroffen wird. Damit ist die Unmittelbarkeit bereits durch die in der Struktur des Verfahrens selbst vorgesehene Sachentscheidung durch die Parteien gewährleistet. 12. Nicht auf das Mediationsverfahren übertragbar ist dagegen der Öffentlichkeitsgrundsatz des Zivilprozesses, da dieser im Widerspruch zu dem für die Mediation geradezu konstitutiven Schutz der Vertraulichkeit steht. 13. Die durch ihre jeweils eigene Struktur und das ihnen eigene Wesen bedingten Verfahrensgrundsätze der Mediation und des Zivilprozesses und die sich aus ihnen ergebenen gegenseitigen Wechselwirkungen werden in besonderer Weise dann relevant, wenn beide Verfahrensarten im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation wie in einem Brennglas aufeinandertreffen. Die prozessuale Ausgestaltung der Schnittstelle zwischen Mediation und Zivilprozess, insbesondere die Voraussetzungen, Struktur und Folgen des Verfahrensübergangs, sind für die Gestaltung gerichtsverbundener Mediationsprogramme von entscheidender Bedeutung. 14. Dogmatische Grundlage bildet hier wiederum Fullers Verfahrens- und Institutionenlehre, die mit den Prinzipien des Verfahrenspluralismus, der Verfahrensintegrität, des Verbotes der Rollentrennung sowie dem Primat der Mediation als Grundlage der Verfahrenswahl einen geeigneten strukturellen Rahmen bietet. 15. Für die Gestaltung des Verfahrensübergangs kommen grundsätzlich drei Strukturtypen in Betracht 1) gerichtexterne Mediation im Sinne einer Mediation vor Klageerhebung, 2) die gerichtsverbundene Mediation als Mediation im Rahmen des Zivilprozesses sowie 3) das Multi-Door Courthouse. Die gerichtsexterne Mediation vor Klageerhebung kann dabei entweder durch vorsorgende Mediationsvereinbarung ex ante – d.h. vor Entstehung des Konfliktes – oder durch nachsorgende Mediationsvereinbarung ex Post eingeleitet werden. Die gerichtsverbundene Mediation im Kontext eines Zivilprozesses ist entweder als gerichtsinterne Mediation im Rahmen eines Güterichterverfahrens (§ 278 Abs. 5 ZPO) oder als gerichtsnahe Mediation durch externe Mediatoren (§ 278 a ZPO) möglich. Das Konzept des Multi-Door Courthouse geht darüber hinaus von einer individuellen Verfahrenszuweisung aufgrund einer in einem vorigen Screening ermittelten Eignung des Konfliktes zur Behandlung in einem bestimmten Verfahren aus. 16. Darüber hinaus kann der Gesetzgeber vielfältige Möglichkeiten der Verfahrensförderung, etwa durch eine obligatorische Prüfungspflicht der Parteien
IV. Zusammenfassung
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und Anwälte vor Erhebung einer zivilgerichtlichen Klage, den Einsatz von Mediationskoordinatoren an den Gerichten oder durch entsprechende Kostenanreize vorsehen. 17. Im Hinblick auf die Verfahrenseinleitung kommt zum einen die Ausgestaltung der Mediation als obligatorisches Vorschaltverfahren vor Erhebung einer Klage oder die Verfahrenseinleitung nach Klageerhebung im Wege der Verfahrenssteuerung durch das Gericht in Betracht. Dabei kann der Verfahrensübergang wiederum auf zweifache Weise ausgestaltet sein: 1) durch bindende gesetzliche Verweisung, 2) durch freiwillige Durchführung eines Mediationsverfahrens oder 3) durch bindende Verweisung durch das erkennende Gericht (§ 278 Abs. 5 S. 1 ZPO). 18. Die Durchsetzung des Mediationsvergleichs als Verfahrensergebnis erfolgt auf der Grundlage der allgemeinen Vorschriften nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 (Prozessvergleich), § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO (Vollstreckung aus notarieller Urkunde) und § 796 a-c ZPO (Anwaltsvergleich).
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre Im vorangegangenen Teil unserer Untersuchung haben wir uns dem Verhältnis zwischen Mediationsverfahren und Zivilprozess aus einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven genähert. Ziel unserer Bemühungen war es, das Phänomen der Mediation in seiner Bedeutung für das Privatrecht zu erfassen, es systembildend zu durchdringen und zum bestehenden dogmatischen System des Zivilverfahrensrechts in Beziehung zu setzen. Dabei war es vielfach notwendig, noch weitgehend unbearbeitetes Terrain zu erschließen und den Ertrag der interdisziplinären Forschung wie auch die Lösungsansätze der Rechtspraxis für die rechtswissenschaftliche Diskussion fruchtbar zu machen. Methodisch haben wir dabei neben der interdisziplinären Synthese vor allem die empirische Rechtstatsachenforschung und die Rechtsvergleichung herangezogen, der aufgrund der Prägung der alternativen Streitbeilegung durch die angloamerikanische Rechtstradition eine besondere Bedeutung zukommt. Im letzten Teil unserer Betrachtung wollen wir die einzelnen Bausteine nun in der Synthese zu einem Gesamtbild zusammenfügen, um in der mosaikähnlichen Gesamtschau die Verfahren der Mediation und des Zivilprozesses in ihrem Wesen, ihrem geistesgeschichtlichen und damit philosophischen Ursprung, ihrem geschichtlichen Wandel, ihren gesellschaftlichen Auswirkungen und in ihrer rechtlichen Gestalt zu erfassen. Auf dieser Grundlage soll sodann der Versuch unternommen werden, Mediation und Zivilprozess als Grundtypen vermittelnder und richtender Konfliktbeilegungsverfahren in das dogmatische Gesamtsystem einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre als Teil einer allgemeinen Verfahrenslehre einzuordnen. Das damit in den Blick genommene Programm ist dabei unspektakulärer, als es auf den ersten Blick scheint. Bei nüchterner Betrachtung geht es darum, den wissenschaftlichen Ertrag, den die interdisziplinär ausgerichtete, durch den anglo-amerikanischen Rechtskreis geprägte internationale Verhandlungsforschung bereits erbracht hat und das, was seit Langem Gegenstand der rechtspraktischen Diskussion ist, zu klären, zu systematisieren und in ein dogmatisches Gesamtsystem einzufügen. Dabei können wir auf die theoretischen Vorarbeiten des Rechtsphilosophen Lon L. Fuller1, seines Schülers Frank E.A. Sander2 und die aktuelle Diskussion in der
1 Vgl. hierzu eingehend oben S. 111 ff., 493 ff. sowie Fuller, The Morality of Law (1964); Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981) sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3 (1963); Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305 (1971) und Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353 (1978). 2 Vgl. vor allem Sander, 70 F.R.D 111 (1976); Sander/Goldberg, 10 Neg. J. 49 (1994); Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2006); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599 (2007).
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Verhandlungsforschung zurückgreifen, die sich durchaus auch mit dogmatischen Fragen, etwa den Grundsätzen des Mediationsverfahrens, der Rolle des Mediators und dem Verhältnis zum Zivilprozess, beschäftigt hat. Das, was bereits an Vorarbeiten, diskutierten Einzelproblemen und interdisziplinärem Befund vorhanden ist, gilt es nun, wie in einem Mosaik zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzuführen, weiterzuentwickeln und in die Sprache der Dogmatik zu übersetzen, um es so für Wissenschaft und Praxis als Gesamtsystem zu erschließen und dogmatisch handhabbar zu machen.
I. Ziele einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre Das Ziel – das sich mit den Stichworten Analyse, Dogmatik und Verfahrensdesign skizzieren lässt – ist dabei ein Dreifaches. 1. Analyse, Dogmatik und Verfahrensdesign 1. Analyse: Im Wege einer analytischen Bestandsaufnahme sollen die Verfahren der Mediation und des Zivilprozesses als reale Phänomene der Rechtswirklichkeit zunächst umfassend, d.h. in der Vielzahl ihrer Eigenschaften, Erscheinungsformen und Wechselwirkungen analytisch erfasst und beschrieben werden.3 Der so erarbeitete Befund bildet als deskriptiv-analytischer Teil einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre die Grundlage, um Mediation und Zivilprozess in ein dogmatisches Gesamtsystem einzufügen und entsprechend der sich aus dieser Dogmatik ergebenden Grundsätze im Sinne eines Verfahrensdesigns rechtlich auszugestalten.4 Dabei kommt für die Verfahrensanalyse dem interdisziplinären Ansatz eine erhebliche Bedeutung zu. Er vermeidet nicht nur eine Engführung auf Fragen der rechtlichen Gestaltung der Verfahren, sondern öffnet zugleich den Zugang zu dem jeder rechtlichen Regelung vorausgehenden Verständnis des Gesamtphänomens „Mediation und Zivilprozess“ in der Vielzahl seiner in der Rechtspraxis wirksamen Aspekte.5 Die Notwendigkeit einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre, die aus dem reichen Befund der interdisziplinären Forschung schöpft, ergibt sich dabei vor allem aus der Tatsache, dass die zivilprozessuale Dogmatik durch ihre Fokussierung auf Rechtsfragen eine umfassende Betrachtung der Verfahren in ihrer rechtstatsächlichen Wirkung nicht zu leisten vermag. Die Auswirkungen beider Verfahren auf die weitere Dynamik des Konfliktes und auf die Wahrnehmung der konfliktbestimmenden Faktoren durch die Parteien, ihre Eignung
3
Vgl. hierzu unten S. 558 ff. (Mediationsverfahren), 614 ff. (Zivilprozess). Vgl. hierzu unten S. 533 ff., 540 ff. 5 Vgl. hierzu die vergleichende Analyse von Mediation und Zivilprozess, S. 558 ff. 4
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
zur interessengerechten, dauerhaften, nachhaltigen und wertschöpfenden Konfliktbeilegung sowie ihre gesamtgesellschaftlichen Effekte waren bislang nur am Rande Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Diskussion und zudem vor allem auf die Rechtspolitik und die Rechtssoziologie beschränkt. Der rechtswissenschaftliche Diskurs in Deutschland ist, soweit er im Schrifttum Niederschlag gefunden hat, von der international geführten Diskussion der interdisziplinären Verhandlungswissenschaft weitgehend abgekoppelt.6 Ein umfassendes Verständnis der Verfahren, ihres Wesens, ihrer Struktur und ihrer Wirkungen ist jedoch für die effektive rechtliche Gestaltung der Verfahren – etwa für die Ausgestaltung obligatorischer Güteversuche – und damit für das Verfahrensdesign unverzichtbar. Eine allgemeine Konfliktbehandlungslehre soll dazu beitragen, die bestehenden Rezeptionshindernisse zu überwinden und den Reichtum der interdisziplinären Verhandlungsforschung für die Rechtswissenschaft zu erschließen und dadurch fruchtbar zu machen, dass sie die Mediation aus dem vagen Nebel unbestimmter Schwammigkeit befreit, ihr klare Konturen verleiht und so für die Dogmatik handhabbar macht. 2. Dogmatik. Mit der systembildenden Dogmatik ist eine zweite wichtige Funktion einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre angesprochen: Die systematische Durchdringung der Konfliktbeilegungsverfahren und ihre Einbettung in ein dogmatisches Gesamtsystem unterschiedlicher Verfahrensarten, das die Verfahren in ihrer Struktur, ihren speziellen oder auch gemeinsamen Verfahrensgrundsätzen und ihren gegenseitigen Wechselwirkungen zueinander in Beziehung setzt und so eine begriffliche Handhabung und ein an dogmatischen Grundsätzen ausgerichtetes praktisches Verfahrensdesign ermöglicht. Der Bedarf an einer solchen Dogmatik der alternativen Streitbeilegung ist groß: Aufgrund der Dominanz der Praxis und der stark anglo-amerikanischen Prägung der ADR-Bewegung erfolgt die ADR-Diskussion – der US-amerikanischen Methode des case law entsprechend – weitgehend anhand von Einzelproblemen, ohne jedoch zu einer dogmatischen Durchdringung vorzudringen. Die traditionell stärker dogmatisch orientierte deutsche Privatrechtswissenschaft
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Eine Ausnahme bilden etwa die – leider vereinzelt gebliebenen – instruktiven Gesamtdarstellungen von Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009) und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), die rechtsvergleichenden Arbeiten von Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 5 ff.; Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2013), S. 3 ff. sowie die übrigen in Hopt/ Steffek (Hrsg.), Mediation (2008) enthaltenen Beiträge. Vgl. für das Verwaltungsverfahrensrecht Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Konfliktbewältigung durch Verhandlungen II (1990), S. 9 ff.
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hat sich der Mediation dagegen bislang nur vereinzelt und allenfalls ansatzweise unter dem Gesichtspunkt einer umfassenden Verfahrenslehre angenommen7. Das Fehlen einer dogmatischen Durchdringung, einer Theorie der alternativen Streitbeilegung, stellt damit zugleich eines der wesentlichen Hindernisse für eine effektive Rezeption der Mediation durch die Privatrechtslehre dar, die dem Phänomen der alternativen Streitbeilegung zwar grundsätzlich freundlich, doch insgesamt noch weitgehend zurückhaltend gegenübersteht. Dies ist umso problematischer, als die Rezeption durch die Rechtspraxis im Rahmen der Institutionalisierung der Mediation8 bereits in vollem Gange ist und die Integration des Mediationsverfahrens in den Zivilprozess Kernfragen des Zivilverfahrensrechts von erheblicher Tragweite betrifft, deren Behandlung weitgehend der Rechtspolitik überlassen bleibt. Eine Dogmatik der Mediation verfolgt daher nicht nur das Ziel, die Mediation als Thema in die rechtswissenschaftliche Diskussion einzubringen, sondern umgekehrt auch die dogmatische Rechtswissenschaft in qualifizierter Weise an einer rechtspolitischen Diskussion immenser rechtspraktischer Tragweite zu beteiligen, die – von Ausnahmen abgesehen – bislang weitgehend durch die Rechtspraxis geprägt ist und mit dem weitgehenden Schweigen der Prozessualistik ohne die Beteiligung jener Disziplin erfolgt, deren ureigenster Gegenstand eigentlich die adäquate Behandlung von Konflikten durch das Rechtssystem ist. 3. Verfahrensdesign. Analyse und Dogmatik als Elemente einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre stehen über ihren wissenschaftlichen Erkenntniswert hinaus im Dienst der praktischen Verfahrensdesigns. Aus der systematischen Entwicklung und Darstellung eines kohärenten dogmatischen Systems der Konfliktbeilegungsverfahren, dem Verständnis ihrer Struktur, der sie leitenden grundsätzlichen Prinzipien und ihrer Wechselwirkungen untereinander ergeben sich klare Leitlinien für die Ausgestaltung und den Einsatz der Verfahren in der Praxis. Dabei sind vor allem Fragen des Verfahrensdesigns, d.h. der praktischen und rechtlichen Ausgestaltung der Verfahren, sowie Fragen der 7 Ansätze für eine dogmatische Systematisierung der Alternativen Streitbeilegung finden sich etwa bei Breidenbach, Mediation (1995), S. 42 ff.; Breidenbach, in: Gottwald/Rechberger (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen des europäischen und internationalen Zivilverfahrensrechts (2002), S. 117 ff. (die Grundzüge einer einer Streitbehandlungslehre entwickelnd); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 24 ff., 93 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 170 ff. sowie im Ansatz auch die rechtsvergleichenden Arbeiten von Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 5 ff.; Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2013), S. 3 ff. Vgl. für das Verwaltungsverfahrensrecht Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Konfliktbewältigung durch Verhandlungen II (1990), S. 9 ff. 8 Instruktiv zum Institutionalisierungsprozess in den USA und den drei idealtypischen Phasen der Institutionalisierung von ADR Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). Vgl. hierzu auch eingehend oben S. 46 f. sowie unten S. 732 f.
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Verfahrenswahl, d.h. ihrer spezifischen Eignung zur Konfliktbeilegung, von besonderer Bedeutung. Diese beiden Problemkomplexe stehen im Mittelpunkt der Diskussion und der praktischen Reformbemühungen in Deutschland wie auch in den USA und in anderen Ländern. Die Notwendigkeit, rechts- und verfahrensgestaltende Reformüberlegungen auf eine solide dogmatische Grundlage zu stellen, ergibt sich damit auch aus den Anforderungen der Praxis, die das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess grundlegend neu gestaltet, ohne jedoch auf die Unterstützung einer ausgereiften Dogmatik zurückgreifen zu können. Die Zukunft einer neuen Konfliktkultur und einer verstärkt auf Kooperation ausgerichteten Konfliktbeilegungsordnung hat längst begonnen. Die Trendwende, die ein Ungleichgewicht zwischen formaler Gerechtigkeit und materieller Billigkeit beseitigen und die Engführung auf den streitig ausgetragenen Zivilprozess überwinden will, war längst überfällig. Die Grundsätze der neuen „Verfahrensordnung“ werden weitgehend von der Rechtspraxis und der Rechtspolitik bestimmt. Mit der Einbettung beider Verfahren in eine allgemeine Konfliktbehandlungslehre steht das dogmatische Handwerkszeug zur Verfügung, um die Rechtswissenschaft an der Reformdiskussion zu beteiligen und die Reformbemühungen auf der Grundlage eines dogmatisch durchdrungenen Verfahrenssystems wissenschaftlich zu begleiten. 2. Abgrenzung zur „allgemeinen Prozessrechtslehre“ Die zu entwickelnde Konfliktbehandlungslehre als Teil einer allgemeinen Verfahrenslehre ist von den Bemühungen um eine „allgemeine Prozesslehre“9, eine „allgemeine Prozessrechtslehre“10 oder ein „allgemeines Prozessrecht“11 abzugrenzen, die es in der Prozessualistik – sei es vonseiten des Zivilverfahrensrechts, etwa durch Bülow, Goldschmidt, Hagen und Grunsky, oder vonseiten des Strafrechts, etwa durch Sauer – immer wieder gegeben hat. Der Ansatz einer prozessordnungsübergreifenden allgemeinen Prozessrechtslehre geht auf die Begründer der deutschen Prozessualistik zurück. Privatrechtslehrer wie Wach, Kohler, Hellwig und vor allem Bülow haben durch die Formulierung einer spezifisch prozessualen Dogmatik und eigenständiger Begriffe wie etwa dem Prozessrechtsverhältnis, dem Rechtsschutzanspruch und Prozessvoraussetzungen eine gegenüber dem materiellen Recht selbststän-
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Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950); Bosch, Grundsatzfragen (1963); Hagen, Elemente einer allgemeinen Prozeßlehre (1972). 10 Vgl. hierfür etwa Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 645 ff.; Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre (1951) sowie Lüke, ZZP 107 (1994), 145. 11 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133.
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dige eigene prozessuale Sichtweite entwickelt und damit das deutsche Prozessrecht als eigenständige Wissenschaft überhaupt erst begründet.12 Von besonderer Bedeutung ist hier das Werk Oskar Bülows, der Ende des 19. Jahrhunderts die bis dahin eher deskriptive Prozesslehre zu einer eigenständigen, konstruktiven Prozessrechtswissenschaft entwickelte.13 In dieser Tradition legte Wilhelm Sauer 1919 mit seinen „Grundlagen des Prozessrechts“ eine erste umfassende, systematische Gesamtdarstellung einer allgemeinen Prozessrechtslehre vor, die er als „Teil eines, im großen Stil anzulegenden Gesamtsystems“14 verstand. Goldschmidt trug mit seinem berühmten und bis heute nachwirkenden Werk „Der Prozess als Rechtslage“ seinerseits zu diesem Ansatz bei. Nach 1945 wurde das Thema durch Sauer in seiner 1951 erschienenen „Allgemeinen Prozessrechtslehre“ wieder aufgegriffen, in der er die gemeinsamen Fragen, Unterschiede und Zusammenhänge des Zivil- und des Strafprozesses gesamtsystematisch verarbeitete.15 Mit Ausnahme der beiden systematischen Darstellungen von Hagen und Grunsky wurde das Thema in der Folge weitgehend anwendungsorientiert aufgegriffen, indem zur Lösung spezieller prozessualer Probleme auf eine vergleichende Betrachtung der unterschiedlichen Prozessrechte und hier insbesondere auf zivilprozessuale Grundsätze zurückgegriffen wurde.16 In jüngster Zeit haben sich vor allem Lüke17 und Bachmann18 mit dem prozessordnungsübergreifenden Forschungsansatz auseinandergesetzt. a) Ziele Hinter den Bestrebungen um eine allgemeine Prozessrechtslehre19 steht der Gedanke, das in verschiedene Prozessordnungen aufgesplitterte Verfahrensrecht in einer prozessordnungsübergreifenden Zusammenschau verschiedener Einzelprobleme zu einer „allgemeinen Prozesslehre“ zusammenzuführen. Deutlich wird diese Zielrichtung in der Einleitung Sauers zu seiner 1951 erschienenen „Allgemeinen Prozeßrechtslehre“: „Eine allgemeine Prozeßrechts-
12 Vgl. hierzu instruktiv Lüke, ZZP 107 (1994), 145, 148 ff. Braun, Zivilprozeßrecht (2014), S. 13 f. 13 Vgl. hierzu Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 144 f. und Lüke, ZZP 107 (1994), 145, 148 ff. 14 Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 10. 15 So Sauer in seiner Einleitung zur „Allgemeinen Prozessrechtslehre“, Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre (1951), S. VII. 16 Vgl. etwa Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950); Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz (1952). 17 Lüke, ZZP 107 (1994), 145. 18 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133. 19 Im Folgenden soll dieser Terminus als einheitlicher Begriff für die genannten Ansätze verwendet werden.
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lehre … ist berufen, die gemeinsamen Fragen und Gebiete … sowie das Unterschiedliche, die Parallelen und Zusammenhänge gesamtsystematisch zu verarbeiten. … Die Ergebnisse müssen nicht nur neue Einsichten an den Tag fördern, sondern auch die vielen, niemals völlig lösbaren Reformfragen neu beleuchten. Eine Annäherung beider Rechtsgebiete ist ein dringendes wissenschaftliches wie praktisches Gebot, deckt die gemeinsamen Grundlagen, Voraussetzungen und Ziele und Mittel einer jeden Rechtsprechung auf und dient nicht zuletzt der Ersparung von Zeit und Arbeitskraft.“20 Lüke, der in jüngster Zeit mit einem vehementen Plädoyer die Idee einer allgemeinen Prozessrechtslehre wieder in die Diskussion gebracht hat, sieht sie als einen Weg, der „zu einem einfachen, klaren und durchschaubaren Prozeßrecht beiträgt und damit auch zur Entlastung der Gerichte, zur Erledigung der einzelnen Prozesse in angemessener Zeit und zur Vermeidung von Kosten.“21 Neben das dogmatische Erkenntnisinteresse, das gerade in der Anfangszeit – dem Geist der Epoche entsprechend – durch ein Ringen um konstruktivistische Systematisierung mit einem „Blick auf das Ganze, …[dem] Drang zum System“22 geprägt war, ist in der jüngsten Zeit verstärkt das Bemühen um eine sachgerechte Lösung praktischer Rechtsprobleme getreten. Die Dogmatik steht im Dienst der rechtspraktischen Anwendung: Der allgemeinen Prozessrechtslehre geht es daher nicht nur darum, verallgemeinerungsfähige Aussagen gleichsam „vor die Klammer“ zu ziehen und durch einen „Allgemeinen Teil des Prozessrechts“ eine überflüssige und unökonomische Doppelbehandlung prozessualer Probleme zu vermeiden.23 Sie ist darüber hinaus darum bemüht, durch einen „innerstaatlichen Rechtsvergleich“, durch eine gleichsam synoptische Zusammenschau der einzelnen Prozessordnungen zu Einsichten zu gelangen, „die dem isolierten Blick verschlossen blieben“24 und auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien eine einheitliche Lösung konkreter Einzelprobleme zu entwickeln.25 b) Methoden Dieser doppelten Zielrichtung entsprechen die Methoden, mit denen das Unternehmen einer allgemeinen Prozessrechtslehre angegangen wurde: Während die begrifflich-dogmatischen Ansätze Oskar Bülows, James Goldschmidts und Wilhelm Sauers darum bemüht waren, dem Phänomen des Prozesses durch die Definition gemeinsamer Grundbegriffe ein dogmatisches Gerüst zu verleihen
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Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre (1951), S. VII. Lüke, ZZP 107 (1994), 145, 172. 22 Lüke, ZZP 107 (1994), 145, 172. 23 So Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 152 f. 24 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 159. 25 Vgl. hierzu Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 150 f. 21
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und die sie bestimmenden dogmatischen Grundsätze herauszuarbeiten,26 versuchte der interdisziplinäre Ansatz Josef Hagens, durch Rückgriff auf insbesondere die Rechtssoziologie die „Ganzheit des Verfahrens“ interdisziplinär in den Griff zu bekommen und die Gräben zwischen den verschiedenen Prozessordnungen zu überwinden.27 Die vergleichenden Ansätze Wilhelm Sauers, Wolfgang Grunskys und Gregor Bachmanns nehmen schließlich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der einzelnen Prozessordnungen rechtsvergleichend in den Blick, um so wie etwa Sauer und Grunsky das Prozessrecht auf der Basis gemeinsamer Grundsätze im Rahmen einer Gesamtdarstellung durch Systembildung zu einem kohärenten Ganzen zu ordnen oder wie Bachmann durch den Vergleich der verschiedenen Prozessordnungen prozessordnungsübergreifende Lösungen konkreter prozessualer Rechtsfragen zu entwickeln, die sich in den einzelnen Prozessrechten jeweils in ähnlicher Weise stellen. c) Hintergrund Den Hintergrund und den Anlass der Vereinheitlichungsbemühungen bildete das dreifache Problem der Zersplitterung der Prozessordnungen (a) in Teilgerichtsbarkeiten mit jeweils eigenen Prozessordnungen, der am Tagesgeschäft orientierten Arbeit des Gesetzgebers (b) und der zunehmend uneinheitlichen Rechtsprechung (c). a) So hat die zunehmende Spezialisierung mittlerweile zu einer Ausdifferenzierung des Gerichtswesens in eine Vielzahl unterschiedlicher Teilgerichtsbarkeiten und ihnen entsprechender Prozessordnungen geführt, so dass, wie Bachmann zutreffend feststellt, „selbst die einstmals unter dem Dach einer Prozessrechtsordnung beheimateten Verfahrensgebiete inzwischen zur Angelegenheit von Spezialisten geworden sind“28. Auf dem Gebiet des Zivilrechts sind neben die ZPO das ArbGG und das FamFG getreten, und auch das öffentliche Recht kennt mit der VwGO, der FGO, dem SGG, dem BVerfGG und den Vorschriften über die Landesverfassungsgerichte wie etwa dem VfGHG eine Vielzahl unterschiedlicher Verfahrensordnungen. Bemühungen, im Rahmen einer „gro-
26 Vgl. hierzu Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre (1951), S. 63 ff. zu den Prozessgrundsätzen, wobei er zwischen Sachgestaltungsgrundsätzen (Verhandlungsgrundsatz und Untersuchungsgrundsatz, formelles und materielles Wahrheitsprinzip, Dispositions- und Offizialprinzip, Eventualmaxime und freie Reihenfolge), Rechtsverfolgungsgrundsätzen (Antrags- und Offizialprinzip, Parteibetrieb und Offizialbetrieb, Immutabilitätsprinzip und Parteiprinzip) und Verfahrensgrundsätzen (Parteiprozess und Inquisitionsprozess, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Grundsatz der Unmittelbarkeit, Konzentrationsprinzip und Öffentlichkeit) unterscheidet. 27 Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre (1951), S. VII. 28 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 134.
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ßen Justizreform“ die einzelnen Verfahrensordnungen und Gerichtsverfassungen jedenfalls innerhalb der drei großen Teilrechtsgebiete zu vereinheitlichen, sind bislang über das Diskussionsstadium noch nicht hinausgelangt.29 b) Die Ausdifferenzierung und Zersplitterung, die bereits auf der Ebene der Verfahrensordnungen sichtbar wird, setzt sich bei der Bewältigung von Einzelproblemen durch den Gesetzgeber fort. Die Gesetzgebungszuständigkeit unterschiedlicher Fachministerien, zunehmender Umsetzungsdruck im Hinblick auf europarechtliche Vorgaben und die Schnelllebigkeit des politischen Tagesgeschäfts haben zur Folge, dass die Gesetzgebungsarbeit zunehmend durch Stückwerk und isolierte Lösungen konkreter Einzelprobleme geprägt ist. Die Folge sind Inkohärenzen zwischen den Verfahrensordnungen, unterschiedliche Lösungen vergleichbarer Sachprobleme und ein Gesetzescorpus, der sich immer weniger in ein abgestimmtes Gesamtsystem einfügt. c) Schließlich ist auch die Rechtsanwendung von einer zunehmenden Uneinheitlichkeit geprägt, die für die einzelnen Prozessordnungen zu unterschiedlichen Lösungen gleich gelagerter Probleme führt. Exemplarisch hat dies Bachmann am Beispiel der Vereinbarkeit der Videovernehmung mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz untersucht und jedenfalls für die Lösung konkreter prozessualer Rechtsfragen die Fruchtbarkeit einer prozessordnungsübergreifenden Betrachtung nachgewiesen.30 Zuvor hatte bereits Lüke auf Unstimmigkeiten in der Rechtsprechung der ordentlichen und der Fachgerichte hingewiesen, die sich durch einen Rückgriff auf die allgemeine Prozessrechtslehre vermeiden ließen.31
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Jedenfalls für das Verwaltungsrecht gab es Versuche, VwGO, FGO und SGG in einer gemeinsamen Verwaltungsprozessordnung (VwPO) zusammenzufassen, die jedoch vom Gesetzgeber nicht umgesetzt worden sind. Eine Vereinheitlichung der Gerichtsverfassungen und Prozessordnungen wird durch die Bemühungen um eine „große Justizreform“ angestrebt, die nur noch drei Prozessordnungen für das Zivil-, das Straf- sowie das öffentlichrechtliche Verfahren vorsehen soll. Eine Umsetzung steht bislang noch aus. Vgl. hierzu Weth, ZZP 120 (2007), 135; Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 134 Fn. 7; Dauner-Lieb, AnwBl. 2005, 369; Heister-Neumann, ZRP 2005, 12. Zu frühen Bemühungen um eine Einheit im Kontext der Kodifizierung der VwGO, des SGG und der FGO Lüke, ZZP 107 (1994), 145, 149 f. 30 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 135 ff. 31 Vgl. hierzu Lüke, ZZP 107 (1994), 145, 146 ff., der insbesondere auf die Entscheidung BVerwG, NJW 1993, 2193 Bezug nimmt, in der es um die Frage ging, ob der Widerruf eines verwaltungsprozessualen Vergleichs gegenüber dem Gericht oder gegenüber dem Vertragspartner erklärt werden muss. Das BVerwG entschied in Abweichung von einem früheren Urteil, dass der Widerruf gegenüber dem Gericht zu erklären sei und eine Vorlage an den Großen Senat nach § 11 Abs. 2 VwGO sowie eine Anrufung des Gemeinsamen Senates nach dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.6.1968 (RsprEinhG – BGBl. I 1968, 661 ff.) nicht erforderlich sei.
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d) Bewertung Obwohl die Forschungsansätze zu einer allgemeinen Prozessrechtslehre das heutige prozessuale Denken nachhaltig geprägt und das Phänomen des Prozesses durch die Herausbildung einheitlicher Begriffe – wie etwa Zulässigkeit, Prozessvoraussetzungen und Beschwer32 – und Prinzipien – wie etwa die Prozessmaximen – erst dogmatisch handhabbar gemacht haben, hat sich das Konzept einer allgemeinen Prozessrechtslehre trotz des gestiegenen Interesses in der jüngsten Zeit33 bislang nicht durchsetzen können. Zu abstrakt sind die Begriffe und zu groß die sachlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtsgebieten, die eine jeweils auf die Besonderheiten der betroffenen Sachfragen zugeschnittene Verfahrensordnung und eigene Verfahrensgrundsätze erfordern. Die Unvereinbarkeit der einzelnen Prozessmaximen, die bis auf wenige Ausnahmen wie etwa das Öffentlichkeitsprinzip oder die Konzentrationsmaxime in Gegensatzpaaren (z.B. Dispositionsprinzip – Inquisitionsmaxime) formuliert werden, mag die Problematik illustrieren. Auch die etwa von Sauer als maßgebendem Vertreter der allgemeinen Prozessrechtslehre geäußerte Hoffnung, aufgrund „der Fülle des Gemeinsamen … die überflüssige und unökonomische Doppelbehandlung in Gesetzgebung, Wissenschaft und Unterricht“34 dadurch zu vermeiden, dass gemeinsame Verfahrensgrundsätze in einem allgemeinen Teil des Prozessrechts gleichsam „vor die Klammer gezogen“35 werden, hat sich nicht erfüllt. Denn wie Bachmann zutreffend feststellt, zwingt der hohe Abstraktionsgrad dazu, zur Konkretisierung gleichwohl immer wieder „hinter die Klammer“ zu greifen.36 Unbestritten ist freilich das historische Verdienst der allgemeinen Prozessrechtsschule, den Prozess als rechtstatsächliches Phänomen durch die Formulierung spezifisch prozessualer Begriffe für die Rechtswissenschaft zu erschließen, ihm ein dogmatisches Gerüst zu verleihen und so überhaupt erst wissenschaftlich handhabbar zu machen.37 Auch die Erkenntnis, dass der Prozess nicht, wie etwa Stein noch 1921 annahm, „das technische Recht in seiner allerschärfsten Ausprägung, von wechselnden Zweckmäßigkeiten beherrscht, der 32
Vgl. Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 152. Vgl. hierzu etwa das energische Plädoyer Lükes und die vergleichende Untersuchung Bachmanns, Lüke, ZZP 107 (1994), 145 und Bachmann, ZZP 118 (2005), 133. 34 Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre (1951), S. VII. Hierauf zustimmend verweisend Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 152 f. 35 So plastisch Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 152. 36 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 153. Dies gilt indes nicht für die allgemeinen Verfahrensgrundsätze innerhalb der einzelnen Verfahrensarten, die – wie etwa die allgemeinen Regelungen in der ZPO – gleichsam „vor die Klammer“ gezogen sind. Vgl. für die ZPO nur Stein/Jonas-Brehm, vor § 1 Rn. 77 und für das GVG Kissel/Mayer, Einl. Rn. 67. 37 Vgl. hierzu Lüke, ZZP 107 (1994), 145, 148 ff. Braun, Zivilprozeßrecht (2014), S. 13 f. 33
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Ewigkeitswerte bar“38 sei, sondern vielmehr von ihm eigenen, unverfügbaren und aus dem Wesen der Verfahren fließenden Wertvorstellungen und Grundsätzen geprägt ist, ist durch die vergleichende Methode der allgemeinen Prozessrechtslehre, den innerstaatlichen Prozessrechtsvergleich, noch einmal verstärkt in das Bewusstsein getreten.39 Und schließlich hat Bachmann in jüngster Zeit den Nachweis erbracht, dass die prozessordnungsübergreifende Betrachtung mit Erfolg zur Lösung konkreter prozessualer Einzelprobleme herangezogen werden kann.40 Gleichwohl kommt auch er zu dem Ergebnis, dass abgesehen von den Möglichkeiten der Lösung konkreter Einzelprobleme oder der Grundlage einer vergleichenden Betrachtung der einzelnen Prozessordnungen die Grenzen eines prozessordnungsübergreifenden Forschungsansatzes im Sinne einer allgemeinen Prozessrechtslehre überwiegen.41 e) Abgrenzung Damit stellt sich die Frage, ob eine Konfliktbehandlungslehre als Teil einer allgemeinen Verfahrenslehre ähnlichen Begrenzungen und damit auch einem ähnlichen Schicksal wie die Bemühungen um eine allgemeine Prozessrechtslehre unterliegt, deren Berechtigung wiederholt in Zweifel gezogen worden ist und die sich in der Prozessualistik letztlich nicht durchzusetzen vermochte. Auf den ersten Blick ergeben sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten: Beide Ansätze bemühen sich um ein systematisches Verständnis „unterschiedlicher Verfahren“, ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede, um sie durch die Bestimmung „verfahrensübergreifender“ Rechtsgrundsätze in ein gemeinsames dogmatisches Gesamtsystem einzufügen. Beide Ansätze teilen das gleiche Ziel, zu einem dogmatischen Verständnis der Wechselwirkungen und Zusammenhänge unterschiedlicher Verfahren zu gelangen, um auf dieser Grundlage zu einer einheitlichen und an dogmatischen Grundsätzen orientierten Gestaltung der Verfahren in der Rechtspraxis beizutragen. Und schließlich wird die allgemeine Verfahrens- wie auch die allgemeine Prozessrechtslehre von dem Bemühen getragen, der durch die Zersplitterung der Verfahrensarten bedingten Unübersichtlichkeit, der von Einzelproblemen und Tagesproblemen orientierten Aktivität des Gesetzgebers sowie der weitgehend ohne dogmatisches Rüstzeug agierenden Rechtsanwendung durch ein an klaren Verfahrensgrundsätzen orientiertes, handhabbares dogmatisches System als Orientierungsrahmen zu begegnen. Diese in der Tat erkennbaren Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Zielsetzung und rechtspolitischen Hintergrund können allerdings nicht über die deutlichen 38
Stein, Zivilprozeßrecht (1921), S. III. Vgl. hierzu Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre (1951), S. VII und Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 146. 40 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 136 ff. 41 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 152 ff., 159. 39
I. Ziele einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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sachlichen und methodischen Unterschiede beider Ansätze hinweghelfen. Denn die Konzepte der allgemeinen Prozessrechts- und der allgemeinen Verfahrenslehre verfolgen unterschiedliche und in ihrem Wesen unvereinbare Gegenstände: Während die eine gerade nicht, wie es auf den ersten Blick scheint, unterschiedliche, sondern ausschließlich ein einziges Verfahren, nämlich das streitige, gerichtliche Urteilsverfahren zum Gegenstand hat, nimmt die andere das gesamte Kontinuum möglicher unterschiedlicher Verfahrensarten in den Blick. Während die eine notwendig auf rechtliche Fragen beschränkt ist, reicht die andere weit über den Bereich des Rechtlichen hinaus und muss gerade interdisziplinär ausgerichtet sein. Während sich die eine um die Formulierung allgemeiner Grundsätze desselben Verfahrens bemüht, geht es der anderen gerade um die ihr eigene Struktur unterschiedlicher Verfahren.42 Während die eine den Rahmen der Prozessualistik nicht verlässt und somit auf eine Binnensicht des Verfahrens beschränkt ist, nimmt die andere die Verfahren als Teil der Ordnung menschlichen Zusammenlebens in ihren Wechselwirkungen zu Recht, Staat und Gesellschaft und Wirtschaft wahr.43 Und während schließlich die eine gleichsam mikroskopisch innerhalb der rechtlichen Ebene in die Tiefen der Prozessordnungen des streitigen, gerichtlichen Urteilsverfahrens hinabsteigt, so bemüht sich die andere gerade darum, sich in einer makroskopischen Gesamtschau über die isolierten Probleme eines einzelnen Verfahrens zu erheben und stattdessen die Wechselwirkungen der unterschiedlichen Verfahrensarten in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Auf den Punkt gebracht lassen sich die Unterschiede beider Ansätze zusammenfassen in den Gegensatzpaaren der Singularität (ein Verfahren) – Pluralität (alle Verfahren)44, der Beschränkung auf das Recht – Interdisziplinarität, der Erfassung allgemeiner Grundsätze und Strukturen – Erfassung unterschiedlicher Grundsätze und Strukturen, der internen Binnensicht (ausschließlich verfahrensinterne Wirkungen) – externen Außensicht (Wechselwirkungen mit Staat, Gesellschaft und Wirtschaft) sowie der mikroskopischen Betrachtung (Prozessordnungen) – makroskopischen Übersicht (Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Verfahren). Deutlich werden diese Unterschiede am Gang unserer Untersuchung. In ihr stehen gerade nicht die unterschiedlichen Prozessordnungen ein und desselben Verfahrenstyps – des streitigen, gerichtlichen Urteilsverfahrens – im Mittelpunkt, das in einer gleichsam mikroskopischen Schau in seinen prozessualen Ausdifferenzierungen und Ausprägungen untersucht wird, die es in der Anwendung auf unterschiedliche Lebenssachverhalte und Rechtsgebiete – wie
42
Vgl. hierzu nur die vergleichende Strukturanalyse von Mediation und Zivilprozess oben S. 107 ff. sowie unten S. 558 ff. 43 Instruktiv hierzu unten S. 558 ff. 44 Zum Prinzip des Verfahrenspluralismus vgl. eingehend oben S. 114 f. sowie unten S. 541 ff.
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
etwa das klassische Zivil-, das Arbeits-, das Familien-, das Straf-, Verwaltungs-, Finanz- und Verfassungsrecht – erfahren hat. Stattdessen werden mit der Mediation und dem Zivilprozess zwei in Wesen, Struktur und Funktion völlig unterschiedliche Verfahrensarten in den Blick genommen und in ihrer Qualität, ihrem Verhältnis zueinander und in ihren Auswirkungen auf Recht, Staat und Gesellschaft untersucht. Dabei wird der Blick nicht auf einen rechtlichen Ausschnitt reduziert, sondern beide Verfahren werden als Ganzes, in der Vielgestaltigkeit ihrer Dimensionen und Aspekte erfasst, die sich auf vielfältige Weise auf Staat, Gesellschaft und das Recht auswirken und zugleich von ihnen geprägt werden. Die Perspektive auf das Verfahren ist nicht ausschließlich rechtlich, sondern notwendig interdisziplinär. So haben wir im ersten Teil unserer Untersuchung das Verhältnis zwischen Mediation und Zivilprozess aus rechtstheoretischer45, rechtssoziologischer46 und schließlich aus rechtsphilosophischer47 Perspektive betrachtet, um so ihren inneren Mechanismen, ihrem Wandel im Gang der Geschichte, ihrer Prägung durch die größeren gesellschaftlichen Entwicklungslinien sowie ihren philosophischen Wurzeln auf die Spur zu kommen, und sind dabei zu einer interdisziplinären Begründung des Mediationsprimats gelangt.48 In einem zweiten Schritt haben wir in einer vergleichenden Strukturanalyse die Gestalt beider Verfahrensarten näher untersucht49, um im Anschluss daran das Verhältnis der Mediation zur objektiven Rechtsordnung50 und zur Gerechtigkeit51 sowie zum materiellen Recht52 und zum Verfahrensrecht53 in den Blick zu nehmen. Auf der Grundlage des auf diese Weise herausgearbeiteten Befundes – ihrer Struktur und Qualität, ihren Auswirkungen auf Recht, Staat und Gesellschaft sowie ihrer Funktion im Rechtssystem – werden wir sodann das Verhältnis beider Verfahrensarten zueinander bestimmen54 und in ein dogmatisches Gesamtsystem einer Konfliktbehandlungslehre einordnen55, das das ganze Kontinuum der
45
Vgl. oben S. 9 ff. Vgl. oben S. 33 ff. 47 Vgl. oben S. 68 ff. 48 Zum Mediationsprimat vgl. eingehend oben S. 110 ff. sowie unten 729 ff., 735 ff., 740 ff. 49 Vgl. oben S. 107 ff. 50 Vgl. oben S. 149 ff. 51 Vgl. oben S. 167 ff. 52 Vgl. oben S. 280 ff. 53 Vgl. oben S. 432 ff. 54 Vgl. unten S. 558 ff. 55 Vgl. unten S. 708 ff. 46
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zur Konfliktbehandlung geeigneten Primärverfahren umfasst. Sie bilden ihrerseits eine Teilmenge der Verfahren gesellschaftlicher Steuerung, die Gegenstand einer allgemeinen Verfahrenslehre sind.56 In einer allgemeinen Verfahrenslehre geht es daher gerade nicht darum, die unterschiedlichen Prozessordnungen desselben Verfahrenstyps dogmatisch zusammenzuführen, ihre gemeinsamen Grundsätze in einem „allgemeinen Teil des Prozessrechts“ gleichsam vor die Klammer zu ziehen und durch eine prozessordnungsübergreifende Betrachtung zur Lösung prozessualer Einzelprobleme zu gelangen. Eine Verfahrenslehre überwindet die Engführung auf einen bestimmten Verfahrenstypus und weitet die Perspektive über den konkreten Verfahrenstypus hinaus auf das Kontinuum sämtlicher Verfahrensarten und setzt die einzelnen Verfahren zueinander in Beziehung. Zwar schließt eine Verfahrenslehre auch aus der Prozessrechtslehre bekannte Themen – wie etwa die vergleichende Analyse gemeinsamer oder unterschiedlicher Verfahrensgrundsätze – mit ein, doch betrifft sie mit Fragen der Verfahrenseignung, der verfahrensexternen Auswirkungen, der Verfahrenswahl bzw. der Konfliktzuweisung gänzlich neue Themenbereiche. Im Kern geht es daher nicht um die rechtliche Ausgestaltung unterschiedlicher Prozessordnungen, sondern darum, das für einen bestimmten Konflikt jeweils geeignete Konfliktlösungsverfahren sachgerecht zu bestimmen und Mediation und Zivilprozess so miteinander zu verschränken, dass eine effektive Verfahrenswahl und ein nahtloser Verfahrensübergang gewährleistet sind.57 Es geht also nicht darum, in einem „innerstaatlichen Rechtsvergleich“ die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Prozessordnungen sowie allgemeine, prozessordnungsübergreifende oder auch jeweils prozessordnungsspezifische Rechtsprinzipien und Verfahrensgrundsätze herauszuarbeiten und auf dieser Grundlage zu untersuchen, wie ein konkretes prozessuales Einzelproblem in den verschiedenen Prozessordnungen gelöst wird. Stattdessen geht es um eine Bestandsaufnahme der in der Gesellschaft natürlicherweise vorhandenen, denklogisch möglichen Verfahrenstypen58 und als Teilmenge hiervon der primären Konfliktbeilegungsverfahren, ihre Herleitung aus allgemeinen Prinzipien, eine vergleichende Analyse ihres Wesens, ihrer Struktur 56 Vgl. hierzu mit Blick auf Fullers Verfahrenslehre eingehend oben S. 116 f., unten S. 538 ff. sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff., 27 ff., 36 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381 f., 404 f. (1978). 57 Zu diesem Grundanliegen des Multidoor Courthouse-Modells Sander, 70 F.R.D 111 (1976); Sander/Goldberg, 10 Neg. J. 49 (1994); Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2006); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599 (2007) sowie Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 138 ff.; Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 47 ff., 89 ff. 58 Zu diesem Ansatz grundlegend Hart, The Concept of Law (1960), S. 189 ff. („The minimum content of natural law”); Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 24 sowie oben S. 112 f.
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
und ihrer Prinzipien, die Bestimmung des Verhältnisses zwischen diesen Verfahren (Gleichordnung oder Vorrangverhältnis / Subsidiarität) und schließlich die Ermittlung geeigneter Kriterien der Verfahrenswahl. Dabei wird zu bedenken sein, dass sich das Verhältnis zwischen den Verfahrensarten auf unterschiedliche Weise bestimmen lässt: Aufgrund ihrer Funktion im Rechtssystem (funktionaler Ansatz), ihrer Eignung zur Beilegung bestimmter Konflikttypen (qualitativer Ansatz) oder aufgrund eines durch besondere Verfahrenseigenschaften und -wirkungen bedingten Stufenverhältnisses des Vorrangs und der Subsidiarität (Primat der Mediation). Im Gegensatz zur allgemeinen Prozesslehre, die sich nie vollständig durchzusetzen vermochte, ist für die Konfliktbehandlungslehre die Frage nach der Notwendigkeit durch die Praxis und die interdisziplinäre Verhandlungsforschung längst positiv beantwortet. Praxis und die Verhandlungsforschung haben die Fragen, die Gegenstand einer Verfahrenslehre sind – etwa die Frage nach der Verfahrenswahl, spezifischen Verfahrenseigenschaften, Eignungskriterien, den verfahrensexternen Auswirkungen der einzelnen Verfahren auf Staat, Gesellschaft und Recht sowie nach dem Verhältnis zwischen Mediation und Zivilprozess, dem Verhältnis der einzelnen Verfahren zueinander – längst gestellt und auf unterschiedliche Weise beantwortet. Dies erfolgte, bedingt durch die Dominanz der Praxis und die starke anglo-amerikanische Prägung der ADR-Bewegung, der Methode des case law entsprechend stets am Einzelfall, ohne zu einem zusammenhängenden dogmatischen System zu gelangen. Gleichwohl haben Wissenschaft und Praxis die Bausteine eines solchen Systems bereits herausgearbeitet. So haben gerichtliche Mediationsprogramme in Deutschland und in den USA sowie die Multi-Door Courthouse-Projekte Zuweisungskriterien entwickelt, die eine effektive Verfahrenswahl ermöglichen. Die Verhandlungswissenschaft hat eine ganze Reihe von Taxonomien erarbeitet, die das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess näher bestimmen sollen. Schon seit Beginn der ADR-Bewegung hat sich ein Konsens über die grundlegenden Verfahrensgrundsätze und -eigenschaften des Mediationsverfahrens herausgebildet. Diese Bausteine, die bislang lediglich ein grobes Mosaik ergeben, das eine Gesamtschau auf die Verfahren nur undeutlich erkennen lässt, gilt es nun miteinander zu verknüpfen, auf der Grundlage des interdisziplinären Befundes zu begründen und so zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufügen.
II. Anforderungen an eine allgemeine Konfliktbehandlungslehre Mit diesem Programm sind zugleich die Anforderungen an eine allgemeine Konfliktbehandlungslehre abgesteckt, mit denen die Zielvorgaben, die wir in
II. Anforderungen an eine allgemeine Konfliktbehandlungslehre
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den vorangegangenen Abschnitten ermittelt haben, nun konkretisiert werden. Das Anforderungsprofil folgt dabei dem bekannten Dreischritt aus Analyse, Dogmatik und Verfahrensdesign. 1. In einer analytischen Bestandsaufnahme geht es zunächst darum, quantitativ das Inventar des Kontinuums der für die Konfliktlösung geeigneten Verfahren zu ermitteln und sie qualitativ im Hinblick auf ihre Eigenschaften, Strukturprinzipien und Wirkungen eingehend zu untersuchen.59 Dabei sind sowohl das interne Verhältnis der einzelnen Verfahren zueinander wie auch das externe Verhältnis der Verfahren in ihren Auswirkungen auf den weiteren Konflikt, Staat, Gesellschaft und Recht von besonderer Bedeutung. Um die jeweiligen Verfahren als Ganzes erfassen zu können, muss das Forschungsproblem notwendig interdisziplinär angegangen werden, wobei der Rechtsvergleichung mit dem anglo-amerikanischen Rechtskreis und dem historischen Rückblick besondere Bedeutung zukommen. 2. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden sodann dogmatisch verarbeitet, indem auf der Grundlage des Wesens, der Strukturprinzipien und der Verfahrenswirkungen spezielle Verfahrensgrundsätze und -funktionen ermittelt werden, die den einzelnen Verfahren ihre je eigene Struktur und ihr Gepräge geben.60 So wird etwa das Mediationsverfahren durch die Grundsätze der Privatautonomie, Vertraulichkeit, Interessengerechtigkeit, der Kooperation und der Neutralität des Mediators geprägt61, dem zugleich die Funktion des Hüters der Privatautonomie und der Verfahrensintegrität62 zukommt. Diese Verfahrensgrundsätze sind in der Regel für die einzelnen Verfahren jeweils einzigartig, doch können die Verfahren – wie wir etwa am Beispiel der Mediation und des Zivilprozesses gesehen haben – teilweise auch auf gemeinsame, verfahrensübergreifende Grundsätze zurückgreifen. Dies ist häufig bei den verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien der Fall, die zwar grundsätzlich sowohl für die Mediation als auch für den Zivilprozess gelten, sich indes in ihrer konkreten Ausgestaltung voneinander unterscheiden. Ausgehend von den dogmatischen Vorarbeiten Fullers und Sanders werden die einzelnen Verfahren in das Gesamtsystem einer Verfahrenslehre eingeordnet, die ihr Verhältnis zueinander aufgrund ihrer Funktion, ihrer Eignung zur Konfliktlösung oder ihrer besonderen Verfahrenseigenschaften bestimmt. 3. Das dogmatische Gerüst einer auf diese Weise entwickelten Verfahrenslehre soll sodann für das praktische Verfahrensdesign, insbesondere für die Konfliktzuweisung, für die Verfahrenswahl und die Verfahrensintegration fruchtbar gemacht werden. Dabei sollen die Lösungen der Praxis auf eine dogmatische Grundlage gestellt und vor dem Hintergrund des interdisziplinären 59
Vgl. hierzu oben S. 107 ff. sowie unten 542 ff., 558 ff., 614 ff. Vgl. hierzu oben S. 447 ff. sowie unten 558 ff., 614 ff. 61 Vgl. hierzu oben S. 447 ff. sowie unten S. 586 ff. 62 Vgl. hierzu oben S. 328 f., 350 ff., 480 f. 60
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Befundes wissenschaftlich begründet werden. Eine solche Begründung ist für die rechtspolitische Diskussion, die im Zuge der Reformdiskussion anstehenden Weichenstellungen sowie für die an Rechtsgrundsätzen ausgerichtete Lösung von Einzelproblemen von erheblicher Bedeutung. Aus ihr wird sich, wie wir bereits gesehen haben, ergeben, dass sich der Vorrang der Mediation nicht allein aus prozessökonomischen Gründen der Entlastung der Justiz, der Verringerung der Kosten und der Zeit ergibt, sondern dass das Primat der Mediation im Kontinuum der Konfliktbehandlungsverfahren seine Grundlage vielmehr in materiellen, konflikttheoretisch relevanten Gründen findet.63
III. Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre 1. Der interdisziplinäre Befund Dem abgesteckten Programm folgend wollen wir an diesem Punkt unseren Blick noch einmal heben und ihn gleichsam aus der Vogelschau zurück auf die Ergebnisse unserer bisherigen Betrachtung und hier insbesondere auf den im Gang unserer Untersuchung entwickelten interdisziplinären Befund wenden, bevor wir das Verhältnis der beiden Verfahrensarten zueinander näher in den Blick nehmen. Durch diese Rückschau lassen sich beide Verfahren in ihrem Spannungsverhältnis noch einmal in den Zusammenhang jener größeren Entwicklungslinien des Rechts stellen, die sie bestimmen und deren Ausprägung sie sind. Im bisherigen Teil unserer Untersuchung haben wir die Verfahren der Mediation und des Zivilprozesses in ihrem gegenseitigen Spannungsverhältnis, in ihrem Wesen und ihrer Struktur betrachtet und dabei insbesondere ihre Auswirkungen auf den Konflikt in den Blick genommen.64 Methodisch haben wir die Tradition der Rechtsvergleichung aufgegriffen und zugleich aus den mittlerweile umfangreichen Ergebnissen der interdisziplinären Forschung geschöpft: 1. Rechtstheoretisch stellt sich die Mediation dabei als ein Verfahren dar, das die systembedingten Defizite normorientierter Konfliktbeilegung durch einen streitigen Zivilprozess in gleichsam spiegelbildlicher Weise ergänzt. Es vermeidet eine den ursprünglichen Interessenkonflikt verfremdende Komplexitätsreduktion durch Verrechtlichung, seine Transformation in einen abgeleiteten Metakonflikt, die Retrospektivität der Konfliktlösung, den binären Schematismus der Lösungsoption, eine weitere Eskalation des Konfliktes, den kont-
63
Vgl. zum Mediationsprimat eingehend oben S. 110 ff. sowie unten 729 ff., 735 ff., 740 ff. 64 Vgl. hierzu oben S. 107 ff.
III. Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
663
radiktorischen Rollenzwang und schließlich das Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit als Folgen eines auf der Anwendung abstrakt-genereller Normen basierenden Systems der Streitbeilegung.65 2. Rechtssoziologisch lässt sich die im Rahmen der ADR-Bewegung vollziehende Hinwendung zur Mediation und zu anderen Formen alternativer Streitbeilegung als eine der Erscheinungsformen eines tiefgreifenden Wandels des Rechts, des Staates und der Konfliktkultur deuten. Eines Wandels des Rechts vom formal-rationalen zum informal- materiellen Recht. Eines durch Verrechtlichung, Materialisierung und Entformalisierung geprägten Wandels des Staates vom Obrigkeits- über den normativ regelnden hin zum kooperativen Staat. Und eines Wandels der Konfliktkultur von kontradiktorisch strukturierter heteronomer Außensteuerung hin zu autonomer Selbstregulierung im Wege der Kooperation.66 3. Aus dieser Perspektive der Rechtsgeschichte erscheinen Mediation und Zivilprozess als jeweilige prozessuale Erscheinungsformen des Prinzips des Formalen und des Informalen, zwischen denen das Recht im Lauf seiner Geschichte oszilliert, das entsprechend der jeweiligen Epoche unterschiedliche Formen hervorbringt und uns in den Gegensätzen von ius honorarium und ius civile, equity und common law, strengem und billigem Recht, prozessual in der Antinomie von transactio und sententia des römischen Rechts, von Minne und Recht des Mittelalters und von Vergleich und Urteil des modernen Rechts gegenübertritt. In unserer rechtsphilosophischen Betrachtung schließlich haben wir die regula aurea sowie die aristotelische Gerechtigkeitslehre und ihre Weiterentwicklung durch Thomas von Aquin als Ursprung des dem Mediationsverfahren zugrunde liegenden Harvard-Modells identifiziert.67 Dabei haben wir anhand der Untersuchung der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit durch Kohlberg gesehen, dass allein der für die Mediation notwendige multilaterale Rollentausch einem reifen Gebrauch der regula aurea entspricht68, der bereits bei Kindern im Alter von 13 bis 16 Jahren nachgewiesen werden kann, allerdings nur von 5 % der erwachsenen Bevölkerung erreicht wird.69 In der Auseinandersetzung mit der Kritik Kants und dem Prinzip des kategorischen Imperativs haben wir die regula aurea einer kritischen Prüfung unterzogen70 und ihre Tauglichkeit als universales Rechtsprinzip und als praktischer Maßstab für
65
Vgl. hierzu oben S. 9 ff. mwN. Vgl. hierzu oben S. 33 ff. mwN. 67 Vgl. hierzu oben S. 235 ff., 252 ff. mwN. 68 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204 („second-order interpretation of the Golden Rule“). 69 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 192. 70 Vgl. hierzu oben S. 257 ff. mwN. 66
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
den Entscheidungsprozess der Parteien im Mediationsverfahren nachgewiesen.71 4. Im Rahmen unserer vergleichenden Strukturanalyse haben wir darüber hinaus gesehen, dass das informale, flexible, privatautonome, kooperative und an Interessen orientierte Mediationsverfahren und der formale, inflexible, heteronome, kontradiktorische und an Rechtsansprüchen orientierte Zivilprozess zueinander in einem Verhältnis struktureller Komplementarität stehen, in dem das eine Verfahren die spiegelbildliche Kehrseite des anderen bildet.72 Als Strukturmerkmale des Zivilprozesses haben wir dabei die Prinzipien der Privatautonomie, Kooperation, Orientierung an Parteiinteressen, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität des Verfahrens, Vermittlung durch einen neutralen Dritten, als Verfahrensgrundsätze der Mediation die Prinzipien der Heteronomie, der kontradiktorischen Entscheidungsstruktur, der Orientierung an Rechtsansprüchen, der Ergebnisorientierung, der Öffentlichkeit, der Formalität des Verfahrens und der Entscheidung durch einen neutralen Dritten herausgearbeitet, sie aus dem Wesen der beiden Verfahren hergeleitet und ihre Wechselwirkungen zueinander untersucht.73 5. Sodann haben wir die Beziehung zwischen Mediation und objektiver Rechtsordnung in den Blick genommen und sind der Frage nach einer möglichen Antinomie zwischen subjektivem Parteirecht und objektiver Rechtsordnung nachgegangen.74 Dabei sind wir auf das Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie und positivem Gesetzesrecht gestoßen, das wir auf der Grundlage einer Untersuchung des Rechtsbegriffes in der Mediation näher untersucht haben.75 Die Annahme einer Antinomie zwischen Normen- und Verhandlungssystem und die Gefahr einer Konstituierung eines autonomen, durch Verhandlung generierten Normensystems, das im Widerspruch zur objektiven Rechtsordnung steht, haben sich nicht bestätigt.76 Stattdessen haben wir gesehen, dass die Beziehung von Mediation und Recht der Dynamik des Spannungsverhältnisses von Privatautonomie und Gesetzesrecht folgt, das ihr zugrunde liegt. Unter dem Rückgriff auf den Ertrag unserer rechtsoziologischen Betrachtung haben wir sodann festgestellt, dass die Mediation als eine der Erscheinungsformen privatautonomer Steuerung in der Gesellschaft am grundlegenden Wandel staatlichen Handelns von hoheitlich-autoritativen zu privatautonom-kooperativen Formen der Regulierung teilnimmt.77 Die Hinwendung zu Verhandlungssystemen hat indes keinen gewandelten Rechtsbegriff, kein „anderes Recht“ 71
Vgl. hierzu oben S. 265 ff. mwN. Vgl. hierzu oben S. 107 ff. mwN. 73 Vgl. hierzu oben S. 122 ff. mwN. 74 Vgl. hierzu oben S. 149 ff. mwN. 75 Vgl. hierzu oben S. 149 ff. mwN. 76 Vgl. hierzu oben S. 156 ff. mwN. 77 Vgl. hierzu oben S. 153 ff. mwN. 72
III. Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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zur Folge, sondern führt zu einem neuen Verständnis der Rolle des objektiven Rechts im Mediationsverfahren und der Bedeutung der Mediation innerhalb des Rechtssystems.78 6. In unserer Untersuchung des Verhältnisses von Mediation und materiellem Recht haben wir in einem weiteren Schritt die unterschiedlichen Funktionen des materiellen Rechts in der Mediation als verbindliche Entscheidungsgrundlage, als unverbindlicher Orientierungsmaßstab, als Instrument des Ausgleichs von Wahrnehmungverzerrungen (debiasing), als Legitimations- und Fairnessfaktor, als formeller Rahmen sowie als Rückgriffsordnung untersucht, die Wirkbereiche des materiellen Rechts in der Mediation, ihre Thematisierung und die damit verbundenen Gefahren in den Blick genommen79 und ein Verfahrensmodell zur Integration des Rechts in das Mediationsverfahren entwickelt.80 Auf der Grundlage des Riskin-Grid81 haben wir uns sodann eingehend mit dem Rollenverständnis des Mediators82 in der vertragsautonomen83 und in der gerichtsverbundenen84 Mediation auseinandergesetzt und auf der Grundlage von Fallstudien und den verfassungsrechtlichen Bindungen85 des Güterichters die verfahrensimmanenten Anforderungen an die Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht des Mediators näher konkretisiert.86 7. Schließlich haben wir den Blick auf das Verhältnis der Mediation zum Verfahrensrecht gewendet87, das Recht der Mediation als rechtliche Grundlage des Mediationsverfahrens88 sowie die Verfahrensgrundsätze der Mediation im Vergleich zu den Prozessmaximen des Zivilprozesses untersucht89 und sodann Möglichkeiten der Verfahrensintegration und der Verfahrensförderung in den Blick genommen.90 Dabei haben wir ausgehend von den empirischen Erfahrungen mit gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen in den USA und in Deutschland die Möglichkeiten der gesetzlichen Zuweisung91, der freiwilligen Durchführung des Mediationsverfahrens92 und der bindenden Verweisung
78
Vgl. hierzu oben S. 157 ff. mwN. Vgl. hierzu oben S. 284 ff. mwN. 80 Vgl. hierzu oben S. 309 ff. mwN. 81 Vgl. hierzu oben S. 312 ff. sowie Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111 (1994); Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7 (1996); Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1 (2003). 82 Vgl. hierzu oben S. 324 ff. mwN. 83 Vgl. hierzu oben S. 333 ff. mwN. 84 Vgl. hierzu oben S. 385 ff. mwN. 85 Vgl. hierzu oben S. 402 ff. mwN. 86 Vgl. hierzu oben S. 360 ff., 408 ff. mwN. 87 Vgl. hierzu oben S. 432 ff. mwN. 88 Vgl. hierzu oben S. 433 ff. mwN. 89 Vgl. hierzu oben S. 447 ff. mwN. 90 Vgl. hierzu oben S. 492 ff. mwN. 91 Vgl. hierzu oben S. 512 f. mwN. 92 Vgl. hierzu oben S. 512 ff. mwN. 79
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durch das Gericht93 untersucht, den Ansatz des Multi-Door Courthouse betrachtet94 und die Wirkungen des Verfahrensübergangs in den Blick genommen.95 Diese Mosaiksteine des reichen interdisziplinären Befundes fügen sich zu einem Bild, das – wenngleich noch in unscharfen Konturen – bereits holzschnittartig die Grundzüge dessen erkennen lässt, was nun Gegenstand einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre werden soll. Diese Bausteine gilt es nun zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Dabei wird unserer Betrachtung des Mediationsverfahrens aus der Perspektive der unterschiedlichen Teildisziplinen des Rechts für die zentrale Frage der Verfahrenswahl und des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess entscheidende Bedeutung zukommen. Der Befund unserer Untersuchung des Mediationsverfahrens aus rechtstheoretischer96, rechtssoziologischer97 und rechtsphilosophischer98 Perspektive sowie aus dem Blickwinkel weiterer Grundlagenwissenschaften wie etwa der Psychologie99, der Spieltheorie100 und der Neurobiologie101, die ver-
93
Vgl. hierzu oben S. 514 ff. mwN. Vgl. hierzu oben S. 505 ff. mwN. 95 Vgl. hierzu oben S. 516 f. mwN. 96 Vgl. hierzu oben S. 9 ff. mwN. 97 Vgl. hierzu oben S. 33 ff. mwN. 98 Vgl. hierzu oben S. 68 ff., 167 ff. mwN. 99 Vgl. hierzu oben S. 465 ff., 474 ff. mwN. sowie Kahneman/Tversky, 185 Science 1124 (1974); Kahneman/Tversky, Choices, values, and frames (2000); Kahneman/Tversky, 47 Econometrica 263 (1979); Kahneman/Knetsch/Thaler, 5 J. Econ. Perspect. 193 (1991); Hastie/Dawes, Rational choice (2. Aufl. 2010), S. 87 ff.; Kahneman/Slovic/Tversky (Hrsg.), Judgment under uncertainty (2008), passim; Eisenberg, Stan. L. Rev. 211 (1995); Sinn, Economic decisions under uncertainty (1989), S. 11 sowie instruktiv BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 38 ff., 41 ff., 71 ff. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 29 ff., 42 ff.; Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 6 ff., 137 ff. Vgl. zur interdisziplinären Gerechtigkeitsforschung Gerechtigkeitsforschung grundlegend Ockenfels, Fairneß, Reziprozität und Eigennutz (1999), S. 37 ff., 131 ff. sowie Güth/Kliemt/Ockenfels, 50 J. Econ. Behav. Organ. 465 (2003); Bolton/Ockenfels, in: Plott/Smith (Hrsg.), Handbook of experimental economics results I (2008), S. 531; Bolton/Ockenfels, in: Baurmann/Lahno (Hrsg.), Perspectives in Moral Science (2009), S. 199. 100 Vgl. hierzu oben S. 287 ff., 462 ff., 474 ff. sowie Rapoport/Chammah/Rapoport, Prisoner's dilemma (1965), passim; Axelrod/Hamilton, 211 Science (N.S.) 1390 (1981); Axelrod, The Evolution of Cooperation (1984), S. 113 ff., 130 ff. Vgl. auch BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 83 f., 138 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 59 ff., 62 f. 101 Vgl. hierzu oben S. 474 f. mwN. sowie Bauer, Prinzip Menschlichkeit (2008), S. 23 ff.; Ruckriegel, Happiness Research (2008), S. 9. 94
III. Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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gleichende Strukturanalyse des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess102 und schließlich unsere Betrachtung des Verhältnisses der Mediation zur Gerechtigkeit103, zum materiellen104 und zum Verfahrensrecht105 bilden die gesicherte Grundlage, auf der wir nun die Elemente der Dogmatik einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre entwickeln wollen. 2. Fullers Verfahrenslehre als dogmatischer Ausgangspunkt Fullers Verfahrens- und Institutionenlehre bildet den Ausgangspunkt unseres Verfahrensverständnisses von Mediation und Zivilprozess. Fuller ging dabei im Anschluss an Hart zunächst von der Existenz eines Satzes rechtlicher Mindestregelungen aus, über die jede Gesellschaft aufgrund der Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen menschlichen Lebens verfügen muss und Ihren Inhalt und Form durch die Vernunft vermittelt werden.106 Diesen Ansatz Harts prozedural weiterentwickelnd gelangt Fuller so zu einem Satz idealtypischer Verfahren sozialer Steuerung (processes of social ordering), die in Wesen und Struktur klar bestimmter sind und in Wechselwirkung zu jede materiellen Regelungen dienen, die sie umsetzen sollen.107 1. Verfahrenspluralismus. Auf die Ebene der konkreten Verfahrenslehre angewendet folgt aus dem prozeduralen Naturrecht Fullers als rechtsphilosophische Grundlage das Konzept des Verfahrenspluralismus und der Kanon der fünf primären Verfahren gesellschaftlicher Ordnung: Gesetzgebung (legislation), Gerichtsverfahren (adjudication), exekutives Verwaltungshandeln (administrative direction), Mediation (mediation), Vertrag (contractual agreement).108 Wie wir gesehen haben, ist mit der Trias der Primärverfahren der Konfliktbehandlung: Verhandlung, Mediation und verbindliche Drittentscheidung eine Teilmenge dieser Verfahren in besonderer Weise zur Beilegung von Konflikten geeignet.109 Mit dieser Abgrenzung ist zugleich das Verhältnis der allgemeinen Verfahrenslehre zur Konfliktbehandlungslehre bestimmt. Während erstere mit dem Kanon der fünf primären Verfahren gesellschaftlicher Ordnung das gesamte Kontinuum gesellschaftlicher Steuerungsmechanismen zum Gegenstand hat, beschränkt sich letztere mit den drei Primärverfahren der Verhandlung, der Mediation und der verbindlichen Drittentscheidung auf den Rahmen der Konfliktbehandlung. Diese steht mit dem Verhältnis zwischen 102
Vgl. hierzu oben S. 107 ff. mwN. Vgl. hierzu oben S. 167 ff. mwN. 104 Vgl. hierzu oben S. 280 ff. mwN. 105 Vgl. hierzu oben S. 432 ff. mwN. 106 Hierzu eingehend oben S. 112 f. sowie Hart, The Concept of Law (1960), S. 189 ff.; Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 24, 26 f. 107 Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 27. 108 Vgl. hierzu oben S. 114 f. sowie Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 27. 109 Hierzu oben S. 114 f. mwN. 103
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Mediation und Zivilprozess im Mittelpunkt unserer Betrachtung. Die einzelnen Verfahren verfügen jeweils über ein für sie charakteristisches Wesen (morality), aus dem sich eine spezifische innere Struktur (design) und damit eine eigene individuelle Identität ergibt. Dabei bestimmt das Wesen der Verfahren die sie prägenden Grundprinzipien, ihren Zweck und ihre Natur beschreibt, die Struktur dagegen den ihnen eigenen Mechanismus der Entscheidungsfindung im Sinn bestimmter Verfahrensschritte. 2. Die Prinzipien der strukturellen Verfahrensintegrität und der Rollentrennung. Aus der unverwechselbaren Struktur und dem ihnen jeweils eigenen Wesen der drei Primärverfahren der Konfliktbehandlung, aus ihrer spezifischen Identität ergibt sich das Prinzip der strukturellen Verfahrensintegrität und der Grundsatz der Rollentrennung: Da jedes Verfahren unterschiedlichen Zielen und jeweils eigenen Grundsätzen folgt, die – wie etwa im Hinblick auf Vertraulichkeitsprinzip und Öffentlichkeitsgebot sowie Privatautonomie und verbindliche Drittentscheidung – in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen und sich häufig gegenseitig ausschließen, ist eine Kombination der Strukturprinzipien einzelner Verfahrensarten sowie eine Vermischung der Rollen zur Erhaltung der inneren Integrität des Verfahrens grundsätzlich ausgeschlossen. Die Sorge um die „makellose Reinheit“ ist dabei keine Folge rein dogmatischer Überlegungen, sondern steht im Dienst des Verfahrens selbst: Würden die Beteiligten über die Struktur des Verfahrens frei verfügen können, so könnte es seine Funktion nicht mehr ordnungsgemäß erfüllen und würde seinen Zweck verfehlen. Vielmehr würden die Beteiligten erheblichen Gefahren ausgesetzt, weil die mit dem Verfahren verknüpften Erwartungen enttäuscht werden, ohne dass dies den Beteiligten ohne weiteres bewusst ist. 3. Das Primat der Mediation als Grundlage der Verfahrenswahl. Die Gestaltung des Verfahrensübergangs wird darüber hinaus durch eine zweite dogmatische Überlegung bestimmt, die sich als Konsequenz aus dem Grundsatz des Verfahrenspluralismus und dem Verhältnis der drei Primärverfahren der Konfliktbehandlung zueinander ergibt. Wie wir bereits gesehen haben, stehen Verhandlung, Mediation und verbindliche Drittentscheidung keineswegs in einem Verhältnis der Gleichheit zueinander. Aufgrund ihrer besonderen Verfahrenseigenschaften haben wir im Anschluss an Fuller die methodische Vorrangstellung der Mediation gegenüber Verhandlung und Zivilprozess herausgearbeitet.110 Daraus ergibt sich ein grundsätzliches Primat der Mediation gegenüber sämtlichen Verfahren im Kontinuum der Konfliktbehandlung. Dieser Grundsatz der Verfahrenshierarchie wird, wie wir im weiteren Teil unserer Untersuchung sehen werden, nur ausnahmsweise für bestimmte Fallkonstellationen durchbrochen, die für eine heteronome Entscheidung durch einen Dritten – etwa im Rahmen eines Zivilprozesses – besonders geeignet sind.111 Im 110 111
Vgl. zum Mediationsprimat eingehend oben S. 110 ff. unten 729 ff., 735 ff., 740 ff. Vgl. hierzu unten S. 729 ff.
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Übrigen verbleibt es bei dem Vorrang der Mediation, die auch nach dem interdisziplinären Befund das der Natur des Menschen entsprechende, ihm gemäße Verfahren der Beilegung der zum menschlichen Leben unabwendbar gehörenden Konflikte darstellt. Dieses Ergebnis wird durch die Entwicklung der ADRBewegung, den erheblichen Erfolg der Mediation in der Rechtspraxis und den gesamtgesellschaftlichen Wandel der Konfliktkultur hin zu konsensualen Formen der Streitbeilegung eindrucksvoll belegt.112 Mit diesem schlaglichtartigen Ausblick wollen wir unseren zusammenfassenden Überblick über die Grundzüge der Verfahrenslehre Fullers und ihre Weiterentwicklung zu einer Konfliktbehandlungslehre beenden und uns nun ihren drei zentralen Grundsätzen im Einzelnen zuwenden.
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre In den vorangegangenen Abschnitten haben wir den Rahmen der zu entwickelnden Konfliktbehandlungslehre abgesteckt, die in ihrem Kern das Verhältnis zwischen Mediation und Zivilprozess zum Gegenstand hat. Wir haben zunächst die Ziele und die Anforderungen an eine solche Unternehmung bestimmt und sie von den historischen Bemühungen der Prozessualistik um eine allgemeine Prozessrechtslehre abgegrenzt. In einer holzschnittartigen Zusammenschau haben wir uns sodann einen Überblick über den Ertrag unserer bisherigen interdisziplinären Untersuchung und die Grundzüge der Konfliktbehandlungslehre verschafft, die wir auf der Grundlage der Verfahrenslehre Fullers und der Überlegungen Sanders weiterentwickelt haben. Diesen Faden wollen wir nun weiterverfolgen und die einzelnen Bausteine wie in einem Mosaik zu einem einheitlichen Gesamtbild zusammensetzen. Wie wir gesehen haben, wird das dogmatische Gerüst der Konfliktbehandlungslehre durch drei zentrale Prinzipien getragen: 1. Das Prinzip des Verfahrenspluralismus, 2. das Prinzip der strukturellen Verfahrensintegrität und der damit verbundenen Rollentrennung und 3. das Prinzip der Verfahrenshierarchie, aus dem sich das Primat des Mediationsverfahrens ergibt. Diese drei grundlegenden Prinzipien wollen wir im Folgenden nun näher in den Blick nehmen und sie mit dem aktuellen empirischen Befund, dem Ertrag der interdisziplinären Forschung und der Realität des Mediationsverfahrens verknüpfen. Auf diese Weise wollen wir die drei Grundprinzipien auf der Grundlage des aktuellen empirischen und interdisziplinären Standes der Verhandlungsforschung einer eingehenden Untersuchung unterziehen. Dabei werden wir sehen,
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Vgl. zum Wandel der Streitkultur oben S. 59 ff., zur ADR-Bewegung oben S. 9 ff.
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dass die Grundsätze des Verfahrenspluralismus113, der Verfahrensintegrität114 und des grundsätzlichen Vorrangs des Mediationsverfahrens115 vor anderen Verfahrensarten, insbesondere aber vor dem Zivilprozess, durch den Befund der modernen Verhandlungsforschung bestätigt und begründet werden. Der erwartete Ertrag rechtfertigt den methodischen Aufwand: Gelingt die Unternehmung, so steht der Rechtswissenschaft nicht nur das dogmatische Handwerkszeug zur Verfügung, um sich der Mediation nun auch rechtswissenschaftlich verstärkt anzunehmen. Die rechtspolitische Diskussion wird darüber hinaus auch um ein Verständnis der Funktion und der Qualität des Mediationsverfahrens ergänzt, das sich nicht lediglich auf Effizienzerwägungen beschränkt, sondern die Mediation als Ganzes erfasst. Das Primat der Mediation würde sich dabei nicht ausschließlich aus ihrer Eignung als Instrument zur Entlastung der Justiz ergeben. Es wird stattdessen aus ihrer besonderen Qualität als ein der Natur des Menschen in besonderer Weise entsprechendes, ihm eigenes Verfahren der Konfliktbeilegung folgen116, das geeignet ist, die Parteien im Wege einer echten Versöhnung aufeinander hin auszurichten, sie zur eigenverantwortlichen Beilegung ihrer Konflikte und damit zu tatsächlich privatautonomem Handeln zu befähigen, im Rahmen eines Lern- und Transformationsprozesses eine Veränderung ihres Konfliktverhaltens herbeizuführen und den Konflikt so im Sinne einer pareto-optimalen win-win-Lösung wertschöpfend, beiderseits interessengerecht und damit auch dauerhaft und nachhaltig beizulegen und so zum Rechtsfrieden innerhalb der Gesellschaft beizutragen. Dass die konsensuale Beilegung von Konflikten im Wege der Mediation keineswegs etwas Neues darstellt, sondern als Urform der Konfliktlösung durch die Rechtsgeschichte hindurch nachweisbar ist, nur eine der vielfältigen Ausprägungen staatlichen Wandels hin zu kooperativem Handeln darstellt, als New Equity und gerechtes Verfahren dem Prinzip informaler Billigkeit als notwendigem Bestandteil jeder Rechtsordnung Gestalt verleiht und in ihrem Kern der regula aurea als universalem „Naturgesetz“ und „elementare[m] Gesetz allen Rechts schlechthin“ entspricht, die zugleich den natürlichen Höhepunkt in der Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit des Menschen markiert, bestätigt das gefundene Ergebnis. Den aufgeworfenen Fragen wollen wir nun im Einzelnen nachgehen. 1. Das Prinzip des Verfahrenspluralismus Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet das Prinzip des Verfahrenspluralismus. Dieser Grundsatz besagt, dass es in jeder entwickelten Gesellschaft a) einen Satz an unterschiedlichen, für die Konfliktlösung geeigneten 113
Vgl. hierzu oben S. 114, 541 ff. sowie unten S. 116 ff., 736 ff. Vgl. hierzu oben S. 116 ff., 547 ff. 115 Vgl. hierzu oben S. 110 ff. sowie unten S. 729 ff., 735 ff., 740 ff. 116 Hierzu bereits oben S. 246 f. 114
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idealtypischen Verfahren gibt, der sich b) aus den natürlichen Bedingtheiten und Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Lebens sowie dem Wesen des Konfliktes ergibt und daher in seinem Bestand naturrechtlich vorgegeben ist, wobei c) sich die einzelnen Verfahren durch spezielle, ihnen jeweils eigene Eigenschaften, Strukturmerkmale und Verfahrensprinzipien auszeichnen. Das Prinzip des Prozesspluralismus ist damit seinerseits durch drei Wesensmerkmale gekennzeichnet: Ein Kontinuum idealtypischer Verfahren, seinen festen Bestand und die spezifische Gestalt der einzelnen Verfahren. Das Prinzip des Prozesspluralismus geht, wie wir bereits gesehen haben, auf die Verfahrenslehre Fullers zurück. Fuller war fasziniert von der Fähigkeit rechtlicher Institute, abhängig von ihrer Form die Beziehungen der Menschen zueinander auf je unterschiedliche Weise zu regeln, und sah darin die kreative Seite juristischer Tätigkeit. Im Zentrum seiner Überlegungen stand die Entdeckung natürlicher Gesetze sozialer Ordnung, die sich aus den notwendigen Begrenzungen und Gesetzmäßigkeiten menschlichen Lebens und ihrer gegenseitigen Beziehungen ergeben. Damit nahm er einen Gedanken Harts auf, der in seiner naturrechtlichen Konzeption des Rechts von dem Grundsatz ausgeht, dass aufgrund der Ziele und Bedingungen menschlichen Lebens und seiner spezifischen Eigenschaften, die durch die natürlichen Begrenzungen menschlicher Existenz bestimmt werden, jede Gesellschaft ganz bestimmte materielle Regelungen bereithalten muss, um diese Ziele und Bedingungen zu verwirklichen. Fuller hat diesen Gedanken prozedural weiterentwickelt: Indem er erkannte, dass nicht nur der materielle Inhalt der Regelungen, sondern auch die prozedurale Form der Verfahren, die diese Regeln umsetzen sollen, von der conditio humana, von den natürlichen Bedingtheiten menschlichen Zusammenlebens bestimmt wird.117 Im Mittelpunkt seines Interesses stand damit nicht mehr nur der materielle Inhalt der Regeln (structure), sondern nun vor allem auch das Kontinuum der Verfahren (process), aus denen sie hervorgegangen sind. Im Laufe seiner nahezu dreißigjährigen Forschungstätigkeit, die er diesem Thema widmete, entwickelte Fuller eine ganze Reihe unterschiedlicher Typologien allgemeiner Verfahren im Sinne gesellschaftlicher Ordnungsmechanismen (social processes of ordering), zu denen er auch Mediation und den Zivilprozess zählte. Die besondere Aufgabe der Rechtswissenschaft sah er
117
Vgl. Fuller, 68 Harv. L. Rev. 1305, 1312 (1955): „ … in all significant areas of human action formal arrangements are required to make choice effective. … Our more important choices are meaningless if there is no way of carrying them over into the larger social order on which we are dependent for almost all our satisfactions. But, to give social effect to individual choice, some formal arrangement, some form of social order, is necessary.”
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darin, die einzelnen Verfahren auf ihre jeweils besondere Eignung zur Lösung bestimmter Probleme zu untersuchen.118 a) Das Kontinuum der Streitbehandlungsformen: Eine Verfahrenstypologie Die Überlegungen Fullers bildeten den Ausgangspunkt, an den wir für die weitere Entwicklung einer Konfliktbehandlungslehre angeknüpft haben. Dabei kann die angesichts der Vielfalt seiner variierenden Vorschläge durchaus berechtigte Frage, welche Verfahren denn nun eigentlich zum Kontinuum der idealtypischen Verfahrensarten gesellschaftlicher Steuerung gehören, offenbleiben. Denn im Zentrum unserer Überlegungen steht mit den Konfliktbeilegungsverfahren lediglich ein Ausschnitt aus dem allgemeinen Verfahrensspektrum. Dieser wird durch die drei idealtypischen Primärverfahren der Verhandlung, der Mediation und der autoritativen Drittentscheidung (judging) gebildet. Diese Trias ergibt sich aus den logisch möglichen Variationen denkbarer Verfahren der Streitbeilegung, die aus der Kombination der Variationen von Privatautonomie vs. autoritativer Entscheidung sowie bilateraler Einigung vs. triadischer Drittunterstützung gebildet werden können.119 Fuller selbst hat nicht scharf zwischen allgemeinen Verfahren und Konfliktbeilegungsverfahren unterschieden, allerdings findet sich mit dem Vertrag (contract), der Mediation (mediation), dem Gerichtsverfahren (adjudication) und dem exekutiven Verwaltungshandeln (administrative direction), das sich mit dem Gerichtsverfahren zum Verfahrenstyp des judging zusammenfassen lässt, in der insoweit maßgeblichen Typologie die Trias der Primärverfahren wieder.120 Die drei Primärverfahren (primary processes) der Verhandlung, der Mediation und der verbindlichen Drittentscheidung bzw. die Handlungsformen des Verhandelns, des Vermittelns und des Richtens bilden ein Kontinuum der Konfliktbeilegungsverfahren, das zwischen den einzelnen Verfahren aufgrund
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Dass diese Aufgabe der Rechtswissenschaft in der Juristenausbildung weitgehend vernachlässigt wird, hat Fuller deutlich kritisiert: „We do not, however, spend much time exploring the social processes by which these various forms of “law” come into being. Because these processes are neglected we inevitably lack a perspective from which to appraise the relative aptness, for solving a given problem, of the various competing forms of social ordering.” 119 Die Variante der „autoritativen Einigung”, d.h. die Kombination der Eigenschaften autoritativer Entscheidung und bilateraler Streitbeilegung, scheidet dabei aus logischen Gründen aus, so dass die rechnerisch mögliche Zahl von vier Kombinationen nicht erreicht wird. 120 Vgl. zu den Verfahren bzw. Ordnungsprinzipien des Gewohnheitsrechts (customary law), des Eigentums (property), der Wahl (voting) und der Losentscheidung (resort to chance), die Fuller an anderer Stelle nennt, die Ausführungen oben S. 114 Fn. 57. Vgl. hierzu auch Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 27.
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des Maßes an Privatautonomie bei der Entscheidungsfindung und der Beteiligung eines Dritten unterscheidet. Bei den drei Primärverfahren handelt es sich, wie wir bereits an anderer Stelle gesehen haben, um idealtypische Verfahren mit klaren Strukturmerkmalen, auf die sich alle anderen ADR-Verfahren und insbesondere Hybridverfahren wie die Early Neutral Evaluation, der Mini Trial, Med-Arb, Arb-Med, NegArb, Online Dispute Resolution (ODR), die Schlichtung und das Institut des Ombudsmanns zurückführen lassen. Diese gehen – wie insbesondere Med-Arb, Arb-Med, Neg-Arb-Verfahren sowie die Schlichtung – als mixed processes regelmäßig aus der Kombination mehrerer Primärverfahren hervor. Die drei Primärverfahren selbst können durch Ausdifferenzierung ihrer Strukturmerkmale unterschiedliche Ausprägungen annehmen. So haben sich etwa abhängig davon, ob der Mediator eine aktive (evaluative mediation) oder passive Rolle einnimmt (facilitative mediation) oder ob das Verfahren auf die Lösung von Interessenkonflikten (principled mediation) oder die Transformation der Beziehung zwischen den Parteien gerichtet ist (transformative mediation), unterschiedliche Varianten des Mediationsverfahrens herausgebildet. Auch das Schiedsverfahren ist als Form des private judging lediglich eine Variante der verbindlichen Drittentscheidung, in der sie aufgeht.121 Das Kontinuum der Streitbeilegungsformen reicht dabei von der Verhandlung als bilateralem, privatautonomen und informalen Verfahren über die Mediation, bei der die Verhandlungsbeziehung zwischen den Parteien um den Mediator als auf das Verhandlungsgeschehen Einfluss nehmenden neutralen Dritten von der Dyade zur Triade erweitert wird, bis hin zum Zivilprozess, der als spiegelbildlich entgegengesetzter Pol der heteronomen, formalen und autoritativen Drittentscheidung gleichsam die Kehrseite der Verhandlung bildet. Wie wir in unserer Betrachtung bereits gesehen haben, stehen Formalität und Privatautonomie dabei im Verhältnis umgekehrter Proportionalität: Das Maß der Selbstbestimmung nimmt in dem Maße ab, wie der Grad der Formalisierung wächst und umgekehrt. In der Gesamtschau auf die drei Primärverfahren ergibt sich eine perfekte Symmetrie, mit der Mediation als Zentrum sowie der Verhandlung und
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Aus diesem Grund ist die Schiedsgerichtsbarkeit trotz ihrer gelegentlichen Nennung in diesem Kontext aus grundsätzlichen Gründen nicht zu den ADR-Verfahren im engeren Sinn zu zählen, da es mit dem Zivilprozess die systemimmanenten Schwächen autoritativer Drittentscheidung teilt und gerade an den Vorteilen konsensualer, wertschöpfender und kooperativer Konfliktbeilegung keinen Anteil hat. Der Unterschied zum Zivilprozess beschränkt sich im Wesentlichen auf die freie Wahl der Person des Richtenden sowie auf die Vertraulichkeit des Schiedsspruches und des Verfahrens. Im Hinblick auf die Faktoren Zeit und Kosten ergeben sich mittlerweile in der Regel keine grundsätzlichen Vorteile gegenüber dem Zivilprozess. Vgl. hierzu Herbel, in: Schwenzer (Hrsg.), Schuldrecht, Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung (1999), S. 1, 10; Schüddekopf, Nachhaltigkeit einvernehmlicher Konfliktbeilegung (2013), S. 224 ff.
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dem Zivilprozess als entgegengesetzten Polen. Die Ausdifferenzierung des Konfliktbehandlungsinstrumentariums in unterschiedliche Verfahren bildet die Grundlage des Multi-Door Courthouse-Konzeptes von Frank E.A. Sander, das als „angebotsorientiertes Rechtsschutzsystem“122 mit dem Ziel angetreten ist, die „Monokultur“123 staatlicher Streitentscheidung als „komfortabel ausgebauter Königsweg“124 zu überwinden. b) Verfahrenspluralismus als rechtshistorischer und empirischer Befund Im Rahmen unserer rechtshistorischen Untersuchung haben wir gesehen, dass die Trias der Primärverfahren bereits seit frühester Zeit in der Rechtspraxis nachweisbar ist. Sie begegnet uns zum ersten Mal in der Gemeinderegel Jesu, die uns gleichsam als „erstes abgestuftes Konfliktmanagementsystem der Geschichte“ im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums überliefert ist.125 Sie begegnet uns später bei Naturrechtlern wie Pufendorf und Grotius explizit als Trias von Freundschaftsgespräch (colloquium), Vergleich (compromissum) und Los (fors)126 (“Tres autem sunt modi quibus vitari potest, ne controversiae in bellum erumpant: Primum est colloquium … alterum est compromissum … tertia ratio est per fortem.“127) und durchzieht in seiner praktischen Ausprägung als Gegensatzpaar des Prinzips des Formalen und des Informalen, der Billigkeit und des Rechts die menschliche Rechtsentwicklung von Anbeginn an: Materiell-rechtlich als Gegensatz von ius honorarium und ius civile, equity und common law, strenges und billiges Recht, das sich prozessual in der Antinomie von transactio und sententia des römischen Rechts, von Minne und Recht des Mittelalters und Urteil und Vergleich des modernen Rechts wiederfindet. Diese Reduzierung auf den Gegensatz zwischen kooperativ-konsensualer und streitig- kontradiktorischer Konfliktbeilegung in der historischen Rechtspraxis, die in dem Gegensatz von Urteil und Vergleich, Mediation und Zivilprozess, ADR und adjudication zum Ausdruck kommt, wird durch die empirische Rechtswirklichkeit in den einzelnen Rechtsordnungen bestätigt. In den USA, in Deutschland sowie in den übrigen Ländern hat sich die alternative
122
Vgl. hierzu Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190. Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 191 ff. 124 So Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5. 125 Mt. 18,15-17. 126 Vgl. zur Ersetzung des heteronomen Drittentscheidungsverfahren (judging) durch das Los näher oben S. 102 Fn. 14. 127 Grotius, De jure belli ac pacis libri tres (1995), S. 395 (lib. 2, cap. 23, § 6-9). Siehe auch v. Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 563 (lib. 5, cap. 13, § 3), der – allerdings mit abweichenden Begriffen (tractatus, transactio) – auf die zitierte Stelle bei Grotius Bezug nimmt. Hervorhebungen durch den Verfasser. Übersetzt bei Grotius/Schätzel, De jure belli ac pacis libri tres (1950), S. 391 f. und v. Pufendorf/ Oldfather/Oldfather, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 826 f. 123
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Streitbeilegung mittlerweile weitgehend auf die Mediation als dem maßgeblichen konsensualen Verfahren reduziert, das dem Zivilprozess als Alternative gegenübersteht und insbesondere im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme auf besondere Weise mit ihm verwoben ist.128 Hybridverfahren wie etwa Early Neutral Evaluation, Mini Trial, Med-Arb, Arb-Med und Neg-Arb129 haben dagegen kaum oder nur geringe praktische Bedeutung. Insbesondere Verfahren wie der Early Neutral Evaluation oder dem Mini Trial kommt stattdessen eher die Bedeutung von ergänzenden Verfahrenstechniken bzw. Tools zur Lösung spezieller Verfahrensprobleme zu. So kann etwa ein US-amerikanischer Richter, der sich in einer settlement conference mediativer Techniken bedient, im Rahmen einer Prozessrisikoanalyse zur Ermittlung des Wertes der Nichteinigungsalternativen auf die Early Neutral Evaluation oder den Mini Trial zurückgreifen, um so die Prozessrisiken bzw. Erfolgschancen im Falle einer streitigen Entscheidung zu ermitteln. Dem Hybridverfahren kommt in diesen Fällen lediglich eine unterstützende Funktion zu. c) Von der Verfahrenstrias zum Dualismus von Mediation und Zivilprozess Die Reduzierung des Verfahrensspektrums auf die Mediation als dem maßgeblichen konsensualen ADR-Verfahren ergibt sich als zwangsläufige Folge aus dem Wesen der einzelnen Primärverfahren, wie wir bei unserer Betrachtung der Verfahrenshierarchie näher in den Blick nehmen werden. Wie wir gesehen haben und im Einzelnen noch sehen werden, ist die konsensuale Lösung von Streitigkeiten die dem Menschen eigene, ihm entsprechende und aus verfahrensinternen wie verfahrensexternen Gründen vorzugswürdige, natürliche Form der Konfliktbeilegung (Primat des Mediationsverfahrens). Aufgrund der Bedingtheiten menschlicher Existenz in dieser Welt, die sich philosophisch und insbesondere auch theologisch deuten lassen, vermag der Einzelne die ihm natürlich gegebene Fähigkeit, Streitigkeiten einvernehmlich und kooperativ beizulegen, regelmäßig nicht mehr effektiv auszuüben. Er ist zu einer effektiven Beilegung von Streitigkeiten auf dem Wege der Kooperation regelmäßig nicht mehr in der Lage. Das intuitive Konfliktverhalten ist, wie in zahlreichen empirischen Studien nachgewiesen werden konnte, ineffektiv.
128 Vgl. nur die umfassenden rechtsvergleichenden Untersuchungen in Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008). Für deutschen Modellprojekte in Deutschland vgl. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 4 ff., 37 f. Vgl. allerdings auch Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 7 f. sowie v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 72 ff. 129 Hierzu näher Menkel-Meadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 616; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 71, 270 ff.
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Damit fällt die Verhandlung als effektive Form der Streitbeilegung regelmäßig aus, wenngleich sie in ihren übrigen Funktionen für die Rechtsgestaltung weiterhin ihre Bedeutung behält. Mögen die Parteien mühelos im Stande sein, ihre Rechtsbeziehungen auf dem Verhandlungswege zu regeln: Im Fall eines Konfliktes stößt ihre Fähigkeit zur autonomen Konfliktbeilegung regelmäßig an ihre Grenzen. Sie geraten in eine Spirale der Eskalation, in der sich der Konflikt trichterförmig verengt und die Beteiligten einen point of no return überschreiten, der den Konflikt in den von Goffman beschriebenen character contest verwandelt, aus dem sie sich nicht mehr ohne fremde Hilfe befreien können.130 Wie die interdisziplinäre Konfliktforschung nachweisen konnte, setzen Konflikte komplexe emotionale und kognitive Programme in Gang, die zu einer deutlichen Eskalation des Konfliktes beitragen, ihn von der Sach- auf die Beziehungsebene verlagern und damit eine autonome Konfliktlösung dauerhaft blockieren. Eine effektive Beilegung des Konfliktes ist in diesen Fällen nur noch mit Hilfe eines neutralen Dritten möglich, der entweder vermittelnd oder richtend in den Konflikt eingreift. Die Mediation legitimiert sich somit aus dem Vorrang der konsensualen vor der streitigen Konfliktbeilegung auf der einen und der Unfähigkeit der Parteien auf der anderen Seite, eine solche konsensuale Beilegung des Konfliktes eigenverantwortlich herbeizuführen. Dem Mediator kommt daher im Kern die Aufgabe zu, die natürliche Kooperationsfähigkeit der Parteien wiederherzustellen und sie so wieder zu einer eigenverantwortlichen, konsensualen Beilegung des Konfliktes zu befähigen. Die Aufgabe des Mediators ist damit (1) eine pädagogische, (2) unterstützende und (3) heilende. Sie ist pädagogisch, indem der Mediator die Parteien aus den intuitiven Verhaltensmustern eskalierender Konfrontation herauslöst und auf diese Weise idealiter eine nachhaltige Verhaltensänderung der Parteien herbeiführt. Sie ist lediglich unterstützend und muss dies sein, weil eine konsensuale Beilegung des Konfliktes nur von den Parteien selbst in Ausübung der ihnen zukommenden Privatautonomie herbeigeführt werden kann. Und sie ist heilend, weil sie ein Defizit im Konfliktverhalten des Einzelnen beseitigt, das sich nicht nur nachteilig auf die Beziehung zwischen den Parteien auswirkt, sondern als gesamtgesellschaftliches Phänomen auch den Rechtsfrieden innerhalb der Gesellschaft als Ganzes beeinträchtigt. Mediation ist damit im Kern Hilfe zur Selbsthilfe, Instrument zur Wiederherstellung natürlicher Kooperations-, Verhandlungs- und somit Friedensfähigkeit der Parteien.
130 Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. Vgl. hierzu oben S. 23 f.
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2. Die Prinzipien der strukturellen Verfahrensintegrität und der Rollentrennung Nach Fuller verfügt jedes Verfahren über ein ihm eigenes Wesen (morality) und eine eigene innere Struktur (design), die ihm eine unverwechselbare Identität verleihen.131 Das Wesen beschreibt die das Verfahren bestimmenden Grundprinzipien, seine Zwecke und seine Natur als „the essential nature of the thing being studied“132. Die Struktur verweist auf die dem Verfahren eigenen Mechanismen der Entscheidungsfindung, die in den spezifischen Strukturmerkmalen der Verfahren ihren Ausdruck finden. Im Rahmen unserer vergleichenden Strukturanalyse133 haben wir Wesen und Struktur der Mediation und des Zivilprozesses eingehend in den Blick genommen und sind dabei auf ein wechselseitiges Spannungsverhältnis struktureller Komplementarität gestoßen, bei dem das eine Verfahren gleichsam als Kehrseite des anderen dessen Schwächen idealtypisch ausgleicht. Wir haben gesehen, dass das in ihrer Struktur sichtbare Spannungsverhältnis zwischen dem informalen, flexiblen, privatautonomen, kooperativen und an Interessen orientierten Mediationsverfahren und dem formalen, inflexiblen, heteronomen, kontradiktorischen und an Rechtsansprüchen orientierten Prozess der Polarität ihres Wesens als Instrumente interessenorientierter Selbst- und normorientierter Fremdsteuerung entspricht. Dabei haben wir das Urbild (είδος) beider Verfahren als Ausprägung der klassischen Dichotomie von Formalität und Informalität identifiziert, zwischen denen das Recht im Gang seiner geschichtlichen Entwicklung stets oszilliert und jeweils unterschiedliche Ausprägungen annehmen kann. Auch wenn uns Mediation und Zivilprozess im Gang der Geschichte wie auch in der Rechtswirklichkeit der Gegenwart in unterschiedlichen Formen gegenübertreten, so bleibt doch ihre durch Wesen und Struktur bestimmte Identität gleichwohl in einer Weise unverwechselbar, die eine Kombination der Strukturprinzipien einzelner Verfahrensarten ausschließt. Denn weil die Struktur Ausdruck des Wesens der einzelnen Verfahren und die Voraussetzung für ihre Funktion ist, kann über sie nicht beliebig verfügt werden ohne die bestimmungsgemäße Funktion der Verfahren und somit zugleich ihren Zweck und ihre Identität zu beeinträchtigen. Im Anschluss an Fuller ergeben sich daraus die Prinzipien der strukturellen Integrität und der Rollentrennung als zentrale Grundsätze einer allgemeinen Verfahrens- und damit auch einer Konfliktbehandlungslehre.
131
Vgl. hierzu oben S. 115 ff. Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 305 (1971). 133 Vgl. oben S. 107 ff. 132
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a) Strukturelle Verfahrensintegrität Der Grundsatz der strukturellen Integrität enthält das Gebot, die jedes Verfahren konstituierenden, ihm eigenen identitätsstiftenden Strukturmerkmale vor Beeinträchtigungen zu schützen, und den Verfahrensrahmen so auszugestalten, dass sie zur vollen Entfaltung kommen. In der Mediation betrifft dies etwa den Schutz der Vertraulichkeit, der Privatautonomie der Parteien und der Neutralität des Mediators in seiner Rolle als Vermittelnder, im Zivilprozess den Schutz der Öffentlichkeit des Verfahrens, der Autonomie des Richters134 sowie der Neutralität des Richters in seiner Rolle als Entscheidender. Dabei wird der Schutz der Verfahrensintegrität in den einzelnen Verfahren auf jeweils unterschiedliche Weise gewährleistet: Während sie in der Mediation als informalem Verfahren vor allem dem Mediator als Hüter der Verfahrensintegrität, Wächter der Privatautonomie und Garanten der Verwirklichung der Verfahrensziele obliegt135 und den vertraglich vereinbarten oder in die Mediationsvereinbarung einbezogenen Mediationsordnungen in der Regel lediglich eine Orientierungsfunktion zukommt, wird die Integrität des Zivilprozesses weitgehend über das Verfahrensrecht realisiert, wobei dem richterlichen Handeln aufgrund des vom Verfahrensrecht vorgegebenen engen Handlungsspielraums der Beteiligten regelmäßig lediglich unterstützende Funktion zukommt. Verletzungen der Verfahrensintegrität wirken sich regelmäßig unmittelbar auf die Funktion des Verfahrens insgesamt aus und können darüber hinaus auch die Beteiligten in ihren Rechten gefährden. So ist etwa die Mediation als kooperatives, an den Interessen der Parteien orientiertes Verfahren auf eine vertrauensvolle Atmosphäre der Offenheit angewiesen, in der die Parteien auch vertrauliche Informationen offen miteinander austauschen können, ohne befürchten zu müssen, dass ihre Offenheit von der anderen Partei zu ihrem Nachteil missbraucht wird. Dies setzt einen effektiven Schutz der Vertraulichkeit voraus, der daher für das Mediationsverfahren insgesamt konstituierend ist und die Parteien darüber hinaus vor Rechtsverletzungen schützt.
134
Der Schutz der richterlichen Autonomie betrifft ganz unterschiedliche Aspekte richterlichen Handelns. Neben der nach Art. 97 Abs. 1 GG, § 1 GVG, § 25 DRiG garantierten persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit des Gerichts erfasst er die ordnungsgemäße Vorbereitung der richterlichen Sachentscheidung, die etwa durch die den Parteien auferlegte Wahrheitspflicht und das Gebot der prozessualen Waffengleichheit umgesetzt wird. Darüber hinaus ist der Schutz der richterlichen Autonomie in einem weiteren, rechtspolitischen Sinn entsprechend der von Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984) geäußerten Kritik zugleich auf den Schutz des rechtsprechenden Handelns als staatlicher Institution in der Rechtswirklichkeit gerichtet. Dieses würde nach der von Fiss vorgetragenen Kritik in tatsächlicher Hinsicht in seiner Funktion geschwächt, wenn es aufgrund zunehmender Vergleichstätigkeit der Gerichte seine Funktion zur Fortbildung der objektiven Rechtsordnung nicht mehr in hinreichender Weise erfüllen kann. 135 Vgl. hierzu oben S. 328 f., 350 ff., 480 f.
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b) Rollentrennung Aus dem Grundsatz der strukturellen Integrität des Verfahrens ergibt sich, wenn er auf die Person des neutralen Dritten angewendet wird, der Grundsatz der Rollentrennung.136 Er enthält das Verbot für den neutralen Dritten, die Rollen des Vermittelnden und des Richtenden miteinander zu vermischen und abhängig von der jeweiligen Situation entweder die eine oder die andere Rolle einzunehmen. Aus diesem Grund ist es dem zum Urteil berufenen Prozessrichter verwehrt, etwa im Rahmen einer gerichtsverbundenen Mediation in derselben Sache als Mediator tätig zu werden, wie auch der Mediator keinesfalls die Grenze zur Schlichtung überschreiten und durch einen den Parteien aufgedrängten Einigungsvorschlag oder „Schlichtungsspruch“ anstelle der Parteien eine Entscheidung in der Sache treffen darf. Dass dies indes keineswegs selbstverständlich ist, haben wir im Rahmen unserer Untersuchung der Rolle des Mediators gesehen: So besteht insbesondere im Rahmen prozessrichterlich geleiteter Vergleichsverhandlungen die Gefahr unzulässigen Einigungsdrucks auf die Parteien, mit der Folge, dass der Vergleich nicht mehr Ergebnis der privatautonomen Einigungsentscheidung der Parteien ist, sondern ein „Urteil in Vergleichsform“137 darstellt, gegen das den Parteien indes keinerlei „Rechtsmittel“ zustehen. Die Notwendigkeit, die Integrität des Verfahrens zu wahren und klar zwischen den Rollen des Mediators und des Richters zu unterscheiden, ergibt sich dabei nicht allein aus Gründen dogmatischer Stringenz und der „pristine purity“138 der Verfahren. Sie ist vielmehr unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Verfahren ihre Funktion überhaupt sinnvoll erfüllen und somit ihrer Aufgabe als effektive Instrumente zur Beilegung von Konflikten gerecht werden können. So hatte schon Fuller darauf hingewiesen, dass die Vermischung verschiedener Verfahren und die damit einhergehende Verletzung ihrer Integrität mit erheblichen Gefahren für die Beteiligten verbunden sind.139 Diesen Befund hat unsere Untersuchung bestätigt: So kann ein Mediator, der die Parteien zu einem Vergleich nötigt und so faktisch die Rolle eines Richtenden einnimmt, dies nur auf Kosten der Privatautonomie der Parteien und daher unter Verletzung der ihnen zustehenden Rechte tun. Umgekehrt wird ein Richter, der in einer Sache entscheidet, in der er zuvor als Mediator tätig gewesen ist,
136 Zum Prinzip der Rollentrennung vgl. eingehend oben S. 114 ff., 327 Fn. 66 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 404 ff. (1978); Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999). 137 Stürner, JR 1979, 133, 136. 138 Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 382 (1963). 139 Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 404 ff. (1978). Vgl. hierzu auch oben S. 114 ff., 327 Fn. 66 sowie Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999).
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dem Vorwurf der Parteilichkeit, der mangelnden Neutralität in einer Weise ausgesetzt sein, welche die Legitimität des zivilprozessualen Verfahrens insgesamt sowie die des Urteils als sein Ergebnis infrage stellt. Dies gilt umso mehr, als der Richter im Rahmen der Mediation möglicherweise konkrete Einigungsvorschläge unterbreitet hat. Zugleich wird dem Mediationsverfahren durch die Verletzung der Vertraulichkeit nachträglich die Grundlage entzogen. Denn im Rahmen seiner vermittelnden Tätigkeit werden dem Güterichter regelmäßig gerade jene vertraulichen Informationen offenbart, die dem Prozessgericht durch den Vertraulichkeitsschutz und die damit verbundenen Beweisverwertungsverbote gerade entzogen werden sollen.140 Das Prinzip der Verfahrenshierarchie In den vorangegangenen Abschnitten haben wir die Prinzipien des Verfahrenspluralismus141 auf der einen und der strukturellen Verfahrensintegrität142 sowie der Rollentrennung auf der anderen Seite näher in den Blick genommen. Dabei haben wir gesehen, dass das Instrumentarium der zur Beilegung des Konfliktes geeigneten Verfahren keineswegs auf den Zivilprozess als „Monokultur“143 und breit ausgebauten „Königsweg“144 beschränkt ist, sondern stattdessen lediglich einen Teil eines Kontinuums ganz unterschiedlicher Streitbeilegungsverfahren darstellt, in dessen Rahmen ihm die Mediation als idealtypisches Verfahren konsensualer Streitbeilegung zur Seite gestellt ist (Verfahrenspluralismus). Darüber hinaus haben wir festgestellt, dass Mediation und Zivilprozess als strukturell komplementäre Verfahren über ein jeweils eigenes Wesen und eine eigene Struktur verfügen, die in ihren Grundzügen nicht verändert werden können, ohne ihre jeweils unverwechselbare Identität und damit ihre bestimmungsgemäße Funktion erheblich zu beeinträchtigen (Verfahrensintegrität). Daraus ergibt sich insbesondere, dass eine Vermischung der Rollen des neutralen Dritten, etwa des Mediators und des Richters, ausgeschlossen ist (Rollentrennung).
140 Dass diese Informationen trotz des subjektiven Wissens des Prozessrichters gleichwohl einem Beweisverwertungs- und Vortragsverbot unterliegen und damit im Verfahren nicht verwertet werden können, vermag an der Beeinträchtigung der Verfahrensfunktion nichts zu ändern. Denn zum einen kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sich der Richter im Rahmen wertender Entscheidungen in seiner Meinungsbildung vollkommen von dem ihm vorliegenden Wissen freizumachen vermag. Zum anderen könnte einem entsprechenden Urteil der Makel anhaften, dass die unzulässigerweise offenbarten Informationen, wenn nicht unmittelbar, so doch jedenfalls mittelbar bei der Urteilsfindung von Einfluss gewesen sind, und auf diese Weise jedenfalls die moralische Legitimität des Urteils in Zweifel gezogen werden. 141 Vgl. oben S. 736 ff. 142 Vgl. oben S. 736 ff. 143 Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 191. 144 Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5.
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Im Folgenden wollen wir uns nun dem Verhältnis der einzelnen Verfahren zueinander und damit dem dritten maßgeblichen Grundsatz der Konfliktbehandlungslehre zuwenden: Dem Prinzip der Verfahrenshierarchie. Nach der Untersuchung des Verfahrensbestandes (Verfahrenspluralismus) und der Analyse seiner Qualität (Verfahrensintegrität und Rollentrennung) tritt mit der Beziehung der Verfahren untereinander nun das dritte, letzte und zentrale Element unseres Versuchs einer Konfliktbehandlungslehre in den Mittelpunkt unserer Betrachtung. Die Frage des Verhältnisses der Verfahren zueinander betrifft den Kern unserer Arbeit und ist darüber hinaus von außerordentlichem wissenschaftlichen wie rechtspraktischen Interesse. In wissenschaftlicher Hinsicht ist sie von Interesse, weil sie mit dem Verhältnis von Mediation und Zivilprozess nicht nur zwei elementare Verfahren gesellschaftlicher Ordnung, sondern über die konkreten geschichtlichen Erscheinungsformen hinaus die Frage betrifft, wie das Verhältnis zwischen Formalem und Informalem145, zwischen Recht und Billigkeit, ius civile und ius honorarium, Law und Equity146, zwischen denen das Recht im Lauf der Geschichte stets oszilliert, austariert und in ein harmonisches Gleichgewicht zueinander gebracht werden kann. Dies ist nicht nur eine dogmatische, sondern in erster Linie auch eine rechtsphilosophisch zu beantwortende Frage. In rechtspraktischer Hinsicht ist sie von Interesse, weil es in ihr um die Art und Weise geht, wie der Paradigmenwechsel hin zu einer neuen Konfliktkultur, die durch die aktuelle Institutionalisierung der Mediation vollzogen wird, konkret ausgestaltet wird. Es geht dabei um nicht mehr aber auch um nicht weniger als um die ganz konkrete Gestaltung der Zukunft und eines Umbruchs in der Art der rechtlichen wie gesellschaftlichen Konfliktbehandlung, der in der jüngeren Rechtsgeschichte ohne Beispiel ist. Diese Fragestellung ist insbesondere deshalb von so zentraler Bedeutung, weil es nicht lediglich um zwei Verfahren der Konfliktbehandlung, sondern mit ihnen um zwei Ordnungen gesellschaftlicher Steuerung geht, die sich in Wesen, Struktur und Funktion und damit auch in ihren verfahrensinternen wie auch verfahrensexternen Wirkungen grundsätzlich voneinander unterscheiden. Und weil beide Steuerungsformen sich in ganz unterschiedlicher Weise auf Recht, Staat, Gesellschaft und den Konflikt auswirken, kann unsere Betrachtung nicht allein auf das „interne“ Verhältnis der beiden Verfahren zueinander beschränkt bleiben, sondern muss darüber hinaus auch ihr „externes“ Verhältnis zu den Ordnungen des Rechts, des Staates, der Gesellschaft und des Konfliktes in den Blick nehmen.147
145
Vgl. hierzu oben S. 175 ff. Zur Qualifikation der Mediation als Verfahren der Billigkeit bzw. als „New Equity“ vgl. oben S. 175 ff. sowie Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 329 ff. (2005). 147 Vgl. hierzu im Folgenden unten S. 558 ff. (Mediationsverfahren) sowie S. 614 ff. (Zivilprozess). 146
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Aus diesen beiden Perspektiven ergeben sich ganz konkrete Fragestellungen, deren Beantwortung einer Konfliktbehandlungslehre aufgetragen ist: In welchem Verhältnis stehen Mediation und Zivilprozess zueinander? Handelt es sich um gleichrangige Formen gesellschaftlicher Steuerung, die jeweils zur Behandlung bestimmter Konflikttypen – etwa persönlicher Konflikte – oder zur Erfüllung bestimmter Funktionen in der Gesellschaft – etwa der Bewahrung der objektiven Rechtsordnung – besonders geeignet sind, oder stehen sie stattdessen zueinander im Verhältnis der Subsidiarität? Bewähren sich beide Verfahren nebeneinander als Steuerungsmedien? Welche Folgen haben die sich komplementär gegenüberstehenden Prämissen beider Verfahrenstypen? Kommt es zu einer Verrechtlichung der Mediation oder wird die Orientierung an den Interessen das Leitbild staatlichen Handelns? Welche Auswirkungen hat die Mediation auf die Rechtsbewährungs- und Rechtsfortbildungsfunktion, die durch den streitigen Zivilprozess ausgeübt wird? Diesen Fragen wollen wir nun im Einzelnen nachgehen und so den Kreis der Konfliktbehandlungslehre schließen. Dabei wollen wir uns dem Problem in einem Dreischritt nähern, der den drei möglichen Ansätzen entspricht, durch die das Verhältnis der Verfahren zueinander grundsätzlich bestimmt werden kann: (1) Dem Prinzip funktionaler Differenzierung148, (2) dem Prinzip qualitativer Differenzierung149 und schließlich (3) dem Prinzip der hierarchischen Differenzierung150 und dem daraus folgenden Primat der Mediation. Funktional lässt sich das Verhältnis zwischen Mediation und Zivilprozess dadurch bestimmen, dass die Verfahrenswahl in einem ganz konkreten Konflikt auf der Grundlage der Funktion erfolgt, die beide Verfahren in der Rechtsordnung ausüben. Daneben kann das Verhältnis beider Verfahren zueinander auch aufgrund qualitativer Kriterien, insbesondere aufgrund ihrer Eignung zur Beilegung bestimmter Konflikttypen bestimmt werden. Und schließlich lässt sich das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess auch hierarchisch als abgestuftes System unterschiedlicher Verfahrensarten verstehen, bei denen dem konsensualen Verfahren der Mediation Vorrang vor dem insoweit subsidiären streitigen Zivilprozess zukommt. 3. Das Prinzip funktionaler Differenzierung: Verfahrenswahl auf der Grundlage der Funktion In der modernen Verhandlungsforschung werden die Verfahren der Mediation und des Zivilprozesses regelmäßig im Kontext ihrer Funktion als Instrumente
148
Hierzu unten S. 551 ff. Hierzu unten S. 708 ff. 150 Hierzu unten S. 729 ff. 149
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effektiver Konfliktbeilegung betrachtet.151 In dieser konfliktbezogenen Perspektive stehen vor allem ihre jeweils unterschiedliche Struktur und die daraus folgende individuelle Eignung zur dauerhaften und nachhaltigen Beilegung von Konflikten im Mittelpunkt des Interesses. Dieser Spur sind wir im Rahmen unserer Untersuchung in weiten Teilen gefolgt und haben die Struktur, das Wesen und die Wirkungen beider Verfahrensarten aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen. Dabei hat sich indes gezeigt, dass eine isolierte Verfahrensanalyse das rechtstatsächliche Phänomen beider Verfahren nur unvollkommen zu erfassen vermag. Wie wir mit Blick auf die Verfahrenslehre Fullers gesehen haben, sind die Verfahren der Mediation und des Zivilprozesses in ihrem Kern idealtypische Formen gesellschaftlicher Steuerung, die in das sie bestimmende Gesamtsystem gesellschaftlicher Ordnung eingefügt sind, in ihr ganz spezifische, über die reine Konfliktbeilegung hinausgehende Funktionen erfüllen und auf vielfältige Weise nicht nur auf den Konflikt, sondern darüber hinaus auch auf Recht, Staat und Gesellschaft zurückwirken. Dem entspricht der dogmatische Befund, dass eine Konfliktbehandlungslehre nur als Teil einer allgemeinen Verfahrenslehre sinnvoll verstanden werden kann. Mediation und Zivilprozess sind keine isolierten „Streitbeilegungswerkzeuge“, deren Gebrauch allein aus verfahrensinternen Erwägungen bestimmt werden kann. Sie sind eingebunden in das gesellschaftliche Gesamtsystem des Rechts, und die Veränderung ihres Verhältnisses zueinander hat Auswirkungen, die auf andere Bereiche der Ordnungen von Staat und Gesellschaft einwirken und damit weit über die bloße Beilegung von Konflikten hinausreichen. Soll daher das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess zueinander bestimmt werden, so sind dabei die Vielfalt ihrer unterschiedlichen Funktionen, die durch sie bedingte jeweils eigene Struktur, die sich daraus ergebenden Wirkungen sowie mögliche Risiken in den Blick zu nehmen. Damit ist zugleich das Programm unserer weiteren Untersuchung abgesteckt: Im Folgenden wollen wir beide Verfahren als Ganzes in einer vergleichenden Analyse in ihren Funktionen, ihrer Struktur und ihren verfahrensinternen wie -externen Wirkungen einander gegenüberstellen und uns im Anschluss daran eingehend mit den sich daraus ergebenden Risiken auseinandersetzen. a) Die Owen M. Fiss-Debatte als Ausgangspunkt Den Ausgangspunkt bildet dabei die mittlerweile klassische Diskussion, die der Rechtswissenschaftler Owen M. Fiss152 durch einen 1984 in der Yale Law
151
Vgl. nur Breidenbach, Mediation (1995), S. 42 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 41 ff.; Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 5 ff.; Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2013), S. 3 ff. 152 Fiss war seit 1976 Professor an der Yale Law School für Zivilprozessrecht, Staats- und Verfassungsrecht.
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Review unter dem programmatischen Titel Against Settlement erschienenen Aufsatz153 in Gang gesetzt hatte.154 In ihm unterzieht er den Vergleich einer grundlegenden Kritik, die er sowohl mit dessen verfahrensinternen Folgen für die Parteien wie auch mit seinen verfahrensexternen Auswirkungen auf die Verwirklichung des Gemeinwohls in der Gesellschaft begründete. Verfahrensintern kritisierte er vor allem die Gefahr der Übervorteilung der schwächeren Partei aufgrund einer ungleichen Verteilung von Ressourcen (imbalance of power), das Fehlen legitimer Zustimmung bei der Vertretung von Gruppen und Institutionen und die damit verbundene Individualisierung des Konfliktes (absence of autoritative consent), die Fokussierung auf die punktuelle Beilegung eines Konfliktes im Gegensatz zu einer fortwährenden strukturellen Hilfe (lack of foundation for continuing judicial involvement) sowie die Trivialisierung der Rechtsschutzfunktion des Prozesses durch Reduzierung auf bloße Konfliktbeilegung (justice rather than peace). Verfahrensextern ist seine Kritik vor allem gegen die seiner Auffassung nach mit dem Vergleich einhergehende Privatisierung öffentlicher Interessen gerichtet (privatization of all ends). Auch wenn Fiss mit den Fragen der Machtasymmetrien, der Legitimation und der objektiven Gerechtigkeit jene zentralen Spannungsfelder des Mediationsverfahrens in den Blick genommen hatte, die auch für die heutige Diskussion von Bedeutung sind, so war es doch mit der Gefahr der Privatisierung der Justiz und der öffentlichen Werte dieser letzte, den Kreis der ausschließlich verfahrensinternen Wirkungen überschreitende Aspekt konsensualer Verfahren, der für die weitere Diskussion prägend werden sollte. Im Kern geht es dabei um die Frage, in welchem Umfang die Gewährleistung staatlicher Justiz durch Interessen Privater bestimmt werden darf und in welchem Maß den Gerichten die Aufgabe zukommt, die gesellschaftliche Wirklichkeit durch die Gewährleistung öffentlicher Werte und Interessen an das von der Verfassung vorgezeichnete Leitbild anzugleichen. Die Antwort von Fiss auf diese Frage ist eindeutig: „Judges are judges, not brokers of deals.“155 Für Fiss besteht die Aufgabe der Rechtsprechung nicht allein in der Befriedigung der Parteien durch die Beilegung von Konflikten, sondern darin, Gerechtigkeit zu schaffen und den der Verfassung zugrunde liegenden Werten rechtstatsächliche Wirkung zu verleihen: „The purpose of adjudication is not
153
Vgl. Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984). Vgl. zu den Reaktionen auf Fissʼ Aufsatz nur McThenia/Shaffer, 94 Yale L.J. 1660 (1985); Cohen, 78 Fordham L. Rev 1143 (2009); Erichson, 78 Fordham L. Rev. 1117 (2009); Moffitt, 78 Fordham L. Rev. 1203 (2009); Weinstein, 78 Fordham L. Rev. 1265 (2009). Vgl. zur Debatte auch Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273 (2009). 155 Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273, 1279 (2009): „ … Judges must, I believe, confine themselves to the core activity of their profession, and adhere to the procedures that have long allowed them to wear the mantle of the law.” 154
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the resolution of a dispute, not to produce peace, but rather justice …”156 und „The function of adjudication is to give meaning to public values, not merely to resolve disputes.”157 Die Rechtsprechung ist für ihn damit ein wesentliches, wenn nicht sogar das maßgebende Instrument gesellschaftlicher Transformation: Es ist das Mittel, mit dem der Rechtsstaat den der Verfassung unmittelbar zugrunde liegenden objektiven Grundwerten zu rechtspraktischer Geltung verhilft, mit dessen Hilfe er die Lebenswirklichkeit mit dem Staats- und Gesellschaftsideal der Verfassung in Einklang bringt: „Civil litigation is an institutional arrangement for using state power to bring a recalcitrant reality closer to our chosen ideals.”158
Staatliche Justiz ist für Fiss ein öffentliches Gut, das der Verfügung der Beteiligten, der Parteien wie der Richter, entzogen ist und nicht als Instrument der Maximierung der individuellen Interessen und Bedürfnisse der Parteien missbraucht werden darf.159 „Adjudication uses public resources, and employs not strangers chosen by the parties but public officials chosen by a process in which the public participates. These officials possess a power that has been defined and conferred by public law, not by private agreement. Their job is not to maximize the ends of private parties, nor simply to secure the peace, but to explicate and give force to the values embodied in authoritative texts such as the Constitution and statutes: To interpret those values and to bring reality into accord with them.”160
Dies gilt umso mehr in einer Zeit des normativen und ethischen Relativismus, in der die Existenz absoluter, objektiver und öffentlicher Grundwerte und -interessen verstärkt bezweifelt und die individuellen Interessen wie auch die individuelle Moral des Einzelnen zum ausschließlichen Maßstab des Handelns gemacht werden.161 Das Feilschen, das von dem Streben nach der Verwirklichung und Maximierung der eigenen Interessen bestimmt wird und bei dem die stärkere Partei darum bemüht ist, für sich selbst einen möglichst maximalen
156
Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273, 1277 f. (2009). Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1, 44 (1979). 158 Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1089 (1984). 159 Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273, 1277, 1280 (2009): „Justice is a public good, objectively conceived, and is not reducible to the maximization of the satisfaction of the preferences of the contestants, which, in any event, are a function of the deplorable character of the options available to them. … I do not believe, however, that Congress, much less the authors of the Federal Rules (whoever they might be), are free to mold the judiciary into instruments of their own liking.“ 160 Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1085 (1984), Hervorhebungen durch den Verfasser. 161 Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121, 128 (1982): „Today we feel increasing doubts about the existence of public values, all is individual interests or at best individual morality, and the dispute resolution model of adjudication, like the night-watchman state, accommodates those doubts.” 157
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Anteil an den zu verteilenden Werten zu erlangen, hat für Fiss mit Gerechtigkeit nicht das Geringste zu tun.162 „The bargaining that normally takes place between litigants – characterized, as I then assumed, by the pursuit of self-interest, imbalances of material resources, inequalities of information, and strategic behavior – has no connection to justice whatsoever.“163
Die apodiktische Generalkritik von Fiss, die eine nuancierte Auseinandersetzung mit seinen Thesen erschwert, sowie die karikative Verzerrung des Verhandlungsprozesses sind im Schrifttum auf erheblichen Widerstand gestoßen und wurden jedenfalls in ihren verfahrensinternen Grundannahmen durch die reale Entwicklung der ADR-Bewegung widerlegt.164 Das Feilschen um einen Kompromiss, bei dem die Parteien in einem positionsbezogenen Basarritual allein darum bemüht sind, ihre eigenen Partikularinteressen gegenüber denen ihres Verhandlungspartners durch Ausnutzen von strukturellen Machtungleichgewichten, Informationasymmetrien und durch strategisches Verhalten durchzusetzen, hat mit dem modernen interessenorientierten Verhandlungsverfahren, das gerade die Schwächen intuitiven, positionsorientierten Verhandlungsverhaltens durch wertschöpfende Kooperation gerade mit Blick auf die Interessen des jeweiligen Verhandlungspartners überwinden will, kaum etwas gemein.165 Mit seiner Mahnung, dass die Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit als objektivierbare, absolute Werte über die bloße Beilegung eines Konfliktes und die Befriedigung der weitgehend subjektiv bestimmten individuellen Interessen Privater hinausgehen und der rechtsprechenden Gewalt im Gefüge des Gemeinwesens eine zentrale Funktion im Hinblick auf die Realisierung der in der Verfassung angelegten Grundwerte zukommt, hat Fiss indes eine notwendige und noch nicht abgeschlossene Diskussion über die Rolle in Gang gebracht, die Mediation und Zivilprozess als Verfahren gesellschaftlicher Steuerung im Rechtssystem zukommen. Vor diesem Hintergrund wird seine Haltung in jüngster Zeit weniger als absolute, grundlegende Kritik an der alternativen Streitbeilegung, sondern aus dem politischen, zeitlichen und sachlichen Kontext der US- Bürgerrechtsbewegung der 70er Jahre heraus als Kritik an jenen politischen Ideen verstanden, die er mit dem Gedanken und der Institution des 162
Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273, 1277 (2009). Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1277 (1984). 164 Vgl. nur McThenia/Shaffer, 94 Yale L.J. 1660 (1985) sowie aus jüngerer Zeit Cohen, 78 Fordham L. Rev 1143 (2009); Erichson, 78 Fordham L. Rev. 1117 (2009); Moffitt, 78 Fordham L. Rev. 1203 (2009); Weinstein, 78 Fordham L. Rev. 1265 (2009). 165 Zur Differenzierung zwischen ineffektivem intuitivem (Feilschen) und effektivem interessenorientierten (Harvard Modell) Verhandeln Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 81 ff.; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. 163
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settlement verband: Dem Vordringen der an der Maximierung individueller Interessen Privater orientierten neoliberalen Marktideologie zulasten des am Gemeinwohl orientierten Wohlfahrtsstaates. Versteht man Fiss aus diesem Kontext heraus, wofür einiges spricht, so verläuft die Linie nicht zwischen settlement und adjudication, ADR und Rechtsprechung, Mediation und Zivilprozess, sondern stattdessen zwischen Neoliberalismus und Wohlfahrtsstaat, Individualismus und Solidarität, Privatinteressen und Gemeinwohl, objektiven Werten und subjektiven Interessen sowie zwischen dem Recht des Stärkeren, das im freien Spiel der Kräfte obsiegt und der Gerechtigkeit durch Bindung an Recht und Gesetz. Versteht man den Hintergrund der Diskussion daher weniger als binäre Wahl zwischen zwei unterschiedlichen Verfahren gesellschaftlicher Ordnung, sondern stattdessen als Dichotomie der zunächst von den Verfahren als solchen unabhängigen Zielsetzungen, die den einzelnen Verfahren gesellschaftlicher Steuerung beigelegt werden kann, eines unterschiedlichen Verständnisses des Staates und seines Handelns und unterschiedlichen politischen Ideologien, so wird die auf den ersten Blick erhebliche Kluft zwischen beiden Verfahren deutlich geringer. Denn wie wir im Folgenden sehen werden, verfolgen beide Verfahren durchaus die gleichen Ziele, sind ähnlichen Idealen und Grundsätzen verpflichtet und stehen beide im Dienst der Verwirklichung objektiver Gerechtigkeit, auch wenn sie diese Zielvorgaben auf ihre je unterschiedliche Weise und ihrerseits nicht immer vollkommen umzusetzen versuchen.166 Daher sind viele der von Fiss kritisierten Problembereiche, wie etwa die strukturellen Machtungleichgewichte und der Zugang zum Recht, in beiden Verfahren relevant und im Mediationsverfahren wie im Zivilprozess gleichermaßen auf angemessene Weise zu bewältigen.167 Konsensuale und streitige Verfahren sind darüber hinaus heute bereits auf so vielfältige Weise miteinander verzahnt, dass sie weniger als getrennte, einander ausschließende Steuerungsprozesse, sondern stattdessen als strukturell komplementäre, einander gegenseitig bedingende, gleichsam symbiotische Verfahren zu verstehen sind, wie wir sie im Rahmen unserer vergleichenden Strukturanalyse kennengelernt haben.168 Vor diesem Hintergrund wird die Antwort auf die von Fiss aufgeworfenen Fragen differenziert ausfallen müssen. Sie erfordert indes einen objektiven Blick auf die Funktion, die Struktur, die Wirkungen und davon ausgehend die Risiken beider Verfahren, wie sie sich nicht in ihrer idealisierten Form, sondern
166 Zu den Verfahrenszielen von Mediation und Zivilprozess eingehend unten S. 558 ff. sowie 614 ff. 167 Zur Problematik der Grenzen privatautonomen Handelns aufgrund von Machtungleichgewichten und dem Problem mangelnder self-agency vgl. die Fallstudien oben S. 344 ff. 168 Hierzu eingehend oben S. 107 ff.
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in der Realität der Rechtspraxis darstellen.169 Im Folgenden wollen wir daher beide Verfahren als Ganzes näher in den Blick nehmen. Damit treten eine Reihe grundlegender Erwägungen in den Mittelpunkt, die im Rahmen der ADR Diskussion häufig ausgeblendet werden: Wie bewähren sich Mediation und Zivilprozess nebeneinander als Formen gesellschaftlicher Steuerung? Welche Folgen haben die sich komplementär gegenüberstehenden Prämissen beider Verfahrenstypen? Kommt es zu einer Verrechtlichung der Mediation oder wird die Orientierung an den Interessen das Leitbild staatlichen Handelns? Welche Auswirkungen hat die Mediation auf die Rechtsbewährungs- und Rechtsfortbildungsfunktion, die durch den streitigen Zivilprozess ausgeübt wird? aa) Against Settlement: Die klassische Kritik der Mediation Droht eine Privatisierung staatlicher Rechtsgewährung und staatlicher Justiz, bei der objektive Rechtsnormen durch die subjektiven Interessen der Parteien ersetzt werden und bei der Formen privater Steuerung an die Stelle des staatlichen Ordnungsanspruchs treten? Zieht sich der Staat aus einem Teilbereich gesellschaftlicher Verantwortung zurück und überlässt das Feld demokratisch nicht legitimierten privaten Akteuren, deren Handeln nicht am Gemeinwohl, sondern an der Maximierung ihrer privaten Partikularinteressen orientiert ist? Werden Recht und Gerechtigkeit zur bloßen Manövriermasse und durch die Maxime der Interessenmaximierung Privater ersetzt?170 Weicht das rechtsstaatliche Verfahren dem ungezügelten Ringen Privater, in dem unter dem Mantel des Zwangs zur Harmonie das Recht des Stärkeren gilt und die schwächere Partei, ihres Schutzes durch das Verfahren beraubt, sich dem Diktat des Stärkeren beugen muss? Kann der Zivilprozess die ihm aufgetragene Funktion der Bewahrung der objektiven Rechtsordnung, der Rechtsfortbildung und Rechtseinheit und schließlich auch seine Kapazität zur gesellschaftlichen und insbesondere zur institutionellen Reform171 überhaupt noch ausüben, wenn ihm durch den Drang zum Vergleich in weitem Umfang die hierfür notwendigen Rechtsfälle entzogen werden?
169 Darauf hat insbesondere Moffitt, 78 Fordham L. Rev. 1203, 1245 (2009) hingewiesen: „If we set out to compare settlement with litigation, we should do so responsibly. We should compare the idealized vision of settlement with the idealized vision of litigation. Or we should compare the sloppy reality of settlement in practice with the sloppy reality of litigation in practice.” 170 Zum Problem der Krise der Rechtsnorm durch die Konstituierung autonomer normativer Ordnungen im Mediationsverfahren eingehend oben S. 50 ff., 80 ff., 149 ff., 153 ff., 156 ff. sowie unten S. 612 ff., 638 ff., 803 f. 171 Zu diesen Funktionen des Zivilprozesses mit Blick auf Rechtsordnung und Gesellschaft eingehend unten S. 637 ff., 653 ff.
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Wären für die Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte der Parteien notwendige Entscheidungen wie Brown vs. Board of Education172 in einer Kultur des Vergleichs und des Kompromisses überhaupt noch möglich? Wird das Schreckgespenst der Auflösung des Rechts173, der Auflösung des Staates und der Auflösung jeglicher staatlicher Ordnung174, das in der jüngeren Diskussion immer wieder auftaucht, Wirklichkeit? Droht ein weitreichender Normenrelativismus, bei dem die objektiven, öffentlichen Werte der Verfassung durch die subjektiven, privaten Interessen Einzelner ersetzt werden? Stehen Normen und Werte, die als anerkannte Grundprinzipien staatlicher Ordnung dem Verfassungsstaat unabdingbar zugrunde liegen und die der Staat bislang mit den Mitteln des Rechts selbst gewährleistet hat in einem kooperativen Verhandlungsstaat als Manövriermasse plötzlich zur Disposition? Welche Auswirkungen hat die von einigen Teilen des Schrifttums ausgemachte aktuelle Deregulierungsund Entnormierungstendenz, der Wandel vom regulativen zum kooperativen Staat? Konstituiert die Mediation tatsächlich ein System autonomer Ordnung, das in Konkurrenz und bisweilen in Widerspruch zur objektiven Rechtsordnung tritt? bb) For Settlement: Die Kritik des Zivilprozesses Oder wird mit dem Aufbrechen des hoheitlichen Justizmonopols als Ausdruck einer spezifisch staatsgerichteten und konfrontativen Konfliktkultur in Deutschland nicht vielmehr eine nachteilige Engführung auf den Zivilprozess als ein Verfahren korrigiert, das aufgrund seiner eskalierenden Wirkung auf den Konflikt, der erheblichen Belastungen der Parteien und systemimmanenten Grenzen nicht nur zur effektiven Beilegung von Konflikten wenig geeignet ist, sondern darüber hinaus erhebliche materielle wie immaterielle gesellschaftliche Kosten nach sich zieht? Hat nicht gerade die Entwicklung des Zivilprozessrechts, das verstärkt um den Ausgleich der negativen sozialen Folgen des zivilgerichtlichen Verfahrens bemüht war, gezeigt, dass die Fokussierung auf den Zivilprozess als Monokultur aufgrund seiner Auswirkungen auf den Konflikt, auf die Parteien und auf die Gesellschaft dringend einer Korrektur bedarf? Ist der „Kampf ums Recht“175, den auch der moderne Zivilprozess durch seine Festlegung der Akteure in formalisierten Rollen kontradiktorisch einander gegenüberstehender Gegner verlangt, für das einvernehmliche Zusammenleben in der Gesellschaft wirklich förderlich? Oder entspricht nicht gerade die Medi-
172
347 U.S. 483 (1954). Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161, 1161 ff. 174 Grimm, in: Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat (2. Aufl 1998), S. 27, 51 ff. 175 So v. Ihering, Der Kampf um's Recht (1872), S. 11, 45. 173
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ation als Verfahren zur Güte dem gesellschaftlichen Erfordernis der Kooperation wie auch dem Wesen des Menschen als homo cooporativus176, dem als soziales Wesen die Orientierung auf den anderen hin als gleichsam natürliche Form seines Seins seit jeher eingestiftet ist und der von seinen natürlichen Anlagen her auf funktionierende Beziehungen und die Kooperation mit anderen angewiesen ist? Ist die moderne ADR-Bewegung damit nicht letztlich Ausdruck jenes Elements informaler Billigkeit, das als Kehrseite formaler Gerechtigkeit dem Recht seit jeher innewohnt und in unterschiedlicher Form geschichtliche Gestalt angenommen hat? Ist das Recht des Einzelnen, seine Rechtsbeziehungen eigenverantwortlich zu gestalten, nicht die Grundlage, auf der das System des Privatrechts ruht, und das bestimmende Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung? Ist nicht, wie das BVerfG festgestellt hat, das Bemühen, „eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, … auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung“?177 Hat die ADR-Bewegung nicht gerade in dem Bemühen ihren Ursprung, Zugangs- und Erfolgsbarrieren für den Zugang zum Recht zu überwinden und gerade sozial schwachen Parteien mit der Mediation eine gegenüber dem kostenintensiven und einschüchternden Gerichtssystem leichter zugängliche Form der Rechtsverfolgung und der Beilegung von Konflikten zu ermöglichen? Stand das Bemühen um eine gruppenunmittelbare Konfliktbeilegung und die Initiierung gesellschaftlicher Veränderungen durch Stärkung der CommunityIdee und neue Formen der Justiz nicht am Beginn der ADR-Bewegung, die nicht zufällig zeitgleich mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ihren Anfang nahm? Entspricht nicht gerade die Mediation als „gerechtes Verfahren“ informaler Billigkeit jenem Anspruch der Gerechtigkeit, der nach dem Grundsatz des suum cuique tribuere jedem das ihm nach seiner Natur und Berufung zur Entfaltung seiner Person Zustehende, nämlich das, was seinen Bedürfnissen und Interessen entspricht, zukommen lässt? Liegt in dem für die Mediation unabdingbaren multilateralen Rollentausch, der mit den eigenen zugleich auch die Interessen der anderen Parteien in Blick nimmt, nicht jener vollkommene Gebrauch der regula aurea, der allein einer reifen Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit entspricht? Und sind die Bemühungen um eine Förderung der gütlichen Einigung, die das Zivilverfahrensrecht seit jeher 176 Vgl. für den Begriff Rogall, Neue Umweltökonomie (2002), S. 115 sowie für den sysnonomen Begriff des homo reciprocans Falk, Homo oeconomicus, Working Paper No. 79 (2001). Zu der diesem Menschenbild zugrunde liegenden Gerechtigkeitsforschung vgl. nur Ockenfels, Fairneß, Reziprozität und Eigennutz (1999), S. 37 ff., 131 ff. Bolton/Ockenfels, in: Plott/Smith (Hrsg.), Handbook of experimental economics results I (2008), S. 531 sowie die oben S. 83 Fn. 439 sowie zur spieltheoretischen Forschung Kahneman, 73 Am. Econ. Rev. 728 (1986); Nowak/Page/Sigmund, 289 Science 1773, 1773 (2000); Eidenmüller, JZ 2005, 216, 219; Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse (5. Aufl. 2012), S. 109 mwN. 177 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren).
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durchziehen, nicht Ausdruck einer Notwendigkeit an Kooperation und Versöhnung, deren das menschliche Zusammenleben als lebensnotwendige Grundlage so dringend bedarf? Diesen Fragen wollen wir nun im Einzelnen für das Mediationsverfahren und den Zivilprozess nachgehen. b) Das Mediationsverfahren: Funktion, Struktur und Wirkungen Die Mediation ist in der heutigen Rechtspraxis das konsensuale Verfahren, das ADR-Verfahren schlechthin. Als drittunterstützte Verhandlung weist sie dem Mediator die Verfahrens-, den Parteien die Ergebnisverantwortung zu. In seiner heutigen Gestalt ist das Mediationsverfahren ein vergleichsweise junges Phänomen. Obwohl die Vermittlung im Konflikt zu den Urformen der Streitbeilegung gehört und die gütliche Einigung daher seit jeher Bestandteil menschlichen Zusammenlebens und damit auch Teil der Ordnung des Rechts gewesen ist, ist ihr der entscheidende Durchbruch in der Rechtspraxis und insbesondere in methodischer Hinsicht erst mit dem von Fisher, Ury und Patton begründeten Konzept interessenorientierter Verhandlung gelungen. Mit ihm wurde aus dem positionsorientierten Feilschen um einen Kompromiss die konstruktive, an den Interessen beider Parteien orientierte Lösung eines gemeinsamen Problems, die erst den Weg zu wertschöpfenden, pareto-optimalen Kooperationsgewinnen und damit zu echten win-win-Lösungen eröffnete. Während die klassischen Vorteile der Mediation regelmäßig in der Zeit- und Kostenersparnis, der Qualität der herbeigeführten beiderseits interessengerechten Lösungen, der Flexibilität und Privatautonomie und der Beziehungsgerechtigkeit gesehen werden, bestehen die Nachteile des Verfahrens klassischerweise in der Gefahr der Benachteiligung der verhandlungsschwächeren Partei, in der Zustimmung zu objektiv ungerechten Lösungen aufgrund von Einigungsdruck, in dem Ausnutzen offener Kommunikation durch den Verhandlungspartner und in dem bei einem Scheitern der Mediation eintretenden Zeitverlust. Mit diesen schlaglichtartig skizzierten Kategorien ist das Mediationsverfahren indes nur unvollständig beschrieben. Wir wollen daher im Folgenden zunächst die Funktion der Mediation als Verfahren gesellschaftlicher Steuerung näher untersuchen und uns sodann seine Struktur, seine Wirkungen und schließlich auch seine Risiken in den Blick nehmen.
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aa) Funktion In der Rechtspraxis wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion steht vor allem die privatautonome178 Konfliktbeilegungsfunktion des Mediationsverfahrens179, die Mediation „als Methode und Instrument der Konfliktmittlung“180, als „Verfahren der Alternativen Streitbeilegung“181 im Mittelpunkt des Interesses. Die Fokussierung auf die Kapazität und die Aufgabe der Mediation, Konflikte eigenverantwortlich und effektiv, d.h. nicht nur schneller und kostengünstiger, sondern darüber hinaus auch interessengerechter und damit nachhaltiger und dauerhafter beizulegen, als dies im streitigen Zivilprozess möglich ist, hat letztlich in dem Begriff der Alternative Dispute Resolution seinen Niederschlag gefunden, der die Hinwendung zu konsensualen Verfahren als Ganzes beschreibt. Die Funktion des Mediationsverfahrens lässt sich indes nicht allein auf die Beilegung von Konflikten beschränken. Schon am Beginn der ADR-Bewegung traten neben die Konfliktbeilegung weitergehende Ziele, wie etwa der Zugang zum Recht (Access to Justice)182, die Versöhnung183 und die Stärkung des Community-Gedankens184694 durch gruppenunmittelbare Konfliktbeilegung, die als Motive und Motivatoren bei der Etablierung und Förderung von Mediationsprogrammen eine wesentliche Rolle spielten. Abhängig von den Interessen der beteiligten Gruppen und dem jeweils vorausgesetzten Menschenbild bzw. Gesellschaftsideal, das der Anwendung des Mediationsverfahrens jedenfalls implizit zugrunde liegt, können die Parteien, die Mediatoren und die Entwickler von Mediationsprogrammen ganz unterschiedliche Ziele verfolgen, die häufig nicht offengelegt und von den Parteien häufig auch nicht bewusst reflektiert werden.185 Diese Ziele bzw. die Funktion, die das Mediationsverfahren für die Beteiligten erfüllen soll, bestimmen ganz erheblich die nähere Ausgestaltung
178
Vgl. hierzu unten S. 567 ff. Vgl. hierzu unten S. 560 ff. 180 So etwa der Titel des Aufsatzes von Pitschas, NVwZ 2004, 396. 181 Vgl. statt vieler nur Breidenbach, Mediation (1995), S. 11 ff.; Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 6 ff. jeweils mwN. Vgl. hierzu auch die legislativen Texte, etwa ErwG. 3 der europäischen Mediationsrichtlinie ( Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3.) sowie bereits den Titel des MedFördG – „Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung“ v. 12.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. – und BT-Drucks. 17/8058, S. 17 ff. (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum MedFördG). 182 Vgl. hierzu unten S. 563 ff. 183 Vgl. hierzu unten S. 569 ff. 184 Vgl. hierzu unten S. 579 ff. 185 Ähnlich auch Breidenbach, Mediation (1995), S. 114. 179
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und den weiteren Einsatz des Verfahrens sowie das Verhalten der Beteiligten.186 Sie werden regelmäßig nicht isoliert auftreten, weil sie auf vielfältige Weise miteinander verzahnt sind und sich gegenseitig bedingen. Als notwendig eintretende objektive Wirkungen sind sie jedoch in unterschiedlicher Intensität stets Bestandteil des Mediationsverfahrens. Inwieweit die Parteien sich eine bestimmte Funktion auch subjektiv zu eigen machen oder etwa die Ausgestaltung des Mediationsprogramms auf ein bestimmtes Ziel hin ausrichten, hängt von den jeweiligen Interessen der Beteiligten und dem von ihnen geteilten grundlegenden Menschen- und Gesellschaftsbild ab und kann sich darüber hinaus auch im Lauf der Zeit verändern. Die Mediation stellt sich damit als vielseitig einsetzbares Instrument zur Verwirklichung unterschiedlicher Zielvorstellungen dar, das vielfältige, jeweils ganz spezifische Funktionen zu erfüllen vermag. Obwohl die Zielvorstellungen von den Beteiligten jeweils subjektiv bestimmt werden, sind die Funktionen, die das Mediationsverfahren erfüllen kann, durch seine Struktur187 und die dadurch bedingten Verfahrenswirkungen188 objektiv vorgegeben. Dadurch wird auch die Funktion des Verfahrens selbst objektiviert, weil die Mediation aufgrund der ihr eigenen Wirkmechanismen auch dann – jedenfalls gleichsam als Nebenfolge – objektiv eine bestimmte Funktion erfüllt, wenn diese von den Beteiligten nicht beabsichtigt oder bewusst reflektiert wird. Für unsere Untersuchung richten wir unseren Blick daher auf die Kapazität und die Wirkung der Mediation und damit auf die Funktionen, die das Mediationsverfahren aufgrund seiner Struktur und Wirkungen erfüllen kann und regelmäßig auch erfüllen wird. Dabei gehen wir von der von Breidenbach entwickelten Typologie aus, die fünf idealtypische Funktionen bzw. „MediationsProjekte“ unterscheidet189: Service-Delivery, Access to Justice-Project, Individual Autonomy, Reconciliation, Social Transformation.
186
Breidenbach, Mediation (1995), S. 114. Vgl. hierzu oben S. 107 sowie unten S. 586 ff. 188 Vgl. hierzu unten S. 597 ff. 189 Vgl. hierzu eingehend Breidenbach, Mediation (1995), S. 119 ff. Diese Klassifikation hat sich als zweckmäßig erwiesen, da sie die im Schrifttum wie auch in der Rechtspraxis diskutierten Zielvorstellungen adäquat erfasst. Andere Klassifikationen, wie etwa die Typologie von Bush, 66 Denv. U. L. Rev. 335, 349 ff. (1989), der 50 „sub-objectives” sechs Gruppen von „general quality goals or definitions“ zuordnet, fügen Breidenbachs Klassifikation nichts Wesentliches hinzu. 187
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(1) Konfliktbeilegung: Service Delivery Project Die Konfliktbeilegungsfunktion ist die zentrale Funktion des Mediationsverfahrens.190 Als ADR-Verfahren, d.h. als Verfahren der alternativen Streitbeilegung, tritt die Mediation in Wettbewerb zum Zivilprozess bzw. dem Schiedsverfahren als streitigen Konfliktbeilegungsverfahren. Wird der Blick auf die ausschließliche Funktion der Beilegung eines Konfliktes reduziert, so erweist sich die Mediation in einer insoweit pragmatischen, „instrumentelle(n) Verhandlungsperspektive“191 als geeignetes „Service-Unternehmen“192 für die Dienstleistung der Beilegung von Konflikten. (a) Effektive Konfliktbeilegung Die besondere Eignung der Mediation als Verfahren zur effektiven Konfliktbeilegung ergibt sich dabei aus den Verfahrenseigenschaften und Wirkungen, die ihre Leistungsfähigkeit im Vergleich zum Zivilprozess begründen: Das Mediationsverfahren ermöglicht in materieller Hinsicht eine umsetzbare und damit auch nachhaltige und dauerhafte Beilegung des Konfliktes, der nicht nur durch autoritativen Entscheid eines Dritten lediglich beendet, sondern von den unmittelbar betroffenen Parteien selbst durch die möglichst weitgehende, objektiv gerechte Befriedigung der beiderseitigen Interessen auch ursächlich auf kreative, wertschöpfende Weise beigelegt wird. Die Tatsache, dass dies in prozeduraler Hinsicht privatautonom, flexibel sowie zeit- und kostensparend und somit auch effizient möglich ist, macht die Mediation zu einem Verfahren, das Konflikte grundsätzlich wesentlich effektiver beizulegen als autoritative Drittentscheidungsverfahren wie der Zivilprozess oder das Schiedsverfahren. Die Eignung der Mediation zur effektiven Konfliktbeilegung ergibt sich damit aus der gegenüber dem Zivilprozess grundsätzlich möglichen höheren Ergebnis- und einer besonderen Verfahrensqualität, die auf der privatautonomen Beteiligung der unmittelbar betroffenen Parteien, der Flexibilität, der deutlich geringeren psychischen und emotionalen Belastung, der Wiederherstellung der Beziehung, dem geringen zeitlichen Aufwand sowie den niedrigen Verfahrenskosten beruht. Diese Verfahrenseigenschaften sind durch die Strukturmerkmale des Mediationsverfahrens bedingt, welche die systemimmanenten Grenzen gerichtlicher Streitbeilegung in komplementärer Weise idealtypisch ausgleichen und die Grundlage für den der Mediation eigenen Wirkmechanismus bilden: Privatautonomie, Kooperation, Interessenorientierung, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität, Vermittlung durch neutralen Dritten.
190 Zum Service Delivery Project vgl. eingehend Breidenbach, Mediation (1995), S. 120 ff. 191 So Breidenbach, Mediation (1995), S. 120. 192 Breidenbach, Mediation (1995), S. 120.
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(b) Objektive Gerechtigkeit und Interessenverwirklichung Von besonderer Bedeutung für die Kapazität der Mediation als Instrument effektiver Konfliktbeilegung sind dabei die objektive Gerechtigkeit (Fairness)193 des Ergebnisses und das Maß, in dem es die Interessen194 beider Parteien gleichermaßen verwirklicht. Das Mediationsverfahren bezieht seine Leistungsfähigkeit und seine Attraktivität gerade aus seiner Fähigkeit, den Konflikt als Ganzes in der Vielfalt seiner unterschiedlichen Dimensionen zu erfassen und insbesondere die hinter den geltend gemachten Positionen stehenden tatsächlichen Interessen der Parteien zu berücksichtigen. Dadurch wird es möglich, das Nullsummenspiel des binären Schematismus195 der auf der Anwendung abstrakt-genereller Normen beruhenden und dem Zivilprozess eigenen Alles-oderNichts-Entscheidungen196 zu durchbrechen, auf die konkreten Bedürfnisse der Parteien zugeschnittene, beiderseits interessengerechte win-win-Lösungen zu entwickeln und so die im konkreten Fall möglichen jeweils pareto-optimalen Kooperationsgewinne zu realisieren. Die Kapazität des Mediationsverfahrens ist indes nicht lediglich auf die „bloße“ Interessenverwirklichung im Sinne einer interessengerechten Verteilung des vorhandenen Wertes beschränkt, sondern geht mit der durch Kooperation und Synergien ermöglichten Fähigkeit zur kreativen Wertschöpfung weit darüber hinaus. Die Verteilung der so geschaffenen Werte erfolgt dabei regelmäßig nicht auf der Grundlage der individuellen Machtverhältnisse, des jeweiligen Verhandlungsgeschicks oder subjektiver Präferenzen, sondern grundsätzlich aufgrund
193 Zur Bedeutung der Gerechtigkeit in der Mediation eingehend oben S. 167 ff., 182 ff., 206 ff., 230 ff. 194 Zur zentralen Bedeutung der Interessen vgl. oben S. 170 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff. 195 So Luhmann, in: Asmussen/Pawlik (Hrsg.), Material über Zukunftsaspekte der Rechtspolitik (1976), S. 67, 69; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. Kritisch Kaupen, in: Blankenburg/Klausa/Rottleuthner (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht (1980), S. 113. Vgl. hierzu auch Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Stürner, DRiZ 1976, 202, 203; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff.; Röhl, SchlHA 1979, 134, 138; Stürner, JR 1979, 133, 135; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 18 ff.; Falke/Gessner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 294 ff.; Eisenberg, 89 Harv. L. Rev. 637, 654 ff. (1976); Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1, 7, 18 (1991); Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 361 f. (2005). 196 Hierzu eingehend oben S. 20 ff.
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objektiver Kriterien.197 Diese entsprechen im Kern den klassischen Prinzipien distributiver und kommutativer Gerechtigkeit, wie sie in der objektiven Rechtsordnung durch die gesetzlichen Normen und die sie auslegende Rechtsprechung konkretisiert worden sind. Wie wir gesehen haben, fließt das materielle Recht, in dessen Schatten die Mediation erfolgt, damit auf vielfältige Weise in die Einigungsentscheidung der Parteien ein. Die besondere Eignung der Mediation als Instrument effektiver Konfliktbeilegung ergibt sich insbesondere aus der Kombination beider Elemente, der objektiven Gerechtigkeit auf der einen und der Interessenverwirklichung auf der anderen Seite, die als Kehrseite der jeweils anderen die zwei komplementären Aspekte desselben Prinzips der Gerechtigkeit bilden.198 Wo die Interessenverwirklichung die Grenzen rein formaler Gerechtigkeit überwindet, bietet die durch normative Kriterien gewährleistete objektive Gerechtigkeit jenen Schutz vor Übervorteilung und Ausnutzung der schwächeren Partei, der gerade durch das Prinzip formaler Gerechtigkeit gewährleistet wird. So werden die Vorteile informaler Billigkeit und formaler Gerechtigkeit im Mediationsverfahren zu einer Einheit verschmolzen, und vielleicht liegt gerade in dieser Synthese der beiden komplementären Aspekte der Gerechtigkeit das tiefere Geheimnis des Erfolges und der Attraktivität des Mediationsverfahrens. (c) Entlastung der Justiz Eng verbunden mit der Konfliktbeilegungsfunktion des Mediationsverfahrens ist seine Entlastungsfunktion für die staatliche Ziviljustiz. In dem Maße, in dem die Parteien auf die Mediation als Alternative zum staatlichen Zivilprozess zurückgreifen und sich die Mediation damit im Wettbewerb gegenüber dem Zivilprozess erfolgreich behauptet, tritt eine Entlastungswirkung im Hinblick auf die an den staatlichen Gerichten anhängigen Zivilverfahren ein.199 Diese Entlastungswirkung wird durch die hohe Attraktivität der Mediation bedingt, die
197 Zur Bedeutung sog. objektiver Kriterien vgl. oben S. 171 ff. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 81 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 78 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 64, 223 ff. Zu Kriterien der wertmäßigen Bestimmung objektiver Äquivalenz oben S. 212 ff. sowie zu distributiven Gerechtigkeitskriterien im Mediationsverfahren oben S. 222 ff. 198 Vgl. zur Bedeutung der Interessenverwirklichung für ein gerechtes Ergebnis oben S. 222 ff. 199 Dies setzt freilich voraus, dass die Mediation weitgehend auch jene Verfahren erfasst, die sonst vor den staatlichen Gerichten im streitigen Zivilprozess verhandelt werden würden. Dies scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zum Access to Justice Projekt zu stehen, bei dem es gerade darum geht, jenen Parteien einen Zugang zu einem Konfliktbeilegungsverfahren zu öffnen, denen aufgrund mangelnder materieller oder immaterieller Ressourcen der Weg zu den Gerichten versperrt oder erschwert ist, und das gerade jene Fälle erfassen
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sich als Verfahren effektiver Konfliktbeilegung im Wettbewerb mit dem Zivilprozess bewährt. Die Verfahrensfunktion der Entlastung der Justiz ist für die unmittelbar an der Mediation Beteiligten, d.h. für die Parteien und den Mediator, regelmäßig kaum von Bedeutung. Relevant ist sie jedoch vor allem für die staatlichen Justizverwaltungen, und ihr kommt daher bei der rechtspolitischen Diskussion über die Förderung und weitere Institutionalisierung der Mediation insbesondere im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme eine zentrale Rolle zu.200 Die Konfliktbewältigungsfunktion des Mediationsverfahrens, das Service Delivery Project, steht in einem engen Wechselverhältnis zu seinen übrigen Funktionen. So setzt sie auf der einen Seite Privatautonomie (Individual Autonomy Project), Versöhnung und die Transformation der Beziehung der Parteien zueinander (Reconciliation Project) voraus. Auf der anderen Seite ermöglicht sie den Zugang der Parteien zum Recht (Access to Justice) und eine soziale Transformationsfunktion (Social Transformation Project). (2) Gewährung des Zugangs zum Recht: Access to Justice Project Neben die Funktion der Konfliktbeilegung im Sinne des Service Delivery Project ist seit Beginn der ADR-Bewegung stets auch der Aspekt des Zugangs zum Recht, das Access to Justice Project getreten.201 Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland stand das Bemühen um einen besseren „Zugang zum Recht“ am Anfang der Diskussion um alternative Verfahren der Streitbeilegung. Das Access to Justice Project ist seitdem indes weitgehend in den Hintergrund getreten und hat in jüngster Zeit erst durch die Förderung der Mediation auf europäischer Ebene neue Impulse erhalten. (a) Verringerung der Zugangsbarrieren zum Recht Nach Auffassung der Europäischen Kommission erschweren die zunehmende Überlastung der Gerichte, die Dauer der Verfahren, die hohen Kosten sowie
will, bei denen aufgrund ihres Bagatellcharakters die Einleitung eines streitigen Gerichtsverfahrens außer Verhältnis zum Wert des Streitgegenstandes stünde. Allerdings schließen sich beide Zielrichtungen keineswegs gegenseitig aus: So kann eine Entlastungswirkung selbstverständlich auch dann eintreten, wenn die Mediation sowohl jene Fälle erfasst, die sonst vor den staatlichen Gerichten entschieden würden, als auch neue Fälle erschließt, bei denen die Parteien aufgrund des damit verbundenen Aufwandes von einer klageweisen Beilegung absehen. 200 Vgl. hierzu nur Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 49 ff.; Alexander, ZKM 2007, 144, 149 („In Deutschland ist die Entlastung der Justiz ein wichtiges Thema im Zusammenhang mit gerichtsnaher Mediation.“); v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 6 f. 201 So die Terminologie bei Breidenbach, Mediation (1995), S. 122 f.
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die wachsende Vielzahl und Komplexität der Rechtsvorschriften dem Bürger die effektive Wahrnehmung seiner Rechte.202 Der Forderung, das nach Art. 6 der EMRK garantierte Grundrecht auf effektiven Zugang zum Recht umfassend zu gewährleisten, können die Mitgliedstaaten vor allem durch die Bereitstellung schneller und kostengünstiger Verfahren wie etwa der Mediation nachkommen.203 Indem sie die Beseitigung bestehender Zugangsbarrieren zum Recht in den Blick nimmt, knüpft die Kommission wieder an eines der wesentlichen Motive aus der Anfangszeit und damit an die Wurzeln der ADR-Bewegung an. Im Gegensatz zu den ADR-Pionieren ist der Ansatz der Kommission allerdings indes weniger sozialkritisch als pragmatisch orientiert: Der Fokus liegt in der aktuellen rechtspolitischen Diskussion weniger auf der Beseitigung spezifischer Diskriminierung sozial schwacher Minderheiten, denen aufgrund einer ungleichen Verteilung materieller oder immaterieller Ressourcen der Zugang zum Recht in tatsächlicher Hinsicht erschwert ist. Er ist vielmehr auf die Beseitigung jener allgemeinen Zugangsbarrieren gerichtet, die nicht auf spezifischer Diskriminierung, sondern auf den Verfahrenseigenschaften des Zivilprozesses – lange Dauer, hohe Kosten, binäre Sachentscheidung – und der immer komplexer werdenden, sich rasant entwickelnden globalisierten Rechtswirklichkeit beruhen.204 Das Steuerungsproblem, dass der Zivilprozess als Regulierungsinstrument in einer globalisierten Rechts- und Wirtschaftswelt zunehmend an seine Grenzen gelangt, spitzt sich bei grenzüberschreitenden Streitigkeiten zu, und so verwundert es nicht, dass die Impulse zur Förderung der alternativen Streitbeilegung mittlerweile in besonderer Weise von europäischer Ebene ausgehen. Neben diesen (a) allgemeinen Zugangsbarrieren zum Recht, die durch die systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses und die Veränderung in der Rechts- und Wirtschaftswelt bedingt sind, bestehen spezifische Zugangshindernisse, die ganz bestimmte Personengruppen betreffen. So hat die empirische Forschung gezeigt, dass (b) strukturelle Machtungleichgewichte – etwa durch eine ungleiche Verteilung materieller wie immaterieller Ressourcen, Informationsasymmetrien oder unterschiedliche persönliche Fähigkeiten – den Zugang der Betroffenen zur Ziviljustiz erheblich erschweren können. Und schließlich gibt es (c) eine ganze Reihe von Fällen – etwa Bagatell- oder Verbraucherstreitigkeiten –, in denen sich die Einleitung eines Zivilprozesses nicht lohnt und den Parteien aufgrund des Fehlens niedrigschwelliger Konfliktbeilegungsmechanismen damit jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht der Zugang zum Recht 202
So ausdrücklich das Grünbuch der Kommission v. 19.4. 2002 „Alternative Verfahren zur Streitbeilegung im Zivil- und Handelsrecht“ (Grünbuch), KOM(2002) 196 endg., Rn. 5 f. 203 Grünbuch, KOM(2002) 196 endg., Rn. 7. 204 Vgl. hierzu eingehend Ritter, NJW 2001, 3440, 3343 ff.
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erschwert ist. Zusammenfassend ergeben sich somit drei unterschiedliche Arten von Zugangshindernissen zum Recht: a) allgemeine Zugangsbarrieren aufgrund der Schwächen des Zivilprozesses und der Veränderung der Lebenswirklichkeit, b) spezifische Zugangsbarrieren aufgrund struktureller Machtungleichgewichte sowie c) ebenfalls spezifische Zugangsbarrieren aufgrund eines im konkreten Fall bestehenden Missverhältnisses zwischen Aufwand und Nutzen.205 Das Ziel, einen besseren Zugang zum Recht gerade durch die Vermeidung des Zivilprozesses zu erreichen, erscheint dabei nur auf den ersten Blick paradox. Denn ihm liegt der Gedanke zugrunde, dass sich die durch die Rechtstatsachenforschung nachgewiesenen „Zugangs- und Erfolgsbarrieren auf dem Weg zum Recht“206 dadurch überwinden lassen, dass den Parteien nicht nur ein funktional gleichwertiges, sondern dem Zivilprozess in vielfacher Hinsicht überlegenes Verfahren der Streitbeilegung zur Verfügung gestellt wird: Die Mediation bietet den Parteien in prozessualer Hinsicht ein schnelles, kostengünstiges und flexibles Verfahren, das in materieller Hinsicht aufgrund ihrer Interessengerechtigkeit zu qualitativ besseren Ergebnissen führt und damit dem „Streitgegenstand häufig besser gerecht“207 wird. (b) Stärkung strukturell schwächerer Parteien Die Kompensation bestehender Zugangshindernisse zum Recht durch den Verweis auf konsensuale Verfahren wie die Mediation ist indes nicht unproblematisch. Während sie im Hinblick auf allgemeine Zugangsbarrieren keinen grundsätzlichen Bedenken unterliegt, kann sie in Fällen spezifischer Zugangsbarrieren aufgrund struktureller Machtungleichgewichte zu einem Spannungsverhältnis führen: Auf der einen Seite ist die Erleichterung des Zugangs zum Recht für strukturell schwächere Parteien und ihre Schutzbedürftigkeit in besonderer Weise geboten. Denn die erhebliche politische Bedeutung des Access
205 Im letzten Fall c) scheint schon auf den ersten Blick eine Überschneidung mit den allgemeinen Zugangsbarrieren der Fallgruppe a) zu bestehen, da sich auch im Regelfall der Zivilprozess aufgrund der mit ihm verbundenen Kosten und des zu erwartenden Nutzens nicht lohnen kann. Dies wird indes in der Regel nur einen kleinen Teil der anhängigen Klagen betreffen. Der Schwerpunkt der Fallgruppe a) liegt auf dem grundsätzlichen Leistungsdefizit des Zivilprozesses im Vergleich zur Mediation, der in einer sich immer schneller verändernden und immer komplexer werdenden globalisierten Welt nur noch eingeschränkt in der Lage ist, Konflikte entsprechend den Erwartungen der Beteiligten in angemessener Zeit, zu vertretbaren Kosten und in hinreichender Ergebnisqualität beizulegen. So ausdrücklich das Grünbuch der Kommission v. 19.4. 2002 „Alternative Verfahren zur Streitbeilegung im Zivil- und Handelsrecht“ (Grünbuch), KOM(2002) 196 endg., Rn. 7. Hervorhebung durch den Verfasser. 206 Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 514. 207 Grünbuch, KOM(2002) 196 endg., Rn. 9.
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to Justice Project erwächst hier aus der Tatsache, dass der Zugang zur Ziviljustiz durch die Kosten und die Dauer des Verfahrens nicht nur erschwert, sondern für strukturell schwächere Parteien häufig sogar versperrt wird.208 Es geht in diesen Fällen daher nicht um eine Kosten-Nutzen-Analyse und eventuell in Kauf zu nehmende zeitliche oder finanzielle Einbußen, sondern häufig um die Frage, ob den Parteien eine Rechtsverfolgung überhaupt noch möglich ist. Indem die Mediation den Parteien eine schnelle, flexible und kostengünstige Rechtsverfolgung ermöglicht, vermag sie in der Tat ein bestehendes Vakuum zu kompensieren. Sie stellt für viele Parteien häufig die einzige Möglichkeit dar, ihre Rechte und Interessen geltend zu machen. Auf der anderen Seite kann die Durchführung eines Mediationsverfahrens strukturell schwächeren Parteien gerade dadurch den Zugang zum Recht verwehren, dass diese durch das Versprechen einer schnelleren und kostengünstigeren Streitbeilegung auf ein für sie „nutzloses“ Verfahren verwiesen und so von Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes und der mit ihm gewährleisteten formalen Verfahrensgarantien abgehalten werden. Paradoxerweise liegt in der Tat gerade hier einer der zentralen Kritikpunkte, denen das Mediationsverfahren insbesondere im Zuge der Institutionalisierungsdebatte ausgesetzt ist: Ein Verfahren, das den Parteien eigentlich den Zugang zum Recht ermöglichen soll, wird von der strukturell stärkeren Partei durch das Ausnutzen eines bestehenden strukturellen Machtungleichgewichtes dazu missbraucht, gerade dies zu verhindern. Möglich wird dies nur durch die Ausrichtung des Mediationsverfahrens auf die Privatautonomie der Parteien, die grundsätzlich gerade die Stärke der Mediation ausmacht, sich indes bei fehlender Verhandlungsparität in einen erheblichen Verfahrensnachteil verwandelt. Denn wie wir bereits gesehen haben, taugt die auf der Privatautonomie der Parteien gründende Vertragsfreiheit „nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs“209. Sie setzt eine hinreichende Information der Parteien über die ihnen zustehenden subjektiven Rechte und die Fähigkeit voraus, für diese Rechte und Interessen eigenverantwortlich einzustehen (self-agency). Dass beide Voraussetzungen nicht nur von den subjektiven Fähigkeiten, der Bildung und dem Verhandlungsgeschick der jeweiligen Partei, sondern in ganz entscheidendem Maße auch von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe abhängen, ist durch die empirische Rechtstatsachenforschung nachgewiesen worden. Darüber hinaus haben wir im Rahmen unserer Fallstudien gesehen, dass in Fällen struktureller Machtungleichgewichte die Durchführung des Mediationsverfahrens die Parteien gerade von der Wahrnehmung ihrer Rechte und Interessen 208 Dies betrifft angesichts der Möglichkeit der Prozesskostenhilfe vor allem die Situation in den USA, jedoch können Bildungsdefizite und soziales Rollenverhalten der Parteien auch in Deutschland in tatsächlicher Hinsicht als erhebliche Zugangsbarriere zur Justiz wirken. 209 BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38 (Bürgschaft).
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und insbesondere von der Beschreitung des Rechtsweges abhalten kann. Der Eindruck, dass dies etwa im Rahmen der untersuchten US-amerikanischen housing courts durchaus systematisch geschieht, ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Damit die Mediation ihre Funktion als Zugangsinstrument zum Recht effektiv erfüllen kann, sind daher rechtsstaatliche Garantien erforderlich, die einen effektiven Schutz der schwächeren Partei gewährleisten.210 Nur so kann verhindert werden, dass das Mediationsverfahren von der Veranstaltungspartei zur Durchsetzung der eigenen Partikularinteressen missbraucht und der in tatsächlicher Hinsicht ungleich eröffnete Zugang zum Recht durch eine neue Ungleichheit ersetzt wird.211 Die Gewährleistung solcher Garantien entspricht, wie wir gesehen haben, zutiefst den tragenden Prinzipien des Mediationsverfahrens, insbesondere der tatsächlichen Privatautonomie der Parteien. Ihre Verletzung beeinträchtigt daher stets die Integrität des Mediationsverfahrens, so dass dem Mediator als Hüter der Privatautonomie und Wächter der Verfahrensintegrität die Aufgabe zukommt, durch die Anregung einer rechtlichen Vertretung der schwächeren Partei, durch geeignete Interventionen und als ultima ratio durch die Beendigung des Mediationsverfahrens sicherzustellen, dass beide Parteien gleichermaßen von der ihnen zustehenden Privatautonomie auch in tatsächlicher Hinsicht Gebrauch machen.212 (c) Schutz subjektiver Rechte In seiner Zielrichtung dient der Zugang zum Recht der Durchsetzung und dem Schutz der subjektiven Rechte der Parteien. Zugang zum Recht bedeutet dabei jedoch nicht stets Zugang zur Justiz oder zum zivilgerichtlichen Verfahren. Die Europäische Kommission sieht im Gegenteil das Gerichtsverfahren als eine von mehreren möglichen Formen an, den Bürgern einen Zugang zum Recht zu ermöglichen.213 Und wenn das BVerfG feststellt, dass das Bemühen, „eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, … auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung“214 sei, so setzt dies notwendig eine Vielfalt unterschiedlicher Wege zum Recht, einen Verfahrenspluralismus voraus, in dessen Rahmen dem Zivilprozess keineswegs ein Monopol und – wie das 210
Vgl. zur Problematik der Benachteiligung strukturell schwächerer Parteien im Mediationsverfahren oben S. 297 f., 336 ff., 344 ff., 461 ff. und zur Verantwortung des Mediators zum Ausgleich von Machtungleichgewichten oben S. 319 ff., 364 ff., 416 ff. 211 Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 193. 212 Vgl. hierzu oben S. 372, 376, 566, 569. 213 Dies kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass die Mitgliedstaaten nach Auffassung der Kommission dem Zugang zum Recht „unter anderem durch die Bereitstellung zügiger und kostengünstiger Gerichtsverfahren“ nachkommen. Grünbuch, KOM(2002) 196 endg., Rn. 7. 214 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren).
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Gericht deutlich macht – nicht einmal der Vorrang, sondern lediglich subsidiäre Bedeutung zukommt. Die Mediation ist damit in ihrer Rechtsgewährungsfunktion dem Zivilprozess grundsätzlich funktional äquivalent, aufgrund ihrer besonderen Verfahrenseigenschaften darüber hinaus in vielfacher Hinsicht überlegen. Indem den Parteien mit der Mediation ein mindestens gleichwertiges Instrument der Rechtsgewährung zur Verfügung gestellt wird, das aufgrund seiner geringen Kosten, des geringen zeitlichen Aufwandes und der geringen persönlichen Belastung für die Parteien deutlich einfacher zugänglich ist als der Zivilprozess, vermag das Mediationsverfahren die Funktion der Zugangsgewährung zum Recht effektiv zu erfüllen. Diese Funktion setzt Privatautonomie (Individual Autonomy Project), eine Versöhnung und die Transformation der Beziehung der Parteien zueinander (Reconciliation Project) und damit die Konfliktbeilegungsfunktion (Service Delivery Project) voraus und ermöglicht eine soziale Transformation (Social Transformation Project). (3) Ermöglichung privatautonomen Handelns: Individual Autonomy Project Eine wesentliche Funktion des Mediationsverfahrens besteht darin, die Parteien zu einer eigenverantwortlichen Wahrnehmung ihrer Interessen zu befähigen und ihnen so zu einer privatautonomen Beilegung ihres Konfliktes zu verhelfen.215 Dadurch wird ihnen ein effektiver Zugang zum Recht und damit eine effektive Konfliktbeilegung ermöglicht. Dieses selbstbestimmte Handeln der Parteien erfolgt auf der Grundlage der gegenseitigen Bedürfnisse und Interessen vor dem Hintergrund der absoluten, überpositiven „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent … sind“216 und innerhalb der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen. (a) Persönliches Wachstum der Parteien (empowerment) Die Funktion des Mediationsverfahrens, privatautonomes Handeln zu ermöglichen, bedarf der Erläuterung. Denn in rechtlicher Hinsicht steht es den Parteien jederzeit frei, von ihrer nach Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz verfassungsrechtlich garantierten Privatautonomie Gebrauch zu machen und ihre privaten Lebensverhältnisse im Rahmen der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen und entsprechend ihrer Bedürfnisse mit den Mitteln des Rechts frei zu gestalten. Allerdings sind die Parteien hierzu im Kontext eines Konfliktes in tatsächlicher Hinsicht regelmäßig nicht mehr uneingeschränkt in der Lage, weil das
215 Zum Individual Autonomy Project nach Breidenbach vgl. Breidenbach, Mediation (1995), S. 123 ff. Zur Bedeutung der Privatautonomie als wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Mediation vgl. oben S. 127, 130 ff., 137, 459 ff. 216 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya).
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intuitive, erlernte Verhandlungsverhalten bei der Bewältigung von Konfliktsituationen versagt.217 Anstatt den Konflikt selbst beizulegen, greifen die Beteiligten daher auf drittentscheidende Streitbeilegungsformen wie den Zivilprozess oder das Schiedsverfahren zurück.218 Die Ursache für das Autonomiedefizit der Parteien liegt damit 1) in ihrem defizitären, intuitiven Verhandlungsverhalten und 2) in den besonderen Herausforderungen einer Konfliktsituation. Das Mediationsverfahren setzt bei der erstgenannten Ursache an und versucht, die Parteien durch die unterstützende Mitwirkung des lediglich vermittelnden Mediators als neutralen Dritten zu einer eigenverantwortlichen Beilegung ihres Konfliktes zu befähigen. Dies geschieht dadurch, dass ihnen mit dem interessenorientierten, wertschöpfenden und auf Kooperation gegründeten Verhandlungsmodell ein Verfahren vermittelt wird, das sie in die Lage versetzt, die Defizite intuitiven Verhandlungsverhaltens zu überwinden.219 Die zentrale Funktion der Mediation besteht daher nicht darin, den Parteien eine neue, vorher nicht bestehende rechtliche Handlungsform zu öffnen. Sie besteht vielmehr darin die Parteien zu befähigen, die ihnen seit jeher zustehende Befugnis, ihre privaten Angelegenheiten und damit auch ihre Konflikte eigenverantwortlich zu regeln, tatsächlich wahrnehmen zu können. Die Mediation erfüllt somit für die Privatautonomie eine faktisch konstitutive Funktion und setzt im Kern einen Lern- und Transformationsprozess der Parteien in Gang, der durch den dem Mediationsverfahren eigenen Mechanismus operationalisiert wird. Der vom Mediationsverfahren initiierte Lernprozess trägt idealiter ganz erheblich zu einer Verhaltensänderung der Parteien bei, indem er die hierfür notwendigen Voraussetzungen schafft, auf der Ebene der inneren Einstellungen und Haltungen ansetzt und die Vorstellungen, das mindset der Parteien darüber, wie Konflikte beizulegen sind, grundlegend verändert. Dies betrifft etwa die Bedeutung der Interessen, der Kooperation, der Wertschöpfung und die Überwindung des Nullsummenmythos. Es initiiert zum anderen einen Transformationsprozess, der die Rolle des Einzelnen und die Beziehung der Parteien zueinander vollkommen verändert. Die Rolle des Einzelnen insoweit, als jede Partei
217
Zur Ineffektivität des intuitiven Verhandelns Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 3 ff.; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 288 ff. sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. 218 Zu den Folgen der adversarialen, gerichtlichen Streitbeilegung für den Konflikt vgl. eingehend oben S. 12 ff. 219 Zum Harvard Modell interessenorientierten Verhandelns eingehend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 15 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 23 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 57 ff.
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
aus der Rolle des Konfliktgegners in die Rolle des Problemlösers wechselt. Die Beziehung der Parteien zueinander, indem die Konfrontation der Parteien aufgebrochen und sie wieder aufeinander hin ausgerichtet werden. Diese Ausrichtung der Parteien aufeinander hin ist für die Mediation und damit für die erfolgreiche Beilegung des Konfliktes von zentraler Bedeutung. Sie ist so bedeutsam, dass Fuller in ihr das Wesen des Mediationsverfahrens insgesamt erkennt. Dieses durch den Lernprozess bedingte persönliche Wachstum der Parteien ist für jedes Mediationsverfahren – unabhängig von dessen Ausgestaltung und Ausrichtung – von konstitutiver, zentraler Bedeutung. Es ist die Voraussetzung für privatautonomes Handeln und wird auch dann wirksam, wenn das Mediationsprogramm nicht ausdrücklich einen transformativen Ansatz verfolgt.220 (b) Ausgleich von Machtungleichgewichten Der mit dem strukturierten Mediationsverfahren einhergehende Lernprozess der Parteien allein genügt noch nicht, um eine tatsächliche Ausübung der Privatautonomie zu gewährleisten. Ein privatautonomes Handeln setzt Information und die Fähigkeit voraus, für die eigenen Interessen effektiv einzustehen (self-agency). Dies ist, wie wir im Rahmen unserer empirischen Fallstudien gesehen haben, in Fällen struktureller Machtungleichgewichte, Informationsasymmetrien oder eines ungleichen Verhandlungsgeschicks regelmäßig nicht der Fall. Dem Mediator kommt daher als Hüter der Privatautonomie und damit als Wächter und Garant der Verfahrensintegrität in besonderer Weise die Aufgabe zu sicherzustellen, dass beiden Parteien gleichermaßen auch in tatsächlicher Hinsicht jedenfalls die Möglichkeit offensteht, von ihrer Privatautonomie Gebrauch machen zu können. Er kann dabei durch geeignete und angemessene Interventionen, die Information der Parteien sowie die Anregung der strukturell schwächeren Partei, rechtliche Vertretung in Anspruch zu nehmen, auf eine tatsächliche Waffengleichheit zwischen den Parteien hinwirken.221 Gelingt dies nicht und besteht die Gefahr, dass die schwächere Partei ausgenutzt und zu einem Vergleich gedrängt wird, der ihren Interessen und den ihr zustehenden Rechten in eklatanter Weise widerspricht, so steht dem Mediator als ultima ratio jederzeit die Möglichkeit offen, das Mediationsverfahren zu beenden und 220 Zur Bedeutung der Transformation der Parteibeziehung durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin als zentralem Wesenselement der Mediation vgl. oben S. 124 ff. , 471 ff. sowie Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). Zum Lern- und Transformationsprozess vgl. eingehend unten S. 664 f. und 782 f. 221 Vgl. hierzu und zur Rolle des Mediators eingehend oben S. 309 ff. (zum Rollenverständnis des Mediators nach dem Riskin-Grid), 360 ff. (zur Rolle des Mediators in der vertragsautonomen Mediation), 408 ff. (zur Rolle des Mediators in der gerichtsverbundenen Mediation). Vgl. zur Kompensation von Machtungleichgewichten oben S. 341 ff., 348 ff., 365 ff., 416 ff., unten S. 604 ff. sowie Breidenbach, Mediation (1995), S. 127 f.
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die Parteien auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes zu verweisen. (c) Effektive Konfliktbeilegung Die Befähigung der Parteien zur Ausübung ihrer Privatautonomie ist kein Selbstzweck, sondern steht im Dienst effektiver Konfliktbeilegung. Das Ziel des Mediationsverfahrens auf der Mikroebene, ein gutes, d.h. ein beiderseits interessengerechtes, objektiv faires, dauerhaftes, nachhaltiges und kreativwertschöpfendes Verhandlungsergebnis, das in einem effizienten und beziehungsschonenden Verfahren erzielt worden ist und zu einer Versöhnung der Parteien beiträgt, setzt zwingend die Mitwirkung der Parteien im Rahmen einer eigenverantwortlichen Gestaltung ihrer Einigungsentscheidung voraus. Materiell tragfähig ist ein Vergleich erst dann, wenn er den Konflikt ursächlich löst und nicht nur symptomatisch beilegt, indem er die Interessen beider Parteien miteinander integriert. Dies ist eine Entscheidung, die den Parteien von keinem Dritten abgenommen werden kann, weil sie allein als unmittelbare Konfliktbeteiligte alle relevanten Konfliktdimensionen wie auch ihre Interessen kennen und selbst am besten wissen, mit welcher Lösung sie auf Dauer leben können. Darüber hinaus sind sie aufgrund ihrer Beteiligung am Konflikt in besonderer Weise motiviert, zu einem qualitativ hochwertigen Einigungsergebnis und damit zur Beilegung des Konfliktes beizutragen. Prozedural verleiht die Mitwirkung der Parteien an der Einigungsentscheidung dem Vergleich Legitimität und die Gewähr der Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit, weil es schließlich die Parteien selbst sind, die das Ergebnis tragen und auch selbst umsetzen müssen. Die Privatautonomie der Parteien (Individual Autonomy Project) ist damit Voraussetzung für die übrigen Verfahrensfunktionen: Sie macht, wie wir gesehen haben, eine effektive Konfliktbeilegung (Service Delivery Project) und damit den Zugang zum Recht wie auch eine Transformation der Gesellschaft (Social Transformation Project) erst möglich. Und sie bildet darüber hinaus die Grundlage für eine nachhaltige Versöhnung der Parteien (Reconciliation Project), die wir nun im Folgenden näher in den Blick nehmen wollen. (4) Versöhnung und Befriedung: Reconciliation Project Die Versöhnung der Parteien und die damit verbundene Befriedung des Konfliktes gehört zu den zentralen Funktionen des Mediationsverfahrens.222 Der 222 Zum sog. Reconciliation Project vgl. Breidenbach, Mediation (1995), S. 130 ff. Vgl. zur Versöhnungsfunktion der Mediation Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971); Röhl, Rechtstheorie 8 (1977), 93, 111; Röhl, SchlHA 1979, 134, 139; Breidenbach, Mediation (1995), S. 237 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 4 ff., 13 f., 37 ff., 40, 45, 52, 136 ff.; Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 5, 84 f.; Wagner, RabelsZ 74 (2010), 794, 814. Zum Ursprung des germanischen Prozesses in einem Sühne-
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Gedanke der versöhnenden Befriedung, der Sühne, der Güte war, wie wir gesehen haben, seit jeher geschichtlich mit der Mediation bzw. der Streitvermittlung verbunden. Nach Fuller bildet die mit ihr verbundene Orientierung der Parteien aufeinander hin den Kern und das Wesen des Mediationsverfahrens überhaupt. Und schließlich hat auch die interdisziplinäre Verhandlungsforschung den Nachweis erbracht, dass eine effektive, interessenorientierte Beilegung von Konflikten die tatsächliche Kooperation der Parteien voraussetzt. Und diese ist ohne ein Mindestmaß an Versöhnung kaum denkbar. In der Rechtspraxis und insbesondere im Kontext der Wirtschaftsmediation tritt der Versöhnungsgedanke in der Wahrnehmung der Beteiligten dagegen deutlich in den Hintergrund. Versöhnung ist regelmäßig das letzte, was die Parteien von der Mediation erwarten.223 Der Fokus ist stattdessen darauf gerichtet, den Konflikt möglichst zügig und interessengerecht beizulegen. In diesem Zusammenhang sieht ein Teil des Schrifttums in der Versöhnung der Parteien als Ziel des Mediationsverfahrens die Gefahr, dass die Parteien im Rahmen einer „Harmonie-Ideologie“ gegen ihren Willen um des „lieben Friedens Willens“ zu einer Einigung gedrängt werden, die weder ihrer freien Entscheidung noch ihren Interessen oder den Grundsätzen objektiver Gerechtigkeit entspricht. Angesichts der Bedeutung der Versöhnung für die Mediation auf der einen und der Schärfe der Warnungen vor einem an der bloßen Befriedung des Konfliktes orientierten Einigungsdruck auf der anderen Seite bedarf es einer differenzierten Klärung. Entscheidend für die Bewertung der Rolle der Versöhnung als wesentlicher Funktion des Mediationsverfahrens sind vor allem zwei Aspekte, die wir im Folgenden näher in den Blick nehmen wollen: Ihre reale und nicht nur wahrgenommene Bedeutung als Voraussetzung für eine effektive Konfliktbeilegung und ihr Verhältnis zu den grundlegenden Verfahrensprinzipien der Mediation, aus dem heraus die Frage nach dem Risiko des möglichen Einigungsdrucks zu beantworten ist. (a) Wahrnehmung und Verfahrenswirkung Für die Bewertung der Rolle der Versöhnung im Mediationsverfahren ist zunächst von entscheidender Bedeutung, zwischen der Wahrnehmung und den und Vergleichsverfahren Peters, Gütegedanke (2004), S. 22, 58 mwN. Skeptisch indes Greger, Abschlussbericht (2007), S. 38, 107, 146, 162 (Versöhnung steht im Güterichterverfahren nicht im Vordergrund, zu echten Versöhnungsszenen kommt es selten, aber hohe Zufriedenheit der Parteien). Vgl. für das US-amerikanische Schrifttum Lieberman, 53 Chi. L. Rev. 424 (1986); McThenia/Shaffer, 94 Yale L.J. 1660 (1985); v. Christiansen, 55 DRJ 66 (1997); Sande, The Peacemaker (3. Aufl. 2004), passim; Fox, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 237, 248 (2006). sowie oben S. 142, 160, 471 ff., 475 ff. 223 Vgl. nur den empirischen Befund von Greger, Abschlussbericht (2007), S. 38, 107, 146, 162.
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Zielen der Verfahrensbeteiligten auf der einen und dem inneren Wirkmechanismus des Mediationsverfahrens sowie seinen Verfahrenswirkungen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Im Rahmen eines konkreten Konfliktes sind Wahrnehmung und Ziele der Beteiligten zunächst auf die möglichst effektive Beilegung des Streits gerichtet. Es geht ihnen vor allem darum, den Konflikt möglichst schnell zu beenden. Die Parteien wollen dabei naturgemäß so wenig wie möglich miteinander zu tun haben und in der Regel jedenfalls am Anfang gerade nicht miteinander kooperieren. Die Bereitschaft zur Versöhnung ist regelmäßig gering. Sie spielt in der Wahrnehmung der Beteiligten in der Regel keine oder nur eine untergeordnete Rolle und wird von ihnen auch nicht ausdrücklich als Verfahrensziel angestrebt. Dies ist angesichts der regelmäßigen Wirkungen des Konfliktes auf die Beteiligten und der durch ihn in Gang gesetzten kognitiven Prozesse nur natürlich und auch nicht anders zu erwarten. Die Wahrnehmung und die Ziele der Verfahrensbeteiligten haben indes, wie wir im Folgenden sehen werden, auf den inneren Funktionsmechanismus des Mediationsverfahrens und die Verfahrenswirkung, die es auf die Beteiligten ausgeübt, nur in sehr begrenztem Umfang Einfluss.224 Anders gewendet: Auch wenn sich die Parteien zunächst gerade nicht versöhnen wollen und dies auch nicht ihr vordringliches Ziel ist, so werden und müssen sie dies tun, um im Rahmen der Mediation überhaupt zu einer Einigung zu gelangen, weil die Mediation in ihrem Kern ein Mindestmaß an Versöhnung voraussetzt und die Parteien zur Versöhnung führt, auch wenn ihnen dies nicht unmittelbar bewusst ist. (b) Kooperation durch implizite Rollenübernahme Die Mediation ist als privatautonomes Verfahren auf eine gemeinsame Einigungsentscheidung und damit auf den Konsens der Parteien angewiesen. Ein derartiger Konsens ist im Kontext einer Konfliktsituation nicht ohne weiteres herzustellen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Fronten verhärtet sind und der Konflikt bereits eine hohe Eskalationsstufe erreicht hat. Den Parteien stehen in dieser Situation – abgesehen von der Option des Stillhaltens – regelmäßig nur zwei Handlungsalternativen zur Verfügung: Die Beilegung des Konfliktes im Wege des intuitiven positionsorientierten Verhandelns (feilschen)225
224
Vgl. zum Wesen der Mediation und der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit durch die Anwendung der regula aurea als dem eigentlichen „Geheimnis“ der Mediation oben S. 124 ff., 464 ff., zu den Verfahrenswirkungen unten S. 597 ff. Zum Lern- und Transformationsprozess vgl. unten S. 567 f., 664 f., 782 f. 225 Die Ineffektivität des intuitiven Verhandelns ist durch die verhandlungstheoretische Forschung nachgewiesen, vgl. nur Thompson/Hrebec, 120 Psychol. Bull. 396, 400 ff. (1996) sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 3 ff.; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 288 ff. sowie Bühring-
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sowie die Rechtsverfolgung im Wege des Zivilprozesses226. Beide Alternativen stellen eine Fortsetzung der streitigen Auseinandersetzung, eine Fortsetzung des „Kampfes ums Recht“227 mit anderen Mitteln dar. Der Weg zum kooperativen, interessenorientierten Verhandeln hingegen steht den Parteien aufgrund der Dominanz intuitiven Verhandlungsverhaltens regelmäßig nicht mehr ohne weiteres offen. Das Mediationsverfahren setzt an ebendiesem Punkt der zunächst bestehenden Konsens- und Kooperationsunfähigkeit der Parteien an und bricht diese dadurch auf, dass die Beteiligten in das Rollenspiel eines Verfahrens hineingezogen werden, das sie aus der Rolle sich kontradiktorisch gegenüberstehender Gegner herauslöst und von ihnen als wesentliche Verfahrenshandlung die Kooperation und Berücksichtigung der Interessen des jeweiligen Verhandlungspartners abverlangt. Wie Luhmann am Beispiel des Zivilprozesses gezeigt hat, entfaltet die Rollendefinition der Parteien im „Rollenspiel“228, im „Zeremoniell des Verfahrens“229 eine Dynamik, der sich die Parteien nicht mehr ohne weiteres entziehen können. Durch die implizite Übernahme vordefinierter Rollen, durch die „Verstrickung in ein Rollenspiel“230 wird die Persönlichkeit der Parteien gleichsam eingefangen und umgebildet231. Sie werden im Mediationsverfahren zwar nicht zur Hinnahme von Entscheidungen, allerdings zur Mitwirkung am Rollenspiel und damit zur Hinnahme jener Prämissen motiviert, die für eine einvernehmliche Einigung im Rahmen des Mediationsverfahrens als conditio sine qua non konstitutiv erforderlich sind: Kooperation, Perspektivwechsel im Sinne eines multilateralen Rollentauschs und schließlich die Aufgabe der Rolle des Gegners zugunsten der des Problemlösers (problem-solving mindset). Durch ihre Mitwirkung am Verfahren werden die Parteien in die Dynamik der Kooperation hineingezogen und schrittweise aufeinander hin ausgerichtet. Die damit verbundene Transformation der Parteibeziehung, die für die Parteien oft unmerklich durch ihre Ausrichtung aufeinander hin geschieht, bildet die Grundlage, auf der eine einvernehmliche Lösung des Konfliktes überhaupt erst möglich wird. Denn eine gemeinsame Einigungsentscheidung, der beide Parteien zustimmen können und die die Interessen beider Parteien wertschöpfend ineinander integriert, setzt voraus, dass beide Seiten offen miteinander kommunizieren, dass sie sich mit der Lebens- und Konfliktsituation ihres Verhandlungspart-
Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. 226 Vgl. zu den systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses eingehend oben S. 12 ff. 227 v. Ihering, Der Kampf um's Recht (1872), S. 11, 45. 228 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 84, 87. 229 So Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 92 f., 129. 230 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87. 231 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87.
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ners, seinen Interessen, Gefühlen, Hoffnungen und Erwartungen auseinandersetzen, sie, soweit dies möglich ist, als legitim anerkennen und den Konflikt auch aus der Perspektive der jeweils anderen Partei betrachten. Das Mediationsverfahren als Ganzes ist in seinem inneren Wirkmechanismus darauf ausgerichtet, die Parteien als Personen in ihrer rationalen, emotionalen und kognitiven Verfasstheit einander anzunähern, sie aufeinander hin auszurichten und auf der Grundlage einer insoweit erneuerten Beziehung zu kooperativem Verhalten und damit zu einer eigenverantwortlichen Beilegung des Konfliktes zu befähigen. Und in dem Moment, in dem die Parteien miteinander kooperieren, geschieht – ob die Parteien sich dessen bewusst sind oder nicht – bereits Versöhnung, d.h. eine Beendigung des Konfliktzustandes und eine Wiederherstellung normaler Beziehungen zwischen den Parteien, eine dauerhafte Verhaltensänderung im Verhältnis der beiden Parteien zueinander, die sich vorher ablehnend oder feindlich gegenüberstanden und nun in einem positiven Verhältnis des gegenseitigen Vertrauens, der Kooperation und der Bereitschaft zueinander stehen, um ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten. (c) Der Begriff der Versöhnung Der Begriff der Versöhnung verweist bereits in seinem Wortsinn – re-conciliatio – auf ein Wieder-Zusammenführen, ein Vereinigen und Verbinden, auf die Wiederherstellung eines früheren Zustandes, auf die Wiederbelebung einer geschädigten Beziehung zwischen den Parteien, die gleichsam repariert, geheilt und damit vollkommen umgestaltet und transformiert wird. Im Kern geschieht das, was Fuller als Wesen der Mediation schlechthin erkannt hat: „ … The central quality … (is), namely, its capacity to the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.“232 Diese Neuausrichtung der Parteien aufeinander hin kann angesichts der regelmäßig bestehenden Konfrontation nur gelingen, weil sie dem Wesen des Menschen als kooperativem, auf funktionierende soziale Beziehungen angewiesenem Wesen entspricht. Wie wir gesehen haben, ist die Kooperation die dem Menschen eigene, seinem Wesen und auch seinen natürlichen Anlagen entsprechende und „auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig(e)“233, natürliche Art der Konfliktbeilegung. Hier wird die tiefere Ursache für die sonst nur schwer erklärbare Begeisterung und Euphorie zu finden sein, mit der sich die Mediation im Rahmen der weltweiten ADR-Bewegung national wie international in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft nicht nur als ökonomisch effektives, sondern auch als menschliches und emotional 232 233
Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren).
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wenig belastendes, schonendes Verfahren der Streitbeilegung, als „sanfte Gewalt“234 etabliert hat. Entsprechend hat auch die empirische Begleitforschung gerichtsverbundener Mediationsprogramme eine außergewöhnlich hohe Zustimmung und Akzeptanz des Mediationsverfahrens bei allen Beteiligten – Parteien, Anwälten und Güterichtern gleichermaßen – und insbesondere bei den Parteien teilweise „geradezu euphorische(n) Rückmeldungen“235 nachgewiesen.236 Erstaunlich ist dabei, dass auch bei Mediationen, denen die Parteien zuvor skeptisch ablehnend gegenüber gestanden hatten, sehr hohe Einigungsquoten von 77 % erzielt werden konnten, wenn Mediation dennoch durchgeführt worden ist.237 Der Befund belegt zum einen die erheblichen Vorurteile, die meist aufgrund von Informationsdefiziten bei den Parteien bestehen. Zum anderen zeigt er jedoch auch die Wirkungskraft, die das Verfahren durch die ihm eigene Dynamik entfaltet, und die die Parteien auch bei zunächst bestehender Skepsis und Ablehnung aus der Konfliktsituation herauslöst und in ein Verhaltensmuster der Kooperation hineinführt, das schließlich eine gemeinsame Einigungsentscheidung ermöglicht. Dieser Prozess der Herauslösung der Parteien aus ihrer konfliktbedingten Gegnerschaft und den damit verbundenen Rollenfestlegungen und der versöhnende Rollenwechsel in die Funktion des kooperativen Problemlösers findet in jedem Mediationsverfahren statt, weil er das Verfahren wesensmäßig prägt und dem inneren Mechanismus entspricht, auf dem die Mediation in ihrer Wirksamkeit beruht.238 Eine entsprechend ihrer Grundprinzipien durchgeführte Mediation, in der die Parteien nicht miteinander kooperieren und jedenfalls nicht
234
So der Titel eines Aufsatzes von Herberger: „Die sanfte Gewalt: Zur Rechtsgeschichte der Schlichtung“ Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff. 235 So Greger, Abschlussbericht (2007), S. 98. Vgl. hierzu ders., S. 149 ff. 236 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 98 f., 117 f., 149 ff. Die Reaktion der an den Mediationen nicht beteiligten Richterkollegen war indes eher verhalten, hat sich im Laufe der Zeit jedoch gewandelt. Vgl. hierzu etwa die Rückmeldung eines beteiligten Güterichters: „Bei den Richterkollegen ist die Akzeptanz sehr unterschiedlich. Manche zeigen sich sehr interessiert, möchten mitmachen und fragen nach den Erfahrungen; andere lehnen das Programm mit sehr abfälligen Bemerkungen vollkommen ab. Dementsprechend gestaltet sich die Zulieferung sehr unterschiedlich … Bei den Richterkollegen hat am Anfang eine starke Ablehnungshaltung bestanden; mit den Erfolgen der Güterichter steige aber die Akzeptanz.“ Greger, Abschlussbericht (2007), S. 133. 237 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 53 f. 238 Voraussetzung hierfür ist allerdings eine Verfahrensgestaltung, in der die spezifischen Besonderheiten und Wirkungen der Mediation hinreichend zum Tragen kommen. Nur dann kann durch die Ausrichtung der Parteien aufeinander hin ein Lern- und Transfpormationsprozess in Gang gesetzt werden. Vgl. zu der für das Harvard Modell zentralen multilateralen Rollentausch der regula aurea eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff. Einen ähnlichen Mechanismus hatte bereits Luhmann für den Zivilprozess mit Blick auf die Hinnahme von
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in einem bestimmten Maß aufeinander hin ausgerichtet werden, ist a priori nicht denkbar. Mediation und Kooperation und damit Versöhnung sind als Kehrseite desselben Prinzips untrennbar miteinander verbunden. (d) Das Maß der Versöhnung Freilich wird nicht in allen Fällen ein gleiches Maß an Kooperation und Versöhnung erreicht werden können. Oft ist schon viel gewonnen, wenn die Parteien überhaupt wieder miteinander reden, sich auf die Argumente und die Situation ihres Gegenübers einlassen und – wenn auch widerwillig, so doch jedenfalls aktiv – an einer Einigungsentscheidung mitwirken. In diesen Fällen werden die Parteien vielleicht häufig nicht der Auffassung sein, sich versöhnt zu haben, und vielleicht sogar froh sein, sich nach dem abgeschlossenen Vergleich mit dem Verhandlungspartner nicht mehr auseinandersetzen zu müssen. Insbesondere in der Wirtschaftsmediation werden – jedenfalls in der Wahrnehmung der Beteiligten – Sachfragen im Vordergrund stehen, während emotionale Aspekte und die Wiederherstellung der Beziehung zwischen den Parteien jedenfalls im Bewusstsein der Beteiligten regelmäßig kaum von Bedeutung sind.239 Aber auch und gerade in diesen Fällen findet tatsächlich Versöhnung statt und muss stattfinden, wenn das Mediationsverfahren zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen ist. Sie äußert sich darin, dass die Beziehung zwischen den Parteien in tatsächlicher und nicht nur in wahrgenommener Hinsicht in ihrer Struktur und ihrer Fähigkeit zur Verarbeitung von Konfliktsituationen eine grundlegend andere ist als vor dem Mediationsverfahren. Der Konfliktzustand wurde jedenfalls in seiner auf Eskalation ausgerichteten akuten Aktualität beendet und die zuvor bestehende Beziehung zwischen den Parteien soweit wiederhergestellt, dass die Parteien zumindest zu einer eigenverantwortlichen, gemeinsamen, einverständlichen Lösung der den Konflikt verursachenden Sachfragen in der Lage sind, auch wenn es hierfür der Unterstützung eines vermittelnden Dritten bedarf. Die Parteien sind wieder aufeinander hin ausgerichtet worden und zur gemeinsamen Problemlösung in der Lage. Die Tatsache, dass die Parteien miteinander kooperieren und in offener Kommunikation an Drittentscheidungen herausgearbeitet: „Vermutlich ist dies die heimliche Theorie des Verfahrens: daß man durch Verstrickung in ein Rollenspiel die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren könne.“ Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87. Hervorhebungen durch den Verfasser. 239 Vgl. hierzu nur den empirischen Befund bei Greger, Abschlussbericht (2007), S. 107: „Dieses Ergebnis zeigt, dass im Güterichterverfahren – anders als oftmals bei der außergerichtlichen Mediation – die Wiederherstellung guter persönlicher Beziehungen nicht im Vordergrund des Interesses steht. Vordringlich ist für die Parteien, den konkreten Rechtsstreit (und ggf. weitere bereits schwebende) mit einem befriedigenden Ergebnis zu beenden.“ Vgl. auch ebenda, S. 38, 146, 162
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der Lösung eines gemeinsamen Problems arbeiten, hat – wie die kognitionspsychologische Forschung gezeigt hat – einen erheblichen Einfluss auf die Beziehung der Beteiligten.240 Diese neue Qualität in dem Verhältnis der Parteien zueinander ist durch Kooperation und tatsächliche Versöhnung geprägt, auch wenn sie sich lediglich in einer „bloßen“ Arbeitsbeziehung äußert. Es wäre eine überdehnte Erwartung, wenn als Indikator einer erfolgten Versöhnung der Austausch bestimmter Versöhnungsgesten, etwa ein Handschlag oder eine Umarmung, gefordert werden würden. Die Versöhnung geschieht regelmäßig im Verborgenen und fast unmerklich, dafür aber wirkungsvoll und nachhaltig. Dass die Wahrnehmung der Parteien im Hinblick auf die Bedeutung nicht sachbezogener Aspekte des Konfliktes im Kontext von Verhandlung und Mediation häufig defizitär ist, konnte auch empirisch nachgewiesen werden. So hat die interdisziplinäre Verhandlungsforschung den Nachweis erbracht, dass insbesondere Emotionen wie auch die Beziehung zwischen den Parteien im Rahmen von Verhandlungen von erheblicher Bedeutung für Art und Inhalt des Verhandlungsergebnisses sind. Gerade in Wirtschaftsmediationen werden Sachfragen sehr häufig von emotionalen Aspekten überlagert, die eine sachgerechte Lösung des Konfliktes erheblich erschweren. Verhandler sind in erster Linie Menschen mit Gefühlen, Hoffnungen und einer jeweils spezifischen Wahrnehmung, die im Konfliktfall regelmäßig durch selektive Wahrnehmungsmechanismen wie Überoptimismus241 und einseitige Zuschreibungen242 beeinträchtigt sind. Die Vorstellung, dass sich Konflikte ausschließlich auf rationaler Ebene lösen lassen, ist angesichts des Befundes nicht haltbar.243 Das rationale Verhaltensmodell des homo oeconomicus, des Menschen als rationalen Nutzenmaximierer, ist ausgehend von den Ergebnissen der empirischen Wirtschaftsforschung auch in der Ökonomik seit Längerem einer differenzierteren Betrachtung gewichen.244 Heute ist als selbstverständlich anerkannt, dass
240 Vgl. nur für den exposure effect, den propinquity effect sowie den similarity-attraction effect Zajonc, 9 J. Pers. Soc. Psychol. 1 (1968); Segal, 30 J. Pers. Soc. Psychol. 654 (1974); Griffin/Sparks, 7 J. of Soc. and Pers. Relationships 29 (1990); Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138 sowie oben S. 476. 241 Bazerman/Neale, Negotiating Rationally (1993), S. 56 ff.; Neale/Bazerman, 36 Ind. & Lab. Rel. Rev. 378 (1983); Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 373; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 44 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 28 f., 239 ff. 242 Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 327; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 10 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 29 f., 62 f., 156 ff. 243 Stop Having Emotions? You Can‘t. … Ignore Emotions? It Won’t Work.”, Fisher/Shapiro, Beyond Reason (2006), S. 12. 244 Vgl. hierzu nur Kahneman/Tversky, 185 Science 1124 (1974); Kahneman/Tversky, Choices, values, and frames (2000); Sinn, Economic decisions under uncertainty (1989),
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emotionale Aspekte wie auch die Beziehungsebene insgesamt für die Genese und Behandlung von Konflikten von zentraler Bedeutung sind. Diese Gesetzmäßigkeiten werden im Rahmen der Wirtschaftsmediation nicht außer Kraft gesetzt. Jede durch Kooperation herbeigeführte Einigung der Parteien hat eine kausale Ursache, die in der geänderten Beziehung der Parteien zueinander ihre Entsprechung findet. Diese Veränderung der Beziehung zwischen den Parteien ist Versöhnung, wenn sie den bestehenden Konfliktzustand beendet und die Parteien durch Kooperation – jedenfalls in einem bestimmten Umfang – wieder aufeinander hin ausrichtet. Dass dies von den Beteiligten, insbesondere von den Parteien indes regelmäßig nicht wahrgenommen oder zugegeben wird, ist aus ihrer individuellen Perspektive durchaus verständlich und hat verschiedene Ursachen: Neben einer bis zu einem gewissen Grad stets auch vom Konflikt bestimmten negativen Wahrnehmung245 des Konfliktpartners und der Befürchtung, dass eine Geste der Anerkennung gegenseitiger Versöhnung als Schwäche ausgelegt wird, spielen hierbei insbesondere bestimmte sozial definierte Rollenerwartungen und entsprechende Verhaltensmuster sowie ideologisch motivierte Haltungen eine entscheidende Rolle, die insbesondere im unternehmerischen Kontext die Relevanz der emotionalen und der Beziehungsebene in den Hintergrund treten lassen. Für unsere Untersuchung entscheidend ist dagegen nicht die wahrgenommene, sondern die tatsächliche Funktion und Wirkung des Mediationsverfahrens auf die Parteien. Hier geht es angesichts des Befundes weniger um die Frage ob, sondern vielmehr darum in welchem Umfang eine Versöhnung zwischen den Parteien stattgefunden hat. Und da die Kooperationsfähigkeit der Parteien sich unmittelbar auf die Qualität des Einigungsergebnisses auswirkt, bestimmt der Umfang der durch Versöhnung vollzogenen Neuordnung der Parteibeziehung zugleich auch das Maß, in dem eine effektive Konfliktbeilegung möglich ist. (e) Risiko des Einigungsdrucks Von der Bedeutung der Versöhnung und der dadurch gestalteten Beziehung zwischen den Parteien ist die Frage zu unterscheiden, inwieweit die Betonung der Versöhnungsfunktion des Mediationsverfahrens als Verfahrensziel zu einem erhöhten Risiko des Einigungsdrucks führt. In Teilen des Schrifttums wird
S. 11; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218 ff.; Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse (5. Aufl. 2012), S. 103 ff. sowie oben S. 474 ff. 245 Zum Problem der Wahrnehmungsverzerrungen in Verhandlung und Mediation eingehend vgl. Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. mwN.
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der Versöhnungsgedanke insbesondere mit einer sogenannten „Harmonie-Ideologie“ in Verbindung gebracht, in der die Parteien der Gefahr ausgesetzt sind, um der Versöhnung willen zu einem von ihnen in dieser Form nicht gewünschten Vergleich gedrängt zu werden.246 Bei der Beurteilung dieses Risikos ist a) zwischen dem Verhältnis der Versöhnung als Funktion des Mediationsverfahrens zu den Verfahrensprinzipien, b) dem allgemeinen Risiko und c) dem speziellen Risiko des Einigungsdrucks in „versöhnungsorientierten Mediationen“ zu unterscheiden. a) Verhältnis der Versöhnung als Funktion des Mediationsverfahrens zu den Verfahrensprinzipien. Die Versöhnung der Parteien und die damit einhergehende Befriedung des Konfliktes ist, wie wir gesehen haben, eine der zentralen Funktionen des Mediationsverfahrens und bildet zugleich seinen inneren Wirkmechanismus. Sie setzt ein ordnungsgemäßes Verfahren voraus, das durch die Einhaltung seiner grundlegenden Verfahrensprinzipien gekennzeichnet ist. Hierzu gehört in erster Linie die Wahrung der Privatautonomie der Parteien, die dem Mediator als Wächter der Verfahrensintegrität, als Hüter der Privatautonomie und als Garant für ein gutes und damit objektiv angemessenes, dauerhaftes und nachhaltiges Ergebnis anvertraut ist. b) Allgemeines Risiko des Einigungsdrucks. Das Risiko des Einigungsdrucks gehört, wie wir ebenfalls gesehen haben, zu den allgemeinen, typischen Gefahren, denen die Parteien im Rahmen eines Mediationsverfahrens ausgesetzt sind. Es kann dabei – insbesondere im Fall von Machtungleichgewichten oder Informationsasymmetrien – von der anderen, in diesem Fall stärkeren Partei oder aber auch vom Mediator selbst ausgehen. Die Gefahr des Einigungsdrucks durch den Mediator besteht nach den Erfahrungen in der Praxis in besonderer Weise im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation sowie in gerichtlichen Vergleichsverhandlungen im Rahmen der settlement conferences und der Güteverhandlung nach § 278 Abs. 2 ZPO.247 Hier beruht das Risiko vor allem auf dem direktiven, ergebnisorientierten Verhandlungsstil der Güterichtern sowie in dem die gerichtsverbundene Mediation jedenfalls im Hintergrund begleitenden Erledigungsdruck. In den übrigen Fällen privatautonomer Mediation entspringt die Tendenz des Mediators, die Parteien zu einer Eini-
246
Vgl. nur Nader, 9 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1 (1993); Hensler, J. Disp. Resol. 81, 84 (2002). Zurückhaltend Nolan-Haley, 78 Fordham L. Rev. 1247, 1252 (2009): „But this is not necessarily the picture that emerges from the practice of mediation.” Hierzu eingehend Breidenbach, Mediation (1995), S. 160 ff, 238 f.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 40; Wendenburg, Schutz (2013), S. 54 ff. 247 Zur Problematik des unzulässigen Einigungsdrucks (settlement pressure) vgl. eingehend oben S. 130 ff., 132 ff., 315 ff., 337 ff., 368 f., 411 f., 417 ff., unten S. 605 f. sowie Jennings, 6 Ohio St. J. on Disp. Resol. 313 (1991); Lande, 50 UCLA L. Rev. 69, 86 ff. (2003); Bone, 28 Cardozo L. Rev. 1961, 2011 (2007). Aus dem deutschsprachigen Schrifttum vgl. Stürner, JR 1979, 133, 136; Wendenburg, Schutz (2013), S. 54 ff.
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gung zu drängen, häufig der bewussten oder unbewussten Furcht vor einer ergebnislosen Beendigung des Mediationsverfahrens, die sich der Mediator häufig selbst und seinen insoweit defizitären Fähigkeiten als Streitmittler zuschreibt und als persönliches Versagen wahrnimmt. Dem liegt eine weit verbreitete Fehlvorstellung über die Kriterien eines „erfolgreichen“ Mediationsverfahrens zugrunde, das in erster Linie in einem geglückten Abschluss durch Vergleich gesehen wird. Überall dort, wo die Einigungsquote als wichtiger erachtet wird als die privatautonome Entscheidung der Parteien und die Qualität des Einigungsergebnisses, sind die Parteien einem erheblichen Risiko des Einigungsdrucks vonseiten des Mediators ausgesetzt. c) Spezielles Risiko des Einigungsdrucks in „versöhnungsorientierten Mediationen“. Von diesem Befund ausgehend ist nun die Frage zu untersuchen, ob in Mediationsverfahren, die in ihrem konkreten Verfahrensziel in besonderer Weise auf die Versöhnung der Parteien ausgerichtet sind, ein spezielles Risiko des Einigungsdrucks besteht, das über die allgemeine, mit der Mediation verbundene Gefahr der Verletzung der Privatautonomie hinausgeht. Zunächst fällt auf, dass in der Praxis ausschließlich oder weitgehend „versöhnungsorientierte Mediationsverfahren“, die in ihrem Verfahrensprogramm expressis verbis auf die Versöhnung der Parteien ausgerichtet sind, nicht die Regel und darüber hinaus auch nicht weit verbreitet sind. Soweit ersichtlich werden die Versöhnung und die Wiederherstellung der Beziehung zwischen den Parteien von den Mediationsanbietern sowie im Schrifttum verbreitet als wesentlicher Vorteil und zentrale Eigenschaft des Verfahrens vorausgesetzt.248 Dem entspricht unser Befund, dass die versöhnende Transformation der Beziehung Teil jedes Mediationsverfahrens ist. Sie gehört damit seit Beginn der ADR-Bewegung zur Identität des Mediationsverfahrens, auch wenn sie von den unmittelbar Konfliktbeteiligten nicht in den Vordergrund gestellt wird oder sich diese über die Bedeutung der Versöhnung in der von ihnen konkret durchgeführten Mediation überhaupt bewusst sind.
248
Vgl. zur Versöhnungsfunktion des Mediationsverfahrens eingehend Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971); Röhl, Rechtstheorie 8 (1977), 93, 111; Röhl, SchlHA 1979, 134, 139; Breidenbach, Mediation (1995), S. 237 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 4 ff., 13 f., 37 ff., 40, 45, 52, 136 ff.; Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 5, 84 f.; Wagner, RabelsZ 74 (2010), 794, 814. sowie aus dem US-amerikanischen Schrifttum Lieberman, 53 Chi. L. Rev. 424 (1986); McThenia/Shaffer, 94 Yale L.J. 1660 (1985); v. Christiansen, 55 DRJ 66 (1997); Sande, The Peacemaker (3. Aufl. 2004), passim; Fox, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 237, 248 (2006).
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Festzuhalten ist damit der Befund, dass ausschließlich versöhnungsorientierte Mediationen249 in der Praxis von geringer Bedeutung sind, die Versöhnung stattdessen als integraler Bestandteil des Mediationsverfahrens vorausgesetzt wird, ohne dass dies den Beteiligten im konkreten Fall überhaupt bewusst sein oder von ihnen angestrebt werden muss. Damit bleibt die Frage zu untersuchen, ob in den vorliegenden Fällen, in denen die Versöhnung der Parteien und die Befriedung des Konfliktes im Vordergrund stehen, ein erhöhtes Risiko des Einigungsdrucks besteht. Dies wäre dann der Fall, wenn sich der Mediator bewusst oder unbewusst über die privatautonomen Entscheidungsbefugnisse der Parteien hinweggesetzt und sie auch materiell zu einer Entscheidung drängt, die von ihnen in dieser Weise nicht gewollt wird. Wie in den übrigen Fällen der gerichtsverbundenen oder der privatautonomen Mediation, in denen Erledigungs- und Erfolgsdruck, Versagensangst und persönliche Ambitionen des Mediators sowie Machtungleichgewichte und Informationsdefizite aufseiten der Parteien als Risikofaktoren für eine Beeinträchtigung der Privatautonomie der Parteien durch Einigungsdruck wirken, so kann auch das Bestreben, unbedingt eine Versöhnung zwischen den Parteien herbeizuführen, als Motivator für eine unzulässige Intervention des Mediators zulasten der Parteien wirken. Im Vergleich zu den übrigen Risikofaktoren ist indes nicht ersichtlich, dass in den in besonderer Weise auf Versöhnung der Parteien ausgerichteten Mediationen eine grundsätzlich höhere Gefahr des Einigungsdrucks besteht. Eine solche Gefahr ist im Übrigen – ganz im Gegensatz etwa zu den Erfahrungen aus der gerichtsverbundenen Mediation in Fällen struktureller Machtungleichgewichte und Informationsasymmetrien250 – empirisch kaum belegt. Sie setzt wie jeder Fall des die Privatautonomie der Parteien beschränkenden Einigungsdrucks eine erhebliche Pflichtverletzung des Mediators und damit eine Verletzung wesentlicher Verfahrensprinzipien voraus, die eine Verletzung der Integrität des Mediationsverfahrens zur Folge haben. Eine solche Pflichtverletzung ist unter allen Umständen unzulässig und grundsätzlich in jedem Mediationsverfahren möglich. Die Erfahrungen aus der empirischen Praxis haben gezeigt, dass das Bemühen um eine Entlastung der Gerichte, Erfolgsdruck251 der Me-
249 Zur transformativen Mediation vgl. Bush/Folger, 13 M.Q. 263 (1996); Bush/Folger, The Promise of Mediation (2. Aufl. 2005), S. 52 f., 65, 125, Fn. 114. Zu den unterschiedlichen Schwerpunkten in der Bestimmung der Mediationsziele Alberstein, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 321, 335 (2007). 250 Vgl. hierzu nur die Fallstudien oben S. 344 ff. 251 Instruktiv hierzu Greger, Abschlussbericht (2007), S. 148: „Der Güterichter berichtete, es handle sich um eine interessante Art zu verhandeln und er selbst sei weder enttäuscht noch euphorisch. Ein Problem sei der Erfolgsdruck; er befürchte, dass sich evtl. kein messbarer Erfolg feststellen lasse.“
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diatoren und Machtungleichgewichte zu den für die Praxis tatsächlich relevanten Risikofaktoren gehören. Das Bemühen um eine echte Versöhnung der Parteien ist ein für das Mediationsverfahren notwendiges und ihm zutiefst immanentes Verfahrensziel.252 Wird das Mediationsverfahren ordnungsgemäß –entsprechend seiner grundlegenden Verfahrensprinzipien – durchgeführt, so ist die Gefahr des Einigungsdrucks nicht gegeben. Das Versöhnungsbemühen kann, wie die übrigen Risikofaktoren, freilich als Motivator für unzulässigen Einigungsdruck wirken. Diesem Risiko muss und kann aufseiten des Mediators als Hüter der Privatautonomie und Wächter der Verfahrensintegrität durch die Gewährleistung der Verfahrensprinzipien, und hier insbesondere der Privatautonomie der Parteien, entgegengewirkt werden. Die Versöhnung und Befriedung der Parteien auf der Grundlage einer erneuerten Beziehung zwischen ihnen (Reconciliation Project) ist die Voraussetzung dafür, dass sie in Ausübung ihrer Privatautonomie (Individual Autonomy Project) den Konflikt effektiv beilegen können (Service Delivery Project). Dadurch werden ihnen ein Zugang zum Recht (Access to Justice) und die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen eröffnet (Social Transformation Project). Diese letzte Funktion des Mediationsverfahrens wollen wir nun im Folgenden in den Blick nehmen. (5) Social Transformation Project Das Mediationsverfahren wirkt nicht nur intern im Binnenverhältnis des konkreten Konfliktes zwischen den Parteien, sondern entfaltet darüber hinaus auch externe Wirkungen im jeweiligen gesellschaftlichen System, die über das Verhältnis der Parteien zueinander hinausreichen.253 (a) Gesellschaftliche Reform Schon in der Anfangszeit der ADR-Bewegung gab es Bemühungen, über die Mediation als neuer Form alternativer Streitbeilegung gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Die Anwendungsgebiete gesellschaftlicher Reform, die dabei in den Blick genommen wurden, betreffen im Wesentlichen drei Bereiche: Die Stärkung sozial Schwacher und sozialer Minderheiten a) durch das
252 Vgl. zur Ausrichtung der Parteien aufeinander hin als Wesensmerkmal der Mediation oben S. 127 ff. sowie zum Mechanismus des multilateralen Rollentauschs der regula aurea als Voraussetzung tatsächlicher Versöhnung oben S. 249 ff., 252 ff. Zur Versöhnungsfunktion des Mediationsverfahrens vgl. oben S. 578 Fn. 248. 253 Zum Social Transformation Project nach Breidenbachs Klassifikation vgl. Breidenbach, Mediation (1995), S. 132 ff., 242 ff. Zur gruppenunmittelbaren Konfliktbeilegung auch Falke/Gessner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 297 f.
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Bereitstellen eines Forums der Artikulation und den damit verbundenen gleichen Zugang zum Recht, b) den Ausgleich von Machtungleichgewichten sowie c) die institutionelle Reform. a) Artikulationsforum und Zugang zum Recht. Der erste Anwendungsbereich der Mediation als Instrument gesellschaftlicher Reform überschneidet sich in seiner Zielrichtung mit dem Access to Justice Project. In ihm geht es darum, sozial schwachen Parteien und Minderheiten, denen aus finanziellen Gründen, aufgrund ihrer Rollenfixierung oder aufgrund sonstiger Nachteile der Zugang zu den staatlichen Gerichten faktisch verwehrt oder erheblich beschränkt ist, ein Forum und damit einen Zugang zum Recht zur Verfügung zu stellen. Damit erhalten sie erstmals eine Stimme und zugleich die Möglichkeit, ihre Interessen und Rechte artikulieren und auch gegenüber ihrem meist strukturell stärkeren Konfliktpartner geltend machen zu können.254 b) Ausgleich von Machtungleichgewichten. Darüber hinaus gab es Überlegungen, strukturelle Machtungleichgewichte zwischen sozial ungleichen Verhandlungspartnern dadurch auszugleichen, dass den Parteien mit der Mediation ein Verfahren zur Verfügung gestellt wird, das den Beteiligten – anders als im Zivilprozess – keinen einseitigen verfahrensmäßigen Vorteil gewährt und so geeignet ist, die strategischen Vorteile materiell leistungsfähiger Parteien zu neutralisieren. Durch die damit herbeigeführte tatsächliche Waffengleichheit zwischen den Parteien sollte eine Umverteilung von materiellen und immateriellen Ressourcen möglich und repressives Verhalten unterbunden werden.255 c) Institutionelle Reform. Schließlich wird mit der Stärkung prozessualer Alternativen zur Ziviljustiz die Hoffnung auf eine institutionelle Reform verbunden. Die Reformerwartungen sind dabei auf ganz unterschiedliche Zielbereiche gerichtet: Auf eine Reform des staatlichen Justizwesens, die Etablierung der Mediation als eigenständige gesellschaftliche Institution sowie darüber hinausgehend die Veränderung der Interaktionsstrukturen bestehender Institutionen hin zu konsensualen, kooperativen, sich selbst organisierenden Steuerungsformen.256
254 Zur Bedeutung des Einräumens einer Artikulationsmöglichkeit als Ausdruck der Würde der Beteiligten Vidmar, ZfRSoz 1993, 35, 43: „Würde ist die Möglichkeit der Streitenden, ihrer Seite des Konflikts ‚Stimme zu verleihen‘.“ 255 Zum entgegengesetzten Problem, dass strukturell schwächere Parteien in der Mediation gerade aufgrund fehlender Waffengleichheit besonderen Risiken ausgesetzt sind vgl. oben S. 341 ff. Zu den daraus folgenden besonderen Anforderungen an die Rolle des Mediators eingehend oben S. 309 ff. (zum Rollenverständnis des Mediators nach dem RiskinGrid), 360 ff. (zur Rolle des Mediators in der vertragsautonomen Mediation), 408 ff. (zur Rolle des Mediators in der gerichtsverbundenen Mediation). Zur Kompensation von Machtungleichgewichten vgl. oben S. 341 ff., 348 ff., 365 ff., 416 ff., 604 ff. sowie Breidenbach, Mediation (1995), S. 127 f. 256 Vgl. hierzu Troja, ZKM 2002, 96.
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Die drei genannten Zielsetzungen sind indes in mehrfacher Hinsicht problematisch. So ist das Mediationsverfahren als Instrument einer sozialen Umverteilung materieller oder immaterieller Ressourcen nur begrenzt geeignet, weil es die privatautonome Entscheidung beider Parteien voraussetzt. Dem Mediator ist es daher verwehrt, die ihm zukommende Neutralität aufzugeben und eine strukturell stärkere Partei zu einem für sie ungünstigen Einigungsergebnis zu drängen.257 Darüber hinaus besteht das typische Risiko der Mediation gerade in der Gefahr der Übervorteilung strukturell schwächerer Parteien. Es ist daher zweifelhaft, ob sie in Fällen struktureller Machtungleichgewichte das geeignete Verfahren darstellt. Dies gilt umso mehr, als ausgleichende Interventionen des Mediators in der Praxis häufig nicht gewährleistet sind.258 (b) Stärkung des Community-Gedankens Einen wesentlichen Schwerpunkt des Social Transformation Project bildet der Community-Gedanke, der insbesondere in den USA in zahlreichen Neighborhood bzw. Community Mediation Projects259 Gestalt angenommen hat und sich in Deutschland ansatzweise in Form der in der Praxis freilich weitgehend unbedeutenden Institution des Schiedsmanns wiederfindet.260 Ziel dieser Programme ist es, die gruppenunmittelbare Konfliktbeilegung durch Angehörige der jeweiligen Gemeinschaft zu fördern und dadurch ihren Zusammenhalt und ihre Identität zu stärken.261 In der Praxis hat sich diese Form der Streitbeilegung vor allem im nachbarschaftlichen Bereich als Gemeinwesen- und Nachbarschaftsmediation entwickelt, allerdings ist der Community-Gedanke auch auf andere Gruppen – wie etwa Unternehmen, bestimmte Berufsgruppen oder soziale Minderheiten – übertragbar.
257
Zum Übermaßverbot und dem Verbot unzulässigen Einigungsdrucks vgl. oben S. 130 ff., 132 ff., 315 ff., 337 ff., 368 f., 411 f., 417 ff., unten S. 605 f. sowie Jennings, 6 Ohio St. J. on Disp. Resol. 313 (1991); Lande, 50 UCLA L. Rev. 69, 86 ff. (2003); Bone, 28 Cardozo L. Rev. 1961, 2011 (2007). Aus dem deutschsprachigen Schrifttum vgl. etwa Stürner, JR 1979, 133, 136; Wendenburg, Schutz (2013), S. 54 ff. 258 Vgl. nur den empirischen Befund der Fallstudien oben S. 344 ff. mwN. 259 Dazu näher Metzger, ZKM 2000, 174. 260 Zu Bedeutung und Funktion des Schiedsmanns als Organ des gemeindlichen Schiedswesens instruktiv Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141; Röhl, Güteverfahren vor dem Schiedsmann (1987); Peters, Gütegedanke (2004), S. 13 ff. Vgl. auch Fachtmann, Sühneverfahren (1849); Gain, Sühneverfahren (3. Aufl. 1985); Koch, Schiedsmannswesen in Preußen (2003). 261 Hierzu Falke/Gessner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 297: „Die Suche nach alternativen Konfliktregelungsformen erfolgt vor dem Hintergrund eines deutlich artikulierten Mißtrauens gegenüber Spezialisten und großen bürokratischen Einrichtungen.“ Hervorhebungen durch den Verfasser.
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Ihm liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Konflikte stets in einem besonderen Zusammenhang zu dem gesellschaftlichen Umfeld stehen, in dem sie auftreten: So können die jeweiligen Besonderheiten des Gruppenumfeldes etwa bestimmte Arten von Konflikten begünstigen, die Qualität und die Manifestation des Konfliktes beeinflussen und schließlich auch eine bestimmte Form der Konfliktbehandlung nahelegen. Darüber hinaus kommt in ihm der grundlegende Mechanismus zum Tragen, dass die Beilegung von Streitigkeiten durch Angehörige derselben Gruppe regelmäßig zu einer höheren Akzeptanz des Streitbeilegungsverfahrens sowie des Ergebnisses beiträgt. Im Hinblick auf die Mediation, in deren Rahmen der Mediator lediglich vermittelnd und nicht entscheidend tätig wird, würde dies freilich vor allem die Autorität des Mediators und das Verfahren als solches betreffen. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des Community-Gedankens war die empirische Forschung der Kulturanthropologen, die in den sechziger und siebziger Jahren von den Pionieren der ADR-Bewegung in besonderer Weise rezipiert worden sind.262 Die Vermittlungs- und Schlichtungsmechanismen in weniger arbeitsteilig differenzierten Stammesgesellschaften dienten häufig als Vorbild für ein dezentralisiertes System von Nachbarschaftsforen bzw. Community Moots, die indes häufig auf das Strafrecht ausgerichtet waren.263 Geistesgeschichtlich wurde in der Community-Idee eine Antwort auf die zunehmende Entpersönlichung des durch zunehmende Individualisierung geprägten gesellschaftlichen Lebens in der entwickelten Industriegesellschaft gesehen. Der ADR-Pionier Frank E.A. Sander hat in seinem bahnbrechenden Vortrag auf der Pound Conference 1976, der vielfach als Beginn der ADRBewegung angesehen wird264 und in dem er seine Vision eines Multi-Door Courthouse erstmals vorstellte, diesem Gedanken – wenn auch nicht ganz ohne Skepsis – Ausdruck verliehen: „But it can also be seen in the larger context of a movement towards a community ‘moot’, offering informal and supportive 262 Eingehend hierzu Breidenbach, Mediation (1995), S. 133 f. wmN. Vgl. nur Coons, 58 NW. U. L. Rev. 750, 782 f. (1964); Nader, Disputing Process (1978) (Untersuchung des Rechts und der Konfliktlösungsmechanismen in 10 verschiedenen Gesellschaften). 263 Breidenbach, Mediation (1995), S. 133. 264 So Sander selbst in Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007): „The development of Alternative Dispute Resolution (ADR) since the 1976 Pound Conference – which is often considered the birth of the modern ADR movement – has taken place over three distinct periods.“ Vgl. auch Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 1 (2000) („When we think of the ‚founding‘ of the ADR movement … from when do we date it? Whom do we think of as our leaders? Many of us think of Frank Sander and the ‚multi-door courthouse‘ suggested by his famous paper, delivered at the Pound Conference on the Causes of Popular Dissatisfaction with the Administration of Justice in 1976. For others, the publication of Roger Fisher and William Ury's Getting to Yes, signaled an interest in a changed paradigm for engaging in legal negotiations.“); Gray, 22 Neg. J. 445, 445 ff. (2006). Hervorhebungen durch den Verfasser.
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services to community members. Such institutions of course have a rich anthropological heritage. Whether, in our alienated and divisive society, these institutions are hopelessly out of place, or whether they represent the last hope of a regained sense of community, remains to be seen.”265 Vor dem Hintergrund dieser Vision vermag die Mediation tatsächlich eine wichtige gemeinschaftsbildende und -fördernde Funktion im Hinblick auf die Stärkung kooperativer Interaktionsstrukturen innerhalb von Gruppen, die Stärkung der Gruppenzugehörigkeit und die Realisierung effektiver Streitbeilegungsformen zu erfüllen. In einer weitgehend individualisierten und zunehmend anonymen Gesellschaft, in der traditionelle Formen der Gemeinschaft wie die Familie, Nachbarschaften und Pfarrgemeinden immer stärker zurückgedrängt werden und Tendenzen zur Auflösung ausgesetzt sind, können lokale Foren der Begegnung und Einigung im Konflikt in der Tat das Gemeinschaftsbewusstsein stärken und die Beteiligten zu einem „sozialverträglicheren“ Verhalten beitragen. Wo der Einzelne sein Verhalten einseitig weitgehend entsprechend seiner eigenen Interessen und Wünsche ausrichtet und die Rücksichtnahme auf sein unmittelbares Lebensumfeld aus dem Blick verliert, können dezentrale Community und Neigborhood Justice Centers in effektiver Weise tatsächlich eine dauerhaftere, über den konkreten Konflikt hinaus auf das soziale Umfeld wirkende Verhaltensänderung herbeiführen, als dies etwa durch die gerichtliche Entscheidung eines Nachbarschaftsstreits möglich wäre – und auf diese Weise dazu beitragen, ein wenig mehr Menschlichkeit in das Zusammenleben innerhalb einer Gemeinschaft zu bringen. Allerdings ist die Community-Idee nicht ohne Risiken. Sie kann in dreifacher Hinsicht Probleme aufwerfen: (1) Durch einen Zielkonflikt mit den Interessen der Parteien, die lediglich an der Beilegung ihres konkreten Konfliktes, damit jedoch nicht notwendig auch an einer Reform der Gesellschaft interessiert sind,266 (2) durch die Gefahr der sozialen Kontrolle durch Konfrontationsdruck auf der Grundlage eines Mehrheitskodex267 und (3) schließlich durch die Übervorteilung der schwächeren Partei im Fall struktureller Machtungleichgewichte268. Ein Zielkonflikt mit den Parteien ist regelmäßig vorprogrammiert, weil ihnen gewöhnlich nicht an einer gesellschaftlichen Reform, sondern vielmehr an der Beilegung des zwischen ihnen bestehenden Konfliktes gelegen ist.269 Werden mit der Mediation über die konkrete Konfliktbehandlung hinausgehende Ziele verfolgt, die nicht lediglich unbeabsichtigte Nebenfolge und Reflex des Mediationsverfahrens sind und damit mittelbar auch die Struktur des Verfahrens und 265
Sander, 70 F.R.D 111, 128 (1976). Hervorhebungen durch den Verfasser. Breidenbach, Mediation (1995), S. 242 f. 267 Breidenbach, Mediation (1995), S. 243 ff. 268 Breidenbach, Mediation (1995), S. 245 f. 269 Hierzu eingehend Breidenbach, Mediation (1995), S. 242 f. 266
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das Verhalten des Mediators wesentlich mitbestimmen, so besteht die Gefahr der Manipulation der Parteien, weil die eigentlichen Ziele vom Mediator in der Regel nicht offengelegt werden dürften. Dies betrifft etwa das bereits angesprochene Risiko eines unzulässigen Einigungsdrucks, um die Situation ungeachtet eines mittlerweile fehlenden Einigungswillens der Parteien und des inhaltlichen Verhandlungsergebnisses zu befrieden und die Parteien so zu einer Einigung zu drängen. Die Gefahr der sozialen Kontrolle ist die natürliche Kehrseite einer Stärkung der Gemeinschaftsidentität und gesellschaftlicher Strukturen, bei denen die Aufgabe der Konfliktbehandlung nicht in den Händen einer neutralen, anonymen Institution oder den staatlichen Gerichten liegt, sondern von den Angehörigen der Gruppe selbst wahrgenommen wird.270 Neben dem Problem der mangelnden Neutralität und der geringen Eingriffsschwelle besteht hier insbesondere das Problem, dass als Maßstab für eine mögliche Einigung und ein darauf aufbauendes zukünftiges Verhalten nicht die Interessen der Beteiligten, sondern ein auf der Mehrheitsmeinung beruhender Verhaltenskodex maßgeblich ist und die Parteien dadurch einem erheblichen Konformitätsdruck ausgesetzt sind. Die Gefahr der Übervorteilung der schwächeren Partei ist, wie wir gesehen haben, ein typisches Risiko des Mediationsverfahrens im Kontext struktureller Machtungleichgewichte.271 Damit setzt eine gruppenunmittelbare Mediation die Parteien vor allem derjenigen Gefahr aus, vor der sie die Beteiligten eigentlich gerade schützen will. Dies betrifft in besonderer Weise jene Fälle, in denen die Parteien unterschiedlichen sozialen Gruppen angehören und die Mediation über den Community-Gedanken hinaus als Instrument sozialer Reform angewendet wird. Wie wir bereits gesehen haben, ist das auf Privatautonomie gründende Mediationsverfahren indes als Mittel sozialer Umverteilung ungeeignet und birgt gerade für strukturell schwächere Parteien erhebliche Risiken. Aus diesen Gründen sind Zweifel angebracht, ob die Community-Idee in der Praxis tatsächlich tragfähig ist. Für unsere Untersuchung ist indes festzuhalten, dass die Mediation, wenn sie entsprechend des Community-Gedankens im Rahmen von Community und Neigborhood Justice Centers eingesetzt wird, die beschriebenen Wirkungen wie auch Risiken in tatsächlicher Hinsicht entfalten kann.
270
Näher hierzu Breidenbach, Mediation (1995), S. 243 ff. Vgl. hierzu eingehend oben S. 341 ff. Zur Interventionspflicht des Mediators zum Zweck des Ausgleichs von Machtungleichgewichten eingehend oben S. 309 ff. (Rollenverständnis des Mediators nach dem Riskin-Grid), 360 ff. (Rolle des Mediators in der vertragsautonomen Mediation), 408 ff. (Rolle des Mediators in der gerichtsverbundenen Mediation). Zur Kompensation von Machtungleichgewichten vgl. oben S. 341 ff., 348 ff., 365 ff., 416 ff., 604 ff. sowie Breidenbach, Mediation (1995), S. 127 f., 245 f. 271
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(c) Veränderung der Konfliktkultur Wie wir gesehen haben, sind die Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen, die das Mediationsverfahren eröffnet, im Hinblick auf gesellschaftliche Reform wie auch im Kontext des Community-Gedankens begrenzt. Damit rückt mit dem Ziel der Veränderung der Konfliktkultur ein Aspekt in den Vordergrund, der in praktischer Hinsicht die weitreichendsten Möglichkeiten der Verwirklichung bietet. Die ADR-Bewegung als Hinwendung zu kooperativen, gütlichen Formen des Umgangs mit Konflikten ist eine weltweite Bewegung, die mit der Mediation weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfasst: Über den weiten Bereich zivilrechtlicher Streitigkeiten hinaus wird das Mediationsverfahren etwa in Schulen, Krankenhäusern, Unternehmen, im Sport und in Familienkonflikten eingesetzt. Weil Konflikte zum unvermeidbaren Bestandteil menschlichen Lebens gehören, gibt es damit kaum einen Anwendungsbereich, der für die Mediation nicht geeignet wäre. Die Mediation ihrerseits ist, wie wir am Beginn unserer Untersuchung gesehen haben, selbst Teil einer Entwicklungsströmung hin zu kooperativen Steuerungsmechanismen, die weite Teile staatlichen Handelns (kooperativer Staat),272 des Rechts (Materialisierung des Rechts, Krise der Rechtsnorm, Auflösung des Rechts)273 wie auch der Gesellschaft (Wandel der Konfliktkultur)274 nachhaltig prägt und auf diese Weise ganz wesentlich zur Veränderung der Konfliktkultur beiträgt. Das Potenzial für einen derartigen Bewusstseinswandel ist a) in dem auf eine Verhaltensänderung ausgerichteten pädagogischen Ansatz des Mediationsverfahrens und b) in seiner Breitenwirkung begründet. Die Wirksamkeit des Mediationsverfahrens beruht – im Gegensatz zum Zivilprozess, der nicht auf die handelnden Subjekte, sondern ausschließlich auf das Verfahrensergebnis als Objekt einwirkt275 –, im Kern auf einem Lernprozess der Parteien: Die Beteiligten werden aus den Begrenzungen ihres intuitiven Konfliktverhaltens gelöst und schrittweise in die Lage versetzt, ihren Konflikt eigenverantwortlich und kooperativ beizulegen. Die Mediation ist daher nichts anderes als eine Schule der Kooperation.276 Sie führt die Parteien durch den vorgegebenen Verfahrensrahmen auf natürliche Weise zu einem kooperativen Konfliktverhalten:
272
Hierzu oben S. 38 ff., 53 ff. Hierzu oben S. 48 ff., 50 ff., 56 ff. 274 Hierzu oben S. 59 ff. 275 Zu den systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses vgl. oben S. 12 ff., insbesondere zum kontradiktorischen Rollenzwang (S. 24 ff.) sowie dem Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit (S. 27 ff.). 276 Vgl. zu dem durch die Operationalisierung der regula aurea in Gang gesetzten Lernund Transformationsprozess eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff., 462 ff., 483 ff., 511 ff. sowie unten S. 607 ff., 814. 273
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Indem sie ihnen die Bedeutung der Interessen und die Möglichkeit wertschöpfender Kooperationsgewinne im Sinne von win-win-Lösungen vermittelt, werden die Parteien aus der Wahrnehmungsbeschränkung des kontradiktorischen Anspruchs- und Positionendenkens herausgelöst und befähigt, den die Einigungen blockierenden Nullsummenmythos zu überwinden (debiasing).277 Indem sie mit der Sachverhaltsdarstellung, den Interessen und der Persönlichkeit ihres Verhandlungspartners konfrontiert werden, erweitern sie den Fokus von der begrenzten Sicht auf ihre eigene Situation hin zur Perspektive der anderen Partei und werden so zu einem durch einen multilateralen Rollentausch vermittelten umfassenden Perspektivwechsel befähigt, der die Voraussetzung für ethisches Handeln entsprechend der regula aurea bildet. Und schließlich löst der Prozess des gemeinsamen Nachdenkens über mögliche Einigungsalternativen die Parteien aus der Rolle sich kontradiktorisch gegenüberstehender Konfliktgegner heraus und lässt sie so gleichsam auf natürliche Weise in die Rolle des kooperativen Problemlösers hineinwachsen. Als unabdingbare Folge dieses Rollentausches und dieses Prozesses offener Kommunikation, gegenseitigen Kennenlernens und vertrauensvoller Zusammenarbeit hat sich das Verhältnis zwischen beiden Parteien gewandelt. Sie haben ihre Beziehung aufeinander hin ausgerichtet, sie neu gestaltet und sich damit versöhnt. Zugleich haben sie ein Verhaltensmuster der Kooperation erlernt, das sie nicht nur zur Beilegung des aktuellen Konfliktes befähigt, sondern sie auch die Lage versetzt, mit zukünftigen Konflikten auf ähnliche Weise umzugehen. Die weite Verbreitung der Mediation in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, ihr kontinuierliches Wachstum und schließlich auch ihre Institutionalisierung ermöglichen eine Breitenwirkung, in deren Folge das Mediationsverfahren die Gesellschaft in ihren unterschiedlichen Bereichen gleich einem Sauerteig „durchsäuern“, verwandeln, transformieren und so auch die Konfliktkultur nachhaltig verändern kann. Ein derartiger Wandel der Konfliktkultur ist, wie wir bereits am Beginn unserer Untersuchung gesehen haben278, auch empirisch nachweisbar: In einem Zuwachs an Vergleichen in Zivilverfahren vor den Landgerichten von 55 % seit dem Jahre 1970 und einem Rückgang an streitigen Urteilen im gleichen Zeitraum um 80 %, in einer größeren Offenheit gegenüber konsensualen Streitbeilegungsformen als Ergebnis gerichtsverbundener Mediationsprogramme und einem gesteigerten Bewusstsein um die Notwendigkeit kooperativen Konfliktverhaltens in Unternehmen, das etwa in der zunehmenden, Etablierung mehrstufiger Konfliktmanagementsysteme seinen 277 Die Auflösung von Wahrnehmungsverzerrungen ist für das Mediationsverfahren zentral, vgl. hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 22 ff.; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 29 f., 62 f., 156 ff., 239 ff.; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 10 f., 38 ff., 41 ff., 86; Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 6 ff. sowie oben S. 215 Fn. 212. 278 Vgl. hierzu oben S. 59 ff.
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Niederschlag gefunden hat.279 Damit stellt weniger das Bemühen um gesellschaftliche Reform und der Community-Gedanke, sondern vor allem die Veränderung der Konfliktkultur den wesentlichen Anwendungsbereich des Social Transformation Project als idealtypischer Funktion des Mediationsverfahrens dar. bb) Struktur Nachdem wir die unterschiedlichen Funktionen des Mediationsverfahrens in den Blick genommen haben, wollen wir uns mit der Frage nach der Struktur nun den Verfahrenseigenschaften zuwenden, in denen die Verfahrensfunktionen ihre Grundlage finden und durch die sie erst ermöglicht werden. Durch die Verknüpfung von Funktion und Struktur wollen wir dem Wirkmechanismus des Mediationsverfahrens und damit gleichsam dem „Geheimnis des Erfolges“ der ADR-Bewegung im Wettbewerb mit dem streitigen Zivilprozess auf die Spur kommen. Funktion und Struktur sind eng miteinander verzahnt: Die Funktion des Verfahrens ergibt sich als notwendige Wirkung aus seiner Struktur. Wie wir im Rahmen unserer vergleichenden Strukturanalyse bereits gesehen haben, ist das Mediationsverfahren durch Strukturmerkmale geprägt, die denen des Zivilprozesses gleichsam spiegelbildlich gegenüberstehen und sie komplementär ergänzen: Privatautonomie, Kooperation, Orientierung an Parteiinteressen, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität des Verfahrens, Vermittlung durch neutralen Dritten. (1) Privatautonomie Die Privatautonomie ist für das Mediationsverfahren von zentraler, konstitutiver Bedeutung: Sie ist als einzige Verfahrenseigenschaft sowohl Strukturmerkmal280, Verfahrensgrundsatz281 und – im Rahmen des Individual Autonomie Project – Verfahrensfunktion282. Als Befugnis des Einzelnen, seine privaten Lebensverhältnisse im Rahmen der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen
279
Zu Bedeutung und Gestaltung von Konfliktmanagementsysstemen (Dispute Systems Design) vgl. Ury/Brett/Goldberg, Getting Disputes Resolved (1993); Costantino/Merchant, Designing Conflict Management Systems (1996); Schoen, Konfliktmanagementsysteme für Wirtschaftsunternehmen (2003); Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 325 ff. 280 Vgl. oben S. 135 ff. 281 Vgl. oben S. 459 ff. 282 Vgl. oben S. 567 ff.
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und entsprechend seiner Bedürfnisse mit den Mitteln des Rechts frei zu gestalten283 gewährleistet sie das im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit nach der Art. 2 Abs. 1 GG grundgesetzlich garantierte Recht, auch seine Konflikte eigenverantwortlich und ohne Rückgriff auf die staatliche Justiz beizulegen. Das BVerfG erachtet eine solche privatautonome Beilegung von Konflikten „auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung“284. Das privatautonome Handeln der Parteien ist die unabdingbare Voraussetzung für alle fünf Funktionen des Verfahrens. a) Konfliktbeilegung: Service Delivery Project. Sie bildet vor allem die Grundlage für die zentrale Funktion des Mediationsverfahrens: Die Konfliktbeilegung. Wie wir gesehen haben, erwächst die besondere Leistungsfähigkeit der Mediation im Vergleich zum Zivilprozess in materieller Hinsicht aus der Qualität des Ergebnisses285 sowie in prozeduraler Hinsicht aus der Art und Weise, wie dieses Ergebnis zustande kommt.286 Materiell ermöglicht die Mediation die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne im Sinne von auf den konkreten Fall gleichsam maßgeschneiderten win-win-Lösungen287 und damit Ergebnisse, die den dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen beider Parteien möglichst weitgehend entsprechen. Solche Lösungen können den Parteien nicht von außen heteronom auferlegt, sondern nur von ihnen selbst erarbeitet werden. Denn derartige Lösungen setzen die umfassende Kenntnis des Konfliktes in der Vielfalt seiner unterschiedlichen Dimensionen und damit die Personenidentität von Betroffenen und Entscheidenden voraus. Zugleich bietet eine von den Parteien selbst entworfene, gemeinsam ausgearbeitete und ihre jeweiligen Interessen berücksichtigende, umsetzbare Einigungsentscheidung eine höhere inhaltliche Qualität und prozedurale Legitimation und damit die Gewähr für eine nachhaltige und dauerhafte Beilegung des Konfliktes.288 Durch die konsensuale, privatautonome Einigung der Parteien
283 Vgl. die klassische Begriffsbestimmung in BVerfGE 72, 155) = NJW 1986, 1859, 1860 im Anschluss an Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 1: „Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den Einzelnen nach seinem Willen“. Ähnlich v. Hippel, Privatautonomie (1936), S. 62; Bydlinski, Privatautonomie (1967), S. 173; Wolf, Entscheidungsfreiheit (1970), S. 19; Lorenz, Schutz (1997), S. 15; Larenz/Wolf, BGB AT (9. Aufl. 2004), S. 26. 284 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 285 Vgl. oben S. 158 ff., 161 ff., 168 ff., 222 ff., 232 ff., 252 ff. 286 Vgl. oben S. 179 ff., 192 ff., 235 ff., 252 ff. 287 Vgl. hierzu eingehend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff. (invent options for mutual gain) sowie Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 288 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses vgl. oben S. 160 ff., 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff.
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ist ein langwieriger und kostenintensiver Zivilprozess entbehrlich: Die Privatautonomie ist damit zugleich Voraussetzung für eine zeit- und kostensparende und somit effiziente Streitbeilegung und auf diese Weise Grundlage für die Bemühungen der Justiz um eine Entlastung der Gerichte. b) Gewährung des Zugangs zum Recht: Access to Justice Project. Der zunächst paradox erscheinende Zusammenhang zwischen dem privatautonomen Charakter der Mediation und dem Zugang zum Recht und damit der Idee, Rechtsschutz gerade durch Vermeidung der staatlichen Gerichte zu gewähren, ist – wie wir gesehen haben – erst vor dem Hintergrund der Verringerung der Zugangsbarrieren der staatlichen Ziviljustiz verständlich: Indem dem rechtsuchenden Bürger ein materiell grundsätzlich qualitativ hochwertigeres und prozedural effizienteres Konfliktbeilegungsverfahren zur Verfügung gestellt wird, werden niedrigschwellige Rechtsschutzmöglichkeiten als Alternative zum zeitund kostenintensiveren Zivilprozess eröffnet, die ihm sonst nicht zur Verfügung stünden. Hier zeigt sich die enge Verknüpfung der unterschiedlichen Teilfunktionen des Mediationsverfahrens untereinander, die sich aus der gleichen, ihnen zugrunde liegenden Struktur des Verfahrens ergibt: Wenn die Privatautonomie den Parteien eine effektive Beilegung des Konfliktes ermöglicht, so ist es gerade diese Effektivität des Verfahrens, die ihnen damit zugleich einen ungehinderten Zugang zum Recht eröffnet. c) Versöhnung und Befriedung: Reconciliation Project. Auch die versöhnende Wiederherstellung der ursprünglichen Beziehung zwischen den Parteien, die dem Wesen des Mediationsverfahrens entsprechende Orientierung der Parteien aufeinander hin, kann nicht durch eine heteronome Drittentscheidung eines staatlichen Gerichtes erzwungen, sondern nur von den Parteien privatautonom auf konsensualem Wege herbeigeführt werden. Denn sie setzt einen Ausgleich der konfliktbedingten Wahrnehmungsverzerrungen (selektive Wahrnehmung289, Nullsummenmythos290), einen durch Hineinversetzen in die Situation des Konfliktpartners ermöglichten Perspektivwechsel291 und eine offene, vertrauensvolle Kommunikation voraus, die nicht anders als privatautonom denkbar ist. 289 Hierzu eingehend Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. 290 Vgl. zum Nullsummenmythos (zero-sum bias) nur die empirischen Studien von Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 102, 116 ff. (1990). Vgl. zur Problematik des Nullsummenspiels auch oben S. 17, Fn. 59. 291 Grundlegend hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23 f. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. Zum Perspektivwechsel Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. Eingehend hierzu auch oben S. 248 ff.
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d) Social Transformation Project. Entsprechendes gilt für die verfahrensexternen Auswirkungen des Mediationsverfahrens auf das gesellschaftliche Gefüge, das von dem jeweiligen Konflikt betroffen ist. Das Bemühen um eine gesellschaftliche Reform durch Beteiligung der unmittelbar Betroffenen, die Verwirklichung des Community-Gedankens durch gruppenunmittelbare Konfliktbeilegung und schließlich die Veränderung der Konfliktkultur als Teil einer größeren Gegenströmung hin zu konsensualen Steuerungsformen in den Bereichen des Rechtes, des Staates und der Gesellschaft bezieht seine Wirksamkeit gerade aus dem privatautonomen, eigenverantwortlichen Handeln der Parteien. Die Bedeutung der Privatautonomie als wesentlicher Grundvoraussetzung für die Verfahrensfunktionen der Mediation wird vor allem im Vergleich zur heteronomen Struktur des Zivilprozesses deutlich. Wie wir im ersten Teil unserer Untersuchung – der rechtstheoretischen Begründung des Mediationsverfahrens – gesehen haben, ist die heteronome Beilegung von Streitigkeiten aufgrund der systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses gegenüber konsensualen Streitbeilegungsverfahren defizitär: Der ursprüngliche Konflikt wird im Rahmen einer Komplexitätsreduktion durch Verrechtlichung verfremdet und in einen abgeleiteten Metakonflikt292 transformiert, der in einem binären Schematismus293 lediglich schematisch vordefinierte, typisierte Lösungsalternativen bietet, die den Konflikt lediglich retrospektiv beizulegen vermögen und bei denen entsprechend dem Mechanismus des Nullsummenspiels der Vorteil für die eine als Kehrseite dem Nachteil für die andere Partei entspricht.294 Als fremdbestimmter Konfliktlösungsmechanismus leidet der Zivilprozess unter einem Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit295 als notwendige Folge eines auf der Anwendung abstrakt-genereller Normen basierenden Konfliktbeilegungssystems, das sich hemmend auf die Fähigkeit des Zivilprozesses zur effektiven Streitbeilegung auswirkt. Der mit ihm verbundene höhere Zeit- und Kostenaufwand stellt eine erhebliche, im anglo-amerikanischen Rechtskreis mehr noch als im deutschen Recht ausgeprägte Zugangsbarriere des Einzelnen zum Recht dar.296 Die Fixierung der Parteien in den sich kontradiktorisch gegenüberstehenden Rollen der Prozessgegner erschwert eine tatsächliche Versöhnung der Parteien und trägt zur
292
Hierzu oben S. 15 ff. So Luhmann, in: Asmussen/Pawlik (Hrsg.), Material über Zukunftsaspekte der Rechtspolitik (1976), S. 67, 69; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. Eingehend hierzu oben S. 20 ff. 294 Hierzu Schelling, The Strategy of Conflict (1980), S. 83 ff.; Breidenbach, Mediation (1995), S. 71 ff. 295 Hierzu oben S. 27 ff. 296 Zum damit verbundenen Access to Justice Project oben S. 563 ff. sowie Breidenbach, Mediation (1995), S. 122 ff., 232 ff. 293
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weiteren Eskalation des Konfliktes bei, der sich trichterförmig verengt und nach dem Überschreiten eines point of no return in einen character contest als Metakonflikt übergeht297, in dem es nicht mehr um die eigentlichen Sachfragen, sondern nur noch um die Frage des Siegens oder Unterliegens geht. Da der Konflikt den Beteiligten weitgehend entzogen ist, ist von den Zielen des Social Transformation Project298 allein das der sozialen Reform zu verwirklichen. Dies gilt allerdings nur insoweit, als die zu verwirklichenden Reformanliegen bereits von der Rechtsordnung als gültig anerkannt worden sind und es im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens – wie etwa im Fall Brown vs. Board of Education299 – lediglich darum geht, diese Rechte auch als tatsächlich verbindlich anzuerkennen. (2) Kooperation Kooperation als grundlegendes Strukturmerkmal des Mediationsverfahrens ist die notwendige Folge des privatautonomen Handelns der Parteien: Es ist die Art und Weise, wie die Privatautonomie des Einzelnen in Beziehung zu anderen ausgestaltet wird. Kooperation als Mit- und Zusammenwirken mehrerer (co-operatio) ist privatautonomes Handeln des Einzelnen, das den Bereich der Selbstbezogenheit verlässt und sich zu einem anderen in Beziehung setzt. Sie findet ihren Ursprung in der regula aurea300 als „elementare(m) Gesetz allen Rechts schlechthin“301 und ist damit durch das Prinzip der Reziprozität geprägt: Auch wenn das Mediationsverfahren entsprechend der Strategie des „Tit for Tat“302 den Parteien als ersten Schritt gerade auch dann eine kooperative Grundhaltung im Sinne eines Vertrauensvorschusses abverlangt, wenn dies zunächst gleichsam „ins Blaue hinein“ und ohne Garantie der Erwiderung erfolgt, so ist tatsächliche Kooperation anders als das Bemühen um Kooperation auf die Mitwirkung der anderen Partei konstitutiv angewiesen. Sie ist als instrumentale, konkretisierende Ausprägung des Prinzips der Privatautonomie im Mehrpersonenverhältnis die Voraussetzung für eine Verwirklichung der Verfahrensfunktionen der Mediation: Sie ermöglicht eine an Parteiinteressen ausgerichtete a) effektive Konfliktbeilegung, dadurch b) den nie-
297 Vgl. eingehend hierzu oben S. 15 ff., 23 f. Grundlegend Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. 298 Hierzu oben S. 579 ff. 299 347 U.S. 483 (1954). 300 Hierzu eingehend oben S. 235 ff., 252 ff. 301 Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. 302 Grundlegend Axelrod/Hamilton, 211 Science (N.S.) 1390 (1981); Axelrod, The Evolution of Cooperation (1984), S. 113 ff., 130 ff.
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derschwelligen Zugang der Parteien zum Recht und ist schließlich die Grundbedingung, ohne die c) weder eine tatsächliche Versöhnung der Parteien noch eine Veränderung der Gesellschaft im Sinne d) des Social Transformation Project möglich ist. Auch hier wird die Bedeutung der kooperativen Verfahrensstruktur der Mediation besonders im Vergleich mit dem komplementären funktionalen Äquivalent des Zivilprozesses deutlich: Der konfrontative Charakter der kontradiktorischen Rollenfixierung der Parteien303 verhindert eine nur im Wege der Kooperation mögliche Durchbrechung des Nullsummenspiels und damit eine effektive, materiell beiderseits interessengerechte Beilegung des Konflikts. Weil die Parteien eine Einigung verweigern und damit ein Dritter autoritativ entscheiden muss, sind die Parteien prozedural auf ein langwieriges und kostenintensives Drittentscheidungsverfahren verwiesen, das ihren Zugang zum Recht von materiellen und immateriellen Ressourcen abhängig macht und eine gütliche Beilegung des Konfliktes aufgrund der Fixierung der Parteien in ein antagonistisches Rollendenken erheblich erschwert. Der kontradiktorische Charakter des Verfahrens behindert darüber hinaus eine Versöhnung der Parteien und trägt somit zur weiteren Eskalation des Konfliktes bei.304 Die Verwirklichung des Community-Gedankens wie auch eine Veränderung der Konfliktkultur hin zu kooperativen Steuerungsformen lässt sich auf diese Weise nicht erreichen. (3) Orientierung an Parteiinteressen Während die Kooperation auf die prozedurale Umsetzung des Prinzips der Privatautonomie abzielt, bildet die Interessenorientierung den materiellen Maßstab, an dem sich das privatautonome Handeln der Parteien orientiert.305 Wie wir bereits gesehen haben, liegt in der Orientierung der Konfliktlösung an den Interessen der Parteien gleichsam das „Erfolgsgeheimnis“ des Mediationsverfahrens und die Voraussetzung für seine Kapazität als effektives Streitbeilegungsverfahren. Seine fruchtbare und äußerst effektive Wirkung entfaltet die Mediation dabei dadurch, dass sie als gerechtes Verfahren in dem Prinzip des suum cuique tribue als zentralem Grundsatz der Gerechtigkeit verwurzelt ist, der in der regula aurea und daran anschließend in den Grundsätzen kommutativer und distributiver Gerechtigkeit Ausdruck gefunden hat: Jedem das ihm
303
Zum kontradiktorischen Rollenzwang des Zivilprozesses oben S. 24 ff. Eingehend hierzu oben S. 24 ff. mwN. 305 Vgl. zur Bedeutung der Interessenverwirklichung für ein gerechtes Ergebnis oben S. 222 ff. sowie zur Bedeutung der Interessen in Verhandlung und Mediation vgl. oben S. 170 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Bühring-Uhle/Eidenmüller/ Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff. 304
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nach seiner Natur und Berufung zur Entfaltung seiner Person zustehende, nämlich das, was seinen Bedürfnissen und Interessen entspricht, zukommen zu lassen. Die Mediation ist damit – wie auch das materielle Recht – auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit gerichtet. Durch die Orientierung an den Parteiinteressen ist es das gerechte Verfahren schlechthin, weil der von ihr vorausgesetzte multilaterale Rollenwechsel, wie Kohlberg gezeigt hat, allein einem reifen Gebrauch der regula aurea entspricht.306 Die Orientierung an den Parteiinteressen als zentrales „materielles“ Strukturmerkmal des Mediationsverfahrens, das das privatautonome Handeln der Parteien inhaltlich leitet und ihm damit materiell Kontur verleiht, bildet die tragende und ganz zentrale Voraussetzung für die unterschiedlichen Verfahrensfunktionen der Mediation: a) Das Mediationsverfahren bezieht die ihm eigene Leistungsfähigkeit als Instrument effektiver Konfliktbeilegung gerade aus seiner Fähigkeit, eine den Interessen beider Parteien entsprechende Einigungslösung zu generieren. Diese Effektivität gewährt den Parteien, wie wir gesehen haben, b) einen zeit- und kostengünstigen und damit einfachen „Zugang zum Recht“307, der sie c) zu privatautonomem Handeln befähigt. Und weil beide Parteien auch auf der Sachebene des Konfliktes regelmäßig als Sieger, jedenfalls nicht als Verlierer hervorgehen, wird damit zugleich auch d) eine Versöhnung und Befriedung der Beziehung zwischen den Parteien auf personaler Ebene begünstigt. Die Fokussierung des Verfahrens auf die Interessen der unmittelbar Beteiligten ermöglicht schließlich e) auch gesellschaftliche Veränderungen und Reformen, die nicht von der Anerkennung typisierter Gruppeninteressen durch die objektive Rechtsordnung abhängig sind, sondern umgekehrt im Vorfeld des legislativen Prozesses auf eine rechtliche Normierung hinwirken können. Wie wir bereits im ersten Teil unserer Untersuchung sehen konnten, fehlt dem Zivilprozess durch seine normative Fixierung auf abstrakt-generelle Regelungen als Ausgleichsmechanismus typisierter Interessen diese dem Mediationsverfahren eigene Fähigkeit.308 Zwar ist auch der Zivilprozess durch seine Orientierung an Rechten auf die Verwirklichung objektiver Gerechtigkeit hin ausgerichtet, weil positiv normierte Rechtspositionen letztlich ebenfalls auf die Verwirklichung der Parteiinteressen ausgerichtet sind und dem Einzelnen gerade das zukommen lassen sollen, was ihm aufgrund seiner Natur und seiner menschlichen Bedürfnisse als Person zusteht (suum cuique tribuere)309. Aller-
306
Zur einer solchen „second-order interpretation“ der goldenen Regel Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204 sowie oben S. 250. 307 Zur Bedeutung des materiellen Rechts in der Mediation eingehend oben S. 280 ff. 308 Zu den systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses eingehend oben S. 12 ff. 309 Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff.
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dings erfolgt die Realisierung der Interessen hier durch die Vermittlung abstrakt-genereller Normen: Der Konflikt bedarf der abstrahierenden Verfremdung in einen abgeleiteten Metakonflikt310, der Übersetzung in rechtlich handhabbare Begriffe und vermag die Parteiinteressen daher nur näherungsweise und aufgrund des ihm eigenen binären Schematismus sich einander ausschließender Entscheidungen nur einseitig, im Rahmen eines Nullsummenspiels zu verwirklichen, aus dem die eine Partei als Sieger, die andere als Verlierer hervorgeht. Da die Parteien auf die von ihnen geltend gemachten typisierten Rechtspositionen zurückgeworfen sind, besteht im Rahmen des Zivilprozesses regelmäßig die Gefahr, dass auch die tatsächlichen Interessen der obsiegenden Partei unberücksichtigt bleiben und das Verfahren damit insgesamt seinen Zweck verfehlt. Denn auch der „Sieger“ des Zivilprozesses ist häufig nicht nur im Hinblick auf die materiellen und immateriellen Kosten des Verfahrens, sondern auch im Hinblick auf den materiellen Ertrag „Verlierer“ des Verfahrens, das damit im Ergebnis häufig nicht einmal lediglich einen Sieger, sondern aufgrund seiner systemimmanenten Schwächen nur Verlierer kennt. (4) Beziehungsorientierung Die Mediation ist ein beziehungsorientiertes Verfahren: Das Wesen der Mediation besteht nach Fuller darin, die Parteien aufeinander hin auszurichten und sie so in die Lage zu versetzen, auf der Grundlage einer erneuerten, transformierten Beziehung den Konflikt kooperativ, privatautonom und beiderseits interessengerecht beizulegen.311 Die Beziehungsorientierung ist damit zentrales und konstitutives Strukturmerkmal der Mediation, das sich als notwendige Folge aus ihrem Charakter als privatautonomes und damit kooperatives Verfahren ergibt. Wenn wir den Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion näher in den Blick nehmen, so erkennen wir, dass die Transformation der Parteibeziehung die prozedurale Grundlage für die unterschiedlichen Funktionen des Mediationsverfahrens und damit auch das Geheimnis seines „Erfolges“ bildet: Die Leistungsfähigkeit der Mediation als a) effektives Verfahren der Konfliktbeilegung beruht, wie wir gesehen haben, ganz entscheidend auf ihrer Fähigkeit, den tatsächlichen Interessen der Parteien und damit den dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Ursachen gerecht zu werden.312 Dies ist indes
310 Hierzu oben S. 15 ff. sowie Aubert, The Hidden Society (1965), S. 98 f.; Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 104; Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186. 311 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). Hierzu oben S. 124 ff. 312 Hierzu oben S. 168 ff., 222 ff., 230 ff., 252 ff.
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vor allem auf der Grundlage privatautonomen Handelns möglich313, das in Mehrpersonenverhältnissen Kooperation und im Konfliktfall eine durch Versöhnung vermittelte Transformation der bestehenden Beziehung314 zwischen den Parteien voraussetzt. Nur auf der Grundlage einer auf diese Weise gewandelten kooperativen Arbeitsbeziehung zwischen den Parteien, die einen Perspektivwechsel315 und einen Rollentausch316 hinein in die Rolle des Problemlösers voraussetzt, vermag das Mediationsverfahren seine Leistungsfähigkeit als Instrument effektiver Konfliktbeilegung zu entfalten. Es kann dadurch den Parteien eine reale, zeit- und kostengünstige Alternative zum Zivilprozess und damit b) einen niederschwelligen Zugang zum Recht durch c) privatautonomes, auf d) Versöhnung gerichtetes Handeln eröffnen, das sie zugleich auch zu gesellschaftlicher Veränderung im Sinne des Social Transformation Project befähigt. Wie entscheidend sich die Strukturmerkmale auf die Funktion und die Leistungsfähigkeit des Verfahrens auswirken wird deutlich, wenn wir im Kontrast hierzu die komplementäre Verfahrensstruktur des Zivilprozesses in den Blick nehmen: Im Gegensatz zur Mediation werden die Parteien hier nicht aus ihrer kontradiktorischen Rollenfixierung herausgelöst, sondern im Gegenteil durch die Zuweisung der prozessualen Verfahrensstellung des Klägers und des Beklagten in ihren kontrafaktisch stabilisierten Rollenmustern sich antagonistisch gegenüberstehender Gegner gefestigt.317 Wie wir bereits gesehen haben, ist eine versöhnende Ausrichtung der Parteien aufeinander hin durch eine Transformation ihrer Beziehung zueinander aufgrund der dem Zivilprozess eigenen Verfahrensstruktur und Konfliktdynamik kaum möglich.318 Die Parteien werden durch die Dynamik des Verfahrens in einen abgeleiteten Metakonflikt319
313 Zur Bedeutung der Privatautonomie als wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Mediation vgl. oben S. 127, 130 ff., 137, 459 ff. 314 Zum Lern- und Transformationsprozess vgl. eingehend oben S. 567 f., 664 f. Zur Transformation der Parteibeziehung durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin vgl. oben S. 124 ff. , 471 ff. 315 Hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23 f.; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219 sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. Vgl. hierzu oben S. 248 ff. 316 Vgl. zu dem für das Harvard Modell zentralen multilateralen Rollentausch der regula aurea eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149, 204. 317 Hierzu oben S. 24 ff. sowie Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 53. 318 Vgl. oben S. 24 ff. 319 Grundlegend Aubert, The Hidden Society (1965), S. 98 f.; Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 104; Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191 sowie Bierbrauer/Falke/Koch, in:
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hineingezogen, der regelmäßig in einem von Goffman beschriebenen character contest320 mündet und damit ganz erheblich zur weiteren Eskalation des Konfliktes beiträgt.321 Wahrnehmungsverzerrungen322 und negative emotionale Bindungen werden nicht gelöst, sondern durch die Verstrickung in die Verfahrensposition und den damit verbundenen und sich mit fortschreitender Dauer des Verfahrens steigernden Zwang, aus dem Konflikt als Sieger hervorzugehen, verstärkt.323 Diese für die Beziehung der Parteien belastende Struktur des zivilgerichtlichen Verfahrens bildet eines der wesentlichen systemimmanenten Defizite heteronomer-kontradiktorischer Streitbeilegung und ist eine der wesentlichen Ursachen für die gegenüber dem Mediationsverfahren defizitäre Eignung des Zivilprozesse zur effektiven Beilegung von Konflikten.324 (5) Vertraulichkeit Die versöhnende Ausrichtung der Parteien aufeinander hin und die damit verbundene Wiederherstellung einer jedenfalls grundsätzlich kooperativen, problemlösungsorientierten Beziehung zwischen den Parteien setzt einen „geschützten Raum“ als Verfahrensrahmen und damit Vertraulichkeit voraus. Denn der „Erfolg“ der Mediation im Sinne einer tatsächlichen, beiderseits interessengerechten Einigungsentscheidung der Parteien erfordert regelmäßig, dass die Parteien ihre jeweiligen Interessen gegenseitig offenlegen und über mögliche Präferenzen und Einigungsoptionen ehrlich miteinander kommunizieren. Die für eine solche offene und transparente Kommunikation notwendige Atmosphäre des Vertrauens kann nur dann wachsen, wenn die Beteiligten nicht befürchten müssen, dass ihre Offenheit beim Scheitern des Mediationsverfahrens etwa durch Verwertung der offengelegten Informationen in einem nachfolgenden zivilgerichtlichen Verfahren zu ihren Lasten ausgenutzt wird. Vertraulichkeit ist als Strukturmerkmal des Mediationsverfahrens damit die prozedurale Voraussetzung für die Kooperation und damit das privatautonome
Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186. Eingehend hierzu oben S. 15 ff. 320 Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff. 321 Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 sowie oben S. 22 ff. 322 Hierzu Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. mwN. sowie oben S. 215 Fn. 212. 323 Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 sowie oben S. 139 ff. 324 Eingehend hierzu oben S. 12 ff mwN.
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Handeln der Parteien (Individual Autonomy Project).325 Indem sie den bereits äußerlich auch gegenüber unbeteiligten Dritten manifestierten Konflikt in den geschützten Raum eines privaten Forums überträgt, öffnet sie den Beteiligten die Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust den Wechsel von der Rolle des antagonistischen Konfliktgegners in die Rolle des kooperativen Problemlösers zu vollziehen und auf diese Weise tatsächlich eine versöhnende Transformation der Parteibeziehung einzuleiten (Reconciliation Project). Eine derartige kooperative Arbeitsbeziehung bildet ihrerseits die Grundlage für eine effektive Beilegung des Konfliktes durch eine beiderseits interessengerechte Einigungsentscheidung der Parteien (Service Delivery Project), und hierfür ist, wie wir gesehen haben, insbesondere die Vertraulichkeit von entscheidender Bedeutung: Die für eine effektive Beilegung des Konfliktes notwendige Offenlegung der gegenseitigen Interessen der Parteien setzt eine offene, ehrliche und transparente Kommunikation zwischen den Beteiligten und damit den geschützten Rahmen eines streng vertraulichen Verfahrens voraus. Sind die Voraussetzungen eines solchen Verfahrensrahmens gegeben, so ist den Parteien hiermit zugleich ein effektiver Zugang zur Justiz (Access to Justice Project) und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Reform (Social Transformation Project) eröffnet. Die Öffentlichkeit des Verfahrens steht hierzu in keinem Widerspruch, da das Öffentlichkeitsprinzip, wie wir gesehen haben, zwar den konstitutiven Verfahrensgrundsatz des zivilgerichtlichen Verfahrens bildet, mit der Mediation jedoch auch nicht-öffentliche Formen der Rechtsgewährung zur Verfügung stehen. Gleiches gilt für die Mediation als Medium gesellschaftlicher Veränderungen: Diese vollziehen sich nicht zwangsläufig und nicht stets in öffentlich sichtbarer Form, sondern können auch und gerade durch wichtige öffentliche Formen der Kommunikation angestoßen und gesteuert werden. Die Wirksamkeit und die Leistungsfähigkeit vertraulicher Kommunikationsforen wird auch hier in besonderer Weise deutlich, wenn wir die Vertraulichkeit des Mediationsverfahrens dem Öffentlichkeitsprinzip des Zivilprozesses gegenüberstellen: Wie wir im Rahmen unserer rechtstheoretischen Untersuchung der systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses bereits gesehen
325
Zur Bedeutung der Vertraulichkeit als wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Mediation oben S. 477 f. sowie Hilber, Die Sicherung der Vertraulichkeit des Mediationsverfahrens (2006); Cremer, Die Vertraulichkeit der Mediation (2007); Oldenbruch, Die Vertraulichkeit im Mediationsverfahren (2006); Beck, Mediation und Vertraulichkeit (2009); Hartmann, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1087, 1108 jeweils mwN. Vgl. aus dem US-amerikanischen Schrifttum etwa Alfini/Press/Sternlight/Stulberg, Mediation Theory and Practice (2. Aufl. 2006), S. 205 ff.; Kovach, Mediation (3. Aufl. 2004), S. 262 ff. sowie Gibson, 1992 J. Disp. Resol. 25 (1992); Miller, 105 Harv. L. Rev. 427 (1992); Deason, 17 Ohio St. J. on Disp. Resol. 239 (2002); Deason, 17 Ohio St. J. on Disp. Resol. 239 (2002); Williams, 2005 J. Disp. Resol. 209 (2005); Cole, 54 U. Kan. L. Rev. 1419 (2006); Cole, 54 U. Kan. L. Rev. 1419 (2006).
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
haben, beruht die Legitimation und die Wirksamkeit des zivilgerichtlichen Verfahrens auf dem Mechanismus der impliziten Rollenübernahme. Wie Luhmann überzeugend gezeigt hat, werden die Parteien im Zivilprozess gerade durch ihre Verstrickung in ein durch vordefinierte Normen reglementiertes Rollenspiel zur Hinnahme auch für sie nachteiliger Entscheidungen motiviert. Die Öffentlichkeit des Verfahrens führt dabei zu einer sozialen Isolierung des Verlierers, dessen Protest folgenlos bleibt und dem seine Niederlage selbst zugerechnet wird.326 Die Mitwirkung am prozessualen Rollenspiel erfordert von den Parteien Rollenkohärenz, die ein Ausbrechen aus den vordefinierten Rollen des Klägers bzw. des Beklagten ausschließt. Die Parteien sind damit auch dann, wenn sie zu einem Einlenken in der Sache bereit sind, gleichsam „gegen ihren Willen“ auf ihre anfänglich eingenommene Position festgelegt.327 Ein Verhaltenswechsel ist ihnen grundsätzlich verwehrt. Eine die Beziehung zwischen den Parteien erneuernde, versöhnende Ausrichtung aufeinander hin, ein privatautonomes Handeln der Parteien, das in der Parteibeziehung grundsätzlich nur kooperativ denkbar ist, und damit eine effektive und interessengerechte Konfliktbeilegung ist so kaum möglich. Hierfür bedarf es eines Verfahrens, das den Parteien den Wechsel in die für diese Verfahrensfunktionen sinnvolle Rolle des Problemlösers ermöglicht. Und dies kann im Kontext eines Konfliktes, in denen die Parteien in den durch Eskalation zementierten Rollen der Konfliktgegner gefangen sind, nur im geschützten Rahmen eines vertraulichen Verfahrens gelingen. (6) Informalität des Verfahrens Die Informalität des Mediationsverfahrens bildet das prozessuale Spiegelbild der Privatautonomie der Parteien.328 Weil die materielle Sachentscheidung allein den Parteien zukommt und nicht wie etwa im Zivilprozess durch einen Dritten getroffen wird329, bedarf es – freilich unbeschadet der das Verfahren erst konstituierenden Verfahrensgrundsätze – keiner formalisierter und normativ ausgestalteter Verfahrenspositionen. Die Eigenverantwortlichkeit der Parteien im Hinblick auf die materielle Sachentscheidung (substance control)330
326 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 117, 121, 123. Vgl. hierzu auch eingehend oben S. 30. 327 Hierzu Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 53 ff. sowie eingehend oben S. 24 ff. 328 Zum Mediationsverfahren als Ausdruck informaler Billigkeit vgl. oben S. 175 ff., 230 ff. 329 Hierzu aus struktureller Perspektive oben S. vgl. 130 ff., 139 ff., 142 ff. 330 Zur Differenzierung zwischen substance control der Parteien und process control des Mediators Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 80 ff.; Kracht, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 267, 279 ff., 284 ff. (mit
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setzt sich prozedural in ihrer grundsätzlichen Verfahrensherrschaft im Hinblick auf verfahrenseinleitende, -beendigende und -ausfüllende Verfahrenshandlungen fort. Über diesen Rahmen hinaus liegt die unmittelbare Verfahrensleitung (process control) dagegen beim Mediator, da die Konfliktbeteiligten aufgrund der Defizite ihres intuitiven Konfliktverhaltens zu einer eigenverantwortlichen Beilegung ihres Konfliktes noch nicht in der Lage sind.331 Informalität des Verfahrens bedeutet dabei keineswegs Strukturlosigkeit oder Beliebigkeit. Die Mediation zeichnet sich als strukturiertes Verhandlungsverfahren im Gegenteil gerade durch eine klare Verfahrensstruktur (Fünfphasenmodell der Mediation) und Verfahrensprinzipien aus. Die Struktur des Mediationsverfahrens bildet indes lediglich einen Rahmen, der in seiner konkreten Ausgestaltung flexibel an die Dynamik des Konfliktes und an die Bedürfnisse der Parteien im Einzelfall angepasst werden kann. Im Gegensatz zum Zivilprozess kennt das Mediationsverfahren keinen starren Verfahrensablauf, bei dessen Nichteinhalten ein reversibler Verfahrensmangel vorliegen würde. In dieser, in seiner konkreten Ausgestaltung flexiblen, in seiner Zielrichtung indes klaren Struktur liegt gerade die besondere Kraft und das Potenzial des Mediationsverfahrens. Neben der Flexibilität des Verfahrens bedeutet Informalität vor allem eine geringe prozessuale Normierungsdichte, die den Parteien gerade keine abstrakt-generellen normierten prozessualen Verfahrenspositionen zuweist, sondern stattdessen die Möglichkeit der privatautonomen Konfliktgestaltung eröffnet. An die Stelle lediglich mittelbarer, über professionelle Parteivertreter vermittelter schriftlicher Kommunikation332, die nicht in der Form der Alltagssprache der Parteien, sondern in der nur für Spezialisten zugänglichen Rechtssprache erfolgt, tritt das offene und direkte Gespräch zwischen den unmittelbar Konfliktbeteiligten, das inhaltlich nicht an Rechtspositionen, sondern an den Interessen der Parteien orientiert ist.333 Die in dieser Form ausgestaltete Informalität des Mediationsverfahrens als prozedurale Folge der privatautonomen Natur des Mediationsverfahrens steht
abweichender Terminologie); Menkel-Meadow, Mediation (2001), S. 91; Kovach, Mediation (3. Aufl. 2004), S. 46; Moore, The Mediation Process (3. Aufl. 2003), S. 18. 331 Vgl. hierzu oben S. 109. 332 Zu dem Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit des Zivilprozesses eingehend oben S. 27 ff. 333 Vgl. zur Bedeutung des Wechsels vom Positionen- zum Interessendenken als Ankerpunkt des Mediationsverfahrens eingehend oben S. 15 f. sowie Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff.; Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27, 30 (2000); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff., 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 46 f., 167 ff.
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damit im Dienst der fünf Verfahrensfunktionen, die wir im vorangegangenen Abschnitt unserer Arbeit in den Blick genommen haben: Des Service Delivery, des Access to Justice, des Individual Autonomy, des Reconciliation und des Social Transformation Project. (7) Vermittlung durch neutralen Dritten Die Mediation ist schließlich als triadisches Verfahren durch die unterstützende und vermittelnde Mitwirkung des Mediators als neutralen Dritten geprägt. Die lediglich dienende Funktion des Mediators bildet das entscheidende Abgrenzungskriterium zu der als Dyade ausgestalteten Verhandlung an dem einen und zu dem als heteronomes Drittentscheidungsverfahren strukturierten Zivilprozess am anderen Ende des Kontinuums der Konfliktbehandlungsverfahren.334 Indem das Mediationsverfahren dem Mediator im Hinblick auf die materielle Sachentscheidung lediglich eine unterstützend-vermittelnde und keine konstitutiv-entscheidende Funktion zuweist, macht es eine an den Interessen und konkreten Bedürfnissen der Parteien orientierte, privatautonome, maßgeschneiderte und wertschöpfende Beilegung des Konfliktes durch die unmittelbar Konfliktbeteiligten im Sinne einer pareto-optimalen win-win-Lösung überhaupt erst möglich. Dass mit dem privatautonomen Handeln neben einer effektiven Konfliktbeilegung und einem erleichterten Zugang zum Recht auch eine Versöhnung der Parteien, eine gesellschaftliche Reform, eine Stärkung des Community-Gedankens sowie eine Veränderung der Konfliktkultur möglich werden, haben wir bereits gesehen. Diese Möglichkeit ist im streitigen Verfahren durch die heteronome Struktur des Zivilprozesses versperrt, der auf eine Beilegung des Konfliktes auf der Grundlage typisierter Wertentscheidungen angewiesen ist, die in den abstraktgenerellen Normen des positiven Rechts und seinen binären Rechtsfolgen Ausdruck gefunden haben. Die damit verbundenen systemimmanenten Schwächen zivilgerichtlicher Streitbeilegung, die wir im ersten Teil unserer Untersuchung näher in den Blick genommen haben, entsprechen so gleichsam spiegelbildlich den Vorteilen des Mediationsverfahrens, die aus der ihr eigenen Verfahrensstruktur erwachsen und die Ausdruck ihrer spezifischen Verfahrensfunktionen sind. cc) Wirkungen Mit den Vorteilen des Mediationsverfahrens als Ausdruck seiner spezifischen Funktion und Struktur ist der Bereich der Verfahrenswirkungen angesprochen, den wir im Rahmen unserer Verfahrensanalyse nun abschließend in den Blick nehmen wollen. Im Mittelpunkt unserer Betrachtung stehen mit den Parteien, dem Konflikt und der Gesellschaft dabei die drei zentralen Wirkbereiche der 334
Hierzu oben S. 100 ff., 542 ff., 541 ff.
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Mediation als Konfliktbeilegungsverfahren. Die Verfahrenswirkungen der Mediation auf diese drei Bereiche werden wir dabei einer wertenden Analyse unterziehen und neben den Vorteilen auch auf die Risiken des Mediationsverfahrens eingehen. (1) Parteien Die regelmäßige Wirkung der Mediation auf die Parteien wird zusammenfassend durch das Wesen des Verfahrens gekennzeichnet, das nach Fuller in der Orientierung der Parteien aufeinander hin besteht335, in deren Ergebnis sie auf der Grundlage einer neuen, gemeinsamen Perspektive ihrer Beziehung ihre Einstellung und ihr Verhalten zueinander neu ordnen. Die Parteien werden dabei als Personen in ihrem ganzen menschlichen Sein in diese Bewegung der gegenseitigen Hinwendung hineingezogen. 1. Psychologische Ebene.336 Die kognitionspsychologischen und emotionalen Auswirkungen der Mediation auf die Parteien sind von der interdisziplinären Verhandlungsforschung eingehend untersucht worden. Auf kognitiver Ebene trägt das Mediationsverfahren zu einer weitgehenden Auflösung konfliktbedingter Wahrnehmungsverzerrungen (debiasing) und damit zu einer Begrenzung der negativen Auswirkungen kognitiver Einigungsbarrieren bei.337 Durch den in der Mediation regelmäßig vollzogenen multilateralen Rollentausch338, der nach Kohlberg einem reifen Gebrauch der regula aurea entspricht339 und in dem die Parteien den Konflikt aus der Perspektive der Interessenbedürfnisse ihres jeweiligen Konfliktpartners betrachten, können sie die Auswirkungen selektiver Wahrnehmung – wie etwa Überoptimismus, attributionelle Verzerrungen und objektive Abwertungsmechanismen – überwinden.
335
Vgl. Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971) sowie oben S. 124 ff. Hierzu zählen vor allem die kognitiven und emotionalen Auswirkungen des Verfahrens, während wir die im weitesten Sinne ebenfalls psychologisch zu qualifizierende Beziehungs- und Verhaltensebene aufgrund ihrer besonderen Bedeutung hiervon losgelöst als eigenständige Kategorien in den Blick nehmen werden. 337 Hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 22 ff.; Arrow/Mnookin/Ross/Tversky/Wilson, Barriers to Conflict Resolution (1995); Golann, 6 ADR Currents 6 (2001); Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 29 f., 62 f., 156 ff., 239 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 10 f., 38 ff., 41 ff., 86; Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 6 ff. 338 Hierzu oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149, 204. Zum Perspektivwechsel vgl. Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. Eingehend hierzu auch oben S. 248 ff. 339 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. Vgl. hierzu oben S. 250. 336
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Auf emotionaler Ebene hat die mit dem gewöhnlichen Verlauf der Mediation stets verbundene Kooperation, auch wenn sie lediglich auf „Arbeitsebene“ erfolgt, über die damit verbundene persönliche Nähe (exposure effect340, propinquity effect341) und die Konfrontation mit dem Konflikt als gemeinsamem Problem (similarity-attraction effect342) regelmäßig eine Auflösung negativer und eine Verstärkung positiver Emotionen zur Folge. Der Konfliktpartner wird nun nicht mehr ausschließlich negativ, sondern deutlich positiver wahrgenommen und die Beziehung zwischen den Parteien durch einen oft unbewusst vollzogenen Wechsel von der Rolle sich antagonistisch gegenüberstehender Konfliktgegner in die Rolle des kooperativen Problemlösers transformiert. Insgesamt führt die durch das Verfahren vorgegebene Zuweisung kooperativer Verhaltensmuster als Teil der den Parteien zukommenden Rollen zu einer realistischeren Eigen- und einer positiveren Fremdwahrnehmung. Durch die offene Kommunikation ihrer gegenseitigen Interessen gelingt es den Parteien, den Nullsummenmythos (fixed pie conception)343 zu überwinden und so die kognitive Voraussetzung für wertschöpfendes Verhandeln und die Entwicklung beiderseits interessengerechter Einigungsergebnisse zu schaffen. Zugleich wendet sich die Wahrnehmung des Konfliktes, der nicht mehr dem Handeln des Konfliktgegners zugeschrieben, sondern als gemeinsam zu bewältigendes Problem verstanden wird. 2. Verhaltensebene. Die veränderte Wahrnehmung und der damit einhergehende Paradigmenwechsel in der Haltung der Beteiligten zu ihrem jeweiligen Konfliktgegner und zum Konflikt selbst haben erhebliche Auswirkungen auf ihr Konfliktverhalten. Indem den Parteien die Bedeutung der Interessen, die Möglichkeit wertschöpfender Kooperationsgewinne und die jeweilige Perspektive ihres Konfliktpartners vermittelt werden, werden sie auf natürliche Weise aus den Wahrnehmungsbeschränkungen ihres kontradiktorischen Anspruchs- und Positionendenkens und damit aus ihrem intuitiven Konfliktverhalten herausgelöst und gleichsam in einer Schule der Kooperation zu einer eigenverantwortlichen Beilegung ihres Konfliktes im Wege der Kooperation befähigt. Die Mediation wirkt daher als Hilfe zur Selbsthilfe pädagogisch auf die Parteien ein, die gleichsam am Beispiel ihres aktuellen Konfliktes die
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Zajonc, 9 J. Pers. Soc. Psychol. 1 (1968). Vgl. hierzu auch Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138. 341 Segal, 30 J. Pers. Soc. Psychol. 654 (1974). Vgl. hierzu auch Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138 f. 342 Griffin/Sparks, 7 J. of Soc. and Pers. Relationships 29 (1990). Vgl. hierzu auch Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138. 343 Hierzu Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 102, 116 ff. (1990) sowie aus dem deutschen Schrifttum Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 6 f., 55; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 49 f.
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Grundmuster kooperativen Konfliktverhaltens erlernen und so auch ihr zukünftiges Verhalten entsprechend ausrichten können. Durch diesen dem Mediationsverfahren eigenen Lernprozess werden die Parteien letztlich zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt und damit in ihrer Fähigkeit gestärkt, für ihre Interessen einzustehen (self-agency) und die ihnen zukommende Privatautonomie auch tatsächlich auszuüben (empowerment). 3. Beziehungsebene. Das Mediationsverfahren wirkt sich schließlich in ganz erheblichem Umfang auch auf die Beziehung zwischen den Parteien aus. Dabei stehen die einzelnen Verfahrenswirkungen auf psychologischer, Verhaltensund Beziehungsebene in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander: Indem sie den Parteien ein kooperatives Rollenmodell zuweist und damit ihre Beziehung zueinander durch ein auf Kooperation ausgerichtetes äußeres Verhaltensmuster neu definiert, löst die besondere Struktur des Mediationsverfahrens zunächst bei den Parteien eine Reihe kognitiver und verhaltensrelevanter Veränderungen aus. Die Parteien werden in den unterschiedlichen Ebenen der Persönlichkeit ihres menschlichen Seins in die große Bewegung der kooperativen Ausrichtung aufeinander hin hineingezogen.344 Zugleich wirken sie ihrerseits verstärkend auf diesen Transformationsprozess ein: Die positivere Wahrnehmung des jeweiligen Konfliktgegners, die mit der Erforschung der gegenseitigen Interessen und der gemeinsamen Entwicklung von Lösungsoptionen im Wege einer kooperativen Arbeitsbeziehung einhergeht, stärkt und festigt die neu ausgerichtete Beziehung zwischen den Parteien. Die Verschiebung der emotionalen Polarität von negativen hin zu positiven Emotionen, die mit dem jeweiligen Konfliktpartner assoziiert werden, stärkt das emotionale Band zwischen den Parteien und bildet damit zugleich die Grundlage für eine Atmosphäre des Vertrauens und eine offene, ehrliche und transparente Kommunikation.345
344
Vgl. zu dem durch die Operationalisierung der regula aurea in Gang gesetzten Lernund Transformationsprozess eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff., 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff. sowie unten S. 814. Zu einem ähnlichen verhaltensformenden Mechanismus des Zivilprozessess, hier allerdings mit Blick auf die Hinnahme von Drittentscheidungen bereits Luhmann: „Vermutlich ist dies die heimliche Theorie des Verfahrens: daß man durch Verstrickung in ein Rollenspiel die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren könne.“ Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87. Hervorhebungen durch den Verfasser. 345 Von besonderer Bedeutung sind hierbei die exposure, propinquity und similarity-attraction Effekte, vgl. Zajonc, 9 J. Pers. Soc. Psychol. 1 (1968); Segal, 30 J. Pers. Soc. Psychol. 654 (1974); Griffin/Sparks, 7 J. of Soc. and Pers. Relationships 29 (1990); Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138 sowie oben S. 476. Zur Bedeutung von Emotionen für die Konfliktdynamik im Mediationsverfahren vgl. oben S. 133 ff.
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(2) Konflikt Das Mediationsverfahren wirkt indes nicht nur auf die Parteien als Subjekte, sondern auch auf den Konflikt als Objekt der Auseinandersetzung ein. 1. Sachebene. Auf der Sachebene führt eine erfolgreich durchgeführte Mediation zu einer zukunftsorientierten, beiderseits interessengerechten Einigung und damit zu einer dauerhaften, nachhaltigen Beilegung des Konfliktes. Weil das Mediationsverfahren die hinter den geltend gemachten Positionen stehenden tatsächlichen Interessen der Parteien in den Blick nimmt, wird der Konflikt nicht nur symptomatisch, sondern ursächlich und somit auch dauerhaft und nachhaltig beigelegt. 2. Beziehungsebene. Auf der Beziehungsebene hat die Mediation eine Umformung des Verhältnisses der Parteien zueinander zur Folge, die – wie wir gesehen haben – die Persönlichkeit der Parteien als Ganzes auch in ihrer kognitiven und emotionalen Dimension erfasst. Die Parteien werden aus den konfliktbedingten Rollenmustern antagonistisch gegenüberstehender Gegner herausgelöst und durch die Übernahme der Rolle des kooperativen Problemlösers wieder aufeinander hin ausgerichtet. 3. Konfliktentwicklung und Konfliktkosten. Mit der Einleitung der Mediation beginnt ein Prozess der Deeskalation. Der Konflikt wird in seiner Weiterentwicklung und in seiner Ausbreitung gehemmt und schrittweise entschärft. Durch die Orientierung an den Parteiinteressen und die damit verbundene ursächliche und nachhaltige Beilegung des Sachkonfliktes wird die Entstehung nachfolgender Tochterkonflikte und somit eine weitere Ausbreitung verhindert. Durch die Deeskalation und Begrenzung des Konfliktes werden seine materiellen und immateriellen Auswirkungen minimiert.346 Die hohe Effizienz und Wirksamkeit des Mediationsverfahrens ermöglicht eine schnelle, kostengünstige und qualitativ effektive Beilegung des Konfliktes und erlaubt damit so eine erhebliche Reduzierung der Konfliktkosten.347 (3) Gesellschaft Auch wenn die Mediation als privatautonomes Verfahren zunächst auf die Neugestaltung der Beziehung zwischen den beiden Parteien gerichtet ist und sich damit in erster Linie vor allem im Binnenverhältnis zwischen den unmittelbar Konfliktbeteiligten auswirkt (interne Verfahrenswirkungen), so entfaltet sie doch über den konkreten Konfliktfall hinaus auf vielfältige Weise Folgewirkungen für die weitere Ebene der Gesellschaft, in welche die Parteien wie auch der Konflikt eingebettet sind (externe Verfahrenswirkungen). 346
Zur entgegengesetzten, eskalierenden Wirkung des Zivilprozesses oben S. 22 f. Zur Reduzierung der Konfliktkosten im Rahmen von Konfliktmanagementsystemen eingehend Dendorfer/Breiter, BB 2002, IDR-Beil., 33, 35 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 325 ff. 347
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1. Konfliktkultur. Das Mediationsverfahren trägt zum einen dadurch, dass es bei den Parteien eine nachhaltige Veränderung ihres Konfliktverhaltens bewirkt, in erheblichem Umfang zu einer Veränderung der Konfliktkultur bei. Eine entsprechend breite Hinwendung zu konsensualen Streitbeilegungsformen ist durch den stetigen Anstieg der Vergleichsquote in Zivilverfahren vor den Landgerichten um 163,93 % von 1975 bis 2015 auf 27,0 % im Jahr 2015 (im Vergleich zu einer Urteilsquote von im Jahr 2015 von 26,3 %) auch empirisch belegt.348 Darüber hinaus hat sich die Mediation, wie wir gesehen haben, mittlerweile in den vielfältigsten Bereichen gesellschaftlichen Lebens – wie etwa in Schulen, Krankenhäusern, Unternehmen, im Sport und in familiären Konflikten – fest etabliert und wirkt auf diese Weise auf ganz unterschiedliche soziale Gruppen und Bereiche ein. Zwar ist der Gütegedanke schon seit jeher Teil der Rechtsentwicklung und der Konfliktbehandlung gewesen349, doch hat sich die tatsächliche Verfügbarkeit praktisch handhabbarer und effektiver konsensualer Streitbeilegungsverfahren erst seit Mitte der 1970er Jahre dramatisch verändert. Erst mit den wissenschaftlichen Erträgen der interdisziplinären Verhandlungsforschung und dem Konzept interessenorientierter Verhandlung, das über den stets mit dem Makel des zumindest teilweisen Unterliegens behafteten Kompromiss hinausgeht und wertschöpfende, beiderseits interessengerechte Einigungen ermöglicht, sind konsensuale Streitbeilegungsverfahren auch für die breite Rechtspraxis handhabbar geworden.350 Dieser wissenschaftliche Durchbruch und der mit ihm verbundene Paradigmenwechsel bilden die Grundlage für die rasante, nahezu explosionsartige Ausbreitung des Mediationsgedankens im Rahmen der internationalen ADR-Bewegung, die aufgrund der systembedingten Schwächen zivilgerichtlicher Streitbeilegung und insbesondere der nach wie vor beklagten Defizite US-amerikanischer Ziviljustiz stetig weitere Impulse erhält.351 Diese Breitenwirkung wird durch die zunehmende Institutionalisierung der Mediation, etwa im Rahmen der in zahlreichen Bundesländern entstandenen 348 Vgl. hierzu oben S. 62 ff. mwN. sowie S. 83, Fn. 351. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1975-2004); Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2004-2013), Tabellen 2.1.2, 5.1.2 349 Vgl. hierzu nur Düll, Der Gütegedanke im römischen Zivilprozessrecht (1931); Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff.; Peters, Gütegedanke (2004). 350 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung der ADR-Bewegung eingehend oben S. 9 ff., 60 ff. sowie Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 1 ff. (2000); Gray, 22 Neg. J. 445, 445 ff. (2006); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). 351 Hierzu bereits klasssich Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 396 (1906), der schon früh vor den Folgen eines defizitären Justizsystems für die Autorität des Rechts warnte („real and serious dissatisfaction with courts and lack of respect for law which exists in the United States today.”). Die Defizite US-amerikanischer Ziviljustiz standen im zentrum der Pound Conference 1976, die zum Geburtshelfer der ADR-Bewegung wurde.
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gerichtsverbundenen Mediationsprogramme352, die Integration der Mediationsausbildung in die akademische Lehre353, die Förderung der Mediation durch rechtliche Rahmenregelungen wie etwa die europäische Mediationsrichtlinie, die ADR-Richtlinie sowie das 2012 in Kraft getretene MedG354 in Deutschland weiter verstärkt. Das Mediationsverfahren kann auf die gesellschaftliche Ebene einwirken, weil es aufgrund des ihm eigenen pädagogischen Charakters als „Schule der Kooperation“ die gesamte Persönlichkeit der Konfliktbeteiligten, ihre Wahrnehmung, ihre Emotionen und ihr Verhalten in die ihm wesenseigene große Grundbewegung der Kooperation einbezieht und die Parteien so tatsächlich erst zu kooperativem Handeln befähigt und damit erst in grundlegender Weise in die Lage versetzt, Konflikte auf konsensuale Weise im Wege der Kooperation eigenverantwortlich beizulegen. Die Mediation ist dabei, wie wir am Beginn unserer Untersuchung gesehen haben, selbst Teil und Ausprägung eines tiefgreifenden Wandels des Rechtes, des staatlichen Handelns und der Konfliktkultur hin zu informal-kooperativen Handlungsstrukturen als Ausdruck eines formal-materiellen Rechtsverständnisses, das als übergeordnete Entwicklungsströmung vielfältige Bereiche gesellschaftlichen Lebens erfasst. 2. Stärkung von Gruppen. Gegenüber dieser weitreichenden Veränderung des Umgangs mit Konflikten in der Gesellschaft als Teil einer Veränderung gesellschaftlicher Steuerungsmechanismen tritt der Aspekt der Stärkung von Gruppen im Rahmen des Community-Gedankens deutlich in den Hintergrund. Zwar findet die Mediation ihren Ursprung zum Teil auch in den Mediationsprogrammen der Neighborhood bzw. Community Mediation Projekte, doch spielen diese von ihrem Umfang und ihrer Bedeutung für die verfahrensexternen Wirkungen des Mediationsverfahrens keine zentrale Rolle. Die Ursache hierfür ist zum einen darin zu sehen, dass die Bedeutung mikrosozialer Gruppen durch die Auflösung familiärer, nachbarschaftlicher und glaubensorientierter Strukturen im Zuge der zunehmenden Individualisierung und Mobilität der Gesellschaft stetig abgenommen hat und es damit – von Ausnahmefällen abgesehen – letztlich kaum noch nennenswerte sozial relevante Gruppen gibt,
352
Vgl. hierzu eingehend v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 61 ff.; Greger, ZRP 2006, 229; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006); Greger, Abschlussbericht (2007); Spindler, ZKM 2007, 79; Greger, ThürVBl. 2010, 6; Greger, AnwBl. 2013, 504; Klamt/Moltmann-Willisch, ZKM 2013, 112. 353 Vgl. nur § 5a Abs. 3 S. 1 DRiG und § 2 der bayrischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) vom 13. Oktober 2003 (GVBl. Bayern 2003, S. 758); § 7 Abs. 2 Juristenausbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen (JAG NRW) vom 11. März 2003 (GVBl. Nordrhein-Westfalen 2003, S. 135); § 2 Abs. 2 des Landesgesetzes über die juristische Ausbildung (JAG RP) vom 23. Juni 2003 (GVBI. 2003, S. 116 ff.). 354 Eingeführt durch Art. 1 des MedFördG (Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung) v. 12.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff.
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die durch eine gruppenunmittelbare Konfliktbeendigung gestärkt werden könnten. Zum anderen dürfte die gemeinschaftsbildende- und -fördende Funktion der Mediation als Form gruppenunmittelbarer Streitbeilegung schon aufgrund der Vertraulichkeit des Verfahrens von ihrer Intensität und dem Umfang ihrer Wirkung her begrenzt sein und sollte daher nicht überbewertet werden. Im Ergebnis kann die Mediation somit auch im Sinne des Community-Gedankens auf die Stärkung sozialer Gruppen hinwirken, dies indes nur in denkbar begrenztem Umfang.355 3. Reduzierung gesellschaftlicher Konfliktkosten. Deutlich stärker wirkt sich das Mediationsverfahren indes auf die gesellschaftlichen Kosten von Konflikten aus. Im Gegensatz zum Zivilprozess, der aufgrund seines hohen finanziellen und zeitlichen Aufwandes und seiner eskalierenden Wirkung auf den Konflikt nicht nur die bereits durch den Konflikt selbst entstandenen Kosten nicht begrenzt, sondern darüber hinaus zusätzliche hohe materielle wie immaterielle Kosten verursacht, besteht eine der zentralen Wirkungen des Mediationsverfahrens in der erheblichen Reduzierung der Konfliktkosten. Diese Wirkung erreicht das Mediationsverfahren auf zweifache Weise: Zum einen werden die unmittelbar oder mittelbar durch den Konflikt entstandenen Kosten (Konfliktkosten) dadurch reduziert, dass der Konflikt in einem weitgehend frühen Eskalationsstadium gleichsam „eingefangen“, in seinen negativen Auswirkungen durch Deeskalation begrenzt und in seiner weiteren Ausbreitung gehemmt wird. Zum anderen werden im Gegensatz zu dem grundsätzlich kostenintensiven Zivilprozess durch das Mediationsverfahren selbst nur vergleichsweise geringe Kosten verursacht (Konfliktbehandlungskosten), so dass die Gesamtkosten des Konfliktes durch den Einsatz des Mediationsverfahrens deutlich reduziert werden können. Die Konfliktkosten reduzierende Wirkung der Mediation beruht dabei sowohl auf ihrer quantitativen Effizienz als auch auf ihrer qualitativen Effektivität. Im unternehmerischen Bereich betreffen die Konfliktkosten vor allem die drei Dimensionen der Person, des Teams und der Organisation.356 In personeller Hinsicht entstehen den Unternehmen durch innerbetriebliche Konflikte zunächst direkte (Personalsuche, Kosten durch unbesetzte Stellen) und indirekte (Minderleistung des Mitarbeiters, Demotivation der Kollegen) Fluktuationskosten, durch Konflikte verursachte Krankheitskosten (eingeschränkte Leistungs- bzw. Qualitätsfähigkeit, Fehlzeiten aufgrund von Konflikten) sowie
355
Zur gruppenunmittelbaren Konfliktbeilegung auch Falke/Gessner, in: Blankenburg/ Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 297 f. Ebenfalls kritisch Breidenbach, Mediation (1995), S. 243 f. 356 KPMG, Konfliktkostenstudie (2009), S. 13 ff. Zur Reduzierung der Konfliktkosten im Rahmen von Konfliktmanagementsystemen eingehend Dendorfer/Breiter, BB 2002, IDRBeil., 33, 35 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 325 ff.
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Kosten aufgrund kontraproduktiven bzw. betriebsschädigenden Verhaltens der Mitarbeiter (Unterschlagung von Betriebsmitteln, Missbrauch von Arbeitszeit).357 Darüber hinaus wirken sich Konflikte durch Kundenfluktuation (Neuakquisitionen von Kunden, Imageverlust), Mängel in der Projektarbeit (abgebrochene Projekte, Terminverzögerungen) und entgangene Aufträge (nicht realisierte Zielkunden und -aufträge, Fehlallokationen) auch auf die Teamebene aus.358 Und schließlich können dem Unternehmen im Zuge von Konflikten auch im organisatorischen Bereich durch Über- bzw. Unterregulierung der Organisation (Diskussion über bereits bestehende Regeln, ungeplante externe Beratung), verbesserungsbedürftige Anreizsysteme (Entscheidungsfindung und umsetzung) sowie arbeitsrechtliche Sanktionen (Gespräche, Beratung) erhebliche Kosten entstehen.359 Nicht alle durch Konflikte verursachten Kosten wirken sich indes nachteilig auf das Unternehmen aus und stellen damit dysfunktionale Konfliktkosten dar. Bewirken sie positive Veränderungen – etwa durch eine Verbesserung des Anreizsystems, das zukünftige Konflikte wirksamer zu begrenzen vermag –, so handelt es sich bei einer wertenden Betrachtung letztlich um Investitionen in die weitere Unternehmensentwicklung im Sinne funktionaler Konfliktkosten.360 Die tatsächlichen Kosten von Konflikten lassen sich allerdings nicht auf materielle volks- oder betriebswirtschaftliche Aspekte reduzieren. Im Gegenteil entfalten sie ihre destruktive Kraft vor allem und gerade im unmittelbaren Bereich der individuellen Persönlichkeit des einzelnen Menschen und können hier zu schweren Traumata, inneren Verletzungen und letztlich auch psychosomatischen Erkrankung führen. Die mit dem streitigen Zivilprozess verbundenen hohen emotionalen und psychischen Belastungen waren für die Pioniere der ADR-Bewegung eine der wesentlichen Gründe dafür, nach Alternativen für die als unzureichend empfundene Auseinandersetzung im streitigen gerichtlichen Verfahren zu suchen.361 Darüber hinaus hat die interdisziplinäre Konfliktforschung in den vergangenen Jahren die Bedeutung stabiler und gesunder Beziehungen als eine der zentralen Grundlagen menschlicher Existenz herausgestellt: Menschliches Leben, menschliches Sein ist von seinem innersten Kern her auf Zuwendung zum anderen und Kooperation hin ausgerichtet. Der Mensch vermag mit Blick auf die Voraussetzungen seiner biologisch-körperlichen und seelisch-psychischen Existenz aufgrund der Struktur seiner neuronalen Korrelate in einem Umfeld stetigen Wettbewerbs, der Konkurrenz und des Überlebenskampfes nicht auf Dauer ohne tiefgreifende Beeinträchtigungen zu existieren. Auch wenn sich 357
KPMG, Konfliktkostenstudie (2009), S. 13 f., 30 ff. KPMG, Konfliktkostenstudie (2009)S. 14 f., 36 ff. 359 KPMG, Konfliktkostenstudie (2009), S. 15 f., 42 ff. 360 KPMG, Konfliktkostenstudie (2009), S. 11. 361 Vgl. zur prozessualen Militanz der Parteien im Zivilprozess eindrücklich Greger, JZ 1997, 1077, 1078 f. 358
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die immateriellen Kosten von Konflikten nicht beziffern lassen, so stellen sie doch die am tiefsten einschneidenden und durch ihre materiellen Folgewirkungen folgenreichsten Auswirkungen von Konflikten dar. Sie bilden, wie die Rechtspraxis zeigt, auch und gerade im unternehmerischen Bereich häufig Ursache und Anlass weiterer Konflikte, in denen es häufig kaum noch um das Sachproblem, sondern weitgehend um emotionale Aspekte geht. Das Mediationsverfahren erfüllt dadurch, dass es die immateriellen Auswirkungen von Konflikten begrenzt und sie ursächlich behandelt eine ganz wesentliche Befriedungsfunktion. Indem es die Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit des Einzelnen fördert und ihn durch das Modell interessenorientierten Verhandelns in die Lage versetzt, Konflikte eigenverantwortlich auf kooperativ-konsensualem Wege und zugleich interessengerecht beizulegen, trägt die Mediation zur Stabilisierung der Gesellschaft und zur Aufrechterhaltung ihrer grundlegenden Interaktionsformen bei. dd) Risiken Allerdings birgt die Mediation wie jedes privatautonome Handeln für die Parteien auch ganz spezifische Risiken, die als unbeabsichtigte Nebenfolgen auf die Parteien, den Konflikt und die Gesellschaft einwirken können. (1) Parteien Für die Parteien ergeben sich spezifische Risiken in den bereits diskutierten Fällen der Übervorteilung aufgrund von Machtungleichgewichten oder Informationsasymmetrien, aufgrund einseitig benachteiligender Vereinbarungen infolge des Einigungsdrucks seitens des Mediators, der Verletzung der Vertraulichkeit des Verfahrens, der Behinderung des Zugangs zum Recht im Falle obligatorischer Mediation sowie der Verfahrensverzögerung im Fall fehlender Einigung. In der Mehrheit der genannten Fallgruppen, in denen die Parteien tatsächlichen Risiken möglicher Rechtsverletzung ausgesetzt sind, beruht die Risikolage auf einer Verletzung grundlegender Verfahrensprinzipien und damit auf einer schwerwiegenden Störung der Verfahrensintegrität und hat deshalb nicht den Normal-, sondern den atypischen Ausnahmefall des gestörten Mediationsverfahrens zur Grundlage. (a) Machtungleichgewichte und Informationsasymmetrien In der Mediation als privatautonomem Verfahren liegt die materielle Sachentscheidung in den Händen der Parteien, die in Ausübung ihrer nach Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit den Inhalt einer möglichen Einigung weitgehend frei verhandeln können. Privatautonomes Handeln setzt indes Information und Verhandlungsparität und damit die Fähigkeit voraus, für die eigenen Interessen effektiv einstehen und so die
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formal bestehende Privatautonomie auch in tatsächlicher Hinsicht ausüben zu können. Ist diese Fähigkeit nicht gegeben und „hat einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung.“362 In Mediationsverfahren, in denen die formalen Verfahrensgarantien des Zivilprozesses fehlen, besteht für die strukturell schwächere Partei daher die Gefahr, ausgenutzt und damit gleichsam „über den Tisch gezogen zu werden“. Für den Mediator als Hüter der Privatautonomie und Wächter der Verfahrensintegrität besteht deshalb im Rahmen des Untermaßverbotes eine Hinweis, Aufklärungs- und Interventionspflicht. Ihm ist es verwehrt, mit Verweis auf seine Neutralitätspflicht in Fällen struktureller Machtungleichgewichte dem Verhandlungsgeschehen freien Lauf zu lassen und sehenden Auges die Übervorteilung der schwächeren Partei zuzulassen. Denn wie schon das BVerfG im Kontext der möglichen Korrektur privatautonomer Vereinbarung festgestellt hat, besteht „heute … weitgehende Einigkeit darüber, daß die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs taugt und daß der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört.“363 Die notwendige Intervention des Mediators, die bis zu einer vorzeitigen Beendigung des Mediationsverfahrens reichen kann, stellt daher keinen Eingriff in die Privatautonomie der Parteien dar, sondern dient im Gegenteil gerade der Gewährleistung dieser Grundbedingungen. (b) Einigungsdruck Interventionen des Mediators bergen indes ihrerseits wiederum die Gefahr, dass dieser die Autorität seines Amtes missbraucht, um die Parteien durch unzulässigen Einigungsdruck zu einer Einigung oder zur Annahme eines von ihm unterbreiteten Vergleichsvorschlags zu bewegen.364 Ist in Fällen struktureller Machtungleichgewichte die schwächere Partei dem Einigungsdruck vonseiten ihres Verhandlungspartners ausgesetzt, so werden in diesem Fall beide Parteien gleichermaßen durch Einigungsdruck vonseiten des Mediators in ihrer Privatautonomie beeinträchtigt. Besonders problematisch ist die Kumulation eines strukturellen Machtungleichgewichtes mit aktivem, auf Einigung hinwirkendem Verhalten des Mediators. Hier besteht die Gefahr, dass die schwächere Partei gleichsam zwischen die Fronten gerät und von beiden Seiten – vonseiten 362
BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38 (Bürgschaft). BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38 f. (Bürgschaft). 364 Zum Problem des unzulässigen Einigungsdrucks vgl. oben S. 130 ff., 132 ff., 315 ff., 337 ff., 368 f., 411 f., 417 ff. sowie Jennings, 6 Ohio St. J. on Disp. Resol. 313 (1991); Lande, 50 UCLA L. Rev. 69, 86 ff. (2003); Bone, 28 Cardozo L. Rev. 1961, 2011 (2007). Vgl. hierzu aus dem deutschsprachigen Schrifttum Stürner, JR 1979, 133, 136; Wendenburg, Schutz (2013), S. 54 ff. 363
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ihres Verhandlungspartners und vonseiten des eigentlich neutralen Mediators – massivem Einigungsdruck ausgesetzt ist. Schließt sich der Mediator mit seinem Einigungsvorschlag der stärkeren Partei an und stellt sich damit gleichsam auf dessen Seite, so hat die schwächere Partei nicht nur den einzigen institutionell ausgestalteten Schutz im Mediationsverfahren verloren, sondern sieht sich gleichsam mit einem weiteren „Gegner“ konfrontiert. Dies ist umso schwerwiegender, als sich die Parteien an die einmal getroffene Einigungsentscheidung endgültig und damit auf Dauer binden und sich entsprechend des Grundsatzes pacta sunt servanda an ihnen festhalten lassen müssen, auch wenn sie diese Vereinbarung eigentlich nicht wollten. Da aus Gründen der Rechtssicherheit eine nachträgliche Korrektur des einmal abgeschlossenen Vergleichsvertrages nur im Ausnahmefall möglich ist, ist die Verletzung der Privatautonomie der Parteien durch eine ihnen gleichsam aufgezwungene Einigung regelmäßig mit einer erheblichen Verletzung ihrer subjektiven Rechte verbunden. Wie wir im Rahmen unserer Untersuchung der Rolle des Mediators gesehen haben, besteht die Gefahr des Einigungsdrucks in besonderer Weise im Kontext gerichtsverbundener Mediationsprogramme und gerichtlicher Vergleichsverhandlungen. Im Spannungsfeld zwischen der gesetzlichen Pflicht zur Vergleichsförderung (§ 278 Abs. 1 ZPO) und dem verbotenen Vergleichszwang sind die Parteien dem Risiko eines „Urteils in Vergleichsform“365 ausgesetzt. Allerdings besteht die Gefahr der „Einigung um jeden Preis“, wenn auch vielleicht in grundsätzlich geringerem Maße, auch in der vertragsautonomen Mediation. Eine wesentliche Ursache hierfür ist regelmäßig ein fehlerhaftes Verständnis der Rolle des Mediators366, der „Erfolgskriterien“367 der Mediation und ihres Wesens als privatautonomes Verfahren368. Häufig besteht dabei die Gefahr, dass der Mediator ein Scheitern der Mediation sich selbst und seinen mangelnden Fähigkeiten zuschreibt und als persönliche
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Stürner, JR 1979, 133, 136. Vgl. hierzu eingehend oben S. 309 ff. (Rollenverständnis des Mediators nach dem Riskin-Grid), 360 ff. (Rolle des Mediators in der vertragsautonomen Mediation), 408 ff. (Rolle des Mediators in der gerichtsverbundenen Mediation) sowie Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111 (1994); Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7 (1996); Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1 (2003); Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 83 ff., 87 ff. Vgl. zur Kompensation von Machtungleichgewichten oben S. 341 ff., 348 ff., 365 ff., 416 ff., 604 ff. sowie Breidenbach, Mediation (1995), S. 127 f. 367 Vgl. zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses oben S. 160 ff., 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 368 Zur Bedeutung der Privatautonomie als wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Mediation vgl. oben S. 127, 130 ff., 137, 459 ff. 366
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Niederlage bzw. als Versagen versteht.369 Präventiv kann diesen Gefahren durch eine geeignete Ausbildung der Mediatoren, eine vorherige Aufklärung der Parteien über die materielle Sachherrschaft und die lediglich unterstützende Rolle des Mediators370 sowie entsprechende Regelungen in den Mediationsordnungen begegnet werden. (c) Verletzung der Vertraulichkeit? Der Ausgleich der gegenseitigen Interessen im Wege privatautonomer Einigung bedarf der Kooperation und der offenen Kommunikation der Parteien. Damit sind die Parteien grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt, dass die von ihnen offenbarten, vertraulichen Informationen von ihrem Verhandlungspartner ausgenutzt und in einem späteren Gerichtsverfahren oder in anderer Weise verwendet werden. Dem Risiko der Verletzung des Vertraulichkeitsgebotes wird indes durch den gesetzlichen Vertraulichkeitsschutz sowie durch die regelmäßig in der Mediationsvereinbarung enthaltene individualvertragliche Vertraulichkeitsabrede wirksam begegnet. Diese auch prozessual als Beweiserhebungs- und Verwertungsverbot wirkende Vereinbarung hat zur Folge, dass die im Rahmen des Mediationsverfahrens offenbarten vertraulichen Informationen in einem nachfolgenden Gerichtsverfahren nicht verwertet werden können. Dem Mediator steht darüber hinaus nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ein Zeugnisverweigerungsrecht zu, so dass es den Parteien verwehrt ist, ihn als Zeugen für die im Rahmen der Mediation offenbarten Informationen zu benennen. Damit verbleibt für die Beteiligten lediglich das Restrisiko, dass die vertraulichen Informationen auf andere Weise verwertet oder entgegen ihrem Willen etwa an die Öffentlichkeit gegeben werden und so zu einem Reputationsschaden führen können. Allerdings kann zumindest das Risiko eines möglichen Reputationsschadens aufgrund der Veröffentlichung vertraulicher Informationen durch die aus der vertraglichen Verschwiegenheitspflicht resultierenden Unterlassungspflichten erheblich reduziert werden. Zusammenfassend ergibt sich der Befund, dass die mit der Verletzung der Vertraulichkeit verbundenen Risiken durch den gesetzlichen wie den vertraglichen Vertraulichkeitsschutz des Mediationsverfahrens weitgehend ausgeschlossen werden können.
369 Eindrücklich hierzu Greger, Abschlussbericht (2007), S. 148: „Der Güterichter berichtete, es handle sich um eine interessante Art zu verhandeln und er selbst sei weder enttäuscht noch euphorisch. Ein Problem sei der Erfolgsdruck; er befürchte, dass sich evtl. kein messbarer Erfolg feststellen lasse.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 370 Um eine Obstruktion durch den Mediator zu vermeiden, kann eine entsprechende Aufklärung durchaus vorab durch entsprechende Broschüren oder vonseiten der vermittelnden berufsständischen Organisation erfolgen.
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(d) Erschwerung des Zugangs zur Justiz? Als problematisch könnte sich indes eine Rechtspflicht zur Mediation oder zu einem Güteverfahren als Voraussetzung zur Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes erweisen, wie dies etwa im Rahmen der obligatorischen Mediation oder des obligatorischen Güteverfahrens nach § 15a EGZPO vorgesehen ist.371 Indes hat das BVerfG in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 15a EGZPO klargestellt, dass derartige Regelungen keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen.372 Zwar wird der Zugang zu den Gerichten tatsächlich erschwert und führt beim Scheitern seines Versuchs zu Verzögerungen und höheren Kosten. Jedoch stehen der möglichen Beeinträchtigung hinreichende Vorteile der Rechtsuchenden gegenüber, da die Beilegung des Konfliktes im Rahmen der Mediation deutlich kostengünstiger und zügiger erfolgen kann, als dies im Rahmen einer gerichtlichen Auseinandersetzung überhaupt möglich wäre. Darüber hinaus führt die Mediation mit der Möglichkeit wertschöpfender, beiderseits interessengerechter Einigungen im Sinne pareto-optimaler win-win-Lösungen zu Konfliktlösungen, die in der Rechtsordnung so nicht vorgesehen sind, von den Betroffenen als gerecht empfunden werden und den Konflikt damit auf nachhaltige, dauerhafte und für die Beteiligten befriedigende Weise beilegen. Eine derartige konsensuale Beilegung von Streitigkeiten genießt nach Auffassung des BVerfG grundsätzlich Vorrang vor einer streitigen Konfliktlösung im Wege des Zivilverfahrens: „Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.“373
371
Entsprechend wurden auch im US-amerikanischen Schrifttum obligatorische ADRProgramme (mandatory ADR, mandatory mediation) mit dem Argument kritisiert, dass sie den Zugang zum ordentlichen Zivilprozess und damit das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf Zugang zur Justiz erschweren. Vgl. hierzu Tomasic, in: Tomasic/Feeley (Hrsg.), Neighborhood Justice (1982), S. 215, 215; Fredlund, 1992 J. Disp. Resol. 133, 148 f. (1992); Eisele, 75 Judicature 34, 40 (1995): „I say to you that these mandatory court-annexed ADR programs put the right to a jury trial and, indeed, the right to a trial before a judge in civil cases at great risk.“ 372 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). In gleicher Weise haben US-amerikanische Gerichte die Zulässigkeit obligatorischer ADR-Programme bestätigt, vgl. nur Wissler, 33 Willamette L. Rev. 565, 572 (1997) mwN.: „Several courts, however, have held that the right to due process is not violated if the mandatory program is nonbinding and creates no unreasonable obstacles to trial or undue pressures to settle, such as increased costs and delay, the disclosure of the mediator’s conclusions to the court or to the public, or financial penalties for failing to accept a settlement.“ 373 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren).
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(e) Verfahrensverzögerung durch fehlende Einigung? Damit bleibt im Fall einer gescheiterten Einigung lediglich das Risiko der Verfahrensverzögerung und der mit dem erfolglosen Einigungsversuch verbundenen Kosten. Allerdings stellt dies im Falle obligatorischer Mediation eine von den Parteien grundsätzlich hinzunehmende und aufgrund der mit dem Mediationsverfahren verbundenen Vorteile auch verhältnismäßige Beeinträchtigung dar. In der vertragsautonomen Mediation ist die Durchführung eines Mediationsverfahrens aufgrund der erheblich kosten- und zeitintensiveren Alternative des Zivilprozesses, der darüber hinaus aufgrund seiner systembedingten Grenzen nur eine defizitär-symptomatische Beilegung des Konfliktes ermöglicht, stets eine notwendige und regelmäßig erfolgversprechende Investition der Parteien. Aufgrund der regelmäßig hohen Einigungsquote in Mediationsverfahren374 ist die Wahrscheinlichkeit einer Verfahrensverzögerung aufgrund eines Scheiterns der Mediation zudem sehr gering. Können sich die Parteien trotz allem nicht einigen und kommt es zur Einleitung eines Zivilprozesses, so ist der Prozessstoff durch das vorangegangene Mediationsverfahren bereits aufbereitet, so dass die Mediation auf diese Weise zu einer effektiven Durchführung eines nachfolgenden gerichtlichen Verfahrens beizutragen vermag. Damit verbleibt als wesentliches Risiko des Mediationsverfahrens in der Gesamtschau lediglich die mögliche Verletzung der Privatautonomie infolge struktureller Machtungleichgewichte und unzulässigen Einigungsdrucks seitens des Mediators.375 (2) Konflikt Im Hinblick auf den Konflikt als Objekt des Verfahrens ergeben sich entsprechende Risiken allein im Fall des Scheiterns der Mediation und einer inhaltlich unzureichenden Einigung. In beiden Fällen bleibt der eigentliche Konflikt ungelöst, eskaliert möglicherweise weiter und kann ungehindert seine destruktiven Wirkungen entfalten oder weitere Tochterkonflikte hervorbringen. Diese Gefahr besteht insbesondere in den Fällen, in denen die Mediation durch eine inhaltlich unzureichende, etwa für eine Partei einseitig vorteilhafte Einigung beendet worden ist. Der Konflikt wird dabei lediglich symptomatisch „befriedet“, indem die Auseinandersetzung zwar beendet, der Konflikt jedoch nicht ursächlich, nachhaltig und damit auch dauerhaft beigelegt wird. Denn eine Einigung, die nur einem Kompromiss im Sinne gegenseitigen Nachgebens, nicht 374
Vgl. für das bayrische Modellprojekt Güterichter, in dem unter Berücksichtigung aller durchgeführten Güteverhandlungen insgesamt eine Einigungsquote von knapp 70 % erzielt worden ist. Vgl. nur Greger, Abschlussbericht (2007), S. 23 f., 96 f. 375 Hierzu oben S. 130 ff., 132 ff., 315 ff., 337 ff., 368 f., 411 f., 417 ff., 605 f. sowie Jennings, 6 Ohio St. J. on Disp. Resol. 313 (1991); Lande, 50 UCLA L. Rev. 69, 86 ff. (2003); Bone, 28 Cardozo L. Rev. 1961, 2011 (2007). Aus dem deutschsprachigen Schrifttum vgl. etwa Stürner, JR 1979, 133, 136; Wendenburg, Schutz (2013), S. 54 ff.
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jedoch der wertschöpfenden Entwicklung von beiderseits interessengerechten win-win-Lösungen entspricht, vermag nicht zu einer tatsächlichen Befriedung der Parteien zu führen. Stattdessen besteht die Gefahr, dass die erzielte Einigung nachträglich infrage gestellt, nicht oder schleppend umgesetzt wird, und damit ein weiterer abgeleiteter Konflikt über die Durchführung des Mediationsvergleichs entsteht. Entsprechend deutlich wird die zunehmende Bewältigung von Konflikten auf dem Verhandlungswege etwa von Fiss kritisiert: „The bargaining that normally takes place between litigants – characterized, as I then assumed, by the pursuit of self-interest, imbalances of material resources, inequalities of information, and strategic behavior ̶ has no connection to justice whatsoever. It is obviously not constitutive of justice, nor is it much of an instrument for achieving justice. On occasion, bargaining might produce a just outcome, just as the judicial process might sometimes fail and produce an unjust outcome. But there is no reason to presume that the outcome of the bargaining process – a settlement – is just. All we can presume of a settlement is that it produces peace – often a very fragile and temporary peace ̶ and although peace might be a precondition for the achievement of justice, it is not justice itself. Admittedly, if consent is freely given, we can assume that the agreement is preferred by both parties compared to going to trial. But the normative implications of this assumption are limited. Justice is a public good, objectively conceived, and is not reducible to the maximization of the satisfaction of the preferences of the contestants, which, in any event, are a function of the deplorable character of the options available to them. The contestants are simply making the best of an imperfect world and the unfortunate situation in which they find themselves. There is no reason to believe that their bargained-for agreement is an instantiation of justice or will, as a general matter, lead to justice.”376
Allerdings verkennt Fiss damit den spezifischen Gerechtigkeitsgehalt, der aus einer privatautonomen und zugleich interessengerechten Einigung und der versöhnenden Neuausrichtung der Parteien aufeinander hin erwächst und die Mediation damit zum gerechten Verfahren377, zur New Equity378, zur prozeduralen Ausprägung des Prinzips materieller Billigkeit macht. Die Orientierung des Mediationsverfahrens an den tatsächlichen Interessen beider Parteien, die jedem das ihm nach seiner Natur und Berufung nach zur Entfaltung seiner Person zustehende zukommen lässt, entspricht damit in weitestmöglicher Weise der Forderung des suum cuique tribue379 als Kerngehalt materieller Gerechtigkeit. Dass dies entsprechend der Struktur des Mediationsverfahrens im Wege eines
376
Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273, 1277 (2009). Hierzu oben S. 179 ff. 378 So Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 329 ff. (2005). Hierzu oben S. 230 ff. 379 Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff. 377
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multilateralen Rollentauschs380 erfolgt, der dem reifen Gebrauch der regula aurea entspricht381, macht dabei zugleich noch einmal die besondere Qualität konsensualer Streitbeilegung als Ausprägung prozeduraler Gerechtigkeit deutlich. Die von Fiss angesprochenen Probleme des strukturellen Machtungleichgewichts und damit des ungleichen Zugangs zu materiellen und immateriellen Ressourcen betreffen, wie wir gesehen haben, nicht das Mediationsverfahren als solches, sondern die Privatautonomie der Parteien. Sie sind nicht Kennzeichen des idealtypischen Mediationsverfahrens, sondern gerade Folge eine Verletzung seiner grundlegenden Verfahrensprinzipien. (3) Gesellschaft Als Verfahren gesellschaftlicher Steuerung wirkt die Mediation über den Bereich der unmittelbar Konfliktbeteiligten hinaus auch auf den Bereich der Gesellschaft ein. Diese gesellschaftlichen Auswirkungen des Mediationsverfahrens sind von Fiss in seinem grundlegenden Aufsatz Against Settlement einer umfassenden Kritik unterzogen worden, die eine intensive wissenschaftliche Diskussion in Gang gesetzt hat, die bis heute nicht abgeschlossen ist.382 Auch wenn Fissʼ apodiktische Generalkritik und seine karikative Überzeichnung der Verhandlung, wie wir gesehen haben, durch die reale Entwicklung der ADRBewegung auf der Grundlage des interessenorientierten Verhandlungsmodells widerlegt worden sind, so hat sein Beitrag doch zentrale Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess im Rechtssystem aufgeworfen, die wir nun abschließend näher in den Blick nehmen wollen. (a) Wertewandel durch Privatisierung der Justiz Im Zentrum der Kritik Fissʼ steht die Sorge, dass mit der Privatisierung der Justiz durch die Verlagerung der Konfliktbeilegung vom öffentlichen Forum des staatlichen Zivilprozesses auf das vertrauliche Forum des privatautonomen Mediationsverfahrens letztlich ein Wertewandel einhergeht, der die der Gesellschaft zugrunde liegenden objektiven Grundwerte und Interessen der Allgemeinheit durch die subjektiven Vorstellungen und Partikularinteressen Privater ersetzt.383 An die Stelle absoluter Grundwerte, die eine Vision der Gesellschaft 380
Zu dem für das Harvard Modell zentralen multilateralen Rollentausch der regula aurea vgl. eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149, 204. 381 Hierzu Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204 sowie oben S. 250. 382 Vgl. hierzu etwa McThenia/Shaffer, 94 Yale L.J. 1660 (1985) sowie aus dem jüngeren Schrifttum Cohen, 78 Fordham L. Rev 1143 (2009); Erichson, 78 Fordham L. Rev. 1117 (2009); Moffitt, 78 Fordham L. Rev. 1203 (2009); Weinstein, 78 Fordham L. Rev. 1265 (2009). 383 Vgl. zur Fissʼ Ansatz eingehend oben S. 555 ff.
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formen, die den Horizont der auf die bloße subjektive Nutzenmaximierung gerichteten privaten Partikularinteressen transzendiert, würden die subjektiven Wertvorstellungen der Parteien treten, die sich regelmäßig gerade nicht am Allgemeinwohl orientieren und die Perspektive des eigenen Nutzens nicht überschreiten. „In the hypothetical state of nature where the dispute resolution story transpires, there are no public values or goals, only the private desires of individuals, in this instance, the desire for property. We postulate that the judge/stranger settles a property dispute between neighbors, but the story does not even tell how the judge resolves the dispute, only that it is resolved. According to this scheme, the judge could even settle the dispute by flipping a coin. The public value served by the judiciary need only be the minimal one of avoiding violence through the use of a settlement mechanism. The judge may resolve the dispute according to any set of rules that would in the future minimize disputes or maximize the satisfaction of private ends.”384
Die Kritik Fissʼ ist damit in ihrem Kern gegen die zunehmende Dominanz einer individualistischen Marktideologie und die mit ihr verbundene Subjektivierung der Wertmaßstäbe gerichtet, die von idealisierten Annahmen bezüglich Verhandlungsparität der Parteien und der Legitimität formal gültiger, materiell indes häufig unbilliger Vereinbarungen geprägt ist, die den strukturell schwächeren Verhandlungspartner regelmäßig benachteiligen. Derartige Vereinbarungen werfen erhebliche Zweifel auf, ob die Einigung nicht nur formal, sondern auch tatsächlich auf der Grundlage einer informierten und damit in tatsächlicher Hinsicht privatautonomen Entscheidung beider Parteien zustande gekommen ist. Dieser Einwand würde für sich genommen indes noch nicht durchgreifen, weil die Orientierung an den privaten Partikularinteressen der Parteien und ihren subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen gerade das Kennzeichen privatautonomer Rechtsgestaltung als Wahrnehmung der verfassungsrechtlich garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit des Einzelnen ist. Die Kritik Fissʼ bezieht indes ihr besonderes Gewicht aus der Funktion, die der Rechtsprechung im Gefüge des Verfassungsstaates zugewiesen wird. (b) Schwächung der sozialen Funktion der Rechtsprechung Rechtsprechung als staatliche Aufgabe kann nach Fiss nicht allein auf ihre Konfliktbeilegungsfunktion beschränkt werden. Sie ist weit mehr als Inanspruchnahme staatlichen Gewaltmonopols zur Beilegung privater Konflikte, sondern dient in erster Linie der Verwirklichung der in der Verfassung angelegten Grundwerte und damit der Bewährung der objektiven Rechtsordnung.385
384
Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121, 123 f. (1982). Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1085 (1984): „In my view, however, the purpose of adjudication should be understood in broader terms. Adjudication uses public resources, and employs not strangers chosen by the parties but public officials chosen by a process in which 385
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Diese Rechtsbewahrungsfunktion wird dabei nicht allein als Mechanismus zur Gewährleistung subjektiver Rechte, sondern gleichsam als Blaupause und Vision eines bestimmten Staats- und Gesellschaftsideals verstanden. Die Rechtsprechung übernimmt damit eine zentrale Scharnierfunktion, um die der Verfassung zugrunde liegenden Werte über das Medium des positiven Rechts in gelebte Realität zu transformieren und ihnen so zu rechtspraktischer Geltung zu verhelfen. „Structural litigation does not begin with indifference toward or ignorance of public values. That litigation proceeds within the framework of a constitution; and the Constitution that we know today and that stands vindicated by Brown v. Board of Education, is a constitution that does far more than simply establish a form of government. It identifies a set of values such as equality, liberty, no cruel and unusual punishment, due process, security of the person, and freedom of speech. These values transcend the private ends implied by the dispute resolution model and inform and limit the function of our government. They stand as the core of a public morality and serve as the substantive foundations of structural litigation. The social function of contemporary litigation is not to resolve disputes, but rather to give concrete meaning to that morality within the context of the bureaucratic state.”386
Die Rechtsprechung ist nach Fiss damit das zentrale Instrument des Staates, um die Lebenswirklichkeit mit dem Staats- und Gesellschaftsideal der Verfassung und den ihr zugrunde liegenden Werten in Einklang zu bringen.387 Über den konkreten Streitfall hinaus kann der Zivilprozess durch seine rechtsgestaltende und -bewahrende Funktion daher auf eine Vielzahl zukünftiger Konflikte und damit auf die Gesellschaft als Ganzes einwirken. Indem private Konflikte in weitem Umfang der Rechtsprechung entzogen und durch die Verweisung in ein privatautonomes Verfahren privatisiert werden, könnte die Transformations- und Rechtsbewährungsfunktion der rechtsprechenden Gewalt indes erheblich geschwächt werden, weil sich die Konfliktlösung inhaltlich nicht mehr an den öffentlichen Interessen, die durch die objektive Rechtsordnung Gestalt angenommen haben, sondern stattdessen an den durch individuelle Nutzenmaximierung geprägten subjektiven Vorstellungen der Parteien orientiert. Zentrale Aufgaben der Rechtsprechung – wie etwa die richterliche Rechtsfortbildung sowie die Verhaltenssteuerung durch die Entwicklung des Präjudizien-
the public participates. … Their job is not to maximize the ends of private parties, nor simply to secure the peace, but to explicate and give force to the values embodied in authoritative texts such as the Constitution and statutes: to interpret those values and to bring reality into accord with them. This duty is not discharged when the parties settle.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 386 Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121, 124 (1982). 387 Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1089 (1984): „Civil litigation is an institutional arrangement for using state power to bring a recalcitrant reality closer to our chosen ideals.” Ebenso Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1085 (1984), vgl. hierzu oben Fn. 385.
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rechts – könnten nur noch eingeschränkt erfüllt werden. Entsprechende Tendenzen sind in der Rechtspraxis durch die Verlagerung bestimmter Konflikttypen in die Schiedsgerichtsbarkeit in der Tat bereits heute erkennbar.388 So existiert zu bestimmten gesellschaftsrechtlichen Fragen kaum noch aktuelle Rechtsprechung, weil die relevanten Verfahren weitgehend vor privaten Schiedsgerichten verhandelt werden und damit dem Vertraulichkeitsschutz unterliegen. Problematisch ist dies insbesondere im Produkthaftungsrecht, wo neben der verhaltenssteuernden Funktion der Generalprävention auch die Warnfunktion für die Verbraucher entfällt. Allerdings erfolgt die Verwirklichung der einer Rechtsordnung zugrunde liegenden Werte nicht überwiegend durch die Gerichte, sondern in besonderer Weise auch und gerade durch informale Verfahren.389 Angesichts der vielfältigen Formen gesellschaftlicher Transformation ist die soziale Funktion der Gerichte in ihrem Verhältnis zu informalen Steuerungsformen nicht überzubewerten. (c) Relativierung rechtlicher Normen Der Bedeutungsverlust staatlicher Gerichte als Instrumente gesellschaftlicher Regulierung könnte als notwendige Folge der Privatisierung der Justiz auf materieller Ebene zu einer Relativierung rechtlicher Normen als verbindlichem Rahmen gesellschaftlichen Lebens und damit zu einem tiefgreifenden Wertewandel führen. Würde das positive Recht zunehmend durch die subjektiven Wertvorstellungen der Parteien ersetzt, hätte dies auf Dauer negative Folgen für die Autorität des Rechts als verbindlicher Werteordnung. Das objektive Recht würde im Bewusstsein der Rechtsunterworfenen an Verbindlichkeit verlieren, wenn seine Befolgung im Einzelfall nicht mehr als zwingend angesehen und seine Umgehung durch privatautonome Regelungen wiederholt sanktionslos toleriert wird. Zugleich würde das Verständnis für die Bedeutung des mit autoritativem Befehlscharakter ausgestatteten positiven Rechts als Instrument staatlicher Regulierung beschädigt werden, wenn sich der Staat aus zentralen Bereichen gesellschaftlicher Steuerung zurückzieht und diese stattdessen der autonomen Regelung durch die unmittelbar Beteiligten unterwirft. Die Möglichkeit der autonomen Selbstregulierung durch die unmittelbar Beteiligten, die sich inhaltlich nicht an allgemein-verbindlichen, auch die Interessen der Allgemeinheit berücksichtigenden Normen, sondern ausschließlich an der möglichst weitgehenden Verwirklichung der Partikularinteressen Einzelner orientiert, könnte
388
Zu dem Problem, dass vor allem Rechtsgeschäfte mit sehr hohen Vertragswerten aufgrund von Schiedsabreden der ordentlichen Gerichtsbarkeit weitgehend entzogen sind Bubrowski, AnwBl. 2012, 980, 981; Berger, NJW 2010, 465, 465 f. 389 Vgl. hierzu die Untersuchungen bei Abel (Hrsg.), Politics of Informal Justice I (1982), passim; Abel (Hrsg.), Politics of Informal Justice II (1982), passim.
758
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
sich als Steuerungsmodell auf Dauer zum Normalfall gesetzlicher Steuerung entwickeln, auf den die unmittelbar Beteiligten gleichsam kraft Gewohnheitsrecht zunehmend einen Anspruch erheben könnten. Dass die Gefahr des Norm- und Wertrelativismus390, der Deregulierung und Denormativierung391 und schließlich sogar der Auflösung des formal-rationalen Rechts392 durch Rematerialisierung nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist, haben wir im Rahmen unserer bisherigen Untersuchung gesehen. Sie ergibt sich insbesondere aus der Einbettung der Mediation in einen Entwicklungsprozess des tiefgreifenden Wandels des Rechts393, des staatlichen Handelns394 und der Konfliktkultur395, der durch eine weitgehende Materialisierung, Mediatisierung und Informalisierung396 geprägt ist. Wie wir gesehen haben, wird die Ursache für diese Krise des Rechts in der Überlastung der Steuerungsfähigkeit des Rechts gesehen, die sich aus der zunehmenden Verrechtlichung, dem rasanten Anstieg der Komplexität der zu regelnden Sachverhalte sowie der Globalisierung und den damit einhergehenden hochdynamischen und multipolaren Rechtsbeziehungen ergibt und der durch Rückgriff auf Verfahren der alternativen Streitbeilegung zu begegnen sei.397 Geistesgeschichtlich dürfte diese Entwicklung jedenfalls in einem bestimmten Umfang ihre Grundlage in einer postmodernen Ideologie finden, die in Antithese zu den Idealen der Rationalität, Objektivität, des Fortschritts, universeller Werte und dem Gedanken der objektiven Wahrheit tritt, die in besonderer Weise mit dem Begriff der Moderne verbunden sind. Allerdings haben wir im Rahmen unserer Untersuchung bereits gesehen, dass Verhandlungs- und Normensystem keineswegs in einer Antinomie zueinander stehen, sondern auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. Die Mediation erfolgt stets im Schatten des Rechts, materielles Sach- wie formelles Verfahrensrecht wirken auf vielfältige Weise auf die Einigungsentscheidung der Parteien und das Verfahren ein. Neben dem ius cogens fließt auch das ius dispositivum als Orientierungsmaßstab, formeller Rahmen und als Rückgriffsordnung sowohl bei der Bewertung der Nichteinigungsoptionen als auch bei der Entwicklung von Einigungsalternativen in die privatautonome Entschei-
390
Vgl. hierzu oben S. 50 ff., 80 ff., 149 ff. Vgl. hierzu oben S. 153 ff. 392 Vgl. hierzu oben S. 153 ff. sowie Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161, 1161 ff. 393 Vgl. hierzu oben S. 34 ff. 394 Vgl. hierzu oben S. 38 ff. 395 Vgl. hierzu oben S. 59 ff. 396 Vgl. hierzu oben S. 54 ff. 397 Vgl. hierzu oben S. 50 sowie Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 190 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 18 ff., 40; Ritter, NJW 2001, 3440, 3443 ff. 391
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dung der Parteien ein. Durch das Mediationsverfahren wird damit keine autonome Ordnung eigenen subjektiven Parteirechts errichtet.398 Stattdessen erfolgt das privatautonome Handeln der Parteien innerhalb des von der objektiven Rechtsordnung geschaffenen Rahmens des positiven Rechts. Diese Wahrnehmung der verfassungsrechtlich garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit der Parteien ist kein vom Recht tolerierter Ausnahmefall, sondern nach Auffassung des BVerfG „auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.“399 Aus diesem Grund ist auch die Gefahr negativer Verhaltensanreize durch das Mediationsverfahren gering. Zwar besteht stets das Risiko, dass potentielle Rechtsverletzer mit der Einleitung eines Mediationsverfahrens und trotz eindeutiger Rechtslage mit einem für sie günstigen „Kompromiss“ rechnen und dabei noch „ein gutes Geschäft machen“.400 Allerdings geht eine derartige Strategie nur in einem mangelhaften Mediationsverfahren auf, weil das Verhandlungsergebnis im Normalfall auf eine objektiv gerechte und hinreichend informierte Einigungsentscheidung gerichtet ist. Darüber hinaus wird die betroffene Partei bei entsprechenden Prozessaussichten über eine hervorragende Nichteinigungsoption verfügen, so dass bei einem ordnungsgemäß durchgeführten Mediationsverfahren die Gefahr einer Übervorteilung gering ist. Zwar können sich die Parteien auch bei eindeutiger Rechtslage und einem klaren Rechtsanspruch auf einen „Kompromiss“ einigen, weil die gerichtliche Durchsetzung trotz exzellenter Prozessaussichten im Hinblick auf den zu erwartenden Aufwand außer Verhältnis steht. In diesen Fällen wird sich indes der Nachteil weitgehend in Grenzen halten, weil sich die betroffene Partei sonst nicht auf den Vergleichsvorschlag einlassen würde. Tut sie es doch, so ist der freiwillig in Kauf genommene Nachteil das Ergebnis einer eigenverantwortlichen Abwägungsentscheidung und daher allein den jeweiligen Präferenzen der Partei und nur begrenzt dem Verfahren als solchem zuzurechnen.401 Zusammenfassend ergeben sich damit im Hinblick auf die verfahrensexternen Wirkungen der Mediation für die Gesellschaft als Ganzes keine durchgreifenden Risiken. Die Gefahr eines Wertewandels durch die Privatisierung der Justiz, das Risiko eines überbordenden Werte- und Normrelativismus oder die Schwächung der Gerichte als Institutionen gesellschaftlicher Transformation sind angesichts der Tatsache, dass sich die Mediation keineswegs im rechtsfreien Raum, sondern vielmehr im Schatten des Rechts und damit im Rahmen der objektiven Rechtsordnung vollzieht, kaum realistisch. 398
Hierzu oben S. 153 ff., 156 ff. BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 400 So ausdrücklich Brehm, Richterbindung (1982), S. 129. 401 Begrenzt insoweit, als die Möglichkeit der Durchführung eines Mediationsverfahrens die Rechtsverletzung provoziert haben könnte. Allerdings werden sich mögliche Rechtsverletzer in den wenigsten Fällen über die zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen Gedanken machen, so dass ein derartiges Szenario eher unwahrscheinlich ist. 399
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c) Der Zivilprozess: Funktion, Struktur, Wirkungen und Risiken Nachdem wir die Mediation in Funktion, Struktur und ihren Wirkungen einschließlich der mit ihr verbundenen Risiken näher untersucht haben, wollen wir unseren Blick nun dem Zivilprozess als dem der Mediation gegenüberstehenden, komplementären Verfahren gesellschaftlicher Steuerung und Konfliktbehandlung zuwenden. Ziel unserer vergleichenden Untersuchung ist dabei die Bestimmung des Verhältnisses beider Verfahrensarten zueinander im Rechtssystem vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verfahrens- und Konfliktbehandlungslehre. Die Beilegung von Konflikten durch verbindliche Entscheidung eines neutralen Dritten gehört wie die Verhandlung und die Vermittlung als Primärverfahren gesellschaftlicher Steuerung im Allgemeinen und der Konfliktbehandlung im Besonderen zu den idealtypischen Urformen der Streitbeilegung. Zunächst wohl in Form privater Schiedsgerichte, später in einem zunehmend formalisierten Verfahren ist der Zivilprozess als ultima ratio seit jeher das maßgebliche Rückgriffsverfahren im Fall eines Scheiterns einvernehmlicher Streitbeilegung.402 Seine Legitimation wie auch seine Erforderlichkeit bezieht er aus dem mit dem staatlichen Gewaltmonopol einhergehenden Verbot der Selbsthilfe und der daraus erwachsenden Justizgewährungspflicht des Staates. Den klassischen Vorteilen des Zivilprozesses – einer geschützten Verfahrensposition in einem formalisierten Verfahren, individuellem Rechtsschutz und einer an Recht und Gesetz orientierten Entscheidung – stehen als Nachteile hohe materielle und immaterielle Kosten, ein zeitintensives, eskalationsträchtiges Verfahren sowie eine Sachentscheidung gegenüber, die aufgrund der systemimmanenten Schwächen streitiger Konfliktbeilegung regelmäßig hinter den tatsächlichen Parteiinteressen zurückbleibt und den Konflikt daher häufig nicht nachhaltig und dauerhaft beizulegen vermag.403 Die Defizite des gerichtlichen Verfahrens im Hinblick auf seine Eignung zur effektiven Bewältigung von Konflikten – komplexitätsreduzierende Verrechtlichung404, Transformation in
402
Zur Funktion des Rechts als Rückgriffsordnung vgl. oben S. 299 ff. Zu den systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses eingehend oben S. 12 ff. 404 Vgl. hierzu oben S. 12 ff. mwN. 403
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einen Metakonflikt405, binärer Schematismus406 der Rechtsfolgen, fehlende Interessenorientierung407 und Verfehlen des Normzwecks im atypischen Einzelfall408 –, die an dieser Stelle nur holzschnittartig umrissen werden können, haben wir im Rahmen unserer rechtstheoretischen Untersuchung und in den vorangegangenen Abschnitten bereits eingehend in den Blick genommen. Trotz der ihm aufgrund seiner Struktur immanenten Schwächen ist der Zivilprozess nach wie vor das maßgebliche Instrument institutionalisierter Konfliktbehandlung, dem Konflikte gleichsam auf einem „komfortabel ausgebauten Königsweg“409 standardmäßig zugewiesen werden. Das Paradigma des Primats des Zivilprozesses, der von seinem geschichtlichen Ursprung und seiner Legitimation als Rückgriffsordnung her seit jeher eigentlich nur als ultima ratio zur Anwendung gelangen sollte, wurde erst mit dem Beginn der ADR-Bewegung in den 70er Jahren des 20. Jahrhundert infrage gestellt. Mit der zunehmenden Institutionalisierung der Mediation und ihrer Verzahnung mit dem Zivilprozess im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme stellt sich die bislang nicht hinreichend geklärte Frage des Verhältnisses beider Verfahrensarten zueinander mit neuer Dringlichkeit. In einem ersten Schritt wollen wir daher im Folgenden die Funktion in den Blick nehmen, die dem Zivilprozess in der Rechts- und Gesellschaftsordnung zukommt, und sie vor dem Hintergrund der Kritik Fissʼ zum bisherigen Befund unserer Analyse des Mediationsverfahrens in Beziehung setzen. aa) Funktion Den Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildet dabei – wie schon im Rahmen unserer Analyse des Mediationsverfahrens – ein objektiver Funktionsbegriff. Entscheidend ist an dieser Stelle daher nicht der subjektive Zweck, der mit dem Zivilprozess im Sinne einer instrumentellen Perspektive verfolgt werden soll und der ihm von den Beteiligten oder von der Rechtsordnung beigelegt wird. Maßgeblich ist vielmehr die objektive Aufgabe, die von ihm tatsächlich erfüllt wird und die sich sowohl aus der Verfahrensstruktur als auch aus den 405
Vgl. hierzu oben S. 15 ff. mwN. Vgl. hierzu oben S. 20 ff. mwN. sowie Luhmann, in: Asmussen/Pawlik (Hrsg.), Material über Zukunftsaspekte der Rechtspolitik (1976), S. 67, 69; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. Vgl. hierzu auch Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Stürner, DRiZ 1976, 202, 203; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff.; Stürner, JR 1979, 133, 135; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 18 ff.; Falke/ Gessner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 294 ff.; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 476; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 48. 407 Vgl. hierzu oben S. 24 ff. 408 Vgl. hierzu oben S. 13 f. 409 Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5. 406
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entsprechenden Verfahrenswirkungen ergibt. Ob diese Wirkungen zielgerichtet oder als unbeabsichtigte Nebenfolge eintreten, ist für unsere Fragestellung zunächst nicht von zentraler Bedeutung. Das Verhältnis zwischen objektiv eingetretenen Wirkungen des Zivilprozesses und den mit ihm verfolgten subjektiven Zwecken werden wir erst auf einer zweiten Ebene näher in den Blick nehmen. (1) Die klassische Prozesszwecklehre als Grundlage Die Frage nach der Funktion des Zivilprozesses ist eine der zentralen Grundfragen des Zivilverfahrensrechts und im Rahmen der Prozesszwecklehre seit jeher Gegenstand einer lebhaften und in ihren Verästelungen kaum mehr überschaubaren Diskussion.410 Auch wenn mittlerweile über die großen Grundlinien Einigkeit besteht, so sind die Zuordnung und die Rangfolge der jeweiligen Prozesszwecke im Einzelnen nach wie vor heftig umstritten. Sie ergeben sich aus dem jeweiligen Verständnis des systematischen Verhältnisses von materiellem und formellem Recht sowie aus den entsprechenden Grundprinzipien der Verfassung. In ihrer Zielrichtung ist die Prozesszwecklehre darauf gerichtet, Wesen und Zweck des Zivilprozesses zu erfassen und auf dieser Grundlage seine nähere Ausgestaltung und Struktur und damit letztlich den Inhalt prozessualer Normen und Wertungen zu bestimmen. Im Kern geht es daher letztlich um verfahrensinterne Fragen des Verfahrensdesigns und um die Gestaltung und Anwendung des Prozessrechts durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft. Allerdings sind – wie insbesondere Gaul411 und von Hippel412 aufgezeigt haben – die Möglichkeiten, durch Deduktion aus dem Prozesszweck die Lösung prozessualer Einzelprobleme abzuleiten, begrenzt und darüber hinaus nicht ohne Risiko. Im Ergebnis erschöpft sich die praktische Relevanz der Prozesszwecklehre somit bislang auf die Lösung weniger zentraler Fragen wie die Rechtskraftwirkung des zivilgerichtlichen Urteils oder die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens und auf die dogmatische Erfassung des funktionellen Zusammenhangs zwischen materiellem Recht und Prozessrecht.
410
Vgl. nur Gaul, AcP 168 (1968), 27 ff.; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545; Gaul, in: Yıldırım (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen (2001), S. 68 ff.; Hess/ Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 1 ff.; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 6 ff. jeweils mwN. 411 Gaul, in: Yıldırım (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen (2001), S. 68, 70. 412 v. Hippel, Wahrheitspflicht und Aufklärungspflicht (1939), S. 170 ff.
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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(a) Prozesszwecklehre und allgemeine Verfahrenslehre Dieser Befund wandelt sich indes grundlegend, wenn der Zivilprozess nicht mehr lediglich isoliert, sondern vielmehr als eine von mehreren möglichen, zur Verfügung stehenden Verfahrensalternativen betrachtet wird. Die dogmatische Integration des Zivilverfahrensrechts in das System einer Konfliktbehandlungslehre auf der Grundlage einer allgemeinen Verfahrenslehre und die damit verbundene Erweiterung der Perspektive auf die Stellung der einzelnen Verfahrensarten zueinander erschließt daher auch der Prozesszwecklehre ein neues, in seinem Wesen fundamentales Anwendungsgebiet. Hierfür ist freilich eine Akzentverschiebung von einer subjektiven auf eine objektive Perspektive sowie die Integration weiterer Gesichtspunkte erforderlich, die über den Kreis des Prozessrechts als solchem hinausreichen. Mit der Berücksichtigung des sozialen Zwecks des Zivilprozesses haben entsprechende Gesichtspunkte indes bereits Eingang in die Prozesszwecklehre gefunden.413 Im Ergebnis können wir für den Zweck unserer Untersuchung ganz wesentlich auf die bestehende Diskussion im Rahmen der klassischen Prozessrechtslehre zurückgreifen, die in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Zivilprozess und Mediationsverfahren ein neues, in seiner Art fundamentaleres Anwendungsgebiet findet.414 Da die Stellung der einzelnen Verfahrensarten im dogmatischen System einer Verfahrenslehre ganz wesentlich von ihrer objektiven Funktion bestimmt wird, ist damit ein Perspektivwechsel von einer subjektiven zu einer objektivierenden Sichtweise erforderlich. Zugleich wird mit der Erweiterung der Perspektive von ausschließlich verfahrensinternen Fragen auf das Verhältnis des Zivilprozesses zu den anderen Verfahrensarten und seine Stellung im Rechts- und Gesellschaftssystem die Berücksichtigung außerprozessualer Fragen wie der nach der sozialen Funktion des Zivilprozesses unverzichtbar.415
413
Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse (2. Aufl. 1958), S. 14 ff.; Hagen, ZZP 84 (1971), 385; Schmidt, Zweck des Zivilprozesses (1973), S. 10 ff.; Wassermann, Der soziale Zivilprozeß (1978). Kritisch hierzu Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2 f.; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 16. 414 Zur Integration der alternativen Streitbeilegung in die Prozesszwecklehre vgl. nur Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 3 ff.; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 4 f. 415 Derartige Fragestellungen wurden bereits früh, etwa durch Franz Klein, auch im Rahmen der Prozesszwecklehre thematisiert. Allerdings war ihre Zuordnung zu den Prozesszwecken streitig. Aus der dogmatischen Perspektive einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre ist die Thematisierung außerprozessualer Gesichtspunkte – wie etwa der sozialen Funktion des Zivilprozesses – indes unabdingbar. Vgl. hierzu Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse (2. Aufl. 1958), S. 14 ff., sowie unten S. 653 ff., 695 ff.
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(b) Individualrechtsschutz und Rechtsbewährung Die Prozesszwecklehre ist seit jeher von dem Dualismus zwischen subjektivrechtlichem Individualrechtsschutz und objektivrechtlicher Rechtsbewährung geprägt, deren jeweiliges Verhältnis zueinander im Verlauf der Entwicklung erheblichen Veränderungen unterworfen war. Er findet sich bereits bei Wach, der die Prozesszwecklehre 1885 in Abkehr vom gemeinrechtlichen Aktionsbegriff begründete: „Zweck des Prozesses ist die Bewährung der Privatrechtsordnung durch Gewährung von Rechtsschutz.“416 Der damaligen liberalen Prozessauffassung der CPO von 1877 folgend, die den Prozess noch stark aus der Perspektive der Parteien betrachtete, die vor einem weitgehend defensiv agierenden Richter im „Kampf ums Recht“ für ihre Individualinteressen streiten, stand für Wach indes vor allem der Zweck des Individualrechtsschutzes im Vordergrund, aus dem er den Rechtsschutzanspruch der Parteien ableitete. Der Gedanke des Prozesses als Privatsache, der im Sinne des damaligen Zeitgeistes des laissez faire von der „Interesselosigkeit des Staates an der Streitsache“417 geprägt und dem freien Spiel der Kräfte der Parteien überlassen war, stieß als „große Robinsonade“418 indes schon früh auf Kritik. Es war Franz Klein, der als Verfasser der österreichischen ZPO von 1895 maßgeblich auf die soziale Bedeutung des Zivilprozesses als staatlicher Wohlfahrtseinrichtung und dem Interesse des Staates an einer gerechten und zweckmäßigen Rechtspflege hinwies. Die von ihm begründete soziale Prozessanschauung betrachtet den Zivilprozess als „Verwaltungsmaßregel“419, die wie das übrige staatliche Handeln im Dienst des Gemeinwohls und insbesondere des Rechtsfriedens steht und gegenüber dem individuellen Rechtsschutz die Bewährung der objektiven Rechtsordnung in den Vordergrund treten lässt.420 Im Zuge der Novellengesetzgebung, die in Deutschland schon bald die extremsten Auswüchse des liberalen Grundentwurfs der CPO durch Stärkung der richterlichen Prozessleitung, die Konzentrationsmaxime und die Einführung der Wahrheitspflicht korrigierte, hat der soziale Gedanke und mit ihm der Zweck der Bewährung der objektiven Rechtsordnung
416
Wach, Handbuch des deutschen Civilprozessrechts (1885), S. 5. Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung (2. Aufl. 1896), S. 53. 418 So Franz Klein als Mitglied der vom Reichsjustizministerium eingesetzten Kommission zur Reform des Zivilverfahrensrechts. Zitiert nach Gaul, AcP 168 (1968), 27, 47. 419 Klein/Engel, Der Zivilprozess Oesterreichs (1927), S. 188, 190, 202. 420 Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse (2. Aufl. 1958), S. 28: „Rationell und der modernen Staatsauffassung gemäß wird der Prozeß nur dann sein, wenn der Rechtsschutz nicht erst mit dem Urteile, sondern schon vom ersten Schritte des Verfahrens an tatsächlich Gewährung staatlicher Hilfe ist. Das ist aber keine Utopie. Man braucht nur die gebundene Kraft des Richters freizugeben und sie wie die der übrigen Staatsorgane in den Dienst des Rechts, des Gemeinwohles und des gesellschaftlichen Friedens zu stellen. Denn alles das behüten uns die Formen und Formeln des Prozesses.“ Hervorhebung im Original. 417
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auch positivrechtlich Gestalt angenommen. Während in der Zeit der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft der Individualrechtsschutz durch die Orientierung an dem entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie definierten „Volksganzen“ weitgehend verdrängt wurde, erlebte er nach 1945 mit dem vom Grundgesetz garantierten Justizgewährungsanspruch eine Renaissance. In den fünfziger, verstärkt dann in den siebziger Jahren traten mit dem Rollenbild des „Richters als Sozialingenieur“421 verstärkt soziale Gesichtspunkte und seit den 1980er Jahren die Konfliktlösung als Prozesszweck hinzu.422 Heute ist anerkannt, dass der Zivilprozess sowohl dem Schutz subjektiver Rechte des Einzelnen wie auch der Bewährung der objektiven Rechtsordnung als „verschiedenen Seiten einer Medaille“ dient und dabei in besonderer Weise auch soziale Aspekte zu berücksichtigen sind.423 In diesem Zusammenhang kommt dem Individualrechtsschutz gegenüber der Rechtsbewährungsfunktion indes aufgrund der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgewährleistung eine besondere Bedeutung zu. Das Verhältnis zwischen subjektivem Individualrechtsschutz und objektiver Rechtsbewährung als entgegengesetzten Polen, zwischen denen die Prozesserfassung freilich in teilweise radikaler Einseitigkeit oszillierte, hat sich heute zu einem ausgewogenen Gleichgewicht eingependelt. (c) Die Prozesszwecklehre im Licht der ADR-Kritik Fissʼ Neue und durchaus radikale Aktualität erlangt das Verhältnis beider Verfahrensfunktionen indes dann, wenn wir den Blick von der auf das einzelne Verfahren beschränkten Prozesszwecklehre über den Kreis des Innerprozessualen hinaus weiten und das Verhältnis der Verfahren zueinander aus der Perspektive einer allgemeinen Verfahrenslehre in den Blick nehmen. Mit dieser Perspektiverweiterung rückt das Verhältnis zwischen Individualrechtsschutz und Rechtsbewährung schlagartig in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung, weil es als entscheidendes Differenzierungskriterium für eine mögliche Verfahrenswahl infrage kommt. Bestimmen beide Verfahrensfunktionen im Rahmen der klassischen Prozesszwecklehre noch die nähere Ausgestaltung der Verfahrensstruktur, so werden sie im Rahmen einer allgemeinen Verfahrenslehre nun umgekehrt zum entscheidenden Strukturmerkmal, das die einzelnen Verfahren
421 Hierzu Baur, JZ 1957, 193, 193 ff.; Freund, DRiZ 1981, 221, 222; Peters, Gütegedanke (2004), S. 51, 159. Vgl. auch Dölemeyer, in: Gouron (Hrsg.), Europäische und amerikanische Richterbilder (1996), S. 359 ff. 422 Vgl. nur Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 3 ff.; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 4 f. 423 Vgl. hierzu nur die Gesamtdarstellungen bei Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 2 f.; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 1 ff.; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 6 ff. sowie im Einzelnen Klein, Zeitund Geistesströmungen im Prozesse (2. Aufl. 1958), S. 14 ff.
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wesensmäßig charakterisiert. Für Owen Fiss bildet ihre Zuordnung zu Verhandlung und Mediation auf der einen und dem Zivilprozess auf der anderen Seite dabei die Grundlage seiner ADR-Kritik: Für ihn tritt der durch konsensuale Verfahren vermittelte Schutz subjektiv-individueller Rechte und Interessen („ends of private parties“) in Widerspruch zu der durch den streitigen Zivilprozess bewirkten Verwirklichung der durch die objektive Rechtsordnung gewährleisteten öffentlichen Werte („public values“).424 Allerdings wurde dabei – und dies ist entscheidend – die Funktion des Schutzes subjektiv-individueller Rechte durch die des Schutzes subjektiver individueller Interessen ersetzt und damit aus Fissʼ Perspektive die Fähigkeit konsensualer Verfahren grundlegend eingeschränkt, jedenfalls auch zur Bewährung der objektiven Rechtsordnung durch den Schutz der subjektiven Rechte beizutragen. Durch diese Akzentverschiebung wird das konsensuale ADR-Verfahren zu einem Instrument der Durchsetzung der individuellen Interessen Privater, das zwar geeignet ist, den Konflikt beizulegen und damit zu befrieden, jedoch zur Bewährung des objektiven Rechts keinen wesentlichen Beitrag zu leisten vermag.425 Vielmehr trägt es im Gegenteil zu einer Privatisierung öffentlicher Interessen bei und tritt so in aktiven Widerspruch zu der sozialen Transformationsfunktion des Zivilprozesses, der in seinem Kern darauf angelegt ist, Gerechtigkeit zu schaffen und den der Verfassung zugrunde liegenden Werten zu rechtspraktischer Verwirklichung zu verhelfen. Mit dem subjektivem Parteirecht entsteht, folgt man Fiss, ein autonomes Wertesystem, das nicht am Gemeinwohl, sondern an den individuellen Interessen Privater orientiert ist und durch die Privatisierung aller Zwecke in Konkurrenz zur objektiven Rechtsordnung und den in ihr verkörperten grundlegenden Gemeinwohlprinzipien tritt.426 In der Antinomie von Neoliberalismus und Wohlfahrtsstaat, privaten Zwecken und Gemeinwohl, subjektiven Interessen und objektivem Recht, die Fiss als Gegensatzpaare in den ADR-Verfahren auf der einen und im Zivilprozess auf der anderen Seite verwirklicht sieht, wiederholt sich im Rahmen der allgemeinen Verfahrenslehre im einzelnen Verhältnis zwischen den Verfahren das Spannungsverhältnis zwischen liberaler und sozialer Prozessauffassung, das im Rahmen der klassischen Prozesszwecklehre innerhalb des Zivilverfahrens von zentraler, prägender Bedeutung geworden ist. Die
424
Hierzu eingehend Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1085 ff. (1984) sowie oben S. 555 ff. Dass die Gefahr der – in ihrer Nachhaltigkeit zweifelhaften – „Befriedung“ im Sinne einer Einigung „um jeden Preis“ zu Lasten von Recht und Gerechtigkeit und auf Kosten grundlegender Rechtspositionen strukturell schwacher Parteien im Rahmen von ADR-Verfahren durchaus besteht, haben die empirischen Fallstudien oben S. 344 ff. gezeigt. Vgl. zu den Risiken der Mediation insbesondere im Fall struktureller Machtungleichgewichte eingehend oben S. 336 ff., 348 ff., 604 ff. 426 Zum Problem der möglichen Antonomie zwischen Norm- und Verhandlungssystem eingehend oben S. 153 ff., 156 ff. 425
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alte Antinomie zwischen liberaler und sozialer Prozessauffassung, die bislang nur innerprozessual von Bedeutung war, scheint uns jetzt auch im Verhältnis der Verfahren zueinander in der antagonistischen Struktur von Mediation und Zivilprozess in neuem Gewand gegenüberzutreten. Inwieweit die von Fiss getroffene Zuordnung von Verfahrensfunktionen und Eigenschaften in dieser Radikalität im Einzelnen tatsächlich zutrifft, bedarf indes der näheren Untersuchung. Im Rahmen unserer Analyse der Funktion427, Struktur428 und Wirkungen des Mediationsverfahrens429 haben wir bereits gesehen, dass der Mediation auch im Hinblick auf die Verwirklichung gesellschaftlicher Veränderungen eine durchaus zentrale Bedeutung zukommt. Unsere Betrachtung des Verhältnisses von materiellem Recht und Mediation hat darüber hinaus aufgezeigt, dass das Recht auf vielfältige Weise in das Mediationsverfahren hineinstrahlt. Das mittlerweile zum Allgemeingut zu rechnende Bild der Mediation im Schatten des Rechts430 beschreibt ebendiesen Zusammenhang: Die Mediation bedarf eines rechtlichen Rahmens und vollzieht sich keineswegs im außerrechtlichen Bereich einer allein von den Parteiinteressen bestimmten „autonomen Ordnung“. Sie kann sich vielmehr inhaltlich an jenen Wertentscheidungen orientieren, die der objektiven Rechtsordnung zugrunde liegen und entweder im positiven Gesetzesrecht ihre normative Ausprägung und Gestalt erfahren haben oder aber „in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind“431. Im letztgenannten Fall geht die Mediation sogar über die Funktion der Bewährung des objektiven positiven Rechts hinaus und trägt – die systemimmanenten Schwächen einer durch Normzweckverfehlung unvollkommenen gesetzlichen Regelung gleichsam reparierend – durch die Kompensation legislativer Defizite sogar zu einer Korrektur fehlerhaften Gesetzesrechts und damit zur Verwirklichung der grundlegenden Wertentscheidungen der Verfassung bei. Dass die Mediation diese Funktion im Einzelfall erfüllen kann, jedoch nicht notwendig erfüllen muss, folgt aus dem Primat der freien, privatautonomen Verfügungsgewalt der Parteien über die Sachentscheidung.
427
Vgl. hierzu oben S. 558 ff. Vgl. hierzu oben S. 107 ff., 586 ff. 429 Vgl. hierzu oben S. 597 ff., 604 ff. 430 Zum Begriff Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). Vgl. zur Bedeutung des Rechts in der Mediation eingehend oben S. 149 ff. (allgemein), 280 ff. (materielles Recht), 432 ff. (Verfahrensrecht). 431 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 428
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Weil sich aber die Parteien regelmäßig nicht in einem normativen Vakuum, sondern innerhalb einer Werteordnung bewegen, die ihnen in ihrem überpositiven Gehalt durch verstandesmäßiges Erkennen, das lumen rationis432, zugänglich ist, wird die Einigungsentscheidung der Parteien regelmäßig den Wertentscheidungen der Rechtsordnung entsprechen und diese – weil sie gerade nicht den Begrenzungen des binären Schematismus abstrakt-genereller Normen unterworfen sind – grundsätzlich sogar in vollkommenerer Weise erfüllen, als dies durch richterliche Entscheidung möglich wäre.433 Die Kritik von Fiss muss daher differenziert betrachtet werden. Nachdem wir seine Charakterisierung des Mediationsverfahrens vor dem Hintergrund des Gegensatzes von Individualrechtsschutz und Rechtsbewährung einer kritischen Würdigung unterzogen haben, wollen wir ausgehend von der klassischen Prozesszwecklehre auf der einen und der Kritik Fissʼ auf der anderen Seite nun die Funktion des Zivilprozesses näher in den Blick nehmen. (2) Konflikt Als Verfahren der Streitbeilegung ist der Zivilprozess in seiner primären Funktion zunächst auf den Konflikt selbst gerichtet: Er dient der Beilegung des Konfliktes434 sowie der Durchsetzung und dem Schutz des subjektiven Rechte der Parteien435. Darüber hinaus erfüllt er grundsätzlich eine Wahrheits- und Gerechtigkeitsfunktion und ist darauf angelegt, den Parteien Rechtsgewissheit zu verschaffen. (a) Effektiver Schutz subjektiver Rechte (aa) Individualrechtsschutz als primäre Aufgabe des Zivilprozesses Die primäre Aufgabe des Zivilprozesses ist der Schutz der subjektiven Rechte der Parteien. Diese Funktion ergibt sich als notwendiges Korrelat aus dem Verbot privater Selbsthilfe auf der einen und dem staatlichen Gewaltmonopol auf der anderen Seite: Gewährt der Staat seinen Bürgern materielle Rechte und verbietet ihnen zugleich die Selbsthilfe, so ist er verpflichtet, auch einen Weg zur Durchsetzung dieser Rechte zur Verfügung zu stellen, will er diese nicht entwerten. Aus dem Verbot der Selbsthilfe erwächst die Justizgewährungspflicht des Staates, der als Kehrseite der durch Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem 432 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 101, Fn. 405. 433 Vgl. hierzu oben S. 175 ff., 230 ff., 249 f., 283 ff., 293 ff. 434 Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 268 f.; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht (6. Aufl. 1987), S. 37 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 3. Kritisch dagegen Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 15 (kein selbständiger Prozesszweck). 435 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 2; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 10.
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Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich garantierte allgemeine Justizgewährungsanspruch des Bürgers als objektiv-öffentliches Recht entspricht. Er ist auf die Gewährung qualifizierten Rechtsschutzes durch unabhängige richterliche Gewalt gerichtet. Der Schutz der subjektiven Rechte erfolgt durch ihre Feststellung, Gestaltung und Durchsetzung. Die Struktur des Zivilprozesses ist auf diese Primärfunktion des Individualrechtsschutzes zugeschnitten: Neben der Gliederung des Zivilprozesses in Erkenntnis- (Feststellung und Gestaltung) und Vollstreckungsverfahren (Durchsetzung) kommt dies vor allem im Antragsgrundsatz, der Dispositions- und Verhandlungsmaxime, der Bindung an den Klageantrag (§ 308 ZPO) sowie der Begrenzung der Rechtskraft auf die Parteien (§ 325 Abs. 1 ZPO) zum Ausdruck. (bb) Verfassungsrechtlicher Schutz des Justizgewährungsanspruchs Der Individualrechtsschutz ist als verfassungsrechtlich geschützte Grundrechtsgewährleistung unabding- und in seiner herausgehobenen Stellung im Spektrum der übrigen Prozesszwecke unangreifbar. Das hat Auswirkungen zum einen auf sein Verhältnis zur insoweit nachgeordneten objektiven Rechtsbewährungsfunktion des Zivilprozesses, zum anderen – und das ist für uns von besonderem Interesse – auf sein Verhältnis zu konsensualen Streitbeilegungsverfahren. So hat insbesondere Stürner darauf hingewiesen, dass ein Zivilprozess, der im Wege eines „Schlichtungszwangs“ zwar Rechtsfrieden, aber keinen Individualrechtsschutz gewähren würde, verfassungswidrig wäre, weil er die fundamentale Bedeutung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgewährleistung außer Acht ließe.436 Dies ist freilich eine Selbstverständlichkeit, die sich bereits aus dem privatautonomen Charakter der Verhandlung wie auch des Mediationsverfahrens ergibt, der einer den Konflikt beilegenden Vereinbarung der Parteien erst ihre Legitimation verleiht.437 Entscheidende Bedeutung für das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess erlangt die verfassungsrechtliche Akzentuierung des Individualrechtsschutzes allerdings dann, wenn die Effektivität beider Verfahren und ihre Eignung zum effektiven Schutz der subjektiven Rechte der Beteiligten in den Blickpunkt rückt. (cc) Zivilprozess als ultima ratio und das Primat der außergerichtlichen Streitbeilegung Den (verfassungs-)rechtlichen Anknüpfungspunkt bildet hierfür zunächst die Entscheidung des BVerfG vom 14. Juni 2007. In ihr formuliert das Gericht das grundsätzliche Primat konsensualer Verfahren außergerichtlicher Streitbeilegung gegenüber dem Zivilprozess: 436
Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545, 552. Zur Bedeutung der Privatautonomie als wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Mediation vgl. oben S. 127, 130 ff., 137, 459 ff. 437
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„Führt sie [die außergerichtliche Streitbeilegung] zu Lösungen, die in der Rechtsordnung so nicht vorgesehen sind, die von den Betroffenen aber – wie der Konsens zeigt – nun als gerecht empfunden werden, dann deutet auch dies auf eine befriedende Bewältigung des Konfliktes hin. Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.“438 Aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist die Argumentation des Gerichtes vor dem Hintergrund der Rechtsschutzfunktion des Zivilprozesses ohne weiteres einleuchtend: Legitimiert sich der Zivilprozess allein aus dem Verbot privater Selbsthilfe und dem staatlichen Gewaltmonopol, so muss er hinter andere Verfahren als ultima ratio zurücktreten, wenn es aufgrund einer gütlichen Einigung der Parteien keiner Selbsthilfe und damit auch keiner zwangsweisen Rechtsdurchsetzung durch Inanspruchnahme staatlicher Justiz mehr bedarf. Denn Selbsthilfe und der sie substituierende staatliche Rechtsschutz kommen nur dort in Betracht, wo eine Lösung des Konfliktes durch konsensuale Einigung nicht möglich ist. Das Primat der konsensualen Konfliktbeilegungsverfahren hat allerdings noch eine weitere, wesentlich tiefergehende Ursache, die über die aus der mangelnden Legitimation erwachsende Subsidiarität des Zivilprozesses als ultima ratio hinausgeht.439 Sie findet ihre eigentliche Begründung in der unterschiedlichen Eignung der einzelnen Konfliktbeilegungsverfahren zum effektiven Schutz subjektiver Rechte. Die Bedeutung des Zusammenhangs wird deutlich, wenn wir vor diesem Hintergrund die entsprechenden Funktionen des Mediationsverfahrens440 wie des Zivilprozesses441 zueinander in Beziehung setzen. (dd) Effektivität als Kriterium der Verfahrenswahl Wie wir gesehen haben, ist der Zivilprozess in seiner Fähigkeit zur effektiven Beilegung von Konflikten defizitär: Die komplexitätsreduzierende Verrechtlichung des Konfliktes, seine Transformation in einen abgeleiteten Metakonflikt, der binäre Schematismus der Rechtsfolgen, die Fokussierung auf Rechtspositionen und die damit einhergehende fehlende Berücksichtigung der Parteiinteressen, das Verfehlen des Normzwecks im atypischen Einzelfall und schließlich der mit der Konfliktsteuerung auf der Grundlage abstrakt-genereller Normen stets verbundene Mechanismus des Nullsummenspiels schränken die Fähigkeit des Zivilprozesses erheblich ein, den Konflikt interessengerecht, dauerhaft und nachhaltig beizulegen. 438
BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). Zum Primat der Mediation als archetypischem ADR-Verfaren eingehend oben S. 110 ff. sowie unten S. 729 ff., 735 ff., 740 ff. 440 Vgl. hierzu oben S. 441 Vgl. hierzu oben S. 615 ff. 439
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Über seine materiellen Defizite hinaus ist der Zivilprozess indes auch in prozeduraler Hinsicht gegenüber konsensualen Verfahren problematisch: Neben seinen hohen materiellen und immateriellen Kosten, dem hohen Zeiteinsatz sowie seinen destruktiven Auswirkungen auf die Parteibeziehung verfügt er über ein erhebliches Eskalationspotenzial, das wir im Rahmen unserer rechtstheoretischen Untersuchung eingehend in den Blick genommen haben. Aufgrund der Eigendynamik des gerichtlichen Verfahrens und der mit ihm verbundenen impliziten Übernahme festgelegter Rollen durch die Parteien läuft das Verhandlungsgeschehen in einer Eigendynamik ab, der sich die Beteiligten nicht mehr ohne weiteres entziehen können, und das wie in einem Trichter auf eine Konfrontation zusteuert, die nach Überschreiten eines point of no return in einem character contest als Metakonflikt gipfelt, in dem es nicht mehr um die Sache, sondern nur noch darum geht, aus dem Streit als Sieger hervorzugehen.442 Diesen Nachteilen zivilprozessualer Streitbeilegung entsprechen gleichsam spiegelbildlich die Vorteile des insoweit strukturell komplementären Mediationsverfahrens: Materiell ermöglicht die Mediation eine objektiv gerechte, kreative und wertschöpfende Einigungsentscheidung, die den Interessen beider Parteien gleichermaßen gerecht wird, den Konflikt ursächlich löst und damit nachhaltig und dauerhaft beilegt.443 Das Ergebnis sind pareto-optimale, auf die Interessen der Parteien hin maßgeschneiderte Einigungsentscheidungen im Sinne beiderseits interessengerechter win-win-Lösungen.444 Prozedural erfolgt dies in einem privatautonomen, flexiblen sowie zeit- und kostensparenden Verfahren, das die Beziehung zwischen den Parteien erneuert445, wiederherstellt und durch ihre Ausrichtung aufeinander hin eine Versöhnung der Parteien ermöglicht. Dem inneren Mechanismus und damit dem Geheimnis des Mediationsverfahrens haben wir in den vorangegangenen Abschnitten unserer Untersuchung nachgespürt: Die Ausrichtung der Parteien aufeinander hin, die versöhnende Transformation der Parteibeziehung schafft eine Basis, auf deren Grundlage 442
Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 sowie oben S. 139 ff. 443 Vgl. zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses oben S. 160 ff., 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 444 Vgl. hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff. sowie Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim. Vgl. auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 445 Zur Transformation der Parteibeziehung in der Mediation durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin vgl. oben S. 124 ff. , 471 ff. sowie Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971).
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ein multilateraler Perspektivwechsel möglich wird, der einem reifen Gebrauch der regula aurea entspricht. Den Parteien steht so ein Mechanismus zur Verwirklichung gerechter Entscheidungen zur Verfügung, der dem Einzelnen, entsprechend dem aristotelischen Grundsatz des suum cuique tribuere, das ihm Gebührende und somit jene Güter zuweist, die seinen Interessen entsprechen und denen er zur Entfaltung seiner Person bedarf. Dies ist indes nichts anderes als die Verwirklichung der Gerechtigkeit. Die Mediation wird durch den in ihrem innersten Wesenskern wirkenden Mechanismus der regula aurea jedenfalls im Grundsatz zu dem gerechten und insoweit auch gegenüber dem Zivilprozess vorzugswürdigen Verfahren, weil es die Parteien zur Anwendung der regula aurea auch und gerade in Konfliktsituationen befähigt, jedenfalls im Grundsatz materiell wie auch prozedural gerechte Entscheidungen zu treffen. (ee) Von der Justiz- zur Mediationsgewährungspflicht? Als Befund unserer bisherigen Überlegungen lässt sich festhalten, dass sich das Primat des Mediationsverfahrens gegenüber dem Zivilprozess zum einen aus der fehlenden Legitimation richterlicher Streitentscheidung im Fall der durch Konsens entbehrlich gewordenen Selbsthilfe, zum anderen aus der deutlich besseren Eignung des Mediationsverfahrens zur effektiven Beilegung von Konflikten ergibt. Wenn Justizgewährung des Staates im Kern darauf gerichtet ist, dem Bürger möglichst effektiv zu einem Schutz seiner subjektiven Rechte zu verhelfen, und wenn sich die Mediation als effektives Verfahren der Konfliktbeilegung darstellt, so müsste sich daraus nicht nur die Befugnis, sondern auch die Pflicht des Staates ergeben, im Rahmen seiner rechtsprechenden Tätigkeit auf eine gütliche Beilegung von Konflikten hinzuwirken und im Rahmen des ihm Möglichen auch die hierfür notwendigen effektiven Verfahren zur Verfügung zu stellen. Allerdings setzt dies eine funktionale Identität beider Verfahren im Hinblick auf ihre Eignung zum Schutz subjektiver Rechte voraus. Dies könnte im Hinblick auf das Mediationsverfahren zweifelhaft sein, weil es in ihm gerade nicht um die Durchsetzung subjektiver Rechte, sondern vielmehr um die effektive Beilegung von Konflikten auf der Grundlage nichtrechtlicher Interessen geht.446 Die Interessenorientierung der Mediation könnte aus diesem Grund zur Folge haben, dass die Vorteile des Verfahrens gegenüber dem Zivilprozess, die sich aus seiner Fähigkeit zur effektiven Streitbeilegung ergeben, leerlaufen
446
Zur Bedeutung der Interessenverwirklichung für ein gerechtes Ergebnis vgl. oben S. 222 ff. sowie zur Bedeutung der Interessen in Verhandlung und Mediation vgl. oben S. 170 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Bühring-Uhle/ Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff.
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würden. Daher kommt es im Folgenden entscheidend darauf an, ob die Mediation über ihre Fähigkeit zur bloßen Konfliktbeilegung und Interessenverwirklichung hinaus überhaupt zum Schutz subjektiver Rechte der Parteien geeignet ist. Zur Beantwortung dieser Frage ist zwischen der materiellen und der prozeduralen Ebene zu unterscheiden. Auf materieller Ebene ergeben sich zunächst keine durchgreifenden Bedenken: Interessenschutz ist grundsätzlich breiter als Rechtsschutz.447 Wenn Rechtsansprüchen Wertentscheidungen auf der Basis typisierter Interessen zugrunde liegen448, subjektive Rechte also erst durch abstrahierende Verfremdung typischer Interessen zu einem subsumptionsfähigen Rechtskern entstehen, im Wege der Rechtsanwendung durch das Gericht wieder dekodiert und auf den Einzelfall angewendet werden müssen und durch die damit verbundene systembedingte Unschärfe und den Verlust konfliktrelevanter Sachverhaltsdimensionen die eigentlichen, tatsächlichen Interessen der Parteien nur unvollkommen zu erfassen vermögen449, dann sind Rechte in ihrem sachlichen Interessenkern zwar grundsätzlich in den allgemeinen, jedoch durch ihre abstraktionsbedingte Verfremdung nicht notwendig in den speziellen, dem Konflikt tatsächlich zugrunde liegenden Interessen der Parteien als Teilmenge enthalten. Oder anders gewendet: Zwar liegen den normierten Rechten grundsätzlich typisierte Interessen als Wertentscheidung zugrunde. Im konkreten Einzelfall ist es jedoch ohne weiteres möglich, dass die tatsächlichen Interessen der Parteien durch die vom Gesetz vorgesehene Rechtsfolge vollkommen verfehlt werden. Summum ius, summa iniuria450: Auch wenn eine Partei aus dem Rechtsstreit als Sieger hervorgeht, so ist es doch ohne weiteres möglich, dass ihre eigentlichen Interessen unbefriedigt bleiben. Dem Recht nach bleibt diese Partei Sieger, der Sache nach Verlierer. Auf der materiellen Ebene ergibt sich damit ein deutlicher Vorrang des Mediationsverfahrens gegenüber dem Zivilprozess. Interessenschutz ist Rechtsschutz – und noch viel mehr. Er geht über die vom Staat gewährleisteten subjektiven Rechtspositionen weit hinaus. Darauf, dass das materielle Recht und damit auch die subjektiven Rechte der Parteien als solche auf vielfältige Weise in das Mediationsverfahren Eingang finden, kommt es daher nicht an. Auf prozeduraler Ebene ergibt sich indes ein differenziertes Bild: Weil die Mediation als konsensuales Verfahren auf die Zustimmung beider Parteien angewiesen ist, geht der Rechtsschutz in ihr nur soweit, wie der Konsens reicht. Er findet seine Grenze in der Zustimmungsverweigerung des Verhandlungspartners. Rechtsschutz ist damit nur freiwillig durch Konsens beider Parteien
447
So Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421, 430. Hierzu eingehend aus rechtstheoretischer Perspektive oben S. 13 f. 449 Zu dieser systemimmanenten Grenze des Zivilprozesses eingehend oben S. 12 ff. 450 Cicero, De officiis, I, 33 („Das höchste Recht ist das höchste Unrecht“). 448
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möglich. Und auch dieser Konsens bedarf regelmäßig des Damoklesschwertes eines stets möglichen Zivilprozesses als Rückgriffsordnung451, in dessen Schatten452 sich die konsensuale Einigung der Parteien vollzieht und deren Ergebnis durch die Prozesserwartungen als Nichteinigungsalternativen wesentlich mitbestimmt wird.453 Eine einvernehmliche Beilegung des Konfliktes ist indes nur insoweit möglich, als zwischen den Parteien Konsens besteht. Scheitert dieser, so sind die Parteien zur Durchsetzung ihrer subjektiven Rechte auf die Inanspruchnahme staatlichen Rechtsschutzes durch eine verbindliche richterliche Letztentscheidung angewiesen. Dieser Befund entspricht dem Ergebnis, das wir bereits an anderer Stelle herausgearbeitet haben: Dass das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess zueinander im Kern durch das Primat des Mediationsverfahrens und die Subsidiarität des Zivilprozesses als ultima ratio gekennzeichnet ist. (b) Konfliktlösung In jüngerer Zeit wird – insoweit im Gleichlauf mit dem Mediationsverfahren – die Funktion des Zivilprozesses nicht auf den Individualrechtsschutz beschränkt, sondern zunehmend auch in der Konfliktlösung gesehen.454 Darüber hinaus dient er, anders als die Mediation, der Schaffung von Rechtsgewissheit für die Parteien.455 Dass der Zivilprozess als verbindliches Entscheidungsverfahren eine Konfliktlösungsfunktion erfüllt, bedarf keiner weiteren Begründung. Die Thematisierung dieser evidenten Verfahrensfunktion, die in der des Individualrechtsschutzes schon als Teilmenge notwendig mit enthalten ist, wäre überflüssig, wenn sie nicht über ihren Wortsinn hinaus auf eine tieferliegende Problematik verweisen würde. Und in der Tat zielt der Begriff der Konfliktbeilegungsfunktion des Zivilprozesses weniger auf das ob und damit auf das Ergebnis als vielmehr auf das wie und somit die Art und Weise, auf welche der Konflikt zwischen den Parteien beigelegt wird: Im Kern geht es daher weniger um die Tat-
451
Zur Funktion des Rechts als Rückgriffsordnung vgl. oben S. 299 ff. Vgl. zu diesem Bild Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). Zum Verhältnis von Mediation und Recht eingehend oben S. 100 ff., 275 ff., 427 ff. 453 Zur Prozessrisiko- bzw. Szenarioanalyse vgl. Eidenmüller, ZZP 113 (2000), 5; Aaron, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 202; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 100 ff.; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 243 ff. 454 Vgl. nur Wolf, Gerichtsverfassungsrecht (6. Aufl. 1987), S. 37 ff. Kritisch Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 15. Vgl. hierzu auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 3. 455 Vgl. hierzu unten S. 652 ff. sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 2; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545, 545 f. Differenzierend Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 17. 452
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sache, dass der Zivilprozess den Konflikt durch richterliche Entscheidung beendet, sondern vielmehr darum, dass auch im Rahmen eines Zivilprozesses eine vergleichsweise Beilegung des Konfliktes durch Verzicht auf richterliche Entscheidung möglich ist. Konfliktbeilegung ist in diesem Zusammenhang daher stets konsensuale Konfliktbeilegung im Rahmen des zivilgerichtlichen Verfahrens und erfolgt regelmäßig durch vermittelnde Tätigkeit des Gerichts, etwa im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation. (aa) Konfliktbeilegungsfunktion als Schnittstelle zwischen Mediation und Zivilprozess Die Konfliktbeilegungsfunktion bildet damit als Scharnier die Schnittstelle zwischen Mediation und Zivilprozess und öffnet innerhalb des Rahmens des zivilprozessualen Verfahrens einen Raum, in dem der Konflikt nicht nach den Prinzipien des Zivilprozesses, sondern nach den Grundsätzen des Mediationsverfahrens beigelegt werden kann. Das spezifische Merkmal der Konfliktbeilegungsfunktion im Vergleich zu den übrigen Verfahrensfunktionen, etwa des Individualrechtsschutzes oder der Rechtsbewährung, besteht daher im Dispens von der normativ orientierten, verbindlichen Entscheidung des Gerichts und in dem Wechsel von Rechtsansprüchen zu den Interessen der Parteien als zentralem materiellen Maßstab für die Beilegung des Konflikts. Damit geht es im Kern letztlich um die Frage, inwieweit sich der Zivilprozess von den ihm eigenen Grundsätzen entfernen und auf nichtrechtliche Streitbeilegungsformen einlassen darf, ohne in seiner substantiellen Integrität456 beeinträchtigt zu werden. Und weil es dabei um die Integration der Mediation in den Zivilprozess und damit die Verzahnung zweier strukturell völlig unterschiedlicher, sich komplementär gegenüberstehender Verfahren geht, treffen hier auch die Spannungen zwischen beiden Verfahrensarten wie in einem Brennglas aufeinander.457 So ist auch nicht verwunderlich, dass die Verfahrensfunktion der Konfliktbeilegung zum Einfallstor der klassischen ADR-Diskussion auf der Grundlage von Fissʼ ADR-Kritik458 geworden ist. Angesprochen sind damit drei Problem-
456
Zum Prinzip der strukturellen Integrität eingehend oben S. 116 f. , 546 ff. Zu den Modelle der Verfahrensintegration eingehend oben S. 492 ff. sowie v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 61 ff. 458 Vgl. hierzu Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984) sowie eingehend oben S. 552 ff., 555 ff. mwN. 457
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kreise, die wir bereits als mögliche Risiken des Mediationsverfahrens kennengelernt haben: a) materiell ungerechte Ergebnisse459, b) das Problem des Einigungsdrucks460 und der Gefahr des Verlustes subjektiver Rechte461 sowie c) die Erschwerung des Zugangs zur Justiz462. Sie lassen sich pointiert zusammenfassen in dem Spannungsverhältnis von Befriedung und Gerechtigkeit, Interessenmaximierung und Recht, Willkür des Stärkeren und formalisiertem Rechtsschutz des Schwachen. (bb) Risiken richterlicher Konfliktmittlung Auf die Risiken richterlicher Streitschlichtung, die mit der maßgeblich von Manfred Wolf463 vertretenen Konfliktbeilegungsfunktion des Zivilprozesses verbunden sind, hat Rolf Stürner schon früh hingewiesen und damit das Spannungsverhältnis beschrieben, in dem sich gerichtsverbundene Mediation auch heute noch bewegt: „Nach ganz h. M. dient das gerichtliche Verfahren der Verwirklichung subjektiver Rechte; Schutz und Verwirklichung subjektiver Rechte garantieren wiederum ihrerseits die faktische Geltung der Rechtsordnung als Lebensordnung, sie führen zur Bewährung des objektiven Rechts. … Die richterliche Sozialtherapie vollzieht sich in den Bahnen vorgeformter subjektiver Rechte, nur ausnahmsweise erlaubt die Rechtsordnung den freier gestaltenden sozialen Ausgleich durch den Richter. Die Formalisierung der Streiterledigung schützt vor Willkür und intendiert größtmögliche Vorhersehbarkeit des Verfahrensablaufs. … Mit all diesen Prinzipien harmoniert die richterliche Streitschlichtung zunächst einmal nur wenig. Sie fängt die Parteien auf ihrem Weg zur Rechtsverwirklichung ab und verhindert gleichermaßen die volle Durchsetzung subjektiver Rechte wie die uneingeschränkte Bewährung des objektiven Rechts, wobei dann häufig noch die Unzulänglichkeiten des Rechtsfindungs- und Rechtsdurchsetzungsverfahrens zum Anlaß scheiternder Rechtsverwirklichung
459 Zur Bedeutung von Gerechtigkeit und materiellem Recht in der Mediation eingehend oben S. 167 ff. (Gerechtigkeit), 282 (materielles Recht). Zum Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie und objektiver Gerechtigkeit eingehend oben S. 336 ff. 460 Zur Problematik des unzulässigen Einigungsdrucks (settlement pressure) vgl. eingehend oben S. 130 ff., 132 ff., 315 ff., 337 ff., 368 f., 411 f., 417 ff., 605 f. sowie Jennings, 6 Ohio St. J. on Disp. Resol. 313 (1991); Lande, 50 UCLA L. Rev. 69, 86 ff. (2003); Bone, 28 Cardozo L. Rev. 1961, 2011 (2007). Aus dem deutschsprachigen Schrifttum vgl. Stürner, JR 1979, 133, 136; Wendenburg, Schutz (2013), S. 54 ff. 461 Vgl. hierzu die ie Fallstudien oben S. 344 ff. mwN. 462 Zu dem Argument, dass ADR-Verfahren und insbesondere die Mediation gerade strukturell schwächeren Parteien den Zugang zur Justiz erschweren vgl. oben S. 607 sowie Tomasic, in: Tomasic/Feeley (Hrsg.), Neighborhood Justice (1982), S. 215, 215; Fredlund, 1992 J. Disp. Resol. 133, 148 f. (1992); Eisele, 75 Judicature 34, 40 (1995). Zum Problem mangelnder self-agency vgl. Fallstudien oben S. 344 ff. 463 Wolf, ZZP 89 (1976), 260, 268 f.; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht (6. Aufl. 1987), S. 37 ff. Kritisch Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 15 (kein selbständiger Prozesszweck).
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werden. Rechtsfrieden und sozialer Ausgleich entstehen nicht auf der Basis der vorgeformten Rechtsordnung, sondern aufgrund von Schlichtungsregeln, die angeblich eine überlegene Konfliktlösung gestatten und nicht selten als Ausdruck höherer Weisheit und Gerechtigkeit verstanden werden. Das Güteverfahren läßt dem Richter anders als die ZPO bei der Sachverhaltsklärung weithin freie Hand. So besehen bedeutet eine Privilegierung der Schlichtung gegenüber der Streitentscheidung, plastisch ausgedrückt, die Bankrotterklärung des abstrakten normativen Systems zugunsten eines fallbezogenen ‚social engineering‘, die Rechtsverwirklichung weicht dem sozialen Management.“464
In die gleiche Richtung zielt die klassische Kritik Fissʼ, der mit der vermittelnden Tätigkeit des Richters die Gerechtigkeits- und Rechtsbewährungsfunktion des Zivilprozesses insgesamt infrage gestellt sieht: „The bargaining that normally takes place between litigants – characterized, as I then assumed, by the pursuit of self-interest, imbalances of material resources, inequalities of information, and strategic behavior – has no connection to justice whatsoever. … Justice is a public good, objectively conceived, and is not reducible to the maximization of the satisfaction of the preferences of the contestants, which, in any event, are a function of the deplorable character of the options available to them. … Judges are judges, not brokers of deals.”465
Im Mittelpunkt der Kritik stehen dabei der Verzicht auf die formalen Verfahrensgarantien des Zivilprozesses, die Abkehr vom materiellen Recht als Entscheidungsmaßstab sowie seine Ersetzung durch eine von den individuellen Interessen der Parteien bestimmte autonome Ordnung, die eine Durchsetzung der subjektiven Rechte der Parteien verhindern und ihnen damit den Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz erschweren.466 (cc) Privatautonomie als Legitimation Allerdings hat schon Stürner im Anschluss an seine Kritik darauf hingewiesen, dass sich das Spannungsverhältnis zwischen rechtsstaatlichem Rechtsschutz und richterlicher Streitschlichtung im Rahmen der Konfliktbeilegungsfunktion des Zivilprozesses auflöst, wenn man in der Selbstbestimmung, der Privatautonomie der Parteien, den wesentlichen und entscheidenden Rechtfertigungsgrund richterlicher Konfliktmittlung und damit auch gerichtsverbundener Mediationsprogramme erblickt.467 Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass
464 Stürner, DRiZ 1976, 202, 203. Hervorhebung durch den Autor. Vgl. zuletzt ebenso Stürner, FS Yessiou-Faltsi (2007), S. 701, 711. 465 Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273, 1277 (2009). Hervorhebungen durch den Verfasser. 466 In diese Richtung geht auch die Argumentation in Teilen des US-amerikanischen Schrifttums, vgl. zur Kritik nur Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984); Tomasic, in: Tomasic/Feeley (Hrsg.), Neighborhood Justice (1982), S. 215, 215; Fredlund, 1992 J. Disp. Resol. 133, 148 f. (1992); Eisele, 75 Judicature 34, 40 (1995). 467 Stürner, FS Yessiou-Faltsi (2007), S. 701, 712; Stürner, DRiZ 1976, 202, 204.
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sich die Konfliktbeilegungsfunktion des Zivilprozesses auch nur und ausschließlich aus der privatautonomen Entscheidung der Parteien als Ausdruck ihrer nach Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleisteten Handlungsfreiheit legitimieren kann. „Es gibt keine dem Recht übergeordneten vernünftigeren Konfliktlösungsregeln, die dem Gericht im Rahmen einer überrechtlichen Ordnung eine Art Zwangsbeglückung erlauben würden. Vielmehr ist es allein die Selbstbestimmung der Parteien, welche die außerrechtliche Konfliktlösung gestattet. Der freiheitliche Staat belässt seinen Bürgern als Konsequenz der Handlungsfreiheit grundsätzlich auch die Freiheit, Recht nicht wahrzunehmen und ihre Lebensverhältnisse ohne Ausschöpfung aller vorgeformten Rechte zu gestalten. Solche Enthaltsamkeit ist aber selbstverständlicherweise immer nur Recht, niemals Pflicht der Parteien. Keine staatliche Instanz sollte deshalb die Aufforderung zum Verzicht und Nachgeben unter Ausnutzung ihrer Autorität an den Bürger herantragen. Verbindliche Maßstäbe für die Zumutbarkeit des Nachgebens kämen einer Selbstaufgabe der Rechtsordnung gleich. Die gütliche Konfliktlösung ist Recht, nicht Pflicht der Parteien, und sie ist dem Urteil nur vorzuziehen, wenn die Parteien in freier Selbstbestimmung von diesem Recht Gebrauch machen. Der richterlich vermittelte Vergleich ist sonach eine Form des Schutzes subjektiver Rechte und damit letztlich Rechtsschutzgewährung.“468
(dd) Grenzen richterlicher Vermittlungstätigkeit Angesprochen sind damit die Grenzen richterlicher Vermittlungstätigkeit, die sich indes – wie wir gesehen haben – bereits aus den grundlegenden Verfahrensprinzipien des Mediationsverfahrens ergeben. Die Mediation ist als privatautonomes Verfahren in ihrem Wesen und ihrer Identität auf eine auch in tatsächlicher Hinsicht privatautonome Entscheidung der Parteien ausgerichtet und angewiesen. Die Wahrung dieses Grundsatzes ist dem Mediator als Hüter der Privatautonomie und Wächter der Verfahrensintegrität anvertraut. Dass Einigungsdruck oder gar ein Vergleichszwang mit den Grundsätzen des Mediationsverfahrens nicht vereinbar sind, ist daher selbstverständlich. Wie wir darüber hinaus im vorangegangenen Abschnitt gesehen haben, vermag die Mediation den Zivilprozess in seiner individualrechtsschützenden Aufgabe durchaus funktional zu ersetzen. Die Gefahr materiell ungerechter Entscheidungen und eines Verlustes subjektiver Rechte der Parteien sind dabei Risiken, die nicht dem Mediationsverfahren als solchem eigen sind, sondern sich regelmäßig nur bei einer Verletzung der grundlegenden Verfahrensprinzipien – wie etwa dem der informierten, privatautonomen Entscheidung – realisieren. Wie wir darüber hinaus gesehen haben, wirkt das materielle Recht auf vielfältige Weise auf die Einigungsentscheidung der Parteien ein, die sich bei der gemeinsamen Erarbeitung einer Lösung regelmäßig an den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Wertentscheidungen orientieren werden. Und weil die Parteien auf diese Weise re-
468
Stürner, FS Yessiou-Faltsi (2007), S. 701, 712. Hervorhebungen durch den Verfasser.
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gelmäßig zu Lösungen kommen, „die in der Rechtsordnung so nicht vorgesehen sind, die von den Betroffenen aber … als gerecht empfunden werden“, so ist die einverständliche Beilegung von Konflikten – wie das BVerfG deutlich gemacht hat – „auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.“469 Für die Parteien wird damit der Zugang zu den Gerichten weder blockiert noch erschwert. Im Gegenteil erfüllt der Zivilprozess, in dessen „Schatten“470 sich die Einigung der Parteien vollzieht, als Nichteinigungsalternative eine wichtige Aufgabe als Rückgriffsordnung. Die Privilegierung der konsensualen Streitbeilegung gegenüber dem streitigen Zivilprozess ist damit keineswegs „die Bankrotterklärung des abstrakten normativen Systems zugunsten eines fallbezogenen ‚social engineering‘“471, sondern letztlich Ausdruck der seit jeher bestehenden Subsidiarität zivilgerichtlichen Rechtsschutzes als ultima ratio gegenüber der gütlichen Einigung. Dass die Mediation durch die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne nicht nur angeblich, sondern auch tatsächlich „eine überlegene Konfliktlösung“472 gestattet, welche die Parteien in einem deeskalierenden Verfahren wieder aufeinander hin ausrichtet und auf dieser Grundlage eine wertschöpfende, kreative und beiderseits interessengerechte Lösung des Sachproblems ermöglicht, haben wir im Gang unserer Untersuchung nachgewiesen. Und weil der innere Mechanismus des Mediationsverfahrens auf einem durch einen multilateralen Rollentausch vermittelten reifen Gebrauch der regula aurea beruht und dadurch wie kaum ein anderes Verfahren dem Prinzip des suum cuisque tribuere als zentralem Grundsatz der Gerechtigkeit entspricht, kann die Mediation tatsächlich als „Ausdruck höherer Weisheit und Gerechtigkeit“473 verstanden werden. Dass dies aus rechtsgeschichtlicher Perspektive keineswegs etwas durchweg Außergewöhnliches darstellt, sondern vielmehr exakt jener Funktion entspricht, die dem Billigkeitsrecht seit jeher im Verhältnis zum strengen Recht zukommt, bestätigt unseren Befund, dass uns im Mediationsverfahren eine Ausprägung des Prinzips informaler Billigkeit, des ius aequum gegenübertritt.
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BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). Zum Begriff Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). Vgl. zur Bedeutung des Rechts in der Mediation eingehend oben S. 149 ff. (allgemein), 280 ff. (materielles Recht), 432 ff. (Verfahrensrecht). 471 Stürner, DRiZ 1976, 202, 203. 472 Stürner, DRiZ 1976, 202, 203. 473 So Stürner, DRiZ 1976, 202, 203 mit Blick auf ADR-Verfahren. 470
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(ee) Konfliktmittlung als Gebot der Gerechtigkeit Die Kritik, dass die Parteien auf ihrem Weg zur Rechtsverwirklichung abgefangen und an der vollen Durchsetzung ihrer subjektiven Rechte gehindert werden, kann daher nicht überzeugen. Wie wir gesehen haben, ist die Mediation aufgrund ihrer besonderen Verfahrenseigenschaften im Gegenteil gerade besonders geeignet, die subjektiven Rechte der Beteiligten sehr viel weitgehender durchzusetzen, als dies im Wege eines streitigen Zivilprozesses möglich wäre.474 Dies kann letztlich nur deshalb gelingen, weil das Mediationsverfahren eine Konfliktlösung gestattet, die über die „Basis der vorgeformten Rechtsordnung“475 weit hinausgeht und über die subjektiven Rechte der Parteien hinaus ihre hinter den geltend gemachten Rechtspositionen stehenden tatsächlichen Interessen berücksichtigt. Die Konfliktlösung erfolgt damit nicht auf der Grundlage irgendwelcher „Schlichtungsregeln“476, sondern auf der Grundlage der Interessen, Bedürfnisse, der tatsächlichen Nöte der Parteien, denen mit der Verwirklichung ihrer Interessen dasjenige gewährt wird, dessen sie aufgrund ihrer konkreten Lebenssituation nach ihrer individuellen Natur und Berufung zur Entfaltung ihrer Person bedürfen. Dem Einzelnen aber dasjenige zukommen zu lassen, dessen er bedarf und das ihm daher zur Entfaltung seiner Person zusteht, entspricht dem Gebot der Gerechtigkeit – suum cuique tribuere477. Dass dies nicht zwangsläufig auf der Grundlage abstrakt-genereller Normen, sondern auf der sehr viel breiteren Grundlage der diesen Normen zugrunde liegenden Interessen erfolgt, ist weder etwas grundlegend Neues noch stellt es die objektive Rechtsordnung als Ganzes infrage. Es ist als ius aequum, als Equity, als Billigkeitsrecht seit jeher Teil des Rechts selbst, das gerade durch den Dualismus zwischen formaler und informaler Gerechtigkeit geprägt ist. Aus der Perspektive der Rechtsgeschichte erscheinen Mediation und Zivilprozess als jeweilige prozessuale Erscheinungsformen der Prinzipien des Formalen und des Informalen, ius honorarium und ius civile, equity und common law, strenges und billiges Recht, zwischen denen das Recht seit jeher oszilliert und deren Pole im Wandel der Zeit jeweils unterschiedliche, den Anforderungen der jeweiligen Epoche entsprechende Gestalt angenommen haben. Der Begriff der Konfliktbeilegung beschreibt in diesem Kontext damit weniger eine eigenständige Funktion des Zivilprozesses – der Vergleich ist kein Zweck des Zivilprozesses, sondern eine Alternative zum streitigen Urteil –, sondern vielmehr das Verhältnis zwischen (gerichtsinterner) Mediation und streitigem Erkenntnisverfahren.
474
Vgl. hierzu oben S. 168 ff., 173 ff., 222 ff., 230 ff., 252 ff., 267 ff. Vgl. auch Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421, 430 (Interessenschutz ist breiter als Rechtsschutz). 475 Stürner, DRiZ 1976, 202, 203. 476 Vgl. hierzu Stürner, DRiZ 1976, 202, 203. 477 Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff.
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(c) Rechtsgewissheit Wird der Konflikt durch streitige Entscheidung des Gerichts beigelegt, so schafft das Urteil für die Parteien Rechtsgewissheit, indem es die abstrakten Regelungen des Gesetzes auf den konkreten Einzelfall anwendet und so konkretisiert. Mit dem Urteil wird die Frage, welche der Parteien im Recht ist, durch verbindliche Entscheidung geklärt. Die Entscheidung des Gerichts bildet nicht nur die Grundlage für die Beilegung des bestehenden Konfliktes, sondern bestimmt darüber hinaus als Richtmaß normativ auch das weitere Verhalten der Parteien. Mit der Rechtskraft des Urteils erlangt die obsiegende Partei eine grundsätzlich unangreifbare Position.478 Dabei ist mit dem Urteil nicht in jedem Fall bereits etwas über den Wahrheitsgehalt des aufgeklärten und festgestellten Sachverhaltes gesagt. Denn zum einen bestimmt sich der zu verarbeitende Prozessstoff aufgrund des Fehlens einer Aufklärungspflicht des Gerichtes allein auf der Grundlage des Sachvortrages der Parteien, der indes der Wahrheitspflicht unterliegt. Zum anderen gewährleisten die zivilprozessualen Beweislastregeln auch im Fall der Unaufklärbarkeit des Sachverhaltes eine Entscheidbarkeit des Rechtsstreits.479 Über den Kreis der unmittelbar beteiligten Parteien hinaus erstreckt sich die Wirkung der Funktion der Rechtsgewissheit dabei auch auf die Rechtsgemeinschaft als Ganzes, weil dem Urteil trotz der im deutschen Recht fehlenden Präjudizwirkung jedenfalls eine wesentliche Orientierungsfunktion zukommt.480 Eine derartige Rechtsklärungsfunktion vermag die konsensuale Beilegung des Konfliktes durch Vergleich nicht zu entfalten. Zwar werden sich die Parteien schon deshalb regelmäßig auf ein den Wertungen des Gesetzes jedenfalls grob entsprechendes Ergebnis einigen, weil die materielle Rechtslage über die Erfolgsaussichten des Zivilverfahrens im Rahmen der Nichteinigungsalternativen auf die Einigungsentscheidung der Parteien einwirkt und die Parteien regelmäßig nicht freiwillig auf ihre subjektiven Rechte verzichten werden.481 Allerdings können die Parteien im Einzelfall auch zu einem Ergebnis gelangen,
478 Zur sozialen Isolierung des Prozessverlierers, der dadurch zur Hinnahme der für ihn ungünstigen Entscheidung motiviert werden soll eingehend Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 117, 123 sowie oben S. 29 f. 479 Instruktiv hierzu aus der Sicht eines BGH-Richters Greger, JZ 1997, 1077, 1082: „So kommt es, daß Entscheidungen des BGH nicht selten zu irrealen Sachverhalten ergehen, womit zwar der Fortbildung des Rechts, nicht aber der gerechten Entscheidung des konkreten Falles gedient sein kann.“ Vgl. hierzu auch oben S. 20 f., zur komplexitätsreduzierenden Verrechtlichung oben S. 15 ff. Hervorhebungen durch den Verfasser. 480 Vgl. nur Wagner, JZ 1998, 836, 838. 481 Daher kommt dem materiellen Recht im Mediationsverfahren auch eine wichtige Funktion als Orientierungsmaßstab für das Erarbeiten von Einigungsoptionen zu. Vgl. hierzu oben S. 293 ff. Zur Bewertung der Erfolgsaussichten eines nachfolgenden Zivilprozesses im
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das der Lösung des Gesetzes kaum mehr entspricht, jedoch auf die individuellen Bedürfnisse der Parteien maßgeschneidert ist. Darüber hinaus ist zwar auch die rechtlich verbindliche Anerkennung von Rechtsansprüchen durch Vergleich und insoweit eine Gewissheit über die subjektive Rechtslage möglich und in der Praxis häufig anzutreffen. Eine verbindliche Klärung der objektiven Rechtslage ist damit indes nicht verbunden. (d) Wahrheit Im Rahmen der klassischen Prozesszwecklehre weist ein Teil des Schrifttums dem Zivilprozess auch die Aufgabe der Wahrheitsfindung zu.482 Danach besteht die Aufgabe des Zivilprozesses nicht zuletzt darin, die Wahrheit über den streitgegenständlichen Sachverhalt ans Licht zu bringen. Der Grundgedanke, der dieser Auffassung zugrunde liegt, ist vor dem Hintergrund der Gerechtigkeitsfunktion des Rechts und des Zivilprozesses ohne weiteres einsichtig: Besteht das letzte Ziel des Rechts darin, „die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen ... echte Gerechtigkeitspostulate verwirklichen [zu] wollen“483, soll der Zivilprozess die abstrakten Gerechtigkeitspostulate des positiven Rechts auf den konkreten Sachverhalt anwenden und auf diese Weise den aus ihnen erwachsenden subjektiven Rechten zur Durchsetzung verhelfen, so kann dies selbstverständlich nur auf der Grundlage des wahren, tatsächlichen Sachverhaltes geschehen. Ein gerechtes Urteil auf der Grundlage eines falschen, irrealen Sachverhaltes ist nicht denkbar. Wahrheit und Gerechtigkeit sind damit auf untrennbare Weise miteinander verbunden.484 Die Bedeutung, die das Recht der Ermittlung des wahren Sachverhaltes im Rahmen des Zivilprozesses beimisst, wird durch eine Vielzahl rechtlicher Regelungen, wie etwa die Wahrheitspflicht der Parteien im Zivilprozess (§ 138 Abs. 1 ZPO), die Stellung des Rechtsanwaltes als Wahrheit und Rahmen einer Prozessrisikoanalyse vgl. Eidenmüller, ZZP 113 (2000), 5 ff. Zur Prozessrisiko- bzw. Szenarioanalyse eingehend Aaron, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 202; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 100 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 243 ff. 482 Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950), S. 106; Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozess (1966), S. 16 ff. Differenzierend Gaul, in: Yıldırım (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen (2001), S. 68, 84 (Wahrheitsfindung ist nicht Prozesszweck, sondern nur Mittel zum Zweck der Rechtsfindung; der Prozeßzweck besteht in der „Verwirklichung des sachlichen Rechts auf der Grundlage der Wahrheit“). Hierzu eingehend Gaul, AcP 168 (1968), 27, 34. Skeptisch Jauernig, JuS 1971, 329, 330 (nicht falsch, aber inhaltsleer). Jedenfalls auf die Bedeutung umfassender Wahrheitsfindung als Voraussetzung materiell gerechter Entscheidungen hinweisend Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 11. 483 BVerfGE 6, 132 = NJW 1957, 579, 583. 484 Vgl. nur Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 11.
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Recht verpflichtetem Organ der Rechtspflege (§§ 1, 43 BRAO) sowie die Verpflichtung des Richters deutlich, „nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen“ (§ 38 Abs. 1 DRiG). Der Staat ist trotz der Verhandlungsmaxime des Zivilprozesses und der sich daraus ergebenden Verfahrensherrschaft der Parteien nicht von seiner Verantwortung entbunden, eine den rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechende und damit auch Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete Durchführung des Zivilverfahrens zu gewährleisten. Die tatsächliche Möglichkeit, den wahren Sachverhalt im Rahmen des Zivilprozesses aufzuklären, wird indes durch die notwendige Mitwirkung der Parteien auf der einen und das Gebot der Effektivität des Verfahrens auf der anderen Seite begrenzt. Weil der Zivilprozess – anders als das Strafverfahren – keine Amtsermittlungspflicht kennt, bestimmt sich das Maß der Aufklärung des in Streit stehenden Sachverhaltes nach dem Aufklärungswillen der Parteien, ihrem regelmäßig einseitigen Sachvortrag sowie ihrem subjektiven Erlebnishorizont. Darüber hinaus muss die Sachverhaltsaufklärung und der mit ihr verbundene Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zum Wert des Streitgegenstandes und der Verfahrensdauer stehen. Die begrenzten Möglichkeiten, der begrenzte Wille und die begrenzte Zeit, die für eine Aufklärung des Sachverhaltes zur Verfügung stehen, erfordern ab einem bestimmten Punkt eine Entscheidung auch unter den Bedingungen eines unklaren, nicht restlos aufgeklärten Sachverhaltes. Die Präklusionsvorschriften des Zivilprozesses bei verspätetem Vorbringen (§ 296 ZPO), die Beweisverbote und Beweishindernisse (z.B. § 383 ZPO) sowie die Möglichkeit von Versäumnisurteilen (§ 331 ZPO), bei denen der klägerische Vortrag als zugestanden gilt und zur Grundlage des Urteils gemacht wird, gewährleisten eine Sachentscheidung des Gerichts auch bei unklarem Sachverhalt. Der missverständliche Begriff von der „formellen Wahrheit“485 redet damit nicht einem die Realität verleugnenden, relativierenden Subjektivismus das Wort, sondern beschreibt vielmehr gerade diesen Verzicht auf eine vollständige und wahrheitsgemäße Sachverhaltsermittlung zugunsten einer schnellen und endgültigen Entscheidung des Gerichts. Der in seiner Wahrheit stets absolute, unumstößlich feststehende und der objektiven Feststellung im Wege der Beweiserhebung zugängliche Sachverhalt der „materiellen Wahrheit“ wird aus einem der genannten Gründe nicht vollständig aufgeklärt, sondern gleichsam als unfertiger Näherungswert einer endgültigen Entscheidung zugeführt.486 Aus der Natur des Zivilprozesses als Drittentscheidungsverfahren ergibt sich damit notwendig stets die Möglichkeit eines auf unvollständiger oder un-
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Kritisch hierzu Gaul, AcP 168 (1968), 27, 49 ff. Zur Komplexitätsreduktion durch Verrechtlichung im Rahmen des Zivilprozessses vgl. eingehend oben S. 12 ff. 486
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richtiger Tatsachengrundlage basierenden Urteils. Sie ergibt sich als notwendige Nebenfolge aus der Tatsache, dass der Zivilprozess auch dann zu einem Urteil als Verfahrensergebnis führen muss, wenn der Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt ist. Dem idealtypischen Wesen des Zivilverfahrens als einem auf ein gerechtes Urteil gerichteten rechtsstaatlichen Verfahren entspricht eine derartige Entscheidung freilich nicht.487 Im Normal- und Idealfall ist das Verfahren daher stets auf die möglichst weitgehende Aufklärung des wahren Sachverhalts gerichtet, und in dieser Weise ist auch die Wahrheitsfunktion des Zivilprozesses als Prozesszweck zu verstehen488: Die Parteien sind gem. § 138 Abs. 1 ZPO verpflichtet, den Sachverhalt, soweit dies ihnen möglich ist, wahrheitsgemäß aufzuklären und vorzutragen.489 Das Gericht hat im Rahmen seiner verfahrensleitenden Funktion auf die Aufklärung des tatsächlichen Sachverhaltes hinzuwirken, die freilich in der sich aus der Verhandlungsmaxime ergebenden Verfahrensherrschaft der Parteien ihre Grenze findet. Die normative Struktur des Zivilprozesses verlangt einen klaren Sachverhalt als Entscheidungsgrundlage, der als ein in der Vergangenheit liegendes Verhalten vor dem Hintergrund des Rechts bewertet wird: Entweder als tatsächliches Geschehen oder gleichsam als „Näherungswert“. Verlassen wir die Ebene der subjektiven Funktionsbestimmung und wenden wir uns der objektiven Verfahrensfunktion des Zivilprozesses zu, so ergibt sich der Befund, dass der Zivilprozess zwar in seinem Grundsatz auf die Aufklärung des tatsächlichen Sachverhaltes gerichtet ist, diese Aufklärung indes in tatsächlicher Hinsicht verfehlen kann und in der Praxis auch häufig verfehlt. Im Mediationsverfahren begegnet uns die Wahrheitsfunktion dagegen in anderer Gestalt. Auch hier ergibt sich aus der Tatsache, dass ein gerechtes Einigungsergebnis nur auf der Grundlage tatsächlicher, der Wahrheit entsprechender Anknüpfungspunkte an die Konfliktrealität denkbar ist, die Notwendigkeit der Wahrheitserforschung. Allerdings ist sie in der Mediation weniger auf die Aufklärung des tatsächlich Geschehenen als vielmehr auf die Erforschung der Interessen, der Motivation und der Erwartungen und Visionen der Parteien für
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Ebenso Greger, JZ 1997, 1077, 1082; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn.
11. 488 Für die Annahme der Wahrheitsermittlungsfunktionm des Zivilverfahrens als Prozesszweck Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950), S. 106; Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozess (1966), S. 16 ff. Eingehend hierzu Gaul, AcP 168 (1968), 27, 34. 489 Eingehend hierzu MünchKomm/Wagner, ZPO (4. Aufl. 2013), § 138 Rn. 2 ff.; Saenger/Woestmann, ZPO (7. Aufl. 2017), § 138 Rn. 2 f.; Musielak/Voit/Stadler, ZPO (13. Aufl. 2016), § 138 Rn. 2 ff.
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die Zukunft gerichtet.490 Objekt der Wahrheitsermittlung im Mediationsverfahren ist damit im Gegensatz zum Zivilprozess weniger die objektive als die subjektive Wirklichkeit. Nicht das „forum externum“, das in der Vergangenheit liegende äußere Verhalten, sondern die innere Motivation, die Interessen, Hoffnungen, Bedürfnisse und Erwartungen der Beteiligten und damit gleichsam das „forum internum“ stehen im Mittelpunkt des Verfahrens. Und in der Tat ist gerade das Mediationsverfahren auf eine offene und ehrliche Kommunikation, auf gegenseitiges Vertrauen und das Offenlegen der gegenseitigen Interessen, Erwartungen, Ängste und Hoffnungen angewiesen. Die Fokussierung auf den subjektiven Bereich entspricht dabei der Zukunftsorientierung des Verfahrens, das sich ganz bewusst einer Bewertung des Geschehenen enthält, um eine auf die Zukunft gerichtete Entscheidung nicht unnötig zu blockieren. Der Verzicht auf eine wertende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die für die Lösung des konkreten Konfliktes nicht von Bedeutung ist, wirkt dabei deeskalierend und schont die Beziehung der Parteien zueinander, die an der oft schmerzhaften Vergangenheit nicht mehr rühren wollen. Indem sie auf die retrospektive Bewertung des vergangenen Sachverhaltes verzichten, wird es ihnen möglich, „die Toten ihre Toten begraben“491 und damit den Konflikt hinter sich zu lassen. Zur objektiven Sachverhaltsrekonstruktion ist das Mediationsverfahren aufgrund seiner diskursiven Struktur darüber hinaus auch kaum geeignet. Denn über die objektive Wahrheit eines konkreten Geschehens lässt sich nicht diskutieren, sie lässt sich nur feststellen. Aus diesem Grund sind auch Wert- und Normkonflikte anders als Interessenkonflikte nicht verhandelbar. Wenn im Zusammenhang mit dem Mediationsverfahren davon die Rede ist, dass in ihm die „unterschiedlichen“ oder „persönlichen“ Wahrheiten der Parteien zur Sprache kommen, so ist damit lediglich gemeint, dass den Parteien mit der Mediation ein Forum für den Austausch ihrer jeweils subjektiven Bewertungen der Realität zur Verfügung steht. Weil die Mediation auf die Lösung eines konkreten Konfliktes gerichtet ist, steht darüber hinaus weniger die Bewertung eines vergangenen Sachverhaltes als die Gestaltung der Zukunft auf der Grundlage der gegenseitigen Interessen und Erwartungen im Vordergrund.
490 Zur Zukunftsorientierung von interessenorientierten Verhandelns Bühring-Uhle/ Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 24, 32; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 304. Zu den Problemen der Retrospektivität des Zivilprozesses vgl. dagegen oben S. 19 f. 491 So Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191 im Anschluss an Mt. 8, 22 und Lk. 9, 60.
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(e) Gerechtigkeit Neben der Wahrheitsfunktion besteht die wesentliche Aufgabe des Zivilprozesses in der Herstellung von Recht und Gerechtigkeit. Ist das Recht, wie wir gesehen haben, darauf gerichtet, „die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen ... echte Gerechtigkeitspostulate verwirklichen [zu] wollen“492, so ist die Durchsetzung der Gerechtigkeit nicht nur eine zentrale, sondern die dem Wesen und Kern des Zivilprozesses in vollkommener Weise entsprechende Verfahrensfunktion.493 Materielle Gerechtigkeit im Zivilprozess ist stets normative Gerechtigkeit. Sie wird gewährleistet zum einen durch die Verwirklichung des objektiven Rechts, d.h. die möglichst getreue Umsetzung der den abstrakt-generellen Normen zugrunde liegenden Wertprinzipien und Wertentscheidungen als Rechtsideen.494 Zum anderen durch die Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten des Einzelfalles bei der Anwendung des Rechts auf einen konkreten Sachverhalt. Die unbillige Härte des positiven Gesetzesrechts wird durch die Weite rechtlicher Billigkeit gemildert. Formales Recht und informale Billigkeit, Recht und Gerechtigkeit werden dabei im Rahmen der Rechtsanwendung im Zivilprozess wirksam. Trotz der vielfältigen Einfallstore materieller Billigkeitserwägungen im Zivilprozess ist der Einfluss informaler Billigkeit im zivilgerichtlichen Verfahren begrenzt. Er bleibt in seinem Wesen ein Verfahren formaler Gerechtigkeit. In prozeduraler Hinsicht garantiert er Verfahrensgerechtigkeit durch die Gewährleistung einer für beide Parteien gleichen, rechtlich abgesicherten, formalen Verfahrensposition und damit Waffengleichheit. In der Mediation als strukturell komplementärem Gegenstück zum Zivilprozess sind diese Verhältnisse spiegelbildlich umgekehrt: An die Stelle normativer Gerechtigkeit ist der Grundsatz der Interessengerechtigkeit getreten.495 Als Verfahren informaler Billigkeit greift die Mediation auf das positive Recht nur
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BVerfGE 6, 132 = NJW 1957, 579, 583. Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950), S. 16; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 8 („Des Weiteren bedeuten Rechtsdurchsetzung und Schutz subjektiver Rechte die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit im Einzelfall als besondere Rechtsprechungsfunktion.“). Skeptisch Jauernig, JuS 1971, 329, 330 (nicht falsch, aber inhaltsleer). 494 Vgl. hierzu eingehend oben S. 85 ff. 495 Vgl. zur Bedeutung der Interessenverwirklichung für ein gerechtes Ergebnis eingehend oben S. 222 ff. sowie zur Bedeutung der Interessen in Verhandlung und Mediation vgl. oben S. 170 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Bühring-Uhle/ Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff. 493
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mittelbar – etwa im Rahmen der Nichteinigungsalternativen496 oder als Orientierungsmaßstab497 für die Entwicklung von Einigungsoptionen – zurück. Verfahrensgerechtigkeit wird in der Mediation durch die privatautonome Mitwirkung an der Einigungsentscheidung gewährleistet. Weil die Mediation durch die Möglichkeit eines multilateralen Rollentauschs die Parteien zu einem reifen Gebrauch der regula aurea befähigt, in dessen Rahmen sie ihnen das zukommen lässt, dessen sie aufgrund ihrer Natur zur Entfaltung ihrer Person bedürfen, ist sie als gerechtes Verfahren auf die Verwirklichung des Grundsatzes des suum cuique tribuere und damit in besonderer Weise auf die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit gerichtet. Beide Verfahren dienen somit der Verwirklichung der Gerechtigkeit, verfolgen dieses Ziel jedoch auf unterschiedliche, jeweils eigene Art und Weise: Im Zivilprozess als Verfahren formaler, normativer Gerechtigkeit durch Verwirklichung des positiven Rechts, in der Mediation als Verfahren informaler, interessenorientierter Billigkeit durch die Verwirklichung der Interessen der Parteien. Die Dichotomie zwischen Formalität und Informalität setzt sich auf der prozeduralen Ebene fort: Während Verfahrensgerechtigkeit im Zivilprozess durch die Gewährung formaler Verfahrenspositionen gewährleistet wird, erfolgt sie im Rahmen des Mediationsverfahrens durch die gleiche Möglichkeit der privatautonomen Mitwirkung an der Entwicklung der gemeinsamen Einigungsentscheidung.498 (3) Rechtsordnung Über den unmittelbaren Bereich des aktuellen Konfliktes zwischen den Parteien hinaus wirkt der Zivilprozess indes auch auf die Rechtsordnung als Ganzes ein und erfüllt im Gefüge des Rechtssystems ganz spezifische, tragende Funktionen. Diese Fernwirkung betrifft indes weniger das einzelne Verfahren, sondern das System des Zivilprozesses insgesamt, und tritt damit in der Regel nur im Zusammenwirken mehrerer Verfahren, gleichsam „in der Masse“ ein. Eine unmittelbare Fernwirkung kommt dem einzelnen zivilprozessualen Verfahren nur im Ausnahmefall bei Verfahren von größerer Bedeutung zu, etwa wenn eine umstrittene oder sonst unklare Rechtslage durch eine höchstrichterliche Entscheidung endgültig geklärt wird.
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Vgl. hierzu oben S. 301 ff. Vgl. hierzu oben S. 293 ff. 498 Zu dem hierfür zentralen „Mechanismus“ des Reziprozitätsprinzips der regula aurea sowie dem hierfür erforderlichen Perspektivwechsel des multilateralen Rollentauschs eingehend oben S. 235 ff., 252 ff. 497
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(a) Bewährung der objektiven Rechtsordnung Die zentrale Funktion, die dem Zivilprozess über den unmittelbaren Bereich des Konfliktes hinaus zukommt, besteht in der Bewährung der objektiven Rechtsordnung durch den Schutz subjektiver Rechte.499 Die im Rahmen der klassischen Prozesszwecklehre heftig umstrittene Frage des Verhältnisses zwischen den beiden Prozesszwecken des subjektiven Individualrechtsschutzes und der objektiven Rechtsbewährung ist für den Zweck unserer Untersuchung nachrangig. Nur so viel sei an dieser Stelle gesagt, dass keine Zweifel darüber bestehen können, dass aufgrund der zentralen Bedeutung, welche die Verfassung dem unverzichtbaren Individualrechtsschutz beimisst, überindividuelle Gesichtspunkte der objektiven Rechtsbewährung hinter den Schutz der subjektiven, individuellen Rechte der Parteien regelmäßig zurückzutreten haben. Eine Prozessauffassung, die wie die Prozessideologien der nationalsozialistischen oder sozialistischen Unrechtsregime die Einschränkung des Individualrechtsschutzes mit Hinweis auf staatliche oder soziale Prozesszwecke zu rechtfertigen sucht und ihn gleichsam lediglich als Reflex der vom staatlichen Gesetzgeber bestimmten Rechtsordnung ansieht, ist mit dem Verfassungsverständnis des Grundgesetzes kaum vereinbar. Tatsächlich stehen Individualrechtsschutz und Rechtsbewährung als Kehrseite derselben Medaille im Verhältnis des „sowohl als auch“. Bewährung des objektiven Rechts meint die Verwirklichung der dem positiven Gesetzesrecht zugrunde liegenden Wertprinzipien als Rechtsideen. Fiss versteht den Zivilprozess daher als das maßgebende Instrument gesellschaftlicher Transformation und sieht die Aufgabe der Rechtsprechung vor allem darin, die defizitäre Lebenswirklichkeit mit dem Staats- und Gesellschaftsideal der Verfassung in Einklang zu bringen und damit die der Verfassung zugrunde liegende Vision von Staat und Gesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen: „Civil litigation is an institutional arrangement for using state power to bring a recalcitrant reality closer to our chosen ideals.”500 (aa) Rechtsbewährung durch Mediation? Diese Transformations- und Vermittlungsfunktion zwischen Recht und Wirklichkeit vermag die Mediation auf den ersten Blick nicht ohne weiteres zu erfüllen. Als interessen- und gerade nicht rechtsorientiertes Verfahren gewährt 499 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 2 f.; Hess/ Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2. A.A. MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 8 („primär die Feststellung, Durchsetzung und Gestaltung subjektiver Rechte, “); Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 3 („Es geht im Zivilprozess daher nur sekundär um die Bewährung der Rechtsordnung“). Eingehend hierzu Gaul, AcP 168 (1968), 27, 37 ff., 59 f. 500 Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1089 (1984).
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sie den Parteien die Möglichkeit, im Rahmen der ihnen zustehenden Privatautonomie auch eine vom materiellen Recht abweichende Regelung zu treffen. Zwar vollzieht sich die Einigungsentscheidung der Parteien im Schatten des Rechts501, das auf vielfältige Weise in das Mediationsverfahren hineinstrahlt.502 Materielles Recht wird, wie wir gesehen haben, indes nur mittelbar als Faktor im Rahmen der Entscheidungsfindung der Parteien wirksam. Und weil Interessenschutz grundsätzlich weiter reicht als Rechtsschutz503 und die tatsächlichen Interessen der Parteien aufgrund der systemimmanenten Schwächen abstraktgenereller Regelungen504 häufig „in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind“505, wird die Einigungsentscheidung der Parteien zwar regelmäßig den Wertungen, indes nicht notwendig den konkreten Rechtsfolgen des positiven Rechts entsprechen.506 Freilich kann auch die Mediation zu einem tieferen Verständnis und zu einer Annahme der dem materiellen Recht zugrunde liegenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers beitragen, indem sich die Parteien mit den Nichteinigungsalternativen und im Rahmen der Entwicklung von Einigungsoptionen darüber hinaus auch mit der Motivation des Gesetzgebers, dem Zweck der einschlägigen Rechtsnormen und den sich daraus ergebenden möglichen Rechtsfolgen auseinandersetzen. Diese Verfahrenswirkung wird indes regelmäßig auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben und stellt auch in der Praxis sicherlich nicht die Regel dar. Darüber hinaus behindert die Vertraulichkeit des Verfahrens eine über den konkreten Konflikt hinausgehende effektive Fernwirkung der Mediation auf die objektive Rechtsordnung als Ganzes, wie sie etwa durch den Zivilprozess gewährleistet wird. Festzuhalten ist damit als Befund, dass die Mediation zur Bewährung des objektiven Rechts nur einen vergleichsweise geringen Beitrag zu leisten vermag. Objektives Recht wird allenfalls mittelbar im Rahmen der Einigungsentscheidung der Parteien und durch die Verwirklichung der dem positiven Gesetzesrecht zugrunde liegenden Wertungen wirksam.
501
So Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). Vgl. zur Bedeutung des Rechts in der Mediation eingehend oben S. 149 ff. (allgemein), 280 ff. (materielles Recht), 432 ff. (Verfahrensrecht). 502 Zu den unterschiedlichen Funktionen des materiellen Rechts in der Mediation vgl. oben S. 284 ff., zu seinen Wirkbereichen vgl. oben S. 301 ff. 503 Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421, 430. 504 Vgl. nur oben S. 13 f. 505 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 506 Zu dem Grundsatz, dass sich die Parteien im Mediationsverfahren idealiter an den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Werten orientieren vgl. oben S. 175 ff., 230 ff., 249 f., 283 ff., 293 ff.
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
(bb) Mediation und die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilprozesses Für das Verhältnis zwischen Mediation und Zivilprozess entscheidender ist dagegen die Frage, ob das Mediationsverfahren über seine eingeschränkte Fähigkeit, zur Bewährung des objektiven Rechts beizutragen, hinaus die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilprozesses möglicherweise sogar erschwert. Angesprochen ist damit die Frage des Verhältnisses von Verhandlungs- und Normsystem, dem wir an anderer Stelle bereits eingehend nachgegangen sind507: Stehen beide Steuerungssysteme gleichberechtigt nebeneinander oder wirken sie in den Bereich des jeweils anderen hinein, so dass etwa die Konfliktbeilegungsfunktion im Verhandlungssystem der Mediation die Rechtsbewährungsfunktion im Normensystem des Zivilprozesses funktional beeinträchtigt? Denn werden Konflikte zunehmend nicht nach rechtlichen Maßstäben, sondern im Gegenteil gerade unter Umgehung der von der Rechtsordnung vorgesehenen Lösungen allein aufgrund der subjektiven Wertvorstellungen der Parteien beigelegt, wird also das objektive Recht durch die subjektiven Vorstellungen der Parteien ersetzt, so könnte diese Konkurrenz von Norm- und Verhandlungssystem zu einem Verlust der Autorität des Rechts als verbindlicher Werteordnung, zu einer Relativierung rechtlicher Normen als verbindlichem Rahmen des gesellschaftlichen Lebens und damit zu einem tiefgreifenden Werteverlust führen.508 Wenn die Umgehung des objektiven Rechts durch privatautonome Regelungen wiederholt sanktionslos toleriert würde, so könnte dies zu einem Verlust an Verbindlichkeit des objektiven Rechts im Bewusstsein der Rechtsunterworfenen führen, dessen Befolgung im Einzelfall nicht mehr als zwingend angesehen wird. Der Rückzug des Staates aus zentralen Bereichen gesellschaftlicher Steuerung509, die zunehmend der autonomen Selbstregulierung durch die unmittelbar Beteiligten überlassen werden, würde die Bedeutung des mit autoritativem Befehlscharakter ausgestatteten positiven Rechts als Instrument staatlicher Regulierung nachhaltig beschädigen. Diesen Prozess zunehmender Entstaatlichung und Entrechtlichung, der mit den Schlagworten von der „Krise der Rechtsnorm“510, „des normativen Denkens“511 und schließlich sogar der „Krise des Rechts“512, die sich bis hin zu einem „Verfall“513 und einer
507
Vgl. hierzu oben S. 156 ff. Zu dieser Problematik eingehend oben S. 50 ff., 83 f., 149 ff., 153 ff., 156 ff. 612 ff. 509 Hierzu eingehend oben S. 38 ff. 510 Stürner, JR 1979, 133, 134; Peters, Gütegedanke (2004), S. 53 ff.; Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161 ff. 511 Stürner, JR 1979, 133, 134. 512 Eder, ZfRSoz 1987, 193 ff. (regulatorische Krise des Rechts); Hoffmann-Riem, Orientierung (Evangelische Akademie Hamburg), Heft 2/1997, 31 ff. 513 Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161, 1161. 508
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„Rechts“514 verdichtet, holzschnittartig umrissen worden ist, haben wir im Rahmen unserer rechtssoziologischen Untersuchung näher in den Blick genommen. Wie wir gesehen haben, vollzieht sich die Institutionalisierung und Verbreitung des Mediationsverfahrens in der Tat vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Wandels des Rechts, des staatlichen Handelns und der Konfliktkultur, der von einem zunehmend formal-materiellen Rechtsverständnis (Materialisierung), informal-kooperativen Handlungsformen des Staates (kooperativer Staat) sowie einer Hinwendung zur konsensualen Form der Streitbeilegung geprägt ist (ADR-Bewegung)515. (cc) Rechtsbewährung vor dem Hintergrund der Fiss’schen ADR-Kritik Wie wir gesehen haben, sind es ebendiese Risiken, die im Mittelpunkt der ADR-Kritik Fissʼ stehen.516 Fiss versteht die Aufgabe des Zivilprozesses als Teil staatlichen Handelns nicht lediglich funktional im Sinne des Erbringens einer Dienstleistung gegenüber privaten Akteuren (Service Delivery Project). Die Funktion des Zivilprozesses lässt sich nach Fiss keineswegs auf die Beilegung von Konflikten zwischen Privaten als notwendige Folge des staatlichen Gewaltmonopols und des Verbots der Selbsthilfe reduzieren. Vielmehr versteht er das gerichtliche Zivilverfahren als konstitutiv notwendigen Bestandteil des Gesellschafts-, Staats- und Rechtssystems und weist ihm eine zentrale Vermittlungsfunktion zwischen Recht und Wirklichkeit zu.517 Die Schwäche der alternativen Streitbeilegung sieht er gerade darin, dass sie die rechtsbewährende Funktion des rechtsprechenden Handelns des Staates ignoriert und damit ein neoliberales Modell des minimalen Staates voraussetzt, das in Opposition zum Wohlfahrtsstaat die Verfassung nicht als Träger überpositiver Werte der Gesellschaft und des Allgemeininteresses, sondern lediglich als Instrument der Organisation staatlicher Gewalt betrachtet, das Regelungen zur Verteilung politischer Macht und zu ihrer Ausübung bereithält.518
514
Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161, 1161 ff. Stempel, 24 Fla. St. U. L. Rev. 949, 949, 984 (1997) spricht sogar von einer ADRRevolution. 516 Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984). Vgl. eingehend hierzu oben S. 555 ff. 517 Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1, 44 (1979) („The function of adjudication is to give meaning to public values, not merely to resolve disputes”); Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1085 (1984) („Their job is not to maximize the ends of private parties, nor simply to secure the peace, but to explicate and give force to the values embodied in authoritative texts such as the Constitution and statutes: To interpret those values and to bring reality into accord with them.“). Hervorhebungen durch den Verfasser. 518 Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121, 127 (1982): „The concept of government enshrined by social contract theory and preeminent through much of the 19th century – the so-called night-watchman state – is the analog to the minimalist conception of judicial power implied by the dispute resolution model.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 515
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Ein solches individualistisches Welt- und Menschenbild würde zu einer fortschreitenden Privatisierung der Zwecke („privatization of all ends“)519 führen, in der die Partikularinteressen des Einzelnen dominieren und die Bedeutung des Allgemeinwohls und öffentlicher Werte für das Leben in der Gesellschaft marginalisiert wird, in welcher der Markt das Recht als primäre Form der Konfliktbehandlung verdrängt und in der Private an die Stelle des Staates als primärem Vermittler des Allgemeinwohls treten: „Today we feel increasing doubts about the existence of public values, all is individual interests or at best individual morality, and the dispute resolution model of adjudication, like the night-watchman state, accommodates those doubts. Both afford an easy haven for all those who would deny or minimize the role of public values in our social life and the need for governmental power to realize those values. The problem is that if we retreat, if we accept the privatization of all ends or deny the government the power to realize the values that may fairly be deemed public, we will impoverish our social existence and undermine important institutional arrangements, indeed, the very developments that are the subject of this symposium. The judiciary would be without the means of protecting against the threats posed by the bureaucracies of the modern state and the Constitution would be debased. The Constitution would be seen, not as the embodiment of a public morality, but simply as an instrument of political organization ̶ distributing power and prescribing the procedures by which that power is to be exercised. Such a development should be thoroughly and emphatically resisted; it must be resisted and can be, but to do so we must first rediscover the meaning and value of our public life.”520
In einem derartigen individualistischen Gesellschaftsmodell verbleibt für eine rechtsbewährende Funktion der rechtsprechenden staatlichen Gewalt kaum Raum. Die Aufgabe der Zivilgerichte wird gerade deshalb auf die Funktion der Konfliktbeilegung reduziert, weil sie gerade nicht als Vermittler des Gemeinwohls und jener der Verfassungsordnung zugrunde liegenden Werte, sondern lediglich als neutrale Konfliktmittler betrachtet werden, die allein aufgrund ihrer Neutralität geeignet sind, die Dienstleistung der Konfliktbeilegung zu erbringen und Streitigkeiten zwischen Privaten zu beenden: „The advocates of ADR are led to support such measures and to exalt the idea of settlement more generally because they view adjudication as a process to resolve disputes. They act as though courts arose to resolve quarrels between neighbors who had reached an impasse and turned to a stranger for help. Courts are seen as an institutionalization of the stranger and adjudication is viewed as the process by which the stranger exercises power. The very fact that the neighbors have turned to someone else to resolve their dispute signifies a breakdown in their social relations; the advocates of ADR acknowledge this, but nonetheless hope that
519 520
Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121, 128 (1982). Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121, 128 (1982), Hervorhebungen durch den Verfasser.
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the neighbors will be able to reach agreement before the stranger renders judgment. Settlement is that agreement.”521
Ein derartiges minimalistisches und zweckorientiertes Verständnis der Rechtsprechung im Staats- und Rechtssystem verkennt nach Fiss die zentrale Bedeutung des Zivilprozesses als Instrument zur Verwirklichung gesellschaftlicher Werte und des Allgemeinwohls sowie seine Funktion als Garant der Gewährleistung individuellen Rechtsschutzes: „The dispute-resolution story makes settlement appear as a perfect substitute for judgment … by trivializing the remedial dimensions of a lawsuit, and also by reducing the social function of the lawsuit to one of resolving private disputes: In that story, settlement appears to achieve exactly the same purpose as judgment ̶ peace between the parties ̶ but at considerably less expense to society. The two quarreling neighbors turn to a court in order to resolve their dispute, and society makes courts available because it wants to aid in the achievement of their private ends or to secure the peace.”522
Die Aufgabe der Rechtsprechung lässt sich nach Fiss indes nicht auf die Befriedung des Konfliktes reduzieren, sondern geht über das Ob der Streitbeilegung und damit über die lediglich quantitative Dimension deutlich hinaus. Im Rahmen der rechtsprechenden Tätigkeit des Staates ist nach Fiss weniger entscheidend, dass ein Konflikt befriedet wird, sondern es kommt vielmehr auf die Art und Weise und somit auf das Wie, die qualitative Dimension der Konfliktbeilegung an. Der Zweck des Zivilprozesses ist daher nicht die Befriedung, sondern Gerechtigkeit. Gerechtigkeit indes ist ein objektiv bestimmbarer gesellschaftlicher Wert, der sich nicht auf die Maximierung der Partikularinteressen oder der Präferenzen Privater reduzieren lässt: „ … The purpose of adjudication is not the resolution of a dispute, not to produce peace, but rather justice. … Justice is a public good, objectively conceived, and is not reducible to the maximization of the satisfaction of the preferences of the contestants ... . “523 „ … adjudication should be understood in broader terms. Adjudication uses public resources, and employs not strangers chosen by the parties but public officials chosen by a process in which the public participates. … Their job is not to maximize the ends of private parties, nor simply to secure the peace, but to explicate and give force to the values embodied in authoritative texts such as the Constitution and statutes: To interpret those values and to bring reality into accord with them. This duty is not discharged when the parties settle.”524
(dd) Grenzen der Fiss’schen ADR-Kritik Die Kritik Fissʼ hat den Blick von der Binnensicht des Mediationsverfahrens auf seine Fernwirkungen und damit zugleich auf den Zivilprozess und seine Funktion im Gefüge des Rechtssystems hin geweitet. Ihr Verdienst liegt vor 521
Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1075 (1984), Hervorhebungen durch den Verfasser. Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1084 (1984), Hervorhebungen durch den Verfasser. 523 Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273, 1277 (2009), Hervorhebungen durch den Verfasser. 524 Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1085 (1984), Hervorhebungen durch den Verfasser. 522
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allem darin, die Auswirkungen der Mediation auf die objektive Rechtsordnung und auf den Zivilprozess als prozedurales Instrument ihrer Durchsetzung in den Mittelpunkt gerückt und für mögliche Risiken sensibilisiert zu haben. Dank der durch Fiss angestoßenen Kritik sind die Gefahren einer individualistischen, ausschließlich auf die Maximierung privater Partikularinteressen ausgerichteten Gesellschaftsordnung und dem ihr zugrunde liegenden neoliberalen Modell eines minimalen Staates als Gegenpol zum Wohlfahrts- und Sozialstaat mit größerer Klarheit deutlich geworden.525 Den Schlussfolgerungen von Fiss und der Qualifizierung der alternativen Streitbeilegung als Ausdruck einer neoliberalen Marktideologie kann in ihrer Einseitigkeit und apodiktischen Schärfe indes nicht gefolgt werden. 1. Intuitives Verhandlungsverhalten vs. Harvard-Modell. Wir haben bereits gesehen, dass Fiss in seiner Kritik von einem verzerrten Verständnis alternativer Streitbeilegung ausgeht.526 Seine Vorstellung des gütlichen Vergleichs beruht – wie es aufgrund der noch jungen Entwicklung der ADR-Bewegung auch kaum anders zu erwarten war – auf dem Modell intuitiven Verhandlungsverhaltens im Sinne eines auf Feilschen beruhenden Basar-Rituals und einem darauf gegründeten Formelkompromiss.527 „Settlement is for me the civil analogue of plea bargaining: Consent is often coerced; the bargain may be struck by someone without authority; the absence of a trial and judgment renders subsequent judicial involvement troublesome; and although dockets are trimmed, justice may not be done. Like plea bargaining, settlement is a capitulation to the conditions of mass society and should be neither encouraged nor praised.”528
Intuitives Konfliktverhalten hat indes mit den Grundsätzen beiderseits interessenorientierter, wertschöpfender Verhandlung nach dem Harvard-Modell, das der alternativen Streitbeilegung als Ganzes zugrunde liegt und die Schwächen intuitiver Verhandlung gerade überwinden will, nichts gemein. Das moderne Mediationsverfahren, so wie es im Rahmen der ADR-Bewegung in der Rechtswirklichkeit in Erscheinung tritt, ist gerade darauf ausgerichtet, nicht nur die systemimmanenten Schwächen abstrakt-genereller Streitentscheidung, sondern auch die Defizite intuitiven Verhandlungsverhaltens auszugleichen. In ihm geht es gerade nicht um das Aushandeln eines auf gegenseitigem Nachge-
525
Kritisch insoweit Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121, 127 (1982). Vgl. hierzu oben S. 640 Fn. 518. 526 Vgl. oben S. 554 ff. 527 Zur Ineffektivität des intuitiven Verhandelns, das durch das Harvard Modell interessenorientierten Verhandelns gerade überwunden werden soll vgl. Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 3 ff.; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 288 ff. sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. 528 Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1075 (1984), Hervorhebungen durch den Verfasser.
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ben beruhenden Formelkompromisses als Ergebnis eines durchaus antagonistischen Ringens der Verhandlungsparteien, aus dem letztlich die geschicktere und stärkere Partei als Sieger hervorgeht. Stattdessen setzt das Mediationsverfahren an der eigentlichen Ursache des eskalierten Konfliktes, der geschädigten Beziehung zwischen den Parteien, an und versucht sie durch versöhnende Ausrichtung der Parteien aufeinander hin wiederherzustellen. Auf dieser Grundlage werden die Parteien erst in die Lage versetzt, eine Einigungsentscheidung herbeizuführen, die ihren tatsächlichen Interessen entspricht, diese durch einen Prozess der kreativen Problemlösung wertschöpfend miteinander integriert und so den Konflikt ursächlich, nachhaltig und damit auch dauerhaft beilegt. 2. Keine Abkehr vom Normensystem. Darüber hinaus hat unsere Untersuchung des Verhältnisses des Mediationsverfahrens zum materiellen Recht gezeigt, dass die Beendigung eines Konfliktes im Wege der gütlichen Einigung keineswegs eine Abkehr vom Normensystem der objektiven Rechtsordnung als solchem bedeutet oder die Geltung des objektiven Rechts grundsätzlich infrage stellt. Die Beziehung von Mediation und materiellem Recht folgt vielmehr dem Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie und Gesetzesrecht und stellt sich vor diesem Hintergrund als Ausübung der dem Einzelnen zustehenden und nach Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz auch verfassungsrechtlich gewährleisteten Befugnis zur privatautonomen Gestaltung seiner Rechts- und Lebensverhältnisse und damit auch zur vertraglichen Beendigung eines bestehenden Konfliktes dar. Die gütliche Beendigung eines Konfliktes mit den Mitteln des Vertragsrechts ist daher in keinster Weise eine der Privatrechtsordnung widersprechende, sondern erweist sich im Gegenteil als eine von ihr gerade vorausgesetzte und ihr zugrunde liegende Handlungsform der Privatrechtssubjekte. Es würde dem Wesen der Privatrechtsordnung geradezu widersprechen und wäre eine groteske Verkehrung der Verhältnisse, wenn den Konfliktparteien die privatautonome Beilegung ihres Konfliktes durch Vertrag verwehrt würde und sie auf die Inanspruchnahme staatlichen Rechtsschutzes verwiesen wären. Wie das BVerfG in seiner Rechtsprechung klargestellt hat, gilt der Vorrang des privatautonomen Handelns des Einzelnen und die damit einhergehende Subsidiarität staatlichen Rechtsschutzes auch und gerade im Hinblick auf die Konfliktbeilegung: „Führt sie zu Lösungen, die in der Rechtsordnung so nicht vorgesehen sind, die von den Betroffenen aber – wie der Konsens zeigt – nun als gerecht empfunden werden, dann deutet auch dies auf eine befriedende Bewältigung des Konfliktes hin. Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.“529 In der grundgesetzlich gewährleisteten Privatrechtsordnung ist das privatauto-
529
BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren).
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nome Handeln des Einzelnen die Regel, nicht die Ausnahme. Handeln die Privatrechtssubjekte im Wege der vertraglichen Einigung, so ist darin keineswegs und nicht notwendigerweise eine Abkehr vom Normensystem der objektiven Rechtsordnung, sondern im Gegenteil die Ausübung der von ebendieser Rechtsordnung gewährten rechtlichen Handlungsbefugnis zu sehen, die sich, um überhaupt rechtliche Geltung beanspruchen zu können, ohnehin im Rahmen der geltenden Rechtsordnung bewegen und sich ihrer Formen bedienen muss.530 3. Mittelbarer Einfluss des materiellen Rechts und Orientierung an der regula aurea. Darüber hinaus haben wir bereits gesehen, dass sich das Mediationsverfahren auch in materieller Hinsicht im Schatten des materiellen Rechts vollzieht, das auf vielfältige Weise jedenfalls mittelbar in die Einigungsentscheidung der Parteien einfließt.531 So ist etwa die materielle Rechtslage für die Prognose der Prozessaussichten und damit die Bewertung der Nichteinigungsalternativen im Rahmen der Prozessrisikoanalyse von Bedeutung.532 Aber auch die dem positiven Gesetzesrecht zugrunde liegenden Wertungen spielen als Orientierungsmaßstab bei der Gestaltung der Einigungsoptionen („Schatzkammer“)533, als durch das ius cogens vermittelter materiell verbindlicher Rahmen („Leitplankenfunktion“)534, als Informationsquelle535 sowie als Rückgriffsordnung536 im Rahmen der Entwicklung der Einigungsoptionen durch die Parteien eine zentrale Rolle im Mediationsverfahren. Darüber hinaus ist im Schrifttum zu Recht darauf hingewiesen worden, dass Fissʼ These, die alternative Streitbeilegung führe zu einer Aushöhlung öffentlicher Werte und des Allgemeininteresses und untergrabe staatliches Handeln, auf einer einseitigen Sichtweise beruht und insbesondere vor dem Hintergrund der empirischen Forschung zu hinterfragen ist. Denn zum einen vollzieht sich die konsensuale Konfliktbeilegung, wie wir bereits gesehen haben, nicht außerhalb, sondern als eine ihrer zentralen privatautonomen Handlungsformen gerade im Rahmen der Privatrechtsordnung, wobei sie auf vielfältige Weise auf die Formen und Inhalte rechtlichen Handelns zurückgreift.
530 Privatautonomie bedarf daher notwendig der Rechtsordnung als Korrelat, Larenz/ Wolf, BGB AT (9. Aufl. 2004), S. 642; Lorenz, Schutz (1997), S. 15 f.; Canaris, AcP 184 (1984), 201, 217 ff.; Flume, BGB AT II (3. Aufl. 1979), S. 1 ff. 531 Hierzu eingehend oben S. 282 ff., 301 ff. 532 Zur Prozessrisiko- bzw. Szenarioanalyse eingehend Aaron, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 202; Bühring-Uhle/ Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 100 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 243 ff. 533 Vgl. hierzu oben S. 293 ff. 534 Vgl. hierzu oben S. 298. 535 Vgl. hierzu oben S. 295 f. 536 Vgl. hierzu oben S. 299 ff.
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„As an empirical matter, it is therefore not at all inevitable that ADR erodes public values. Moreover, the claim that extrajudicial dispute resolution necessarily undermines state power is conceptually one-sided. Anthropologists and sociologists have long reminded us that informal dispute resolution operates within, not outside, systems of state law, and hence is better described on a continuum of overlapping “legalities” rather than as simply an alternative to formal law and state regulation. For example, analysts have studied how informal dispute resolution institutions, even as they reject the formalism of judicial processes, extend state power through their symbols, forms, and techniques (e.g., the table, the neutral third party) and through their reliance on material mechanisms of control (e.g., state funding, case referrals). Other theorists, instead of characterizing formal and informal dispute resolution as opposites or even as complementary systems, have observed how both these institutions organize their power in intrinsically homologous ways.”537
Und schließlich gewährleistet die Mediation als „gerechtes Verfahren“538 durch die Möglichkeit eines multilateralen Rollentauschs539 und den damit einhergehenden Perspektivwechsel540 der Parteien die möglichst weitgehende Anwendung der regula aurea541 und damit eine weitgehende Annäherung an eine gerechte Entscheidung im Sinne des suum cuique tribuere542. Das Verhandlungsergebnis der Parteien ist daher jedenfalls im Grundsatz nicht arbiträr, sondern wird sich im Idealfall nicht lediglich an der Maximierung der Partikularinteressen der Parteien, sondern an der Verwirklichung der beiderseitigen Interessen und somit am Grundsatz objektiver Gerechtigkeit orientieren. Dass die Parteien nicht nur die Maximierung ihrer materiellen Partikularinteressen im Blick haben, sondern auch und gerade von Gerechtigkeitserwägungen geleitet werden, hat insbesondere die empirische Forschung auf dem Gebiet des behavioral law and economics eindrucksvoll gezeigt.543
537
Cohen, 78 Fordham L. Rev. 1143, 1146 (2009); Hervorhebungen durch den Verfasser. Hierzu oben S. 179 ff. 539 Zu dem für das Harvard Modell zentralen multilateralen Rollentausch der regula aurea vgl. eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149, 204. 540 Zum Perspektivwechsel vgl. Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. Eingehend hierzu auch oben S. 248 ff. 541 Hierzu eingehend oben S. 235 ff., 252 ff. 542 Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff. 543 Vgl. hierzu oben S. 474 ff. mwN sowie Kahneman/Tversky, 185 Science 1124 (1974); Kahneman/Tversky, Choices, values, and frames (2000); Sinn, Economic decisions under uncertainty (1989), S. 11; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218 ff.; Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse (5. Aufl. 2012), S. 103 ff. 538
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(ee) Mediation und Zivilprozess im Rechtssystem Diese Überlegungen lenken unseren Blick auf das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess im Rechts- und Staatssystem und ihre gegenseitige Wechselwirkung zueinander. 1. Rechtsbewährungsfunktion des Zivilprozesses ist nicht tangiert. Im Zentrum der Kritik Fissʼ steht die Sorge, dass die rechtsbewährende Funktion des Zivilprozesses durch die Verlagerung auf außergerichtliche und außerrechtliche Streitbeilegungsformen marginalisiert und die Bedeutung öffentlicher Werte und Allgemeininteressen zugunsten der materiellen Partikularinteressen Privater zurückgedrängt wird.544 Aus der Perspektive des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess zueinander stellt sich die Situation indes deutlich differenzierter dar: Die Einigungsentscheidung der Parteien nimmt ohnehin lediglich einen Ausschnitt des materiellen Rechts in den Blick und betrifft damit überhaupt nur einen Teil der Privatrechtsordnung. Die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilprozesses wird durch das privatautonome Handeln der Parteien, das von der Rechtsordnung als gewöhnliche Form der Interaktion der Privatrechtssubjekte gerade vorausgesetzt wird, in keiner Weise tangiert. Zum einen gehört die private Güterzuordnung nicht zu den tragenden Grundsätzen der Privatrechtsordnung, sondern zum weiten Freiheitsbereich des eigenverantwortlichen Handelns der Privatrechtssubjekte. Auf welche Weise im Privateigentum stehende Güter verteilt und bestehende Konflikte beigelegt werden, ist zunächst ausschließlich Sache der Parteien. Ist ein tatsächlich privatautonomes und damit freies Handeln der Parteien gewährleistet, so hat sich der Staat einer verbindlichen Entscheidung über die Zuordnung der einzelnen Güter zu enthalten und sich auf die Korrektur einer grob unbilligen und den objektiven Grundsätzen der Rechtsordnung grob widersprechenden Zuweisung zu beschränken. Zwar wird sich das korrigierende Eingreifen aus Gründen der Rechtssicherheit im Grundsatz jedenfalls auf Ausnahmefälle beschränken müssen. Weil jedoch „die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs taugt“545 und ein starkes Übergewicht eines der beiden Verhandlungspartner für die andere Partei Fremdbestimmung bewirkt, so ist anerkannt, dass „der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört.“546 Im Ergebnis bleibt es indes bei dem festgestellten Befund, dass die Beilegung von Konflikten durch privatautonome Einigung der Parteien zu den von der Privatrechtsordnung ausdrücklich als Normalfall vorgesehenen Handlungs-
544 Vgl. Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1, 44 (1979); Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1085 (1984); Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121, 123 f. (1982) sowie oben S. 555 ff. 545 BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38 (Bürgschaft). 546 BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38 f. (Bürgschaft).
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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formen ihrer Subjekte gehört und dass die Regelung der Güterzuordnung einschließlich der Beilegung von Konflikten dem weiten Freiheitsbereich der eigenverantwortlichen Gestaltung der Rechts- und Lebensverhältnisse durch die Parteien zuzurechnen ist, in den die Rechtsordnung nur im Ausnahmefall und regelmäßig auch nur eingreift, um die Voraussetzung ebenjenes privatautonomen Handelns der Parteien zu schützen oder wiederherzustellen. Gestalten die Parteien ihre Rechts- und Lebensverhältnisse, wie es die Privatrechtsordnung im Normalfall vorsieht, durch eigenverantwortliches vertragliches Handeln und gerade nicht durch Delegation an die verbindlich entscheidenden Gerichte, so wird die Leitbildfunktion der Rechtsprechung dadurch in keinster Weise beeinträchtigt. Im Gegenteil wird sich die Einigungsentscheidung der Parteien regelmäßig an den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Wertentscheidungen orientieren, da sie zum einen als Ausdruck objektiver Gerechtigkeit von einer ihnen eigenen, qualitativen Evidenz sind und weil sich die konsensuale Einigung der Parteien zum anderen stets im Schatten des materiellen Rechts vollzieht, das als subsidiäre Rückgriffsordnung jederzeit zur Verfügung steht und über die Bewertung der Nichteinigungsalternativen in das Verhandlungsergebnis einfließt.547 2. Kein Funktionsverlust der Rechtsprechung durch Entzug von Rechtsfällen. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, dass der Rechtsprechung durch die gütliche Einigung der Parteien im Wege der Mediation in einem Maße Fälle entzogen werden, dass diese letztlich nichts mehr zu entscheiden hätte. Daran vermag auch das Phänomen des deutlich abnehmenden Geschäftsanfalls an den Zivilgerichten, das in den USA unter dem Schlagwort des Vanishing Trial bekannt ist548, nichts zu ändern. Denn zum einen ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Hinwendung zur alternativen Streitbeilegung und dem Vanishing Trial zwar als Ausdruck eines Wandels der Konfliktkultur wahrscheinlich, aber gleichwohl nicht nachgewiesen. Zum anderen hat jedoch auch die aus rechtspolitischer Sicht zu begrüßende Abnahme der Klagefreudigkeit in keinster Weise dazu geführt, dass die Gerichte ihre Aufgabe, das objektive Recht höchstrichterlich und letztverbindlich festzustellen, fortzuentwickeln und im Wege seiner Durchsetzung zu bewähren, nicht erfüllen könnten. Die Gerichte sind durch die Zunahme gütlicher Einigungen keinesfalls funktionslos und damit obsolet geworden. Zwar lässt sich in jüngerer Zeit in der Tat eine Entwicklung dahingehend beobachten, dass zu speziellen gesellschaftsrechtlichen Fragen kaum aktuelle Rechtsprechung existiert, weil diese 547
Zur Bedeutung des materiellen Rechts als Orientierungsmaßstab für die Einigungsentscheidung der Parteien vgl. oben S. 293 ff. Zu dem Grundsatz der Orientierung der Parteien an den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Werten vgl. oben S. 175 ff., 230 ff., 249 f., 283 ff., 293 ff. 548 Zum Vanishing Trial-Phänomen eingehend oben S. 44 f. sowie Galanter, 1 J. Empirical Legal Stud. 459, 461 (2004); Ostrom/Strickland/Hannaford-Agor, 1 J. Empirical Legal Stud. 755 (2004); Kovach, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 27, 33 ff. (2005).
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Fälle der ordentlichen Justiz weitgehend entzogen werden. Allerdings ist diese Entwicklung gerade nicht auf die Mediation zurückzuführen, sondern wird durch die Verlagerung entsprechender Streitigkeiten in das vertrauliche Schiedsverfahren bedingt. Freilich kommt es im Ergebnis nicht darauf an, ob dem Zivilprozess durch die Mediation oder das Schiedsverfahren Rechtsfälle entzogen werden. Allerdings sind die Anreize zur Verlagerung eines Rechtsstreits in das Schiedsverfahren im Vergleich zur Mediation ungleich höher, weil dieses als verbindliches Entscheidungsverfahren in deutlich höherem Maße als Äquivalent zum streitigen Zivilprozess angesehen wird und auch und gerade dann eingreifen kann, wenn die Parteien zu einer konsensualen Beilegung des Konfliktes durch gütliche Einigung nicht in der Lage sind. Im Übrigen sind von dieser Entwicklung lediglich eng umgrenzte Bereiche bestimmter Spezialmaterien einzelner Rechtsgebiete und nicht die Rechtsordnung als Ganzes betroffen. Im Ergebnis stehen damit Mediation und Zivilverfahren als einander komplementär ergänzende Verfahren nebeneinander. Die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilverfahrens wird durch die Praxis der Mediation dabei nicht wesentlich beeinträchtigt. (b) Konkretisierung des Rechts Die Bewährung der objektiven Rechtsordnung, die der Zivilprozess leistet, erfolgt durch die für die Durchsetzung subjektiver Rechte erforderliche Konkretisierung des Rechts, d.h. die Anwendung des abstrakten Gesetzesrechts auf den konkreten Sachverhalt des Konfliktes. Die Normkonkretisierung bildet den Kern richtender Tätigkeit und steht im Mittelpunkt des zivilprozessualen Konfliktlösungsmechanismus. Sie ermöglicht eine verrechtlichende Kodierung des Konfliktes, seine komplexitätsreduzierende Transformation549 in einen abgeleiteten Metakonflikt550, die für die weitere rechtliche Verarbeitung des Konfliktes durch den Mechanismus des gerichtlichen Verfahrens erforderlich ist. Wie wir bereits gesehen haben, lässt sich das Gerichtsverfahren im Anschluss an Galtung als eine Art Maschine verstehen551, in deren „Trichter“552 der Konflikt durch Kodierung gleichsam eingefüttert wird, um rechtlich verarbeitbar zu sein und den Mechanismus der an spezifische Tatbestände gekoppelten Rechtsfolgen auslösen zu können.553 Die rechtliche Verarbeitung des Konflik-
549
Hierzu oben S. 12 ff. Hierzu oben S. 15 ff. 551 Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 124 ff., 134 f., 137 ff. 552 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 115. 553 Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 124 ff., 134 f., 137 ff. 550
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tes, seine Lösung durch die Bestimmung einer einschlägigen Rechtsfolge, erfolgt dabei in drei Schritten: Der Feststellung eines subsumptionsfähigen Sachverhaltes, der Interpretation des Gesetzestextes und der Subsumption, d.h. der Zuordnung des Sachverhaltes zu einem entsprechenden Tatbestand, wodurch eine spezifische, im Gesetz vorgesehene Rechtsfolge ausgelöst wird.554 Die eigentliche Kodierung des dem Konflikt zugrunde liegenden Lebenssachverhaltes, seine durch verrechtlichende Transformation vermittelte Reduzierung auf einen subsumptionsfähigen Tatsachenkern, erfolgt bereits im ersten Schritt der Sachverhaltsfeststellung. Das Recht wird als vereinfachende Schablone auf den komplexen Lebenssachverhalt angelegt, der in eine normative Struktur gepresst, dem rechtlichen Entscheidungsmechanismus angepasst und damit erst verarbeitbar gemacht wird. Dabei wird der Konflikt aus der Interaktionsebene der Betroffenen herausgelöst, indem aus der Vielfalt unterschiedlicher Konfliktdimensionen der rechtliche Tatsachenkern gleichsam herausgeschnitten und damit zur Grundlage der Subsumption des rechtsanwendenden Richters gemacht wird. Seines emotionalen, relationalen und ökonomischen Kontextes entkleidet erscheint er nun in neuem Gewande und kann so, gleichsam „domestiziert“, in den institutionell gesicherten Formen unter den Augen der Hüter der Verfahrensinstitutionen fortgesetzt werden. Durch die erfolgte Transformation verändert der Konflikt freilich seinen Charakter: Als Folge der Thematisierung des Rechts, der Verrechtlichung des tatsächlichen Lebenssachverhaltes, wird der ursprüngliche Verteilungs- und Interessenkonflikt, wie wir bereits gesehen haben, in einen Wertkonflikt über die Anwendbarkeit der entsprechenden Rechtsnormen und – soweit auch der Sachverhalt streitig ist – über die der Entscheidung zugrunde zu legenden Tatsachen umformuliert. An die Stelle der Auseinandersetzung mit den Interessen der Parteien tritt die Interpretation juristischer Begriffe, an die Stelle des Konfliktes als mehrdimensionaler Lebenssachverhalt tritt der auf einen subsumptionsfähigen Sachverhaltsstoff reduzierte Tatsachenkern. Die Folge ist eine selektive Realitätsverarbeitung, bei der ausschließlich jene Konfliktdimensionen relevant sind, die sich unter den Tatbestand der einschlägigen Rechtsnormen subsumieren lassen. Die dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Ursachen der Auseinandersetzung und auch jene Aspekte, die für die Parteien besonders wichtig sind, werden weitgehend ausgeblendet und als nicht entscheidungserheblich aus dem weiteren Verfahren ausgeschieden. Im Rahmen unserer rechtstheoretischen Untersuchung des inneren Mechanismus des Prozesses haben wir bereits gesehen, dass die damit einhergehende Fixierung auf die konfliktauslösenden Rechtspositionen einen tatsächlichen Ausgleich der dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen erschwert und deshalb nur sehr eingeschränkt zur nachhaltigen und dauerhaften Beilegung des Konfliktes beizutragen vermag. Im Gegenteil führt die mit der 554
Vgl. hierzu oben S. 12 ff., 15 ff., 20 ff.
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Normkonkretisierung einhergehende Verrechtlichung des Sachverhaltskonfliktes in einen abgeleiteten Metakonflikt zur weiteren Eskalation der Auseinandersetzungen: Durch die Dynamik des Verfahrens werden die Parteien in eine Spirale der Eskalation hineingezogen, in der sich der Konflikt gleichsam trichterförmig verengt und unaufhaltsam auf einen point of no return zuläuft, nach dessen Überschreiten er sich in den von Goffmann beschriebenen character contest verwandelt, bei dem es nicht mehr um die Sache selbst, sondern nur noch darum geht, aus dem Konflikt als Sieger hervorzugehen.555 In einem zweiten Schritt der Norminterpretation werden die einschlägigen Rechtsnormen sodann ausgelegt und auf ihre Anwendbarkeit auf den konkreten Sachverhalt überprüft. Normkonkretisierung ist somit notwendig eine subjektive Wertentscheidung. Aufgrund der grundsätzlich fehlenden Präjudizwirkung gerichtlicher Urteile im kontinentaleuropäischen Rechtsraum ist die Rechtsanwendung für die Parteien damit stets auch mit einer Ungewissheit verbunden, die allein durch die endgültige gerichtliche Entscheidung beendet werden kann. In einem dritten und letzten Schritt der Subsumption wird der zuvor auf einen subsumptionsfähigen Tatsachenkern reduzierte, dem Konflikt zugrunde liegende Lebenssachverhalt den einschlägigen Rechtsnormen zugeordnet und der Mechanismus der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolgen ausgelöst. Die Folgen für den Konflikt haben wir bereits im Rahmen unserer rechtstheoretischen Untersuchung in den Blick genommen: Der binäre Schematismus gesetzlich vorgegebener Alles-oder-Nichts-Entscheidungen556 lässt eine Beilegung des Konfliktes aus spieltheoretischer Perspektive nur im Rahmen von Nullsummenspielen zu. Aufgrund der mit der Anwendung abstrakten Gesetzesrechts stets verbundenen Unsicherheit der Tatsachenfeststellung und der Unschärfe der nicht auf den konkreten Konflikt zugeschnittenen, sondern le-
555 Vgl. hierzu oben S. 23 ff. sowie Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. 556 Hierzu eingehend oben S. 20 ff. mwN. sowie Luhmann, in: Asmussen/Pawlik (Hrsg.), Material über Zukunftsaspekte der Rechtspolitik (1976), S. 67, 69; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. Vgl. auch Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Stürner, DRiZ 1976, 202, 203; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff.
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diglich typisierten Rechtsfolgen bleibt die vom Gesetzgeber vorgesehene Beilegung des Konfliktes stets eine ungenaue Näherungslösung557, die den Konflikt allenfalls retrospektiv zu behandeln558, die Zukunft der Parteien jedoch nur eingeschränkt prospektiv zu gestalten vermag.559 Die Befugnis zur Normkonkretisierung ist indes kein Monopol der rechtsprechenden Gewalt, sondern steht allen Rechtsanwendern zu. Soweit es im Rahmen des Mediationsverfahrens zu einer Anwendung des materiellen Rechts kommt, ist damit auch stets eine Konkretisierung des Rechts verbunden. Weil sich die Mediation nicht im rechtsfreien Raum, sondern im „Schatten des Rechts“560 vollzieht und das Recht auf vielfältige Weise in das Mediationsverfahren einwirkt, kommt damit auch der Normkonkretisierung eine besondere Bedeutung zu. Und weil es etwa im Rahmen der Nichteinigungsalternativen um die möglichst genaue Prognose eines möglicherweise nachfolgenden Gerichtsverfahrens geht561, bedarf die Konkretisierung des anwendbaren Rechts – insbesondere die Interpretation der Gesetzestexte im Lichte der aktuellen Rechtsprechung – besonderer Sorgfalt. Die Konkretisierungsleistung der Parteien ist dabei stets mit einer gewissen Unschärfe, mit der Ungewissheit der Rechtslage im konkreten Einzelfall verbunden, die nur durch rechtskräftiges Urteil behoben werden kann. Es ist ebendiese Ungewissheit, welche die Parteien zu einer Einigungsentscheidung motiviert. Die Mediation wird so zu einem Instrument der vergleichsweisen Klärung einer ungewissen Rechtslage, das die bestehende Rechtsunsicherheit beendet und auf diese Weise zugleich das mit einem gerichtlichen Verfahren verbundene Prozessrisiko beseitigt. Deutlich wird diese Funktion insbesondere im Rahmen der Prozessrisikoanalyse, bei der es um die möglichst präzise Ermittlung des Erwartungswertes des Prozesses geht. Und weil sich die Parteien im Rahmen des Mediationsverfahrens bei der Entwicklung möglicher Einigungsoptionen regelmäßig an den gesetzlichen Regelungen orientieren und sich in diesem Rahmen in besonderer Weise auch mit den diesen Regelungen zugrunde liegenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers auseinandersetzen können, kann die normkonkretisie-
557
Vgl. hierzu bereits aus rechtstheoretischer Perspektive oben S. 13 f. Vgl. hierzu oben S. 19 ff. 559 Zur Zukunftsorientierung von interessenorientierten Verhandelns BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 24, 32; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 304. 560 Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). Vgl. zur Bedeutung des Rechts in der Mediation eingehend oben S. 149 ff. (allgemein), 280 ff. (materielles Recht), 432 ff. (Verfahrensrecht). 561 Zur Prozessrisiko- bzw. Szenarioanalyse eingehend Aaron, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 202; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 100 ff.; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 243 ff. 558
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rende Auslegung des Gesetzesrechts auch im Mediationsverfahren einen erheblichen Raum einnehmen. Damit ergibt sich das intuitiv auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Ergebnis, dass der Normkonkretisierung im Rahmen der gerade an den Interessen und nicht an den Rechtspositionen orientierten Mediation eine wesentlich bedeutendere Rolle zukommen kann, als dies regelmäßig im gewöhnlichen Rechtsverkehr der Fall ist. Wenn wir indes die Rolle des materiellen Rechts in der Mediation betrachten, die wir bereits eingehend in den Blick genommen haben, so ist dieses Ergebnis im Gegenteil geradezu zwingend: Die in der Mediation um eine Lösung des Konfliktes ringende Partei, die sich im Rahmen einer informierten Einigungsentscheidung notwendig auch mit dem anwendbaren Recht auseinandersetzen muss, wird auch und gerade die diesem Recht zugrunde liegenden Wertentscheidungen in den Blick nehmen, kritisch hinterfragen und sich sodann bei der Entwicklung tragfähiger Einigungsoptionen mit ihnen gestaltend auseinandersetzen. Die mediierende Partei ist jedenfalls im Rahmen der Wirtschaftsmediation auch eine rechtsanwendende und normkonkretisierende Partei. (c) Sicherung der Rechtsfortbildung Durch die Entscheidung immer neuer Rechtsfragen, die Auslegung der Gesetzestexte, das Schließen legislativer Lücken und die Entwicklung richterrechtlicher Rechtsinstitute dient der Zivilprozess darüber hinaus auch der über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinausgehenden Sicherung der Rechtsfortbildung.562 Auch wenn deutsche Gerichte – anders als in dem von precedents bestimmten case law des anglo-amerikanischen Rechtskreises – grundsätzlich nicht an die Rechtsauffassungen höherer Gerichte gebunden sind und sich die Rechtskraft des Urteils lediglich auf die beteiligten Parteien und ihre Rechtsnachfolger erstreckt (§ 325 Abs. 1 ZPO), sich die Gerichte stattdessen ihr eigenes Urteil bilden und von der sachlichen Richtigkeit ihres Urteil selbst überzeugt sein müssen, so kommt den Präjudizien im Zivilprozess dennoch eine faktische Wirkung zu. Darüber hinaus sind viele heute allgemein anerkannte Rechtsinstitute erst richterrechtlich entwickelt worden und zentrale Bereiche des Rechts gesetzlich nicht geregelt, so dass der richterlichen Rechtsfortbildung und damit dem Zivilprozess eine ganz erhebliche rechtsfortbildende Funktion zukommt. Die Bedeutung der richterlichen Rechtsfortbildung hat im modernen Rechtsstaat stetig zugenommen, weil die Fähigkeit des Gesetzgebers, komplexe, hoch differenzierte und extrem dynamische gesellschaftliche Prozesse durch abstraktes Gesetzesrecht zu antizipieren und zu regeln, zunehmend an seine Funktionsgrenzen stößt. Legislative und Judikative erscheinen vor diesem Hintergrund in zunehmendem Maße jedenfalls funktional nicht mehr als strikt voneinander zu trennende 562
MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4.
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Staatsgewalten, sondern bilden häufig eine funktionale Einheit, die sich in einem symbiotischen Prozess wechselseitiger Kontrolle gemeinsam um die Bewältigung des Regulationsproblems bemüht.563 In der fortwährenden Anpassung des Rechts an die sich stetig verändernden Anforderungen der Gesellschaft erfüllt der Zivilprozess eine bedeutende Regulierungsfunktion.564 Als Scharnier zwischen der dem Recht zugrunde liegenden Gesellschaftsvision und der tatsächlich gelebten gesellschaftlichen Realität kommt ihm die Funktion zu, den vom Gesetzgeber intendierten Inhalt des Rechtes vor dem Hintergrund der sich wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stets zu aktualisieren und ihm so überhaupt erst Wirksamkeit zu verleihen. Aufgrund des Grundsatzes der Gewaltenteilung und der Bedeutung demokratischer Legitimation für die Ausübung staatlicher Gewalt ist das Gericht dabei weitgehend darauf beschränkt, im Wege der Auslegung den mit dem Gesetz bezweckten Zielen größtmögliche Wirksamkeit zu verleihen. Keineswegs steht den Gerichten dagegen die Befugnis zu, die Normen des positiven Gesetzesrechts etwa durch relativierende Auslegung gleichsam faktisch außer Kraft zu setzen. Insbesondere in einer Zeit, die wie die heutige in besonderer Weise den vielfältigen Einflüssen postmoderner Ideologien ausgesetzt ist, ist die rechtsbewahrende, nicht rechtsrelativierende Funktion der richterlichen Rechtsfortbildung und -auslegung von besonderer Bedeutung. Eine vergleichbare Funktion vermag das Mediationsverfahren schon aufgrund seiner Struktur und grundlegenden Verfahrensprinzipien565 nicht zu erfüllen. Dem stehen bereits die Vertraulichkeit des Verfahrens und die fehlende Autorität und Bindungswirkung der Einigungsentscheidung über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinaus entgegen. Selbst wenn das Ergebnis des Mediationsverfahrens veröffentlicht würde, hätte dies für Dritte nicht einmal Indizwirkung, weil sich die Einigungsentscheidung der Parteien gerade nicht ausschließlich am objektiven Recht, sondern an den jeweils für den Konflikt einzigartigen Interessen der Parteien orientiert. Weitaus relevanter ist dagegen die Frage, inwieweit das Mediationsverfahren vielmehr die rechtsfortbildende Funktion des Zivilprozesses behindert. In diesem Zusammenhang stellt sich das Problem der negativen Fernwirkung der Mediation auf den Zivilprozess, dem wir bereits im Rahmen der objektiven Rechtsbewährungsfunktion des Gerichtsverfahrens eingehend nachgegangen sind. Mit Verweis auf das Ergebnis unserer Untersuchung lässt sich festhalten, dass die Mediation weder die Rechtsbewährungs- noch die damit verbundene Rechtsfortbildungsfunktion des Zivilprozesses wesentlich behindert oder gar blockiert. Die Förderung der gütlichen Einigung führt keineswegs zu einer
563
Katzenmeyer, ZZP 115 (2002), 51, 85. Katzenmeyer, ZZP 115 (2002), 51, 85. 565 Vgl. hierzu eingehend oben S. 107 ff., 447 ff., 586 ff. 564
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„Austrocknung des Justizwesens“566 und dem Abzug von Fällen in der Weise, dass die Gerichte nichts mehr zu entscheiden hätten und die Fortbildung des objektiven Rechts deshalb als Ganzes gefährdet wäre. Gerade vor dem Hintergrund des rechtshistorischen Befundes567 wird deutlich, dass Vergleich und Urteil, gütliche Einigung und richterliche Entscheidung als Ausprägungen des Prinzips des Informalen und des Formalen, gleichsam als Kehrseite derselben Medaille, untrennbare, konstitutive Bestandteile des Rechts sind und sich gegenseitig ergänzen wie bedingen: Unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Realität bedarf die Mediation des schützenden Raumes des Rechts als Rückgriffs- und Durchsetzungsordnung568 und vermag sich daher auch nur im Schatten oder besser im Licht des Rechts zu entfalten. (d) Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtseinheit Im Wege der Konkretisierung und Fortbildung des objektiven Rechts gewährleistet der Zivilprozess darüber hinaus die für die Funktion des Rechts unabdingbar notwendige Rechtssicherheit und Rechtseinheit569. Rechtssicherheit meint in diesem Zusammenhang Rechtsgewissheit und damit die Klarheit darüber, wie das Recht im konkreten Einzelfall anzuwenden ist.570 Sie garantiert die Klarheit, Bestimmtheit und Beständigkeit richterlicher Entscheidungen sowie die Klärung streitiger Rechtsfragen innerhalb eines angemessenen Zeitraums. Dies setzt die einheitliche Anwendung des geltenden Rechts und damit Rechtseinheit voraus. Ermöglicht wird die durch Rechtseinheit gewährleistete Rechtssicherheit durch das verfahrensrechtlich abgesicherte Rechtsmittelsystem und die faktische Orientierung der Gerichte an der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen ein
566 So aber Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 66: „Wenn die Thematisierung von Recht zu stark entmutigt wird, kann dies deshalb zu einer Art Austrocknung des Rechtssystems führen …“. 567 Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 397 f. (1906). „Legal history shows an oscillation between wide judicial discretion on the one hand and strict confinement of the magistrate by minute and detailed rules upon the other hand.” Ebenso Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 40. Zur Rechtsgeschichte konsensualer Streitbeilegung vgl. nur Düll, Der Gütegedanke im römischen Zivilprozessrecht (1931); Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff.; Peters, Gütegedanke (2004). 568 Hierzu oben S. 299 ff. 569 Zur Rechtseinheit als Prozesszweck vgl. MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/ Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4. 570 Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 2; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545, 545 f. Differenzierend Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 17 (darauf hinweisend, dass das Schaffen von Rechtsgewißheit nie alleiniger Prozesszweck sein kann).
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funktionelles Äquivalent zur Präjudizienbindung des anglo-amerikanischen case law bilden. (4) Gesellschaft Die Wirkung des Zivilprozesses ist indes nicht auf den Kreis der unmittelbar Konfliktbeteiligten und die Rechtsordnung als abstrakter Werteordnung beschränkt. Weil er der Transformation der dem Recht zugrunde liegenden Werteordnung und der in ihr enthaltenen Gesellschaftsvision in gelebte Wirklichkeit und damit lebendes Recht dient, wirkt er darüber hinaus zugleich auf die Gesellschaft als System sozialer Interaktion ein. (a) Herstellung und Wahrung des Rechtsfriedens Wie wir gesehen haben, erwächst die Legitimation des Zivilprozesses aus dem Verbot der Selbsthilfe und der daraus folgenden staatlichen Justizgewährungspflicht als Kehrseite des Rechtsprechungs- und Gewaltmonopols des Staates.571 Im Hinblick auf die staatliche Pflicht zur friedlichen Ordnung des Gemeinwesens kommt dem Zivilprozess daher eine Befriedungsaufgabe zu: Indem er Konflikte auf gütlichem Wege, endgültig und entsprechend allgemein anerkannter Rechtsgrundsätze beilegt, dient er der Herstellung und Wahrung des Rechtsfriedens. Diese Befriedungsfunktion versucht der Zivilprozess grundsätzlich auf dreifache Weise zu erfüllen: (1) Durch die Beendigung des Rechtsstreits, (2) durch ein partizipatives und faires Verfahren sowie (3) durch eine materiell rechtmäßige Entscheidung. (aa) Beendigung des Rechtsstreits Durch das rechtskräftige Urteil wird der Rechtsstreit endgültig und unanfechtbar beigelegt. Die Rechtsfragen sind durch endgültige Entscheidung geklärt, der Sachverhalt ist festgestellt und das Urteil gegebenenfalls im Wege der Zwangsvollstreckung durchsetzbar. Der Prozessverlierer wird durch die mit seiner Mitwirkung am Verfahren verbundene Rollenübernahme als Rechtsverletzer sozial isoliert und zur Hinnahme der rational begründeten Entscheidung motiviert. Die Möglichkeit des Protestes ist abgeschnitten, eine Rebellion gegen die Entscheidung sinnlos, die Flucht in die Rolle des ungerecht Leidenden
571
Grundlegend Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse (2. Aufl. 1958), S. 4 ff. Vgl. auch MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 18; Musielak/Voit/ Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 6; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 9 sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 1; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 1; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 6.
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verbaut.572 Durch seine zustimmende Mitwirkung am „symbolisierende(n) Zeremoniell“573 des öffentlichen Verfahrens ist das Ergebnis legitimiert und als verbindlich akzeptiert.574 Der Rechtsstreit ist ein für alle Mal beendet. Allerdings ist mit dem rechtskräftigen zivilgerichtlichen Urteil nicht notwendigerweise auch eine tatsächliche Beilegung des dem Zivilprozess zugrunde liegenden Konfliktes verbunden. Im Gegenteil kann der Zivilprozess durch seine eskalierende Wirkung zu weiteren Konflikten führen, die sich auch nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens durch ein rechtskräftiges Urteil weiter fortsetzen.575 Betrifft die vom Urteil erfasste subsumptionsfähige Rechtsmaterie nur einen Teil des konflikterheblichen Sachverhaltes und bleiben die Parteien mit dem, was sie bewegt, im Zivilprozess ungehört, weil diese Sachverhaltsdimensionen als nicht entscheidungserheblich ausgeschieden werden, so vermag die verbindliche Entscheidung des Gerichtes zwar Rechtsruhe, aber keinen Rechtsfrieden zu schaffen.576 Dass ein solches Szenario keineswegs eine Ausnahme bildet, sondern aufgrund der systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses dem gerichtlichen Verfahren als häufige Folge grundsätzlich eigen ist, haben wir im Rahmen unserer rechtstheoretischen Untersuchung des Konfliktbeilegungsmechanismus des Zivilprozesses gesehen. Die verfremdende Verrechtlichung des Konfliktes, seine komplexitätsreduzierende Transformation in einen abgeleiteten Metakonflikt, der wertschöpfende Kooperationsgewinne unmöglich macht und die Parteien stattdessen auf den binären Schematismus typisierter Alles-oder-Nichts-Entscheidungen im Sinne eines Nullsummenspiels verweist, die den Konflikt lediglich retrospektiv auf der Grundlage von Rechtspositionen, nicht dagegen prospektiv im Sinne der tatsächlichen Interessen der Parteien zu lösen vermag, verhindert regelmäßig eine dauerhafte, nachhaltige und ursächliche Beilegung des Konfliktes. Dass der Zivilprozess aus prozeduraler Perspektive durch seinen kontradiktorischen Rollenzwang ganz erheblich zur weiteren Eskalation des Konfliktes beiträgt und durch die Verfremdung der Kommunikation sowie die notwendige Mitwirkung professioneller Parteivertreter mit einem erheblichen Kommunikations-, Partizipations- und damit auch Akzeptanzdefizit behaftet ist, erschwert eine tatsächliche Befriedung des Konfliktes. Eine Beendigung des Rechtsstreits führt damit nicht zwangsläufig zu einer Beendigung des Konfliktes. Der obsiegenden Partei ist mit einem lediglich rechtskräftigen Urteil nicht geholfen, wenn das Zivilverfahren die Beziehung zu seinem Konfliktpartner endgültig zerstört und ihm darüber hinaus auch keine Verwirklichung seiner dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen verschafft hat. 572
Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 117. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 106. 574 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 117. 575 Arndt, NJW 1967, 1585, 1585. 576 Vgl. Wimmer/Wimmer, NJW 2007, 3243, 3247. 573
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(bb) Partizipatives und faires Verfahren Die Beendigung des Rechtsstreits ist für die Herstellung und Wahrung des Rechtsfriedens zwar eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung. Denn für die tatsächliche Befriedung des Konfliktes ist nicht nur entscheidend, dass, sondern vor allem wie der Rechtsstreit beendet wird. Entbehrt das Verfahren jeglicher Legitimation, so wird auch das Ergebnis nur schwer akzeptiert werden und im Zweifel sogar Widerstand oder Rebellion provozieren. Umgekehrt wird auch ein unvorteilhaftes Urteil von den Betroffenen eher angenommen werden, wenn es das Ergebnis eines partizipativen und fairen Verfahrens gewesen ist. Die legitimierende und befriedende Wirkung der Verfahrensgerechtigkeit ist Gegenstand der Procedural Justice Forschung577 und insbesondere von Luhmann eingehend untersucht worden.578 Wie wir bereits gesehen haben, wird durch die Einbindung der Parteien in den inneren Mechanismus des Verfahrens, ihre Verstrickung in ein zeremonielles Rollenspiel und die freiwillige Übernahme der vordefinierten, kontrafaktisch stabilisierten Rollen des Klägers und des Beklagten eine erzwungene Anpassung der eigenen Ergebniserwartungen und eine soziale Isolierung des Verlierers herbeigeführt, die zu einer Akzeptanz der getroffenen Entscheidung führen, auch wenn sie den eigenen Erwartungen nicht entspricht.579 Der Mechanismus der expressiven Rollendistanz ermöglicht den Beteiligten durch Verweis auf die eigene Rolle in dem Verfahren eine Distanzierung vom Verfahrensergebnis, für das man keine Verantwortung zu übernehmen braucht, weil es durch einen neutralen, rationalen und nachvollziehbaren Verfahrensmechanismus auf der Grundlage objektiven Rechts bestimmt wird.580 Freilich beruht die Akzeptanz der Entscheidungen nach Luhmann keineswegs auf der inneren Einsicht in die tatsächliche Gerechtigkeit des Ergebnisses, sondern wird durch die soziale Isolation des Verlierers und den Zwang der mit dem Verfahren verbundenen Rollendefinition herbeigeführt.581 Ein gerechtes Verfahren führt damit nicht zwangsläufig zu einem gerechten, sondern lediglich zu einem für die Beteiligten akzeptablen Ergebnis. Dabei wird ein nachteiliges Urteil von den 577
Hierzu eingehend oben S. 192 ff. mwN. sowie grundlegend Thibaut/Walker, Procedural Justice (1975), passim; Lind/Tyler, Procedural Justice (1988), S. 64 ff., 67 ff.; Shestowsky, 10 Psychol. Public Policy Law 211 (2004); Törnblom/Vermunt (Hrsg.), Distributive and Procedural Justice (2007); Eigen/Litwin, ILR Review 67 (2014), 171 ff. Vgl. auch Klinger/Bierbrauer, ZKM 2006, 36, 38 sowie Gottwald, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963, 977 f. 578 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969); Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53 ff. 579 Vgl. hierzu oben S. 24 ff., 196 ff. sowie Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 139; Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 53, 87. 580 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 105 f. 581 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87, 105 f.
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Beteiligten umso eher angenommen, je stärker das Verfahren durch ihre faire Mitwirkung legitimiert ist. Wie wir im Rahmen unserer Untersuchung der Verfahrensprinzipien des Zivilprozesses gesehen haben, ist die gleichberechtigte Partizipation der Parteien, die durch die Grundsätze des fairen Verfahrens (Rechtsstaatsprinzip iVm. Art. 2 Abs. 1 GG), der Gleichbehandlung und der prozessualen Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 2 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip) verfassungsrechtlich gewährleistet sind, im Zivilprozess durch vielfältige Mitwirkungsrechte verfahrensrechtlich abgesichert. Die Bindung des Gerichts an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG), der Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) und auf Wahrung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie die Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) bilden die Grundlage für ein faires Verfahren. Der rechtsstaatliche Zivilprozess gewährleistet damit ein Maß an Verfahrensgerechtigkeit, das unabhängig vom Verfahrensergebnis ganz erheblich zur Befriedung des Konfliktes beiträgt. Allerdings sind auch im Zivilprozess die Möglichkeiten der Partizipation der Parteien begrenzt. Sie beschränken sich im Wesentlichen auf die Mitwirkung an der Vorbereitung einer verlässlichen Entscheidungsgrundlage, die nicht von den Parteien selbst, sondern vom Richter als neutralen Dritten getroffen wird.582 Die Parteien sind damit nur mittelbar an der Beilegung des Konfliktes beteiligt. Auf die Entscheidung des Richters haben sie nur im Rahmen ihrer prozessualen Mitwirkungsrechte Einfluss. Insoweit ist auch die Befriedungswirkung des zivilgerichtlichen Verfahrens begrenzt.583 Das Urteil bleibt trotz prozeduraler Einbeziehung der Parteien eine hoheitlich getroffene, autoritäre Drittentscheidung, der sie ohne substantielle Beteiligung an der Sachentscheidung gleichsam als außenstehende Beobachter weitgehend hilflos – und im Fall der rechtskräftigen Entscheidung auch wehrlos – ausgeliefert sind.584 Im Gegensatz hierzu ist das Mediationsverfahren, wie wir gesehen haben, gerade durch eine aktive Mitwirkung beider Parteien an der Sachentscheidung geprägt.585 Die Beendigung des Konfliktes wird durch die konsensuale Einigungsentscheidung beider Parteien herbeigeführt, die damit selbst darüber entscheiden, ob und auf welche Weise der Konflikt beigelegt wird.586 Und weil die
582
Zum Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit des Zivilprozesses eingehend oben S. 27 ff. 583 Entsprechend weisen vergleichsweise Einigungen im Gegensatz zu gerichtlichen Urteilen eine höhere Befolgungsrate auf. Vgl. zum empirischen Befund oben S. 29, Fn. 135. 584 Hierzu oben S. 129 f. 585 Hierzu oben S. 130 ff. 586 Zur Bedeutung der Privatautonomie als wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Mediation vgl. oben S. 127, 130 ff., 137, 459 ff.
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informierte Einigungsentscheidung aufgrund der notwendigen, freiwilligen Zustimmung beider Konfliktparteien einer Ausrichtung der Parteien aufeinander hin587 und eines tatsächlichen Ausgleichs der gegenseitigen Interessen bedarf, der eine eingehende Auseinandersetzung mit den Interessen des jeweiligen Konfliktpartners im Rahmen eines umfassenden, multilateralen Rollentauschs588, eines Perspektivwechsels durch reifen Gebrauch589 der regula aurea590 erfordert, ist die Mediation auch durch ein Maß an Verfahrensgerechtigkeit591 geprägt, das sie zum Urbild des gerechten Verfahrens592 macht. Indem die Mediation den Beteiligten das ihnen nach ihrer Natur und Berufung zur Entfaltung ihrer Person Zustehende und damit das, was ihren Bedürfnisse und Interessen entspricht, zukommen lässt (suum cuique tribuere593), ermöglicht sie durch den reifen Gebrauch der regula aurea eine möglichst weitgehende Verwirklichung kommutativer594 und distributiver595 Gerechtigkeit und so eine größtmögliche Annäherung an das Ideal materieller Gerechtigkeit. Im Ergebnis ergibt sich der Befund, dass die höhere Partizipation und Fairness des Mediationsverfahrens im Vergleich zum Zivilprozess in deutlich höherem Maße eine nachhaltige, dauerhafte und ursächliche Beilegung des Konfliktes ermöglicht und damit auch weitaus umfassender zu seiner Befriedung beiträgt.596 (cc) Materiell rechtmäßige Entscheidung Allerdings vermag auch ein noch so partizipatives und faires Verfahren nur sehr eingeschränkt über den Nachteil eines unvorteilhaften, vielleicht sogar materiell ungerechten Ergebnisses hinwegzuhelfen. Wie wir im Anschluss an die Untersuchung Luhmanns zur Legitimation des zivilgerichtlichen Verfahrens gesehen haben, kann die Verfahrensgerechtigkeit zwar zu einer Akzeptanz einer auf rechtmäßige Art und Weise zustande gekommenen und damit auch
587
Hierzu oben S. 124 ff. , 471 ff. sowie Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). Hierzu eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149, 204. 589 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. Hierzu oben S. 250. 590 Vgl. oben S. 235 ff. 591 Hierzu oben S. 186 ff. 592 Hierzu oben S. 179 ff. 593 Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff. 594 Hierzu oben S. 206 ff. 595 Hierzu oben S. 217 ff. 596 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses vgl. oben S. 160 ff., 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungs-management (2009), S. 11 ff. 588
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legitimierten Entscheidung beitragen.597 Eine innere Einsicht in die tatsächliche materielle Gerechtigkeit des Ergebnisses und damit eine tatsächliche Billigung allein aufgrund eines nicht zu beanstandenden Verfahrens vermag sie dagegen nicht herbeizuführen. Soweit sich die Akzeptanz des Ergebnisses allein auf Partizipationsmöglichkeiten und die Fairness des Verfahrens stützt, beruht sie ausschließlich auf dem vom Rollenmechanismus des Zivilprozesses ausgelösten „Erwartungsmanagement“ und der daraus folgenden sozialen Isolierung des Prozessverlierers. Aus diesem Grund wird in der Prozesszwecklehre die Friedensfunktion des Zivilprozesses zum Teil gerade nicht als Haupt-, selbstständiger oder gleichberechtigter Prozesszweck neben dem der Rechtsbewährung gesehen.598 Denn die Tatsache, dass auch ein unrichtiges Urteil den Rechtsstreit ein für alle Mal beendet, vermag es dennoch keineswegs zu legitimieren. Der Versuch, die Friedenswahrung von der Rechtsbewährung zu trennen, ist, so Gaul, „der Versuch einer juristischen Gewissensberuhigung gegenüber der nicht auszuschließenden Möglichkeit unrichtiger Urteile, die Bemäntelung der Tatsache, daß es hier um ein Opfer geht.“599 Das Unrecht eines unrichtigen Urteils lässt sich mit dem Verweis darauf, dass der Rechtsstreit ja beendet und damit eigentlich auch befriedet sei, nicht hinweginterpretieren. Schließlich dient der Zivilprozess nicht in erster Linie der Beendigung von Rechtsstreitigkeiten, sondern vielmehr der Durchsetzung materiellen Rechts und so in seinem innersten Kern selbst der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit. Dort, wo er dieses Ziel verfehlt, bleibt er defizitär, und dieses Defizit kann auch nicht durch die bloße Beendigung des Rechtsstreits ausgeräumt werden, die lediglich notwendige Nebenfolge bleibt. Denn eine tatsächliche, dauerhafte, nachhaltige und ursächliche Befriedung des Konfliktes ist nur dann möglich, wenn der Zivilprozess zu einem angemessenen Ausgleich der Interessen der Parteien führt. Wahrer Rechtsfrieden setzt die Durchsetzung des materiellen Rechts und in seinem innersten Kern die Verwirklichung der Gerechtigkeit voraus.600 Beides wird im Zivilprozess grundsätzlich durch das Verfahrensrecht und die Möglichkeit der nachträglichen Überprüfung gerichtlicher Urteile im Rechtsmittelverfahren gewährleistet. Der für eine nachhaltige Befriedung des Konfliktes notwendige gegenseitige Interessenausgleich der Parteien erfolgt dabei durch die Anwendung materiellen Rechts, das als abstrakt-generelle Regelung auf der Grundlage wesentlicher Wertentscheidungen ein Instrumentarium zum Ausgleich typischer Interessenkonflikte bereithält. Wie wir bereits gesehen haben, sind indes die Möglichkeiten eines tatsächlichen Ausgleichs 597
Vgl. oben S. 24 ff., 196 ff. Vgl. nur Gaul, AcP 168 (1968), 27, 60. 599 Gaul, AcP 168 (1968), 27, 60. 600 Hierzu und zu dem hierfür zentralen Mechanismus der regula aurea eingehend oben S. 167 ff., 235 ff. 598
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der dem Konflikt zugrunde liegenden Interessen aufgrund der systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses begrenzt. Abstrakt-generelle Regelungen, die auf einer Antizipation möglicher Konflikte und typisierender Abstraktion möglicher Rechtsfolgen beruhen, können die tatsächlichen Interessen der Parteien nur näherungsweise einfangen. Die verrechtlichende Verfremdung des Konfliktes und seine Transformation in einen abgeleiteten Metakonflikt, der den streitgegenständlichen Lebenssachverhalt der Vielzahl der auch für die Parteien wesentlichen Dimensionen beraubt und ihn auf einen rechtlichen subsumptionsfähigen Tatsachenkern reduziert, stehen einem tatsächlichen Ausgleich im Sinne einer möglichst weitgehenden Verwirklichung der Interessen beider Parteien regelmäßig im Weg. Dadurch führt auch ein materiell rechtmäßiges Ergebnis nicht zwangsläufig zu einer tatsächlichen Befriedung des Konfliktes. Werden die Konfliktdimensionen, die für die Parteien wichtig sind und als konfliktauslösende Ursachen dem Streit tatsächlich zugrunde liegen, im Zivilverfahren ausgeblendet und als nicht entscheidungserheblich ausgeschieden, so ist der obsiegenden Partei auch mit einem für sie günstigen Urteil nicht gedient. Im Gegenteil kann der Prozess auch dann, wenn die betreffende Partei aus ihm als vermeintliche „Siegerin“ hervorgeht, für sie dennoch in einem „Scherbenhaufen“ enden. Das gerichtliche Verfahren trägt dann nicht zur Befriedung, sondern zur weiteren Eskalation des Streits bei und hinterlässt neben hohen materiellen und immateriellen Kosten eine zerstörte Beziehung zum Konfliktpartner, mögliche Reputationsverluste und immense Schäden auf emotionaler, psychischer und geistiger Ebene. Damit ist als Befund festzuhalten, dass der Zivilprozess den Rechtsstreit auch durch die Verwirklichung des materiellen Rechts befriedet und auf diese Weise einen typisierten Interessenausgleich ermöglicht. Allerdings ist die Leistungsfähigkeit des zivilgerichtlichen Verfahrens zum Ausgleich konfliktverursachender Interessen aufgrund der systemimmanenten Defizite richtender Streitbeilegung begrenzt. Geht die im abstrakt-generellen Recht vorgesehene typisierte Lösung des Konfliktes an den tatsächlichen Interessen der Parteien vorbei, vermag auch ein rechtskräftiges Urteil nur begrenzt befriedende Wirkung zu entfalten. Deutlich anders stellt sich die Situation dagegen im Mediationsverfahren dar. Wie wir im Rahmen unserer Untersuchung des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess aus ganz unterschiedlichen Perspektiven gesehen haben, werden diese negativen Folgewirkungen des Zivilprozesses durch den inneren Wirkmechanismus der Mediation vermieden.601 Darüber hinaus erweist sich die konsensuale Einigungsentscheidung der Parteien als gegenüber der autoritären Drittentscheidung des Richters wesentlich leistungsfähigeres Instrument
601 Vgl. hierzu die vergleichende Strukturanalyse oben S. 107 ff. sowie eingehend oben S. 167 ff., 179 ff., 230 ff., 235 ff., 252 ff.
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des Interessenausgleichs. Die Mediation ermöglicht gleichsam einen unmittelbaren Durchgriff der Konfliktbeteiligten auf die Interessenebene602, indem die vermittelnde Schicht des die Interessen abstrahierenden abstrakt-generellen Gesetzesrechts umgangen und die mit ihm verbundenen Schwächen vermieden werden. Da das Ergebnis des Mediationsverfahrens seine Legitimation im Konsens der Parteien und nicht in der autoritären Entscheidung eines Dritten findet, bedarf es des legitimierenden Rückgriffs auf das Gesetzesrecht auch nicht. Freilich sind auch die Parteien in ihrer Entscheidung nicht vollkommen frei, sondern werden sich regelmäßig die dem Gesetzesrecht zugrunde liegenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers und die der Rechtsordnung insgesamt immanenten absoluten Grundwerte zu eigen machen.603 Der Vermittlungsvorgang, der Zugriff auf jene „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind“604, entspricht aus rechtsphilosophischer Perspektive dabei weitgehend dem der idealtypischen legislativen Rechtsetzung: Ebenso, wie entsprechend der aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie auch das menschliche, objektive (Gesetzes-)Recht (lex humana) durch den Gebrauch des lumen rationis aus dem überpositiven, natürlichen Recht (lex naturae) hervorgeht und damit an der durch den Verstand vermittelten Teilhabe des Menschen am ewigen Recht (lex aeterna) Anteil hat, so ergibt sich auch das menschliche, subjektive (Partei-)Recht (lex humana) – vermittelt durch den Gerechtigkeitssinn, das Rechtsgefühl und die verstandesgemäße Erfassung der Interessenlage beider Parteien – aus dem überpositiven Naturrecht (lex naturae) und hat, soweit es diesem entspricht, Anteil am ewigen Recht (lex aeterna).605 Freilich setzt dieser Vermittlungsvorgang den rechten Gebrauch des lumen rationis606 und
602 Vgl. zur zentralen Bedeutung der Interessenverwirklichung für ein gerechtes Ergebnis oben S. 222 ff. sowie zur Bedeutung der Interessen in Verhandlung und Mediation vgl. oben S. 170 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Bühring-Uhle/ Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff.; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff. 603 Zur Bedeutung des materiellen Rechts als Orientierungsmaßstab für die Einigungsentscheidung der Parteien vgl. oben S. 293 ff. Zu dem Grundsatz der Orientierung der Parteien an den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Werten vgl. oben S. 175 ff., 230 ff., 249 f., 283 ff., 293 ff. 604 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebungen durch den Verfasser. 605 Zu den naturrechtlichen Grundlagen vgl. oben S. 75, 86 ff., 176, 219, 774 f. sowie Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. und Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 388 ff. 606 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 101, Fn. 405.
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eine entsprechende Gewissensbildung607 aufseiten der Parteien voraus. Anders gewendet: In dem Maße, in dem die Parteien nicht nur ihren eigenen Partikularinteressen folgen und sich nicht über die berechtigten Interessen ihres Konfliktpartners hinwegsetzen, sondern im Gegenteil an einem tatsächlichen, echten Interessenausgleich und damit einer gerechten Einigung interessiert sind, werden sie auch jene Grundwerte materieller Gerechtigkeit verwirklichen, die Ausdruck überpositiven Naturrechts sind. Je mehr ihnen dies gelingt, desto mehr werden sie sich auch dem Ideal der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit annähern, die das letzte Ziel allen Rechts ist und auf die jedes echte Bemühen und Ringen um eine gerechte Beilegung des Konfliktes letztlich ausgerichtet ist. Weil die Gerechtigkeit in ihrem Kern jedem Einzelnen das zukommen lässt, dessen er zur Entfaltung seiner Person bedarf (suum cuique tribuere), setzt sie voraus, dass die Parteien den Ring des Kreises um sich selbst radikal durchbrechen und sich auf ihren jeweiligen Konfliktpartner hin ausrichten, um so seine tatsächlichen Interessen und Bedürfnisse in den Blick nehmen zu können, die auf diese Weise zum Maßstab der Einigungsentscheidung der Parteien werden. In diesem „Hinausführen“ aus sich selbst heraus, in dieser Weitung der Perspektive auf den anderen hin, in der sich die Parteien die Interessen des jeweils anderen zu eigen machen, liegt der Kern und das eigentliche Geheimnis der Mediation begründet: Das Wesen der Mediation besteht nach Fuller darin, die Beziehung zwischen den Parteien zu transformieren und die Parteien durch die Vermittlung einer neuen, gemeinsamen Perspektive ihrer Beziehung wieder aufeinander hin auszurichten: „ … The central quality of mediation, namely, its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.”608 Wie wir gesehen haben, gelingt dies im Mediationsverfahren durch einen umfassenden, multilateralen Perspektivwechsel, der im Kern der reifen Anwendung der regula aurea als „sittliche Grundformel der Menschheit“609, als alle Zeiten und Kulturen umfassendes „Naturgesetz“610, als „Idee der Gerechtigkeit“611 entspricht. Die Anwendung der regula aurea er-
607 Hierzu eingehend v. Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis (3. Aufl. 1982), S. 64 ff. Zur rechtlichen Bedeutung des Gewissens aus strafrechtlicher Perspektive vgl. nur Kölbel, FS Roxin (2011), S. 1913, 1914 ff. 608 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 609 Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 74. 610 Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 454 mwN. 611 Radbruch, Rechtsphilosophie (3. Aufl. 1932), S. 70; Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe II (1993), S. 206, 303.
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möglicht damit den Parteien einen durch das lumen rationis vermittelten Zugang zum lex naturae, der sie durch den der regula aurea eigenen Transformationsmechanismus befähigt, aus den naturrechtlichen Wertgrundsätzen den Prinzipien materieller Gerechtigkeit entsprechende Einigungsoptionen herzuleiten. Als Ausformung und Konkretisierung des lex naturae werden die auf diese Weise gewonnenen Einigungsoptionen im Rahmen eines Mediationsvergleichs in subjektives Parteirecht transformiert und erlangen so rechtliche Verbindlichkeit.612 Die Mediation stellt dabei indes nicht nur den materiellen Wirkmechanismus, sondern auch den prozeduralen Rahmen als „geschützten Raum“ zur Verfügung, in dem dieser Transformationsvorgang gelingen kann. Denn dass das Ringen um Gerechtigkeit letztlich im Egoismus des Einzelnen seine Grenze findet, ist die Not des Menschen durch die Zeiten hindurch und der eigentliche Daseinsgrund materiellen Rechts und des Zivilprozesses als einer seiner wesentlichen Durchsetzungsmechanismen.613 Unter den Bedingungen dieser Welt bedarf die Gerechtigkeit des Zwangs zu ihrer Durchsetzung und der Schwache des Schutzes durch das wehrhafte Recht. Die konsensuale Verwirklichung der Gerechtigkeit, die, wenn sie gelingen würde, das Zwangsinstrumentarium zwingender Rechtsnormen überflüssig machen würde, scheitert in der Realität indes regelmäßig an dem Dilemma, dass ein Zugehen auf den anderen stets mit dem Risiko eigener Rechts- und Interessenverletzung verbunden ist. Dieses Grundproblem menschlichen Konfliktverhaltens, das spieltheoretisch als Gefangenendilemma614 beschrieben worden ist, stellt tatsächlich eines der wesentlichen Hindernisse für eine effektive konsensuale Streitbehandlung dar. Und es ist das Mediationsverfahren, das in Umsetzung der „Tit for Tat“-Strategie615 einen Weg aus dem Gefangenendilemma weist. Auf diese Weise vermag die Mediation, weil sie nicht nur einen effektiven Mechanismus zum tatsächlichen materiellen Interessenausgleich, sondern auch einen sicheren Verhandlungsrahmen bietet, zu einer nachhaltigen, dauerhaften und ursächlichen Beilegung 612 Zu dem Grundsatz der Orientierung der Parteien an den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Werten vgl. oben S. 175 ff., 230 ff., 249 f., 283 ff., 293 ff. 613 Entsprechend stellt auch Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1 ff, Lk 6, 31 mit Blick auf die regula aurea fest, dass „die Eigenliebe des Menschenherzens … als der allen bekannte Maßstab für die Liebe zum Mitmenschen empfohlen [wird], womit aber keinesfalls diese Eigenliebe als etwas Gutes anerkannt werden soll, sondern als ein fest verwurzelter [kaum zu beseitigender] Tatbestand vorausgesetzt wird.“ 614 Grundlegend hierzu Rapoport/Chammah/Rapoport, Prisoner's dilemma (1965), passim. Vgl. auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 83 f., 138 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 59 ff., 62 f. 615 Zur Tit for Tat-Strategie eingehend Axelrod/Hamilton, 211 Science (N.S.) 1390 (1981); Axelrod, The Evolution of Cooperation (1984), S. 113 ff., 130 ff.
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und damit zur Befriedung des Konfliktes beizutragen. Sie erweist sich damit sowohl materiell als auch in prozeduraler Hinsicht als „gerechtes Verfahren“, weil sie ein im Vergleich zum Zivilprozess deutlich effektiveres Instrument der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit zur Verfügung stellt. Im Ergebnis ergibt sich damit der Befund, dass der Zivilprozess zwar durch eine materiell rechtmäßige Entscheidung einen typisierten Interessenausgleich herbeizuführen und damit auch eine weitgehende Befriedungswirkung zu entfalten vermag. Im Vergleich zum Mediationsverfahren bleibt die Leistungsfähigkeit des Zivilprozesses als Instrument zur Herstellung und Wahrung des Rechtsfriedens indes defizitär. In diesem Sinne hat auch das BVerfG darauf hingewiesen, dass „durch Konsensbildung eine schnellere und kostengünstigere Lösung der betroffenen Streitigkeiten und zugleich ein Beitrag zum dauerhaften Rechtsfrieden ermöglicht werden (kann), der durch das gerichtliche Verfahren so nicht erreicht werde.“616 Denn in Verfahren der alternativen Streitbeilegung – wie etwa dem Schlichtungsverfahren nach § 15a EGZPO – können „Tatsachen berücksichtigt werden … , die für die Lösung des Konflikts der Parteien von wesentlicher oder ausschlaggebender Bedeutung, rechtlich jedoch irrelevant seien. Auch seien vermittelnde Lösungen möglich, selbst wenn im streitigen Verfahren nur voll zu Lasten der einen und zugunsten der anderen Partei entschieden werden könnte …“617 Führt daher die außergerichtliche Streitbeilegung „zu Lösungen, die in der Rechtsordnung so nicht vorgesehen sind, die von den Betroffenen aber – wie der Konsens zeigt – nun als gerecht empfunden werden, dann deutet auch dies auf eine befriedende Bewältigung des Konfliktes hin. Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einvernehmlich Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.“618 Das Verfassungsrecht gebietet zwar keine generelle Einführung der Mediation als obligatorisches Verfahren.619 Allerdings erweist sich das Mediationsverfahren damit nicht nur als verfassungskonforme, sondern darüber hinaus auch als besonders „verfassungsnahe Methode staatlicher Stiftung von Rechtsfrieden“620.
616 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). Hervorhebung durch den Verfasser. 617 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 618 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). Hervorhebung durch den Verfasser. 619 Darauf weisen Wimmer/Wimmer, NJW 2007, 3243, 3247 hin. Allerdings verweist bereits die Tatsache, dass die Frage nach einer verfassungsrechtlich gebotenen Mediationspflicht überhaupt aufgeworfen wird, auf die Bedeutung des Mediationsverfahrens im Rechtsschutzsystem des Verfassungsstaates. 620 So zu Recht Wimmer/Wimmer, NJW 2007, 3243, 3247. Hervorhebungen durch den Verfasser.
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(b) Verhaltenssteuerung Neben der Herstellung und Wahrung des Rechtsfriedens kommt dem Zivilprozess im Hinblick auf seine Wirkung auf den gesellschaftlichen Bereich darüber hinaus eine zentrale verhaltenssteuernde Funktion zu. Die Funktion der Verhaltenssteuerung ist dabei gleichsam das Gegenstück zur friedensstiftenden Funktion des zivilgerichtlichen Verfahrens als Instrument zur Stabilisierung rechtlich bedingter Erwartungen. Befriedung und Verhaltenssteuerung ergeben sich als Kehrseite des jeweils anderen aus der rechtsbewährenden Aufgabe des Zivilprozesses. Indem das zivilgerichtliche Verfahren Rechtsverstöße sanktioniert und dem materiellen Recht zur Durchsetzung verhilft, ist es zugleich auf die Vergangenheit wie auch auf die Zukunft gerichtet: Während es einerseits durch die Erfüllung der Erwartung, dass sich das objektive Recht in der Rechtspraxis bewährt, zur Herstellung und Wahrung des Rechtsfriedens beiträgt, bekräftigt es damit zugleich unmissverständlich die notfalls mit Zwang durchzusetzende Verbindlichkeit der objektiven Rechtsordnung und setzt so verhaltenssteuernde Anreize zu rechtstreuem Verhalten. Das richterliche Urteil erfüllt damit die zentrale Funktion eines „Leuchtturms“,621 indem es Dritten als Orientierungsmaßstab für rechtmäßiges Verhalten dient und sie durch die mit ihm verbundene Sanktionsdrohung bereits ex ante zu rechtskonformem Verhalten motiviert.622 (aa) Verhaltenssteuernde Mechanismen im Zivilprozess Weil der Zivilprozess allerdings als bloßes Instrument der Durchsetzung des materiellen Rechts selbst inhaltlich neutral und dem unmittelbaren Zugriff des Gesetzgebers entzogen ist, er mithin kein neues Recht schafft, sondern lediglich die materiellen Vorgaben der objektiven Rechtsordnung in gelebtes Recht transformiert, kommt ihm lediglich sekundäre verhaltenssteuernde Wirkung zu. Primäres Instrument der Verhaltenssteuerung ist dagegen das materielle Recht. Indem der Zivilprozess die Vorgaben des materiellen Rechts in gelebte Rechtswirklichkeit umsetzt, vermag er zwei wesentliche Steuerungsziele zu verwirklichen: Die Stabilisierung der Rechtsordnung und die Umsteuerung im Wege der Durchsetzung reformierten Gesetzesrechts. In beiden Fällen entfaltet der Zivilprozess durch seine Sanktionsmöglichkeiten als Rückgriffsordnung generalpräventive Wirkung und strahlt dabei auf eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensbereiche aus. So fördert im wirtschaftlichen Rechtsverkehr die Möglichkeit der prozessualen Geltendmachung materieller Rechte die ordnungsgemäße Erfüllung eingegangener Vertragspflichten und verbessert auf
621 622
So plastisch Wagner, JZ 1998, 836, 838. Wagner, JZ 1998, 836, 837.
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diese Weise die Schuldnermoral.623 Im Bereich der konsensualen Konfliktbeilegung hat die Möglichkeit eines nachfolgenden Zivilprozesses als Nichteinigungsalternative, wie wir gesehen haben, ganz erheblichen Einfluss auf das Verhandlungsverhalten. Und im täglichen Leben werden etwa Verkehrsteilnehmer eine mögliche Verschärfung der Haftungsvorschriften zur Kenntnis nehmen und ihr Verhalten daran ausrichten.624 (bb) Möglichkeiten und Grenzen der Verhaltenssteuerung durch Mediation Der Mediation kommt eine solche verhaltenssteuernde Wirkung naturgemäß nur eingeschränkt zu. Weil der Mediationsvergleich das Ergebnis der konsensualen Einigungsentscheidung beider Parteien ist und darüber hinaus vertraulich bleibt, fehlt ihr im Rahmen der Aufarbeitung bestehender Konflikte die für die Verhaltenssteuerung notwendige Orientierungswirkung gegenüber Dritten. Denn sie ist gerade nicht auf die zwingende Sanktionierung von Rechtsverstößen gerichtet, sondern ermöglicht eine Beilegung des Konfliktes unter Umgehung des einschlägigen Rechts. Zwar wird auch im Mediationsverfahren – wie wir gesehen haben – das materielle Recht nicht bedeutungslos, sondern wirkt auf vielfältige Weise auf die Einigungsentscheidung der Parteien ein.625 Allerdings hat es bei der Entwicklung der Einigungsoptionen nur als einer von mehreren Faktoren Bedeutung und bezieht seine Autorität in der Mediation im Rahmen der Nichteinigungsalternativen weitgehend gerade aus der den Parteien jederzeit offenstehenden Möglichkeit, ihre Rechtsansprüche gegebenenfalls auch im Rahmen eines nachfolgenden Zivilprozesses gerichtlich geltend zu machen.626 Es ist der Schatten des Rechts, das Damoklesschwert des drohenden Zivilprozesses, das die Parteien im Wesentlichen regelmäßig zu einer rechtskonformen Einigung motiviert.
623 Vgl. Lüke/Arens, Zivilprozessrecht (9. Aufl. 2006), S. 4; Brehm, Richterbindung (1982), S. 28 f. 624 Eingehend hierzu Wagner, JZ 1998, 836, 838. 625 Vgl. hierzu oben S. 284 ff., 301 ff. 626 Gute Nichteinigungsalternativen bilden die wichtigste Quelle von Verhandlungsmacht, vgl. oben S. Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 28 („Es ist die Quintessenz von Verhandlungsmacht, ‚auch anders zu können.‘). Zu den Quellen von Verhandlungsmacht vgl. eingehend Lax/Sebenius, The Manager as Negotiator (1986), S. 255 ff.; Fisher, 27 Am. Behavioral Sci. 149, 153 (1987); Mayer, 16 M.Q. 75 (1987); Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 97 ff., 106, 177 ff.; Breidenbach, Mediation (1995), S. 104 ff.; Adler/Silverstein, 5 Harv. Negot. L. Rev. 1, 22 ff. (2000); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 28, 67 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 237, 253, 284 f. Vgl. hierzu näher oben S. 365 Fn. 200.
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1. Verhaltenssteuerung durch Rechtskenntnis. Allerdings bietet die Mediation den Parteien in besonderer Weise Gelegenheit, sich im Rahmen des wertschöpfenden Ringens um eine beiderseits interessengerechte Einigung nicht nur mit dem Inhalt der einschlägigen materiellen Rechtsnormen, sondern auch mit den ihnen zugrunde liegenden Wertungen auseinanderzusetzen. Auf diese Weise vermag das Mediationsverfahren nicht durch Zwang, sondern durch Einsicht zu einem tieferen Verständnis und damit zu einer weiteren Akzeptanz materiell-rechtlicher Regelungen beizutragen und so die Beteiligten zu rechtskonformem Verhalten zu motivieren.627 2. Verhaltenssteuerung durch Veränderung des Konfliktverhaltens. Der Anwendungsbereich verhaltenssteuernder Handlungsanreize wäre indes zu eng, würde man ihn ausschließlich auf den Bereich des rechtlichen Handelns beschränken. Neben der Steuerung der Rechtskonformität, die der Mediation weitgehend entzogen und vielmehr dem wesentlichen Aufgabenbereich des Zivilprozesses zuzurechnen ist, öffnet sich mit der Steuerung des Konfliktverhaltens ein ebenso weiter wie zentraler Wirkbereich, der für das gesellschaftliche Leben von mindestens gleicher Bedeutung ist. Wie wir im Rahmen unserer Untersuchung der Funktion des Mediationsverfahrens gesehen haben, ist die Mediation darauf gerichtet, die Parteien zu einer eigenverantwortlichen Wahrnehmung ihrer Interessen zu befähigen und sie so in die Lage zu versetzen, ihren Konflikt privatautonom beizulegen (empowerment)628. Das strukturierte Mediationsverfahren setzt als Bedingung für eine effektive Beilegung des Konfliktes daher einen Lern- und Transformationsprozess voraus, in dessen Ergebnis die Parteien die Nachteile aggressiven, positionsorientierten, intuitiven Konfliktverhaltens vermeiden lernen und zu einem kooperativen, interpretierenden und deeskalierenden Umgang mit Konflikten befähigt werden.629 Indem die Beteiligten als wesentliche Akteure durch ihre Mitwirkung am Mediationsverfahren und das schrittweise Mitvollziehen der gegenseitigen Interessenerforschung, der gemeinsamen Problemlösung und der wertschöpfenden Entwicklung von Einigungsoptionen auf intuitive Weise ein neues, effek-
627
Zu dem hierfür erforderlichen Perspektivwechsel („put yourself into their shoes“), dem mulilateralen Rollentausch als Voraussetzung für die Anwendung des Reziprozitätsprinzips der regula aurea eingehend oben S. 242 ff., 249 ff. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive oben S. 252 ff., Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149. Zu dem Grundsatz der Orientierung der Parteien an den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Werten vgl. oben S. 175 ff., 230 ff., 249 f., 283 ff., 293 ff. 628 Hierzu Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7, 20 f. (1996); Bush/Folger, The Promise of Mediation (2. Aufl. 2005), S. 41 ff.; Kovach, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 27, 57 (2005). 629 Vgl. hierzu eingehend oben S. 567 f. , 664 f. Zur Transformation der Parteibeziehung durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin vgl. oben S. 124 ff. , 471 ff. sowie Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971).
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tiveres Konfliktverhalten einüben, durchlaufen sie einen Lernprozess, der aufgrund der mit ihm verbundenen Einsichten und empirischen Evidenz in der Lage ist, ihr Konfliktverhalten auch für die Zukunft zu verändern. Die Auseinandersetzung mit der Interessenebene und den Bedürfnissen des jeweiligen Verhandlungspartners, die Erfahrung des Perspektivwechsels630 und des multilateralen Rollentauschs, die unmittelbare Erfahrung der Vorteile gegenseitiger problemlösungsorientierter Kooperation, die Möglichkeit der wertschöpfenden Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne, die Überwindung des Nullsummenmythos631 sowie die Konfrontation mit den eigenen Wahrnehmungsverzerrungen632 versetzt die Parteien in die Lage, zukünftige Konflikte effektiv auf konsensualem Wege beizulegen. Setzt sich die Mediation auch auf breiter Ebene als Instrument der Konfliktbeilegung durch, so können bei Erreichen einer „kritischen Masse“ an Verfahren wesentliche Impulse für eine Veränderung der Konfliktkultur von ihr ausgehen. Wie wir im Rahmen unserer rechtssoziologischen Untersuchung gesehen haben, konnten erste Anzeichen für einen derartigen Wandel der Konfliktkultur auf der Grundlage eines signifikanten Anstiegs der Vergleichsquote an den Zivilgerichten insbesondere im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung gerichtsverbundener Mediationsprogramme auch empirisch nachgewiesen werden. Darüber hinaus setzt die Mediation einen Transformationsprozess in Gang, der die Beziehung der Parteien zueinander grundlegend verändert: Die Konfrontation wird aufgebrochen, die Dynamik der Eskalation gestoppt, und die Betroffenen werden aus ihren sich antagonistisch gegenüberstehenden Rollen als Konfliktgegner herausgelöst und aufeinander hin ausgerichtet und dadurch erst in die Lage versetzt, auf der Grundlage einer veränderten Perspektive aufeinander und auf ihre Beziehung zueinander ihren Konflikt im Wege der Kooperation eigenverantwortlich beizulegen. Das sich aus diesem Lernprozess ergebende praktische Erfahrungswissen, der prägende Eindruck, den das Erlebnis der Kooperation zuvor zerstrittener Parteien bei der Beteiligten hinterlässt und die Motivation, die aus einem beigelegten Konflikt, einer gelungenen Einigung und vor allem einer versöhnten Beziehung erwächst, beeinflussen nicht
630 Zur Bedeutung des Perspektivwechsels in Verhandlung und Mediation vgl. BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. Eingehend hierzu auch oben S. 248 ff. 631 Hierzu Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 102, 116 ff. (1990). Vgl. zur Problematik des Nullsummenspiels auch oben S. 17, Fn. 59. 632 Hierzu eingehend Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. jeweils mwN.
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nur das Konfliktverhalten, sondern das Interaktionsverhalten der Parteien insgesamt.633 Die Erfahrung der Mediation und des mit ihr verbundenen Lern- und Transformationsprozesses ist für die Parteien grundsätzlich mit der Möglichkeit eines erheblichen persönlichen Wachstums, mit einer Verbesserung ihrer Artikulations- und Kommunikationsfähigkeit sowie ihrer emotionalen Kompetenz verbunden, die geeignet ist, ihr zukünftiges Verhalten nachhaltig zu verändern (Individual Autonomy Project)634. 3. Verhaltenssteuerung durch Partizipation an Planungsentscheidungen. Der Wandel der Konfliktkultur, der im weltweiten Durchbruch der Mediation als Alternative zum Zivilprozess und in der zunehmenden Institutionalisierung des Mediationsverfahrens im Rahmen der ADR-Bewegung zum Ausdruck kommt635, ist selbst Teil eines grundlegenden Wandels staatlichen Handelns, der durch einen weitgehenden Verzicht auf imperative Steuerung durch zwingendes Gesetzesrecht und den Rückgriff auf autonome Selbstregulierung gekennzeichnet ist. Der klassische Eingriffsstaat wird zunehmend zum kooperativen Verhandlungsstaat, der in immer weiterem Umfang die Partizipation der unmittelbar Beteiligten vorsieht.636 Dieser Prozess folgt zum einen dem Wandel des Rechts von formal-rationaler hin zu informal-materieller Rationalität, den wir bereits am Beginn unserer Untersuchung eingehend in den Blick genommen haben.637 Zum anderen ist er die notwendige Konsequenz aus der steigenden Komplexität der Lebenswirklichkeit, die durch hoch dynamische, multipolare und auf vielfältige Weise miteinander verwobene Rechtsbeziehungen
633 Dies freilich nur in dem Maße, in dem sich die Parteien tatsächlich für die Mediation öffnen. 634 Hierzu eingehend oben S. 567 ff. sowie Breidenbach, Mediation (1995), S. 123 ff., 224 ff. 635 Zum Institutionalisierungsprozess in den USA und den drei idealtypischen Phasen der Institutionalisierung von ADR Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). Vgl. hierzu auch eingehend oben S. 46 f. sowie unten S. 732 f. 636 Hierzu eingehend oben S. 38 ff. sowie Ritter, AÖR 104 (1979), 389; v. Alemann/ Heinze, Kooperativer Staat (1981); Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 558 ff.; Voigt (Hrsg.), Der kooperative Staat (1995); Böhret, in: Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung (1997), S. 119, 126 ff.; Treutner, Verhandlungsstaat oder kooperativer Staat? (1999); Frick, Der freundliche Staat (2001); Baer, Bürger im Verwaltungsrecht (2006), S. 93 f., 130 ff.; Pöllmann, Kooperativer Staat (2007). 637 Hierzu eingehend oben S. 34 ff. sowie Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 512. Vgl. auch Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 542, 558 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 18; Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 67 ff.; Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 366 ff.
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geprägt ist.638 Das System staatlicher Ziviljustiz ist mit der Verarbeitung derartiger Konflikte aufgrund der systemimmanenten Grenzen des an abstrakt-generellen Rechtsnormen orientierten Zivilprozesses regelmäßig überfordert. Die Probleme, die sich aus dem Zusammentreffen des gesteigerten Partizipationsbedürfnisses der Parteien auf der einen und den Defiziten herkömmlicher Konfliktbeilegungsmechanismen auf der anderen Seite ergeben, treten in besonderer Weise im Rahmen öffentlich-rechtlicher Bau- und Umweltplanung zutage. Wachsende Ansprüche im Hinblick auf die Partizipation an Entscheidungsprozessen, komplexe Abstimmung zwischen mehreren Planungsträgern, die Berücksichtigung der Interessen der Betroffenen, ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit an bedeutenden Planungsprojekten sowie zunehmend langwierigere und komplexere Planung- und Zulassungsverfahren stellen Planungsvorhaben in steigendem Maße vor neue Herausforderungen.639 Werden die Planungsprozesse den Erwartungen der Beteiligten und dem Anspruch an einen angemessenen Interessenausgleich nicht gerecht, kann dies zu Problemen bei der Akzeptanz der gefundenen Planungsentscheidung und zur Enttäuschung der Erwartungen der Betroffenen führen und die Planungsträger zur hoheitlichen Durchsetzung der getroffenen Entscheidung zwingen.640 Vor diesem Hintergrund wird daher auch im Rahmen von Planungsentscheidungen, welche die Einbeziehung unterschiedlicher Akteure erfordern, verstärkt auf die Möglichkeit der Steuerung komplexer Verhandlungsprozesse durch ein Mehrparteien-Mediationsverfahren zurückgegriffen.641 Die Mediation dient hier der Integration der Beteiligten in den konsensualen Entscheidungsprozess und dem ausgewogenen Ausgleich der betroffenen Interessen. Durch die Beteiligung am Planungsverfahren steigt die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen und wirkt sich damit auf das weitere Konfliktverhalten der Betroffenen aus, die im Fall einer umfassenden Partizipation am Entscheidungsprozess regelmäßig darauf verzichten werden, die Planungsentscheidung mit juristischen oder politischen Mitteln anzugreifen. Die Akzeptanz der Entscheidung erwächst dabei analog zur befriedenden Wirkung der Mediation zum einen in prozeduraler Hinsicht aus der partizipativen und fairen Ausgestaltung des Verfahrens selbst
638 Vgl. zum Problem der sog. polyzentrischen Konflikte eingehend Polanyi, The Logic of Liberty (1951), S. 170 ff.; Fuller, 54 Am. Soc'y Int'l L. Proc. 1, 2 ff. (1960); Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 393 ff. (1978) sowie oben S. 21. 639 Lee, in: Bückmann/Lee/Zieschank (Hrsg.), Steuerungsfunktionen von Recht, Politik, Planung (1999), S. 123. 640 Vgl. zur Mediation in Planfeststellungsverfahren eingehend Kanngießer, Mediation zur Konfliktlösung bei Planfeststellungsverfahren (2004), S. 36 ff., 44 ff., 57 ff. 641 Zur Bewältigung von multipolaren Verhandlungen und Mediationen eingehend Zartman, International Multilateral Negotiation (1994); Max, 23 Am. J. Trial Advoc. 269 (1999); Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 237, 253, 284 f.
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(Verfahrensgerechtigkeit), zum anderen in materieller Hinsicht aus der Qualität der Planungsentscheidung (Ergebnisgerechtigkeit), die regelmäßig in weitaus größerem Umfang, als dies im Rahmen herkömmlicher Planungsinstrumente möglich ist, die Interessen der Betroffenen in einem angemessenen Ausgleich berücksichtigen wird. (cc) Verlust der Steuerungsfunktion des Rechts durch Mediation? Zusammenfassend ergibt sich damit der Befund, dass dem Mediationsverfahren zwar in rechtlicher Hinsicht nur sehr eingeschränkt verhaltenssteuernde Wirkung zukommt und es insoweit kein funktionelles Äquivalent zum Zivilprozess bildet. Jedoch vermag die Mediation durch die Vermittlung von Rechtskenntnis, die Änderung des Konfliktverhaltens und die durch sie eröffnete Möglichkeit der Partizipation an Planungsentscheidungen auf nichtrechtlicher Ebene gleichwohl eine zentrale verhaltenssteuernde Funktion zu erfüllen. Allerdings stellt sich hier wie schon im Rahmen unserer Betrachtung der rechtsbewahrenden und rechtsfortbildenden Funktion des Zivilprozesses die Frage, ob die Förderung der Mediation nicht die verhaltenssteuernde Wirkung des Zivilverfahrens beeinträchtigt. Sie lässt sich indes mit Verweis auf unsere vorangegangenen Überlegungen verneinen. Die Verlagerung von Rechtsstreitigkeiten von der Ziviljustiz in die Hände der Parteien ist keineswegs ein „systemwidriger Unfall“, sondern der dem Privatrecht wesensmäßig eigene Normalfall.642 Darüber hinaus besteht kein Zweifel daran, dass auf einen erheblichen Teil richterlicher Urteile ohne wesentliche Einbuße an Steuerungsfähigkeit des Rechts verzichtet werden kann, weil auch der Grenznutzen gerichtlicher Urteile abnimmt, sobald die für die Steuerungswirkung des Rechts erforderliche kritische Masse erreicht ist.643 Die Mediation vermag den Zivilprozess in seiner Funktion der Verhaltenssteuerung nicht zu ersetzen, schadet ihm aber auch nicht. Sie geht vielmehr im nichtrechtlichen Bereich aufgrund der durch sie angestoßenen Lern- und Transformationsprozesse über die Möglichkeit der Verhaltenssteuerung des Zivilprozesses deutlich hinaus, der durch seinen verhaltenssteuernden Sanktionsmechanismus lediglich auf ein rechtskonformes Verhalten hinwirken kann.
642 Darauf hat insbesondere das Bundesverfassungsgericht in seinem viel beachteten Urteil hingewiesen. Vgl. hierzu BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren) („Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.“). 643 So ausdrücklich Wagner, JZ 1998, 836, 838.
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(c) Soziale Funktion des Zivilprozesses? Im Kontext der gesellschaftlichen Wirkungen des Zivilprozesses ist immer wieder die Frage diskutiert worden, ob und in welchem Umfang dem zivilgerichtlichen Verfahren eine „soziale Funktion“ zukommt. Hinter diesem Schlagwort verbirgt sich eine ganze Reihe unterschiedlicher Vorstellungen über die Funktion des Richters, seine Befugnis zur Behebung sozialer Missstände und seine Bindung an das Gesetzesrecht, die zuletzt in den 1970er Jahren verstärkt diskutiert worden sind.644 Im Zusammenhang mit der Institutionalisierung der Mediation und der Förderung konsensualer Streitbeilegungsverfahren auch im Rahmen des Zivilprozesses ist die Funktion des Richters als „Sozialingenieur“645 in den letzten Jahren wieder verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Der Begriff der sozialen Funktion des Zivilprozesses646 trägt dabei zur innerlichen Bestimmung dessen, was darunter eigentlich zu verstehen ist, nichts Wesentliches bei. Weil er eine ganze Reihe unterschiedlicher, sich zum Teil sogar widersprechender Vorstellungen in sich vereint, ist er eher irreführend und sollte daher vermieden werden.647 Dies gilt umso mehr, als er eine Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungsebenen in sich vereint: So lässt sich der Begriff in rechtlicher Hinsicht allein im Hinblick auf fünf wesentliche Dimensionen des Begriffs weiter differenzieren, wobei jeweils ganz unterschiedliche Aspekte des zivilgerichtlichen Verfahrens im Vordergrund stehen: (1) Die „soziale“ Reformgesetzgebung der ZPO-Novellen, (2) die Herstellung tatsächlicher Waffengleichheit, (3) die Berücksichtigung außerrechtlicher Gesichtspunkte, (4) die sozialpolitisch motivierte richterliche Entscheidung sowie (5) die Förderung der gütlichen Einigung. (aa) Die „soziale“ Reformgesetzgebung der ZPO-Novellen Der Begriff der sozialen Funktion des Zivilprozesses verweist in der ersten und historisch einflussreichsten Bedeutungsebene auf die soziale Prozessauffas-
644
Meyer, JR 2004, 1, 1 weist aber darauf hin, dass der Begriff häufig dazu diente, legislative Neuerungen zu rechtfertigen. 645 Hierzu Baur, JZ 1957, 193, 193 ff.; Freund, DRiZ 1981, 221, 222; Peters, Gütegedanke (2004), S. 51, 159. Vgl. auch Dölemeyer, in: Gouron (Hrsg.), Europäische und amerikanische Richterbilder (1996), S. 359 ff. 646 Klassisch hierzu Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse (2. Aufl. 1958), S. 14 ff. Vgl. auch Hagen, ZZP 84 (1971), 385; Schmidt, Zweck des Zivilprozesses (1973), S. 10 ff.; Wassermann, Der soziale Zivilprozeß (1978). Kritisch Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2 f.; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 16. 647 So auch Meyer, JR 2004, 1, 4.
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sung Franz Kleinʼs, die als Gegenentwurf zum liberalen Prozessmodell des Zivilprozessrechts auf eine aktive Rolle des Richters, die Beschränkung des Parteibetriebes und die damit einhergehende Herstellung tatsächlicher Chancengleichheit der Parteien gerichtet war.648 Sie ist aus der Kritik an der stark liberalistisch-individualistischen Grundhaltung der damals noch jungen deutschen Zivilprozessordnung entstanden. Die CPO von 1870 betrachtete den Zivilprozess nach französischem Vorbild ausschließlich als private Angelegenheit der Parteien, an der kein besonderes öffentliches Interesse besteht.649 Die Prozessführung einschließlich der Sachverhaltsaufklärung, der Zustellungen und Ladungen lag in den Händen der Parteien.650 Der Richter war auf eine passive Rolle beschränkt.651 Die Parteien traten, dem damaligen zur Zeit der Industrialisierung verbreiteten Gesellschaftsmodell des Liberalismus entsprechend, „im Kampf ums Recht“652 im freien Spiel der Kräfte gegeneinander an. Die gleiche Verhandlungsmacht der Parteien wurde dabei unterstellt. Die Radikalität dieses Prozessmodells, dessen staatlicher Minimalismus historisch durch das Bemühen um die Begrenzung richterlicher Macht als Ausübung staatlicher Gewalt begründet war, stieß indes schon bald auf Kritik.653 Insbesondere die unterstellte Annahme formaler Gleichheit erwies sich als nicht verantwortbare Fiktion: Denn gravierende Unterschiede in Bildung und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ließen das Idealbild prozessualer Waffengleichheit in der Rechtswirklichkeit zur Makulatur werden und schlossen in tatsächlicher Hinsicht insbesondere sozial schwächere Bevölkerungsgruppen von der Teilhabe an der Rechtsdurchsetzung, am Zugang zum Recht aus.654 Im Anschluss an Menger sah daher Klein, der Begründer der österreichischen Zivilprozessordnung, die Aufgabe des Zivilprozesses als „unentbehrliche staatliche Wohlfahrtseinrichtung“655 darin, die tatsächlichen Nachteile sozial schwacher Parteien durch eine aktive Prozessleitung des Richters, die Einführung der Wahrheitspflicht und die Begrenzung des Parteibetriebes auszugleichen und so tatsächliche Waffengleichheit herzustellen.656 Die Notwendigkeit entsprechender Reformen wurde bald auch für das deutsche Zivilverfahrensrecht erkannt und in einer Reihe von Novellen umgesetzt: Dazu gehörten der Amtsbetrieb für Ladungen und Zustellungen sowie die Stärkung des Richters im amtsgerichtlichen Verfahren durch die Amtsgerichtsno-
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Vgl. nur Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse (2. Aufl. 1958), S. 14 ff. Meyer, JR 2004, 1, 1. 650 Meyer, JR 2004, 1, 1. 651 Meyer, JR 2004, 1, 1. 652 v. Ihering, Der Kampf um's Recht (1872), S. 11, 45. 653 Meyer, JR 2004, 1, 1. 654 Meyer, JR 2004, 1, 1. 655 Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse (2. Aufl. 1958), S. 25. 656 Meyer, JR 2004, 1, 1. 649
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velle von 1909, die Ausweitung der richterlichen Befugnisse zur Verfahrensbeschleunigung und -konzentration, weitere Präklusionsvorschriften und die Abschaffung der Parteiherrschaft über Termine und Fristen durch die Novelle von 1924, die Einführung der Wahrheitspflicht und die weitere Stärkung der richterlichen Prozessleitung durch die Novelle von 1933, die Vereinfachung, Beschleunigung und Konzentration des Verfahrens durch die Vereinfachungsnovelle von 1970, die Schaffung eines umfassenden Prozesskostenhilferechtes durch die Reformgesetzgebung von 1980 und schließlich die Ausweitung der Präklusionsvorschriften, die Stärkung der ersten Instanz und der materiellen Prozessleitung des Richters, die Ausweitung der Hinweispflicht des Gerichtes sowie die Förderung der gütlichen Streitbeilegung durch die große Zivilprozessreform von 2001.657 m Ergebnis dieser Entwicklung hat sich der Charakter des deutschen Zivilprozessrechts grundlegend geändert und dem österreichischen Modell Franz Kleins angenähert, hat sich die herrschende Prozessauffassung vom liberalen hin zum sozialen Zivilprozess gewandelt.658 Der heutige Zivilprozess der ZPO erfüllt daher eine „soziale Funktion“ in dem Sinne, dass er in Umsetzung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Prozessgrundrechte den Parteien unabhängig von ihrem sozialen Status und ihren materiellen wie immateriellen Ressourcen eine auch in tatsächlicher Hinsicht gleiche Chance der Mitwirkung am zivilgerichtlichen Verfahren und damit den gleichen Zugang zum Recht ermöglicht.659 (bb) Herstellung tatsächlicher Waffengleichheit Vor diesem Hintergrund können auch kompensatorische Bemühungen des Richters um einen Ausgleich bestehender Machtungleichgewichte und die Herstellung tatsächlicher Waffengleichheit als Realisierung der sozialen Funktion des Zivilprozesses gekennzeichnet werden.660 Sie stellen in keiner Weise eine die richterliche Neutralität beeinträchtigende sozialpolitische Anmaßung dar, sondern sind im Gegenteil Ausdruck der verfassungsrechtlich gebotenen Handlungspflichten des Richters. Denn als Gesetz und Recht verpflichtetem Träger staatlicher Gewalt obliegt es dem Richter als ureigenste Pflicht, die Voraussetzungen für ein rechtsstaatlich verantwortbares und damit auch richtiges Urteil zu schaffen. Die Handlungspflichten des Richters sind im Rahmen der materiellen Prozessleitung nach § 139 ZPO einfachgesetzlich ausgestaltet und wurden im Rahmen der großen Zivilprozessreform von 2002 Münchener,
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Meyer, JR 2004, 1, 2 f. Vgl. hierzu eingehend Zöller/Vollkommer (31. Aufl. 2016), Einl. Rn. 2 ff. 658 Meyer, JR 2004, 1, 3 f. 659 Meyer, JR 2004, 1, 4 f., 6. 660 Hierzu Meyer, JR 2004, 1, 2.
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MünchKomm, 2016, nochmals ausgeweitet.661 So hat das Gericht auf Gesichtspunkte, die eine Partei übersehen oder für unerheblich gehalten hat, ausdrücklich hinzuweisen und ihr Gelegenheit zur Äußerung zu geben (§ 139 Abs. 2 S. 1 ZPO). Darüber hinaus hat es die Parteien auf Bedenken aufmerksam zu machen, die hinsichtlich der von Amts wegen zu berücksichtigenden Punkte bestehen (§ 139 Abs. 3 ZPO). (cc) Die Berücksichtigung außerrechtlicher Gesichtspunkte In einem weiteren Schritt kann die soziale Funktion des Prozesses indes auch darin gesehen werden, dass sich der Richter nicht lediglich auf die rechtliche Entscheidung eines vergangenen Sachverhaltes beschränkt, sondern sich darüber hinaus zur Gestaltung zukünftiger Rechtsverhältnisse berufen fühlt.662 In vielen Fällen eröffnet das Gesetz selbst den Gerichten diese Möglichkeit. Soweit eine rechtsgestaltende Tätigkeit des Richters durch ausdrückliche Befugnisnormen des Gesetzes gedeckt ist, bestehen insoweit keine Bedenken. Im Übrigen steht einer Einflussnahme des Richters schon die richterliche Gesetzesbindung entgegen (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG).663 Problematisch wird die Tätigkeit des Richters daher dort, wo sie nicht mehr nur eine rechtsanwendende, sondern eine schlichtende Funktion erfüllt, bei der die Entscheidung des Richters nicht auf die Anwendung des materiellen Rechts, sondern auf außerrechtliche Gründe gestützt wird. Dies betrifft in besonderer Weise die in der Weimarer Zeit aufgekommenen sogenannten „Regelungsstreitigkeiten“, bei denen dem Richter bei einer gelockerten Gesetzesbindung ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt wird. Davon unberührt bleibt freilich die Befugnis der Gerichte zur Auslegung der gesetzlichen Generalklauseln, der unbestimmten Rechtsbegriffe und der Entwicklung neuer Rechtsinstitute im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung. Darüber hinaus kann die Untätigkeit des Gesetzgebers im Einzelfall auch die „richterliche Ersatzgesetzgebung“ erforderlich machen, wie dies etwa im Arbeitsrecht geschehen ist. Allerdings müssen derartige Eingriffe auf den Ausnahmefall beschränkt bleiben. Hier wird dem Richter regelmäßig schon die erforderliche Sachkenntnis fehlen, um eine angemessene Entscheidung treffen zu können. Zudem ermöglicht der Zivilprozess durch die verfremdende Verrechtlichung des Konfliktes lediglich den Zugang zu einem kleinen Ausschnitt
661 Meyer, JR 2004, 1, 3. Zur ZPO-Reform 2002 eingehend MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 138 ff.; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn 77. 662 Meyer, JR 2004, 1, 4. 663 Meyer, JR 2004, 1, 4, der die zukunftsgestaltende Tätigkeit des Richters indes für bedenklich hält.
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aus der Vielzahl unterschiedlicher Konfliktdimensionen und ist für die Berücksichtigung außerrechtlicher Gesichtspunkte daher nicht das geeignete Forum. (dd) Die sozialpolitisch motivierte richterliche Entscheidung Wird die Entscheidungsfreiheit des Richters weiter ausgedehnt und die Gesetzesbindung weiter gelockert, so beginnt der Bereich, in dem das richterliche Handeln mit dem der Rechtsprechung übertragenen Verfassungsauftrag nicht mehr vereinbar ist. Hierzu zählt die Vorstellung vom „politischen Richter“664 oder dem „Richter als Sozialingenieur“665, wobei unklar bleibt, was darunter konkret zu verstehen ist. Insbesondere ist nicht ersichtlich, worin die soziale Tätigkeit des Richters besteht, wenn sie sich nicht lediglich in der Kompensation bestehender Machtungleichgewichte erschöpfen soll.666 Zwar ist die richterliche Tätigkeit stets „politische Tätigkeit“ in dem Sinn, dass sie sich niemals vollständig einer subjektiven Wertung enthalten kann, weil das Gesetzesrecht selbst von politischen Wertentscheidungen getragen und Ergebnis eines politischen Entscheidungsprozesses ist. Die dem Gesetz zugrunde liegenden – politischen – Wertentscheidungen des Gesetzgebers bilden den Rahmen, der vom Gericht innerhalb der teleologischen Interpretation zu berücksichtigen ist. Und freilich werden auch dort, wo das Gesetz dem Richter – wie etwa im Rahmen der Generalklauseln sowie der unbestimmten Rechtsbegriffe – einen weiten Entscheidungsspielraum zubilligt, Wertungs- und damit im weitesten Sinne auch sozialpolitische Fragen eine Rolle spielen. Dies betrifft in besonderer Weise Billigkeitserwägungen, weil hinter dem Ruf nach dem Richter als Sozialingenieur im Kern letztlich die uralte Frage nach der Gerechtigkeit steht. Und die Frage nach der Gerechtigkeit ist keineswegs ein Gesichtspunkt, der einer richterlichen Entscheidung nicht zugänglich wäre, sondern betrifft im Gegenteil vielmehr das Wesen und den Kern des richterlichen Rechtsprechungsauftrages. So ist etwa die Bürgschaftsrechtsprechung des Bundesgerichtshofs zweifellos „sozialpolitisch“ motiviert. Und doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Bindung des Richters nicht nur an das Recht, sondern auch an die Gerechtigkeit die Berücksichtigung der tatsäch-
664 Eingehend hierzu Heyde, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdBVerfR (2. Aufl. 1994), S. 1579, 1631 f. sowie Wassermann, Richter, Reform, Gesellschaft (1970), S. 97 f.; Wassermann, Der politische Richter (1972), S. 107, passim. 665 Hierzu Baur, JZ 1957, 193, 193 ff.; Freund, DRiZ 1981, 221, 222; Peters, Gütegedanke (2004), S. 51, 159. Vgl. auch Dölemeyer, in: Gouron (Hrsg.), Europäische und amerikanische Richterbilder (1996), S. 359 ff. 666 Diese werden bereits durch das bestehende Zivilverfahrensrecht, insbesondere die materielle Prozessleitungsbefugnis des Richters, die richterliche Hinweispflicht nach § 139 ZPO sowie das Prozesskostenhilferecht weitgehend ausgeglichen.
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lichen Machtverhältnisse der Beteiligten erfordert. Betrachten wir die Regelungen des materiellen Privatrechts näher, so stellt sich heraus, dass der „soziale Ausgleich“ nicht den Ausnahme-, sondern den Regelfall darstellt: „Die Schöpfer des Bürgerlichen Gesetzbuchs gingen zwar, auch wenn sie verschiedene Schutznormen für den im Rechtsverkehr Schwächeren geschaffen haben, von einem Modell formal gleicher Teilnehmer am Privatrechtsverkehr aus, aber schon das Reichsgericht hat diese Betrachtungsweise aufgegeben und ‚in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt‘ …. Heute besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs taugt und daß der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört. … Im Sinne dieser Aufgabe lassen sich große Teile des Bürgerlichen Gesetzbuchs deuten.“667
Freilich muss sich die kompensatorische Tätigkeit des Richters innerhalb der vom Gesetzgeber gezogenen Grenzen des materiellen Rechts bewegen: Soweit der soziale Ausgleich vom Gesetz selbst vorgenommen wird, in der Anwendung der entsprechenden Vorschriften. Soweit das Gesetz dem Richter im Rahmen der Generalklauseln oder der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe einen Entscheidungsspielraum überlässt, in der ordnungsgemäßen Ausübung dieses Entscheidungsspielraums.668 Dabei werden regelmäßig „sozialpolitisch relevante“ Erwägungen in Form von Wertentscheidungen und Billigkeitserwägungen einfließen und einfließen müssen. Diese Überlegungen zeigen, wie schwierig die Abgrenzung zwischen unzulässiger politischer Betätigung und notwendiger wertender Entscheidung des Richters ist. Die Abgrenzungsschwierigkeiten zeigen indes einmal mehr die Problematik, die mit dem weitgehend inhaltsleeren Begriff vom „sozialen Zivilprozess“ einhergeht. Dabei ist das Problem weniger gravierend, als es auf den ersten Blick erscheint. Denn im Grundsatz ist die Reichweite richterlicher Tätigkeit und damit auch die Funktion des Zivilprozesses geklärt: Während auf der einen Seite unbestritten ist, dass der Richter schon aufgrund seiner Gerechtigkeitsbindung zu wertenden Entscheidungen befugt sein muss und dabei notwendig auch „soziale“ Aspekte der Billigkeit einfließen müssen, so kann auf der anderen Seite nicht bezweifelt werden, dass er im Hinblick auf Tagesfragen einem Zurückhaltungs- und Mäßigungsgebot unterliegt.669 Als Diener des gesamten Volkes ist er in Ausübung der richterlichen Gewalt politisch neutral, und es ist ihm deshalb verwehrt, seine persönlichen politischen Überzeugungen in seine Entscheidungen einzubringen.670 Die verfassungsrechtlich garantierte richterliche Unabhängigkeit ist kein Freibrief zu politischer Betätigung, sondern erwächst 667
BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38 f. (Bürgschaft). Meyer, JR 2004, 1, 4. 669 Eingehend hierzu Haas, in: Gilles (Hrsg.), Prozeßrecht an der Jahrtausendwende (1999), S. 33, 36; Meyer, JR 2004, 1, 4; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke/Hopfauf, GG (13. Aufl. 2014), Art. 92 Rn. 22. 670 Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke/Hopfauf, GG (13. Aufl. 2014), Art. 92 Rn. 22. 668
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gerade aus der engen Gesetzesbindung des Richters. Allerdings wird und muss der Richter der dem Gesetz wie auch der Verwirklichung der Gerechtigkeit verpflichtet sein (Art. 20 Abs. 3 GG), die stets eine – auch soziale – Wertungsfrage bleiben wird. (ee) Die Förderung der konsensualen Konfliktbeilegung Zunehmend wird die soziale Funktion des Zivilprozesses allerdings vor allem darin gesehen, dass der Richter neben seiner streitentscheidenden Rolle in immer stärkerem Maße vermittelnde Funktionen übernimmt und im Rahmen des Rechtsstreits auf die konsensuale Beilegung des Konfliktes im Wege einer gütlichen Einigung der Parteien hinwirkt.671 Als „Sozialingenieur“672 wird von ihm dabei erwartet, sich nicht lediglich auf die Entscheidung der Rechtsfrage zu beschränken, sondern stattdessen den Konflikt als Ganzes mit seinen emotionalen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekten in den Blick zu nehmen. Die Aufgabe des Richters als Vermittler bzw. Mediator spielt insbesondere im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation eine zentrale Rolle.673 Allerdings ist die konsensuale Konfliktbeilegung keine eigentliche Funktion des Zivilprozesses, sondern betrifft stattdessen mit der Integration des Mediationsverfahrens in den Zivilprozess das Verhältnis zwischen verschiedenen Verfahrensarten. Wenn in diesem Zusammenhang von der „sozialen Funktion des Zivilprozesses“ die Rede ist, geht es daher in Wahrheit nicht um das gerichtliche Verfahren, sondern um die „soziale Funktion des Mediationsverfahrens“. Damit stellt sich die Frage, ob die Mediation ebenfalls über eine „soziale Funktion“ verfügt und wie diese gegebenenfalls beschaffen ist. Lösen wir uns von dem weitgehend inhaltsleeren sozialen Funktionsbegriff und wenden wir den Blick auf die Funktionen und Wirkungen des Mediationsverfahrens, so ergeben sich eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze. Während die Mediation im Rahmen des Service Delivery Project674 auf eine effektive Konfliktbeilegung
671
Meyer, JR 2004, 1, 3. Hierzu Baur, JZ 1957, 193, 193 ff.; Freund, DRiZ 1981, 221, 222; Peters, Gütegedanke (2004), S. 51, 159. Vgl. auch Dölemeyer, in: Gouron (Hrsg.), Europäische und amerikanische Richterbilder (1996), S. 359 ff. 673 Vgl. hierzu eingehend v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 61 ff., 235 ff. sowie für die Modellprojekte in Deutschland Greger, ZRP 2006, 229; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006); Greger, Abschlussbericht (2007); Spindler, ZKM 2007, 79; Greger, ThürVBl. 2010, 6; Greger, AnwBl. 2013, 504; Klamt/Moltmann-Willisch, ZKM 2013, 112. Für gerichtsverbundene Mediationsprogramme in den USA (court-annexed mediation, court-connected mediation) vgl. instruktiv Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 52 ff.; Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 63 ff. 674 Vgl. hierzu oben S. 560 ff. sowie grundlegend Breidenbach, Mediation (1995), S. 120 f., 213 ff. 672
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ausgerichtet ist, dient sie im Access to Justice Project675 der Verringerung der Zugangsbarrieren zum Recht, der Stärkung strukturell schwächerer Parteien und dem Schutz subjektiver Rechte. Indem sie durch Vermittlung der für eine effektive Konfliktbeilegung notwendigen Kompetenzen zum persönlichen Wachstum der Beteiligten beiträgt (empowerment), befähigt sie auch strukturell schwächere Parteien zu einer tatsächlichen Ausübung der ihnen zukommenden Privatautonomie und ermöglicht so eine effektive Konfliktbeilegung durch privatautonomes Handeln (Individual Autonomy Project)676. Die durch die Transformierung der Parteibeziehung vermittelte Versöhnung der Parteien und die Befriedung des Konfliktes (Reconciliation Project)677 bilden die Grundlage für eine Veränderung der Konfliktkultur, die mit einer Stärkung des Community-Gedankens und der Förderung gesellschaftlicher Reformen einhergehen kann (Social Transformation Project)678. Und schließlich führt die Mediation zu einer deutlichen Senkung der materiellen wie auch immateriellen Konfliktbehandlungs- und Konfliktkosten und vermag so eine erhebliche gesellschaftliche Wirkung zu entfalten. Das Mediationsverfahren erweist sich damit im Vergleich zum Zivilprozess als außerordentlich leistungsfähiges Instrument zur Verfolgung sozialer Ziele. Im Vergleich hierzu bleiben die entsprechenden Möglichkeiten im Rahmen des Zivilprozesses aufgrund der Gesetzesbindung des Richters beschränkt: Eine „soziale Funktion“ im Sinn der Berücksichtigung außerrechtlicher Gerechtigkeitserwägungen vermag er lediglich im Rahmen der Auslegung von Generalklauseln, unbestimmten Rechtsbegriffen und der richterlichen Rechtsfortbildung zu erfüllen. Sind dem Richter diese Handlungsoptionen zu eng, verbleibt ihm die Möglichkeit, die Parteien auf das Mediationsverfahren zu verweisen. bb) Struktur In den vorangegangenen Abschnitten haben wir die unterschiedlichen Funktionen untersucht, die der Zivilprozess im Hinblick auf die drei Wirkbereiche des Konfliktes, der Rechtsordnung und der Gesellschaft erfüllt. Auf den Ergebnissen unserer Überlegungen aufbauend wollen wir im Folgenden nun die Struktur und Verfahrenseigenschaften in den Blick nehmen, aus denen sich diese Funktionen ergeben, und sie zu den jeweiligen Verfahrensfunktionen in
675 Vgl. hierzu S. 122 f., 232 ff. 676 Vgl. hierzu S. 123 ff., 224 ff. 677 Vgl. hierzu S. 130 ff., 188 ff. 678 Vgl. hierzu S. 130 ff., 188 ff.
oben S. 563 ff. sowie grundlegend Breidenbach, Mediation (1995), oben S. 567 ff. sowie grundlegend Breidenbach, Mediation (1995), oben S. 569 ff. sowie grundlegend Breidenbach, Mediation (1995), oben S. 569 ff. sowie grundlegend Breidenbach, Mediation (1995),
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Beziehung setzen. Ziel ist es, auf diese Weise Einsichten in die Leistungsfähigkeit des Zivilprozesses als Instrument der Konfliktbehandlung im Rahmen einer allgemeinen Verfahrens- und Konfliktbehandlungslehre zu gewinnen. Im Ergebnis sollen das Verhältnis zwischen Mediationsverfahren und dem Zivilprozess geklärt und Richtlinien für die Verfahrenswahl entwickelt werden. (1) Heteronomie Der Zivilprozess gehört als Verfahren der autoritativen Drittentscheidung zur Trias der drei idealtypischen Primärverfahren der Streitbeilegung. Im Kontinuum der Streitbeilegungsverfahren, die sich voneinander durch den Grad der Privatautonomie bei der Verfahrensleitung (process control) und Entscheidungsfindung (substance control) unterscheiden, bildet der heteronome, formale Zivilprozess das komplementäre Gegenstück zur privatautonomen, informalen Verhandlung und damit ihren spiegelbildlich entgegengesetzten Pol. Beide Verfahren stehen im wechselseitigen Spannungsverhältnis struktureller Komplementarität, das sich aus der Polarität ihres Wesens ergibt. Als Erscheinungsformen informal-materieller und formal-rationaler Rationalität im Sinne Max Webers finden beide Verfahren ihr Urbild (είδος) in der Dichotomie von Formalität und Informalität, die im Verlauf der Geschichte ganz unterschiedliche Formen angenommen haben und zwischen denen das Recht durch alle Epochen hindurch oszilliert.679 Weil sie in ihrer Struktur die Kehrseite des jeweils anderen bilden, können sie durch ihre jeweiligen Stärken die Schwäche des jeweils anderen Verfahrens idealtypisch ausgleichen. Als komplementäres Gegenstück zu Verhandlung und Mediation ist der Zivilprozess als heteronomes Verfahren der autoritären Drittentscheidung im Hinblick auf die Verfahrensgestaltung und das materielle Ergebnis der Sachentscheidung weitgehend fremdbestimmt.680 Zwar können die Parteien als Herren des Verfahrens (domini litis) den Zivilprozess in Gang setzen und beenden sowie durch ihre Mitwirkung und das Stellen von Anträgen auf seinen weiteren Fortgang Einfluss nehmen. Ist das gerichtliche Verfahren allerdings erst einmal durch Klageerhebung in Gang gesetzt, liegt die Prozessleitung weitgehend in den Händen des Richters und wird entsprechend der verfahrensrechtlichen Vorgaben fortgesetzt.681 Auch auf die gerichtliche Sachentscheidung haben die
679 Vgl. hierzu oben S. 579 ff. sowie grundlegend Breidenbach, Mediation (1995), S. 132 ff., 242 ff. 680 Vgl. hierzu oben S. 129 ff., 140 ff. 681 Zur Eigendyanmik des zivilgerichtlichen Verfahrens aus rechtssoziologischer Perspektive eingehend oben S. 15, 22 ff. sowie „character contest“ der Parteien eingehend Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff. Vgl. dazu auch Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58.
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Parteien nur mittelbar Einfluss.682 Durch ihren Sach- und Rechtsvortrag stellen sie dem Gericht den für eine Sachentscheidung notwendigen Prozessstoff zur Verfügung und bereiten so das richterliche Urteil vor. 1. Konflikt. Die Heteronomie des Zivilprozesses ergibt sich dabei notwendig aus dem Wesen und dem Zweck des Zivilprozesses als Instrument der Durchsetzung materiellen Rechts, das zu seiner Feststellung, Gestaltung und Durchsetzung einer eindeutigen Letztentscheidung bedarf. Auf diese Weise dient die heteronome Entscheidungsstruktur des Zivilprozesses der Rechtsschutzfunktion des gerichtlichen Verfahrens und dem effektiven Schutz der subjektiven Rechte der Parteien. Weil die Gewährleistung subjektiver Rechte und damit die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit nicht von der Zustimmung der anderen Partei abhängen darf, bedarf effektiver Rechtsschutz des Zwanges als ultima ratio. Unter den Bedingungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität bedarf es des wehrhaften Rechtes, um den der objektiven Rechtsordnung zugrunde liegenden Wertgrundsätzen zur Durchsetzung zu verhelfen. Weil der Einzelne aufgrund der Neigung, die eigenen Interessen über die des anderen zu stellen, auf sich selbst zurückgeworfen ist, reicht die Orientierungsfunktion des Rechts für die Motivation zu rechtskonformem Handeln nicht aus. Die jedenfalls grundsätzliche Richtigkeit des materiellen Rechtes, die Notwendigkeit eines beiderseitigen Interessenausgleichs und das hohe Gut der Verwirklichung der Gerechtigkeit bilden keine hinreichend starke Motivation für rechtskonformes Verhalten des Einzelnen, weil die durch das lumen rationis vermittelte Einsicht in das richtige Handeln durch die stets vorhandene Neigung zur rücksichtslosen Durchsetzung der eigenen Interessen verdunkelt wird. Daher bedarf seine Durchsetzung des scharfen Schwertes staatlicher Justiz. Die zur Justizgewährungspflicht verdichtete Befugnis zur richterlichen Entscheidung erwächst dabei aus der Notwendigkeit autoritativer Streitbeilegung aufgrund des Verbotes der Selbsthilfe und dem daraus erwachsenden staatlichen Gewaltmonopol.683 Die verbindliche richterliche Entscheidung schafft darüber hinaus Rechtsgewissheit. Indem das Gericht das materielle Recht auf den konkreten Einzelfall anwendet, abstraktes Gesetzesrecht in lebendes Recht transformiert und so konkretisiert, wird die Ungewissheit über die Frage, welcher der beiden Teile
682 Zum Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit adversarialer Konfliktbeilegung eingehend oben S. 27 ff. 683 Eingehend hierzu Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse (2. Aufl. 1958), S. 4 ff. Vgl. auch MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 18; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 6; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 9 sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 1; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 1; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 6.
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im Recht ist, durch eine endgültige und für die Beteiligten verbindliche Entscheidung geklärt.684 Aufgrund der zivilprozessualen Beweislastregeln ist es dem Gericht auch bei einem unklaren oder streitigen Sachverhalt möglich, Rechtsgewissheit zu schaffen. Die Notwendigkeit, das gerichtliche Verfahren auch in diesen Fällen durch ein eindeutiges und verbindliches Urteil zu beenden, steht dabei der Wahrheitsfunktion685 des Prozesses keinesfalls entgegen. Denn mit dem rechtskräftigen Urteil, dessen Feststellungswirkung auch den Tatbestand erfasst, wird keine Aussage über das tatsächliche Geschehen, sondern lediglich über die Überzeugung des Gerichtes vom wahrscheinlichen Sachverhalt getroffen. Weil die Möglichkeiten des zivilprozessualen Verfahrens zur Aufklärung des tatsächlichen Sachverhaltes aufgrund der notwendigen Mitwirkung der Parteien sowie der zur Verfügung stehenden Zeit und Mittel begrenzt sind, wird eine vollständige Aufklärung des Sachverhaltes nur im Ansatz gelingen können.686 Der Begriff der „formellen Wahrheit“ verweist auf dieses Problem: Nicht, indem er einem subjektivierenden Relativismus das Wort redet, sondern indem er in realistischer Erfassung der tatsächlichen Möglichkeiten prozessualer Sachverhaltsaufklärung darauf verweist, dass der vom Gericht festgestellte Sachverhalt lediglich eine Annäherung bzw. Näherungslösung an den tatsächlichen Sachverhalt sein kann. Beruht die Entscheidung auf der Anwendung von Beweislastregeln, so ist von vornherein klargestellt, dass damit kein Urteil über den tatsächlichen Sachverhalt getroffen wird, sondern die Entscheidung – ähnlich einer Losentscheidung – auf der Anwendung gesetzlich vorgegebener Grundwertungen über die jeweiligen Risikosphären der Beteiligten im Rechtsverkehr beruht. Mit der Durchsetzung der subjektiven Rechtsansprüche des Einzelnen dient der Zivilprozess zugleich der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit, indem der Gerechtigkeitsgehalt materiell-rechtlicher Regelungen und der durch sie getroffene typisierte Interessenausgleich realisiert und in Rechtswirklichkeit umgesetzt wird. Dies bedarf dort, wo die übrigen Konfliktbeteiligten ihre Mitwirkung verweigern, der zwangsweisen Durchsetzung durch eine autoritäre,
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Zum Prozesszweck des Schaffens von Rechtsgewißheit eingehend oben S. 631 f. sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 2; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545, 545 f. Differenzierend Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 17. 685 Hierzu eingehend oben S. 632 ff. sowie Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950), S. 106; Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozess (1966), S. 16 ff. Differenzierend Gaul, in: Yıldırım (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen (2001), S. 68, 84). Hierzu eingehend Gaul, AcP 168 (1968), 27, 34. Skeptisch Jauernig, JuS 1971, 329, 330. Differenzierend Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 11. 686 Hierzu instruktiv Greger, JZ 1997, 1077, 1082. Vgl. auch oben S. 20 f., zur komplexitätsreduzierenden Verrechtlichung oben S. 15 ff.
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heteronome Drittentscheidung des Richters. Die durch die verbindliche Entscheidung des Richters vermittelte Gerechtigkeitsfunktion des Zivilprozesses beruht dabei nicht ausschließlich auf der subsumptionsmäßigen Anwendung der gesetzlichen Normen, sondern darüber hinaus auch auf der billigen Berücksichtigung der besonderen Umstände des konkreten Einzelfalls. Innerhalb der heteronomen Entscheidungsstruktur des Richters begegnen wir auf der Rechtsanwendungsebene wieder der bekannten Dichotomie zwischen Formalität und Informalität, die auch das Verhältnis zwischen Mediation und Zivilprozess auf der Verfahrensebene kennzeichnet.687 Allerdings muss, wie wir gesehen haben, die autoritative Durchsetzung des Rechts durch richterliches Urteil im Rechtsstaat ultima ratio bleiben und ist gegenüber der konsensualen Streitbeilegung stets subsidiär. Die Subsidiarität des Zivilprozesses ergibt sich dabei nicht nur aus seinem Zwangscharakter, sondern darüber hinaus auch aus seinen materiellen und prozeduralen Defiziten. Wie wir ebenfalls gesehen haben, bleibt die Qualität des gerichtlichen Urteils aufgrund der systemimmanenten Grenzen abstrakt-generellen Rechts hinter den Möglichkeiten interessenorientierter Konfliktbehandlung und gerade der Mediation weit zurück.688 Darüber hinaus ist der streitige Zivilprozess aufgrund seiner eskalierenden und für die Parteien belastenden Verfahrenswirkung für eine dauerhafte, nachhaltige und ursächliche Beilegung des Konfliktes nur eingeschränkt geeignet.689 2. Rechtsordnung. Indem der Richter durch seine verbindliche Entscheidung die subjektiven Rechte der Parteien feststellt, gestaltet und durchsetzt, trägt er zugleich zur Bewährung der objektiven Rechtsordnung bei.690 Dabei ist der Zivilprozess nur eines von mehreren Instrumenten zur Verwirklichung der dem Gesetzesrecht zugrunde liegenden Wertprinzipien. Das Recht ist zu seiner Verwirklichung auf die Mitwirkung des Einzelnen als Teil der Rechtsgemeinschaft angewiesen. Eine Rechtsordnung, die als autoritäres Herrschaftssystem auf Zwang angewiesen ist und der jegliche innere Evidenz fehlt, ist auf Dauer nicht tragfähig. Damit kommt der Orientierungsfunktion des Rechts und der inneren Einsicht der Rechtsunterworfenen in die Sinnhaftigkeit rechtlicher Regelungen
687
Vgl. hierzu eingehend oben S. 33 ff. Vgl. hierzu eingehend oben S. 12 ff. 689 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses vgl. oben S. 160 ff., 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 285; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 11 ff. 690 Vgl. hierzu eingehend oben S. 637 ff. Für die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilverfahrens als Prozesszweck Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 2 f.; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2. A.A. MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 8; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 3 ff. Eingehend hierzu Gaul, AcP 168 (1968), 27, 37 ff., 59 f. 688
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eine zentrale und für das Rechtssystem tragende Bedeutung zu.691 Freilich steht außer Frage, dass die Rechtsordnung zu ihrer Verwirklichung auch der Durchsetzung im Wege des autoritativen Zwanges bedarf. Dies nicht zuletzt aufgrund der Zerrissenheit des Einzelnen, der zwischen der Einsicht in die Richtigkeit rechtskonformen Handelns auf der einen und der Verwirklichung seiner eigenen Interessen auf der anderen Seite hin- und hergerissen ist und dessen Zugang zum lumen rationis692 durch die Eigennützigkeit seiner Motivation immer wieder verdunkelt wird.693 Vor diesem Hintergrund bedarf nicht nur die Mediation, sondern auch die tägliche Rechtspraxis der stets offenen Option der verbindlichen Entscheidung des Richters, des (wehrhaften) Rechts, in dessen Schatten bzw. Licht sie sich vollziehen. Auf diese Weise kann der Zivilprozess, Fissʼ Verständnis entsprechend694, zum maßgeblichen Instrument gesellschaftlicher Transformation werden, dessen Aufgabe vor allem darin besteht, die defizitäre Lebenswirklichkeit mit dem der Verfassung zugrunde liegenden Staatsund Gesellschaftsideal in Einklang zu bringen und sie so zu verwirklichen. Dem Mediationsverfahren fehlt, wie wir gesehen haben, aufgrund seiner autonomen konsensualen Entscheidungsstruktur die Fähigkeit zur rechtsbewährenden sozialen Transformation. Die Bewährung der objektiven Rechtsordnung ist hier weitgehend auf die Auseinandersetzung mit den dem materiellen Recht zugrunde liegenden Wertungen im Rahmen der Untersuchung der Nichteinigungsoptionen sowie die Entwicklung der Einigungsalternativen beschränkt. Die Heteronomie der richterlichen Entscheidung ermöglicht darüber hinaus die verbindliche Auslegung des materiellen Rechts, die Subsumption des Sachverhaltes unter die einschlägigen Rechtsnormen und damit die Konkretisierung des Rechts, die dadurch auch über den Bereich des unmittelbaren Konfliktes hinaus Orientierungswirkung entfaltet. Indem das Gericht letztverbindlich neue Rechtsfragen entscheidet, das Gesetzesrecht autoritativ ausgelegt und legislative Lücken durch die Entwicklung richterlicher Rechtsinstitute schließt, trägt es durch die heteronome Struktur seiner Entscheidungen zur Sicherung
691 Zur Orientierungsfunktion des materiellen Rechts als Maßstab der Einigungsentscheidung der Parteien im Mediationsverfahren eingehend oben S. 293 ff. 692 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 101, Fn. 405. 693 Vgl. hierzu Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1 ff, Lk 6, 31; v. Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis (3. Aufl. 1982), S. 64 ff. 694 Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273, 1277 (2009), Vgl. hierzu oben 641 f. sowie zur sog. Owen M. Fiss-Debatte eingehend oben S. 552 ff.
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der Rechtsfortbildung695 und damit zugleich zur Gewährleistung von Rechtssicherheit696 und Rechtseinheit697 bei. 3. Gesellschaft. Die verbindliche Entscheidung des Gerichts ermöglicht schließlich auch die Herstellung und Wahrung des Rechtsfriedens698, indem sie den Rechtsstreit endgültig beendet, den Prozessverlierer durch die Verstrickung in das rituelle Rollenspiel des Verfahrens sozial isoliert und dadurch zur Hinnahme des Urteils motiviert. Die Heteronomie der richterlichen Entscheidung ist dabei freilich keineswegs Ausdruck gerichtlicher Willkür. Im Gegenteil ist sie selbst Ergebnis eines partizipativen Prozesses: Zwar obliegt die endgültige Entscheidung des Rechtsstreits ausschließlich dem Gericht, das wiederum an Recht und Gesetz gebunden ist. Allerdings wird diese Entscheidung durch die Mitwirkung der Parteien an der Schaffung der notwendigen Entscheidungsgrundlage, der Aufbereitung des Prozessstoffes und des Sach- und Rechtsvortrages der Beteiligten vorbereitet. Ohne die faire Mitwirkung der Parteien am gerichtlichen Verfahren wäre eine verbindliche Entscheidung nicht möglich. Die autoritative Letztentscheidung des Gerichts ist damit durch die faire Partizipation der Parteien auf der einen und seine Rechtmäßigkeit auf der anderen Seite legitimiert, die durch die Bindung des Gerichts an Recht und Gesetz vermittelt wird. Die Heteronomität der Entscheidungsstruktur ist zugleich die notwendige Voraussetzung dafür, dass der Zivilprozess verhaltenssteuernde Wirkung entfalten kann. Im Hinblick auf die vielfach diskutierte soziale Funktion des Zivilprozesses ist die Verbindlichkeit der richterlichen Entscheidung indes nur teilweise erforderlich. Geht es um den „Ausgleich gestörter Vertragsparität [, der] zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört“699, wie dies etwa in der Bürgschaftsrechtsprechung des Bundesgerichtshofs deutlich wird, so bedarf die sozial ausgleichende Tätigkeit des Richters hier in der Tat notwendig der Verbindlichkeit der richterlichen Letztentscheidung, weil es gerade um den Schutz subjektiver Rechte der Betroffenen geht. Allerdings sei auch in diesem
695
Vgl. hierzu oben S. 651 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4. 696 Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 2; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545, 545 f. Differenzierend Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 17. 697 Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4. 698 Vgl. hierzu oben S. 653 ff. 699 BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38 f.
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Zusammenhang angemerkt, dass der Begriff der „sozialen Funktion des Zivilprozesses“700 oder des „sozialen Ausgleichs“701 irreführend ist702, weil es nicht etwa um die Gewährung von Sonderrechten oder Privilegien für sozial benachteiligte Parteien, sondern im Gegenteil um die selbstverständliche Gewährung vertraglicher Parität und damit auch unter Zugrundelegung eines liberalen Verständnisses des Zivilprozesses um die Gewährleistung tatsächlicher Privatautonomie und insoweit um die Sicherung einer der wesentlichen Grundbedingungen der Privatrechtsordnung geht. Wirkt der Richter allerdings durch richterliche Hinweise und Anregungen auf die Herstellung tatsächlicher Waffengleichheit hin, so ist hierfür jedenfalls nicht unmittelbar der heteronome Wirkmechanismus der richterlichen Entscheidung erforderlich.703 Geht es schließlich um die Berücksichtigung außerrechtlicher Gesichtspunkte oder die Förderung der gütlichen Einigung, so wird, wie wir gesehen haben, der Rahmen der verbindlichen richterlichen Entscheidung verlassen. Es kommt zu einem Verfahrensübergang, der in der Institutionalisierung der Mediation im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme seine ihm eigene, seinem Wesen entsprechende Form gefunden hat. (2) Konfrontation Aus der Natur des Zivilprozesses als heteronomem Drittentscheidungsverfahren ergibt sich zugleich die kontradiktorische Partizipationsstruktur der Parteien. Das Konfrontationsprinzip der Parteien im heteronomen Zivilprozess bildet damit das prozedurale Gegenstück zum Kooperationsgebot des privatautonomen Mediationsverfahrens. Der Begriff der Konfrontation (confrontare – gegenüberstehen, aufeinandertreffen) verweist dabei in materieller Hinsicht auf den dualistischen Gegensatz der von beiden Parteien jeweils geltend gemachten Rechtspositionen, die als Elemente eines Nullsummenspiels miteinander unvereinbar sind, in prozessualer Hinsicht auf die Fixierung der Parteien in den vordefinierten Rollen sich antagonistisch gegenüberstehender Gegner, in denen sich der materielle Gegensatz der Rechtspositionen prozedural fortsetzt.
700 Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse (2. Aufl. 1958), S. 14 ff.; Hagen, ZZP 84 (1971), 385; Schmidt, Zweck des Zivilprozesses (1973), S. 10 ff.; Wassermann, Der soziale Zivilprozeß (1978). Kritisch hierzu Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2 f.; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 16. 701 Hierzu eingehend Meyer, JR 2004, 1, 4, 6; Breidenbach, Mediation (1995), S. 119. 702 So ausdrücklich Meyer, JR 2004, 1, 6. 703 Freilich entfalten richterliche Hinweise ihre Wirkung gerade aufgrund der Autorität des richterlichen Amtes, die nicht zuletzt in der hoheitlichen Entscheidungsbefugnis des Richters im Allgemeinen und in seiner Stellung im konkreten Verfahren als „Entscheidender“ im Besonderen begründet ist.
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Der Zivilprozess ist rechtlich stark formalisiert. Den Parteien ist eine Teilnahme am Verfahren nur in den vordefinierten kontradiktorischen Rollen des Klägers und des Beklagten möglich.704 Diese Rollen sind durch spezifische verfahrensrechtlich definierte Rollenerwartungen geprägt, kontrafaktisch stabilisiert und üben daher auf die Parteien eine ganz erhebliche verhaltenssteuernde Wirkung aus.705 Aufgrund der Rollenkonsistenz ist den Parteien ein Wechsel aus den vorgeprägten Verhaltensmustern des Klägers oder des Beklagten in die Rolle des Problemlösers kaum möglich.706 Die Komplementarität der gegensätzlichen Rollen fixiert die Parteien in den vom Verfahren vordefinierten antagonistischen Rollenbildern und motiviert sie zu aggressiven Verhaltensmustern.707 Aufgrund der Eigengesetzlichkeit des Verfahrens, der auf Konfrontation ausgerichteten Rollendefinition sowie der kontrafaktischen Stabilisierung der Rollenerwartungen werden die Parteien durch die mit der Klageerhebung verbundene Thematisierung des Rechts in den Sog einer stetig eskalierenden Konfliktdynamik hineingezogen, die sich trichterförmig verengt und – wie wir bereits gesehen haben – nach Überschreiten eines point of no return708 in einem Goffmanʼschen „character contest“709 als Metakonflikt mündet, der nur noch durch die autoritative Entscheidung des Richters beendet werden kann.710 Der kontradiktorische Rollenzwang711, die konfrontative Partizipationsstruktur712 des Zivilprozesses, erfüllt dabei zwei wesentliche und für das gerichtliche Verfahren konstitutive Funktionen: Er dient zum einen dadurch, dass er den Prozessverlierer in das rituelle Rollenspiel des Verfahrens verstrickt und durch soziale Isolation zur Annahme der richterlichen Entscheidung motiviert, der Legitimation des Verfahrens und seines Ergebnisses (Legitimationsfunktion). Zum anderen bildet er die Grundlage für die argumentative Auseinandersetzung der Parteien im Prozess, die durch den Austausch von Argumenten und Gegenargumenten den Prozessstoff bis zur Entscheidungsreife auf- und so
704
Zum kontradiktorischen Rollenzwang des Zivilprozesses und seinen Auswirkungen auf die Konfliktdynamik vgl. eingehend oben S. 24 ff. 705 Vgl. hierzu oben S. 24 ff., 196 ff. sowie Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 139; Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 53, 87. 706 Vgl. hierzu oben S. 24 f. sowie Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 f. 707 Vgl. hierzu oben S. 22 ff. mwN. 708 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 62 f. 709 Hierzu eingehend Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff. Vgl. dazu auch Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 sowie oben S. 24 ff. 710 Hierzu eingehend oben S. 24 ff. 711 Hierzu eingehend oben S. 24 ff. 712 Hierzu eingehend oben S. 27 ff.
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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für den Richter vorbereiten (Argumentationsfunktion). Der Grundsatz der Konfrontation, die kontradiktorische Struktur des streitigen Zivilprozesses, erweist sich damit als rechtsstaatliche Errungenschaft sowie als Grundbedingung jedes fairen Verfahrens und bildet den Inhalt des Justizgewährungsanspruchs des Staates: Er enthält die rechtliche Gewährleistung, der Klage nicht schutzlos ausgeliefert zu sein, sondern zum rechtlichen Vorbringen des Klägers Stellung nehmen zu können. Er dient damit dem effektiven Schutz subjektiver Rechte und, indem er die verbindliche Entscheidung des Richters vorbereitet, auch der Konfliktlösung und der Schaffung von Rechtsgewissheit. Zugleich begünstigt das kontradiktorische Verfahren in besonderer Weise die Sachverhaltsaufklärung und ermöglicht so die Wahrheitsfunktion des Zivilprozesses, weil unrichtige Sachverhaltsdarstellungen regelmäßig auf den Widerspruch des Konfliktgegners stoßen. In gleicher Weise trägt es zu einer materiell gerechten Entscheidung bei, indem es Einseitigkeiten verhindert, eine auf zutreffender Tatsachengrundlage basierende materiell rechtmäßige Entscheidung ermöglicht und darüber hinaus die für eine billige Entscheidung erforderlichen konkreten Umstände des Einzelfalls in das Verfahren einbringt. Das Gericht ist so in der Lage, auf der Grundlage des dem tatsächlichen Geschehen in weitestmöglichem Maße entsprechenden Sachverhaltes zu urteilen und dabei die konkreten Umstände des Einzelfalls bei der Auslegung des Gesetzesrechts zu berücksichtigen. Indem es aus der Vielzahl möglicher Rechtsauffassungen „unrichtige“ Rechtsansichten ausscheidet und allein diejenige zur Grundlage der Entscheidung macht, die als authentische Auslegung des materiellen Rechts verbindlich und als rechtmäßig anzuerkennen ist, begünstigt das gerichtliche Urteil zugleich jene Verfahrensfunktionen des Zivilprozesses, die in ihrer Wirkung auf die Rechtsordnung und die Gesellschaft gerichtet sind: Die Bewährung der objektiven Rechtsordnung713, die Konkretisierung des materiellen Rechts, die Sicherung der Rechtsfortbildung714, die Gewährleistung von Rechtssicherheit715
713
Vgl. hierzu eingehend oben S. 637 ff. Für die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilverfahrens als Prozesszweck Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 2 f.; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2. A.A. MünchKomm/ Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 8; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 3 ff. Eingehend hierzu Gaul, AcP 168 (1968), 27, 37 ff., 59 f. 714 Vgl. hierzu oben S. 651 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4. 714 Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 2; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545. 715 Vgl. hierzu oben S. 651 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4.
842
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
und Rechtseinheit716, die Herstellung und Wahrung des Rechtsfriedens717 und schließlich die Verhaltenssteuerung. Mit Blick auf die verhaltenssteuernde Wirkung des zivilprozessualen Verfahrens wird die „Filterfunktion“ im Hinblick auf das materielle Recht gleichsam in den Bereich des „gelebten Rechtes“ hinein verlängert: Rechtswidriges Verhalten wird durch das wertende Urteil des Gerichts ausgefiltert und durch den Sanktionsmechanismus des Rechts mit einem negativen inhibitorischen Anreiz versehen und jedenfalls im Grundsatz für die Zukunft verhindert. Im Hinblick auf die vielfach diskutierte „soziale Funktion“718 des Zivilprozesses vermag die kontradiktorische Struktur des gerichtlichen Verfahrens nur insoweit wirksam zu werden, als sie der strukturell schwächeren Partei die Möglichkeit der Geltendmachung subjektiver Rechte ermöglicht und sie in die Lage versetzt, in einem durch Verfahrensgarantien gesicherten Verfahren ihre Rechte geltend zu machen.719 (3) Orientierung an Rechtsansprüchen Im Gegensatz zum Mediationsverfahren orientiert sich das richterliche Urteil als Verfahrensergebnis des Zivilprozesses nicht an den Interessen der Parteien720, sondern an den von ihnen geltend gemachten Rechtsansprüchen.721 Die Parteiinteressen sind im Zivilprozess nur insofern von Bedeutung, als sie
715
Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 2; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545, 545 f. Differenzierend Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 17. 716 Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4. 717 Vgl. hierzu oben S. 653 ff. 718 Vgl. hierzu oben S. 667 ff. sowie grundlegend Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse (2. Aufl. 1958), S. 14 ff. Vgl. auch Hagen, ZZP 84 (1971), 385; Schmidt, Zweck des Zivilprozesses (1973), S. 10 ff.; Wassermann, Der soziale Zivilprozeß (1978). Kritisch Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2 f.; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 16. 719 Dies gilt jedenfalls dann, wenn die soziale Funktion des Zivilprozesses überwiegend im Ausgleich strukturell bedingter Machtungleichgewichte gesehen wird. Ebenso Meyer, JR 2004, 1, 4. Vgl. hierzu eingehend oben S. 670 ff. 720 Zur Bedeutung des Wechsels vom Positionen- zum Interessendenken als Grundlage des Mediationsverfahrens eingehend oben S. 15 f. sowie Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff.; Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27, 30 (2000); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff., 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 46 f., 167 ff. 721 Vgl. hierzu oben S. 133 ff.
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in typisierter Weise in den Normen des materiellen Rechts Ausdruck gefunden haben und daher bei der Auslegung und Anwendung des Rechts im Rahmen der richterlichen Entscheidung Berücksichtigung finden können. Die Rechtsorientierung des Zivilprozesses steht im engen Zusammenhang zur Heteronomie der Entscheidung und der konfrontativen Partizipation der Parteien.722 Aufgrund des binären Charakters des materiellen Rechts, das die Lösung des Konfliktes auf eine Alles-oder-Nichts-Entscheidung723 im Sinne eines Nullsummenspiels724 reduziert, ist eine eindeutige, verbindliche Letztentscheidung des Gerichts erforderlich. Der geltend gemachte Rechtsanspruch besteht oder er besteht nicht. Ein integrierender Kompromiss ist nicht möglich und würde auch dem normativen Charakter des Rechts insgesamt widersprechen. Zwar wird auch in Mediationsverfahren durch die Möglichkeit beiderseits interessengerechter Einigungen die absolute Geltung der dem Recht zugrunde liegenden Wertgrundsätze in keinster Weise aufgehoben. Die Verbindlichkeit richtigen Handelns bleibt bestehen und auch die Einigungsentscheidung der Parteien muss sich an den Grundsätzen materieller Gerechtigkeit und damit an den Geboten richtigen Handelns orientieren. Allerdings ist es den Parteien in der Mediation möglich, im Rahmen des bisweilen weiteren, bisweilen engeren Bereichs gleichermaßen „richtiger“ und „gerechter“ Einigungsoptionen die den jeweiligen Interessen am ehesten entsprechende Variante auszuwählen und ihrer Einigungsentscheidung zugrunde zu legen. Die Gültigkeit des Rechts wie auch in besonderer Weise der dem Recht zugrunde liegenden Wertgrundsätze bleibt indes unangetastet: Die Mediation vollzieht sich nicht in einem wertungsfreien Raum, sondern gleichsam im Schatten des materiellen Rechts, das auf vielfältige Weise in das Mediationsverfahren hineinwirkt. Weil das Mediationsverfahren letztlich einen praktikablen Weg der Anwendung der regula
722
Vgl. hierzu oben S. 135 ff., 140 ff. Hierzu oben S. 20 ff. sowie zur Problematik Luhmann, in: Asmussen/Pawlik (Hrsg.), Material über Zukunftsaspekte der Rechtspolitik (1976), S. 67, 69; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Stürner, DRiZ 1976, 202, 203; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff.; Röhl, SchlHA 1979, 134, 138; Stürner, JR 1979, 133, 135; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 18 ff.; Falke/Gessner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 294 ff.; Strecker, DRiZ 1983, 97, 100 f.; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 476; Risse, BB 1999, Beilage 9, 1, 2; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 48. Aus der US-amerikanischen Literatur vgl. nur Coons, 58 NW. U. L. Rev. 750, 767 ff., 787 ff. (1964); Eisenberg, 89 Harv. L. Rev. 637, 654 ff. (1976); McEwen/Maiman, 33 Maine Law Rev. 237, 253 (1981); Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1, 7, 18 (1991); Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 361 f. (2005). 724 Vgl. hierzu Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 102, 116 ff. (1990). Zur Problematik des Nullsummenspiels vgl. oben S. 17, Fn. 59. 723
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
aurea aufzeigt725, die Mediation in ihrem Wesen nichts anderes ist als eine Ausformung des Grundsatzes der regula aurea, werden die Parteien in die Lage versetzt, ein „objektiv gerechtes“ und „richtiges“ Ergebnis herbeizuführen. Aus dieser Perspektive unterscheidet sich der Einsatz des interessenorientierten Mediationsverfahrens hinsichtlich des Richtigkeitsanspruchs nicht vom Zivilprozess: So wie der Zivilprozess der Durchsetzung des materiellen Rechts dient, das seinerseits die sich aus dem lex naturae726 ergebenden Wertungen in typisierter Weise in positives Recht übersetzt, so haben auch die Parteien des Mediationsverfahrens – vermittelt durch das lumen rationis727 – Zugang zu ebendiesen Wertgrundsätzen, die dem Einzelnen eingestiftet sind und deren Erkenntnis allein durch die stets zugleich vorhandene Neigung zur Eigennützlichkeit verdunkelt wird.728 Und weil die Parteien in der Mediation den Vermittlungsvorgang vom lex naturae hin zu einer sich an ihm orientierenden Einzelfallentscheidung selbst vollziehen, die Lösung ihres Konfliktes daher individuell an ihren Interessen nach dem Maßstab der aus der lex naturae erwachsenden Wertgrundsätze729 ausrichten können, so vermag das Mediationsverfahren in der Tat ein gerechteres und richtigeres Ergebnis herbeizuführen, als dies im Rahmen des an Rechtsansprüchen orientierten Zivilprozesses möglich ist.730 Daraus ergibt sich, dass das an materiell-rechtlichen Rechtsansprüchen orientierte richterliche Urteil auch im Hinblick auf seine Übereinstimmung mit den Grundsätzen des lex naturae regelmäßig nur eine Näherungslösung darstellen kann. Zwar ist es Aufgabe der Rechtsprechung, jene „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren.“731 Aufgrund der Gesetzesbindung des Richters ist der ihm insoweit zur Verfügung stehende Ermessensspielraum indes regelmäßig begrenzt. Die Leistungsfähigkeit des Zivilprozesses zur nachhaltigen, dauerhaften und ursächlichen
725
Vgl. hierzu oben S. 235 ff., 252 ff. Zu den naturrechtlichen Grundlagen vgl. oben S. 75, 86 ff., 176, 219, 774 f. sowie Thomas von Aquin, Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. sowie Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 388 ff. 727 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 101, Fn. 405. 728 Vgl. hierzu Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1 ff, Lk 6, 31; v. Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis (3. Aufl. 1982), S. 64 ff. 729 Zu dem Grundsatz der Orientierung der Parteien an den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Werten vgl. oben S. 175 ff., 230 ff., 249 f., 283 ff., 293 ff. 730 Vgl. hierzu oben S. 222 ff., 230 ff., 252 ff. 731 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebungen durch den Verfasser. 726
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Beilegung von Konflikten findet damit seine Grenze in den systemimmanenten Schwächen des abstrakt-generellen Rechts, das Konflikte nur in typisierter Weise und nur als Ausschnitt aus der Vielzahl seiner verfügbaren Dimensionen zu erfassen und zu verarbeiten vermag. (4) Ergebnisorientierung Im Gegensatz zur Mediation ist der Zivilprozess kein beziehungs-, sondern ein ergebnisorientiertes Verfahren732. Entscheidend ist weniger die Art und Weise wie das Ergebnis zustande kommt, sondern vielmehr seine Qualität. Zwar ist die Partizipation der Parteien und die Einhaltung eines fairen Verfahrens für die Parteien auch im Rahmen des Zivilprozesses von Bedeutung, doch treten diese Aspekte hinter die Dominanz des richterlichen Urteils deutlich zurück. Die Beziehung der Parteien zueinander ist im Rahmen des Zivilprozesses nicht entscheidend. Die Ergebnisorientierung des zivilgerichtlichen Verfahrens entspricht dabei seiner Natur als Instrument zur Durchsetzung des materiellen Rechts.733 Sie steht in engem Zusammenhang mit dem Prinzip der Streitbeendigung durch verbindliche heteronome Entscheidung als dem für den Zivilprozess idealtypischen Mechanismus der Konfliktbehandlung. Rechtsfrieden wird in erster Linie durch die Beendigung des Rechtsstreites als solchen und die Rechtmäßigkeit des Urteils, weniger durch die Mitwirkung der Parteien am Verfahren herbeigeführt. In gleicher Weise beruht auch die verhaltenssteuernde Wirkung des Zivilprozesses anders als in der Mediation nicht auf einem Lern- und Transformationsprozess, der die Parteien aufeinander hin ausrichtet und sie auf der Grundlage einer neu geordneten Beziehung zu konsensualem Konfliktverhalten befähigt, sondern vielmehr auf dem sich aus der Durchsetzung subjektiver Rechtsansprüche ergebenden Sanktionsmechanismus des materiellen Rechts. Die Fixierung der Parteien in ihren Rechtspositionen734, ihre Orientierung auf das richterliche Urteil als Ergebnis des zivilgerichtlichen Verfahrens, führt im Hinblick auf den Konflikt und seine Beilegung zu einer Reihe negativer Konsequenzen, die wir bereits im Rahmen unserer rechtstheoretischen Untersuchung näher in den Blick genommen haben: Die Parteien sind durch die The-
732
Zur Beziehungsorientierung der Mediation eingehend vgl. oben S. 471 ff. Vgl. hierzu oben S. 129 ff. 734 Zu den sich hieraus ergebenden Folgen für die Konfliktdynamik vgl. den unter dem Stichwort der „Ineffektivität intuitiven Verhandlungsverhaltens“ herausgearbeiteten Befund bei Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 3 ff.; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 288 ff. sowie BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 f.; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. mwN. 733
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matisierung des Rechts im Hinblick auf das von ihnen gewünschte Verfahrensergebnis durch die kontrafaktische Stabilisierung der Rollen, die damit verbundenen Rollenerwartungen und die Rollenkonsistenz festgelegt.735 Die einmal eingenommene Position lässt sich nun nicht mehr ohne weiteres aufgeben, weil sich die betreffende Partei in Widerspruch zu der mit ihrer Verfahrensposition verbundenen Rollenerwartung setzen würde. Die Parteien sind auf die von ihnen geltend gemachten Rechtsansprüche als Verfahrensergebnis festgelegt und fixiert und damit gleichsam gezwungen, das „Spiel mitzuspielen“, der weiteren Dynamik des Verfahrens zu folgen und das angestrebte Ergebnis des Zivilverfahrens bis zum Ende zu verteidigen.736 Der Konflikt gewinnt damit eine eigene Dynamik: Es entsteht ein abgeleiteter Metakonflikt im Sinne des bereits beschriebenen character contest, in dem es nicht mehr um den Konfliktgegenstand selbst, sondern nur noch darum geht, aus dem Konflikt als Sieger hervorzugehen.737 Die Ergebnisorientierung der Parteien löst damit eine Spirale der Eskalation aus, der sich die Beteiligten nicht mehr ohne weiteres entziehen können. Im Gegensatz dazu beruht die Leistungsfähigkeit des Mediationsverfahrens als Instrument interessengerechter Konfliktbeilegung, wie wir bereits gesehen haben, auf der Transformation der Beziehung der Parteien zueinander738, die so die Grundlage für die gemeinsame Entwicklung möglicher Einigungsoptionen bildet. Indem sie die Parteien gerade aus ihrer rollenbedingten Fixierung auf das Ergebnis und damit aus ihrem Positionsdenken herauslöst739 und für die Wahrnehmung der dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen
735
Vgl. hierzu oben S. 22 ff. sowie Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 139; Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 53, 87. 736 Vgl. hierzu oben S. 22 ff. 737 Vgl. hierzu oben S. 23 ff. sowie Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff. Vgl. dazu auch Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 sowie oben S. 24 ff. 738 Zur Bedeutung der Transformation der Parteibeziehung durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin als zentralem Wesenselement der Mediation vgl. oben S. 124 ff. , 471 ff. sowie Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). Zum Lern- und Transformationsprozess vgl. eingehend oben S. 567 f., 664 f. und unten S. 782 f. 739 Vgl. zur Bedeutung des Wechsels vom Positionen- zum Interessendenken als Ankerpunkt des Mediationsverfahrens eingehend oben S. 15 f. sowie Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff.; Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27, 30 (2000); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff., 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 46 f., 167 ff.
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öffnet, vermag die Mediation die Spirale der Eskalation zu durchbrechen und die Grundlage für eine konsensuale Beilegung des Konfliktes zu legen. (5) Öffentlichkeit Der Zivilprozess ist nicht nur ein heteronomes, kontradiktorisches sowie rechts- und ergebnisorientiertes, sondern auch ein grundsätzlich zwingend öffentliches Verfahren (§ 169 S. 1 GVG). Die Öffentlichkeit des Zivilprozesses ist dabei das notwendige rechtsstaatliche Korrelat der Befugnis des staatlichen Richters, den Konflikt durch hoheitliche, autoritative Entscheidung zu beenden. Sie dient der demokratischen Kontrolle des Richters, sichert seine Neutralität und trägt ganz wesentlich zur Legitimation des Verfahrens und seines Ergebnisses bei. Denn das zeremonielle Rollenspiel des Verfahrens kann nur dann seine legitimierende Wirkung entfalten, wenn die Rationalität seiner Entscheidungsprozesse, die symbolhafte Mitwirkung der Parteien sowie die Distanz des Richters als einer „fernstehenden Macht … die mit der interaktionellpräsenten, ausspielbaren Macht der Beteiligten keinen Zusammenhang hat“740 auf dem öffentlichen Forum des Zivilprozesses für alle sichtbar ist und damit keinen Zweifeln unterliegt. Luhmann weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die „Funktion des Verfahrensprinzips der Öffentlichkeit … in der Symbolbildung, in der Ausgestaltung des Verfahrens als eines Dramas (liegt), das richtige und gerechte Entscheidung symbolisiert, und dazu ist die ständige Gegenwart eines mehr oder weniger großen Teiles der Bevölkerung nicht erforderlich. Es genügt ein allgemeines und unbestimmtes Wissen, daß solche Verfahren laufend stattfinden und daß sich jedermann bei Bedarf darüber genauer unterrichten kann.“741 Indem die unterliegende Partei aus dem Rollenspiel des für die Öffentlichkeit nachvollziehbar rationalen und fairen Verfahrens, dem sie sich freiwillig selbst unterworfen hat, als Verliererin hervorgeht, wird ihr die Möglichkeit des Protestes abgeschnitten und sie sozial isoliert. Mit der Legitimation des auf diese Weise abgesicherten Ergebnisses tritt zugleich die befriedende Wirkung des gerichtlichen Urteils ein, das den durch den Prozess vor das Tribunal der Öffentlichkeit getragenen Konflikt endgültig beendet. Die Öffentlichkeit des Verfahrens dient indes nicht nur der Legitimation des richterlichen Urteils gegenüber den Konfliktbeteiligten und darüber hinaus allen Rechtsunterworfenen742, sondern bildet zugleich die Grundlage für die Orientierungs- und Rechtsbewährungsfunktion des Urteils. Nur dann, wenn das gerichtliche Urteil zugänglich und öffentlich bekannt ist, kann es die für die
740
Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 62. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 124. 742 Hierzu Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 117, 123. 741
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Bewährung der Rechtsordnung zentrale Leuchtturm- und Orientierungsfunktion als normativen Maßstab des Verhaltens des Einzelnen erfüllen.743 Zwar entfaltet das Urteil in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen über den Kreis der unmittelbar Konfliktbeteiligten hinaus keine Rechtsbindung gegenüber Dritten im Sinne der im anglo-amerikanischen Rechtskreis bekannten Präzedenzrechtsprechung. Mit dem Rechtsmittelsystem steht indes ein funktionales Äquivalent zur Verfügung, das jedenfalls mittelbar zu einer grundsätzlichen Bindungswirkung höchstrichterlicher Urteile führt. Die Öffentlichkeit des Verfahrens ist damit die notwendige verfahrensstrukturelle Voraussetzung für die vielfältigen Funktionen des Zivilprozesses im Hinblick auf den Konflikt, die Rechtsordnung und auch die Gesellschaft: Sie ermöglicht durch die Etablierung einheitlicher Standards der Rechtsanwendung eine allgemeinverbindliche Konkretisierung des Rechts, die Schaffung von Rechtsgewissheit744 auch für Dritte, die Sicherung der Rechtsfortbildung745, und gewährleistet damit zugleich auch Rechtssicherheit746 und Rechtseinheit747. Mit der durch sie begünstigten Orientierungswirkung rechtlicher Normen und der Signalwirkung des Urteils als Sanktion für rechtswidriges Verhalten ist die Öffentlichkeit des Verfahrens damit notwendige Voraussetzung für verhaltenssteuernde Anreize des gerichtlichen Verfahrens. Soweit man die soziale Funktion des Zivilprozesses in der Kompensation struktureller Machtungleichgewichte sieht, erfüllt die Öffentlichkeit des Verfahrens schließlich eine Funktion, die weitgehend jener Kontrollfunktion entspricht, aus der sie historisch erwachsen ist. Diente sie ursprünglich dem Schutz vor staatlicher Willkür, so bildet sie im Kontext eines sozialen Rechtsstaates die Grundlage für den Schutz sozial benachteiligter, strukturell schwächerer Parteien vor Übervorteilung. Das öffentliche Forum des Zivilprozesses 743
Zur Rechtsbewährungsfunktion des Zivilverfahrens als Prozesszweck vgl. S. 637 ff. Für die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilverfahrens als Prozesszweck Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 2 f.; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2. A.A. MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 8; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 3 ff. Eingehend hierzu Gaul, AcP 168 (1968), 27, 37 ff., 59 f. 744 Hierzu oben S. 631 ff. sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 2; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545, 545 f. Differenzierend Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 17. 745 Vgl. hierzu oben S. 651 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4. 746 Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 2; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545, 545 f. Differenzierend Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 17. 747 Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4.
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erzeugt dabei den notwendigen Druck, der für Interventionen des Richters zugunsten benachteiligter Parteien erforderlich ist und ihn daran hindert, sehenden Auges die Übervorteilung strukturell schwächerer Parteien in Kauf zu nehmen. (6) Formalität des Verfahrens Als an Rechtsansprüchen orientiertes Drittentscheidungsverfahren ist der Zivilprozess durch ein hohes Maß an Formalität geprägt. Die Formalität des Verfahrens ist damit das prozedurale Korrelat zur materiellen Orientierung des Zivilprozesses an Rechtsansprüchen. Die Prozessbeteiligten sind Adressaten bestimmter, im Wesentlichen durch die Zivilprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz formalisierter Rechte und Pflichten. Ihnen stehen als Beteiligte an einem rechtsförmlichen Verfahren die sich aus den Verfahrensordnungen ergebenden prozessualen Ansprüche zu. Die Einhaltung der Verfahrensvorschriften und die Wahrung der den Parteien zustehenden Verfahrensrechte legitimieren die richterliche Entscheidung.748 Ihre Verletzung kann zu der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung führen. Darüber hinaus ermöglicht das Regelwerk des Verfahrensrechts jenes zeremonielle Rollenspiel749, das die Parteien in die Eigengesetzlichkeiten des Verfahrens verstrickt und so zur Hinnahme der richterlichen Entscheidung motiviert.750 Das gerichtliche Urteil wird auf diese Weise durch die Verfahrensgerechtigkeit des Zivilprozesses als partizipatives und faires Verfahren legitimiert. Die Informalität des Zivilprozesses steht darüber hinaus in engem Zusammenhang mit seiner Rechtsschutzfunktion. Indem sie den Parteien die Wahrnehmung ihrer verfahrensmäßigen Rechte und damit auch die Durchsetzung ihrer materiell-rechtlichen Ansprüche ermöglicht, dient die Formalität dem effektiven Schutz subjektiver Rechte und damit zugleich auch der Konfliktlösung.751 Die Rechtsförmlichkeit des Verfahrens bildet dabei den Rahmen der richterlichen Ermessensentscheidung, gewährleistet die Reproduzierbarkeit und Vorhersehbarkeit richterlicher Urteile und trägt dadurch ganz erheblich zur Rechtssicherheit und Rechtseinheit bei. Mit Blick auf die „soziale Funktion“
748
Vgl. hierzu Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 102 ff. Vgl. hierzu Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 91 ff. 750 Instruktiv hierzu Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87 („Vermutlich ist dies die heimliche Theorie des Verfahrens: daß man durch Verstrickung in ein Rollenspiel die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren könne“). 751 Vgl. hierzu oben S. 626 ff. sowie Wolf, Gerichtsverfassungsrecht (6. Aufl. 1987), S. 37 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 3; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 15 (kritisch). 749
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des Zivilprozesses dient sie dem Schutz strukturell schwächerer Parteien und ermöglicht so prozessuale Waffengleichheit. Allerdings ist die Formalität des gerichtlichen Verfahrens zugleich auch eine der Ursachen seiner systembedingten Schwächen. Denn die rechtlich geschützten Verfahrenspositionen fixieren die Parteien gleichzeitig in den vordefinierten Rollenmustern einander antagonistisch gegenüberstehender Gegner752, führen zu einer weiteren Eskalation753 und erschweren damit ganz erheblich eine konsensuale Beilegung des Konfliktes. Insbesondere am Strukturmerkmal der Informalität wird der komplementäre Charakter der Mediation und des Zivilprozesses als strukturell gegensätzliche Verfahren der Konfliktbehandlung deutlich: Dort, wo die Informalität der Mediation eine Berücksichtigung der dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen der Parteien ermöglicht, steht die Informalität des Zivilprozesses einer Berücksichtigung der über den rechtlichen Tatsachenkern hinausgehenden Konfliktdimensionen entgegen. Die Stärke des einen erweist sich damit als die Schwäche des jeweils anderen Verfahrens. Ebenso wie das Formale und das Informale als Kehrseite desselben Prinzips des Rechts, als Gegensatz von billigem und strengem Recht, Equity und common law für die Rechtsordnung als Ganzes, für das Recht als solches unverzichtbar sind, so bildet erst das komplementäre Gegensatzpaar von informaler Mediation und formalem Zivilprozess jenes Instrumentarium der Konfliktbehandlung, das erst im wechselseitigen Zusammenspiel eine nachhaltige, dauerhafte und ursächliche und damit effektive Beilegung von Konflikten ermöglicht.754 (7) Entscheidung durch neutralen Dritten Der Zivilprozess ist zwar wie die Mediation als triadisches Verfahren strukturiert, unterscheidet sich von ihr jedoch ganz wesentlich durch die Rolle des neutralen Dritten. Im Gegensatz zum Mediator, der nur eine dienende Funktion ausübt und die Parteien bei der Beilegung ihres Konfliktes im Wege der Verhandlung lediglich unterstützt, bildet der Richter die zentrale Gestalt des zivilprozessualen Verfahrens. Ihm obliegt nicht nur die Sachentscheidung (substance control)755, sondern er übt darüber hinaus – jedenfalls innerhalb der Grenzen der Partizipationsrechte der Parteien – auch eine verfahrensleitende 752
Vgl. hierzu oben S. 24 ff. Vgl. hierzu oben S. 22 ff. 754 Zum wechselseitigen Spannungsverhältnis struktureller Komplementarität zwischen Mediation und Zivilprozess eingehend oben S. 143 ff. 755 Zur Differenzierung zwischen substance control der Parteien und process control des Mediators vgl. Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003), S. 80 ff.; Kracht, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 267, 279 ff., 284 ff. (mit abweichender Terminologie); Menkel-Meadow, Mediation (2001), S. 91; Kovach, Mediation (3. Aufl. 2004), S. 46; Moore, The Mediation Process (3. Aufl. 2003), S. 18. 753
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Funktion aus. Die richterliche Neutralität gewährleistet dabei ihrerseits eine sachgerechte, ausschließlich am materiellen Recht orientierte Entscheidung. Andererseits schafft sie die für die Akzeptanz einer autoritären Drittentscheidung erforderliche Distanz des Entscheidenden zu den Betroffenen und trägt damit ganz erheblich zur Legitimation der Entscheidung durch die Beteiligten bei. Allerdings wird durch die Verlagerung der Entscheidungskompetenz von den Parteien auf einen unbeteiligten Dritten die Möglichkeit einer konsensualen Beilegung des Konfliktes im Rahmen desselben Verfahrens abgeschnitten. Eine gütliche Einigung ist daher auch im Zivilprozess nur durch einen Verfahrenswechsel möglich, der freilich in institutionalisierter Form in den Rahmen des zivilgerichtlichen Verfahrens eingebettet sein kann, wie dies etwa beim der Güterichterverfahren nach § 278 Abs. 5 ZPO in der gerichtsverbundenen Mediation der Fall ist.756 Die Entwicklung wertschöpfender win-win-Lösungen757 sowie die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne ist nur durch die Kooperation der Parteien und eine gemeinschaftliche Einigungsentscheidung der unmittelbar Konfliktbeteiligten möglich. Sie kann nicht durch die richtende Tätigkeit eines vom Konflikt nicht selbst Betroffenen ersetzt werden, sei es im Rahmen des Zivilprozesses oder einer Schlichtung. cc) Wirkungen Nachdem wir die unterschiedlichen Funktionen und die ihnen zugrunde liegende Struktur des Zivilprozesses in den Blick genommen haben, wollen wir uns nun den hieraus ergebenden Wirkungen des zivilgerichtlichen Verfahrens in den drei Wirkbereichen des Konfliktes, der Rechtsordnung und der Gesellschaft zuwenden. Dabei wollen wir entsprechend unserer Betrachtung des Mediationsverfahrens zunächst auf die Vorteile des gerichtlichen Verfahrens eingehen, um sodann die Risiken des Zivilprozesses näher zu untersuchen. Die positiven Verfahrenswirkungen, die Vorteile des Zivilprozesses werden – anders als dies erstaunlicherweise im Rahmen des Mediationsverfahrens der Fall ist – bereits weitgehend vom Begriff der Verfahrensfunktionen erfasst, der durch die Prozesszwecklehre ein hohes Maß an wissenschaftlicher Durchdringung erfahren hat. Für die ADR-Diskussion und damit auch unsere Untersuchung ergiebiger wird dagegen die Betrachtung der Risiken des gerichtlichen Verfahrens sein, auf die wir im Anschluss an diese Untersuchung eingehen werden. Im Vergleich der jeweils entsprechenden Verfahrenswirkungen, der Vorteile und Risiken der Mediation und des Zivilprozesses, wird dabei neben 756
Hierzu und zu den Möglichkeiten der Verfahrensintegration eingehend oben S. 492 ff. Vgl. hierzu eingehend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff. (invent options for mutual gain) sowie Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 757
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der strukturellen und funktionalen auch die sich gegenseitig symbiotisch ergänzende Komplementarität der Wirkungen beider Verfahrensarten deutlich. (1) Konflikt Die wesentliche Wirkung des Zivilprozesses auf den Konflikt ergibt sich zunächst aus seiner zentralen Funktion der Bewährung der objektiven Rechtsordnung durch die Verwirklichung subjektiver Rechte der Parteien: Das gerichtliche Urteil führt zu einer Beendigung des Konfliktes durch Entscheidung des Rechtsstreits auf der Grundlage des materiellen Rechts. Dieser nicht an den Interessen der Parteien, sondern an den von ihnen geltend gemachten Rechtspositionen orientierte Mechanismus der Konfliktbeilegung wirkt auf vielfache Weise auf den Konflikt, die Rechtsordnung sowie die Gesellschaft ein.758 Soweit diese Verfahrenswirkungen aus konflikttheoretischer Perspektive ganz überwiegend als Gefahren zu beurteilen sind, werden wir sie im Rahmen der Risiken des Zivilprozesses näher in den Blick nehmen. Im Folgenden wollen wir uns daher zunächst auf die konflikttheoretisch vorteilhaften Wirkungen des Zivilprozesses beschränken und sie in einer holzschnittartigen Gesamtschau in den Blick nehmen. Die positiven Verfahrenswirkungen entsprechen weitgehend den Funktionen des zivilgerichtlichen Verfahrens: Das gerichtliche Urteil ermöglicht einen effektiven Schutz der subjektiven Rechte der Parteien759, führt zu einer Beendigung des Konfliktes760, schafft Rechtsgewissheit761 über die von den Parteien geltend gemachten Rechtspositionen. Darüber hinaus trägt der Zivilprozess zur Aufklärung des tatsächlichen Sachverhaltes bei und dient durch die Mobilisierung des dem materiellen Recht zugrunde liegenden Gerechtigkeitsgehaltes und seine Transformation in gelebtes Recht der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass der Zivilprozess durch die Garantien des formellen Rechts auch strukturell schwächeren Parteien die Geltendmachung der ihnen zustehenden subjektiven Rechte ermöglicht und auf diese Weise zum Ausgleich bestehender Machtasymmetrien beiträgt. Die im Rahmen der Novellengesetzgebung zur Zivilprozessordnung stetig weiter ausgebauten richterlichen Hinweispflichten sowie die Tatsache, dass die Parteien regelmäßig anwaltlich vertreten sind, fördern darüber hinaus den Abbau von Informationsungleichgewichten und versetzen die Parteien so in die Lage, die ihnen zustehenden subjektiven Rechte auch tatsächlich geltend zu machen (self-agency)762. Die formale Strenge des Zivilprozesses gleicht die Risiken strukturell schwächerer Parteien im Mediationsverfahren aus, aufgrund 758
Vgl. hierzu bereits eingehend oben S. 12 ff. Vgl. hierzu oben S. 621 ff. 760 Vgl. hierzu oben S. 626 ff. 761 Vgl. hierzu oben S. 631 ff. 762 Zur Problematik mangelnder self-agency vgl. eingehend oben S. 344 ff., 350. 759
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bestehender Macht- oder Informationsasymmetrien übervorteilt zu werden. Die verbindliche, durch hoheitlichen Rechtsakt in Ausübung staatlicher Gewalt getroffene richterliche Entscheidung ermöglicht damit den Parteien eine Durchsetzung ihrer subjektiven Rechte auch dann, wenn der jeweilige Konfliktpartner einer Einigung nicht zustimmen würde. Die Bewährung des materiellen Rechts auch im Wege des hoheitlichen Zwangs, die durch den Zivilprozess gewährleistet wird, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie ist für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen beiden Verfahrensarten von zentraler Bedeutung und steht zugleich im Mittelpunkt der klassischen Diskussion um die ADR-Kritik Fissʼ763. Im Kontext der Kritik des Zivilprozesses, der Hinwendung zu konsensualer Streitbeilegung vor dem Hintergrund der ADR-Bewegung und des fortschreitenden Abbaus des Zwangscharakters staatlicher Steuerung im Rahmen des Wandels staatlichen Handelns hin zum kooperativen Staat bedarf sie daher aus rechtsphilosophischer Perspektive einer eingehenderen Betrachtung. (a) Eigennütziges Handeln und die Wehrhaftigkeit des Rechts Wie wir bereits gesehen haben, ist die Wehrhaftigkeit des Rechtes zur Verwirklichung materieller Gerechtigkeit zwingend erforderlich, weil die Einsicht in die Richtigkeit rechtskonformen Handelns durch die Selbstbezogenheit der Perspektive der Parteien und die damit verbundene Dominanz eigennütziger Interessen verdunkelt wird. Indem die Parteien gleichsam im „Ich“ gefangen und damit auf sich selbst zurückgeworfen sind, sind sie durch die Verdunkelung des lumen rationis und die Abstumpfung des persönlichen Gewissens einerseits in der Erkenntnis der Richtigkeit des durch das materielle Recht getroffenen Interessenausgleichs beschränkt. Andererseits ist die Dominanz eigennützlicher Motivationen häufig so groß, dass sich die Parteien trotz ihrer grundsätzlichen Einsicht in die Richtigkeit gesetzlicher Handlungsnormen und der Verwerflichkeit des eigenen Handelns über die eigenen Bedenken hinwegsetzen und ihre eigenen Interessen über das ihnen zustehende Maß hinaus auf Kosten der gerechten Interessen ihres Verhandlungspartners durchzusetzen suchen. Die Verwerflichkeit des rechtswidrigen Handelns ergibt sich dabei nicht aus dem natürlichen Bedürfnis beider Parteien zur Verwirklichung ihrer Interessen, sondern daraus, dass sie die Grenzen der ihnen selbstverständlich legitimerweise zustehenden Befugnis zur Interessenverwirklichung trotz entgegenstehender rechtlicher Verbote überschreiten, dabei das Gebot des für das menschliche Zusammenleben unabdingbaren Ausgleichs der Interessen missachten und die Schädigung anderer jedenfalls billigend in Kauf nehmen oder sogar 763 Vgl. grundlegend Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984) sowie Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1 (1979); Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121 (1982); Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273 (2009). Hierzu eingehend oben S. 552 ff.
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beabsichtigen. Rechtswidriges Handeln lässt sich damit keinesfalls mit Verweis auf die Seinsordnung und das Modell des homo oeconomicus rechtfertigen, das im Übrigen durch die moderne Forschung auf dem Gebiet der behavioral economics als irreales, einem zur Zeit der Industrialisierung vorherrschenden Gesellschaftsideal entsprechendes Verhaltensmodell widerlegt worden ist. (b) Interessenausgleich als Gebot materieller Gerechtigkeit Den Maßstab kann vielmehr nur die Sollensordnung des dem lex naturae entsprechenden materiellen Rechts und damit letztlich das Gebot der Gerechtigkeit bilden, das schon im römischen Recht in seinem Kern auf die einfachen Verhaltensnormen des Schädigungsverbotes und des Interessengewährungsgebotes zurückgeführt worden ist: Iuris praecepta sunt haec: Honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere.764 Das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht daher im Letzten darin, jedem das ihm nach seiner Natur und Berufung zur Entfaltung seiner Person Zustehende zu gewähren: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi.765 Objekt des Gerechtigkeitsgebotes ist dabei jeder Einzelne, aus der Perspektive der Konfliktparteien auch der jeweils andere und somit nicht nur derjenige, der für sich selbst das ihm nach seiner Auffassung Zustehende verlangt. Auch wenn das Gebot materieller Gerechtigkeit dem Einzelnen das Recht auf das ihm für seine Existenz und für ein erfülltes, gelungenes Leben, das Recht auf das ihm aufgrund seiner Natur und Berufung zur Entfaltung seiner Person Zustehende gewährt, so muss dieses Freiheitsrecht seine Schranke doch notwendig in dem gleichwertigen Anspruch des anderen auf Gewährung des ihm seinerseits Zustehenden finden. Interessenverwirklichung findet seine Grenzen dort, wo sie die des anderen beeinträchtigt: Die sich gegenseitig komplementär entsprechenden Gebote des suum cuique tribuere und alterum non laedere erweisen sich damit als Kehrseiten desselben Prinzips der Gerechtigkeit. Die praktische Umsetzung dieses universalen Gerechtigkeitsgebotes erfolgt durch Anwendung der Goldenen Regel, der regula aurea, die als Zeiten und Kulturen umspannende „sittliche Grundformel der Menschheit“766, als
764 Ehrlich leben, andere nicht schädigen, jedem das ihm Zustehende gewähren. (Übersetzung durch den Verfasser). Dieser Grundsatz der Gerechtigkeit findet sich sowohl in den Institutionen des Justinian als auch in den Digesten Ulpians, vgl. nur Inst. 1.2.3 sowie D. 1.1.10.1 (Ulpian). 765 Gerechtigkeit ist der feste und beständige Wille, jedem das ihm Zustehende zukommen zu lassen. (Übersetzung des Verfassers). D.1.1.10 pr. (Ulpian). Der Grundsatz findet sich nahezu wortgleich am Beginn der justinianischen Institutionen, vgl. Inst. 1.1.1. „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens.“ 766 Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 74.
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„Summe der vom Menschen erwarteten Verhaltensweisen“767 und als „das elementare Gesetz allen Rechts schlechthin“768 in einem einfachen und zugleich geradezu genialen Mechanismus den Anspruch des Einzelnen an die Verwirklichung der eigenen Interessen zum Maßstab der dem anderen zu gewährenden Interessenverwirklichung macht.769 Durch diesen ebenso einfachen wie genialen Mechanismus, der dem Verhalten des Einzelnen gleichsam einen Spiegel vorhält, wird die destruktive Kraft des eigennützlichen Egoismus des Einzelnen gleichsam „vor den Karren der Gerechtigkeit gespannt“, auf das Gute hin gelenkt, für die Verwirklichung der Interessen des anderen in Dienst genommen und auf diese Weise verwandelt, kanalisiert und so zum Instrument gerechten Handelns gemacht.770 Je größer der Egoismus, umso größer der Altruismus. Je mehr der Einzelne für sich selbst verlangt, umso mehr ist er gezwungen zu geben. Denn der eigene Anspruch auf Interessenverwirklichung wird zum Maßstab des Handelns gegenüber dem anderen gemacht und damit zugleich begrenzt und für die Interessengewährung gegenüber dem anderen mobilisiert. Als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft bedarf die Interessenverwirklichung des Einzelnen daher beständig der Begrenzung und des Ausgleichs, wie dies auf verfassungsrechtlicher Ebene durch die Schrankensystematik der Freiheitsgrundrechte und das sich daraus ergebende Erfordernis eines Interessenausgleichs im Rahmen der praktischen Konkordanz erfolgt. Dieser Interessenausgleich wird auf einfachgesetzlicher Ebene durch die Wertungen des materiellen Rechts wahrgenommen, die im Idealfall zugleich den sich aus dem lex naturae771 ergebenden Grundsätzen materieller Gerechtigkeit entsprechen. Im Rahmen des Mediationsverfahrens erfolgt dieser Interessenausgleich durch die Ausrichtung der Parteien aufeinander hin und die dadurch erst mögliche Anwendung der regula aurea. Auf diese Weise werden beide Parteien dazu befähigt, durch einen multilateralen Perspektivwechsel772 die Inte-
767 Heiligenthal, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 573, 573 768 Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. 769 Vgl. hierzu oben S. 244 ff. 770 Vgl. hierzu oben S. 245 f. sowie Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1 ff, Lk 6, 31. 771 Zu den naturrechtlichen Grundlagen vgl. oben S. 75, 86 ff., 176, 219, 774 f. sowie Thomas von Aquin, Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. sowie Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 388 ff. 772 Zu dem hierfür erforderlichen mulilateralen Rollentausch als Voraussetzung für die Anwendung des Reziprozitätsprinzips der regula aurea eingehend oben S. 242 ff., 249 ff. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive oben S. 252 ff., Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149. Zur Bedeutung des Perspektivwechsels in Verhandlung und Mediation vgl. Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle,
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ressen des jeweils anderen wahrzunehmen, sie in ihrer Legitimität und Notwendigkeit für die Entfaltung der Person des jeweiligen Konfliktpartners anzuerkennen und den Anspruch an die Verwirklichung der eigenen Interessen entweder entsprechend anzupassen oder Optionen für eine möglichst weitgehende wechselseitige Integration der Interessen beider Parteien zu entwickeln. (c) Zivilprozessualer Rechtsschutz als Grundbedingung der Mediation Auch wenn die Mediation dem Zivilprozess, wie wir gesehen haben, jedenfalls im Hinblick auf seine Eignung zur nachhaltigen, dauerhaften und ursächlichen und damit effektiven Konfliktbeilegung773 methodisch deutlich überlegen ist, so bleibt sie doch stets von der Zustimmung beider Parteien abhängig. Auch wenn die Mediation im Gegensatz zum Zivilprozess grundsätzlich eine wertschöpfende Integration der gegenseitigen Interessen der Parteien und damit die Realisierung von win-win-Lösungen und pareto-optimalen Kooperationsgewinnen auf der Grundlage einer versöhnenden Herstellung der Beziehung der Parteien zueinander ermöglicht, so bleiben diese Möglichkeiten wertlos, wenn am Ende aufgrund fehlender Einigung überhaupt kein Interessenausgleich zustande kommt.774 Umgekehrt bedeutet dies jedoch gleichzeitig, dass dem Zivilprozess und der durch ihn stets gewährten Möglichkeit der Durchsetzung der durch die subjektiven Rechte geschützten Interessen der Parteien eine grundlegende und unverzichtbare Gerechtigkeitsfunktion zukommt. Zwar vermag das gerichtliche Urteil aufgrund der systemimmanenten Schwächen des zivilgerichtlichen Verfahrens nicht in jedem Fall einen dem Mediationsvergleich entsprechenden Interessenausgleich herbeizuführen. Es garantiert den Parteien indes jedenfalls die Durchsetzung ihrer subjektiven Rechte und damit die Bewährung des dem positiven Gesetzesrecht775 zugrunde liegenden typisierten Interessenausgleichs. Diese Rechtsschutzfunktion, die in ihrem Kern dem Interessenschutz der Parteien durch Interessenausgleich und damit letztlich der Durchsetzung materieller Gerechtigkeit dient (suum cuique tribuere)776, entfaltet dabei, wie wir sehen konnten, eine erhebliche verhaltenssteuernde Fernwirkung im Hinblick auf das Konfliktverhalten der Parteien im Mediationsverfahren wie auch das
Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. 773 Vgl. zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses oben S. 160 ff., 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279 774 Zur Bedeutung der tatsächlichen Interessen der Parteien im Kontext distributiver Gerechtigkeit eingehend oben S. 222 ff. 775 Hierzu eingehend oben S. 637. 776 Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff.
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weitere Handeln der Parteien. Die Verfügbarkeit des Zivilprozesses als im Falle der fehlenden Einigung eingreifende Rückfallordnung777 motiviert die Parteien im Rahmen der Bewertung der Nichteinigungsoptionen (etwa im Rahmen einer Prozessrisikoanalyse778) zur Berücksichtigung des materiellen Rechts und damit zu rechtskonformem Verhalten in der Mediationsverhandlung. Ebenso wie rechtskonformes Handeln regelmäßig des Sanktionsmechanismus des notfalls mit staatlichem Zwang durchzusetzenden Rechts bedarf, so vollzieht sich auch die Mediation im Schatten des Rechts. Bei aller Kritik an den Schwächen des Zivilprozesses, seiner mangelnden Leistungsfähigkeit als Instrument effektiver Konfliktbeilegung und seiner negativen Folgewirkungen für die Parteien779, bleibt er als Instrument der Durchsetzung des materiellen Rechts für das Mediationsverfahren unverzichtbar und damit letztlich konstitutiv. Ebenso wie die konsensuale Einigung als primäre, dem Menschen und seiner Natur entsprechende Form der Konfliktbeilegung aus der Lebenswirklichkeit nicht hinwegzudenken ist, so vermag auch die Mediation ohne die schützende Hut des Zivilprozesses nicht zu bestehen. In seiner rechtsschützenden Funktion erweist sich der Zivilprozess damit nicht nur als komplementäre Ergänzung780, sondern vielmehr als konstitutive Grundlage des Mediationsverfahrens. (2) Rechtsordnung Als Instrument der Durchsetzung des materiellen Rechts wirkt der Zivilprozess durch die Verwirklichung der subjektiven Rechte der Parteien zugleich auf die Rechtsordnung als Ganzes ein. In dieser rechtsbewährenden Funktion781 sieht Fiss die zentrale Aufgabe der Rechtsprechung im Gefüge des Verfassungsstaates.782 Und in der Tat erfüllt der Zivilprozess dadurch, dass er jenen dem Gesetzesrecht zugrunde liegenden Werten und den der Verfassung immanenten Vorstellungen von Staat und Gesellschaft rechtstatsächliche Wirkung verschafft und sie damit in gelebte Rechtswirklichkeit transformiert, eine für den Verfassungsstaat lebensnotwendige Scharnier- und Transformationsfunktion zwischen der rechtlichen Sollens- und der tatsächlichen Seinsordnung. Durch diese Transformationsleistung ermöglicht er eine Konkretisierung des Rechts
777
Hierzu eingehend oben S. 299 ff. Zur Prozessrisiko- bzw. Szenarioanalyse eingehend Aaron, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 202; Bühring-Uhle/Eidenmüller/ Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 100 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 243 ff. 779 Hierzu eingehend oben S. 12. 780 Hierzu bereits eingehend oben S. 143 ff. 781 Vgl. hierzu oben S. 637 ff. 782 Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1, 44 (1979). Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1085 (1984), Vgl. hierzu oben S. 642 ff. 778
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und die Sicherung der Rechtsfortbildung783 und gewährleistet auf diese Weise Rechtssicherheit784 und Rechtseinheit785. Rechtliches Handeln wird durch die Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen so plan- und steuerbar. Die Funktion des Zivilprozesses als Instrument der Bewährung der objektiven Rechtsordnung bildet damit das ausgleichende Moment zu dem mit dem Mediationsverfahren in Verbindung gebrachten Risiko des Normrelativismus.786 Allerdings haben wir bereits im Rahmen unserer Untersuchung der Mediation gesehen, dass das Recht auf vielfältige Weise auf die Einigungsentscheidung der Parteien einwirkt und damit die Gefahr einer Relativierung des rechtlichen Normgefüges der objektiven Rechtsordnung als gering anzusehen ist. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang jedoch die Erkenntnis, dass dieses Risiko gerade aufgrund der rechtsbewährenden Funktion des Zivilprozesses minimiert wird. Mediation und Zivilprozess sind daher auch in funktioneller Hinsicht in vielfacher Weise miteinander verzahnt und ergeben so immer mehr das Bild eines symbiotisch miteinander verwobenen komplementären Verfahrenspaars, das als Ausprägung formaler wie informaler Gerechtigkeit erst im wechselseitigen Zusammenspiel die zur Realisierung materieller Gerechtigkeit notwendige Fülle des Rechts in der Rechtswirklichkeit zur Geltung bringt. (3) Gesellschaft Durch die gesellschaftliche Dimension des Rechts als Steuerungsmedium menschlichen Handelns bringt der Zivilprozess freilich auch Verfahrenswirkungen hervor, die nicht auf den „Innenbereich“ der objektiven Rechtsordnung als System des Rechts beschränkt bleiben, sondern darüber hinaus auf vielfältige Weise in den gesellschaftlichen Bereich unmittelbarer menschlicher Interaktion hineinwirken. Soweit es um aus konflikttheoretischer Perspektive vorteilhafte Verfahrenswirkungen geht, entsprechen sie auch hier den Funktionen des zivilgerichtlichen Verfahrens: Herstellung und Wahrung des Rechtsfriedens787, die Verhaltenssteuerung durch Anreize zu rechtskonformem Verhalten sowie die Kompensation struktureller Machtungleichgewichte. Ein Vergleich dieser Verfahrenswirkungen mit denen des Mediationsverfahren zeigt, dass sie 783 Vgl. hierzu oben S. 651 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4. 784 Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 2; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545, 545 f. Differenzierend Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 17. 785 Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4. 786 Vgl. hierzu oben S. 81 ff. 787 Vgl. hierzu oben S. 653 ff.
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auch hier einen gleichsam idealtypischen Ausgleich der mit der Mediation verbundenen Risiken gewährleisten. Durch die nicht nur im Fall der Einigung, sondern dauerhaft garantierte und damit stets zur Verfügung stehende Möglichkeit der Konfliktbeendigung durch verbindliche, richterliche Entscheidung vermag der Zivilprozess auch dann eine Befriedung des Konfliktes herbeizuführen, wenn die Mediation aufgrund fehlender Einigung der Parteien scheitert. Auch wenn die Qualität des gerichtlichen Urteils im Hinblick auf den damit gewährleisteten Interessenausgleich hinter den Möglichkeiten des Mediationsvergleichs zurückbleibt und der Zivilprozess damit nicht in gleicher Weise zu einer nachhaltigen, dauerhaften und ursächlichen Beilegung des Konfliktes beitragen kann788, so garantiert er zumindest eine Beilegung des Konfliktes auf der Grundlage eines materiellen, durch das objektive Recht getroffenen, typisierten Interessenausgleichs. Ob der Konflikt beigelegt wird, ist damit dem Einflussbereich der Parteien entzogen, hängt nicht mehr von der Zustimmung der Beteiligten ab, sondern ist regelmäßiges Ergebnis des Zivilprozesses. Im Gegensatz zur Mediation erweist sich das gerichtliche Verfahren folglich als streitbeendigender Garant der Aufrechterhaltung und Wahrung des Rechtsfriedens.789 Die formalen Verfahrensgewährleistungen des Zivilprozesses schaffen darüber hinaus einen gesicherten Raum, in dessen Rahmen auch strukturell schwächere Parteien zur Durchsetzung der ihnen zustehenden subjektiven Rechte befähigt werden.790 Der damit verbundene Ausgleich bestehender struktureller Macht- und Informationsasymmetrien erleichtert den Parteien den Zugang zum Recht und ist daher geeignet, gesellschaftlichen Missständen, die in der Übervorteilung sozial schwacher Gruppen bestehen, durch den Zugang zu formalisiertem Rechtsschutz zu begegnen. Schließlich wirkt der Zivilprozess durch seine sanktionierende Wirkung verhaltenssteuernd sowohl auf die Parteien als auch auf die Gesellschaft als Ganzes ein und motiviert den Einzelnen auf diese Weise zu rechtskonformem Handeln. dd) Risiken Die Vorteile des zivilgerichtlichen Verfahrens als Instrument der Durchsetzung materiellen Rechts, seine subjektiv rechtsdurchsetzende und objektiv rechtsschützende Wirkung, seine Befriedungswirkung durch die Gewährleistung einer notfalls auch mit Zwang durchzusetzenden Beendigung des Konfliktes, seine verhaltenssteuernde und konfliktbeendigende Wirkung haben allerdings ihren Preis. Sie sind mit erheblichen Risiken verbunden, die ihre Ursache in
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Zu den systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses vgl. oben S. 12 ff. Vgl. hierzu oben S. 653 ff. sowie mit Blick auf die Beendigung des Konfliktes oben S. 626 ff. 790 Vgl. hierzu oben S. 687 ff. 789
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den systemimmanenten Schwächen eines auf der Anwendung abstrakt-generellen Gesetzesrechts basierenden Systems der Streitbeilegung haben.791 Und es sind diese Risiken und Gefahren des Zivilprozesses, die im Mittelpunkt der ADR-Diskussion und zugleich am Beginn der ADR-Bewegung stehen.792 Denn die Hinwendung zu Verfahren der alternativen Streitbeilegung erfolgte gerade als Reaktion auf die untragbaren Verhältnisse des US-amerikanischen Justizsystems. Sie waren Gegenstand der mittlerweile klassischen Pound Conference von 1976793, die als Geburtsstunde der modernen ADR-Bewegung gilt794 und die angetreten war, gerade jenen Gefahren und Nachteilen des Zivilprozesses durch die Entwicklung neuer, konsensualer Verfahren zu begegnen. In der Tat ist der Mechanismus rechtlicher und damit konfrontativ im Wege des staatlichen Zwanges durchgesetzter Konfliktlösung mit erheblichen negativen Auswirkungen auf die Parteien, den Konflikt sowie die gesellschaftliche Konfliktkultur verbunden, wie wir insbesondere im Rahmen unserer rechtstheoretischen Untersuchung des Zivilprozesses gesehen haben.795 Im Folgenden wollen wir die Ergebnisse unserer Betrachtung in einer gleichsam analytischen Gesamtschau zusammenführen, um auf dieser Grundlage sodann das Verhältnis zwischen Zivilprozess und Mediationsverfahren als Teil einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre zu bestimmen.796 (1) Konflikt Als heteronomes Drittentscheidungsverfahren bedarf der Zivilprozess aus einer rein funktionalen Perspektive des Rückgriffs auf das materielle Recht als neutralem, allgemein anerkanntem und damit auch legitimierendem Entscheidungsmaßstab, um auch im Falle eines mangelnden Konsenses der Parteien eine Entscheidbarkeit des Konfliktes zu gewährleisten. Tatsächlich ist er als Instrument der Durchsetzung des materiellen Rechts an dieses gebunden und erfüllt gegenüber der objektiven Rechtsordnung eine dienende Funktion. Der
791
Vgl. hierzu oben S. 12 ff. Vgl. hierzu nur klassisch Pound, 29 A.B.A. Rep. 395 (1906) sowie eingehend oben S. 9 ff. 793 Hierzu oben S. 9 ff. Vgl. zur Pound Conference eingehend Judicial Conference of the United States Conference of Chief Justices, 70 FRD 79 (1976) und Levin/Wheeler, The Pound Conference (1979) sowie Strempel, JZ 1983, 596; Subrin, 59 Brook. L. Rev. 1155 (1993); Stempel, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 297 (1996); Brazil, 18 Ohio St. J. on Disp. Resol 93 (2002); Della Noce, 17 Ohio St. J. on Disp. Resol. 545 (2002); Birner, Das MultiDoor Courthouse (2003), S. 44 ff. 794 Vgl. Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007) sowie Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 1 (2000); Gray, 22 Neg. J. 445, 445 ff. (2006). 795 Vgl. oben S. 12 ff. 796 Hierzu eingehend unten S. 708 ff. 792
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Rückgriff auf das materielle Recht als Entscheidungsmaßstab hat allerdings weitreichende Konsequenzen für die Weiterentwicklung des Konfliktes und die Qualität einer Beilegung. (a) Ineffektive Beilegung des Konfliktes Um prozessual verarbeitbar zu sein und die an das Eingreifen bestimmter Tatbestände geknüpften Rechtsfolgen auslösen zu können, bedarf der Konflikt zunächst der rechtlichen Kodierung: Im Wege der komplexitätsreduzierenden Verrechtlichung797 wird er durch Reduzierung auf einen rechtlich subsumptionsfähigen Tatsachenkern in einen abgeleiteten Metakonflikt transformiert798 und damit gleichsam in den Trichter799 des Verfahrens eingespeist, das den auf diese Weise reduzierten Sachverhalt weiterverarbeitet und ihm nach erfolgter Subsumption die jeweils einschlägige Rechtsfolge zuweist. Die vom Recht vorgesehene Entscheidung des Konfliktes kann aufgrund der für die Anwendung abstrakt-genereller Regelungen notwendigen Abstraktion allerdings nur in Form eines typisierten Interessenausgleichs und damit lediglich als Näherungslösung erfolgen.800 Der binäre Schematismus gerichtlicher Alles-oderNichts-Entscheidungen801 reduziert die Konfliktbehandlung auf ein Nullsummenspiel802, das die wertschöpfende Entwicklung beiderseits interessengerechter win-win-Lösungen803 sowie die Realisierung pareto-optimaler Koope-
797 Vgl. hierzu oben S. 12 ff. sowie Galtung, 2 J. Peace Res. 348 (1965); Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 59 ff., 69 ff.; Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 124 ff., 134 f., 137 ff.; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 187; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 11. 798 Vgl. hierzu oben S. 15 ff sowie Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 139; Aubert, The Hidden Society (1965), S. 98 f.; Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 104; Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/ Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186. 799 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 115. Vgl. hierzu oben S. 24 f. 800 Hierzu oben S. 13 ff. 801 Hierzu oben S. 20 ff. sowie sowie Luhmann, in: Asmussen/Pawlik (Hrsg.), Material über Zukunftsaspekte der Rechtspolitik (1976), S. 67, 69; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. Vgl. auch Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Stürner, DRiZ 1976, 202, 203; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/ Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff. 802 Vgl. zur Problematik des Nullsummenspiels oben S. 17, Fn. 59 sowie Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 102, 116 ff. (1990). 803 Vgl. hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff. sowie Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim. Vgl. auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhand-
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
rationsgewinne verhindert und einen komplexen, multidimensionalen Konfliktsachverhalt in die starre Schablone der durch antizipierende Abstraktion vordefinierten Rechtsfolgen zwängt. Indem die gerichtliche Entscheidung auf die Bewertung eines in der Vergangenheit liegenden Sachverhaltes beschränkt bleibt und nicht auf die zukünftige Gestaltung der Beziehung zwischen den Parteien und den Ausgleich ihrer gegenseitigen Interessen gerichtet ist, ist der Zivilprozess in der Regel notwendig retrospektiv.804 Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens sind nicht die sich aus den unterschiedlichen Dimensionen des Konfliktes ergebenden Interessen der Parteien, sondern der zivilprozessuale Streitgegenstand805, die von den Parteien auf der Grundlage eines bestimmten Lebenssachverhaltes geltend gemachten Rechtsansprüche. Die für die Beteiligten wichtigen Konfliktdimensionen werden dagegen als nicht entscheidungserheblich aus dem Verfahrensstoff ausgeschieden. Ein Ausgleich der dem Konflikt tatsächlich zugrunde liegenden Interessen der Parteien ist dadurch kaum möglich. Der Zivilprozess ist daher nur eingeschränkt geeignet, den Konflikt dauerhaft, nachhaltig und ursächlich beizulegen. Im Gegenteil kann das vom Gesetz vorgesehene Ergebnis an den tatsächlichen Interessen der Parteien vorbeigehen und im Einzelfall, wenn schon keine wertschöpfende und beiderseits interessengerechte win-win-Lösung erzielt werden kann, möglicherweise sogar zu einer lose-lose-Lösung führen.806 Letztendlich würde damit die formal obsiegende Partei aus dem Zivilprozess als Verliererin hervorgehen, selbst wenn ihre materiellen Forderungen erfüllt werden würden, weil der Zivilprozess den Konflikt nur symptomatisch und nicht ursächlich bewältigt und die dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen durch das zivilprozessuale Verfahren nicht thematisiert worden sind. Das Verfahren wäre für beide Parteien ein Verlust an materiellen und immateriellen Ressourcen. Aus diesem Grund bedarf das gerichtliche Urteil der Legitimation durch den Mechanismus der Verstrickung der Parteien in das zeremonielle Rollenspiel des Verfahrens und notfalls der Durchsetzung im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens, weil seine Qualität, sein materieller Inhalt allein die Parteien regelmäßig nicht zu überzeugen und zur Befolgung zu motivieren vermag.
lungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 804 Vgl. hierzu oben S. 19 ff. 805 Hierzu eingehend MünchKomm/Becker-Eberhard, ZPO (5. Aufl. 2016), Vor. § 253 Rn. 32 ff.; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 68 ff.; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 97 ff. sowie Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 118 ff.; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 218 ff. 806 Vgl. hierzu im Kontext intuitiven Verhandlungsverhaltens Thompson/Hrebec, 120 Psychol. Bull. 396, 400 ff. (1996).
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(b) Eskalation des Konfliktes Aus der Funktion des Zivilprozesses als Instrument zur Durchsetzung des materiellen Rechts folgt, wie wir bereits gesehen haben, zugleich seine kontradiktorische Struktur. Um die geltend gemachten Rechtspositionen auf geordnete Weise in das Verfahren einzuführen und zur Grundlage der richterlichen Entscheidung zu machen, bedarf der Zivilprozess der Mitwirkung der Parteien in Form vordefinierter Rollen des Klägers und des Beklagten. Dass diese für die argumentative Auseinandersetzung im Rahmen eines rechtsorientierten Verfahrens zweifellos erforderliche Struktur zugleich zu einer erheblichen Eskalation des Konfliktes und zu seiner Ausweitung sowie der Bildung von Tochterkonflikten beiträgt, haben wir im Rahmen unserer Untersuchung bereits gesehen.807 Unser Befund sei daher an dieser Stelle nur holzschnittartig zusammengefasst: Die Teilnahme der Parteien am Verfahren in den vordefinierten, kontradiktorischen Rollen sich antagonistisch gegenüberstehender Gegner, die kontrafaktisch stabilisiert und mit konkreten Erwartungen an ein kohärentes, dem geltend gemachten Rechtsanspruch entsprechendes Prozessverhalten verbunden sind, bestärkt die Parteien in ihrer Gegnerschaft und legitimiert diese, indem sie ihnen durch die Einkleidung in eine formalisierte Verfahrensrolle gleichsam einen „Freibrief für Gegnerschaft“808 ausstellt. Die Parteien werden in ihrem konfrontativen Verhalten fixiert und bestärkt.809 Das Trennende wird durch die fortlaufende Begründung der eigenen und den Versuch der Widerlegung der jeweils anderen Position im Wege des durch den Schriftsatzwechsel erfolgenden argumentativen Austauschs zementiert.810 Ein Wechsel in die Rolle des Problemlösers ist ohne Gesichtsverlust und Verletzung der Rollenkohärenz nicht mehr ohne weiteres möglich.811 Durch das Überschreiten der Thematisierungsschwelle, durch die Thematisierung des Rechts, die gegenüber dem Konfliktpartner zugleich den impliziten Vorwurf der Rechtsverletzung enthält, der gegenüber dieser gezwungen ist, sich zur Wehr zu setzen, wird ein Kettenprozess in Gang gesetzt, der eine Eigendynamik entfaltet, der sich die Parteien nicht mehr ohne weiteres zu entziehen vermögen.812 Die Parteien werden in eine sich trichterförmig verengende und stetig eskalierende Konfliktdy-
807
Eingehend hierzu oben S. 22 ff. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 103. 809 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 53. 810 Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 17. 811 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 f. 812 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 60, 71. Vgl. auch Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff. 808
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namik hineingezogen, die unaufhaltsam auf eine richterliche Entscheidung zuläuft, den Parteien die Rolle des Siegers oder Verlierers zuweist und damit zu einer endgültigen Isolierung der unterliegenden Partei führt.813 Nach Überschreiten eines point of no return mündet der Konflikt in einen Goffmanʼschen character contest814 als Metakonflikt, bei dem es nicht mehr um die Sache an sich, um den eigentlichen Konflikt, sondern nur noch um die Frage geht, aus dem Streit als Sieger hervorzugehen. (c) Zerstörung der Parteibeziehung Dieser dem Zivilprozess eigene Eskalationsmechanismus, der sich als notwendige Konsequenz aus der für eine rechtliche Entscheidung notwendigen kontradiktorischen Struktur ergibt, wirkt sich auf vielfache Weise auf die Wahrnehmung815, die Emotionen816 und das Verhalten der Parteien aus. Die Problematik der konfliktbedingten Wahrnehmungsverzerrungen817 ist von der kognitionspsychologischen Forschung bereits für das intuitive Verhandlungsverhalten eingehend untersucht worden und wird im Zivilprozess weiter verstärkt. Die Fixierung der Parteien in antagonistisch vordefinierten Rollenbildern hat erhebliche Auswirkungen auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Beteiligten: Als Folge der immer weiter fortschreitenden Eskalation des Konfliktes wird eine konstruktive Kommunikation der Parteien sowie der für eine realistische Einschätzung des Konfliktes notwendige sachliche Austausch verhindert.818 Durch die Zuspitzung des Konfliktes werden die Parteien in eine Spirale der Konfrontation hineingezogen und zu Verteidigungsverhalten motiviert, das die eingenommenen Rechtspositionen weiter verfestigt.819 Schon aufgrund der ihnen zukommenden Rolle sind sie dazu herausgefordert, den Sach- und Rechtsvortrag des jeweiligen Konfliktpartners von vornherein als unerheblich abzulehnen und ihn unabhängig davon, ob er zutrifft
813
Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 115. Hierzu eingehend Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff. Vgl. dazu auch Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 sowie oben S. 24 ff. 815 Zum Problem der Wahrnehmungsverzerrungen in Verhandlung und Mediation eingehend vgl. Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. mwN. 816 Zur Bedeutung von Emotionen für die Konfliktdynamik im Mediationsverfahren vgl. oben S. 133 ff. 816 Zur entgegengesetzten, eskalierenden Wirkung des Zivilprozesses oben S. 22 f. 817 Vgl. hierzu oben S. 215 Fn. 212 sowie die hier genannten Nachweise. 818 Zum Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit adversarialer Konfliktbeilegung eingehend oben S. 27 ff. 819 Vgl. hierzu oben S. 26 ff. 814
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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oder nicht, zu widerlegen. Die mit der Einbeziehung der Parteien in das Verfahren stets verbundene Rollenkohärenz verhindert eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Position.820 Die Folge ist eine selektive Wahrnehmung, bei der die Schwächen der eigenen sowie die Stärken der gegnerischen Position systematisch ausgeblendet und Umstände, welche die eigenen Rechtspositionen stützen, überbewertet werden. Die Folge ist ein unrealistischer Überoptimismus sowie eine Überschätzung der eigenen Position und Fähigkeiten, die den Konflikt weiter verschärfen, die Beziehung zwischen den Parteien belasten und damit einer Einigung im Wege der Verhandlung entgegenstehen.821 Weil die Parteien aufgrund der Illusion der Überlegenheit darüber hinaus ihre eigenen Interessen und Positionen intuitiv für wertvoller und wichtiger halten als die ihres jeweiligen Verhandlungspartners, bleiben sie in ihrer eigenen Realität gefangen und betrachten den Konflikt aus ihrer jeweils unterschiedlichen Perspektive.822 Um die bereits durch das Einleiten und Betreiben des Zivilprozesses aufgewandten Kosten nicht als Verlust abschreiben zu müssen, sondern durch das Obsiegen im Prozess als Investition gleichsam wieder „hereinzuholen“, halten die Parteien verbissen an dem einmal eingeschlagenen Weg fest und werfen damit gleichsam „schlechtem Geld gutes hinterher“ (Sunk-Cost Phänomen).823 Aufgrund des Bedürfnisses nach kognitiver Konsonanz werden sie in die Dynamik des stetig eskalierenden Konfliktes weiter verstrickt und dazu verleitet, an der einmal getroffenen Entscheidung – und zwar unabhängig von ihrer Vernünftigkeit – auch im Hinblick auf die Zukunft festzuhalten.824 Zugleich ändert sich auch die Wahrnehmung der gegnerischen Partei: Der Konflikt wird weniger den Umständen als dem Verhalten des Konfliktpartners zugeschrieben. Aufgrund des Mechanismus der reaktiven Abwertung wird der Sach- und Rechtsvortrag des Prozessgegners von vornherein abgelehnt.825 Der Konfliktpartner wird weitgehend negativ wahrgenommen, positive Aspekte werden zunehmend in den Hintergrund gerückt. Mit fortschrei-
820
Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 53 sowie oben S. 25 ff. Zum illusorischen Optimismus (overconfidence bias) vgl. Bühring-Uhle/Eidenmüller/ Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 44 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 28 f., 239 ff.; Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 372 f. 822 Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 42. 823 Vgl. hierzu Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 4; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011). 824 Hierzu näher Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41, 48. 825 Vgl. hierzu grundlegend Ross, in: Arrow/Mnookin/Ross/Tversky/Wilson (Hrsg.), Barriers to Conflict Resolution (1995), S. 26 sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 43; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 31 f.; Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 14. 821
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tender Dauer des Konfliktes werden die Parteien in ihren negativen emotionalen Haltungen gefestigt. Der Konflikt greift von der Sach- auf die personale Ebene über und führt zu einer weiteren Erosion der Beziehung zwischen den Parteien. Zugleich verhindert der persönliche Konflikt eine Lösung des Sachproblems.826 Die kognitiven und emotionalen Voraussetzungen für wertschöpfendes Verhandeln und die Entwicklung einer beiderseits interessengerechten Einigungsentscheidung, die einen Wechsel vom kontradiktorischen Verfahren in die konsensuale Verhandlung im Rahmen des Mediationsverfahrens erforderlich machen würde, bestehen nicht. Durch das ritualisierte Zeremoniell des zivilgerichtlichen Verfahrens, das die unmittelbare, bipolare Kommunikation der Parteien durch eine tripolare, weitgehend durch den Richter vermittelte Kommunikation ersetzt, durch die Verfremdung der Sprache, den Wechsel von der Alltagssprache hin zu einer juristischen Fachsprache, die den Einsatz professioneller Parteivertreter erforderlich macht, werden die Parteien einander entfremdet. Die mit der persönlichen Nähe und der Konfrontation mit dem Konflikt als gemeinsamem Problem verbundenen positiven Auswirkungen des exposure827 und propinquity effect828 sowie des similarity-attraction effect829 können im Gegensatz zum Mediationsverfahren für den Zivilprozess nicht fruchtbar gemacht werden. Insgesamt hat der Zivilprozess damit auf der Beziehungsebene eine Umformung des Verhältnisses der Parteien zueinander zur Folge, welche die Persönlichkeit der Parteien als Ganzes in der Vielfalt ihrer kognitiven und emotionalen Dimensionen erfasst. Die durch den Zivilprozess ausgelöste Transformationswirkung ist dabei der des Mediationsverfahrens komplementär entgegengesetzt: Ebenso, wie die Mediation die Parteien durch einen multilateralen Rollentausch wieder aufeinander hin ausrichtet, bestehende Wahrnehmungsverzerrungen ausgleicht (debiasing), negative emotionale Haltungen auflöst und durch positive ersetzt, so werden die Parteien durch den Zivilprozess in ihren konfliktbedingten Rollenmustern sich antagonistisch gegenüberstehender Gegner gefestigt, in ihrer ablehnenden Haltung bestätigt sowie bestehende Wahrnehmungsverzerrungen (biasing) und negative emotionale Haltungen verstärkt. Kooperatives Handeln wird immer schwieriger, der Wechsel in die
826 Vgl. zur Differenzierung zwischen Sach- und Beziehungsebene eingehend Fisher/ Brown, Getting Together (1989); Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 17 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 9; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 52 ff. 827 Zajonc, 9 J. Pers. Soc. Psychol. 1 (1968). Vgl. hierzu auch Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138. 828 Segal, 30 J. Pers. Soc. Psychol. 654 (1974). Vgl. hierzu auch Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138 f. 829 Griffin/Sparks, 7 J. of Soc. and Pers. Relationships 29 (1990). Vgl. hierzu auch Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138.
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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Rolle des Problemlösers zunehmend erschwert.830 Ebenso wie das Mediationsverfahren ist damit auch der Zivilprozess für die Parteien mit einem intuitiven Lernprozess verbunden, der die Parteien allerdings nicht wie in der Mediation zu kooperativem Verhalten erzieht, sondern sie stattdessen in ihren aggressiven Verhaltensmustern festigt und bestärkt. (d) Höherer Zeit- und Kosteneinsatz Die Verlagerung des Konfliktes auf ein staatliches Streitbeilegungsverfahren ist für die Parteien mit einem erheblichen Zeiteinsatz und hohen materiellen wie immateriellen Kosten verbunden. Durch das Ingangsetzen des Zivilprozesses im Wege der Klageerhebung fallen für die Parteien zunächst die Verfahrenskosten (Gerichtskosten und Anwaltskosten) als direkte Konfliktkosten an. Diese liegen im Vergleich deutlich höher als die Kosten des Mediationsverfahrens und sind, soweit sie etwa im Rahmen der Anwaltskosten die im RVG vorgesehenen Vergütungssätze übersteigen, auch im Falle eines Obsiegens nur zum Teil erstattungsfähig. Darüber hinaus werden die durch den Konflikt verursachten mittelbaren Kosten – etwa der Arbeitsausfall, der Zeitverlust oder der Verlust von Geschäftsbeziehungen – durch den Zivilprozess weiter erhöht, weil das laufende Gerichtsverfahren regelmäßig zu einer weiteren Eskalation des Konfliktes beiträgt und damit eine schnelle und effektive Beilegung des Konfliktes im Wege der Einigung verhindert.831 Schließlich besteht auch die Gefahr, dass sich der Konflikt durch das Entstehen von Tochterkonflikten ausbreitet und so weitere zusätzliche Kosten nach sich zieht.832 Allerdings ist im Hinblick auf die Konfliktkosten nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität des entstandenen Schadens von Bedeutung. So wird im Rahmen der internationalen ADR-Diskussion in besonderer Weise auf die hohen menschlichen „Kosten“ des Zivilprozesses hingewiesen, der aufgrund seines stark kontradiktorischen und konfrontativen Charakters für alle Beteiligten regelmäßig als eine erhebliche (Dauer-)Belastung angesehen wird. Für die Beteiligten ist der Preis eines Zivilverfahrens regelmäßig sehr hoch und häufig mit erheblichen emotionalen, psychischen und seelischen Belastungen verbunden. Aufgrund des materiell nicht fassbaren Wertes menschlicher Gesundheit und menschlichen Lebens einschließlich seiner Entfaltungsmöglichkeiten und des Schutzes der Persönlichkeit des Einzelnen können derartige Schäden erheblich sein. Im Hinblick auf die Zerstörung der Beziehung zwischen den Parteien wird jedenfalls dann, wenn zwischen den Parteien eine Ge-
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Vgl. hierzu oben S. 24 f. Zur Thematik der mittelbaren Konfliktkosten insbesondere aus unternehmerischer Sicht vgl. eingehend die KPMG, Konfliktkostenstudie (2009), S. 28 ff. 832 Vgl. zur Eskalationstendenz des Zivilprozesses eingehend oben S. 22 ff. 831
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schäftsbeziehung bestand, der immaterielle Schaden der geschädigten Beziehung für die Beteiligten darüber hinaus häufig auch finanzielle Nachteile mit sich bringen. (2) Rechtsordnung In den vorangegangenen Abschnitten haben wir gesehen, dass der Zivilprozess in seiner rechtsbewährenden Funktion für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung von konstitutiver Bedeutung ist. So widersprüchlich es auf den ersten Blick erscheinen mag: Der Zivilprozess kann, wenn er übermäßig ge- oder entgegen der ihm zukommenden Funktionen missbraucht wird, umgekehrt die Funktion der Rechtsordnung durchaus erheblich beeinträchtigen. Die negativen Auswirkungen einer übermäßig prozessierenden Gesellschaft sind in den USA vor dem Hintergrund eines erheblichen Anstiegs der Zivilprozesse in den 80er Jahren unter dem Stichwort der „litigious society“ intensiv diskutiert worden.833 Im Anschluss an die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung der 50er60er Jahre, die durch die Beseitigung bestehender Barrieren den Zugang zur staatlichen Justiz erheblich vereinfachte, die Gerichte zunehmend in Katalysatoren und Instrumente gesellschaftlicher Veränderung verwandelte und sie auf diese Weise mehr und mehr zu politischen Institutionen machte, kam es zu einem erheblichen Anstieg der Zivilprozesse, die nun vermehrt zur Lösung gesellschaftlicher Probleme in den Dienst genommen wurden: So verklagte 1976 die Italian Historical Society of America den US Postal Service vor einem Bundesgericht, um die Herausgabe einer Briefmarke im Gedenken an Alexander Graham Bell zu verhindern, mit der Begründung, dass das Telefon von Antonio Meucci erfunden worden sei.834 Der New York City Road Runners Club wurde Adressat der Klage eines Rollstuhlfahrers wegen angeblicher Diskriminierung, weil er ihm die Teilnahme am New York Marathon 1977 verweigerte.835 Und Senator Barry Goldwater verklagte 1979 US-Präsident Carter, um zu erreichen, dass das Gericht die Nichtanerkennung der Volksrepublik China durch die Vereinigten Staaten ohne Zustimmung des Kongresses für rechtswidrig erklärt.836 Auch wenn die genannten Beispiele Extremfälle darstellen und auch in der damaligen Situation wohl kaum Aussicht auf Erfolg gehabt haben dürften, so illustrieren sie doch in plastischer Weise den gesellschaftlichen Kon-
833
Vgl. nur Lieberman, The Litigious Society (1981), S. 169 ff. mwN.; Nader, Disputing Process (1978); Galanter, 31 UCLA L. Rev. 4 (1983). 834 Vgl. hierzu Lieberman, The Litigious Society (1981), S. 4 mwN. 835 Vgl. hierzu Lieberman, The Litigious Society (1981), S. 4 mwN. 836 Vgl. hierzu Lieberman, The Litigious Society (1981), S. 5 mwN.
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text, in dem sich die tatsächliche oder nur wahrgenommene litigation explosion837 vollzog.838 Als gesichert darf indes gelten, dass es in vier zentralen Bereichen zu einem erheblichen Anstieg gerichtlicher Klagen kam: (1) Der Produkthaftung, (2) der Arzthaftung, (3) der Umwelthaftung sowie (4) der Verletzung individueller Rechte durch öffentliche oder private Institutionen. Allerdings ging bereits Mitte der 80er Jahre die Zahl der Zivilverfahren wiederum derart zurück, dass gleichsam als Ironie der Geschichte an die Stelle der Diskussion um die litigious society nur kurze Zeit später die Debatte um den vanishing trial getreten ist.839 Die US-amerikanische Debatte hat damit auf eindrucksvolle Weise die Grenzen einer aufgeregten, auf die Analyse kurzfristiger Trends und die dem jeweiligen Zeitgeist entsprechenden Modethemen ausgerichteten wissenschaftlichen Diskussion aufgezeigt. Auch wenn die bisweilen ins Extreme tendierenden, schon nahezu hysterischen Warnungen – wahlweise vor einer Prozesslawine auf der einen und vor einem dramatischen Rückgang der Zivilprozesse („A World Without Trials?“840) auf der anderen Seite – häufig die für eine objektive Bewertung des Phänomens nötige Nüchternheit vermissen ließen, so hat die Diskussion doch den Blick auf die Risiken einer übermäßigen Nutzung des Zivilprozesses als Instrument gesellschaftlicher Steuerung gelenkt. Dabei haben sich drei Problemkomplexe herauskristallisiert, in denen der Zivilprozess nachteilige Wirkungen für die Rechtsordnung als Ganzes entfalten kann: (1) Die Blockade der Justiz durch eine Überflutung mit Fällen, die als soziale Konflikte eigentlich nicht vor ein staatliches Zivilgericht gehören und so gerichtlichen Rechtsschutz in den für die Betroffenen tatsächlich wichtigen Fällen verzögern (Überlastungsproblem), (2) die Verlagerung sozialer Konflikte auf das Forum des Zivilprozesses, das hierfür nicht geeignet ist und damit auch nur eingeschränkt zu einer Beilegung derartiger Konflikte beitragen kann (Stellvertreterkonflikt-Problem) sowie (3) die Ausübung richterlicher Staatsgewalt in Fällen, in denen der Richter über keine ausreichende Legitimation und Kompetenz verfügt (Legitimationsproblem). 1. Überlastung der Justiz. Auch eine für die Funktion der Rechtsordnung unabdingbar notwendige und damit konstitutive Institution wie der Zivilprozess kann in seiner positiven Wirkung ins Gegenteil umschlagen, wenn sie in quantitativer Hinsicht exzessiv ge- und in qualitativer Hinsicht entgegen ihrer eigentlichen Funktion missbraucht wird.841 Beide Erscheinungsformen der 837 So plastisch Friedman, 1 J. Empirical Legal Stud. 689, 694 (2004) in seiner instruktiven Untersuchung The Day Before Trials Vanished. 838 Hierzu eingehend Lieberman, The Litigious Society (1981), S. 3 ff.; Friedman, 1 J. Empirical Legal Stud. 689, 694 ff. (2004). 839 Vgl hierzu eingehend oben S. 44 f. sowie Galanter, 1 J. Empirical Legal Stud. 459, 461 (2004); Ostrom/Strickland/Hannaford-Agor, 1 J. Empirical Legal Stud. 755 (2004); Kovach, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 27, 33 ff. (2005). 840 Galanter, 2006 J. Disp. Resol. 7, 7 ff. (2006). 841 Vgl. hierzu oben S. 40 ff.
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Funktionsverfehlung des Zivilprozesses können sich dabei gegenseitig verstärken: Zwar kann die Zunahme an Prozessen auch durch eine weitgehend adversiale Konfliktkultur gefördert werden, in der der Einzelne den Zivilprozess tatsächlich als Instrument zur Durchsetzung der ihm zustehenden subjektiven Rechtsansprüche einsetzt. Darüber hinaus wird indes schon der Missbrauch des Zivilprozesses als ersatzweises Forum zur Lösung sozialer Konflikte regelmäßig zu einem Anstieg der Prozesse führen und sich damit notwendig auch auf die Effektivität der Gewährung staatlichen Rechtsschutzes in gewöhnlichen Fällen rechtlicher Konflikte auswirken. 2. Stellvertreterkonflikte. Die Erosion zentraler Institutionen wie der Familie, der Kirche und der Schule als Foren zur Bewältigung sozialer Konflikte infolge der 1968er Bewegung hat ein Vakuum hinterlassen, das in der Folge jedenfalls in den USA in zunehmendem Maße von den Gerichten ausgefüllt worden ist.842 U.S. Chief Justice Warren Burger hat auf das Problem einer Verlagerung sozialer Konflikte von den hierfür geeigneten Institutionen auf den Zivilprozess bereits früh hingewiesen: „Remedies for personal wrongs that once were considered the responsibility of institutions other than the courts are now boldly asserted as legal ‘entitlements.’”843 Zu den Ursachen dieser Entwicklung schreibt Williams: „Because the growing middle class could not be depended upon to lead a Marxist revolution based upon economic considerations, Marxism was translated from economic terms into cultural terms. … The family, church and government were relentlessly criticized for the purpose of destroying them. This movement was most noticeable on college campuses in the 1960s, but has carried over within intellectual circles to the present day.”844
Und auch Galanter stellt fest: „The decline of church, schools and family are well documented in the sociological literature. Their decline has resulted in increased societal reliance on the courts to perform their functions.”845 „Current turning to the courts is the result of the diminishing ability of other less formal institutions to authoritatively perform decision-making roles. The family, the church, the school and the neighborhood are losing their authority. … The schools are no longer effectively engaged in the disciplining of young people; the extended family has ceased to play a decisive role in resolving marital and other family disputes; the churches are no longer the principal place where moral precepts are enforced; and the local communities and neighborhoods no longer constrain anti-social behavior. Similarly, the chambers of commerce and trade associations seem no longer equipped to mediate and settle commercial disputes. The inability of these institutions to continue to perform the decision-making role which was
842
Vgl. hierzu Galanter, 31 UCLA L. Rev. 4, 67 (1983). Burger, 68 A.B.A. J. 274, 275 (1982). 844 Williams, 29 Campbell L. Rev. 591, 653 (2007). Hervorhebungen durch den Verfasser. 845 Galanter, 31 UCLA L. Rev. 4, 67 (1983). Hervorhebungen durch den Verfasser. 843
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871
characteristic in the not distant past leaves no alternative in many cases but to submit disputes to the legal system.”846
Die Verlagerung sozialer Konflikte auf den Zivilprozess ist damit vor dem Hintergrund der massiven gesellschaftlichen Umwälzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit als eine kompensatorische Reaktion auf den dramatischen Verlust zentraler, unabdingbarer gesellschaftlicher Institutionen zu sehen.847 Die Zweckentfremdung des Zivilprozesses als Instrument zur Lösung nichtrechtlicher, ausschließlich sozialer oder politischer Konflikte wirkt damit in zwei Richtungen: Durch die Überflutung der Gerichte mit für den Zivilprozess weniger geeigneten Fällen blockiert sie die Justiz und beeinträchtigt auf diese Weise die Gewährung effektiven Rechtsschutzes in den gewöhnlichen Rechtsfällen. Zugleich ist aber auch den Parteien mit der Erhebung der Klage kaum geholfen: Liegt ihr ein ausschließlich sozialer Konflikt zugrunde, der in seinen eigentlichen Ursachen von den geltend gemachten Rechtsansprüchen nicht erfasst wird, so wird eine Lösung durch das Ingangsetzen eines Stellvertreterkonfliktes verschleppt und durch die mit der Thematisierung des Rechts einhergehende Eskalation darüber hinaus erschwert. Weil das gerichtliche Urteil als Ergebnis des Zivilprozesses auf diese Weise kaum zu einer nachhaltigen, dauerhaften und tatsächlich ursächlichen Beilegung des Konfliktes beizutragen vermag und gleichsam als „Scheinlösung“ einer tatsächlichen Bewältigung des Konfliktes sogar im Wege steht, wird die Situation der Parteien durch die Wahl des insoweit ungeeigneten Forums nicht verbessert, sondern regelmäßig verschlechtert. Die notwendig folgende Frustration der Parteien über das für sie häufig auch im Fall eines Obsiegens unbefriedigende Prozessergebnis kann dann negativ auf die Institution des Zivilprozesses ausstrahlen und damit die Autorität der und das Vertrauen in die Justiz nachhaltig erschüttern. 3. Legitimationsproblem. Die Behandlung sozialer, ganz überwiegend nichtrechtlicher Konflikte durch die Zivilgerichte hat über das Problem der unzureichenden Eignung des Verfahrens hinaus noch eine weitere Konsequenz: Sie gewährt den Gerichten eine Entscheidungskompetenz, für die ihr die notwendige Legitimation fehlt und die ihr mit Blick auf ihre Rolle im Verfassungsstaat nicht zusteht. Während das Problem der „usurpierten Entscheidungskompe-
846
Galanter, 31 UCLA L. Rev. 4, 67 (1983). Hervorhebungen durch den Verfasser. Kritisch selbst Kraushaar, APuZ B 22-23/2001, 14, 15: „Die 68er Bewegung war vor allem eines: Kritik an den bestehenden Verhältnissen in jeder nur denkbaren Hinsicht. Ihre destruktive Kraft war weitaus größer als ihre konstruktive. Nichts schien vor ihr Bestand zu haben: religiöser Glauben, weltanschauliche Überzeugungen, wissenschaftliche Gewissheiten, staatsbürgerliche Pflichten und Tugenden. Der gesamte Katalog an so genannten Sekundärtugenden wurde infrage gestellt. Die Kritik am Überkommenen, dem Traditionsbestand der Gesellschaft, war ätzend wie ein Säurebad.“ 847
872
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
tenz“ im deutschen Zivilverfahrensrecht aufgrund der klaren Zuständigkeitsregelungen kaum relevant sein wird, ist die Thematik im US-amerikanischen Recht unter dem Stichwort der „imperial judiciary“ Gegenstand intensiver Diskussion. „However, the criticism of litigiousness is not merely that the courts are flooded with spurious lawsuits, delaying the meritorious ones and damaging those who are wrongly sued. The complaint against the floodtide of lawsuits is also, and far more importantly, that the courts, to the public detriment, are actually siding with new kinds of plaintiffs and, in some cases, with lawyers suing on their own. In Nathan Glazer's phrase, the courts are becoming an ‘imperial judiciary’, usurping the role of elected government.”848
(3) Gesellschaft Die weitreichendsten Auswirkungen einer zunehmenden „Prozessualisierung“849 sozialer Konflikte ergeben sich allerdings im gesellschaftlichen Bereich. Denn die Verlagerung sozialer Konflikte von den zentralen Institutionen der Familie, der Kirche und der Schule auf die Zivilgerichte ist stets mit einem Wechsel des primären Verfahrens gesellschaftlicher Steuerung verbunden und bedeutet letztlich, dass der Streit nicht mehr konsensual beigelegt, sondern konfrontativ fortgesetzt und durch eine hoheitliche Entscheidung des Richters beendet wird. Exzessives Prozessieren fördert damit eine adversariale Konfliktkultur, in der die gütliche Beilegung von Streitigkeiten als Schwäche angesehen wird und Konflikte zunehmend im Wege der Konfrontation beigelegt werden. Der Zivilprozess erscheint dabei als Ersatz des gewaltsamen Zweikampfes850, der trotz seiner rechtlichen Gestalt häufig kaum etwas von seiner Aggressivität und seinem martialischen Gepräge eingebüßt hat. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die abnehmende Bereitschaft, die Verantwortung für allgemeine Lebensrisiken selbst zu übernehmen und stattdessen die Ursache im Verhalten anderer zu sehen, die sodann für eingetretene Schäden verantwortlich gemacht werden. „Not every form of human activity is necessarily adversary, however. The parentʼs role is not normally to oppose the child. The doctorʼs intent is to help, not to injure. But the growing desire for redress of injuries prompts us more and more to search for the wrongdoer. That search leads us with increasing frequency to view conduct and relationships as conflicting that not so long ago were unhesitatingly accepted as altruistic and benign. To see conflict where no one perceived it before has become the trademark of our times. Anyone who now promises to act in the best interest of another would have enormous difficulty in sustaining the position. The list of those whose claims would no longer be accepted
848
Lieberman, The Litigious Society (1981), S. 9. Hervorhebungen durch den Verfasser. Vgl. hierzu oben S. 40 ff. 850 Hierzu grundlegend v. Ihering, Der Kampf um's Recht (1872). Vgl. hierzu auch rechtsund konflikttheoretischer Perspektive oben S. 22 ff. 849
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
873
includes psychiatrists, wardens, deans, teachers, social workers, husbands, university presidents, and research scientists.”851 „In many ways, the courts have become the final repositories of social trust, and they have sought to discharge their duty by holding accountable those whose trust was not merited. … For a vast part of the American populace, daily life is outside nature, no longer subject to the old vagaries. The common enemies of man ̶ war, famine, disease, and poverty ̶ are vanquished, or ought to be. When they occur they are viewed as anomalies, perturbations of the social order, obstacles that need quick removal to restore the norm. That is the vision, and when reality is perceived as not squaring with that vision, the rational mind seeks causes and culprits. In our world those culprits can only be other people and their institutions. It is inadmissible to say that the injuries that befall us, caused indirectly if not prompted by other people, are part of the natural order.”852
d) Mediation und Zivilprozess: Ein funktionales Verhältnis symbiotischer Komplementarität Damit hat sich der Kreis unserer funktionalen Analyse der Mediation und des Zivilprozesses geschlossen. Die für die ADR-Bewegung zentrale, von Owen Fiss in seiner legendären ADR-Kritik853 aufgeworfene Frage um die Stellung beider Verfahren im Rechtssystem ist daher differenziert zu beantworten: Unsere Untersuchung hat deutlich gemacht, dass sich die gleichsam symbiotische Komplementarität beider Verfahren bis in die unterste Ebene der Verfahrensfunktionen, ihrer Struktur und Wirkungen, ihrer Vorteile und Risiken nachweisen lässt.854 Beide Verfahren sind für die objektive Rechtsordnung wie für die Gesellschaft als Ganzes unverzichtbar. Als Erscheinungsformen der Prinzipien des Formalen und des Informalen und damit als Kehrseite desselben Grundsatzes der Gerechtigkeit bilden sie eine Einheit, die sich gegenseitig bedingt. Bereits aus funktionaler Perspektive ergibt sich mit Blick auf Funktion, Struktur und Wirkungen des Verfahrens eine klare Präferenz für die Mediation.855 Im Hinblick auf seine Eignung zur effektiven Konfliktbeilegung, seine für die Parteien vorteilhafte privatautonome Struktur wie auch seinen ganz überwiegend positiven Verfahrenswirkungen ist das Mediationsverfahren dem Zivilprozess deutlich überlegen.856 Allerdings ist die Stärke der Mediation – die
851
Lieberman, The Litigious Society (1981), S. 169. Hervorhebungen durch den Verfas-
ser. 852
Lieberman, The Litigious Society (1981), S. 187 f. Hervorhebungen durch den Verfassser. 853 Vgl. grundlegend Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984) sowie Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1 (1979); Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121 (1982); Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273 (2009). Hierzu eingehend oben S. 552 ff. 854 Hierzu eingehend oben S. 107 ff., 143 ff. 855 Hierzu eingehend oben S. 143 ff., 230 ff. 856 Hierzu eingehend oben S. 12 ff.
874
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Privatautonomie der Einigungsentscheidung857 – zugleich eine ihrer größten Schwächen: Denn weil eine Einigung von der Zustimmung der Parteien abhängig ist, muss das Verfahren insgesamt versagen, sobald eine der Parteien nicht zu einem Vergleich bereit ist. Hier vermag nur der Zivilprozess eine gerechte Beendigung des Konfliktes herbeizuführen und erweist sich damit als im Vergleich zur Mediation ineffektivere, jedoch im Hinblick auf den gewährten Rechtsschutz sicherere Verfahrensalternative und somit als ideales Rückgriffsverfahren.858 Damit wird die These des Primats des Mediationsverfahrens859 auf der Grundlage einer funktionalen Analyse beider Verfahren bestätigt. 4. Das Prinzip qualitativer Differenzierung: Verfahrenswahl auf der Grundlage der Verfahrenseignung In den vorangegangenen Abschnitten haben wir das Mediationsverfahren und den Zivilprozess in ihrer Struktur860, ihrer Funktion861 und ihren Wirkungen862 in den Blick genommen und versucht, ihr Verhältnis zueinander auf der Grundlage ihrer jeweiligen Funktion im Rechtssystem unabhängig von der Art des Konfliktes näher zu bestimmen. Im Folgenden wollen wir nun unseren Blick vom Verfahren auf den Konflikt lenken und der Frage nachgehen, ob und in welchem Maße die konkreten Umstände des Konfliktes – etwa der Konflikttyp oder die Präferenzen der Parteien – die Wahl eines bestimmten, zur Lösung des konkreten Konfliktes besonders geeigneten Verfahrens nahelegen. Ein solcher konfliktspezifischer Ansatz geht grundsätzlich von der qualitativen Gleichrangigkeit, zugleich jedoch von der unterschiedlichen Eignung der verschiedenen Konfliktbeilegungsverfahren aus. Danach stellen Mediation und Zivilprozess als Verfahren gesellschaftlicher Steuerung die für jede Gesellschaft unabdingbar notwendigen Mechanismen der Konfliktbeilegung dar, die aufgrund ihrer jeweils spezifischen Verfahrenseigenschaften zur Beilegung ganz bestimmter Konflikte indes nicht in gleicher Weise geeignet sind.863 Abhängig von der Art des Konfliktes und den Interessen der Parteien erfolgt die Verfahrenswahl auf der Grundlage der jeweiligen qualitativen Eigenschaften der Verfahren (qualitative Differenzierung) und ihrer sich daraus ergebenden Eignung zur Lösung bestimmter Konflikte.
857
Zur Bedeutung der Privatautonomie als Grundsatz des Mediationsverfahrens vgl. oben S. 336 ff., 459 ff., 586 ff. 858 Zur Funktion des materiellen Rechts als Rückgriffsordnung vgl. oben S. 299 ff. 859 Zum Primat des Mediationsverfahrens vgl. oben S. 135 ff., 729 ff., 735 ff., 740 ff. 860 Vgl. hierzu oben S. 107 ff., 586 ff. (Mediation), 674 ff. (Zivilprozess). 861 Vgl. hierzu oben S. 558 ff. (Mediation), 615 ff. (Zivilprozess). 862 Vgl. hierzu oben S. 597 ff. (Mediation), 689 ff. (Zivilprozess). 863 Vgl. hierzu bereits oben S. 112 ff., 114 ff.
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
875
So werden sich Konflikte, die durch ein hohes Maß an Emotionalität und Komplexität geprägt sind, in denen es eher um Beziehungs- als um Sachfragen geht und in denen von vornherein Sachinteressen und nicht Rechtspositionen im Vordergrund stehen, eher für eine Beilegung im Wege der Mediation als durch streitiges Urteil in Rahmen eines Zivilprozesses eignen.864 Das Gleiche gilt für Konflikte, die schon aufgrund ihres konkreten Sachverhaltes nahelegen, aus Gerechtigkeitsgründen von der gesetzlich vorgesehenen Lösung abzuweichen, weil eine vertraglich maßgeschneiderte Regelung den Interessen der Parteien besser gerecht wird als die vom Gesetz vorgesehene Rechtsfolge. Neben der Art des Konfliktes können aber auch die Interessen und Präferenzen der Parteien als Maßstab für die Verfahrenswahl herangezogen werden: So wird die Mediation dem Zivilprozess als das geeignetere Verfahren immer dann vorzuziehen sein, wenn die Parteien an einer schnellen, vertraulichen, zukunftsorientierten und möglichst kostengünstigen Beilegung des Konfliktes interessiert sind und dieses Interesse ihr Interesse an einem vollständigen Obsiegen überwiegt.865 Umgekehrt werden Konflikte, die durch ein erhebliches strukturelles Machtungleichgewicht geprägt sind und in denen eine der beiden Parteien daher nur eingeschränkt zu einer informierten und damit auch tatsächlich eigenverantwortlichen Wahrnehmung ihrer Interessen in der Lage ist (selfagency), eher die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes im Rahmen eines formalen Zivilprozesses nahelegen.866 Von den Fällen, in denen beide Verfahren zwar anwendbar sind, aufgrund ihrer unterschiedlichen Eignung indes eine Präferenz für eines der beiden Verfahren besteht (Verfahrenspräferenz), sind schließlich jene Konflikte zu unterscheiden, die sich ausschließlich entweder im Rahmen der Mediation oder des Zivilprozesses beilegen lassen (Verfahrensexklusivität). Geht es ausschließlich um emotionale und relationale Fragen und damit um die Beziehung zwischen den Parteien, so schließt dies die Anwendung des Zivilprozesses aus, weil dieses Verfahren aufgrund seiner Struktur für die Adressierung nichtrechtlicher Fragen nicht geeignet ist. Die in der Praxis verbreitete Verlagerung des Konfliktes auf einen rechtlich ausgeformten Stellvertreterkonflikt (klassischer Nachbarschaftsstreit), bei dem ein rechtliches Problem zum Anlass für die Fortführung des Beziehungskonfliktes genommen wird, vermag die dem Stellvertreterkonflikt eigentlich zugrunde liegenden Konfliktursachen nicht zu beseitigen, sondern trägt im Gegenteil erheblich zur weiteren Eskalation des Konfliktes bei. Hier lässt sich der Beziehungskonflikt ausschließlich im Rahmen
864 Ebenso Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 306 f. 865 Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 304 ff. 866 Vgl. hierzu oben S. 336 ff., 344 ff., 604 ff.
876
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
eines transformativen Mediationsverfahrens beilegen.867 Daneben gibt es eine Reihe von Konflikten, in denen der Weg in die Mediation von vornherein versperrt ist: Dies ist etwa der Fall, wenn die Parteien Rechtssicherheit erlangen wollen und an einer endgültigen rechtlichen Klärung interessiert sind oder von vornherein eine Mitwirkung am Mediationsverfahren oder an einer Einigung ablehnen.868 Fehlen vertragliche oder gesetzliche Regelungen, aus denen sich eine Pflicht zur Teilnahme am Mediationsverfahren ergibt und damit auch die Möglichkeit, im Rahmen eines Mediationsverfahrens mögliche Einigungshindernisse aufzulösen, so ist eine Mediation ausgeschlossen und den Parteien bleibt lediglich der Weg in das gerichtliche Verfahren. a) Methodische Herausforderungen der Konfliktzuweisung Wie wir gesehen haben, gehört das Prinzip des Verfahrenspluralismus869, das Verständnis der Vielfalt unterschiedlicher möglicher Verfahren im Kontinuum der Streitbeilegungsformen, zu den wesentlichen Grundlagen der alternativen Streitbeilegung. Sie ist zugleich Voraussetzung für die von dem Harvard-Professor Frank E.A. Sander entwickelte Idee des Multi-Door Courthouse als einer zentralen Konfliktbeilegungsstelle, das die Parteien nach einem eingehenden screening in das für ihren Konflikt jeweils geeignete Verfahren verweist.870 Die Entwicklung entsprechender Zuweisungskriterien und die Zuordnung der Konflikte zu den für ihre Beilegung jeweils am besten geeigneten Verfahren stellt eine der größten Herausforderungen der alternativen Streitbeilegung dar871 und wirft Fragen von grundlegender Bedeutung auf: Welcher Maßstab
867 Zur transformativen Mediation vgl. Bush/Folger, 13 M.Q. 263 (1996); Bush/Folger, The Promise of Mediation (2. Aufl. 2005), S. 52 f., 65, 125, Fn. 114. Zu den unterschiedlichen Schwerpunkten in der Bestimmung der Mediationsziele Alberstein, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 321, 335 (2007). 868 So auch Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 309. 869 Zum Prinzip des Verfahrenspluralismus vgl. eingehend oben S. 114 f., 541 ff. 870 Vgl. nur klassisch Sander, 70 F.R.D 111, 131 (1976). Zur Multi-Door CourthouseIdee eingehend Stempel, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 297 (1996); Savage/Stuart, 26 Colo. Lawer 13 (1997); Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 439 f.; Weitz, 14 No. 1 Disp. Resol. Mag. 21 (2007). Für empirische Studien bestehender und umgesetzter Multi-Door Courthouse Projekte vgl. Kessler/Finkelstein, 37 Cath. U. L. Rev. 577 (1988); Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003); Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005). Zur Rezeption in Deutschland vgl. Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 51. Ausführlich hierzu oben S. 505, 730 ff. 871 So Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 1 f. (2006). Hinzu kommt das Problem, dass aufgrund des dynamischen Charakters des Konfliktes sich die Eignung der jeweiligen Verfahren mit fortschreitender Dauer ändert und daher zu unterschiedlichen Zeitpunkten jeweils unterschiedliche Verfahren als geeignet erscheinen. Vgl. zu diesem Problem Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 4 f. (2006).
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
877
ist bei der Verfahrenswahl anzulegen und welche Zuweisungskriterien sind maßgeblich? Kommt es ausschließlich auf die Interessen und Präferenzen der Parteien an oder spielen auch öffentliche Interessen, etwa das Interesse an einer Verwirklichung des objektiven Rechts, eine Rolle? Welche Verfahren und welche Form der Mediation sind zugrunde zu legen und sollen auch hybride Verfahren in die Betrachtung mit einbezogen werden? Die Verhandlungsforschung hat sich mit diesen Fragen eingehend auseinandergesetzt und eine ganze Reihe unterschiedlicher Taxinomien entwickelt, die sowohl auf theoretischen Überlegungen als auch auf empirischen Erfahrungen beruhen und die sich um eine rationale, nachvollziehbare und praktisch handhabbare Konfliktzuweisung bemühen. Die Entwicklung allgemeingültiger Zuweisungskriterien für die Wahl alternativer Streitbeilegungsformen begegnet indes erheblichen methodischen Schwierigkeiten: Die zur Verfügung stehenden ADR-Verfahren sind zu vielgestaltig, die möglichen Kriterien zu komplex und die konkreten Umstände des jeweiligen Konfliktes zu unterschiedlich, als dass sie eine präzise Zuordnung erlauben würden. Die Verfahrenswahl bleibt daher, so stellen auch Sander und Rozdeiczer fest, „more art than science“872. Sie bildet keine präzise Vorgabe für die Parteien, sondern kann lediglich eine erste Orientierung für die Wahl des geeigneten Verfahrens auf der Grundlage des Konflikttyps bieten.873 Insoweit kann ihr jedoch eine ganz erhebliche Indizwirkung zukommen, die auch für die Klärung des Verhältnisses zwischen Mediation und Zivilprozess fruchtbar gemacht werden kann. Im Folgenden wollen wir daher die konfliktspezifische Verfahrenswahl auf der Grundlage der Verfahrenseignung näher in den Blick nehmen und untersuchen, ob sie als Element einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre herangezogen werden kann. b) Fitting the forum to the Fuss: Das Sander-Goldberg-Modell der Verfahrenswahl Das für die ADR-Diskussion maßgebliche und prägende Modell der Verfahrenswahl wurde von Frank E.A. Sander und Stephen B. Goldberg entwickelt und in dem mittlerweile klassischen Aufsatz „Fitting the Forum to the Fuss: A User-Friendly Guide to Selecting an ADR Procedure“874 veröffentlicht. Es umfasst alle wesentlichen ADR-Verfahren und legt als maßgebliches Kriterium die Ziele der Parteien bzw. die öffentlichen Interessen sowie mögliche Einigungshindernisse zugrunde und setzt sie zu den jeweiligen Verfahrenseigenschaften in Beziehung. Aus der Gegenüberstellung dieser Parameter sowie der möglichen Einigungshindernisse auf der einen und den verschiedenen ADRVerfahren auf der anderen Seite ergeben sich zwei Tabellen, die auf der Grund-
872
Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 19, 41 (2006). Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 19 (2006). 874 Sander/Goldberg, 10 Neg. J. 49 (1994). 873
878
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
lage einer numerischen Skala von 0-3 ausweisen, in welchem Maße die jeweiligen ADR-Verfahren geeignet sind, die Verfahrensziele zu erreichen und Einigungshindernisse zu überwinden. Die Bewertung der Eignung der unterschiedlichen Verfahren zur Erreichung der jeweiligen Ziele beruht dabei nicht auf empirischen Untersuchungen, sondern auf der individuellen Einschätzung und Erfahrung der Verfasser und weiterer ADR-Experten.875
875
Sander/Goldberg, 10 Neg. J. 49, 52 (1994).
879
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Verfahren nicht bindend
Ziele
bindend
Mediation
Mini Trial
Summary Jury Trial
Early Neutral Evaluation
Schiedsverfahren
Zivilprozess
Kosten
3
2
2
3
1
0
Zeit
3
2
2
3
1
0
Vertraulichkeit
3
3
2
2
3
0
Beziehung
3
2
2
1
1
0
Rehabilitierung
0
1
1
1
2
3
Meinung eines neutralen Dritten
0
3
3
3
3
3
Präzedenzfall
0
0
0
0
2
3
Prozessergebnis
0
1
1
1
2
3
Tabelle 6: Modell der Verfahrenswahl nach Sander/Goldberg876 In einer vergleichbaren Tabelle werden sodann die möglichen Einigungshindernisse zu der Fähigkeit der Verfahren in Beziehung gesetzt, diese zu überwinden.877 Maßgebliche Kriterien sind dabei: Mangelnde Kommunikation, das Bedürfnis, Emotionen auszudrücken, unterschiedliche Bewertung des Sachverhalts, unterschiedliche Bewertung des Rechts, Bewahrung grundlegender Prin-
876 Sander/Goldberg, 10 Neg. J. 49, 53 (1994). Die Tabelle stellt das Maß dar, in dem die verschiedenen ADR-Verfahren die Ziele der Parteien erreichen können. Dabei wird folgende Zahlenkodierung zugrunde gelegt: 0 = es ist unwahrscheinlich, dass das Ziel erreicht wird, 1= das Ziel wird in geringem Umfang erreicht, 2 = das Ziel wird im Wesentlichen erreicht, 3 = das Ziel wird in erheblichem Umfang erreicht. Vgl. hierzu auch Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 152. 877 Sander/Goldberg, 10 Neg. J. 49, 55 (1994).
880
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
zipien, Druck vonseiten der Vertretenen, starke Bindung zwischen den Parteien, Vielzahl von Parteien, unterschiedliche Interessen von Anwalt und Mandant, das Jackpot Syndrom (stark auseinandergehende Bewertung der Prozessaussichten).878 Durch die Addition der Werte der jeweils relevanten Ziele und Einigungshindernisse lässt sich auf diese Weise das für eine bestimmte Konfliktsituation am besten geeigneten Verfahren ermitteln. c) Kritik des Sander-Goldberg-Modells Indem das Sander-Goldberg-Modell die jeweiligen Ziele der Parteien mit den einzelnen Verfahren auf der Grundlage ihrer jeweiligen Verfahrensstruktur und -eigenschaften verknüpft, vermag es in der Tat eine erste Orientierung über die Leistungsfähigkeit der unterschiedlichen Verfahren zu geben. Allerdings offenbart es zugleich die methodischen Schwierigkeiten, die mit einer konfliktspezifischen Verweisung verbunden sind. Diese liegen vor allem in der Auswahl der Zuweisungskriterien, deren Begründung aufgrund des Fehlens nachvollziehbarer, objektiver Grundlagen weitgehend vage bleibt. aa) Materielle Leistungsfähigkeit des Mediationsverfahrens Deutlich wird dies insbesondere bei dem Verfahrensziel der „Maximierung des materiellen Ergebnisses“ (maximizing recovery), dem im Sander-GoldbergModell für die Mediation der minimale Wert „0“ und für den Zivilprozess der maximale Wert „3“ zugewiesen wird.879 Dies verwundert, weil eine derartige Verfahrensbewertung gerade dem herkömmlichen Konflikt- und Verfahrensverständnis entspricht, das durch die Mediation eigentlich überwunden werden soll. Wie wir im Rahmen unserer bisherigen Untersuchung gesehen haben, lässt sich das Mediationsverfahren jedoch nicht lediglich auf die verfahrensökonomischen Vorteile der Zeit- und Kosteneffizienz reduzieren.880 Die Wirksamkeit und besondere Leistungsfähigkeit des Mediationsverfahrens besteht im Gegenteil gerade darin, dass es über seine prozeduralen Vorteile hinaus in der Lage ist, die Interessen beider Parteien wertschöpfend in einer Weise miteinander zu integrieren, dass der insgesamt zu verteilende „Wertkuchen“ vergrößert wird und damit pareto-optimale Kooperationsgewinne im Sinne einer echten win-win-Lösung realisiert werden können.881 Die Mediation ist damit nicht nur in prozeduraler, sondern auch in materieller Hinsicht ein effizientes 878
Sander/Goldberg, 10 Neg. J. 49, 54 ff. (1994). Vgl. Sander/Goldberg, 10 Neg. J. 49, 53 (1994). 880 Vgl. nur oben S. 107 ff., 167 ff., 182 ff., 230 ff., 235 ff., 252 ff., 597 ff. 881 Vgl. hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff. sowie Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim. Vgl. auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 879
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
881
und für die Parteien vorteilhaftes Verfahren, weil es nicht nur ein schnelleres und kostengünstiges, sondern gerade auch ein besseres Ergebnis realisieren kann, als dies im Rahmen des Zivilprozesses möglich ist.882 Aufgrund seiner systemimmanenten Schwächen, die wir am Beginn unserer Untersuchung eingehend in den Blick genommen haben883, geht das ausschließlich an abstrakt typisierten Rechtsfolgen orientierte gerichtliche Urteil häufig an den eigentlichen Interessen der Parteien vorbei.884 Der binäre Schematismus des Gesetzesrechts885 reduziert die materiellen Möglichkeiten der Konfliktlösung auf ein Nullsummenspiel886 und verhindert wertschöpfende Problemlösungen. Dass der Konflikt durch die Fixierung der Parteien in kontrafaktisch stabilisierten Rollen sich antagonistisch gegenüberstehender Gegner887 durch das formalisierte Zeremoniell des Zivilprozesses888 weiter eskaliert und dadurch eine tatsächlich dauerhafte und nachhaltige Beilegung des Konfliktes erschwert wird, haben wir bereits gesehen.889 Die vom SanderGoldmann-Modell vorgenommene minimale Bewertung der Leistungsfähigkeit der Mediation zur Realisierung materiell befriedigender Ergebnisse erscheint vor dem Hintergrund der systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses und der vielfältigen Möglichkeiten des Mediationsverfahrens zur wertschöpfenden Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne daher äußerst zweifelhaft. Auf der Grundlage unserer Untersuchung wäre im Gegenteil eine in der Tendenz umgekehrte Bewertung beider Verfahren zu rechtfertigen, bei der dem Mediationsverfahren im Hinblick auf das materielle Ergebnis ein höherer Wert als dem Zivilprozess zugewiesen wird. 882 Eingehend zu den materiellen Gerechtigkeitskriterien im Mediationsverfahren oben S. 222 ff., zu dem der Mediation zugrunde liegenden Reziprozitätsprinzip der regula aurea oben S. 235 ff. , 252 ff. 883 Vgl. zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses oben S. 160 ff., 289 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279. 884 Vgl. hierzu oben S. 13 f., 20 ff. 885 Hierzu oben S. 20 ff. sowie sowie Luhmann, in: Asmussen/Pawlik (Hrsg.), Material über Zukunftsaspekte der Rechtspolitik (1976), S. 67, 69; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. Vgl. auch Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Stürner, DRiZ 1976, 202, 203; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff. 886 Vgl. hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff. sowie Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim. Vgl. auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 887 Vgl. hierzu oben S. 22 ff. sowie Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 139; Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 53, 87. 888 Ähnlich Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 92 f., 129 (Zeremoniell des Verfahrens). 889 Zur eskalierenden Wirkung des Zivilprozesses vgl. oben S. 24 ff.
882
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Allerdings sind wertschöpfende, pareto-optimale Problemlösungen, die zu einer vollständigen Verwirklichung der Interessen beider Parteien führen, kein Automatismus und in zahlreichen Konflikten auch nicht zu realisieren. In einer ganzen Reihe von Konflikten wird sich die Mediationsverhandlung vielmehr auf die gerechte Verteilung bestehender und weniger auf die Schaffung neuer Werte beschränken müssen, weil die Sachlage im konkreten Fall nur begrenzten Spielraum für eine das Nullsummenspiel überwindende Wertschöpfung bietet. Eine entsprechende Bewertung des Mediationsverfahrens kann sich daher sinnvollerweise nur auf die potentielle Leistungsfähigkeit, nicht dagegen auf das tatsächliche Leistungsvermögen in einem konkreten Konflikt beziehen. Freilich müsste dann das Kriterium der „Maximierung des Prozessergebnisses“, d.h. der maximalen Verwirklichung der Rechtspositionen, in „Verwirklichung der Interessen“ modifiziert werden. Eine derartige Modifizierung ist indes nicht unproblematisch: Denn die Interessenorientierung ist zwar für ADRExperten, nicht indes für nicht informierte Parteien ein aussagekräftiger Begriff. bb) Grundverständnis der ADR-Prinzipien als notwendige Voraussetzung der Verfahrenswahl? Mit der ADR-spezifischen Begrifflichkeit berühren wir ein weiteres, zentrales Problem konfliktspezifischer Verfahrenswahl. Denn eine Verfahrenswahl auf der Grundlage eines den Parteien zur Verfügung gestellten Katalogs an Zielkriterien setzt bereits ein Grundverständnis der tragenden Prinzipien der alternativen Streitbeilegung und der Verhandlungsforschung – wie etwa der Bedeutung des Schrittes von den geltend gemachten Rechtspositionen zu den dem Konflikt tatsächlich zugrunde liegenden Interessen, der Möglichkeit der Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne durch kreative Wertschöpfung sowie der stets notwendigen Auflösung von Wahrnehmungsverzerrungen – voraus. Fehlt dieses Grundverständnis, wird es den Parteien nur schwer möglich sein, die von dem jeweiligen Raster vorgeschlagene Verfahrenswahl anzunehmen. So sind die Parteien regelmäßig an einem für sie günstigen Ausgang des Konfliktes im Sinne einer „Maximierung des materiellen Ergebnisses“ interessiert, ohne sich indes der systembedingten Schwächen streitiger Konfliktbeilegung bewusst zu sein. Das dem intuitiven Verhandlungsverhalten zugrunde liegende Konfliktverständnis und die konfliktbedingten Wahrnehmungsverzerrungen tragen im Gegenteil dazu bei, dass die Parteien regelmäßig im streitigen Zivilprozess das geeignete Verfahren sehen, ihre Ansprüche gegenüber ihrem Konfliktgegner durchzusetzen. Verhandlungslösungen sind in der Wahrnehmung der Parteien dagegen regelmäßig mit dem Makel des Kompromisses und dem damit verbundenen Verzicht auf die geltend gemachten Rechtspositionen verbunden. Dass
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eine interessenorientierte Verhandlungslösung durch die Möglichkeit der Realisierung wertschöpfender, pareto-optimaler Kooperationsgewinne einen Weg eröffnet, den zu verteilenden „Verhandlungskuchen“ im Sinne einer auf den Konflikt maßgeschneiderten win-win-Lösung zu vergrößern und auf diese Weise ein materielles Ergebnis zu erzielen, das weit über die Möglichkeiten eines gerichtlichen Urteils hinausgeht, ist den Parteien in der Regel nicht bewusst. Eine informierte und damit auch tatsächlich privatautonome Verfahrenswahl setzt daher notwendig die Aufklärung der Parteien über die Grundlagen interessenorientierten Verhandelns voraus. cc) Möglichkeiten und Grenzen der Aufklärung der Parteien Ob ein derartiges debiasing auf der Grundlage eines lediglich informatorischen Gespräches mit den Parteien ohne bestätigende, selbst erlebte Verfahrenserfahrung erfolgreich ist, erscheint indes zweifelhaft. So hat insbesondere die empirische Begleitforschung gerichtsverbundener Mediationsverfahren gezeigt, dass die für eine informierte, eigenverantwortliche Verfahrenswahl notwendige Aufklärung der Parteien über die Grundsätze des interessenorientierten Verhandelns auf der Grundlage eines informatorischen Gespräches bzw. durch theoretische Wissensvermittlung nur dann zu einer entsprechenden Präferenz der Parteien für das Mediationsverfahren führt, wenn bereits eine grundsätzliche Offenheit für die Mediation vorhanden ist: Im Rahmen des bayrischen Modellprojektes Güterichter haben etwa im Untersuchungszeitraum zwar mehr als die Hälfte der Parteien (54,9 %) nach einem Gespräch mit dem Güterichter der Durchführung eines Mediationsverfahrens zugestimmt.890 Allerdings hat eine weitere Befragung der Teilnehmer am Mediationsverfahren ergeben, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Beteiligten (82,1 %) der Durchführung der Mediation sofort zugestimmt hatte, während lediglich eine Minderheit der Befragten (15,2 %) angab, dass sie einer Mediation zunächst ablehnend gegenüberstanden.891 Die Zustimmung der Parteien zum Mediationsverfahren beruhte daher ganz überwiegend auf einer grundsätzlichen
890
Greger, Abschlussbericht (2007), S. 13. Dies betraf 790 von 1.439 untersuchten Fäl-
len. 891 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 53 f. Die Zahl der Parteien, die der Durchführung eines Mediationsverfahrens sofort zugestimmt hatten, betrug 345, während lediglich 64 Parteien angaben, dass sie der Mediation zunächst ablehnend gegenübergestanden hatten. 11 Parteien machten hierzu keine Angaben. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass lediglich 421 der Parteien an der Befragung teilnahmen, so dass sich im Hinblick auf die Gesamtzahl der untersuchten Fälle ein präziser prozentualer Vergleichswert nicht ermitteln lässt. Die Gesamtzahl der untersuchten Fälle betrug 1.439, wobei in 790 Fällen und damit in mehr als der Hälfte der Fälle (54,9 %) ein Güterichterverfahren durchgeführt wurde, während 649 Fälle (41,1 %) ohne Anberaumung einer Güteverhandlung beigelegt wurden. Vgl. hierzu Greger, Abschlussbericht (2007), S. 13.
884
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Offenheit gegenüber der Mediation – sei es aufgrund bestehender Erfahrungen mit dem Mediationsverfahren, der Reputation der Mediation in der öffentlichen Wahrnehmung oder der Indifferenz der Parteien im Hinblick auf die konkrete Verfahrenswahl –, während eine Kausalität der Überzeugungsarbeit der Güterichter für die Verfahrensentscheidung der Parteien nur begrenzt nachweisbar ist. Angesichts des empirischen Befundes erscheinen die Chancen gering, zunächst ablehnende Parteien durch ein informatorisches Akquisitionsgespräch mit dem Güterichter umzustimmen und von den Vorzügen eines Mediationsverfahrens zu überzeugen.892 Darüber hinaus hat die empirische Forschung den Nachweis erbracht, dass die Bedenken der zunächst skeptischen Parteien im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der Mediation unbegründet waren: So erzielten Parteien, die der Durchführung eines Güterichterverfahrens zunächst ablehnend gegenüberstanden, gleichwohl hohe Einigungsquoten von durchschnittlich 77 % und konnten das Verfahren auf diese Weise zu einem erfolgreichen Abschluss führen.893 Dem entspricht das Ergebnis, dass das Güterichterverfahren insgesamt von der großen Mehrheit (82,9 %) der Parteien ausschließlich positiv bewertet wurde.894 Der empirische Befund bestätigt daher die These, dass eine für eine informierte, eigenverantwortliche Verfahrenswahl notwendige Aufklärung der Parteien über die Grundsätze des interessenorientierten Verhandelns am effektivsten durch die eigene praktische Erfahrung eines durchgeführten Mediationsverfahrens und damit durch selbst erlebte Praxis des Verfahrens vermittelt wird, während die lediglich informatorische Vermittlung theoretischer Grundsätze die Parteien kaum zu überzeugen vermag. Dies entspricht zugleich dem Ergebnis unserer analytischen Untersuchung des Mediationsverfahrens, dass die Wirksamkeit der Mediation in ihrem Kern auf einem intuitiven Lernprozess der Parteien beruht, der sie gleichsam wie in einer Schule der Kooperation aus den Rollenmustern sich antagonistisch gegenüberstehender Gegner und dem damit verbundenen Positionendenken herauslöst, einigungshindernde Wahrnehmungsverzerrungen und die Blockade des Nullsummenmythos überwindet und die Parteien durch einen multilateralen Rollentausch und den dadurch vermittelten Perspektivwechsel in die Lage versetzt, ihren Konflikt eigenverantwortlich beizulegen. Indem sie sich in Anwendung der regula aurea darum
892
So ausdrücklich Greger, Abschlussbericht (2007), S. 53 f.: „Die Parteien wurden befragt, ob sie dem Vorschlag zu einer Verhandlung beim Güterichter zunächst ablehnend gegenüberstanden oder sofort zugestimmt haben. Auf diese Weise sollte untersucht werden, ob sich die Erfolgsquote in den beiden Konstellationen unterscheidet, ob es also Sinn macht, auch zunächst ablehnende Parteien von den Vorzügen eines Güterichterverfahrens zu überzeugen. … Ein Zusammenhang der genannten Art lässt sich somit nicht belegen.“ 893 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 54. 894 Greger, Abschlussbericht (2007), S. 51 ff.
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
885
bemühen, dem anderen das zukommen zu lassen, was ihm aufgrund seiner notwendigen Interessen zusteht, tragen sie zur Verwirklichung materieller Gerechtigkeit nach dem Grundsatz des suum cuique tribuere bei. Zusammenfassend ist an dieser Stelle festzuhalten, dass konfliktspezifische Verfahrenszuweisungen für die praktische Verfahrenswahl häufig nur von begrenztem Nutzen sind, weil diese eine grundsätzliche Offenheit für die Mediation oder ein Grundverständnis der alternativen Streitbeilegung voraussetzt, das nur in begrenztem Maße durch informatorische Überzeugungsarbeit in der Konfliktsituation selbst, sondern sehr viel eher durch selbst erlebtes Erfahrungswissen vermittelt wird.895 Zugleich hat der empirische Befund gezeigt, dass jedenfalls in knapp der Hälfte aller Fälle bereits eine grundsätzliche Offenheit im Hinblick auf die Durchführung des Mediationsverfahrens bestand.896 Dies wird jedenfalls zu einem Teil auch auf die zunehmende Bekanntheit und Reputation der Mediation in der öffentlichen Wahrnehmung zurückzuführen sein. Bemühungen um eine Information der Parteien scheinen daher ex ante im Vorfeld eines Konfliktes deutlich erfolgreicher zu sein als ad hoc in einer aktuellen Konfliktsituation. Daraus lässt sich rechtspolitisch die Empfehlung zur Intensivierung der Aufklärung der breiten Öffentlichkeit über die Möglichkeiten und Vorteile des Mediationsverfahrens ableiten, wie dies etwa Art. 9 der europäischen Mediationsrichtlinie vorsieht. Zugleich stützt der empirische Befund die Forderung nach der Einführung eines obligatorischen Mediationsverfahrens als Vorschaltverfahren vor der Beschreitung des Klageweges und der Möglichkeit einer verbindlichen Verweisung eines gerichtlich anhängigen Rechtsstreites in die Mediation, wie dies verbreitet im Rahmen gerichtsverbundener Mediationsprogramme in den USA der Fall ist.897 Selbst wenn das Problem des not-
895
Vgl. hierzu Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 7 „Im Hinblick auf die Initiierung des Mediationsverfahrens … hat sich am Landgericht Göttingen im Laufe des Projekts noch eine weitere Vorgehensweise als praktikabel erwiesen, die mittlerweile auch an anderen Projektgerichten angewendet wird: Der gesetzliche Richter gibt die Akten ohne eine gesonderte Prüfung der Mediationseignung des Falles an den Richtermediator ab, der dann direkt den Kontakt zu den Parteien bzw. ihren Anwälten aufnimmt, und zwar unabhängig davon, ob der Fall als typischerweise besonders geeignet erscheint.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 896 Vgl. hierzu Greger, Abschlussbericht (2007), S. 13. Vgl. auch Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 128 (lediglich 31,25 % der Parteien wollen nicht an einer Mediation teilnehmen). 897 Vgl. eingehend oben S. 462 ff., 511 ff. sowie Lubet, 4 Ohio St. J. on Disp. Resol. 235 (1989); Nelle, 7 Ohio St. J. on Disp. Resol. 287 (1992); Hutchinson, 42 Loy. L. Rev. 85 85 (1997); Wissler, 33 Willamette L. Rev. 565 (1997); Gordon, 82 Judicature 224 (1999); Menkel-Meadow, Mediation (2001), S. 286 ff.; Macfarlane, 2002 J. Disp. Resol. 241 (2002); Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 158 ff.; Meyer, Court-connected Alternative
886
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
wendigen Grundverständnisses der alternativen Streitbeilegung als Voraussetzung für eine informierte und damit auch tatsächlich eigenverantwortliche Verfahrenswahl vernachlässigt wird, bleibt die mangelnde Eignung der Zuweisungskriterien als wesentlicher Nachteil des Sander-Goldberg-Modells und damit auch der Einwand der Willkürlichkeit des konfliktspezifischen Zuweisungsmodells der Verfahrenswahl bestehen. Um die Eignung dieses Ansatzes als Element einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre zu überprüfen, wollen wir im Folgenden nun der Frage nachgehen, ob der Einwand durch die Auswahl geeigneterer, rational nachvollziehbarer Zuweisungskriterien entkräftet werden kann und ob sich aus den empirischen Erfahrungen Funktionen oder aus der Funktion und Struktur der einzelnen Verfahren Grundsätze für die Verfahrenswahl herleiten lassen. d) Weitere Zuweisungsmodelle Das Sander-Goldberg-Modell ist zwar das bekannteste, jedoch nicht das einzige Modell der Konfliktzuweisung. Neben dem Ansatz von Sander und Goldberg ist eine Vielzahl weiterer unterschiedlicher Kriterien für die Zuordnung bestimmter Konflikte zu den jeweils passenden Verfahren entwickelt worden. So hat Frank E.A. Sander selbst bereits in seinem wegweisenden Vortrag „Varieties of Dispute Processing“ auf der Pound Conference 1978 mit den Kriterien 1) der Natur des Konfliktes, 2) der Beziehung zwischen den Parteien, 3) dem Streitwert, 4) den Kosten und 5) der Dauer des Verfahrens ein erstes Konzept möglicher Eignungskriterien vorgestellt898 und dieses später weiter ausdifferenziert.899 Ähnliche Modelle haben etwa das International Institute for Conflict Prevention & Resolution (CPR Institute) mit dem ADR Suitability Guide900 und Niemic, Ravitz und Stienstra vom Federal Judicial Center mit dem Guide to Judicial Management of Cases in ADR für die gerichtsverbundene Mediation entwickelt.901 Beide Ansätze unterscheiden zwischen partei-
Dispute Resolution (2005), S. 78 ff., 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff., 814. Kritisch Ingleby, 56 Mo. L. Rev. 441 (1993); Eisele, 75 Judicature 34 (1995). 898 Sander, 70 F.R.D 111, 118 ff. (1976). 899 Vgl. Sander, in: Gottwald/Strempel (Hrsg.), Streitschlichtung (1995), S. 31, 38 ff. In dieser späteren Untersuchung knüpft Sander an seine grundlegenden Überlegungen aus dem Jahr 1978 an und differenziert zwischen a) der Art des Falls, b) der Beziehung zwischen den Parteien, c) dem Verlauf der Verhandlungen zwischen den streitenden Parteien, c) der Art des vom Kläger begehrten Rechtsschutzes und d) der Höhe und Komplexität des Anspruchs. 900 International Institute for Conflict Prevention and Resolution, ADR Suitability Guide (2006). Verfügbar im Internet unter https://www.cpradr.org/resource-center/toolkits/adrsuitability-guide (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 901 Vgl. Niemic/Stienstra/Ravitz, Guide to Judicial Management of Cases in ADR (2001), S. 21 ff., 39 f. „Mediation is considered appropriate for most kinds of civil cases, and in some district courts, referral to mediation is routine in most general civil cases. In other
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
887
und konfliktbezogenen Kriterien und stellen ein komplexes Raster für die Verfahrenswahl zur Verfügung. In Deutschland hat sich die Forschung seit den 1970er und 1980er Jahren intensiv um die Entwicklung geeigneter Zuweisungskriterien für ADR-Verfahren bemüht: Während Gessner902 und Falke903 zwischen personen- (Ratgeber), rollen- (Schlichter) und normbezogenen (Richter) Konflikten unterscheiden und Konflikte mit zunehmender Komplexität und abnehmender Normierung des Verhaltens alternativen Streitschlichtungsformen zuordnen, hat etwa Strecker aus der Perspektive des praktisch tätigen Richters eine Reihe von Fallkonstellationen herausgearbeitet, die sich in besonderer Weise für die Erledigung im Wege eines Vergleichs eignen: a) unangemessen hoher prozessualer Aufwand, b) Gerechtigkeitsvorstellungen oder Billigkeitserwägungen legen eine Abweichung von der gesetzlich vorgesehenen Lösung nahe, c) eine vertragliche Regelung wird den Interessen der Parteien besser gerecht als die gesetzliche Rechtsfolge, d) der Gegenstand des Rechtsstreits entspricht nicht dem Konflikt zwischen den Parteien.904 Im Verlauf der weiteren Diskussion und der zunehmenden Institutionalisierung des Mediationsverfahrens hat die Forschung sodann sehr viel detailliertere, speziell auf die Mediation zugeschnittene Einigungskriterien herausgearbeitet: So unterscheiden Duve, Eidenmüller und Hacke zwischen Kriterien, die für eine Mediationseignung des Konfliktes sprechen (Interessen- und Zukunftsorientierung der Parteien, Wunsch nach Vertraulichkeit und schneller Konfliktlösung, Komplexität, Emotionalität und Internationalität des Konflikts) und Ausschlussgründen für den Einsatz der Mediation (entgegenstehendes zwingendes Recht, öffentliches Interesse an der
courts, use of the process is targeted at specific kinds of disputes or is determined by the judge on a case-by-case basis. Most courts exclude certain categories of cases from mediation, such as cases involving a pro se party, prisoner civil rights cases, and Social Security cases. Some bankruptcy courts, however, routinely refer some types of matters to mediation, such as certain dischargeability matters, even if one party is pro se. See infra Appendix A.1 for a description of the mediation process.” Niemic/Stienstra/Ravitz, Guide to Judicial Management of Cases in ADR (2001), S. 40. 902 Gessner, Recht und Konflikt (1976), S. 178 f. 903 Falke/Gessner, in: Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982), S. 289, 303 f. 904 Strecker, DRiZ 1983, 97, 98. Dem Stand der damaligen Diskussion folgend, wurde die Frage der Eignungskriterien noch nicht im Kontext des Mediationsverfahrens, sondern mit Blick auf die Zulässigkeit gerichtlicher Vergleichsverhandlungen aufgeworfen. Vgl. zu dieser Diskussion auch Stürner, JR 1979, 133; Stürner, DRiZ 1976, 202; Wolf, ZZP 89 (1976), 260.
888
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Rechtsdurchsetzung und -entwicklung, Wunsch nach Präzedenz- oder Öffentlichkeitswirkung, Bedürfnis nach einstweiliger Sicherung).905 Ähnlich differenziert auch Duve zwischen objektiven (fehlende Dispositionsbefugnis, Vorbehalt hoheitlicher Entscheidung, fehlende Bereitschaft Dritter zur Anerkennung des Ergebnisses, strukturelle Unterlegenheit) und subjektiven Ausschlussgründen (Erfolgsaussichten, Bedürfnis nach Präzedenzwirkung, Eilbedürftigkeit, Öffentlichkeitswirkung, fehlendes Vertrauen in den Verhandlungspartner, fehlende Einigungsbereitschaft, Verteilungsstreitigkeiten) sowie objektiven (Beziehung, Förderung der Kommunikation, Berücksichtigung von Emotionen, Offenlegung von Interessen, Chance kooperativer Lösungen, Vermeidung von Alles-oder-Nichts-Ergebnissen, zügige und kostengünstige Lösung, Einbeziehung Dritter, Internationalität, Auswahl des Mediators) und subjektiven Kriterien (Kontrolle über Verhandlungsergebnis, Interesse an Vertraulichkeit, niedrigere Eintrittsschwelle).906 Trotz der intensiven wissenschaftlichen Bemühungen ist es indes bislang nicht gelungen, aus dem Verfahren selbst allgemeine Grundsätze der Konfliktzuweisung und noch viel weniger einen allgemein anerkannten Kanon von Einigungskriterien herauszuarbeiten.907 Auch wenn die bislang entwickelten Ansätze zu plausiblen und in der Regel auch zu sachgerechten Ergebnissen führen, fehlen daher nachvollziehbare, transparente und vor allem dogmatisch fundierte Kriterien der Verfahrenswahl. Wesentliche Erkenntnisquelle für die Entwicklung geeigneter Kriterien ist bislang weitgehend das anekdotische Erfahrungswissen praktisch tätiger Mediatoren und case manager. Im Folgenden wollen wir daher der Frage nachgehen, ob sich aus der Funktion und der Struktur der einzelnen Verfahren Kriterien der Konfliktzuweisung herleiten lassen. Dabei können wir auf die Ergebnisse unserer funktionalen und strukturellen Verfahrensanalyse zurückgreifen.908 e) Eigener Ansatz: Verfahrenswahl auf der Grundlage der Verfahrensfunktion und -struktur Ein leistungsfähiges Modell der Verfahrenswahl muss vielfältigen Anforderungen an Plausibilität und Praktikabilität gerecht werden: So müssen a) die Eignungskriterien und b) ihre bewertende Zuordnung zu bestimmten Verfahren nachvollziehbar und rational begründbar sein und das sich aus ihnen ergebende Zuordnungsmodell c) den Anforderungen der Praxis an eine schnelle 905
Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 303 ff., 308 ff. 906 Duve, in: Henssler/Koch (Hrsg.), Mediation in der Anwaltspraxis (2. Aufl. 2004), S. 703, 725 ff. 907 So auch Gottwald, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963, 967. 908 Vgl. hierzu oben S. 107 ff., 558 ff., 614.
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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und einfach umsetzbare Verfahrenswahl genügen. Der Bestimmung der Eignungskriterien kommt im Rahmen der Verfahrenswahl eine zentrale Bedeutung zu, da sie den entscheidenden Maßstab für die spätere Bewertung der Verfahren bilden. Für ihre Herleitung kommen grundsätzlich zwei Quellen in Betracht: Theoretische Überlegungen auf der Grundlage der Besonderheiten der einzelnen Verfahren sowie empirische Erfahrungen. Beide Erkenntnisquellen wurden auch zur Begründung der bisherigen Zuweisungsmodelle herangezogen, allerdings in weiten Teilen lediglich in beschränktem Umfang: Während aufgrund des Fehlens einer ausdifferenzierten Dogmatik die theoretische Begründung weitgehend auf allgemeinen Überlegungen beruhte, beschränkte sich die empirische Begründung auf anekdotisches Erfahrungswissen.909 Der Forschung ist es bislang noch nicht gelungen, dogmatisch begründete oder empirisch belegte Kriterien der Konfliktzuweisung zu entwickeln.910 Auf der Grundlage des Ertrages unserer bisherigen Überlegungen wollen wir daher den Versuch unternehmen, aus der Dogmatik einer allgemeinen Verfahrenslehre allgemein verbindliche Grundsätze der Verfahrenswahl zu entwickeln und die Frage untersuchen, ob sich aus der empirischen Begleitforschung gerichtsverbundener Mediationsverfahren belastbare, empirisch fundierte Eignungskriterien herleiten lassen und in welchem Maße sie die theoretischen Überlegungen stützen. Auf diese Weise lässt sich gleichsam als Nebeneffekt die Plausibilität unserer dogmatischen Erwägungen empirisch überprüfen. Trotz der kaum noch überschaubaren Vielzahl unterschiedlicher Eignungskriterien lassen sich vier wesentliche Kategorien differenzieren, die auf der Grundlage der bisherigen Diskussion als Maßstab für die Verfahrenswahl infrage kommen: a) die Art des Konfliktes, b) die Interessen der Parteien, c) das öffentliche Interesse sowie d) die Fähigkeit der jeweiligen Verfahren zur Überwindung bestimmter Einigungshindernisse. Mit Ausnahme der Art des Konfliktes finden sich diese Kategorien vor dem Hintergrund der vorgestellten Dogmatik der allgemeinen Streitbeilegung im Rahmen der Funktionen und der Struktur der beiden Primärverfahren der Mediation und des Zivilprozesses wieder, die wir im Folgenden daher als Maßstab für ein mögliches Zuweisungsmodell heranziehen wollen. Da für die Verfahrensfunktionen bereits jeweils spezielle, ausdifferenzierte Typisierungen existieren – für die Mediation die fünf Mediationsprojekte nach Breidenbach und für den Zivilprozess der Kanon der Verfahrensziele nach der klassischen Prozesszwecklehre – wollen wir unsere Betrachtung zunächst für die einzelnen Modelle der Verfahrensfunktionen wie für die Struktur des Verfahrens gesondert beginnen und das Ergebnis sodann in einem konsolidierten Zuweisungsmodell zusammenführen. Auf der 909 Vgl. hierzu Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 138 ff.; Meyer, Courtconnected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 99 ff. 910 So mit Blick auf das Fehlen empirisch fundierter Eignungskriterien Gottwald, in: Haft/ Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963, 967.
890
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Grundlage der Ergebnisse unserer vergleichenden Untersuchung der unterschiedlichen Funktionen des Mediationsverfahrens lassen sich Mediation und Zivilprozess nach dem im Folgenden dargestellten Raster zueinander in Beziehung setzen. Als Grundgerüst dient dabei das Raster des Sander-GoldbergModells. Für die numerische Bewertung der einzelnen Verfahren und ihre wertmäßige Verknüpfung mit den jeweiligen Verfahrensfunktionen können wir die Ergebnisse unserer vergleichenden funktionalen Untersuchung heranziehen. Aus der Perspektive der Funktionen des Mediationsverfahrens ergibt sich danach folgendes Raster der Verfahrenswahl: Funktionen der Mediation nach Breidenbach911
Mediation Zivilprozess
1. Konfliktbeilegung Dauerhaftigkeit des Ergebnisses Nachhaltigkeit des Ergebnisses Wertschöpfung (Poolen von Ressourcen) Zukunftsorientierung geringe Verfahrensdauer geringe Verfahrenskosten objektive Gerechtigkeit Interessenverwirklichung
3 3 3 3 3 3 2 3
2 1 0 1 1 1 2 1
3 1 1
2 3 3
3 1 3
1 3 2
4. Versöhnung und Befriedung
3
0
5. Social Transformation Project gesellschaftliche Reform Stärkung des Community-Gedankens Veränderung der Konfliktkultur
1 2
2 1
2. Gewährung des Zugangs zum Recht Verringerung der Stärkung strukturell schwächerer Parteien Schutz subjektiver Rechte 3. Ermöglichung privatautonomen Handelns Persönliches Wachstum der Parteien Ausgleich von Machtungleichgewichten effektive Konfliktbeilegung
3 0 Tabelle 7: Verfahrenswahl nach den Funktionen des Mediationsverfahrens
911
Breidenbach, Mediation (1995), S. 119 ff.
891
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Umgekehrt lässt sich die Verfahrenswahl auch aus der Perspektive der Ziele des Zivilprozesses auf der Grundlage der klassischen Prozesszwecklehre betrachten: Funktionen des Zivilprozesses nach der klassischen Prozesszwecklehre 1. Konflikt Effektiver Schutz subjektiver Rechte Konfliktlösung Rechtsgewissheit Wahrheit Gerechtigkeit
Mediation
Zivilprozess
1 3 0 2
3 2 3 2
2
2
1 0 0
3 3 3
0
3
3
2
1
3
1
3
2. Rechtsordnung Bewährung der objektiven Rechtsordnung Konkretisierung des Rechts Sicherung der Rechtsfortbildung Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtseinheit 3. Gesellschaft Herstellung und Wahrung des Rechtsfriedens Verhaltenssteuerung Herstellung tatsächlicher Waffengleichheit
Tabelle 8: Modell der Verfahrenswahl auf der Grundlage der Funktionen des Zivilprozesses Werden dagegen die positiven Struktureigenschaften und Risiken beider Verfahren zugrunde gelegt, ergibt sich ein Verhältnis nahezu symmetrischer Komplementarität:
892
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Positive Struktureigenschaften Privatautonome Lösung verbindliche Entscheidung interessengerechtes Ergebnis rechtsorientiertes Ergebnis Vertraulichkeit Öffentlichkeit Schonung der Beziehung
Mediation Zivilprozess 3 0 3 1 3 3 3
0 3 1 3 0 3 0
Tabelle 9: Modell der Verfahrenswahl auf der Grundlage der positiven Struktureigenschaften Verfahrensrisiken Ausgleich von Machtungleichgewichten und Informationsasymmetrien Einigungsdruck Ineffektive Konfliktbeilegung kein interessengerechtes Ergebnis kein rechtmäßiges Ergebnis Eskalation Zerstörung der Parteibeziehung hohe Kosten lange Dauer
Mediation Zivilprozess 2
0
0
3
0 2 0 0 0 0
2 0 3 3 3 3
Tabelle 10: Modell der Verfahrenswahl auf der Grundlage der Verfahrensrisiken Aufgrund der Besonderheiten beider Verfahren und den mit ihnen verbundenen spezifischen Funktionen ergeben sich zwar Unterschiede, zugleich aber auch eine ganze Reihe von Überschneidungen, da beide Verfahren zwar entsprechend ihrer jeweils eigenen Struktur auf bestimmte Funktionen besonders zugeschnitten sind, zugleich aber auch – etwa im Hinblick auf die Aufgabe der effektiven Konfliktbeilegung – ähnliche Ziele verfolgen. In einer wertenden Synthese sollen die einzelnen Raster daher zu einem konsolidierten Modell der Verfahrenswahl zusammengeführt werden:
893
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Interessen der Parteien
Mediation Zivilprozess
Materielle Aspekte der Konfliktbeilegung interessengerechtes Ergebnis wertschöpfende Kooperationsgewinne nachhaltiges Ergebnis dauerhaftes Ergebnis Zukunftsorientierung Effektiver Schutz subjektiver Rechte Rechtsklarheit / Präzedenzfall objektiv rechtmäßiges Ergebnis Verbindliche Entscheidung Wahrheitsfindung Faires, gerechtes Ergebnis
3 3 3 3 3 1 0 1 0 2 3
1 0 1 2 1 3 3 3 3 2 3
3 3 3 3 0 3 3 3 3 3 3 1 1
0 0 0 0 3 0 0 0 0 0 0 3 3
Prozedurale Aspekte der Konfliktbeilegung kurze Verfahrensdauer geringe Verfahrenskosten privatautonomes Handeln Flexibilität Öffentlichkeit Vertraulichkeit geringe Zugangsbarrieren Schonung der Parteibeziehung Versöhnung geringe Eskalation geringe emotionale & psychische Belastung geringe Gefahr der Übervorteilung Ausgleich von Machtungleichgewichten
894
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Öffentliche Interessen912 effektive Konfliktbeilegung Reduzierung der Konfliktkosten Rechtsfrieden Bewährung der objektiven Rechtsordnung Konkretisierung des Rechts Sicherung der Rechtsfortbildung Rechtssicherheit und Rechtseinheit Verhaltenssteuerung tatsächliche Waffengleichheit
3 3 3 1 0 0 0 2 2
1 1 2 3 3 3 3 3 3
Tabelle 11: Konsolidiertes Modell der Verfahrenswahl Ein konsolidiertes Modell der Verfahrenswahl auf der Grundlage dogmatischer Grundsätze der alternativen Streitbeilegung bildet einen wesentlichen Schritt auf dem Weg der Entwicklung transparenter und rational nachvollziehbarer Kriterien der Konfliktzuweisung. Zugleich ergänzt es die bestehenden Modelle und stellt sie systematisierend auf ein dogmatisch gesichertes Fundament, weil sich die Eignungskriterien nicht mehr aus allgemeinen Überlegungen oder dem empirischen Erfahrungswissen des Mediators, sondern aus Funktion913 und Struktur914 der Verfahren selbst ergeben. Aufgrund der systematisch geordneten und dogmatisch gesicherten inneren Struktur eines solchen Verfahrensmodells werden die Eignungskriterien nachvollziehbar und so für die Praxis handhabbar. Auch wenn sich die Eignungskriterien aus den Grundsätzen der in den vergangenen Abschnitten entwickelten Dogmatik der alternativen Streitbeilegung herleiten lassen, so ist auch dieses Modell einer ganzen Reihe grundlegender Einwände ausgesetzt. Diese betreffen zum einen die Auswahl der Eignungskriterien selbst und zum anderen ihre Bewertung im Hinblick auf
912 Im Rahmen der öffentlichen Interessen sollen an dieser Stelle nur solche Interessen berücksichtigt werden, die entweder originär oder ganz überwiegend der Sphäre des Staates zuzuordnen sind. Denn zweifellos ist auch und gerade die schnelle, kostengünstige und interessengerecht-wertschöpfende Beilegung von Konflikten als ein zentrales öffentliches Interesse und wesentliches Ziel der Rechtsordnung. Hierzu gehört insbesondere auch die Wahrung des Gleichgewichts zwischen privatautonomem Handeln und staatlichen Eingriffen. Nicht zuletzt hat insbesondere das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass die einvernehmliche, privatautonome Streitbeilegung „auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung“ ist. BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 913 Vgl. hierzu oben S. 558 ff., 614 ff. 914 Vgl. hierzu oben S. 107 ff., 586 ff., 674 ff.
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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die Eignung eines bestimmten Verfahrens zur Verwirklichung der den Eignungskriterien entsprechenden Verfahrensziele. 1. Auswahl der Eignungskriterien. Wie wir gesehen haben, ist der Kanon der Eignungs- bzw. Zuweisungskriterien das Ergebnis einer Synthese der jeweiligen Verfahrensfunktionen der Mediation und des Zivilprozesses sowie ihrer Struktur, die wir im Rahmen unserer Untersuchung herausgearbeitet haben. Im Hinblick auf die Verfahrensfunktionen haben wir dabei zum einen auf das Modell der fünf Mediationsprojekte von Breidenbach915, zum anderen auf die klassische Prozesszwecklehre916 zurückgegriffen, und beide für den Zweck des Verfahrensvergleichs näher ausdifferenziert und weiterentwickelt. Freilich sind diese Funktionsmodelle ihrerseits Gegenstand intensiver dogmatischer Diskussion und besitzen daher keinesfalls die Qualität feststehender Rechtssätze. Darüber hinaus lässt sich auch über ihre Zuordnung zu den privaten Interessen der Parteien oder dem öffentlichen Interesse des Staates trefflich streiten. So beschränken sich etwa die prozeduralen Aspekte der Konfliktbeilegung – wie etwa geringe Verfahrensdauer und -kosten, privatautonomes Handeln und Versöhnung – keineswegs auf die privaten Interessen der Parteien. Im Gegenteil besteht gerade ein erhebliches öffentliches Interesse des Staates an einer schnellen, kostengünstigen und insbesondere die Interessen beider Parteien berücksichtigenden und damit nachhaltigen Beilegung von Konflikten. Dass die einvernehmliche, privatautonome Streitbeilegung „auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung“917 ist, hat das BVerfG in seinem grundlegenden ADR-Urteil klargestellt. Andererseits gebieten die Anforderungen an eine möglichst hohe Praktikabilität, Doppelungen zu vermeiden, so dass sich das konsolidierte Modell der Verfahrenswahl im Hinblick auf die öffentlichen Interessen auf originär oder ganz überwiegend der Sphäre des Staates zuzuordnende Interessen – wie etwa das Interesse an der Bewährung der objektiven Rechtsordnung918, der Rechtsfortbildung919 und Rechtseinheit920 – beschränkt. 915
Vgl. hierzu oben S. 560 ff., 721 ff. sowie grundlegend Breidenbach, Mediation (1995), S. 119 ff. 916 Vgl. hierzu oben S. 616 ff. 917 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 918 Vgl. hierzu eingehend oben S. 637 ff. Für die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilverfahrens als Prozesszweck Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 2 f.; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2. A.A MünchKomm/ Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 8; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 3 ff. Eingehend hierzu Gaul, AcP 168 (1968), 27, 37 ff., 59 f. 919 Vgl. hierzu oben S. 651 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4. 920 Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4.
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2. Bewertung der Eignungskriterien. In weitaus stärkerem Maße als die Auswahl ist jedoch die Bewertung der Eignungskriterien und damit ihre wertende Verknüpfung mit den jeweiligen Verfahren möglichen Einwänden ausgesetzt. Dies folgt zum einen bereits aus der Tatsache, dass es sich hierbei um subjektive Werturteile handelt, zum anderen aus dem Umstand, dass sich die Bewertung gerade aus der besonderen Perspektive der modernen ADR-Forschung ergibt, die dem von der Dominanz des Zivilprozesses geprägten traditionellen Konfliktverständnis deutlich widerspricht. Hier schließt sich wieder der Kreis zu dem bereits besprochenen Problem, dass eine informierte und für die Parteien nachvollziehbare Verfahrenswahl ein Grundverständnis der ADR-Verfahren und der grundlegenden Prinzipien der alternativen Streitbeilegung voraussetzt. Darüber hinaus ist die konkrete Bewertung erst vor dem Hintergrund einer eingehenden analytischen Auseinandersetzung mit den jeweiligen Funktionen, der Struktur und damit der Leistungsfähigkeit der einzelnen Verfahren möglich. So haben wir etwa im Rahmen unserer bisherigen Untersuchung gesehen, dass das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess nicht auf das stark vereinfachende Bild einer scharfen Dichotomie von Interessen- und Rechtsorientierung reduziert werden kann, sondern vielmehr eine differenzierte Sichtweise notwendig ist:921 Während auf der einen Seite das materielle Recht auf vielfältige Weise im Mediationsverfahren wirksam wird und die Mediation damit auch zu einem objektiv rechtmäßigen Verhandlungsergebnis führen kann, ist auf der anderen Seite auch im Rahmen des Zivilprozesses eine Verwirklichung der Interessen der Parteien insoweit möglich, als diese in typisierten Rechtsnormen Ausdruck gefunden haben. Dass dies freilich aufgrund der systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses auf Ausnahmefälle beschränkt bleibt, haben wir im Rahmen unserer rechtstheoretischen Untersuchung des zivilgerichtlichen Verfahrens gesehen. Ein abstraktes Modell der Verfahrenswahl kann sich daher nur auf den idealen Archetypus und damit auf die theoretische Leistungsfähigkeit der einzelnen Verfahren, nicht dagegen auf die konkreten Umstände des Einzelfalls beziehen. Wie wir bereits gesehen haben, kann etwa der Sachverhalt in einem Mediationsverfahren in einer Weise gestaltet sein, welche die Möglichkeit der Realisierung wertschöpfender Kooperationsgewinne erheblich begrenzt und die Parteien auf die Verteilung des vorhandenen „Wertkuchens“ beschränkt. Ein konfliktspezifisches Modell der Verfahrenswahl führt daher zwar in der Theorie und in der Tendenz, nicht dagegen zwangsläufig auch in jedem konkreten Ein-
921 Zur Struktur- und Funktionsanalyse beider Verfahrensarten vgl. eingehend vgl. eingehend oben S. 100 ff., 558 ff., 614 ff.
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zelfall zu sachgerechten Ergebnissen. Dies begrenzt indes den praktischen Nutzen derartiger Verweisungsmodelle erheblich.922 Hinzu kommen die methodischen Schwierigkeiten, verlässliche Kriterien für die Verfahrenswahl zu entwickeln. Wie im Gang der Untersuchung deutlich geworden ist, bleibt trotz der dogmatischen Fundierung eines konsolidierten Modells der Verfahrenswahl eine erhebliche Unsicherheit im Hinblick auf die Auswahl und Bewertung der Eignungskriterien bestehen. Es bleibt bei der Einschätzung Sanders und Rozdeiczers: „Selecting an appropriate dispute resolution procedure for the effective resolution of a particular dispute is a challenging task – more art than science“923. f) Empirische Eignungskriterien der Verfahrenswahl Angesichts der erheblichen Unsicherheiten, die mit der Entwicklung dogmatisch begründeter Eignungskriterien der Verfahrenswahl verbunden sind, kommt der Frage nach der Möglichkeit einer empirischen Begründung der Zuweisungskriterien umso größere Bedeutung zu. Daher wollen wir im Folgenden der Frage nachgehen, ob sich aus der Praxis gerichtsverbundener Mediationsprogramme empirisch gesicherte Anhaltspunkte für eine konfliktspezifische Verfahrenswahl ergeben. Dabei können wir auf die Ergebnisse der empirischen Begleitforschung gerichtsverbundener Mediationsprogramme in Deutschland und hier insbesondere auf die Untersuchung des bayrischen Modellversuchs Güterichter durch Reinhard Greger zurückgreifen.924 Da das bayrische Güterichterprojekt dem Konzept der differenzierten Konfliktzuweisung folgt925 und anhängige Fälle nicht, wie dies etwa der Praxis des vergleichbaren Modellprojekts am Landgericht Göttingen entspricht, nach erfolgter Zustimmung der Parteien grundsätzlich in das Mediationsverfahren verweist926, hat sich Greger insbesondere mit der Ermittlung geeigneter Zuweisungskriterien auseinandergesetzt und die untersuchten Fälle im Hinblick auf den Prozessgegenstand, den Prozesshintergrund und das Prozessstadium untersucht. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass insbesondere bei Erb-, Familien-, Bau- und
922
Einige gerichtsverbundene Mediationsprogramme sehen daher von einem screening und einer entsprechenden einzelfallbezogenen Verweisung ab und gehen stattdessen von der grundsätzlichen Vermutung der Mediationseignung aus, vgl. nur Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 7. 923 Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 41 (2006). 924 Vgl. Greger, Abschlussbericht (2007). 925 Vgl. nur Greger, Abschlussbericht (2007), S. 119. 926 Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 7.
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Honorarstreitigkeiten, aber auch bei Nachbarschafts- oder Gesellschafterstreitigkeiten sowie bei Streitigkeiten aus Kauf- und Werkverträgen überdurchschnittlich hohe Einigungschancen im Güterichterverfahren bestehen.927 Allerdings weist Greger zugleich auf die Grenzen empirisch fundierter Aussagen im Hinblick auf die Konflikteignung bestimmter Verfahrensgegenstände hin: So kann das der Untersuchung zugrunde liegende Fallmaterial aufgrund seiner geringen Menge und der uneinheitlichen Zuweisungspraxis nicht als repräsentativ angesehen werden, weshalb sich aus ihm keine Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Eignung bestimmter Prozessgegenstände für das Güterichterverfahren ziehen lassen.928 Darüber hinaus könnte selbst dann, wenn die Daten statistisch belastbar wären, nicht im Umkehrschluss die mangelnde Mediationseignung der übrigen Streitigkeiten unterstellt werden. Denn nach den empirischen Erhebungen konnten die Parteien auch in den übrigen untersuchten Fällen erhebliche Einigungsquoten von 71-80 % und in 10-50 % der Fälle sogar Einigungen erzielen, die über den Wert des Streitgegenstandes hinausgingen. In diesen Fällen eine mangelnde Mediationseignung anzunehmen, wäre nicht sachgerecht. Aus dem Prozessgegenstand und damit aus der Art des Konfliktes lassen sich auf der Grundlage des empirischen Befundes keine Kriterien für eine Mediationseignung bestimmter Konflikttypen herleiten.929 Aber auch aus dem konkreten sachlichen Hintergrund des Konfliktes lassen sich mit Blick auf die empirischen Daten keine belastbaren Einigungskriterien gewinnen. Zwar ergibt sich aus den Rückmeldungen der Güterichter, dass sich insbesondere Verfahren mit bestehenden geschäftlichen oder persönlichen Dauerbeziehungen als für das Güterichterverfahren besonders geeignet erwiesen haben.930 Allerdings konnten auch in Fällen, in denen derartige Dauerbeziehungen regelmäßig nicht bestehen – wie etwa in Bau- und sonstigen Vertragsstreitigkeiten – hohe Einigungsquoten erzielt werden. Darüber hinaus gilt auch hier, dass das Maß der Einigungsquote oder der über den Streitgegenstand hinausgehenden Einigungen kein verlässliches Kriterium für die Differenzie927
Greger, Abschlussbericht (2007), S. 23 f., 114 f., 117. So ausdrücklich Greger, Abschlussbericht (2007), S. 24: „Schlüsse auf eine besondere Konsenseignung einzelner Prozessgegenstände können hieraus nur unter Vorbehalt gezogen werden, da das Fallmaterial wegen der geringen Menge und der uneinheitlichen Zuweisungspraxis nicht als repräsentativ angesehen werden kann.“ 929 Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil die empirische Untersuchung im Hinblick auf den Prozessgegenstand nicht zwischen dem Güterichterverfahren zugewiesenen und diesem nicht zugewiesenen Fällen unterscheidet und die untersuchten Verfahren jedenfalls in 71-80 % der Fälle zu einer Einigung geführt haben. Die von Greger vorgenommene Differenzierung zwischen mehr und weniger vergleichsgeeigneten Verfahren beruht vor allem auf einem Ranking der Einigungsquoten und dem Anteil der über den Streitgegenstand hinausgehenden Einigungen. Vgl. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 24, 114 f. 930 Vgl. zur Zuweisungspraxis im bayrischen Modellprojekt Güterichter Greger, Abschlussbericht (2007), S. 82. 928
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rung zwischen mediationsgeeigneten und -ungeeigneten Sachverhaltskonstellationen ist. Denn jedenfalls in den erfolgreich abgeschlossenen Güteverhandlungen war der Konflikt in jedem Fall mediationsgeeignet. Schließlich bildet auch das Prozessstadium kein verlässliches Kriterium für die Eignung des Konfliktes zur Beilegung im Rahmen eines Mediationsverfahrens, weil Konflikte sowohl in einem frühen als auch in einem späten Stadium des Zivilverfahrens erfolgreich beigelegt werden können. Dass Fälle, in denen vor der Mediation bereits ein mündlicher Verhandlungstermin stattgefunden hat, eine günstigere Erfolgsbilanz aufweisen, ist kein Indiz für die mangelnde Eignung der übrigen Fälle, sondern spricht lediglich für die höhere Wahrscheinlichkeit einer Einigung. Vielmehr geht es hier ausschließlich um die eine Einigung begünstigenden Ausgangsbedingungen, nicht dagegen um notwendige Bedingungen für die Durchführung einer Mediation oder gar Ausschlussgründe. Aus dem empirischen Befund lassen sich damit keine Anhaltspunkte für entsprechende Einigungskriterien der Verfahrenswahl herleiten. Bestätigt wird dieses Ergebnis durch die an der Untersuchung beteiligten Güterichter, die durchgehend die Ansicht vertraten, dass jeder Fall für das Güteverfahren geeignet ist, solange die Parteien hierzu ihre Zustimmung gegeben haben, und die darauf hingewiesen hatten, dass selbst zunächst aussichtslos erscheinende Konflikte erfolgreich im Wege der Mediation beendet werden konnten.931 Dass sich eine generalisierende Verweisung sämtlicher anhängiger Verfahren in die Mediation als sachgerecht erweisen kann, haben die Erfahrungen des Projektes Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen am Landgericht Göttingen gezeigt: Hier wurde auf eine konfliktspezifische, gleichsam diagnostische Fallzuweisung aufgrund spezieller Eignungskriterien verzichtet und den Parteien in allen Verfahren die Durchführung einer Mediation vorgeschlagen.932 Trotz des Verzichts auf eine vorherige Prüfung der Verfahren auf ihre Mediationseignung wurde im Untersuchungszeitraum eine überdurchschnittlich hohe Einigungsquote von 87,5 % erzielt.933 Damit findet das Modell konfliktspezifischer Verfahrenswahl im empirischen Befund keine Stütze. Bezeichnenderweise haben auch die als klassische Multi-Door Courthouse Projekte entstandenen ADR-Programme in den USA diese Entwicklung mit vollzogen und gehen mittlerweile von einer grundsätzlichen Vermutung der Eignung aller anhängigen Konflikte für die Beilegung im Rahmen eines ADR-
931
Greger, Abschlussbericht (2007), S. 35. Niedersächsisches Justizministerium und Konsens e.V., Projektabschlussbericht Gerichtsnahe Mediation (2005), S. 28. 933 Niedersächsisches Justizministerium und Konsens e.V., Projektabschlussbericht Gerichtsnahe Mediation (2005), S. 28. 932
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Verfahrens aus (presumptive referral), wobei in den meisten Fällen die Mediation zur Anwendung kommt.934 So werden am größten ADR-Programm in den USA, der Multi-Door Division am Superior Court in Washington D.C., anhängige Verfahren kategorisch in die entsprechenden Sonderprogramme für allgemeine Zivilverfahren – Streitigkeiten mit geringem Streitwert (small claims disputes), Miet-, Familien- und Kindessschutzsachen – verwiesen, in denen ganz überwiegend ein Mediationsverfahren durchgeführt wird.935 Eine ähnliche Entwicklung ist im Multi-Door Courthouse Project am Arapahoe Justice Center in Colorado erkennbar.936 Dort stellt die Mediation mit Abstand das ADR-Verfahren der Wahl dar.937 Und auch das klassische Middlesex MultiDoor Courthouse in Cambridge (Massachusetts), das in seiner Blütezeit Mitte der 1990er Jahre ein jeweils halb- bis einstündiges individuelles Fallscreening vorgesehen hatte, besteht in der ursprünglichen Form heute nicht mehr, sondern ist mittlerweile ein ADR-Anbieter unter vielen.938 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass eines der größten und einflussreichsten ADRProgramme in den USA, das Florida Dispute Resolution Center, weitgehend auf die Mediation als zentrales Verfahren ausgerichtet ist.939 Entsprechend setzt sich auch im Schrifttum zunehmend die Erkenntnis durch, dass eine konfliktspezifische Verfahrenswahl den Anforderungen an eine effektive, praxisorientierte und sachangemessene Konfliktbehandlung nicht gerecht wird und daher von einer grundsätzlichen Eignung der Mediation zur Konfliktbeilegung anhängiger Konflikte auszugehen ist, solange keine zwingenden Ausschlussgründe – etwa der Wunsch der Parteien nach einer verbindlichen richterlichen Entscheidung – vorliegen.940 Das Multi-Door Courthouse verfügt daher heute ganz überwiegend nur noch über zwei Türen: Zur Mediation und zum Zivilprozess.941
934 Vgl. hierzu eingehend Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 99 ff. mwN. 935 Vgl. https://www.dccourts.gov/superior-court/multi-door-dispute-resolution-division (zuletzt abgerufen am 27.11.2017) und Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 68 ff.; Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 158 ff. 936 Erickson/Savage, 54-AUG Disp. Resol. J. 60, 63 (1999): „Mediation is by far the ADR process of choice in the Arapahoe County program.” 937 Erickson/Savage, 54-AUG Disp. Resol. J. 60, 63 (1999): „Mediation is by far the ADR process of choice in the Arapahoe County program.” 938 Vgl. Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 63 ff.; Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 166 ff. 939 Vgl. hierzu eingehend Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003). 940 Vgl. nur Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 103, den status quo zusammenfassend. Ähnlich Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 78 für die Multi-Door Divisionk am Superior Court in Washington D.C. (standardisierte Verweisung in die Mediation im Small Claims und dem Family and Community Program). 941 So auch Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 103.
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5. Das Prinzip hierarchischer Differenzierung: Das Primat der Mediation und die Subsidiarität des Zivilprozesses Die Ergebnisse unserer bisherigen Untersuchung und der empirische Befund haben erhebliche Auswirkungen auf die weitere Bestimmung des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess im System einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre. Wie wir im Rahmen unserer Betrachtung gesehen haben, lässt sich das Verhältnis beider Verfahren zueinander weder auf der Grundlage einer funktionalen noch einer qualitativen Verfahrenswahl näher bestimmen. Damit steht der Weg für eine hierarchische Differenzierung beider Verfahren offen: Nach dem Prinzip der hierarchischen Differenzierung entspricht die Beziehung von Mediation und Zivilprozess einem hierarchisch abgestuften System sich komplementär entsprechender und jedenfalls zum Teil bedingender Verfahren, wobei der Mediation Vorrang vor dem als ultima ratio lediglich subsidiär eingreifenden Zivilprozess zukommt. Beide Verfahren stehen dabei insoweit in einem gleichsam symbiotischen Abhängigkeitsverhältnis, als die Mediation des Zivilprozesses als Rückgriffsordnung und gleichsam „abschreckender“ Nichteinigungsalternative bedarf, um die Parteien zu gegenseitiger Kooperation und zu einer fairen ausgewogenen Einigung zu motivieren. Mediation vollzieht sich damit stets im „Schatten des Rechts“942 als sie ermöglichender Rahmen. Die Beziehung der Verfahren zueinander innerhalb des Kontinuums der Streitbeilegungsverfahren wird damit nicht mehr lediglich fallbezogen und konkret, sondern stattdessen allgemein und abstrakt bestimmt. Ob sich das Verhältnis beider Verfahren vor dem Hintergrund einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre tatsächlich im Sinne einer solchen Verfahrenshierarchie beschreiben lässt, wollen wir im Folgenden näher untersuchen. Dabei werden wir auf den Befund unserer bisherigen Arbeit zurückgreifen und die einzelnen Teilaspekte unserer Untersuchung gleichsam in einer Synthese zu einer umfassenden Gesamtschau zusammenführen. a) Vom Multi-Door Courthouse zum Primat der Mediation Wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, hat die Praxis der alternativen Streitbeilegung einen weitreichenden Prozess der Konsolidierung vollzogen, in dessen Verlauf sich die jedenfalls in doktrineller Hinsicht ursprünglich breite Ausdifferenzierung der Verfahren in der tatsächlichen Praxis auf die
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So Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). Vgl. zur Bedeutung des Rechts in der Mediation eingehend oben S. 149 ff. (allgemein), 280 ff. (materielles Recht), 432 ff. (Verfahrensrecht).
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Mediation als dem maßgeblichen, idealtypischen ADR-Verfahren hin fokussiert hat.943 Während die Pionierphase der ADR-Bewegung noch sehr stark von der Vorstellung eines umfassend ausdifferenzierten Verfahrenspluralismus vielfältiger Primär- und Hybridverfahren geprägt war, ist das Modell des MultiDoor Courthouse mit individuellem screening und konfliktspezifischer Verfahrenswahl mittlerweile der Praxis einer weitgehend kategorischen Verweisung in das Mediationsverfahren als dem zentralen Einstiegsverfahren in die alternative Streitbeilegung gewichen. Entsprechend ist auch in den US-amerikanischen Multi-Door CourthouseProjekten ein deutlicher Trend zur Konzentration auf die Mediation, ein Wandel vom Multi-Door zum „Dual-Door-Courthouse“ erkennbar. Dies wird auch in den von uns untersuchten drei exemplarischen Projekten deutlich: Sowohl in der Multi-Door Division am Superior Courtin Washington D.C.944 als auch im Multi-Door Courthouse Project am Arapahoe Justice Center945 sowie im Middlesex Multi-Door Courthouse946 in Cambridge (Massachusetts) kommt als ADR-Verfahren ganz überwiegend die Mediation zum Einsatz.947 Ein entsprechender Trend lässt sich für die US-amerikanischen ADR-Programme insgesamt feststellen: Das Spektrum der ADR-Verfahren wird hier ganz überwiegend von der Mediation bestimmt.948 In Deutschland war die Praxis wie auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit der alternativen Streitbeilegung im Rahmen der modernen ADR-Bewegung seit jeher – von der Schiedsgerichtsbarkeit und dem Schlichtungsverfahren
943 Mit diesem doktrinellen Wechsel dürften Verhandlungsforschung wie -praxis eine Entwicklung nachvollzogen haben, die ohnehin seit jeher der tatsächlichen Bedeutung der Mediation im Vergleich zu den Hybridverfahren entsprach. Letztere dürften auch in der Anfangszeit der ADR-Bewegung im Vergleich zur Mediation nur eine relativ geringe Rolle gespielt haben. 944 Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 70 ff., 78; Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 68 ff. 945 Savage/Stuart, 26 Colo. Lawer 13, 13 (1997): „There has been … a clear preference for mediation as the ADR method of choice.“; Senft/Savage, 108 Penn St. L. Rev. 327, 331 Fn. 21 (2003): „In Colorado’s Eighteenth Judicial District Multi-door Courthouse in Arapahoe County, program statistics show that most parties choose mediation. A much smaller percentage choose case evaluation, and less than a handful choose arbitration.“ Hervorhebungen durch den Verfasser. 946 Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 63 ff., 67. Vgl. zu dem Programm auch nd Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 82 ff. 947 Savage/Stuart, 26 Colo. Lawer 13, 13 (1997); Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 70 ff., 78; Senft/Savage, 108 Penn St. L. Rev. 327, 331 Fn. 21 (2003); Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 67; Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 67. 948 Vgl. nur Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 126.
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nach § 15a EGZPO abgesehen – weitgehend auf die Mediation beschränkt.949 Auch hier spielen Hybridverfahren wie etwa Early Neutral Evaluation, Minitrial oder Med-Arb wenn überhaupt nur eine marginale Rolle. Insbesondere in gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen, die in Deutschland eine zentrale Vorreiterrolle einnehmen, kommt weitgehend die Mediation, allerdings in der Regel in einer direktiven Verfahrensvariante, zum Einsatz.950 Die Mediation hat sich damit sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis gleichsam als Archetyp und als das zentrale Primärverfahren der alternativen Streitbeilegung etabliert. Entsprechend beginnt sich auch in der internationalen Verhandlungsforschung verstärkt die Auffassung durchzusetzen, dass der Mediation nicht nur lediglich fallbezogen, sondern vielmehr grundsätzlich Vorrang vor dem Zivilprozess zukommt. So geht auch Frank E.A. Sander, der geistige Vater des
949 Dabei hat die wissenschaftliche Diskussion, der zunehmenden dogmatischen Durchdringung und dem Stand der internationalen ADR-Forschung folgend, freilich eine Entwicklung hin zu einer sehr viel stärkeren begrifflichen Klarheit im Hinblick auf die Fokussierung auf das Mediationsverfahren vollzogen. Während die Diskussion insbesondere in den 1980er Jahren zunächst noch unter den Stichwörtern der „Streitschlichtung“, des „Prozessvergleichs“, der „richterlichen Vergleichstätigkeit“ und der „Vermittlung“ erfolgte, hat sich spätestens seit Mitte der 1990er Jahre die Mediation als strukturiertes Verfahren mit klar definierten Verfahrensprinzipien und -eigenschaften auch in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt. Vgl. exemplarisch Gottwald/Strempel, Streitschlichtung (1995); Freund, DRiZ 1983, 136; Gottwald/Hutmacher/Röhl/Strempel (Hrsg.), Der Prozeßvergleich (1983); Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz (1982); Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981); Blankenburg/Klausa/Rottleuthner (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht (1980); Ekelöf, FS Bruns (1980), S. 3; Stürner, JR 1979, 133; Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen, Zugang zum Recht (1978); Stürner, DRiZ 1976, 202; Wolf, ZZP 89 (1976), 260 auf der einen und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2003); Duve, Mediation und Vergleich im Prozeß, (1999); Eidenmüller, BB 1998, Beilage 10 zu Heft 40/1998, 19; Hoffmann-Riem, in: Brand/Strempel (Hrsg.), Soziologie des Rechts (1998), S. 649; Breidenbach/Henssler, Mediation für Juristen (1997); Breidenbach, Mediation (1995); Eidenmüller, in: Breidenbach/Henssler (Hrsg.), Mediation (1995), S. 31 auf der anderen Seite. 950 Während die Mehrzahl der gerichtsverbundenen Mediationsprogramme ausdrücklich auf das Mediationsverfahren ausgerichtet ist, verfolgt etwa das bayrische „Modellprojekt Güterichter“ ausdrücklich keinen methoden-, sondern einen verfahrensorientierten Ansatz. Dabei geht es nicht darum, das Verfahren der Mediation in den Zivilprozess zu integrieren, sondern vielmehr darum, „prozessuale Strukturen zu erproben, die eine dem Einzelfall angemessene, in der Methodik freie Konfliktlösung fördern“. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 3. Allerdings kommt auch hier in den meisten Fällen die Mediation zur Anwendung, wobei die Güterichter weitgehend einem direktiven Mediationsstil folgen und insbesondere auch eine rechtliche Bewertung des Sachverhalts abgeben. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 37. Vgl. zur Interventionsdichte des Mediators eingehend oben S. 319 ff., 360 ff., 408 ff., 414 ff.
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Multi-Door Courthouse und Pionier der ADR-Bewegung, gemeinsam mit Lukasz Rozdeiczer mittlerweile von einem Primat des Mediationsverfahrens im Spektrum der Konfliktbeilegungsverfahren aus. Aus der Zusammenschau theoretischer Überlegungen und empirischer Erfahrungen ergibt sich danach eine widerlegbare Vermutung der Eignung des Mediationsverfahrens als primäres und umfassendes Einstiegsverfahren der Konfliktbehandlung („Assume Mediation“)951: „The combination of the theoretical examination presented above and the empirical data suggests that mediation is almost always a superior starting process. ... … we tried to present several reasons for our suggested approach of normally beginning with mediation (a revealing and flexible process that readily opens the way to other processes as needed). The only exception to this approach comes in the limited situations where there are contraindications to mediation. In all other situations, using some form of mediation at the outset is likely to be most productive.”952
Indem Sander das Primat der Mediation in den Kontext der geschichtlichen Entwicklung der ADR-Bewegung stellt, ergibt sich der Vorrang der Mediation als notwendiger Schlusspunkt und damit gleichsam als natürliches Ziel einer stufenweisen Entwicklung hin zu einem umfassenden System der Konfliktbehandlung. Im Hinblick auf die moderne ADR-Bewegung, als deren Beginn die legendäre Pound Conference 1976 in Minneapolis gilt, unterscheidet Sander drei zentrale Phasen: Die erste Phase der Experimente und der Innovation („Let a Thousand Flowers Bloom“)953 war von der begeisterten Entdeckung und Erprobung unterschiedlicher Formen alternativer Streitbeilegung geprägt.954 Die zweite Phase stand unter dem Zeichen der kritischen Reflexion („Separating the Wheat from the Chaff”)955, in der die einzelnen Verfahren im Rahmen der notwendigen wissenschaftlichen Erfassung und Durchdringung kritisch untersucht und hinterfragt wurden worden sind.956 Die dritte Phase ist die gegenwärtige: Eine Periode der Institutionalisierung und Vereinheitlichung, in der die Mediation so in das bestehende System der Konfliktbehandlung integriert wird, dass sie von den Beteiligten als naheliegende und selbstverständliche Form der Konfliktbeilegung in Betracht gezogen werden kann, ohne dass die Parteien im Hinblick auf ihre Verfahrenswahl eine besondere
951
Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32 (2006). Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32, 41 (2006) (Hervorhebungen durch den Verfasser). 953 Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). 954 Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). 955 Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). 956 Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). 952
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Darlegungslast trifft.957 Dieser Prozess der Institutionalisierung und Vereinheitlichung der Mediation setzt sich nach Sander solange fort, bis aufgrund der weitreichenden Institutionalisierung und Anerkennung der Mediation ein Wendepunkt erreicht ist, an dem sich die Begründungslast im Hinblick auf die Verfahrenswahl hin zu einer widerlegbaren Vermutung der Mediationseignung des Konfliktes verschiebt: Danach kommt im Kontext eines Konfliktes zunächst die Mediation als das am besten geeignete Konfliktbeilegungsverfahren zur Anwendung, es sei denn, die konkreten Umstände des Einzelfalls sprechen gegen eine Anwendung des Mediationsverfahrens.958 Sander und Rozdeiczer begründen das Primat des Mediationsverfahrens mit seinen Verfahrenseigenschaften sowie mit seinen Vorteilen auf der Makro- und Mikroebene, die sich in fünf wesentliche Kategorien gliedern lassen959: (1) Prozedurale und (2) materielle Eigenschaften, (3) die Vermittlung durch einen neutralen Dritten, (4) empirische Erfahrungen mit der Mediation sowie (5) ihr Verhältnis zu anderen Verfahren der Streitbeilegung.960 1. Prozedurale Eigenschaften. Zentrale Vorteile des Verfahrens ergeben sich bereits aus der besonderen Verfahrensstruktur der Mediation und damit aus ihren prozeduralen Eigenschaften. So kann das Verfahren aufgrund seiner Flexibilität auf eine Vielzahl unterschiedlicher Konflikte maßgeschneidert werden.961 Es befriedigt das Bedürfnis der Parteien nach Vertraulichkeit und hilft ihnen, durch die Strukturierung des Sachverhaltsstoffes die relevanten Aspekte des Konfliktes zu erkennen, zu strukturieren und zu klären.962 Darüber hinaus nimmt das Mediationsverfahren die emotionale Seite des Konfliktes in den Blick: Es erleichtert die Kontrolle und Begrenzung von Wut und negativen Emotionen, gibt den Parteien die Möglichkeit, „ihre Geschichte zu erzählen“ und von ihrem Konfliktpartner gehört zu werden und öffnet Wege für eine immaterielle, emotionsorientierte Lösung des Konfliktes wie etwa eine Entschuldigung.963
957
Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007): „Thus we come to the question: How can this process of institutionalization be furthered and accelerated? One way to do so is to continue to do what we are presently doing until we reach ‘The Tipping Point’, a point when the balance shifts to a presumption for exploring the use of mediation unless it is shown to be counterindicated in the particular setting.” 959 Dabei betrifft die Makroebene („macrobenefits”) Verfahrensvorteile, die in allen Mediationen realisiert werden können, die Mikroebene („microbenefits“) dagegen nur solche, die nur auf bestimmte Fälle und Parteien anwendbar sind. Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32 (2006). 960 Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32 ff. (2006). 961 Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 33 (2006). 962 Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 34 (2006). 963 Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 34 (2006). 958
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2. Materielle Eigenschaften. In materieller Hinsicht ermöglicht die Mediation durch die Realisierung von trade-offs und kreativen Lösungen pareto-optimale Einigungen, welche die Interessen beider Parteien berücksichtigen, faktenbasierte Entscheidungen vermeiden und stattdessen eine zukunftsgerichtete Beilegung des Konflikts fördern.964 Damit trägt die Mediation nicht nur zu einer effektiven Beilegung des Konfliktes bei, sondern gewährleistet durch die Partizipation der Parteien zudem ein erhebliches Maß an Umsetzung und Befolgung der vereinbarten Mediationsvergleiche.965 3. Vermittlung durch einen neutralen Dritten. Die dem Mediationsverfahren eigene Vermittlung durch einen neutralen Dritten eröffnet den Beteiligten die Möglichkeit eines Wahrnehmungsverzerrungen entschärfenden reality check der von ihnen geltend gemachten Rechtspositionen sowie die deutlich einfacher vermittelbare Kommunikation von Angeboten und Gegenangeboten.966 Darüber hinaus ermöglicht das Verfahren dem Mediator, Einigungsvorschläge der Parteien durch reframing neu darzustellen, den Prozess der Generierung von Einigungsoptionen durch eigene Lösungsvorschläge und Ideen zu fördern sowie Aggressionen abzufangen.967 4. Empirische Erfahrungen. Im Hinblick auf die Wirkungen der Mediation auf die Beteiligten verweisen Sander und Rozdeiczer auf den empirischen Befund, dass die Mediation das von Parteien und Praktikern bevorzugte ADRVerfahren darstellt.968 Darüber hinaus wurde durch empirische Untersuchungen für die Mediation eine deutlich höhere Zufriedenheit der Parteien nachgewiesen, als dies in anderen Verfahren – insbesondere dem Zivilprozess – der Fall ist.969
964
Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 33 f. (2006). Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 33 f. (2006). 966 Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 33 f. (2006). 967 Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 33 f. (2006). 968 Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 33 f. (2006). 969 Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 33 f. (2006). Sander und Rozdeiczer verweisen dabei auf eine Untersuchung der American Arbitration Association zur Haltung der Leiter der Rechtsabteilungen US-amerikanischer Unternehmen zur Mediation, wonach 83 % der Befragten die Mediation für ein zufriedenstellenderes („satisfactory“) Verfahren halten als den Zivilprozess. Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 34 (2006). Vgl. für die Untersuchung American Arbitration Association, Dispute-Wise Business Management: Improving Economic and Non-Economic Outcome in Managing Business Conflict (2006), S. 24. Die Ergebnisse bestätigen den Befund der wissenschaftlichen Begleitforschung der Mediationsprogramme in Deutschland. So wurde etwa das bayerische Güterichterverfahren von 82,9 % der befragten Parteien ausschließlich positiv bewertet. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 51. Und auch die Mehrheit der beteiligten Parteianwälte (65 %) gab an, dass das Verfahren ihre Erwartungen erfüllt hat. Ähnliche Zustimmungsraten wurden für die Bewertung der Qualität des materiellen Ergebnisses nachgewiesen: So bewerteten 81,5 % der befragten Parteien (269 von 330) die erzielte Einigung mit „sehr gut“ 965
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5. Verhältnis zu anderen Verfahren. Schließlich weisen Sander und Rozdeiczer zu Recht darauf hin, dass das Primat der Mediation dem Grundprinzip des Dispute Systems Design entspricht, wonach wenig invasiven und kostengünstigen Methoden Vorrang vor invasiven und kostenintensiven Verfahren zukommt.970 Im Rahmen integrierter Konfliktmanagementsysteme erfolgt die Konfliktbehandlung daher zunächst durch weniger eingriffsintensive Verfahren, die ein hohes Maß an Privatautonomie aufweisen. Verfahren mit einer höheren Eingriffsintensität, wie etwa die verbindliche richterliche Streitentscheidung im Rahmen eines Zivilprozesses, gelangen dabei lediglich als ultima ratio zur Anwendung. Damit ist die Mediation in den meisten Fällen das geeignete Verfahren. Wo dies nicht der Fall ist, dient sie als Tür zu weiteren Verfahrensarten und bereitet diese durch die bereits erfolgte Verarbeitung des Konfliktstoffes inhaltlich vor.971 Damit haben sowohl die Verhandlungsforschung wie auch die Mediationspraxis den Schritt hin zum Primat des Mediationsverfahrens als dem zentralen Primärverfahren alternativer Streitbeilegung vollzogen. Eine dogmatische Begründung des Mediationsprimats auf der Grundlage der Vorarbeiten Fullers sowie des Ertrages der interdisziplinären Forschung auf dem Gebiet der Verhandlungstheorie steht indes noch aus. Daher wollen wir im Folgenden der Frage nachgehen, wie sich der Vorrang des Mediationsverfahrens vor anderen Konfliktbeilegungsverfahren zu Fullers Lehre der „Principles of Social Order“ verhält und wie er sinnvoll in das System einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre integriert werden kann. b) Das Primat der Mediation als Prinzip einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre Den Anknüpfungspunkt unserer Überlegungen zur Integration von Mediation und Zivilprozess in das System einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre972, die wir im Gang unserer bisherigen Untersuchung schrittweise entwickelt haben, bildet die Verfahrenslehre Lon L. Fullers973 als System primärer gesellschaftlicher Ordnungsprozesse. Im Anschluss an Henry Harts974 naturrechtli-
bis „befriedigend“, während 88,98 % der befragten Parteianwälte (396 von 445) angaben, dass die Einigung sehr oder in etwa mit den Interessen der Parteien übereinstimmt. Greger, Abschlussbericht (2007), S. 55, 59. 970 Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32 (2006). 971 Sander/Rozdeiczer, 11 Harv. Negot. L. Rev. 1, 32 (2006). 972 Hierzu eingehend oben S. 540 ff. 973 Vgl. hierzu eingehend oben S. 116 f. sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff., 27 ff., 36 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381 f., 404 f. (1978). 974 Vgl. hierzu oben S. 112sowie Hart, The Concept of Law (1960), S. 189 ff. Hierzu eingehend Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 24 ff.
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ches Verständnis des Rechts erweiterte Fuller die Perspektive wissenschaftlicher Betrachtung, die bislang weitgehend auf die Untersuchung der materiellen Regeln einer Gesellschaft beschränkt war, um einen prozeduralen Aspekt, indem er den Blick auf die unterschiedlichen Verfahren gesellschaftlicher Steuerung richtete und damit jene Mechanismen in die wissenschaftliche Untersuchung einbezog, aus denen die materiell-rechtlichen Normen der objektiven Rechtsordnung überhaupt erst hervorgehen.975 Damit gerät das Verhältnis zwischen materiellem Recht und Verfahren im weitesten Sinne in den Blick, das die dem klassischen Zivilprozessrecht eigene Engführung auf den Zivilprozess durch die Einbeziehung weiterer, auch informaler Verfahren gesellschaftlicher Steuerung überwindet. Diese Perspektiverweiterung entspricht der Bedeutung, die den Verfahren für die Bestimmung des materiellen Rechts zukommt: Regel und Verfahren beeinflussen und bedingen sich und stehen damit in einem engen Verhältnis gegenseitiger Wechselwirkung. Zwar geht das Verhältnis von Regel und Verfahren keineswegs so weit, dass der Inhalt materieller Normen maßgeblich vom Verfahren bestimmt wird: Denn wie wir gesehen haben, lassen sich aus bloßer Form keine materiellen Inhalte gewinnen. Der Gehalt des materiellen Rechts wird nach wie vor von den Überzeugungen der Beteiligten bestimmt, die sich ihrerseits aus unterschiedlichen Quellen speisen. Allerdings hat das Verfahren einen erheblichen Einfluss darauf, welche Überzeugungen sich durchsetzen und in welcher Form auch materiell-rechtliche Regeln definiert werden. Deutlich wird dies etwa im Kontrast des materiell-rechtlichen Ergebnisses eines Mediationsvergleichs zu einem gerichtlichen Urteil: Während die Parteien eines Mediationsverfahrens bei der Bestimmung des Inhaltes der ausgehandelten Einigung weitgehend frei sind und sie entsprechend ihrer individuellen Interessen maßschneidern können, ist die richterliche Gestaltungsfreiheit auf den binären Schematismus der vom Gesetz vorgesehenen Rechtsfolge beschränkt. Aus den individuellen Charakteristika der vielfältigen Verfahren gesellschaftlicher Steuerung ergibt sich damit eine erhebliche Bandbreite unterschiedlicher Gestaltungsmöglichkeiten. Entsprechend der anglo-amerikanischen case method war daher für Fuller die Untersuchung von Regel und Verfahren von herausragendem Interesse. Für ihn bildete sie den Schlüssel für eine sachgerechte Wahl des für die Lösung eines bestimmten Problems am besten geeigneten Verfahrens. Dieser Ansatz bildet die Grundlage für Fullers Verfahrenslehre, die wiederum den dogmatischen Weg für die ADR-Bewegung und das Konzept des Multi-Door Courthouse ebnete.
975
Vgl. hierzu Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 307 (1971); Winston, in: Fuller/Winston (Hrsg.), The Principles of Social Order (1981), S. 11, 27.
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aa) Der Grundsatz des Verfahrenspluralismus Nach Fuller verfügt jede Gesellschaft aufgrund der natürlichen Bedingtheiten menschlichen Zusammenlebens über einen Satz idealtypischer Verfahren gesellschaftlicher Steuerung. Neben Verfahren der Rechtsetzung (legislative Prozesse) und der politischen Mitwirkung (Wahl) gehören hierzu auch die unterschiedlichen Verfahren der Konfliktbehandlung: Die Trias der drei Primärverfahren Verhandlung, Mediation und Zivilprozess976 sowie die aus ihrer wechselseitigen Kombination hervorgehenden Hybridverfahren977978. Aus dem Grundsatz des Verfahrenspluralismus ergibt sich die Legitimität der ADR-Verfahren: Diese stellen keine qualitativ minderwertige Alternative zum dominierenden Zivilprozess dar, sondern sind vielmehr den etablierten Verfahren gleichwertige, sich aus den natürlichen Bedingtheiten der Gesellschaftsordnung ergebende Formen sozialer Steuerung. Ihr Einsatz erfolgt deshalb nicht aufgrund gesellschaftlicher Übung, sondern allein aufgrund ihrer spezifischen Eignung zur Beilegung von Konflikten. An dem Maßstab der Eignung muss sich daher auch der Zivilprozess als eines von mehreren verfügbaren Verfahren der Konfliktbehandlung messen lassen. bb) Der Grundsatz der Verfahrensintegrität Jedes Verfahren ist durch eine jeweils individuelle Struktur (design) und ein eigenes Wesen (morality) gekennzeichnet. Der Begriff des Wesens umfasst dabei grundlegende, dem Verfahren immanente und dieses konstituierende Strukturprinzipien, deren Wahrung für die Legitimation des Verfahrensergebnisses zwingend erforderlich ist. Aufgrund ihrer Bedeutung für die Verwirklichung des Verfahrenszweckes und der Legitimation des Ergebnisses sind sie unverfügbar: Sie unterliegen dem Grundsatz der strukturellen Integrität, der eine Verletzung zentraler Strukturprinzipien der einzelnen Verfahren verbietet. Die
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Zur Trias der Primärverfahren eingehend oben S. 102 ff. Zu den Hybridverfahren aus der Perspektive von Fullerʼs Verfahrenslehre Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 405 ff. (1978) sowie oben S. 117 ff. Für einen Überblick über die Primär- und Hybridverfahren der alternativen Streitbeilegung vgl. eingehend MenkelMeadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 57 ff., 613 ff.; Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 3 ff., 418 ff.; Risse/ Wagner, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 553, 580 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 66 ff. 978 Zu den Hybridverfahren aus der Perspektive von Fullerʼs Verfahrenslehre Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 405 ff. (1978) sowie oben S. 117 ff. Für einen Überblick über die Primär- und Hybridverfahren der alternativen Streitbeilegung vgl. eingehend MenkelMeadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 57 ff., 613 ff.; Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 3 ff., 418 ff.; Risse/Wagner, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 553, 580 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 66 ff. 977
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Verfahrensprinzipien sind für das Wesen des Verfahrens und die Verwirklichung der Verfahrensschritte derart prägend, dass ihre Verletzung die Natur des Verfahrens und die Qualität des Verfahrensergebnisses erheblich verändern würde. Häufig schließen sie sich sogar gegenseitig aus, wie wir dies etwa im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Mediation und Zivilprozess gesehen haben, die einander in einer Beziehung gegenseitiger Komplementarität gegenüberstehen. So ist ein öffentliches Mediationsverfahren unter Verletzung des Vertraulichkeitsgrundsatzes schwer vorstellbar, weil der für eine Offenlegung der tatsächlichen Interessen der Parteien erforderliche geschützte Raum regelmäßig der Vertraulichkeit des Verfahrens bedarf. Umgekehrt beruht, wie Luhmann gezeigt hat, die legitimierende Wirkung des Zivilprozesses gerade auf der freiwilligen Mitwirkung am Zeremoniell eines vor den Augen der Öffentlichkeit vollzogenen Rollenspiels, die als neutrale Instanz über die Fairness des Verfahrens wacht, zugleich aber auch die Akzeptanz des auf diese Weise gewonnenen Ergebnisses einfordert. cc) Der Grundsatz der Rollentrennung Die Wahrung der Verfahrensintegrität, die in der Mediation in besonderer Weise dem Wächteramt des Mediators anvertraut ist, ist von hoher praktischer Bedeutung. Aus ihr ergibt sich insbesondere der Grundsatz der Rollentrennung, der etwa eine vermittelnde Tätigkeit des in einem anhängigen oder späteren Gerichtsverfahren entscheidenden Prozessrichters ausschließt. Ebenso ist es dem Mediator verwehrt, etwa im Rahmen eines hybriden Med-Arb-Verfahrens oder in einem nachfolgenden Schiedsverfahren als Schiedsrichter mitzuwirken. Hybridprozesse sind zwar grundsätzlich möglich, weil die Integrität der einzelnen Teilverfahren in ihnen regelmäßig erhalten bleibt. Allerdings sind sie, worauf schon Fuller hinweist, mit spezifischen Gefahren verbunden, wie dies etwa bei der Personenidentität von Mediator und Schiedsrichter der Fall ist.979 Der Grundsatz der Rollentrennung980 ist schließlich nicht nur bei der Kombination unterschiedlicher Verfahren, sondern auch innerhalb bestimmter Verfahrensarten von zentraler Bedeutung. So kann im Mediationsverfahren die Annäherung des Mediators an die Rolle des den Streit entscheidenden Richters durch Einigungsdruck auf die Parteien die Integrität des Mediationsverfahrens derart beeinträchtigen, dass dieses seine Funktion nicht mehr zu erfüllen vermag und der mit ihm verfolgte Zweck vereitelt wird. Wie bedeutend die Wah-
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Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 382 (1963). Vgl. hierzu oben S. 117 f. Vgl. zum Prinzip der Rollentrennung oben S. 114 ff., 327 Fn. 66 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 404 ff. (1978). Vgl. auch Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999). 980
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rung der Verfahrensintegrität für die Verfahrenspraxis ist, hat die US-amerikanische Institutionalisierungsdebatte eindrucksvoll gezeigt:981 Im Zentrum der Diskussion stand hier die Gefahr, dass das Mediationsverfahren durch die Integration in das US-amerikanische Gerichtssystem seinen Charakter in einer Weise ändert, die mit grundlegenden Strukturprinzipien wie der Privatautonomie der Parteien kaum noch vereinbar ist.982 dd) Der Grundsatz der Verfahrenshierarchie In seiner Verfahrenslehre steckt Fuller den Rahmen ab, der die Grundlage einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre bildet. Aus einer solchen Verfahrenslehre lassen sich die Prinzipien des Verfahrenspluralismus983, der strukturellen Integrität984 und der Rollentrennung985 als wesentliche Strukturelemente eines dogmatischen Systems der Streitbehandlung herleiten. Aus ihr ergibt sich auch die Trias der drei Primärverfahren der Konfliktbehandlung, die uns im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung bereits in unterschiedlicher Form begegnet ist. Allerdings trifft sie keine Aussage zu der Frage nach der Ordnung der einzelnen Verfahren zueinander. Erst die praktische Entwicklung der alternativen Streitbeilegung, die Fuller freilich noch nicht kennen konnte, ihre fortschreitende wissenschaftliche Durchdringung und vor allem der Ertrag der interdisziplinären Forschung haben uns das Stufenverhältnis der Verfahren, den Grundsatz der Verfahrenshierarchie986 und das Primat des Mediationsverfahrens987 erschlossen. Es bedurfte der Zeit des Experimentierens, der rechtspraktischen Erfahrung und des wachsenden dogmatischen Verständnisses der alternativen Streitbeilegung, um die Mediation als das zentrale, idealtypische Verfahren der Konfliktbehandlung in ihrer Gesamtheit zu erfassen und damit ein 981 Vgl. zur US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte eingehend oben S. 46 ff. sowie Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 982 Pointiert Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002): „ … the institutionalization of mediation … have changed the mediation process so radically that it has lost its core; it has diminished its defining, ‘alternative’ characteristics of the process … threatening its identity as a non-adjudicative process … threatening … the core values of the process.” Hervorhebungen durch den Verfasser. 983 Hierzu eingehend oben S. 114 f., 541 ff. 984 Hierzu eingehend oben S. 116 f., 546 ff. 985 Hierzu eingehend oben S. 548 ff. Vgl. zum Verbot der Rollenvermischung (role confusion) auch oben S. 114 ff., 327 Fn. 66 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 404 ff. (1978). Vgl. auch Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999). 986 Vgl. hierzu oben S. 549 ff. 987 Vgl. Mediationsprimat eingehend oben S. 110 ff, 729 ff., 735 ff., 740 ff.
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uraltes Prinzip menschlichen Konfliktverhaltens gleichsam wiederzuentdecken.988 Danach stehen die Primärverfahren der Verhandlung, der Mediation und des Zivilprozesses zueinander im Verhältnis abgestufter Subsidiarität, wobei der Verhandlung Vorrang gegenüber den übrigen beiden Primärverfahren, der Mediation wiederum Vorrang gegenüber dem Zivilprozess zukommt, der als ultima ratio eine Rückgriffsfunktion erfüllt. Die Verhandlung, die kooperative, privatautonome und bilaterale Konfliktbeilegung, bildet dabei die natürliche, dem Menschen aufgrund seiner Anlagen eigene Form der Streitbeilegung, die gerade aus diesem Grunde Vorrang vor den übrigen Konfliktbehandlungsformen genießt. ee) Das Primat der Mediation Allerdings ist in der Praxis die Fähigkeit zu interessenorientierter Kooperation im Rahmen der Verhandlung regelmäßig deformiert: Ansätze zur Kooperation werden häufig durch aggressives Konfliktverhalten überlagert. Verhandlungen enden regelmäßig in einem Basarritual (positional bargaining)989, das den Konflikt in verändertem Gewand fortsetzt. Die Parteien sind aufgrund ihres eingefahrenen, intuitiven Konfliktverhaltens zu einer tatsächlich interessenorientierten Verhandlung kaum in der Lage. Die Nachteile des intuitiven Verhandlungsverhaltens können dabei ganz erheblich zur weiteren Eskalation des Konfliktes beitragen. Aus diesem Grunde bedürfen die Parteien regelmäßig der Unterstützung durch einen neutralen Dritten, um überhaupt zu einer privatautonomen Beilegung des Konfliktes im Wege der Kooperation befähigt zu werden. Diese Funktion erfüllt das Mediationsverfahren, das die Parteien gleichsam durch einen Lern- und Transformationsprozess in die Lage versetzt, ihren
988 Freilich zeigt uns ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung, dass diese Erkenntnis gänzlich neu nicht ist und dass die „Entdeckung“ der Mediation einschließlich des Stufenverhältnisses der Trias von Verhandlung, Mediation und Zivilprozess im Grunde eine Wiederentdeckung der seit ältester Zeit bekannten Grundlagen der Streitbehandlung ist, wie sie sich etwa in der Gemeinderegel des Matthäusevangeliums oder auch bei Pufendorf und Grotius finden. Wenn auch die Geschichte der modernen ADR-Bewegung mit der Pound Conference 1976 beginnt, so ist die Geschichte konsensualer Streitbeilegung doch sehr viel älter und muss es auch sein: Als natürliche Form der Konfliktbehandlung, die die menschliche Entwicklung durch den Gang der Geschichte hindurch begleitet. Die moderne ADR-Bewegung knüpft damit korrigierend an eine Entwicklung an, deren konkrete Anfänge sich im Dunkel der Zeiten verlieren. 989 Instruktiv hierzu Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279. Vgl. hierzu auch oben Fn. 20, S. 109. Zur Ineffektivität intuitiven Verhandelns vgl. auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 3 ff. sowie BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff.
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Konflikt eigenverantwortlich beizulegen. Weil bilaterale Verhandlungen infolge der Auswirkungen intuitiven Verhandlungsverhaltens sehr häufig scheitern, kommt daher nicht der Verhandlung – wie es ihrem dogmatischen Verhältnis eigentlich entsprechen würde –, sondern der Mediation als Eingangsverfahren die zentrale Rolle bei der Konfliktbehandlung zu. Sie verbindet die Vorteile der interessenorientierten, privatautonomen Verhandlung mit der verfahrensleitenden Unterstützung der Parteien durch einen neutralen Dritten. Im Hinblick auf die Qualität des Ergebnisses bleibt der Zivilprozess, weil er auf die Durchsetzung der gesetzlich normierten Rechtsfolge beschränkt ist, hinter den Möglichkeiten des Mediationsverfahrens zur Entwicklung wertschöpfender, beiderseits interessengerechter Einigungen deutlich zurück. Er kommt daher als ultima ratio nur dann zum Einsatz, wenn die Parteien auf privatautonomem Wege eine Beilegung des Konfliktes nicht herbeiführen können oder die Durchführung eines rechtsförmlichen Verfahrens aus anderen Gründen – etwa aufgrund eines bestehenden Machtungleichgewichtes, des Bedürfnisses nach rechtsverbindlicher Entscheidung oder des Charakters der zu entscheidenden Fragen – geboten erscheint. Dabei ergibt sich die Subsidiarität des zivilgerichtlichen Verfahrens gegenüber konsensualen Verfahren auch aus den negativen Verfahrenswirkungen, die den Vorteilen der Mediation komplementär entsprechen: Hoher Zeit- und Kosteneinsatz, stark eingeschränkte Möglichkeiten zur Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne und beiderseits interessengerechter Lösungen, ein erhebliches Eskalationspotenzial, hohe emotionale Belastung und destruktive Auswirkungen auf die Beziehung der Parteien.990 In der Praxis ist dieses Stufenverhältnis indes gleichsam auf den Kopf gestellt: Der Zivilprozess, der eigentlich als ultima ratio und Ausnahmefall der Behandlung jener Konflikte vorbehalten sein sollte, die nicht auf konsensualem Wege beigelegt werden können, stellt als „komfortabel ausgebaute[r] Königsweg“991 den Normalfall, die interessenorientierte Verhandlung und Mediation hingegen den Ausnahmefall dar. Dieses Paradoxon verleiht der Förderung der Mediation eine erhebliche rechtspolitische Bedeutung und Brisanz. c) Die Begründung des Mediationsprimats Dass der durch das Primat der Mediation gewiesene Weg indes aus dogmatischer Perspektive folgerichtig ist, hat bereits das BVerfG in seiner Entscheidung zur Zulässigkeit des obligatorischen Güteverfahrens nach § 15a EGZPO deutlich gemacht992, freilich ohne dieses Ergebnis näher zu begründen. Im folgenden abschließenden Teil unserer Untersuchung wollen wir daher gleichsam in einer synoptischen Gesamtschau die Ergebnisse unserer interdisziplinären 990
Zu den systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses vgl. eingehend oben S. 12 ff. So Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5. 992 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 991
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Untersuchung des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess zusammenführen und so den dogmatischen Paradigmenwechsel des Mediationsprimats und damit auch die Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre auf eine wissenschaftlich gesicherte Grundlage stellen. Dem interdisziplinären Ansatz unserer Arbeit entsprechend betrachten wir Mediation und Zivilprozess dabei aus der Perspektive ganz unterschiedlicher wissenschaftlicher Teildisziplinen und können auf diese Weise gleichsam en passant zu einem umfassenden Verständnis beider Verfahren als Teil einer umfassenden Konfliktbehandlungslehre gelangen. aa) Rechtstheorie: Die systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses Im Rahmen unserer Analyse des Zivilprozesses aus der Perspektive der Rechtstheorie haben wir den Zivilprozess in gleichsam mikroskopischer Nachschau auf seine Eignung zur nachhaltigen Beilegung von Konflikten hin untersucht, ihn zum Mediationsverfahren in Beziehung gesetzt und dabei dem inneren Mechanismus des gerichtlichen Verfahrens nachgespürt. Unsere Untersuchung hat eine ganze Reihe systemimmanenter Schwächen des Zivilprozesses aufgedeckt, die seine Fähigkeit zur effektiven Behandlung von Konflikten beeinträchtigen und die ihre Ursache nicht in Implementationsmängeln, sondern im Verfahren selbst haben.993 1. Komplexitätsreduktion durch Verrechtlichung. Die an der Zuweisung von Rechtsansprüchen orientierte Struktur des Zivilprozesses erfordert zunächst eine „Übersetzung“ des Konfliktes in rechtliche Kategorien, um überhaupt prozessual handhabbar zu sein. Diese erfolgt durch eine komplexitätsreduzierende Verrechtlichung des Konfliktstoffes.994 Der Konflikt wird – nach Luhmanns plastischem Vergleich – gleichsam in den Trichter995 des Gerichtsverfahrens eingespeist, das als eine Art Maschine den Konflikt kodiert und dessen Ergebnis zu seiner Weiterverarbeitung wiederum der Dekodierung bedarf.996 Die Kodierung des Konfliktes erfolgt dabei in den drei Schritten der Antizipation, der typisierenden Abstraktion und der normativen Verdichtung997: Im Rahmen der Antizipation werden mögliche Konflikte antizipiert, auf ihre Regelungsbedürftigkeit hin untersucht und zur weiteren Normierung ausgewählt. In einem weiteren Schritt der typisierenden Abstraktion wird die Vielzahl unterschiedlicher
993
Vgl. zu den systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses oben S. 12 ff. Vgl. hierzu oben S. 12 ff. 995 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 115. Vgl. hierzu oben S. 24 f. Vgl. hierzu oben S. 12 ff. 996 Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 124 ff., 134 f., 137 ff. 997 Vgl. hierzu oben S. 13 ff. 994
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Konfliktvarianten einer bestimmten Konfliktgruppe auf ihre wesentlichen gemeinsamen Merkmale reduziert und als Konflikttypus abstrahiert. Im darauf folgenden Schritt der normativen Verdichtung erfolgt dann die Reduzierung des Konfliktes auf einen subsumptionsfähigen Tatsachenkern.998 Dabei wird das Recht als vereinfachende Schablone von außen an den Konflikt angelegt und dieser gleichsam mechanisch in eine normative Struktur gepresst,999 wobei nicht subsumptionsfähige Konfliktdimensionen (etwa emotionale, wirtschaftliche oder politische Dimensionen) ausgeschieden, gleichsam „weggeschnitten“ werden und für die weitere Konfliktverarbeitung verloren gehen. Übrig bleibt der entscheidungserhebliche, nackte „Rechtskern“ des Konfliktes, der aus der Vielzahl unterschiedlicher Dimensionen gleichsam extrahiert, herausgeschält und dem eine spezifische Rechtsfolge zugewiesen wird. Die komplexitätsreduzierende Verrechtlichung des Konfliktes ist unabdingbar, um überhaupt eine rechtliche Steuerung zu ermöglichen. Gesetzesrecht muss notwendig abstrakt bleiben, um sich nicht in einer ebenso defizitären Kasuistik zu verlieren. Dennoch sind die mit ihr verbundenen Schwächen nicht zu übersehen: Eine defizitäre Antizipation möglicher typischer Konflikte im Rechtsetzungsverfahren, die eigentlich regelungsbedürftige Konflikte nicht erfasst und diese erst durch analoge Anwendung vorhandener gesetzlicher Regelungen einer rechtlichen Behandlung zuführt.1000 Die zwangsläufige Unschärfe der dem abstrahierten Konflikttypus zugewiesenen Rechtsfolgen, die allenfalls den typisierten, regelmäßig jedoch nicht den tatsächlichen Interessen der Parteien gerecht werden können, da diese bereits im Wege der normativen Verdichtung aus den Konfliktstoff ausgeschieden worden sind. Und eine selektive Realitätsverarbeitung, welche die für die Beteiligten bedeutsamen Konfliktebenen ausblendet und damit gerade die hinter den geltend gemachten Rechtspositionen stehenden, dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen der Parteien als unbeachtlich und nicht subsumptionsfähig ignoriert.1001
998
Vgl. hierzu oben S. 13 ff. saowie Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 124 ff., 134 f., 137 ff. 999 Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 187; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 11. 1000 Vgl. hierzu oben S. 13 ff. 1001 Vgl. hierzu oben S. 13 ff. sowie Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 124 ff., 137 ff.; Galtung, 2 J. Peace Res. 348, 356 (1965); Gessner, Recht und Konflikt (1976), S. 4; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 12; Breidenbach, Mediation (1995), S. 50 f.; Katzenmeyer, ZZP 115 (2002), 51, 62. Zur selektiven Wahrnehmung im Kontext von Konflikten vgl. eingehend Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff.
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Im Mediationsverfahren ist eine derartige Kodierung indes nicht erforderlich, weil die Parteien unmittelbar auf alle relevanten Konfliktdimensionen zugreifen können und die Konfliktbearbeitung damit unmittelbar und direkt erfolgen kann.1002 Der Vermittlung durch einen transformativen Kodierungsprozess bedarf es dabei nicht. Da die Lösung des Konfliktes nicht durch eine vordefinierte Rechtsfolge festgesetzt werden muss, sondern von den Parteien als den unmittelbar Konfliktbeteiligten selbst erarbeitet wird, ist der Rückgriff auf die typisierten Rechtsfolgen abstrakt-genereller Regelungen und die Antizipation möglicher typischer Konflikte durch Rechtsetzungsakt entbehrlich. Dadurch kann die Lösung des Konfliktes auf die individuellen Interessen1003 der Parteien hin maßgeschneidert werden, wobei das Verfahren an den Konflikt und nicht der Konflikt an das Verfahren angepasst wird. Darüber hinaus wird der konfliktrelevante Sachverhaltsstoff durch den Verzicht auf den sonst erforderlichen Prozess der komplexitätsreduzierenden Verrechtlichung nicht auf einen nackten, subsumptionsfähigen Tatsachenkern reduziert und damit gleichsam „eingedampft“, sondern bleibt vielmehr in der Fülle seiner unterschiedlichen Dimensionen erhalten. Die auf diese Weise aus dem Sachverhalt extrahierten Konfliktdimensionen können im Verlauf der Mediationsverhandlung von den Parteien weiterverarbeitet und so für die Konfliktbehandlung fruchtbar gemacht werden. Sie sind für die effektive Beilegung des Konfliktes von zentraler Bedeutung, weil sie gerade jene Aspekte des Konfliktes enthalten, die für seine Entstehung ursächlich gewesen sind und um die es den Parteien in ihrem Streit tatsächlich geht. Sie sind für die Erforschung der dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen der Parteien, die Bewertung der Nichteinigungsalternativen1004 und die Entwicklung von Lösungsoptionen unabdingbar notwendig und stellen damit eine wertvolle und für die effektive Beilegung des Konfliktes konstitutive Ressource dar. Vor diesem Hintergrund besteht die besondere Leistungsfähigkeit der Mediation vor allem darin, dass sie schonend mit der „Informationsressource“ der konfliktrelevanten Sachverhaltsdimensionen umgeht und den Parteien wie dem Mediator insoweit einen unmittelbaren Zugriff gewährt, der keiner weiteren Vermittlung durch einen verfremdenden Transformationsmechanismus bedarf.
1002
Vgl. hierzu oben S. 139 ff., 142 ff. Zur zentralen Bedeutung der Parteiinteressen in der Mediation vgl. oben S. 170 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff. Vgl. zur Bedeutung der Interessenverwirklichung für ein gerechtes Ergebnis oben S. 222 ff. 1004 Vgl. hierzu oben S. 378 ff. Zur Bedeutung der Nichteinigungsalternativen eingehend Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 26 ff., 73 ff., 96 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 170, 235 ff. 1003
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2. Transformation in einen Metakonflikt. Durch den Prozess der komplexitätsreduzierenden Verrechtlichung ändert der Konflikt seinen Charakter und wird in einen neuen, abgeleiteten, von einem Richter entscheidbaren Metakonflikt1005 transformiert. Der ursprüngliche Verteilungs- und Interessenkonflikt wird dabei in einen Wertkonflikt über den konfliktverursachenden Sachverhalt, die Anwendung von Rechtsnormen oder beides umformuliert. Die damit einhergehende Thematisierung des Rechts trägt ganz erheblich zu einer weiteren Eskalation1006 des Konfliktes bei und führt zu einer verengenden Verkürzung, Verfremdung und Verzerrung der eigentlichen Interessen der Parteien, die aufhören, für die Lösung des Konfliktes relevant zu sein. Mit der Einbeziehung des Richters als den Konflikt entscheidenden neutralen Dritten und dem damit einhergehenden Wechsel von der Dyade zur Triade1007 ändert der Konflikt sein Gepräge. Ein tatsächlicher Interessenausgleich ist nun nicht mehr ohne weiteres möglich, weil die Entscheidungsbefugnis des richtenden Dritten auf die Zuoder Aberkennung von Rechtsansprüchen gerichtet ist und eine sachgerechte Konfliktbewältigung eine umfassende Kenntnis aller relevanten Konfliktdimensionen erfordert, die regelmäßig nur bei Personenidentität des Entscheidenden mit den Parteien gegeben ist.1008 Die eigentliche Ursache des Konfliktes wird nicht behoben, der Konflikt lediglich in einen stellvertretenden Metakonflikt umgewandelt, in dem lediglich darüber entschieden wird, wer aus ihm als Sieger oder Verlierer hervorgeht. Die Mediation dagegen verzichtet aufgrund ihrer Verfahrensstruktur als interessenorientiertes Verfahren zunächst auf eine Thematisierung des Rechts1009. Die Konfliktbehandlung verbleibt auf der konfliktnäheren Ebene der Interessen, so dass es einer Umformulierung des Konfliktes von einem Interessen- und Verteilungs- in einen Wertkonflikt nicht bedarf. Zwar kommt es auch hier durch die Einschaltung eines neutralen Dritten zu einem Wechsel von einer dyadischen zu einer triadischen Struktur. Allerdings besteht der wesentliche Unterschied zum Zivilprozess darin, dass der neutrale Dritte lediglich die Funktion eines die Parteien in ihrer Verhandlung unterstützenden Vermittlers erfüllt, dem gerade keine Entscheidungsbefugnis zukommt. Damit bleibt der Weg zu einer interessengerechten Einigung offen, weil die unmittelbar Konfliktbeteiligten als die den Konflikt letztlich auch Entscheidenden über eine 1005
Vgl. hierzu oben S. 15 ff. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 104; Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 139; Aubert, The Hidden Society (1965), S. 98 f.; Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186. 1006 Vgl. hierzu oben S. 22 ff. 1007 Hierzu oben S. 16 f. sowie Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 192 ff. 1008 Vgl. hierzu oben S. 18 ff. 1009 Vgl. hierzu oben S. 22 ff., 26 ff., 302 ff.
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umfassende Kenntnis aller relevanten Konfliktdimensionen verfügen, ihn wie auch ihre Interessen selbst am besten kennen und daher auch in der Lage sind, eine tatsächlich interessengerechte, ursächliche und nachhaltige Beilegung des Konfliktes herbeizuführen. Der wesentliche Nachteil des Zivilprozesses – die mangelnde Personenidentität von Entscheidendem und Konfliktbeteiligten – wird im Mediationsverfahren durch die Übertragung der Entscheidungskompetenz auf die Parteien gerade vermieden. 3. Retrospektivität. Das gerichtliche Urteil ist zugleich notwendig retrospektiv, weil es nicht auf die Gestaltung der zukünftigen Beziehung der Parteien, sondern auf die rechtliche Bewertung eines vergangenen Sachverhaltes gerichtet ist.1010 Den Maßstab für die Lösung des Konfliktes bilden dabei nicht die Interessen der Parteien für die Zukunft, sondern die rechtliche Bewertung des vergangenen Verhaltens der Beteiligten. Durch die Fokussierung auf einen engen Ausschnitt aus der Vergangenheit wird den Parteien damit eine wertende Auseinandersetzung mit einem abgeschlossenen Geschehen aufgedrängt, die das Trennende zementiert und einen unbelasteten Neubeginn behindert. Das Mediationsverfahren geht indes den umgekehrten Weg: In ihm geht es weniger um die Bewertung eines vergangenen Sachverhaltes als um die Gestaltung der zukünftigen Beziehung zwischen den Parteien.1011 Zwar kann und soll die Mediation den Raum bieten, gerade auch die den Konflikt auslösenden Ereignisse aufzuarbeiten, mögliche Missverständnisse auszuräumen und so zu einer Versöhnung1012 und Neuausrichtung der Parteien aufeinander hin beizutragen.1013 Allerdings bleibt sie dabei nicht stehen, sondern führt die Parteien durch die ihr eigene Verfahrensstruktur hin zu einer gemeinsamen Gestaltung ihrer Beziehung für die Zukunft. Damit unterscheidet sich die Mediation im
1010 Vgl. hierzu oben S. 20 ff. sowie Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 194 ff.; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 16 f.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 102. 1011 Zur Zukunftsorientierung von interessenorientiertem Verhandeln vgl. dagegen Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 24, 32; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 304. 1012 Vgl. zur Versöhnungsfunktion des Mediationsverfahrens oben S. 569 ff., v.a. Breidenbach, Mediation (1995), S. 130 ff. sowie Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971); Röhl, Rechtstheorie 8 (1977), 93, 111; Röhl, SchlHA 1979, 134, 139; Breidenbach, Mediation (1995), S. 237 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 4 ff., 13 f., 37 ff., 40, 45, 52, 136 ff.; Hopt/Steffek, in: Hopt/Steffek (Hrsg.), Mediation (2008), S. 5, 84 f.; Wagner, RabelsZ 74 (2010), 794, 814. Skeptisch indes Greger, Abschlussbericht (2007), S. 38, 107, 146, 162 (echte Versöhnung im Güterichterverfahren selten). Vgl. für das US-amerikanische Schrifttum Lieberman, 53 Chi. L. Rev. 424 (1986); McThenia/Shaffer, 94 Yale L.J. 1660 (1985); v. Christiansen, 55 DRJ 66 (1997); Sande, The Peacemaker (3. Aufl. 2004), passim; Fox, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 237, 248 (2006). 1013 Zur Transformation der Parteibeziehung durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin vgl. oben S. 124 ff. , 471 ff. sowie Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971).
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Umgang mit Vergangenheit und Zukunft in wesentlichen Punkten vom Zivilprozess: Zum einen verzichtet sie, soweit sich die Parteien überhaupt mit der Vergangenheit befassen, regelmäßig auf eine normativ-autoritative Bewertung des vergangenen Verhaltens, bei der die Parteien mit der Möglichkeit des „imUnrecht-seins“ konfrontiert und gleichsam als Rechtsbrecher stigmatisiert werden.1014 Stattdessen geht es um die gegenseitige Anerkennung der individuellen Situation der Beteiligten, welche die Parteien selbst in die Einsicht möglicherweise begangenen Unrechts führt, Missverständnisse auszuräumen vermag und so zu einer tatsächlich ursächlichen Befriedung des Konfliktes beiträgt. Zum anderen ist sie im Hinblick auf die Entwicklung von Einigungsoptionen ganz wesentlich auf die zukünftige Gestaltung der Beziehung zwischen den Parteien gerichtet und geht damit über die Möglichkeiten richterlicher Entscheidung deutlich hinaus. 4. Binärer Schematismus richterlicher Alles-oder-Nichts-Entscheidungen. Die auf die Zuweisung der vom Gesetz vorgesehenen Rechtsfolgen zugeschnittene Struktur des Rechts zwingt den Richter zu Alles-oder-Nichts-Entscheidungen1015 im Sinne eines spieltheoretischen Nullsummenspiels1016, die eine wertschöpfende Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne, von tradeoffs und beiderseits interessengerechten win-win-Lösungen ausschließen und den Interessen der Parteien wie auch den komplexen Besonderheiten des Einzelfalls regelmäßig nicht gerecht werden können. Die binäre Struktur gerichtlicher Entscheidungen stellt in ihrem starren Korsett des Rechts nur einen begrenzten Vorrat an schablonenhaften, standardisierten Rechtsfolgen zur Verfügung, die als abstrakte und typisierte Konfliktregelungen lediglich eine unscharfe Bewältigung des Konfliktes1017 und regelmäßig auch keine beiderseits interessengerechte Konfliktbewältigung ermöglichen. Aus spieltheoretischer Perspektive handelt es sich bei der richterlichen Entscheidung um ein Nullsummenspiel, bei dem dem Gewinn der einen notwendig der Verlust der anderen Partei als Kehrseite gegenübersteht. Da eine Wertschöpfung nicht möglich ist, muss sich eine Konfliktlösung notwendig auf die Umverteilung des bestehenden „Wertkuchens“ beschränken. Darüber hinaus sind komplexe polyzentrische Konflikte1018 wechselseitiger Abhängigkeit mit juristischen Mitteln kaum 1014
Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 67. Vgl. hierzu eingehend oben S. 20 ff. 1016 Zur Problematik der Nullsummenspiele vgl. oben S. 17, Fn. 59 sowie Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 102, 116 ff. (1990) sowie Schelling, The Strategy of Conflict (1980), S. 83 ff.; Breidenbach, Mediation (1995), S. 71. 1017 Hierzu und zu den Ursachen eingehend oben S. 13 ff. 1018 Vgl. zum Problem der sog. polyzentrischen Konflikte eingehend oben S. 21 sowie Polanyi, The Logic of Liberty (1951), S. 170 ff.; Fuller, 54 Am. Soc'y Int'l L. Proc. 1, 2 ff. (1960); Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 393 ff. (1978). 1015
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beherrschbar. Und auch Konflikte in sozialen Dauerbeziehungen können aufgrund der Retrospektivität der richterlichen Entscheidung und der eskalierenden Wirkung einer Thematisierung des Rechts im Zivilprozess kaum nachhaltig beigelegt werden. Die Folge sind nur beschränkt interessengerechte und damit für die Parteien häufig materiell unbefriedigende Ergebnisse, die darüber hinaus als Grundlage planerischer oder gestalterischer Lösungen nicht geeignet sind. Weil sie regelmäßig lediglich die Symptome, nicht jedoch die dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Ursachen in den Blick nehmen, werden sie zudem oft nur widerwillig umgesetzt und müssen im Wege der Zwangsvollstreckung durchgesetzt werden. Aufgrund häufig fehlender Interessengerechtigkeit und ihrer typischerweise defizitären Befolgungsrate ist zugleich die Befriedungswirkung gerichtlicher Urteile1019 begrenzt. Der Mediationsvergleich ist dagegen an die Beschränkungen typisierter Konfliktlösung durch abstrakt-generelles Gesetzesrecht nicht gebunden. Der binäre Schematismus gerichtlicher Entscheidungen wird im Mediationsverfahren durch die Flexibilität privatautonomer Rechtsschöpfung der Parteien überwunden. Da die Konfliktbeilegung nicht abstrakt-generell und ex ante antizipiert werden muss, sondern individuell-konkret und ex post erfolgt, kann die Lösung auf die jeweiligen Interessen der Parteien individuell zugeschnitten werden. Dabei kommt den Parteien in besonderer Weise die Flexibilität des Verfahrens zugute.1020 Die Privatautonomie des Verfahrens gewährleistet eine interessengerechte Einigung, weil die unmittelbar konfliktbetroffenen Parteien selbst an der Erarbeitung der Lösung beteiligt sind. Die Überwindung des Nullsummenspiels erfolgt dabei durch die Mobilisierung von Synergien und die kreative Wertschöpfung, die über eine bloße Verteilung des vorhandenen Wertkuchens deutlich hinausgeht. Dadurch können pareto-optimale Kooperationsgewinne, trade-offs und beiderseits interessengerechte win-win-Lösungen1021 realisiert werden. Dies ist freilich nur im Wege der Kooperation möglich, die indes aufgrund der Struktur des Mediationsverfahrens in besonderer Weise gefördert und damit praktisch überhaupt erst ermöglicht wird. In dieser Struktur liegt zugleich das „Geheimnis“ der Leistungsfähigkeit der Mediation, die jener dem Mediationsverfahren eigene innere Mechanismus begründet, den wir bereits eingehend in den Blick genommen haben: Das Ingangsetzen eines Transformations- und Lernprozesses, der die Parteien in versöhnender Weise wieder aufeinander hin ausrichtet, ihre Beziehung zueinander transformiert, gleichsam heilt und wiederherstellt, dadurch die Grundlage für eine tatsächlich 1019
Hierzu eingehend oben S. 653 ff. Hierzu oben S. 135 ff. 1021 Vgl. hierzu eingehend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff. (invent options for mutual gain) sowie Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 1020
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kooperative und wertschöpfende Zusammenarbeit legt und sie so überhaupt erst in die Lage versetzt, ihren Konflikt eigenverantwortlich beizulegen.1022 Fuller erkennt hierin das Wesen der Mediation schlechthin „ … the central quality … (is), namely, its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.“1023 Dass der auf diese Weise vermittelte Perspektivwechsel im Grunde nichts anderes ist als der reife Gebrauch der regula aurea, der – wie Kohlberg in seinen empirischen Studien der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit des Menschen gezeigt hat1024 – einen multilateralen Rollentausch erfordert und der als „sittliche Grundformel der Menschheit“, als „Summe der vom Menschen erwarteten Verhaltensweisen“1025 und als „das elementare Gesetz allen Rechts schlechthin“1026 die Gewähr für eine Verwirklichung des Grundsatzes des suum cuique tribuere1027 und damit die Realisierung materieller Gerechtigkeit bildet, mag das tiefere Geheimnis der ungebrochenen Wirkungsmacht des Mediationsverfahrens als „gerechtes Verfahren“1028 darstellen und die explosionsartige Verbreitung konsensualer Streitbeilegungsverfahren im Rahmen der internationalen ADR-Bewegung erklären.1029 Denn mit der Integration der beiderseitigen Bedürfnisse und Interessen ist die regula aurea1030 letztlich auf die Verwirklichung objektiver Gerechtigkeit selbst gerichtet, die nach der Grundformel des suum cuique tribuere
1022
Vgl. zu dem durch die Operationalisierung der regula aurea in Gang gesetzten Lernund Transformationsprozess eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff., 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff. sowie unten S. 814. 1023 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 1024 Hierzu oben S. 249 ff. 1025 Heiligenthal, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 573, 573. 1026 Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. 1027 Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff. 1028 Hierzu eingehend oben S. 179 ff. 1029 Vgl. zur Geschichte der ADR-Bewegung oben S. 9 ff. sowie Stempel, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 297, 309 ff. (1996); Sander, 2000 J. Disp. Resol. 3 (2000); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Barrett/Barrett, A History of Alternative Dispute Resolution (2004); Menkel-Meadow, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 13; Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 6 ff.; Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007); Hehn, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 175. Aus der deutschsprachigen Literatur vgl. Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 27 ff. 1030 Hierzu eingehend oben S. 235 ff.
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verlangt, dass jedem das ihm für die Entfaltung seiner Person, seiner Anlagen und Fähigkeiten Zustehende zu gewähren ist.1031 5. Eskalation. Der Zivilprozess trägt darüber hinaus ganz erheblich zu einer Eskalation des Konfliktes bei, indem er aggressives Parteiverhalten fördert und durch die Transformation des Interessenkonfliktes in einen Metakonflikt über Rechtspositionen den Parteien den Ausweg in die Rolle des Problemlösers weitgehend verwehrt.1032 Die Fixierung in den kontradiktorischen Rollen sich antagonistisch gegenüberstehender Gegner sowie das dem liberalistischen Prozessmodell des 19. Jahrhundert erwachsene Leitbild des „Kampfes um das Recht“, das dem Zivilprozess nach wie vor anhaftet und das sich selbst in der Prozesssprache wiederfindet (Angriffs- und Verteidigungshandlungen, Obsiegen und Unterliegen, Kläger und Beklagter), prägen ein aggressives Konfliktverhalten der Parteien. Ziel ist nicht in erster Linie ein faires Ergebnis, sondern das Obsiegen um jeden Preis. Im Hinblick auf die Konfliktgenese und die für eine effektive Behandlung erforderliche Begrenzung des Konfliktes wirkt der Zivilprozess aufgrund seiner Verfahrenseigenschaften kontraproduktiv: Konflikte entwickeln sich spiralförmig hin zu höheren Eskalationsstufen und neigen zur Ausbreitung im Wege abgeleiteter Tochterkonflikte. Eine effektive Konfliktbehandlung müsste bereits in einem möglichst frühen Konfliktstadium auf einer geringen Eskalationsstufe ansetzen und begrenzend wirken. Der Zivilprozess wirkt indes per se reaktiv statt präventiv, kurativ statt vorbeugend, eskalierend statt hemmend und greift regelmäßig erst in einem späten Konfliktstadium auf einer hohen Eskalationsstufe ein. Dadurch sind eine möglichst frühzeitige Beilegung des Konfliktes, eine Hemmung der Eskalation sowie eine Begrenzung der weiteren Ausbreitung des Konfliktes kaum möglich, so dass der Prozess selbst nach seinem Abschluss krebsartig weitere Tochterkonflikte hervorbringen kann. Statt zunächst weniger eingriffsintensive Instrumente zur Verfügung zu stellen, ist das auf den Zivilprozess als „Königsweg“1033 ausgerichtete System staatlicher Ziviljustiz im Wesentlichen auf das eigentlich als ultima ratio subsidiär anwendbare, eingriffsstärkste Instrumentarium des Zivilprozesses beschränkt. Im Gegensatz zu dem den Konflikt weiter eskalierenden Zivilprozess wirkt das Mediationsverfahren regelmäßig – gleichsam in spiegelbildlich umgekehrter Weise – deeskalierend auf den Konflikt ein. Indem es die Parteien durch
1031 Zur damit angesprochenen Dimension der distributiven Gerechtigkeit vgl. oben S. 217 ff. 1032 Zur Eskalationstendenz des zivilgerichtlichen Verfahrens vgl. oben S. 22 ff. 1033 Vgl. hierzu oben S. 13 ff.
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den ihm eigenen Lern- und Transformationsprozess1034 zu kooperativem Verhalten befähigt, sie durch den mit ihm verbundenen Perspektivwechsel und multilateralen Rollentausch1035 wieder aufeinander hin ausrichtet, ihre Beziehung zueinander auf diese Weise wiederherstellt und transformiert, Wahrnehmungsverzerrungen ausgleicht (debiasing)1036 und negative Emotionen begrenzt, trägt das Mediationsverfahren in erheblichem Maße zur Entschärfung und Deeskalation des Konfliktes bei. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Sachinteressen im Gegensatz zur Bewertung der geltend gemachten Rechtspositionen, die durch das Forum des Verfahrens eingeräumte Möglichkeit des „Gehörtwerdens“, die Vermittlung von gegenseitigem Verständnis und schließlich die prospektive Fokussierung auf die Gestaltung der Zukunft anstatt einer retrospektiven Bewertung der Vergangenheit führen regelmäßig zu einer deutlichen Deeskalation des Konfliktes, weil die Parteien mit dem, was sie in ihrem Innersten eigentlich bewegt, tatsächlich gehört werden. Durch die Erfüllung entsprechender Verfahrenserwartungen tritt eine Befriedungswirkung ein, die eine zentrale Grundlage für die weitere nachhaltige, dauerhafte und ursächliche Beilegung des Konfliktes bildet. Darüber hinaus greift die Mediation als weniger invasives Instrument der Konfliktbeilegung bereits sehr frühzeitig, auf einer noch niedrigen Eskalationsstufe ein und kann so den Konflikt bereits zu einem frühen Zeitpunkt auffangen und eine Aufspaltung in weitere Tochterkonflikte effektiv verhindern. 6.Kontradiktorischer Rollenzwang. Aufgrund der starken rechtlichen Formalisierung des Zivilprozesses ist den Parteien eine Partizipation am Verfahren ausschließlich in den kontradiktorischen Rollen des Klägers und des Beklagten möglich.1037 Die Übernahme kontrafaktisch stabilisierter Rollen ist für die Legitimation des gerichtlichen Verfahrens von zentraler Bedeutung, weil sie die
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Vgl. zu dem durch die Operationalisierung der regula aurea in Gang gesetzten Lernund Transformationsprozess eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff., 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff. 1035 Zu dem für das Harvard Modell zentralen multilateralen Rollentausch der regula aurea vgl. eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149, 204. 1036 Zur der für das Mediationsverfahren zentralen Auflösung von Wahrnehmungsverzerrungen vgl. Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 22 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 29 f., 62 f., 156 ff., 239 ff.; Bühring-Uhle/ Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 10 f., 38 ff., 41 ff., 86; Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 6 ff. sowie oben S. 215 Fn. 212. 1036 Vgl. hierzu oben S. 59 ff. 1037 Hierzu einbgehend oben S. 24 ff.
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Parteien in das zeremonielle Spiel des Verfahrens1038 verstrickt und so zur Hinnahme der richterlichen Entscheidung motiviert.1039 Allerdings trägt die Rollenbindung der Parteien zugleich ganz erheblich zur weiteren Eskalation des Konfliktes bei, weil diese Rollen mit spezifischen Verhaltenserwartungen verbunden und auf Konsistenz ausgerichtet sind. Aufgrund der mit der Übernahme der Rollen verbundenen kontrafaktischen Stabilisierung der Verhaltenserwartungen werden die Rechtspositionen, auf die sich die Parteien mit ihrem Vorbringen festgelegt haben, unwiderruflich zementiert.1040 Die Parteien binden sich für die Zukunft und sind aufgrund der stabilisierenden Wirkung der Rollenkonsistenz gezwungen, an ihren einmal eingenommenen Rechtspositionen festzuhalten.1041 Ein Wechsel in die Rolle des Problemlösers ist ihnen daher nicht mehr ohne weiteres möglich, weil dies mit ihrer Rolle und den an sie geknüpften Erwartungen grundsätzlich unvereinbar ist.1042 Verstärkt wird die verhaltenssteuernde Wirkung der prozessualen Rollen durch die gleichsam als Provokation wirkende Thematisierung des Rechts1043. Mit dem Aufwerfen der Rechtsfrage und der Verlagerung des Konfliktes in die Sphäre des Rechts wird die andere Partei mit der Möglichkeit des in im-Unrecht-seins konfrontiert, die zum Widerspruch herausfordert und zur Konfrontation zwingt. Mit dem Überschreiten der Thematisierungsschwelle wird auf diese Weise ein Kettenprozess in Gang gesetzt, der die Parteien gleichsam in den Trichter einer stetig eskalierenden Konfliktdynamik hineinzieht, der sie sich nicht mehr ohne weiteres entziehen können. Mit der Thematisierung des Rechts wurde ein point of no return1044 überschritten, der die Parteien in den von Goffman beschriebenen character contest1045 als Metakonflikt drängt, in dem es nicht mehr um den eigentlichen Konflikt, sondern nur noch darum geht, aus dem auf diese Weise ausgetragenen Kampf als Sieger hervorzugehen.1046 Der Prozessverlierer wird dabei sozial isoliert: Durch seine Zustimmung zum und seine Beteiligung am
1038 Ähnlich Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 92 f., 129 (Zeremoniell des Verfahrens). 1039 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87. 1040 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 57 f. sowie oben S. 25 ff. 1041 Vgl. hierzu oben S. 24 f. sowie Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 f. 1042 Vgl. hierzu oben S. 24 ff. 1043 Vgl. hierzu oben S. 22 ff., 26 ff., 302 ff. 1044 Hierzu Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 62 f. sowie oben S. 1045 Vgl. grundlegend Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff. sowie Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. Eingehend hierzu oben S. 22 ff. 1046 Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58.
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Verfahren wurde jegliche Möglichkeit des Protestes gegen das Ergebnis abgeschnitten.1047 Er bleibt mit seinen Einwänden ungehört und wird durch die Verstrickung in das Rollenspiel des Verfahrens1048 gleichsam dazu genötigt, das Prozessergebnis als für ihn verbindlich hinzunehmen.1049 Die Hinnahme des Urteils beruht damit letztlich auf Zwang, nicht dagegen auf der Einsicht in seine Richtigkeit. Eine tatsächliche Befriedung im Sinne einer nachhaltigen und dauerhaften Beilegung des Konfliktes ist auf diese Weise nur schwer möglich. Die mit der Klageerhebung verbundene Thematisierung des Rechts hat eine weitere für den folgenden Konfliktverlauf wesentliche Konsequenz, worauf insbesondere Luhmann hingewiesen hat: Durch die Thematisierung von Rechtsfragen wird eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den eigentlichen Konfliktursachen durch die Berufung auf die Entscheidung einer mit verbindlicher Entscheidungsautorität ausgestatteten höheren Instanz abgeschnitten.1050 Die Verweigerung inhaltlicher Kritik am Ergebnis des Verfahrens durch den Verweis auf seine immanente Gerechtigkeit dient dabei als Mittel expressiver Rollendistanz der Beteiligten, die sich so der für eine effektive Bewältigung des Konfliktes eigentlich erforderlichen und für sie häufig unangenehmen Auseinandersetzung mit den Ursachen des Konfliktes, mit dem eigenen Fehlverhalten und den Interessen ihres Konfliktgegners entziehen.1051 Die Mediation vermeidet derartige destruktive Verfahrenswirkungen, indem sie von vornherein auf konfrontative Rollenmuster verzichtet, den Parteien stattdessen die Rolle des kooperativen Problemlösers zuweist und diese durch das Rollenmodell des Mediators aktiv fördert. Damit kehrt sie sowohl die Struktur1052 als auch die Wirkung1053 des dem Zivilprozess eigenen kontradiktorischen Rollenzwanges um und setzt einen Lern- und Transformationsprozess1054 in Gang, der die Parteien aus ihrem intuitiven Konfliktverhalten herauslöst und sie zu kooperativer Problemlösung befähigt. Für die Parteien ist es aufgrund des durch das Verfahren selbst vorgegebenen Verhaltensrahmens nicht mehr attraktiv, aus bloßer Rollenkonsistenz an den von ihnen einmal eingenommenen Rechtspositionen festzuhalten. Durch die Vermeidung der The-
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Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 129. So plastisch Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 87. 1049 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 117. 1050 Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 62 f. 1051 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 105 f. 1052 Vgl. hierzu oben S. 129 ff., 674 ff. 1053 Vgl. hierzu oben S. 12 ff., 689 ff. 1054 Vgl. zu dem durch die Operationalisierung der regula aurea in Gang gesetzten Lernund Transformationsprozess eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff., 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff., 814 1048
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matisierung des Rechts und einer rechtlichen Bewertung vergangenen Parteiverhaltens wird eine einseitige Schuldzuweisung umgangen und ein Metakonflikt im Sinne eines Goffmannʼschen „character contest“ verhindert. Weil eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den eigentlichen Konfliktursachen nicht durch den Verweis auf die autoritative Entscheidung einer verbindlich entscheidenden höheren Instanz abgeschnitten wird, ist eine tatsächlich klärende und den Konflikt ursächlich behandelnde Problemlösung möglich. Damit ist zugleich auch der Weg zur Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen und zur wertschöpfenden Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne eröffnet.1055 7. Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit. Die Übernahme kontradiktorisch vordefinierter Rollen durch die Parteien hat zugleich eine deutliche Veränderung der Kommunikation zwischen den Beteiligten zur Folge, die in ihrer Struktur und in ihrem Inhalt erheblich verformt wird: Strukturell erfolgt die Partizipation der Parteien im Zivilprozess nicht mehr nach den Regeln des Alltags, sondern nach einer vom Gesetz vorgegebenen, formalisierten juristischen Sondersprache.1056 Die sich daraus ergebende Überforderung und Sprachlosigkeit der Parteien, die mit dem, was sie tatsächlich bewegt, nicht gehört werden, macht die Einschaltung von Anwälten als professionelle Parteivertreter erforderlich, was wiederum den Zugang sozial schwacher Parteien zum Recht erschwert.1057 Gleichzeitig wandeln sich die grundlegenden Interaktionsbeziehungen von einer Dyade (Zweierbeziehung) in eine Triade (Dreierbeziehung):1058 Die unmittelbare, bipolare Kommunikation zwischen den Parteien wird durch den mittelbaren, tripolaren Austausch über den Richter als filterndem und wertendem „Relais“ ersetzt. Das unmittelbare Gespräch zwischen den Parteien verstummt: Die Parteien sprechen nicht mehr mit-, sondern verstärkt nur noch übereinander.1059 Mit der Struktur ändert sich auch der Inhalt der Kommunikation: An die Stelle des Austausches über die konfliktverursachenden Sachverhaltsdimensionen tritt mit der Thematisierung des Rechts und der komplexitätsreduzierenden Verrechtlichung des Konfliktes der Austausch juristischer Argumente und
1055 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses eingehend oben S. 160 ff. sowie oben S. 289 f. Hierzu auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279. 1056 Vgl. hierzu oben S. 27 ff. sowie Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 318 f. 1057 Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 318 f. Zur Überforderung der Parteien Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 15. 1058 Hierzu oben S. 16 f. sowie Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 192 ff. 1059 Hierzu oben S. 28 f.
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unterschiedlicher Auffassungen über den tatsächlichen Ablauf eines vergangenen Sachverhaltes.1060 Die Partizipation der Konfliktbeteiligten ist durch die mit der Anrufung des staatlichen Gerichtes verbundene dreifache Delegation von Privatautonomie – der Entscheidungsbefugnis an den Richter, des Entscheidungsmaßstabes an das Gesetz und der unmittelbaren Partizipation an die Anwälte – erheblich begrenzt: Die Parteien sind auf die Rolle bloßer Informationsträger und Lieferanten des Sachverhaltsstoffes und der rechtlichen Argumente reduziert, über die dann letztlich und verbindlich allein der Richter entscheidet.1061 Die Mitwirkung der Parteien beschränkt sich damit auf die ihnen im zeremoniellen Spiel des Verfahrens1062 zugewiesene und durch das Verfahrensrecht formalisierte Rolle, die neben der Bereitstellung des Verfahrensstoffes vor allem auch der Legitimation des Verfahrens dient. Die beschränkten Partizipationsmöglichkeiten der Parteien und die durch die soziale Isolierung des Prozessverlierers und die Verstrickung der Parteien in das Rollenspiel des Verfahrens bewirkte Hinnahme der gerichtlichen Entscheidung wirken sich dabei in erheblichem Maße nachteilig auf die Akzeptanz und die Befolgung des richterlichen Urteils aus. In der Mediation werden die Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizite des Zivilprozesses durch die nahezu spiegelbildlich-komplementäre Struktur des Verfahrens gleichsam umgekehrt: In ihrer Struktur erfolgt die Kommunikation direkt und unmittelbar in der Alltagssprache der Parteien und regelmäßig ohne Einschaltung professioneller Parteivertreter. Durch die Fokussierung auf die Interessen1063 der Parteien wird eine Thematisierung des Rechtes weitgehend vermieden und dort, wo sie als erforderlich angesehen wird, an Rechtsberater oder den bewertenden Mediator „ausgelagert“. Rechtliche Aspekte stehen jedenfalls nicht im Mittelpunkt der Kommunikation, sondern werden allenfalls bei der Bewertung von Nichteinigungsalternativen und der Entwicklung von Lösungsoptionen relevant. Darüber hinaus steht, soweit Rechtsfragen überhaupt thematisiert werden, nicht der streitige Austausch juristischer Argumente, sondern die Bewertung von Prozessrisiken – etwa im Rahmen einer Prozessrisikoanalyse – oder die rechtstechnische und kautelarjuristische Umsetzung des Mediationsvergleichs im Mittelpunkt. Im Gegensatz zum Zivilprozess sind nicht die Parteivertreter oder der Richter, sondern die Parteien selbst die zentralen Akteure des Verfahrens.
1060
Hierzu oben S. 29 f. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 109. 1062 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 92 f., 129 (Zeremoniell des Verfahrens). 1063 Zur zentralen Bedeutung der Parteiinteressen in der Mediation vgl. oben S. 170 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff. 1061
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Die Privatautonomie verbleibt bei den Parteien.1064 Entscheidungsbefugnis, Entscheidungsmaßstab und unmittelbare Partizipation am Verfahren werden anders als im Zivilprozess nicht an den Richter, das Gesetz oder die Parteivertreter delegiert.1065 Zwar ist die Mediation durch die Einbindung des Mediators als neutralen Dritten ähnlich wie der Zivilprozess triadisch strukturiert, doch unterscheidet sich die vermittelnde Funktion des Mediators grundlegend von der des den Streit entscheidenden Richters: Im Gegensatz zum Richter beschränkt sich der Mediator ausschließlich darauf, die Parteien in ihrer Verhandlung zu unterstützen und sie dadurch in die Lage zu versetzen, ihren Konflikt tatsächlich privatautonom beizulegen.1066 Die unmittelbare Kommunikation und die intensive Partizipation der Parteien an der Entwicklung des Mediationsvergleichs haben regelmäßig zur Folge, dass die Parteien den gemeinsam entwickelten Vergleich in weitaus höherem Maße als verbindlich akzeptieren, als dies im Hinblick auf ein Gerichtsurteil der Fall wäre. Da die Parteien selbst die Architekten der von ihnen herbeigeführten Lösung sind, vermag der Mediationsvergleich den Konflikt regelmäßig auch ursächlich und nachhaltig beizulegen und ihn so dauerhaft zu befrieden. Zusammenfassend zeigt eine gleichsam „mikroskopische“ Untersuchung des Zivilprozesses aus der Perspektive der Rechts- und Systemtheorie erhebliche systemimmanente Schwächen des Verfahrens auf, die durch die Struktur des Zivilprozesses selbst bedingt sind: 1) Eine Verzerrung des zuvor erarbeiteten Konfliktstoffes durch komplexitätsreduzierende Verrechtlichung, 2) die Transformation in einen abgeleiteten Metakonflikt, 3) die Retrospektivität der gerichtlichen Entscheidung, 4) den binären Schematismus gerichtlicher Allesoder-Nichts-Entscheidungen im Sinne eines spieltheoretischen Nullsummenspiels, 5) seine eskalierende Wirkung, 6) den kontradiktorischen Rollenzwang sich antagonistisch gegenüberstehender Gegner und 7) schließlich ein erhebliches Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit. Ein vergleichender Blick auf das Mediationsverfahren hat dabei gezeigt, dass die Mediation die strukturellen Nachteile des Zivilprozesses im Hinblick auf seine Leistungsfähigkeit zur effektiven Konfliktbeilegung komplementär und damit gleichsam spiegelbildlich ausgleicht. Im Wettbewerb der Konfliktbeilegungsverfahren ergeben sich somit deutliche Vorteile des Mediationsverfahrens als Instrument effektiver Konfliktbehandlung.
1064
Zur Bedeutung der Privatautonomie als wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Mediation vgl. oben S. 127, 130 ff., 137, 459 ff. 1065 Hierzu oben S. 130 ff., 142 ff. 1066 Vgl. zur Rolle des Mediators oben S. 130 ff., zur Rolle des Mediators nach dem Riskin-Grid, oben S. 309 ff., zur Rolle des Mediators in der vertragsautonomen Mediation, oben S. 333 ff sowie zur Rolle des Mediators in der gerichtsverbundenen Mediation oben S. 385 ff.
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8. Funktion, Struktur, Wirkungen und Risiken der Verfahren. Dieser Befund wird durch unsere Analyse der Funktion,1067 Struktur, Wirkungen1068 und Risiken1069 des Zivilprozesses im Vergleich zum Mediationsverfahren gestützt. So ergibt sich auf der Grundlage eines konsolidierten Modells der Verfahrenswahl, das wir im Rahmen unserer Betrachtung des Prinzips der funktionellen Differenzierung entwickelt haben, ein entsprechendes Ergebnis: Der Zivilprozess stellt gegenüber der Mediation im Hinblick auf das Interesse der Parteien an einer materiell wie prozedural effektiven Konfliktbeilegung das deutlich ineffizientere Verfahren dar. Denn das zivilgerichtliche Verfahren ist nur sehr begrenzt geeignet, ein materiell nachhaltiges, dauerhaftes und zukunftsorientiertes Verfahrensergebnis herbeizuführen und wertschöpfende, pareto-optimale Kooperationsgewinne im Sinne beiderseits interessengerechter win-winLösungen herbeizuführen. Hier ist stattdessen die Mediation aufgrund ihrer besonderen Verfahrenseigenschaften, ihrer Funktion, Struktur, Wirkungen und Risiken das Verfahren der Wahl. Ein ähnliches Ergebnis ergibt sich für die Erwartungen der Parteien an die prozeduralen Aspekte der Konfliktbeilegung: Aufgrund der geringen Verfahrensdauer und -kosten, der Möglichkeit des privatautonomen Handelns der Parteien, der Flexibilität, der Vertraulichkeit, der geringen Zugangsbarrieren wie auch der relationalen Aspekte (Schonung der Parteibeziehung, Versöhnung, geringe Eskalation, geringe emotionale und psychische Belastung) stellt hier die Mediation das deutlich effektivere Verfahren dar. I. Interessen der Parteien 1. Materielle Aspekte der Konfliktbeilegung interessengerechtes Ergebnis wertschöpfende Kooperationsgewinne nachhaltiges Ergebnis dauerhaftes Ergebnis Zukunftsorientierung 2. Prozedurale Aspekte a) Verfahrensökonomische Aspekte geringe Verfahrensdauer geringe Verfahrenskosten privatautonomes Handeln Flexibilität Öffentlichkeit Vertraulichkeit
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Vgl. hierzu oben S. 615 ff. Vgl. hierzu oben S. 689 ff. 1069 Vgl. hierzu oben S. 696 ff. 1068
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geringe Zugangsbarriere b) Relationale Aspekte des Verfahrens Schonung der Parteibeziehung Versöhnung geringe Eskalation geringe emotionale & psychische Belastung II. Öffentliches Interesse effektive Konfliktbeilegung Rechtsfrieden Reduzierung der Konfliktkosten Tabelle 12: Originäre Anwendungsbereiche für das Mediationsverfahren Lediglich dort, wo es materiell um den Schutz subjektiver Rechte1070, das Bedürfnis der Parteien nach Rechtsklarheit1071, Verbindlichkeit und einem Präzedenzfall, Wahrheitsfindung1072 und ein objektiv rechtmäßiges Ergebnis, prozedural um die Öffentlichkeit des Verfahrens, den Schutz vor Übervorteilung, den Ausgleich von Machtungleichgewichten sowie die Wahrung öffentlicher Interessen (Bewährung der objektiven Rechtsordnung, Konkretisierung des Rechts, Sicherung der Rechtsfortbildung, Rechtssicherheit und Rechtseinheit, Rechtsfrieden, Verhaltenssteuerung, tatsächliche Waffengleichheit) geht, verbleibt dem Zivilprozess ein originäres Anwendungsgebiet. I. Interessen der Parteien 1. Materielle Aspekte der Konfliktbeilegung effektiver Rechtsschutz (v.a. als Rückgriffsordnung) Rechtsklarheit, Präzedenzfall, verbindliche Entscheidung Wahrheitsfindung objektiv rechtmäßiges Ergebnis 2. Prozedurale Aspekte Öffentlichkeit Schutz vor Übervorteilung Ausgleich von Machtungleichgewichten 1070
Vgl. hierzu oben S. 621 ff. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 2; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2; Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 10. 1071 Vgl. hierzu S. 652 ff. sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 2; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545, 545 f. Differenzierend Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 17. 1072 Vgl. hierzu oben S. 632 ff. sowie Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950), S. 106; Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozess (1966), S. 16 ff.; Gaul, AcP 168 (1968), 27, 34. Skeptisch Jauernig, JuS 1971, 329, 330 und Schilken, Zivilprozessrecht (7. Aufl. 2014), Rn. 11.
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II. Öffentliche Interessen Bewährung der objektiven Rechtsordnung Konkretisierung des Rechts Sicherung der Rechtsfortbildung Rechtssicherheit und Rechtseinheit Verhaltenssteuerung tatsächliche Waffengleichheit Tabelle 13: Originäre Anwendungsbereiche des Zivilprozesses Diese Anwendungsbereiche der beiden Verfahren entsprechen nicht nur ihren jeweils individuellen Funktionen, die sich aus ihrer je eigenen Verfahrensstruktur ergeben, sondern zugleich auch den Risiken, die mit ihnen verbunden sind.1073 So besteht im Rahmen des Zivilprozesses mit Blick auf den Konflikt selbst die Gefahr 1) der weitgehend ineffektiven Beilegung durch die Verfehlung der tatsächlichen Interessen der Parteien1074, 2) einer weiteren Eskalation des Konfliktes1075, 3) einer Zerstörung der Parteibeziehung1076 sowie 4) eines hohen Zeit- und Kosteneinsatzes1077. Auf der Ebene der Rechtsordnung ist die Verfahrenswahl des Zivilprozesses häufig mit einer Überlastung der Justiz,1078 der Verlagerung sozialer Konflikte auf den Zivilprozess als Stellvertreterkonflikt (litigious society1079) sowie – jedenfalls im US-amerikanischen Recht – mit der Gefahr der „usurpierten Entscheidungskompetenz“ (imperial judiciary)1080 verbunden. Auf gesellschaftlicher Ebene trägt die Engführung des Konfliktbehandlungssystems auf den Zivilprozess schließlich erheblich zu einer adversarialen Konfliktkultur bei, die intuitives, streitiges und damit ineffizientes Konfliktverhalten fördert und so die Fähigkeit der einzelnen Akteure im gesellschaftlichen System zur effektiven, eigenverantwortlichen Konfliktbeilegung begrenzt.1081 9. Mediation und Zivilprozess vor dem Hintergrund der Fiss’schen ADRKritik. Auf der anderen Seite hat unsere Untersuchung gezeigt, dass die von
1073
Vgl. zu den Risiken des Mediationsverfahrens onben S. 604 ff., zu jenen des Zivilprozesses oben S. 696 ff. 1074 Hierzu oben S. 697 f. 1075 Hierzu oben S. 698 f. 1076 Hierzu oben S. 699 ff. 1077 Hierzu oben S. 702 f. 1078 Hierzu eingehend oben S. 40 ff. 1079 Hierzu eingehend oben S. 702 ff. sowie Lieberman, The Litigious Society (1981), S. 169 ff. mwN.; Nader, Disputing Process (1978); Galanter, 31 UCLA L. Rev. 4 (1983). 1080 Hierzu eingehend oben S. 706 f. 1081 Hierzu eingehend oben S. 706 f.
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Fiss geltend gemachten Bedenken1082 gegenüber konsensualen Streitbeilegungsverfahren im Ergebnis nicht durchzugreifen vermögen: So liegt seiner Kritik weitgehend das Modell intuitiven Verhandlungsverhaltens im Sinne des „plea bargaining“1083 und gerade nicht das Harvard-Modell interessenorientierten Verhandelns zugrunde, das dem Stand der modernen Verhandlungsforschung entspricht.1084 Auch ist in der Entwicklung individuell auf den Konflikt zugeschnittener Lösungsoptionen und ihrer Implementierung in einem rechtlich durchsetzbaren Mediationsvergleich durch subjektives Parteirecht keineswegs eine Abkehr vom Normensystem der objektiven Rechtsordnung zu sehen.1085 Vielmehr entspricht sie dem der deutschen Privatrechtsordnung immanenten Prinzip der Subsidiarität staatlicher Konfliktbeilegung und dem verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsatz des Vorrangs der privatautonomen Gestaltung der Rechts- und Lebensverhältnisse des Einzelnen.1086 Davon abgesehen vollzieht sich die Mediation stets im Schatten des materiellen Rechts, das auf vielfältige Weise auf das Mediationsverfahren einwirkt. Durch den der Mediation eigenen inneren Mechanismus der regula aurea1087 haben die Parteien dabei über das lumen rationis1088 hinaus sogar einen unmittelbaren, nicht durch
1082 Zur Kritik Fissʼ vgl. klassisch Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984) sowie Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1 (1979); Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121 (1982); Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273 (2009). Vgl. hierzu auch oben S. 552 ff. 1083 Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1075 (1984). Zur Ineffektivität des intuitiven Verhandelns Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 3 ff.; Thompson/Hrebec, 120 Psychol. Bull. 396, 400 ff. (1996); Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 288 ff. sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. 1084 Zum interessenorientierten Verhandeln nach dem Harvard-Modell vgl. nur Fisher/ Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 23 ff. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 77 ff., 167. 1085 Vgl. hierzu oben S. 149oben S. 50 ff., 80 ff. sowie unten S. 149 ff., 153 ff., 156 ff., 612 ff., 638 ff., 803 f. 1086 Vgl. hierzu oben S. 156 ff. mwN. 1087 Vgl. hierzu eingehend oben S. 235 ff., ., 249 ff., 252 ff. 1088 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu oben S. 101, Fn. 405.
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den Filter des abstrakten Gesetzesrechts vermittelten und somit verzerrten Zugang zum ius naturae1089 und damit zu jenen „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind“1090. Und weil der Transformationsvorgang vom ius naturae in das ius positivum durch Rechtsetzungsakt des Gesetzgebers aufgrund seiner methodischen Beschränkungen notwendig defizitär ist1091, ist die von den Parteien entwickelte Lösung keinesfalls per se qualitativ schlechter als die vom Gesetz vorgesehene Rechtsfolge, sondern wird, weil die Parteien – den ungetrübten Gebrauch des lumen rationis vorausgesetzt1092 – gleichsam unmittelbar auf das ius naturae zugreifen können, nicht nur in ihrer Interessengerechtigkeit, sondern auch in ihrer Fähigkeit zur Verwirklichung objektiver Gerechtigkeit über die Möglichkeiten eines gerichtlichen Urteils weit hinausgehen. In diesem verborgenen Mechanismus, der die der Rechtsordnung immanenten Wertgrundsätze des ius naturae über den vermittelnden Gebrauch der regula aurea als Scharnier aktiviert und für die Lösung eines konkreten Konfliktes mobilisiert, liegt das eigentliche Geheimnis der Leistungsfähigkeit des Mediationsverfahrens begründet. Und durch diesen, ihr eigenen Mechanismus ist die Mediation tatsächlich das gerechte Verfahren, wie es in der Terminologie seiner Erscheinungsformen (New Equity1093, Minne), die es im Verlauf der Geschichte immer wieder angenommen hat, deutlich wird. Der ihr eigene Schritt von den Rechtspositionen zu den Interessen ist bereits in der suum cuique-Grundformel1094 materieller Gerechtigkeit angelegt, die gerade verlangt, das dem Einzelnen das ihm Zustehende gewährt wird. Und das dem Einzelnen zur Entfaltung seiner materiellen und immateriellen Existenz notwendig Zustehende ist nichts anderes als das, was seinen Bedürfnissen und ureigensten Interessen entspricht.1095
1089 Zu den naturrechtlichen Grundlagen vgl. oben S. 75, 86 ff., 176, 219, 774 f. sowie Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. sowie Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 388 ff. 1090 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). Hervorhebungen durch den Verfasser. 1091 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 117. Vgl. hierzu auch oben S. 13 ff., 654 ff. 1092 Vgl. hierzu eingehend v. Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis (3. Aufl. 1982), S. 64 ff. Zur rechtlichen Bedeutung des Gewissens aus strafrechtlicher Perspektive vgl. nur Kölbel, FS Roxin (2011), S. 1913, 1914 ff. 1093 So Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329 (2005). Zur Qualität der Mediation als gerechtes Verfahren oben S. 179 ff., zur Mediation als New Equity oben S. 230 ff. 1094 Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff. 1095 Zu den Parteiinteressen als Maßstab der Gerechtigkeit eingehend oben 170 ff. Vgl. zu den Kriterien materieller Gerechtigkeit im Mediationsverfahren eingehend oben S. 222 ff.
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Zur Realisierung dieser Interessen im Mehrpersonenverhältnis existiert mit der regula aurea ein universales Grundprinzip menschlicher Kooperation.1096 Und es ist das Mediationsverfahren, das durch den ihr eigenen Mechanismus des multilateralen Rollentauschs die Goldene Regel in nahezu vollkommener Weise umsetzt, sie für die Parteien in einem Lern- und Transformationsprozess1097 nutzbar macht und die Parteien auf diese Weise zu einer eigenverantwortlichen Beilegung ihres Konfliktes im Wege der Kooperation befähigt. Die Gefahr eines Funktionsverlustes der Rechtsprechung1098, die durch den Entzug von Rechtsfällen nicht mehr in der Lage wäre, die ihr zugewiesene Aufgaben der Konkretisierung und Bewährung der objektiven Rechtsordnung1099, der Gewährleistung von Rechtssicherheit1100 und Rechtseinheit1101 und der Verhaltenssteuerung1102 zu erfüllen, besteht nicht, weil eine Streitbeilegung im Wege der Mediation notwendig des Konsenses der Parteien bedarf, der indes nicht immer gegeben sein wird. Darüber hinaus haben wir gesehen, dass konsensuale Verfahren stets notwendig des Zivilprozesses als Rückfallordnung1103 und als Nichteinigungsalternative1104 bedürfen, sich die Mediation daher stets im Schatten des Rechts1105 und damit nicht als gleichsam autonomes System normativer Steuerung außerhalb, sondern vielmehr innerhalb der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen als Teil ebendieser Ordnung vollziehen muss.
1096
Eingehend hierzu oben S. 235 ff., 249 ff., 252 ff. Vgl. zu dem durch die Operationalisierung der regula aurea in Gang gesetzten Lernund Transformationsprozess eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff., 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff. sowie 814 ff. 1098 Hierzu oben S. 647 ff. 1099 Vgl. hierzu eingehend oben S. 637 ff. Für die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilverfahrens als Prozesszweck Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 2 f.; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2. A.A. MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 8; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 3 ff. Näher hierzu Gaul, AcP 168 (1968), 27, 37 ff., 59 f. 1100 Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie Blomeyer, Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1985), S. 2; Stürner, FS Baumgärtel (1990), S. 545, 545 f. Differenzierend Sauer, Grundlagen des Prozessrechts (2. Aufl. 1929), S. 17. 1101 Vgl. hierzu oben S. 652 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4. 1102 Vgl. hierzu oben S. 662 ff. 1103 Hierzu eingehend oben S. 299 ff. 1104 Zur Bedeutung der Nichteinigungsalternativen eingehend BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 26 ff., 73 ff., 96 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 170, 235 ff. 1105 So Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). Vgl. zur Bedeutung des Rechts in der Mediation eingehend oben S. 149 ff. (allgemein), 280 ff. (materielles Recht), 432 ff. (Verfahrensrecht). 1097
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Zusammenfassend hat unsere Untersuchung im Hinblick auf die Fiss’sche ADR-Kritik1106 den Befund erbracht, dass 1) die Bedenken Fissʼ bereits deshalb nicht durchzugreifen vermögen, weil seiner Kritik das Modell intuitiven Verhandlungsverhaltens im Sinne des plea bargaining und des dance of concessions1107 und gerade nicht das dem Stand der modernen Verhandlungsforschung entsprechende Harvard-Modell interessenorientierten Verhandelns zugrunde liegt, 2) mit der Mediation gerade keine Abkehr vom Normensystem der objektiven Rechtsordnung im Sinne einer Konstituierung autonomer Ordnungen verbunden ist, sondern 3) das materielle Recht stattdessen auf vielfältige Weise in das Mediationsverfahren hineinwirkt und über die regula aurea erheblich zur Verwirklichung materieller Gerechtigkeit im Sinne des suum cuique-Grundsatzes beiträgt, und schließlich 4) die Mediation zu keinem Verlust der Rechtsbewährungsfunktion der Rechtsprechung durch Entzug von Rechtsfällen führt. Risiken bestehen lediglich im Hinblick auf die Gefahr der Übervorteilung durch Ausnutzung von Machtungleichgewichten oder Informationsasymmetrien. Dabei handelt es sich allerdings um Verfahrensrisiken, die nicht dem Mediationsverfahren als solchem immanent sind, sondern auch in anderem Zusammenhang regelmäßig bei einer Verletzung der Privatautonomie der Parteien als wesentlichem Verfahrensgrundsatz auftreten, die gerade eine tatsächlich informierte Mitwirkung der Parteien und damit ihre Fähigkeit voraussetzt, für ihre Interessen auch tatsächlich einstehen zu können (self-agency). Hier kommt dem Mediator als Hüter der Privatautonomie1108, als Wächter der Verfahrensintegrität1109 und als Garant für ein gutes und damit objektiv angemessenes, dauerhaftes und nachhaltiges Ergebnis1110 eine zentrale Rolle zu, die wir im Rahmen unseres Verfahrensmodells und der damit verbundenen Aufklärungs- und Interventionspflichten näher konkretisiert haben.
1106 Zur Kritik Fissʼ vgl. klassisch Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984) sowie Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1 (1979); Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121 (1982); Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273 (2009). Vgl. hierzu auch oben S. 552 ff. 1107 Hierzu Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. Vgl. instruktiv hierzu das Beispiel oben S. 109 Fn. 20. 1108 Zur Rolle des Mediators vgl. insoweit eingehend oben S. 480 f., 328 f., 333 ff., 360 ff., 461 f. Zur Bedeutung der Privatautonomie als wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Mediation vgl. oben S. 127, 130 ff., 137, 459 ff. 1109 Zum Prinzip der strukturellen Integrität eingehend oben S. 116 f., 546 ff. Zu Fullers Prinzip der strukturellen Integrität und dem Verbot der Rollenvermischung (role confusion) oben S. 114 ff., 327 Fn. 66 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 404 ff. (1978). Ebenso Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999). 1110 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses eingehend oben S. 160 ff. sowie oben S. 289 f. Hierzu auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279
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bb) Rechtssoziologie: Wandel des Rechts, des staatlichen Handelns und der Konfliktkultur Im Anschluss an unsere gleichsam mikroskopische Nahschau des Zivilprozesses in seinem Verhältnis zum Mediationsverfahren, bei der die innere Funktionsweise der Verfahren im Mittelpunkt unseres Interesses stand, haben wir die äußeren Entwicklungsbedingungen beider Verfahren in den Blick genommen und sie in den Zusammenhang der sie formenden größeren Entwicklungsströmungen des Rechts gestellt. Ziel unserer Untersuchung war dabei, die hinter der modernen ADR-Bewegung1111 stehenden und sie treibenden Entwicklungsströmungen aufzudecken und so – unter Berücksichtigung ihrer Form, Funktion und Grenzen – den Standort der Mediation im System des Rechts und in ihrem Verhältnis zum Zivilprozess zu bestimmen. Dabei haben wir gesehen, dass sich die seit den 1970er Jahren nachweisbare Hinwendung zur Mediation im Rahmen der weltweiten ADR-Bewegung vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Wandels des Rechts1112, des Staates1113 und der Konfliktkultur1114 vollzieht und in diesem Zusammenhang erst in ihrer Bedeutung und in ihrem Verhältnis zum Recht und zum zivilgerichtlichen Verfahren verständlich wird. Die Mediation ist damit eine der Erscheinungsformen eines weitreichenden gesellschaftlichen Umbruchs, der im Hinblick auf die drei Bereiche des Rechts, des Staates und der Konfliktkultur durch einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel geprägt ist: Im Hinblick auf das Recht wird dies deutlich durch eine weitgehende Materialisierung und Entformalisierung1115 als Teil einer Entwicklung vom formal-rationalen zum materiell-rationalen Recht1116. Im Hinblick auf den Staat durch einen grundlegenden Strukturwandel staatlicher Steuerungstätigkeit, der durch Entformalisierung1117, Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung, Delegation von Verantwortung, Selbststeuerung und Kooperation1118, eine Abkehr von traditioneller Staatlichkeit und vom monistisch-etatistischen Rechtsmodell und schließlich von einem Wandel vom hoheitlich intervenierenden Eingriffs- zum kooperativen Verhandlungsstaat geprägt ist, der gesellschaftliche Prozesse nicht mehr durch abstrakt-generelle Normen selbst steuert, sondern Konflikte im Wege der Mediatisierung und Prozeduralisierung zunehmend an gesellschaftliche
1111
Vgl. hierzu oben S. 9 ff., 60 ff. Hierzu oben S. 35 ff. 1113 Hierzu oben S. 38 ff. 1114 Hierzu oben S. 59 ff. 1115 Hierzu oben S. 35 ff. 1116 Hierzu oben S. 34 ff. sowie Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396 ff., 504 ff.; Schluchter, Rationalismus (1979), S. 129 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 14 ff. 1117 Hierzu oben S. 53 ff. 1118 Hierzu oben S. 53 ff. 1112
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Teilgruppen zur Selbststeuerung delegiert. Und schließlich im Hinblick auf die Konfliktkultur durch den Schritt von der streitigen Konfliktbehandlung durch kontradiktorisch strukturierte heteronome Außensteuerung hin zu konsensualer, privatautonomer Selbstregulierung im Wege der Kooperation.1119 Diese Entwicklungslinien tragen die ADR-Bewegung, die selbst Teil und Erscheinungsform dieses Wandels ist. Ihre Ursache wird vielfach in der durch Globalisierung, Europäisierung, Technisierung und zunehmende Ausdifferenzierung explosionsartig gewachsenen Komplexität der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gesehen, die herkömmliche Formen der Regulierung an ihre Grenzen führt und so das Steuerungsvermögen des Staates vielfach überfordert. Die Folge ist ein Ausweichen auf informale Steuerungsmechanismen, und zwar sowohl aufseiten des Staates als auch aufseiten Privater. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Delegation des Konfliktes an die Betroffenen zur Selbstregulierung im Wege der Mediation als Ausweg aus der Steuerungskrise des Rechts und des Staates und als notwendiges Korrektiv einer rein formalen Rationalität des Rechts dar. 1. Wandel des Rechts. Vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Wandels vom formal-rationalen zum materiell-rationalen Recht im Sinne Max Webers lässt sich die Hinwendung zur Mediation als notwendige Reaktion und als Korrektiv auf eine weitreichende Krise des formal-rationalen Rechts verstehen, das die Grenze seiner Steuerungskapazität überschritten hat und das der Korrektur durch Delegation an die unmittelbar Konfliktbetroffenen bedarf.1120 Die ADRBewegung stellt sich damit als Ausprägung der allgemeinen Materialisierungstendenz1121 des Rechts dar, die ein derartiges Ausmaß erreicht hat, dass sie Verfahren der alternativen Streitbeilegung im Schub eines weitreichenden gesellschaftlichen Entformalisierungstrends sowohl in der Praxis als auch institutionell zum Durchbruch verhilft. Rationalisierung und Materialisierung des Rechts verlaufen dabei gegenläufig und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten: Während die normative Ausformung des formal-rationalen Rechts mit den großen Kodifikationen gegen Ende des 19. Jahrhunderts seinen vorläufigen Schlusspunkt erfahren hat, ist die sich stetig beschleunigende Materialisierung seitdem zu einer prägenden Entwicklungsströmung des Rechts geworden. Getrieben wird diese Entwicklung vor allem durch 1) die infolge weitreichender Technisierung, Globalisierung und zunehmender Komplexität gewachsenen Anforderungen des wirtschaftlichen Rechtsverkehrs an die Flexibilität der zur Konfliktbeilegung
1119
Hierzu oben S. 59 ff. Hierzu Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396 ff., 504 ff. Vgl. hierzu auch die instruktiven Betrachtungen von Schluchter, Rationalismus (1979), S. 129 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 14 ff. 1121 Hierzu eingehend oben S. 48 ff. 1120
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bereitgestellten Verfahren, 2) steigende materielle Gerechtigkeitsanforderungen des den Grundsätzen sozialer Marktwirtschaft in einer immer stärker ausdifferenzierten Gesellschaft verpflichteten Rechts-, Verfassungs- und Wohlfahrtsstaates und schließlich 3) die rechtspolitischen Forderungen des Umweltund Verbraucherschutzes, Praktikabilitäts- und Effizienzerwägungen sowie das Bemühen um Einzelfallgerechtigkeit. In der Folge dieses Materialisierungstrends kamen in den 1970er Jahren die Forderungen nach einer auch für Laien verständlichen Justiz, dem Zugang zum Recht und einer interessengerechten, nachhaltigen Konfliktlösung durch informale Alternativen zur Ziviljustiz hinzu. In diesem Zusammenhang sieht insbesondere Hager die alternative Streitbelegung als notwendige Reaktion auf eine tiefgreifende Krise des formal-rationalen Rechts, das die Grenze seiner Steuerungskapazität überschritten hat und zu einer Überlastung des durch Verrechtlichung blockierten staatlichen Steuerungssystems führt.1122 Danach haben 1) die Struktur des Staates (Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip) und 2) der gesellschaftliche Wandel (Industrialisierung, technologische Revolution, Europäisierung, Globalisierung und Umweltschutz) eine zunehmende Materialisierung zur Folge, die von einer massiven Verrechtlichung begleitet wird.1123 In struktureller Hinsicht äußert sich der Materialisierungstrend in einer Hyperkomplexität des Rechts (überbordende Kasuistik, immer feiner gesponnene Dogmatik, höchst ausdifferenzierte Regelungswerke, ausdehnendes Haftungsrecht, Verbraucherschutzgesetze etc.).1124 In qualitativer Hinsicht in einer Instrumentalisierung durch einen die Lebensverhältnisse verformenden Zugriff durch rechtliche Finalprogramme, durch eine die Lebensverhältnisse unterwerfende „Kolonialisierung der Lebenswelt“1125, durch einen Wandel des Rechts von einem Mittel zur Abgrenzung von Freiheitssphären zu einem regulatorischen Steuerungsinstrument sowie in einer Überlastung, die in einer durch Hyperkomplexität und Überregulation ausgelösten Prozessschwemme und einer Überlastung der Gerichte deutlich wird, die mit der prozessualen Verarbeitung des durch den Materialisierungsschub ausgelösten Konfliktstaus überfordert sind.1126 Auch wenn das Erklärungsmodell in einzelnen Punkten der Differenzierung bedarf – etwa im Hinblick auf die prognostizierte vermeintliche Prozessschwemme, die angesichts des deutlichen Rückgangs der Zivilverfahren (Rückgang von Neuzugängen, Anstieg der Vergleichsquote in Deutschland1127, Vanishing Trial Phänomen in den USA1128) empirisch nicht haltbar ist –, so hat 1122
Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 16 ff. Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17. 1124 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17. 1125 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (1981), S. 522 ff. 1126 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 39. 1127 Hierzu oben S. 40 ff. 1128 Hierzu oben S. 44 ff. 1123
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es doch dadurch, dass es das rasante Wachstum der alternativen Streitbeilegung in den Zusammenhang des allgemeinen Materialisierungstrends des Rechts als Korrektiv des formal-rationalen Denkens stellt, einen zentralen Anknüpfungspunkt für ein tieferes Verständnis der Mediation in ihrer Beziehung zum Recht und zum Zivilprozess aufgedeckt. Die besondere Struktur des Mediationsverfahrens, das auf die Konfliktbeilegung auf der Grundlage der Interessen als nichtrechtliche Wertmaßstäbe ausgerichtet ist, bietet die prozedurale Voraussetzung für eine Korrektur des in seiner grundlegenden Architektur trotz aller Materialisierungstendenzen weitgehend an den Grundsätzen formaler Rationalität orientierten herkömmlichen Systems der Konfliktbehandlung. 2. Wandel staatlichen Handelns. Neben dem Recht ist auch der Staat selbst einem tiefgreifenden Wandel seines Handelns und seines Selbstverständnisses unterworfen.1129 So ist staatliches Handeln als Reaktion auf die durch eine Verrechtlichung ausgelösten Steuerungsdefizite zunehmend von Informalisierung, Materialisierung und Privatisierung geprägt. In Abkehr von einem traditionellen Verständnis von Staatlichkeit und vom monistisch-etatistischen Rechtsmodell entwickelt sich der Staat zunehmend vom hoheitlich intervenierenden Eingriffs- zum kooperativen Verhandlungsstaat.1130 Ausgelöst wird diese Entwicklung durch eine massive Verrechtlichung, die in quantitativer Hinsicht durch eine Zunahme positiver Rechtsnormen, in qualitativer Hinsicht durch eine Expansion in immer neue Lebensbereiche gekennzeichnet ist. Die steigende Komplexität der zu regelnden Sachverhalte, die eine adäquate Entscheidung immer unwahrscheinlicher macht, und die resultierenden normativen Vollzugsdefizite werfen die Frage nach den Grenzen rechtlicher Steuerungsfähigkeit im Rahmen der herkömmlichen Steuerungsinstrumente des abstraktgenerellen Rechts und der klassischen Eingriffsverwaltung des Staates auf. Der durch Normenflut (Vergesetzlichung), Prozessflut (Justizialisierung) und Verwaltungsflut (Bürokratisierung) gekennzeichnete Prozess der Verrechtlichung1131, der von der Soziologie als Hyperlexis1132, Hypertrophie des
1129
Hierzu eingehend oben S. 38 ff. Hierzu oben S. 38 ff. sowie Ritter, AÖR 104 (1979), 389; Voigt (Hrsg.), Der kooperative Staat (1995); Schneider, VerwArch 87 (1996), 38 ff.; Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421; Frick, Der freundliche Staat (2001). Einen Überblick bietet Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 561 mwN. 1131 Hierzu oben S. 38 ff. 1132 So etwa Manning, 71 NW. U. L. REV. 767 (1977). Vgl. zur US-amerikanischen Diskussion auch Barton, 27 Stan. L. Rev. 567 (1975); Trubek/Sarat/ Felstiner/Kritzer/Grossman, 31 UCLA L. Rev. 72, 83 ff. (1983) und zum Ganzen Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 333 (2005). 1130
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Rechts1133, legal explosion1134, regulatory crisis1135 und legal pollution1136 beschrieben worden ist, hat seine Ursache in einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel aufgrund dramatischer Veränderungen der Staats- und Wirtschaftssysteme: 1) Einer zunehmenden funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, 2) einem Wegfall traditioneller Formen der sozialen Konfliktlösung (Familie, Kirche, Nachbarschaft)1137, 3) der Krise der Rechtsnorm1138 durch zunehmende Infragestellung ihrer Geltung und Autorität, 4) dem Verlust an Selbstregulationsvermögen durch Bewusstmachen und Infragestellen bislang spontan befolgter Normen1139, 5) einer deutlichen Erweiterung der Staatsaufgaben vor allem auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge, der Planungs- und Leistungsverwaltung1140, 6) einem gestiegenen Bedarf an rechtlichen Regelungen in Folge der Technisierung und Industrialisierung (vor allem im Gefahren, Daten-, Strahlen- und Umweltschutzrecht) und 7) der wachsenden Bedeutung des internationalen Rechts und des Europarechts. Hinzu kommen 8) eine komplexe Vernetzung der Wirtschaftsstrukturen (polyzentrische Interaktionsstrukturen, Langzeitverträge)1141, 9) ein rapides Anwachsen der Komplexität der zu verarbeitenden Sachprobleme1142, 10) ein verstärkter Wettbewerb der Rechtssysteme als Folge der zunehmenden Europäisierung und Globalisierung1143, 11) die Bündelung individueller Interessen durch artikulations- und verhandlungsfähige Gruppierungen in Form aggregierter Gesellschaftsstrukturen1144 sowie 12) eine Zunahme rechtlich nur schwerfällig zu bewältigender grenz-
1133
So Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 16, 39. Barton, 27 Stan. L. Rev. 567 (1975). 1135 So als Vertreter eines weitgehenden Rechtspluralismus Zumbansen, 56 Am. J. Comp. L. 769 (2008 ). Zur Kritik an der These der Krise des Rechts vgl. Rottleuthner, 17 Int'l J. Soc. L. 273 (1989) und oben S. 50 f. 1136 Ehrlich, N.Y. Times Mag., 8. Februar 1976, 17, zitiert nach Teubner, in: Kübler/ Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289, 290. 1137 Hierzu Gessner, Recht und Konflikt (1976), S. 137 ff.; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 9 f.; Burger, 68 A.B.A. J. 274, 274 (1982); Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 191. 1138 Stürner, JR 1979, 133, 134; Peters, Gütegedanke (2004), S. 53 ff.; Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161 ff. Vgl. hierzu auch oben S. 50 ff., 80 ff., 149 ff., 153 ff., 156 ff., 612 ff., 638 ff., 803 f. 1139 Stürner, JR 1979, 133, 134; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 552. 1140 Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 551 f. Zum Problem der sinkenden Steuerungsfähigkeit infolge wachsender Staatsaufgaben vgl. die Beiträge in Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben (1990). 1141 Ritter, NJW 2001, 3440, 3443 ff. 1142 Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 53 f. 1143 Ritter, NJW 2001, 3440, 3444. 1144 Ritter, NJW 2001, 3440, 3444. 1134
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überschreitender Konflikte als Folge der wachsenden Europäisierung, Internationalisierung und Globalisierung und der damit bedingten internationalen Verflechtung.1145 Verschärft wird das Steuerungsproblem durch die Phasenverzögerung, die Verspätung des Rechts in der Steuerung stark beschleunigter Prozesse (cultural lag)1146 sowie durch eine mögliche Krise der Rechtsnorm als Folge eines durch die postmoderne Ideologie der Gegenwart begünstigten Norm- und Wertrelativismus1147, der 1) in einer Abwertung der normativen Verbindlichkeit des positiven Gesetzrechts, 2) einem verstärkten Rückgriff auf soziale Normen und das Rechtsgefühl1148, 3) einer Wandlung des Richterbildes vom Rechtsanwender zum Rechtsschöpfer1149 und 4) in einer sanktionsaversen Psychologie und Pädagogik zum Ausdruck kommt, die eine Sanktionierung von Rechtsbrüchen durch Appelle an die Einsichtsfähigkeit des Rechtsverletzers ersetzt.1150 Ihre Ursache findet diese Entwicklung vor allem im Verlust einer gemeinsamen Werteordnung in der pluralistischen und damit zugleich notwendig beliebigen Gesellschaft der Postmoderne, die allgemeinverbindliche, absolut geltende Normen zunehmend infrage stellt und sie der freien Disposition des Einzelnen oder wechselnder politischer Mehrheiten überlässt.1151 Die Folge ist eine schleichende Abkehr vom monistisch-etatistischen Rechtsmodell hin zu einem vagen Rechtspluralismus, bei der die einzelnen Akteure für sich selbst ein eigenes, besseres Recht in Anspruch nehmen und damit das Geltungsmonopol des staatlichen Rechtes auf der Grundlage eines politischen, ethischen oder auch nur pragmatischen Überlegenheitsanspruchs durchbrechen.1152 Der Richtigkeitsanspruch des objektiven Rechts droht damit ins Wanken zu geraten.1153 Dass das vermeintliche Ideal einer „bürgernahen“, von staatlichen Zwängen freien und damit vorgeblich demokratischen Selbstregu-
1145
Hess, JZ 2005, 540, 544. Hierzu auch Ritter, NJW 2001, 3440, 3445. Hierzu Ogburn, Kultur und sozialer Wandel (1969), S. 134 ff. sowie Werner, Über Tendenzen der Entwicklung von Recht und Gericht in unserer Zeit (1965); Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 530 f. mwN. 1147 Hierzu eingehend oben S. 53 ff., 58 ff., 81 ff. 1148 Stürner, JR 1979, 133, 134 f.; Eder, ZfRSoz 1987, 193; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 34 ff. (Rückgriff auf das Rechtsgefühl). 1149 Vgl. hierzu Stürner, JR 1979, 133, 134 f. sowie oben S. 52. Zum Richter als „Sozialingenieur“ im Kontext der Lehre von der sozialen Funktion des Zivilprozesses vgl. oben S. 667 ff. sowie Baur, JZ 1957, 193, 193 ff.; Freund, DRiZ 1981, 221, 222; Peters, Gütegedanke (2004), S. 51, 159. Vgl. auch Dölemeyer, in: Gouron (Hrsg.), Europäische und amerikanische Richterbilder (1996), S. 359 ff. 1150 Vgl. hierzu Stürner, JR 1979, 133, 134 f. sowie oben S. 52. 1151 Hierzu oben S. 52 f., 58 f. 1152 Vgl. hierzu oben S. 53 f. sowie Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161, 1162 ff. 1153 Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161, 1166. 1146
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lierung selbstredend nur von jenen Akteuren in Anspruch genommen und propagiert wird, die ohnehin in der Lage sind, ihre Interessen gegenüber den übrigen Beteiligten geltend zu machen und im Zweifel auch durchzusetzen, entlarvt eine solche Ideologie indes als Trugbild, das die Staatstheorie schon seit Langem durch die staatliche Steuerung gesellschaftlicher Prozesse auf der Grundlage öffentlicher Interessen, durch die Gewährung staatlichen Rechtsschutzes, die Bereitstellung demokratischer Institutionen und letztlich durch die Errungenschaft des sozialen Rechts- und Verfassungsstaates in die Schranken gewiesen hat. Dass informale Selbstregulierung durch die unmittelbar vom Konflikt Betroffenen im Wege der Mediation vor dem Hintergrund struktureller Machtungleichgewichte tatsächlich entsprechende Risiken birgt, haben wir im Rahmen unserer Untersuchung der Funktion, Struktur, Wirkungen und Risiken des Mediationsverfahrens im Vergleich zum Zivilprozess gesehen.1154 Die Folge dieser Entwicklung ist eine Verlagerung gesellschaftlicher Steuerung auf informale Steuerungsmechanismen, und zwar sowohl aufseiten des Staates als auch aufseiten Privater.1155 Die Entformalisierung des staatlichen Handelns vollzieht sich dabei vor allem durch Steuerung im Schatten des Rechts, insbesondere durch die Ergänzung des staatlichen Handlungsinstrumentariums um informale, nicht-rechtliche Steuerungsformen1156 wie etwa die Aufwertung des öffentlich-rechtlichen Vertrages und des informativen Staatshandelns, die Ergänzung staatlicher Gesetzgebung durch private Rechtsetzung, informale Kooperation sowie gesetzesabwendende, normvertretende oder normergänzende Absprachen oder Selbstbeschränkungsabkommen.1157 Auf der Seite Privater kommt der Entformalisierungsprozess vor allem durch den Rückgriff auf Verhaltenscodices als Soft Law1158 sowie auf Konfliktlösungssysteme privater Ordnung1159 zum Ausdruck, die der Inanspruchnahme staatlicher Justiz regelmäßig nicht mehr bedürfen. Damit kommt es zu einer Ablösung staatlicher Intervention zugunsten wirtschaftlicher oder sozialer Selbstverwaltung, zur Vermeidung formeller Bindungen und zur Suche nach Problemlösungen unter Vermeidung des Rechtsweges.
1154
Hierzu oben S. 336 ff., 344 f., 348 ff., 604 ff. Hierzu eingehend oben S. 53 ff. 1156 Schulze-Fielitz, in: Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat? (2. Aufl. 1998), S. 95. 1157 Vgl. hierzu Ritter, AÖR 104 (1979), 389; Voigt (Hrsg.), Der kooperative Staat (1995); Schneider, VerwArch 87 (1996), 38 ff.; Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421; Frick, Der freundliche Staat (2001). Einen Überblick bietet Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 561 mwN. 1158 Ritter, NJW 2001, 3440, 3444. 1159 Hierzu oben S. 55 f. sowie Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 561. 1155
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Methodisch erfolgt die Entformalisierung im Wege der 1) Mediatisierung1160, 2) der Prozeduralisierung1161 sowie 3) der Rücknahme des Befehlscharakters des Rechts11621163. Während im Rahmen der Mediatisierung das Recht indirekt, vermittelnd, gleichsam mediatisiert zur Regelung gesellschaftlicher Prozesse zur Anwendung kommt, wird im Rahmen der Prozeduralisierung die Wirkung des Rechts durch die Verfahrensweisen vermittelt, die es vorgibt, und das Problem der Legitimation durch Selbstlegitimierung gelöst. Der imperative Charakter des generell-abstrakten Gesetzesrechts wird dabei auf mehrfache Weise geschwächt: Zum einen durch die Ersetzung unmittelbarer hoheitlicher Intervention des Staates durch indirekte Steuerungsformen der Selbstverwaltung und Kooperation, zum anderen durch die Ersetzung legislativer Konditional- durch Finalprogramme, bei denen nicht mehr klar umrissene Rechtsfolgen nur noch die intendierten Wirkungen vorgeben und dem Rechtsanwender die Wahl der zur Zweckerreichung geeigneten Verhaltensweisen überlassen wird. Dadurch soll die als Konfliktenteignung1164 und Kolonialisierung der Lebenswelt1165 empfundene Schärfe formal-rationaler Mechanismen der Problembewältigung überwunden und trotz zunehmender Komplexität der zu regelnden Sachverhalte eine sachgerechte Steuerung gesellschaftlicher Prozesse ermöglicht werden. Deutlichste Ausprägung dieser Entwicklung ist die Hinwendung zur alternativen Streitbeilegung1166, bei der Kommunikation, Kooperation und die Orientierung am Einzelfall in den Vordergrund treten, und die zugleich mit einer Veränderung des Juristenbildes verbunden ist.1167 Das für die Begründung einer derartigen Entwicklung von Teubner und Wilke1168 herangezogene abstrakte Modell des reflexiven Rechts, das in seinem Kern eine Entlastung des Staates von Regulierungsaufgaben durch dezentrale Selbststeuerung sowie eine Gesamtsteuerung gesellschaftlicher Prozesse durch
1160
Vgl. hierzu oben S. 54 ff. sowie Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 559 f. Vgl. hierzu oben S. 54 ff. sowie Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 559 f. 1162 Vgl. hierzu oben S. 55 ff. sowie Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17; Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 65. 1163 Vgl. hierzu oben S. 55 ff. sowie Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 17; Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 65. 1164 Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 533 f. Hierzu oben S. 47 f. 1165 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (1981), S. 522 ff. Hierzu oben S. 47 f. 1166 Hierzu oben S. 55 ff. 1167 Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 68. Vgl. hierzu oben S. 54. 1168 Vgl. nur Teubner, ARSP 68 (1982), 13; Teubner/Wilke, ZfRSoz 1984, 4; Teubner, in: Kübler/Zacher/Simitis/Hopt/Teubner (Hrsg.), Verrechtlichung (1984), S. 289; Rosewitz/ Schimank, in: Mayntz/Rosewitz/Schimank/Stichweh (Hrsg.), Differenzierung und Verselbständigung (1988), S. 295; Teubner, Recht als autopoietisches System (1989). Vgl. auch Calliess, Prozedurales Recht (1999); Calliess, in: Micklitz (Hrsg.), Verbraucherrecht in Deutschland (2005), S. 65 1161
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Nutzung des Selbstregulationsvermögens der einzelnen Teilsysteme herbeiführen will, ist dabei erheblicher Kritik ausgesetzt.1169 So sind nicht nur die tatsächliche Effizienz, sondern auch die tatsächlichen ökonomischen Kosten zu hinterfragen.1170 Schwerer wiegt das Problem der fehlenden Legitimation von Wechselwirkungen auf andere autonome Teilsysteme, denen eine Mitwirkung an der Selbstregulierung versagt ist. Es besteht die Gefahr der Entmündigung durch Selbstorganisation1171 und durch die Gewährung neuer Formen der Macht an lokale Machteliten, die nicht legitimiert und deren Entscheidungen rechtlich kaum angreifbar sind.1172 Die Errungenschaften des sozialen, demokratischen und freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaates würden durch die Re-Etablierung gleichsam feudaler Machtstrukturen aufgegeben, in denen sich die Interessen strukturell stärkerer und dominanter Akteure gegenüber den Interessen schwächerer Parteien durchzusetzen drohen. Im Kern ist damit die von Fiss thematisierte Antinomie1173 zwischen dem an objektiven öffentlichen Interessen und Werten orientierten staatlichen Handeln auf der einen und dem am subjektiven Eigeninteresse der betroffenen Akteure ausgerichteten privaten Handeln auf der anderen Seite und damit der Konflikt zwischen neoliberaler Marktideologie und am Gemeinwohl orientiertem Wohlfahrtsstaat angesprochen. Darüber hinaus droht aufgrund der zu erwartenden normativen Fragmentierungdie Diktatur eines postmodernen Relativismus1174, die aufgrund der Delegation staatlicher Steuerung an autonome, dezentrale, indes demokratisch kaum legitimierte Teilsysteme zu einem von den übergeordneten Grundnormen der objektiven Rechtsordnung unabhängigen Nebeneinander einzelner autonomer normativer Ordnungen führen kann. 3. Wandel der Konfliktkultur. Der Wandel von formaler hin zu materialer Rationalität, von imperativer Außen- zu kooperativer Selbstregulierung vollzieht sich dabei nicht nur im Rahmen des Rechts und des Staates, sondern auch im Bereich der Konfliktbeilegung: Für die westlichen Gesellschaften konnte ein in Umfang und Ausmaß in der jüngeren Rechtsgeschichte singulärer, tiefgreifender Wandel der Konfliktkultur nachgewiesen werden, der für Deutschland auch empirisch in einer erheblichen Abnahme der Urteils- und einer signifikanten Zunahme der Vergleichsquote belegbar ist.1175
1169
Hierzu eingehend oben S. 57 Eder, ZfRSoz 1987, 193, 196 Fn. 6. 1171 So Eder, ZfRSoz 1987, 193, 196 Fn. 6. 1172 Eder, ZfRSoz 1987, 193, 196. 1173 Zur Kritik Fissʼ vgl. klassisch Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984) sowie Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1 (1979); Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121 (1982); Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273 (2009). Vgl. hierzu auch oben S. 552 ff. 1174 Hierzu eingehend oben S. 53 ff., 58 ff., 81 ff. 1175 Hierzu eingehend oben S. 59 ff., 62 ff. 1170
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Zwar ist der Gütegedanke als Prinzip informaler, materieller Gerechtigkeit, das die formale Strenge des positiven Rechts komplementär ergänzt und im Wandel der Geschichte unterschiedliche Ausprägungen angenommen hat1176, seit jeher Bestandteil der westlichen Rechtskultur, ja der Rechtskultur insgesamt gewesen.1177 Allerdings waren konsensuale Streitbeilegungsverfahren als gesellschaftliches Konfliktbehandlungsinstrument nicht immer in gleicher Weise verfügbar. Das hat sich mit den wissenschaftlichen Durchbrüchen in der Verhandlungsforschung (Harvard Konzept interessenorientierter Verhandlung1178, wertschöpfende Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne, win-win-Lösungen1179) ab Mitte der 1970er Jahre entscheidend geändert. Sie schufen die theoretische Grundlage für die mit der Pound Conference 19761180 beginnende internationale ADR-Bewegung1181, die zu einer weitreichenden Institutionalisierung des Mediationsverfahrens1182, einer umfassenden nationalen und internationalen Gesetzgebung (US-amerikanischer UMA, englische CPR,
1176
Vgl. hierzu oben S. 173 ff. Zur Rechtsgeschichte konsensualer Streitbeilegung vgl. nur Düll, Der Gütegedanke im römischen Zivilprozessrecht (1931), Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff.; Peters, Gütegedanke (2004). 1178 Zum interessenorientierten Verhandeln nach dem Harvard-Modell vgl. nur Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 23 ff. und Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 77 ff., 167 ff. 1179 Vgl. hierzu eingehend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff. (invent options for mutual gain) sowie Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 1180 Hierzu oben S. 9 ff. Vgl. zur Pound Conference eingehend Judicial Conference of the United States Conference of Chief Justices, 70 FRD 79 (1976) und Levin/Wheeler, The Pound Conference (1979) sowie Strempel, JZ 1983, 596; Subrin, 59 Brook. L. Rev. 1155 (1993); Stempel, 11 Ohio St. J. on Disp. Resol. 297 (1996); Brazil, 18 Ohio St. J. on Disp. Resol 93 (2002); Della Noce, 17 Ohio St. J. on Disp. Resol. 545 (2002); Birner, Das MultiDoor Courthouse (2003), S. 44 ff. 1181 Vgl. zur Entwicklung der ADR-Bewegung eingehend oben S. 9 ff., 60 ff. sowie Menkel-Meadow, 16 Ohio St. J. on Disp. Resol. 1, 1 ff. (2000); Gray, 22 Neg. J. 445, 445 ff. (2006); Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). 1182 Zur Institutionalisierung der alternativen Streitbeilegung in den USA vgl. Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). Vgl. hierzu auch eingehend oben S. 46 f., 732 f. Zur US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte vgl. oben S. 46 ff. sowie MenkelMeadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 1177
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UNCITRAL Model Law on Conciliation, europäische Mediationsrichtlinie1183, ADR-Richtlinie1184 und ODR-Verordnung1185, deutsches MedG, § 15a EGZPO, § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO, § 278a Abs. 1 ZPO, § 54 ArbGG, § 89, 114 SGB V)1186, zu Ansätzen einer Veränderung des Richterbildes (der Richter als Sozialtherapeut1187 und Konfliktmanager, managerial judge1188) sowie zur Etablierung der Mediation als effektives Instrument der Konfliktbeilegung in einer Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche geführt hat. Dabei waren es gerade die staatlichen Zivilgerichte, die im Rahmen ihrer gerichtsverbundenen Mediationsprogramme sowohl im anglo-amerikanischen Rechtskreis als auch in Kontinentaleuropa den Ausgangspunkt und Motor der ADR-Bewegung bildeten. Während dabei in den USA außerhalb der Gerichte ein blühendes ADR-Angebot entstanden ist, wird die Mediation in der staatsgerichteten Konfliktkultur Deutschlands nach dem Fallaufkommen in erheblichem Umfang von gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen getragen.1189
1183 Richtlinie 2008/52/EG v. 21.5.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivilund Handelssachen, ABl. EU L 136 v. 24.5.2008, S. 3. Vgl. hierzu auch die Nachweise oben S. 61, Fn. 340. 1184 Richtlinie 2013/11/EU v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 63. 1185 Verordnung Nr. 524/2013 v. 21.5.2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten v. 21.5.2013, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 1. 1186 Zu den gesetzlichen Grundlagen der Mediation vgl. eingehend oben S. 442 ff. 1187 Zum Richter als „Sozialtherapeut“ oder „Sozialingenieur“ im Kontext der Lehre von der sozialen Funktion des Zivilprozesses vgl. oben S. 667 ff. sowie Baur, JZ 1957, 193, 193 ff.; Freund, DRiZ 1981, 221, 222; Peters, Gütegedanke (2004), S. 51, 159. Vgl. auch Dölemeyer, in: Gouron (Hrsg.), Europäische und amerikanische Richterbilder (1996), S. 359 ff. 1188 Hierzu Resnik, 96 Harv. L. Rev. 374, 445 (1982); Breidenbach, Mediation (1995), S. 18 ff.; Resnik, 86 B.U. L. Rev. 1101, 1140 (2006) sowie die Beiträge zu dem am 21. und 22. April 2006 an der Boston University School of Law veranstalteten Symposium “The Role of the Judge in the Twenty-First Century” vgl. zusammenfassend Nilsen, 86 B.U. L. Rev. 1037 (2006). Zur Problematik des unzulässigen Einigungsdrucks (settlement pressure) vgl. eingehend oben S. 130 ff., 132 ff., 315 ff., 337 ff., 368 f., 411 f., 417 ff., 605 f. sowie Jennings, 6 Ohio St. J. on Disp. Resol. 313 (1991); Lande, 50 UCLA L. Rev. 69, 86 ff. (2003); Bone, 28 Cardozo L. Rev. 1961, 2011 (2007). Aus dem deutschsprachigen Schrifttum vgl. Stürner, JR 1979, 133, 136; Wendenburg, Schutz (2013), S. 54 ff. 1189 Vgl. hierzu eingehend v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 61 ff., 235 ff. sowie für die Modellprojekte in Deutschland Greger, ZRP 2006, 229; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006); Greger, Abschlussbericht (2007); Spindler, ZKM 2007, 79; Greger, ThürVBl. 2010, 6; Greger, AnwBl. 2013, 504; Klamt/Moltmann-Willisch, ZKM 2013, 112. Für gerichtsverbundene Mediationsprogramme in den USA (court-annexed mediation, court-connected mediation) vgl. instruktiv Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 52 ff.; Meyer, Court-connected Alternative Dispute Resolution (2005), S. 63 ff.
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Wie wir im Rahmen unserer Untersuchung weiter gesehen haben, ist der mit dem Beginn der ADR-Bewegung einsetzende paradigmatische Kulturwandel im Verhältnis von Mediation und Zivilprozess auch empirisch belegbar.1190 So ist für Zivilverfahren an den Landgerichten von 1975 bis 2015 eine Zunahme der Vergleichsquote um 163,93 % bei gleichzeitiger Abnahme der Urteilsquote um 43,01 % nachweisbar, so dass im Jahr 2014 zwischen Urteilen und Vergleichen nahezu Parität eingetreten ist (Vergleichsquote: 26,0 % Urteilsquote: 26,2 %).1191 In den Zivilverfahren vor den Amtsgerichten fällt der Trend mit einer Zunahme der Vergleichsquote um 24,36 % und einer Abnahme der Urteilsquote um 17,76 % deutlich geringer aus, was indes auf das höhere Zeitbudget für die mündliche Verhandlung und die damit verbundene intensivere Erörterung der Sach- und Rechtslage an den Landgerichten zurückzuführen sein dürfte.1192 Darüber hinaus ist sowohl in den USA als auch in Deutschland ein signifikanter Rückgang der zivilgerichtlichen Verfahren nachweisbar, so dass mittlerweile vom Phänomen des „verschwindenden Prozesses“ (Vanishing Trial Phenomenon)1193 gesprochen wird: Entsprechend ist in den USA die Zahl der Zivilverfahren, welche das Stadium des Hauptverfahrens erreicht haben, nach einem Höhepunkt im Jahr 1985 bis 2016 um 77,8 % gesunken gesunken, obwohl die Zahl der eingereichten Zivilklagen seit 1962 um das mehr als das Fünffache gestiegen ist.1194 In Deutschland ist die Gesamtzahl der jährlichen Neuzugänge von Zivilverfahren an den Amts- und Landgerichten von 1995 bis
1190 Vgl. hierzu die empirische Untersuchung der zivilgerichtlichen Vergleichsquote in Deutschland oben S. 62 ff. 1191 Vgl. hierzu oben S. 62 f., S. 83 Fn. 351 sowie Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1975-2004); Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2004-2013), Tabelle 5.1.2. 1192 Vgl. hierzu oben S. 62 f., 83, Fn. 351 f. sowie Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1975-2004); Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (2004-2013), Tabelle 2.1.2. 1193 Eingehend hierzu oben S. 44 ff. sowie Galanter, 1 J. Empirical Legal Stud. 459 (2004); Ostrom/Strickland/Hannaford-Agor, 1 J. Empirical Legal Stud. 755 (2004). Vgl. auch Luban, 83 Geo. L.J. 2619 (1995); Kritzer, 1 J. Empirical Legal Stud. 735 (2004); Landsman, 1 J. Empirical Legal Stud. 973 (2004); Resnik, 1 J. Empirical Legal Stud. 783 (2004); Stipanowich, 10 No. 4 Disp. Resol. Mag. 7 (2004); Kovach, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 27 (2005). 1194 Vgl. hierzu eingehend oben S. 59, Fn. 211, 214.
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2015 um 33,18 % von 2,17 Millionen auf 1,45 Millionen Verfahren zurückgegangen.1195 Das im Rahmen der Diskussion um die zunehmende Vergesetzlichung geltend gemachte Argument der Prozessschwemme1196 ist daher zumindest für den Zeitraum ab 1996 empirisch nicht belegbar.1197 Zugleich ist damit auch den Versuchen einer rein staatsökonomisch motivierten Indienstnahme der Mediation jedenfalls zum Teil der Boden entzogen. Insbesondere die USamerikanische Institutionalisierungsdebatte hat eindrucksvoll gezeigt, dass die Instrumentalisierung der Mediation als Vehikel des case managements und damit als Mittel zur Entlastung der Justiz mit erheblichen Gefahren für die Integrität des Verfahrens verbunden ist.1198 Die Förderung der Mediation ist daher nicht in erster Linie aus Gründen der Kostenreduzierung für die staatlichen Justizhaushalte, sondern aufgrund ihres eigenen Wertes als Instrument einer interessengerechten Konfliktbeilegung geboten, die zu einer nachhaltigen, dauerhaften und damit Rechtsfrieden stiftenden Bewältigung von Konflikten führt.1199 Als Motoren der Entwicklung hin zu einer Zunahme der Vergleichsquote und einer Abnahme der Urteilsquote1200 haben in Deutschland vor allem die gerichtsverbundenen Mediationsprogramme – wie etwa das bayrische Güterichtermodell1201 – durch ihre Förderung der Vergleichsbereitschaft der Parteien beigetragen. In England dürften die mit der Nutzung von ADR-Verfahren verbundenen Kostenanreize, die mit dem im Zuge der Woolf-Reform reformierten CPR eingeführt worden sind1202, deutlich zu einer Veränderung der
1195 Statistisches Bundesamt, Justizstatistik der Zivilgerichte: Fachserie 10 Reihe 2.1 (1995, 2015), Tabelle 1.2, 4.1. 1196 Hierzu oben S. 40 ff. mwN. 1197 Hierzu oben S. 62 ff. mwN. 1198 Diese Risiken stehen im Mittelpunkt der US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte. Hierzu eingehend oben S. 46 ff. sowie Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 1199 Zum Verhältnis von Mediation und Gerechtigkeit eingehend oben S. 167 ff. Zur Mediation als gerechtem Verfahren oben S. 179 ff. Zur Mediation als Billigkeit vgl. Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 329 ff. (2005) sowie oben S. 175 ff. Zur rechtsphilosophischen Verankerung der Mediation im Gerechtigkeitsprinzip der regula aurea eingehend oben S. 235 ff. 252 ff. Zur entwicklungspsychologischen Begründung des Mediationsverfahrens vgl. oben S. 249 ff. sowie Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149, 204. 1200 Hierzu oben S. 62 ff. Zu den empirischen Grundlagen vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1975-2004), S. 18, 42. 1201 Vgl. v. Bargen, Gerichtsinterne Mediation (2008), S. 72 sowie Greger, ZRP 2006, 229; Greger, Abschlussbericht (2007). 1202 Vgl. hierzu Greger, JZ 2002, 1020; Wagner, ZKM 2004, 100 sowie oben S. 419 Fn. 398.
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Konfliktkultur beigetragen haben. In den USA hat der Mediation Receptivity Index (MRI) eine erhebliche, indes geographisch inhomogene Verbreitung der Mediation nachgewiesen.1203 Zusammenfassend ergibt sich damit der Befund, dass sich der mit der Hinwendung zur Mediation verbundene Paradigmenwechsel in der Konfliktbehandlung vor dem Hintergrund tiefgreifender Umbrüche der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung vollzieht. Er ist eingebettet in einen umfassenden Wandel des Rechts1204, des Staates1205 und der Konfliktkultur1206: des Rechts vom formal-rationalen zum materiell-rationalen Recht1207, des Staates vom hoheitlich agierenden Eingriffs- zum kooperativen Verhandlungsstaat1208, der Konfliktkultur von der engführenden Fokussierung auf den streitigen Zivilprozess hin zu einer Institutionalisierung des Mediationsverfahrens.1209 Damit hat sich die Prognose Max Webers erfüllt, der bereits 1922 erkannte, dass das Recht „in antiformale Bahnen gedrückt“ wird, so dass „ … unter allen Umständen … als Konsequenz der technischen und ökonomischen Entwicklung … die unvermeidlich zunehmende Unkenntnis des an technischem Gehalt stetig anschwellenden Rechts auf Seiten der Laien … und die zunehmende Wertung des jeweils geltenden Rechts als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparats sein unvermeidliches Schicksal [ist].“1210 Mit der Hinwendung zur Mediation schlägt das Pendel gleichsam zurück zum Prinzip des Informalen, das die einseitige Engführung auf die Strenge des
1203
Prause, 13 Harv. Negot. L. Rev. 131 (2008). Vgl. hierzu auch die theoretischen Vorarbeiten bei Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599 (2007); Prause, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 610 (2007). 1204 Hierzu oben S. 34 ff. 1205 Hierzu oben S. 38 ff. 1206 Hierzu oben S. 59 ff. 1207 Hierzu oben S. 34 f. sowie Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396 ff., 504 ff. Vgl. hierzu auch die instruktiven Betrachtungen von Schluchter, Rationalismus (1979), S. 129 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 14 ff. 1208 Hierzu oben S. 38 ff. sowie Ritter, AÖR 104 (1979), 389; Voigt (Hrsg.), Der kooperative Staat (1995); Schneider, VerwArch 87 (1996), 38 ff.; Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421; Frick, Der freundliche Staat (2001). Einen Überblick bietet Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 561 mwN. 1209 Vgl. zur Institutionalisierung der alternativen Streitbeilegung in den USA Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). Vgl. hierzu auch eingehend oben S. 46 f., 732 f. Zur US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte vgl. oben S. 46 ff. sowie MenkelMeadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 1210 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 512 f.
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formal-rationalen Rechts ausgleicht und so ein im Laufe der Zeit entstandenes Ungleichgewicht wieder ausbalanciert. Im Kern geht es dabei um die uralte Antinomie zwischen Formalität und Informalität, Normativität und Faktizität, Materialisierung und Selbstbeschränkung und letztlich Freiheit und Gerechtigkeit, zwischen denen das Recht seit jeher oszilliert und die im Laufe der Geschichte unterschiedliche Formen angenommen hat: Im fruchtbaren Spannungsverhältnis zwischen ius civile und ius honorarium, common law und equity wie auch im Gegensatz von Begriffsjurisprudenz und Freirechtsschule, Mechanical Jurisprudence und Legal Realism, Positivismus und Interessenjurisprudenz.1211 Die Begründung der Mediation ergibt sich damit aus rechtshistorischer Perspektive aus der Notwendigkeit einer Korrektur, die ein entstandenes Missverhältnis zwischen den Prinzipien des Formalen und des Informalen als komplementären Kehrseiten des Rechts und der Gerechtigkeit ausbalanciert und auf diese Weise Teil einer übergeordneten Entwicklung des Rechts, des Staates und der Konfliktkultur ist, die ihre Ursache in einem tiefgreifenden Wandel der Gesellschafts- und Wirtschaftsverhältnisse findet, der die Steuerungskapazität des Rechts wie auch die des Staates an ihre Grenzen führt und der aufgrund der Überbetonung formaler Rationalität mit den herkömmlichen Steuerungsinstrumenten bislang nicht bewältigt werden konnte. Die Hinwendung zum Prinzip des Informalen erweist sich damit als notwendige Korrektur einer engführenden Fokussierung auf den Zivilprozess. Indem sie den Blick von der Dimension formaler auf die informaler Gerechtigkeit lenkt, nähert die ADR-Bewegung das System der Konfliktbeilegungsformen wieder dem Idealbild der Gerechtigkeit und des Rechts an, das gerade von einer ausgewogenen Balance zwischen Formalität und Informalität geprägt ist, und stellt so die innere Ordnung des Konfliktbehandlungssystems wieder her. cc) Rechtsphilosophie: Mediation als gerechtes Verfahren Rechtsgeschichtlich stellt sich die Mediation als Ausprägung des alle Epochen und Kulturen durchziehenden Gütegedankens1212, als elementarer Grundsatz kooperativen menschlichen Zusammenlebens und als eine der wesentlichen Grundbedingungen menschlicher Existenz dar, die im Wandel der Geschichte ganz unterschiedliche Formen angenommen hat.1213 Sodann haben wir den
1211 Vgl. hierzu Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 18 ff. Zum Spannungsverhältnis zwischen Formalität und Informalität eingehend oben S. 175 ff. 1212 Zur Rechtsgeschichte konsensualer Streitbeilegung vgl. nur Düll, Der Gütegedanke im römischen Zivilprozessrecht (1931); Herberger, RJ 4 (1986), 217 ff.; Peters, Gütegedanke (2004). 1213 Vgl. hierzu oben S. 145 ff.
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rechtsphilosophischen Grundlagen der Mediation nachgespürt und das Mediationsverfahren so in den Zusammenhang der Grundkategorien des Rechts und der Gerechtigkeit gestellt.1214 Dabei haben wir im Vorfeld einige zentrale Fragen der Privatrechtsdogmatik1215 und der Rechtsphilosophie1216 in den Blick genommen und gleichsam en passant im Kontext unserer Untersuchung auf Grundlage der hier vertretenen Auffassung geklärt. Zur Begründung des Mediationsprimats1217 als wesentlichem Element einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre1218 wollen wir den Befund unserer Untersuchung im Folgenden in seinen wesentlichen Grundzügen noch einmal holzschnittartig zusammentragen und mit den übrigen Ergebnissen unserer Betrachtung verknüpfen. 1. Mediation als Ausprägung informaler Billigkeit. Vor dem Hintergrund der die Privatrechtsordnung prägenden Dichotomie von materiellem Gerechtigkeits- und formalem Geltungsanspruch stellt sich das Mediationsverfahren als idealtypische Form privatautonomer, vertraglicher Rechtsgestaltung dar, die als Instrument privatautonomer Rechtsschöpfung an der gerechtigkeitsermöglichenden Funktion des Rechts insgesamt teilnimmt und so der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit dient. Als Ausprägung des Prinzips informaler Billigkeit, das die formale Gerechtigkeit als Kehrseite gleichsam komplementär ergänzt, erfüllt sie im Hinblick auf die Konfliktbeilegung die Funktion der die formale Strenge des positiven Gesetzesrechts ausgleichenden Billigkeit, der equity, der aequitas.1219 Sie ist daherAusdruck einer die Rechtsordnung als Ganzes bestimmenden Materialisierungstendenz1220 und somit Einfallstor für materielle Wertungen. Im Verhältnis zum formalen Recht besteht damit Antinomie, im Verhältnis zum informalen Billigkeitsrecht Kongruenz, im Verhältnis zum Recht insgesamt, in dem die durch den Zivilprozess vermittelte formale und die durch Mediation vermittelte informale Seite des Rechts zu einer Einheit verschmelzen, Identität.
1214
Vgl. hierzu oben S. 68 ff., 167 ff., 177 ff., 230 ff., 235 ff., 252 ff. Vgl. hierzu oben S. 68 ff. (Auflösung der Dichotomie zwischen formalem Geltungsund materiellem Gerechtigkeitsanspruch). 1216 Vgl. oben S. 85 ff. (Naturrecht als Grundparadigma der objektiven Rechtsordnung), 168 ff. (Mediation und Gerechtigkeit), 230 ff. (Mediation und Billigkeit), 235 ff., 252 ff. (regula aurea und das Harvard Modell), 257 ff. (Kants Kritik an der regula aurea und Tragfähigkeit des kategorischen Imperativs). 1217 Vgl. zum Mediationsprimat eingehend oben S. 110 ff., 729 ff., 735 ff., 740 ff. 1218 Hierzu eingehend oben S. 521 ff. 1219 Zum Mediationsverfahren als Ausdruck informaler Billigkeit vgl. oben S. 175 ff., 230 ff. 1220 Vgl. hierzu eingehend oben S. 48 ff. sowie Eder, ZfRSoz 1987, 193, 206; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 542, 558; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 16 ff.; Hesse, Rechtssoziologie (2004), S. 64 ff., 67; Raiser, Rechtssoziologie (6. Aufl. 2013), S. 375 ff. 1215
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2. Transformation von Naturrecht (ius naturae) in gelebtes Recht (ius humanitas). Durch die ihr eigene Struktur ermöglicht die Mediation einen unmittelbaren Zugriff auf die der Rechtsordnung insgesamt zugrunde liegenden Wertgrundsätze, die ihren Ursprung im ius naturae finden und die als normative Quelle ihrerseits Gesetzgebung und Rechtsprechung speisen.1221 Durch den von ihr vorausgesetzten multilateralen Rollentausch1222, der einem reifen Gebrauch der regula aurea1223 entspricht und damit den zentralen Gerechtigkeitsgrundsatz des suum cuique tribuere1224 durch die Verwirklichung der Parteiinteressen rechtspraktisch umsetzt, ermöglicht sie eine effektive Transformation von Naturrecht (ius naturae)1225 in gelebtes positives Recht (ius humanitas). Die Mobilisierung materieller Gerechtigkeit erfolgt dabei keineswegs über den bloßen Verfahrensmechanismus im Sinne eines prozeduralen Gerechtigkeitsparadigmas, sondern durch Infusion verfahrensexterner Wertungen materieller Gerechtigkeit über das Scharnier der regula aurea1226, die den Parteien durch Vermittlung des lumen rationis1227 den Zugang zu materiellen Gerechtigkeitspostulaten ermöglicht. Dieser dem Mediationsverfahren eigene innere Wirkmechanismus bestätigt damit die Kritik an prozeduralen Gerechtigkeitsmodellen1228, die aufgrund der ihnen immanenten Schwächen abzulehnen sind. 3. Die Dichotomie zwischen formaler und materieller Gerechtigkeit. Die Qualifikation der Mediation als gerechtes Verfahren1229, das die der Rechtsordnung zugrunde liegenden Werte materieller Gerechtigkeit für die Parteien mobilisiert und so die Gerechtigkeitspostulate des ius naturae in ius humanitas 1221 Zum Grundsatz der Orientierung der Parteien an den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Wertpostulaten vgl. oben S. 175 ff., 230 ff., 249 f., 283 ff., 293 ff. Vgl. auch oben S. 222 ff., 232 ff., 252 ff. 1222 Zu dem für das Harvard Modell zentralen multilateralen Rollentausch der regula aurea vgl. eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149. Zum Perspektivwechsel vgl. Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. 1223 Vgl. zu einer solchen „second-order interpretation“ der regula aurea aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204 sowie oben S. 250. 1224 Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff. 1225 Zu den naturrechtlichen Grundlagen vgl. oben S. 75, 86 ff., 176, 219, 774 f. sowie Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. sowie Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 388 ff. 1226 Hierzu eingehend oben S. 235 ff. 1227 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu unten S. 101, Fn. 405. 1228 Vgl. hierzu oben S. 80 ff. sowie Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 18 ff. 1229 Hierzu eingehend oben S. 179 ff.
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transformiert, bestätigt darüber hinaus das für das Verhältnis von materiellem Gerechtigkeits- und formalem Geltungsanspruch sowie für die Lösung des Gegensatzes von formaler und materieller Gerechtigkeit gefundene Ergebnis: Indem es die von Schmidt-Rimpler belegte Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus1230 durch das Einschalten des Mediators als vermittelnden Dritten, durch die Transformation der Parteibeziehung und durch den im Wege des multilateralen Rollentauschs ermöglichten Perspektivwechsel der Parteien erhöht, rechtfertigt das Mediationsverfahren zugleich jenen – den Parteien von der Rechtsordnung gewährten – gewährten „Vertrauensvorschuss“, der zur grundsätzlichen Geltung formal wirksamer Vereinbarungen führt. Damit ist klargestellt, dass Modelle formaler Gerechtigkeit ihre Rechtfertigung keineswegs in einem von materiellen Wertungen abgekoppelten, durch Einhaltung eines bestimmten Verfahrens per se gerechte Ergebnisse hervorbringenden prozeduralen Gerechtigkeitsmechanismus, sondern allein darin finden, dass sie die Wahrscheinlichkeit der Mobilisierung verfahrensexterner Wertungen durch einen rechtlichen Zugang zu diesen Wertgrundsätzen materieller Gerechtigkeit deutlich erhöhen. Anders gewendet bietet die Mediation dadurch, dass sie die regula aurea als elementaren Grundsatz sittlichen Verhaltens in nahezu vollkommener Weise implementiert, den Parteien die Möglichkeit, durch die Vermittlung des lumen rationis die Wertungen materieller Gerechtigkeit zu erkennen, in einer rechtlich wirksamen Vereinbarung umzusetzen und so für die Beilegung von Konflikten nutzbar zu machen. 4. Die Dichotomie zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch. Indem die Mediation die sittliche Bindung des Einzelnen als Begrenzung der Privatautonomie verstärkt, die Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus verbessert und so die Wahrscheinlichkeit eines materiell gerechten Ergebnisses erhöht und gerechte Vereinbarungen begünstigt, legitimiert sie zugleich die mit der rechtlichen Geltung formal wirksamer Vereinbarungen verbundene Beleihung des Mediationsvergleichs mit staatlich garantierter und im Ernstfall auch hoheitlich durchsetzbarer Wirksamkeit, seine Erhöhung zum Status des durchsetzbaren Rechts und damit seinen formalen Geltungsanspruch.1231 Die Parteien schöpfen indes bei der Entwicklung der Einigungsalternativen nicht nur aus den der Rechtsordnung insgesamt zugrunde liegenden Wertgrundsätzen durch Zugriff auf die Ebene des das positiven Gesetzesrecht bestimmenden ius naturae, sondern auch aus dem Inhalt des mate-
1230
Vgl. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 151 ff.; Schmidt-Rimpler, FS Raiser (1974), S. 3, 5 ff. 1231 Vgl. hierzu oben S. 81 ff.,
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riellen Rechts selbst, das auf vielfältige Weise im Mediationsverfahren wirksam wird1232. Die Mediation vollzieht sich, wie wir gesehen haben, notwendig im Schatten des Rechts1233, das im Rahmen der Bewertung von Nichteinigungsalternativen, der Entwicklung von Einigungsoptionen und insbesondere als Rückfallordnung1234 von Bedeutung ist. Der rechtliche Geltungsanspruch formal wirksamer Vereinbarungen rechtfertigt sich damit auch aus der Orientierung am positiven Recht und den ihm zugrunde liegenden materiellen Wertungen. Weil ein Versagen des vertraglichen Entscheidungsmechanismus durch das Eingreifen des vermittelnden Mediators ausgeglichen werden kann, geht das Mediationsverfahren als Vertragsmechanismus in seiner Richtigkeitsgewähr über die Möglichkeiten intuitiv – ohne Mitwirkung eines Mediators – ausgehandelter Vereinbarungen deutlich hinaus. Der Mediator als allparteilicher Hüter der Privatautonomie1235, Wächter der Verfahrensintegrität1236 und Garant für die Realisierung eines guten Verhandlungsergebnisses1237 ist dabei zur Intervention befugt und wenn notwendig auch verpflichtet1238. 4. Mediation als gerechtes Verfahren. Damit ist das Mediationsverfahren – in rechter Weise gebraucht – nichts anderes als ein hoch effektiver Transformationsmechanismus von Naturrecht in gelebte Rechtswirklichkeit, von ius naturae in ius humanitas. Und weil der Maßstab der Gerechtigkeit nicht das starre Korsett des positiven Rechts bildet, sondern vielmehr den dem positiven Recht überhaupt erst zugrunde liegenden materiellen Wertungen entstammt, ist es in besonderer Weise geeignet, dem Einzelnen das ihm Zustehende, nämlich das seinen objektivierten Interessen Entsprechende und zur Entfaltung seiner Person Notwendige, zukommen zu lassen und damit den Grundsatz der Gerechtigkeit des suum cuique tribuere weitestgehend zu verwirklichen. Und weil
1232 Zu den Funktionen des materiellen Rechts im Mediationsverfahren eingehend oben S. 284 ff., zu seinen Wirkbereichen oben S. 301 ff. 1233 So Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). Vgl. zur Bedeutung des Rechts in der Mediation eingehend oben S. 149 ff. (allgemein), 280 ff. (materielles Recht), 432 ff. (Verfahrensrecht). 1234 Zur Funktion des Rechts als Rückgriffsordnung vgl. oben S. 299 ff. 1235 Zur Rolle des Mediators vgl. insoweit eingehend oben S. 480 f., 328 f., 333 ff., 360 ff., 461 f. Zur Bedeutung der Privatautonomie als wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Mediation vgl. oben S. 127, 130 ff., 137, 459 ff. 1236 Zum Prinzip der strukturellen Integrität eingehend oben S. 116 f., 546 ff. Zu Fullers Prinzip der strukturellen Integrität und dem Verbot der Rollenvermischung (role confusion) oben S. 114 ff., 327 Fn. 66 sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 24 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 404 ff. (1978). Ebenso Sander, 6 No. 1 Disp. Resol. Mag. 11 (1999). 1237 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses eingehend oben S. 160 ff. sowie unten S. 289 f. Hierzu auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279 1238 Zu den Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflichten des Mediators vgl. oben S. 360 ff. (vertragsautonome Mediation), 408 ff. (gerichtsverbundene Mediation).
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sie damit an der gerechtigkeitsermöglichenden Funktion des Rechts insgesamt teilhat, ist die Mediation nicht nur ein effektives, sondern auch ein gerechtes Verfahren. Aus der Gerechtigkeitskritik des Zivilprozesses hervorgegangen und auf ein gerechtes Ergebnis hin ausgerichtet, ist sie in besonderer Weise mit den Grundfragen der Gerechtigkeit verbunden: Die Gerechtigkeit steht seit jeher in besonderer Weise als eigentliches Thema hinter der Mediation.1239 Vermittelt durch die Grundsätze der intersubjektiven Ausrichtung aufeinander hin1240 und der Gleichheit1241 wirkt die Gerechtigkeit dabei als Gestaltungsprinzip in dreifacher Hinsicht auf das Mediationsverfahren ein: Im Rahmen der Verfahrens- (iustitia legalis)1242, der Austausch- (iustitia commutativa)1243 sowie der Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva)1244. 5. Mediation und Relativismus. Die Mediation ist insofern jedoch keineswegs Ausdruck eines relativistischen, rein formal oder prozedural verstandenen Gerechtigkeitsparadigmas, weil sie – in rechter Weise verstanden – gerade keine autonomen normativen Ordnungen errichtet1245, sondern vielmehr an der Verwirklichung der der Rechtsordnung insgesamt zugrunde liegenden materiellen Wertgrundsätze teilhat, die dem Recht insgesamt aufgetragen ist. Die von Fiss im Rahmen der klassischen ADR-Kritik1246 aufgeworfenen Bedenken greifen daher – wie wir im Rahmen unserer Untersuchung gesehen haben – nicht durch: Die Mediation ist nicht Ausdruck eines Modells neoliberaler, individualistischer Marktideologie, in dem sich die subjektiven Partikularinteressen des Einzelnen gegenüber den objektiven Allgemeininteressen der Gemeinschaft grundsätzlich durchsetzen, sondern aufgrund der sittlichen Bindung des Einzelnen als einem sozialen, in eine Wertegemeinschaft eingebettetem Individuum, das die Anerkennung seiner Rechtsgeschäfte durch die Rechtsgemeinschaft beansprucht, innerhalb der durch die Privatautonomie gezogenen Grenzen zugleich auch Instrument der Bewährung des objektiven Rechts1247.
1239
Vgl. zum Verhältnis der Mediation zur Gerechtigkeit nur oben S. Vgl. zur Ausrichtung der Parteien aufeinander hin als Wesensmerkmal der Mediation oben S. 127 ff. sowie zum Mechanismus des multilateralen Rollentauschs der regula aurea als Voraussetzung tatsächlicher Versöhnung oben S. 249 ff., 252 ff. Zur Versöhnungsfunktion des Mediationsverfahrens vgl. oben S. 569 ff., 578 Fn. 248. 1241 Hierzu oben 181 ff. 1242 Vgl. hierzu oben S. 186 ff. 1243 Vgl. hierzu oben S. 206 ff. 1244 Vgl. hierzu oben S. 217 ff. 1245 Vgl. hierzu oben S. 149 ff., 156 ff. Vgl. zum Problem der mögliche Konstituierung autonomer normativer Ordnungen im Wege der Mediation darüber hinaus oben S. 50 ff., 80 ff., 612 ff., 638 ff. sowie unten 803 f. 1246 Grundlegend Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984) sowie Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1 (1979); Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121 (1982); Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273 (2009). Vgl. hierzu auch oben S. 552 ff. 1247 Vgl. hierzu oben S. 293 ff. 1240
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6. Mediation und Naturrecht. Indem es den Parteien einen unmittelbaren Zugriff auf die der Rechtsordnung insgesamt zugrunde liegenden Postulate materieller Gerechtigkeit ermöglicht, den verzerrenden „Umweg“ über die den Konflikt verformenden abstrakt-generellen Normen des positiven Gesetzesrechts vermeidet und über die Funktion des materiellen Rechts als Orientierungsmaßstab eine umfassende, wertende Auseinandersetzung mit dem positiven Recht und den ihm zugrunde liegenden Wertungen vermittelt, kann die Mediation idealiter zur Verwirklichung naturrechtlich bestimmter Gerechtigkeitspostulate beitragen. Die Verfahrenswirkungen gehen dabei grundsätzlich über den konkreten Konflikt hinaus, weil die Parteien über den mit der Teilnahme am Mediationsverfahren verbundenen Lern- und Transformationsprozess1248 in die Lage versetzt werden, die regula aurea und den mit ihr vollzogenen multilateralen Rollentausch und Perspektivwechsel für ihr weiteres Konfliktverhalten fruchtbar zu machen. Indem die Mediation die Parteien lehrt, Konflikte unter Anwendung der regula aurea als „Summe der vom Menschen erwarteten Verhaltensweisen“1249 beizulegen, zeigt sie ihnen zugleich einen Weg auf, unter Vermittlung des lumen rationis1250 die im konkreten Konfliktfall richtigen und materiell gerechten Handlungsalternativen zu erkennen und ihnen zu folgen. 7. Naturrechtliche Grundlagen der Privatrechtsordnung. Mit der rechtsphilosophischen Bestimmung des dogmatischen Standortes des Mediationsverfahrens innerhalb des Privatrechts wurden aus der Perspektive der Rechtsphilosophie zugleich noch einmal die Grundzüge der naturrechtlich geprägten Privatrechtsordnung geklärt: Wie wir gesehen haben, liegt der deutschen Privatrechtsordnung durch die Anerkennung absolut geltender, unverfügbarer, das positive Recht übersteigender Werte und Gerechtigkeitspostulate ein naturrechtliches Verständnis zugrunde.1251 Weil das Rechtsprinzip materieller Billigkeit, das bonum et aequum, die Rechtsordnung als Ganzes durchzieht, ist Recht immer auch Naturrecht, das durch Konzepte formaler und materieller Gerechtigkeit in gelebte Rechtswirklichkeit transformiert wird. Dabei verfügt das positive Recht (lex humana) in der Tat lediglich insoweit über Rechtsqualität, als es aus natürlichem Recht (lex naturae) hervorgeht, das wiederum die
1248
Zu dem durch die Operationalisierung der regula aurea in Gang gesetzten Lern- und Transformationsprozess vgl. eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff., 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff. sowie unten S. 814 1249 Heiligenthal, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 573, 573. 1250 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu unten S. 101, Fn. 405. 1251 Hierzu eingehend oben S. 85 ff.
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durch Vernunft vermittelte Teilhabe des Menschen am ewigen Recht (lex aeternum) und damit an der Gerechtigkeit darstellt.1252 Die praktische Vernunft, das lumen rationis, ist aus der Perspektive der aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitsphilosophie der Abdruck des göttlichen Lichtes in uns („impressio divini luminis in nobis“1253). Der Inhalt materieller Vertragsgerechtigkeit ist damit – etwa durch den Marktpreis, bei nicht marktfähigen Gütern durch die Ertrags- und Gestehungskosten1254 – bestimmbar1255, so dass den Parteien durch die Bestimmung von Ober- und Untergrenzen ein weiter Einigungsbereich für die Angemessenheit des gefundenen Ergebnisses zusteht. Eine trennscharfe, punktgenaue Aussage auf „Heller und Pfennig“ ist dabei nicht möglich1256, aber auch nicht nötig. Aufgrund der Vermutung der Billigkeit des privatautonom Vereinbarten als Folge der durch das Mediationsverfahren deutlich verstärkten Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus kommt dem formalen Geltungsanspruch des privatautonom Vereinbarten daher Vorrang zu, während materielle Gerechtigkeitserwägungen demgegenüber nur subsidiär im Fall eines Versagens des Vertragsmechanismus und einer Widerlegung der Billigkeitsvermutung des Mediationsvergleichs eingreifen. Steht die Vereinbarung dabei – etwa in den Fällen von Machtungleichgewichten1257, Wahrnehmungsverzerrungen1258, der Sittenwidrigkeit des Vereinbarten und der Beeinträchtigung der Rechte Dritter – im Widerspruch zu den immanenten Wertgrundsätzen materieller Gerechtigkeit, kann der Wertungswiderspruch unter Berücksichtigung der Rechtssicherheit im Ausnahmefall auch nachträglich korrigiert werden. Im Mediationsverfahren wird diese Korrektur gleichsam in das Verhandlungsstadium vorverlagert, wobei der Mediator im Rahmen der ihm zukommenden Aufklärungs- und
1252 Zu den naturrechtlichen Grundlagen vgl. oben S. 75, 86 ff., 176, 219 sowie Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. sowie Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 388 ff. 1253 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. 1254 Larenz, Richtiges Recht (1979), S. 72. 1255 Vgl. hierzu oben S. 213 ff. sowie etwa BGH NJW 2002, 55, 56. So schon Thomas v. Aquin, Summa Theologica, IIa-IIae q. 77 a. 1 co. 1256 Thomas v. Aquin, Summa Theologica, IIa-IIae q. 77 a. 1 ad 1 (“non est punctaliter determinatum“). 1257 Vgl. zur Kompensation von Machtungleichgewichten in der Mediation oben S. 341 ff., 348 ff., 365 ff., 416 ff., 604 ff. sowie Breidenbach, Mediation (1995), S. 127 f 1258 Zum Problem der Wahrnehmungsverzerrungen in Verhandlung und Mediation eingehend vgl. Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. mwN.
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Interventionspflichten1259 – freilich unter Beachtung der von ihm zu respektierenden Grenzen der Privatautonomie, die indes auch tatsächlich bestehen muss – als Wächter der Privatautonomie, Hüter der Verfahrensintegrität und Garant für ein gutes Verfahrensergebnis auf ein den Zielen der Mediation entsprechendes objektiv gerechtes Ergebnis hinzuwirken hat. Den Inhalt einer derartigen Aufklärungs- und Interventionspflicht haben wir unter Berücksichtigung des Riskin-Grid im Rahmen des für die Integration des Rechts in das Verfahren zu entwickelnden Verfahrensmodells näher bestimmt.1260 8. Mediation und die klassische Gerechtigkeitstheorie. Auf dieser Grundlage haben wir sodann ausgehend von den Kriterien der Fairness und der Interessengerechtigkeit als den wesentlichen Maßstäben für ein gutes Verhandlungsergebnis das Harvard-Modell interessenorientierter Mediation in den Kontext der klassischen aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie gestellt1261 und dabei die partizipative Struktur des Mediationsverfahrens1262 sowie die Grundsätze der Interessenorientierung1263 und des Maßstabs der objektiven Kriterien1264 als Ausprägungen der Grundprinzipien der Gerechtigkeit – der iustitia legalis, der iustitia commutativa sowie der iustitia distributiva – identifiziert. Damit erweist sich das Postulat materieller Gerechtigkeit im Hinblick auf Struktur und Ergebnis als zentrales Gestaltungsprinzip des Mediationsverfahrens, das vermittelt durch das Prinzip der intersubjektiven Orientierung der Parteien aufeinander hin1265 sowie durch das Prinzip der Gleichheit (aequalitas)1266 in die Lage versetzt wird, die ihm im Gesamtgefüge der Rechtsordnung
1259
Zu den Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflichten des Mediators vgl. oben S. 360 ff. (vertragsautonome Mediation), 408 ff. (gerichtsverbundene Mediation). 1260 Vgl. hierzu eingehend oben S. 309 ff. Zum Riskin-Grid vgl. Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111 (1994); Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7 (1996); Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1 (2003) sowie aus dem deutschsprachigen Schrifttum Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 83 ff., 87 ff. 1261 Hierzu eingehend oben S. 167 ff., 252 ff. 1262 Hierzu eingehend oben S. 186 ff. 1263 Zur Bedeutung der Interessenverwirklichung für ein gerechtes Ergebnis oben S. 222 ff. sowie zur Bedeutung der Interessen in Verhandlung und Mediation vgl. oben S. 170 f. sowie Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 30 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 167 ff. 1264 Zur Rolle objektiver Kriterien als wesentlichem Bestandteil des Harvard-Modells grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 81 ff. 1265 Zur Bedeutung der Transformation der Parteibeziehung durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin als zentralem Wesenselement der Mediation vgl. oben S. 124 ff. , 471 ff. sowie Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 1266 Vgl. hierzu oben S. 181 ff.
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zugewiesene Funktion als gerechtes Verfahren1267 informaler Billigkeit zu erfüllen. Die intersubjektive Orientierung der Parteien aufeinander hin, die – wie wir gesehen haben – nach Fuller die Mediation in ihrem Wesen bestimmt1268 und durch den der Mediation eigenen Lern- und Transformationsmechanismus1269 der Parteien aktiviert wird, operationalisiert das Prinzip der Gerechtigkeit als Tugend1270, die auf die Beziehung des Einzelnen zu seinen Mitmenschen verweist und sie so für die Lösung konkreter Konflikte nutzbar macht. Die Gleichheit als Maßstab im Dreieck der Gerechtigkeit aus iustitia legalis, commutativa und distributiva wird dabei in der Mediation durch gleiche Partizipation der Parteien am Verfahren, den Ausgleich von Machtungleichgewichten und das Neutralitätsgebot des Mediators (iustitia legalis), die Äquivalenz der ausgetauschten Leistungen auf der Grundlage objektiver Kriterien (iustitia commutativa) und durch die gleiche Berücksichtigung der Parteiinteressen (iustitia distributiva) verwirklicht. 9. Iustitiua legalis und die Verfahrensstruktur der Mediation. Die Verfahrensgerechtigkeit dient der konkreten Ausgestaltung der Mediation als gerechtes Verfahren des Billigkeitsrechts durch Implementierung der sieben Grundprinzipien der Mediation1271 sowie durch Konkretisierung der Verfahrensgrundsätze, die im Wege vertraglicher Mediationsvereinbarungen1272 (Verfahrensordnungen, Mediatorverträge), unverbindlicher Verhaltenskodizes1273, zwingender gesetzlicher Vorschriften1274 sowie durch die Rechtsprechung als Einbruchstellen der Verfahrensgerechtigkeit Eingang in das Mediationsverfahren finden. Indem sie der Herstellung der Voraussetzungen tatsächlicher Vertragsfreiheit, tatsächlich freier Partizipationschancen der Parteien am Entscheidungsprozess und damit dem Schutz der Privatautonomie der Parteien dient und so Einwirkungen auf die freie Willensbetätigung der Parteien ausschließen soll, kommt ihr in der Mediation eine freiheitsermöglichende Funktion zu. Eine
1267
Vgl. hierzu oben S. 179 ff. Hierzu Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971) sowie oben S. 124 ff. 1269 Vgl. zu dem durch die Operationalisierung der regula aurea in Gang gesetzten Lernund Transformationsprozess eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff., 462 ff., 483 ff., 511 ff., 607 ff. sowie 814. 1270 Vgl. hierzu oben S. 179 ff. 1271 Vgl. hierzu oben S. 459 ff. 1272 Vgl. hierzu oben S. 434 ff. 1273 Vgl. hierzu oben S. 434 ff. sowie etwa den Europäischen Verhaltenskodex für Mediatoren, abgedruckt in ZKM 2004, 148. Abrufbar unter http://ec.europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct_de.pdf (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 1274 Vgl. hierzu oben S. 439 ff. 1268
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Richtigkeitsgewähr des Verfahrensergebnisses lässt sich aufgrund der Schwächen prozeduraler Gerechtigkeitstheorien1275 aus der Gewährleistung der Verfahrensgerechtigkeit allein nicht herleiten. Allerdings trägt die Verfahrensgerechtigkeit ganz erheblich zur wahrgenommenen Fairness der Mediation und damit zur Akzeptanz des Verfahrens durch die Beteiligten bei (Procedural Justice effect)1276. 10. Iustitia commutativa und objektive Kriterien. Als materieller Gerechtigkeitsmaßstab dient vor allem in wertverteilenden Verhandlungen das Äquivalenzprinzip als Ausprägung ausgleichender Gerechtigkeit (iustitia commutativa).1277 Damit findet der von der modernen Verhandlungsforschung geforderte Rückgriff auf objektive Kriterien, wie er etwa von Fisher, Ury und Patton für das Harvard-Modell interessenorientierter Verhandlung formuliert worden ist,1278 vor dem Hintergrund der klassischen aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie seine Grundlage im Grundsatz ausgleichender Gerechtigkeit. Entsprechend dem objektiven bzw. materiellen Äquivalenzprinzip nehmen die Parteien dabei einen Ausgleich austauschbedingter Wertverschiebungen vor, um den Gleichlauf von stets gleichbleibendem inneren Wert und der Zuweisung eines nominellen Wertes für den Verhandlungsgegenstand herbeizuführen. Den Maßstab des verum et iustum pretium, der uns im klassischen römischen Recht im Zusammenhang mit der laesio enormis1279 gegenübertritt, bildet dabei der Markt- bzw. Verkehrswert, bei nicht marktgängigen Leistungen oder im Fall eines Marktversagens der Wert der Herstellungs- und Gestellungskosten. Da dieser Wert – wie schon Thomas erkennt – „non est punctaliter determinatum“1280 – nicht punktgenau bestimmbar ist, steht den Parteien insoweit ein Einigungsbereich zu, in dessen Grenzen Leistung und Gegenleistung noch als äquivalent und das Verhandlungsergebnis damit insoweit als gerecht
1275 Hierzu eingehend oben S. 80 ff. sowie Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 18 ff. 1276 Vgl. hierzu oben S. 192 ff. sowie Thibaut/Walker, Procedural Justice (1975), passim; Lind/Tyler, Procedural Justice (1988), S. 64 ff., 67 ff.; Shestowsky, 10 Psychol. Public Policy Law 211 (2004); Törnblom/Vermunt (Hrsg.), Distributive and Procedural Justice (2007); Eigen/Litwin, ILR Review 67 (2014), 171 ff. Zur Bedeutung wahrgenommener Verfahrensfairness instruktiv Klinger/Bierbrauer, ZKM 2006, 36, 38 sowie Gottwald, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963, 977 f. 1277 Hierzu oben S. 206 ff. 1278 Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 81 ff. Vgl. hierzu auch oben S. 171 ff. sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 78 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 64, 223 ff. 1279 C. 4, 44, 2, C. 4, 44, 8. Hierzu eingehend Schulze, laesio enormis (1973); MayerMaly, FS Larenz (1983), S. 395 ff.; Bergmann, Ungerechter Vertrag (2014), S. 5 ff. 1280 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 77 a. 1 ad 1.
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angesehen werden können.1281 Die von der Verhandlungsforschung geforderten objektiven Kriterien1282 als Maßstab für die Bewertung von Einigungsoptionen und für die Wertverteilung sind daher in Wahrheit legitime Kriterien, die als effektives Instrument für die Bewältigung des Verhandlungsdilemmas und damit für die Überwindung von Einigungshindernissen herangezogen werden können. 11. Iustitia distributiva, suum cuique tribuere und Interessen. Der Schritt von den Rechtspositionen zu den hinter ihnen stehenden und dem Konflikt eigentlich zugrunde liegenden Interessen der Parteien1283 bildet als prägender Grundsatz des Mediationsverfahrens die Grundlage für die Überwindung des Nullsummenspiels1284 des binären Schematismus des abstrakt-generellen Gesetzesrechts und für die Realisierung wertschöpfender, pareto-optimaler Kooperationsgewinne durch beiderseits interessengerechte win-win-Lösungen1285. Als Maßstab verteilender Gerechtigkeit (iustitia distributiva)1286, in der es um die Zuordnung der Verhandlungsgegenstände auf der Grundlage subjektiver, in der Person der Parteien begründeter Umstände geht, sind die Parteiinteressen die treffendste Konkretisierung des Gerechtigkeitsgrundsatzes des „suum cuique tribuere“1287. Danach besteht die Gerechtigkeit darin, jedem das ihm zur Entfaltung seiner Person und zur Erhaltung der Grundbedingungen
1281
Hierzu oben S. 213 ff. Vgl. nur Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 81 ff.; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 78 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 64, 223 ff. 1283 Zum Wechsel vom Positionen- zum Interessendenken als Ankerpunkt des Mediationsverfahrens eingehend oben S. 15 f. sowie Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff.; Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27, 30 (2000); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff., 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 46 f., 167 ff. 1284 Vgl. hierzu oben S. 17, Fn. 59 sowie Schelling, The Strategy of Conflict (1980), S. 83 ff.; Breidenbach, Mediation (1995), S. 71 ff. Hierzu aus empirisch-psychologischer Perspektive Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 102, 116 ff. (1990). 1284 Vgl. hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff. sowie Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim. Vgl. auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 1285 Hierzu Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff.; Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 1286 Hierzu oben S. 217 ff. 1287 Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff. 1282
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seiner materiellen und immateriellen Existenz Notwendige zukommen zu lassen. Die zentrale Bedeutung der Bedürfnisse, der Interessen des Einzelnen und damit dessen, was der Einzelne tatsächlich bedarf, findet sich bereits in der klassischen Gerechtigkeitstheorie: So ist das Bedürfnis des Menschen (χρεία) für Aristoteles das, was in Wahrheit alles zusammenhält1288, für Augustinus das, was als subjektiver Maßstab des Nutzwertes1289 den seinen objektiven Wert transzendierenden, tatsächlichen Wert eines Gegenstandes ausmacht und für Thomas von Aquin schließlich der entscheidende Maßstab distributiver Gerechtigkeit, der für ihn im Übrigen auch die Grundlage für die Bestimmung des gerechte Preise bietet („quod mensuras rerum venalium necesse est“1290). Und auch in der modernen Naturrechtslehre von John Finnis bilden die Interessen das zentrale Kriterium distributiver Gerechtigkeit („the primary criterion is need“)1291 und einen grundlegenden Bestandteil des Gemeinwohls („fundamental component of the common good“).1292 Anders als im Zivilprozess, in dem eine äquivalente Wertverteilung im Sinne der iustitia commutativa1293 im Vordergrund steht, kommt der distributiven Gerechtigkeit, die sowohl auf der Wertschöpfungs- als auch auf der Wertverteilungsebene wirksam wird, im Rahmen der Mediation und hierbei insbesondere der Interessen als zentralem Verteilungskriterium eine grundlegende Bedeutung zu.1294 Damit erweist sich die Mediation mit ihrer Hinwendung zu den tatsächlichen Interessen der Parteien dadurch, dass es den Konfliktbeteiligten das ihnen Zustehende zukommen lässt, als Verfahren, das in besonderer Weise der Verwirklichung der Gerechtigkeit im Sinne des suum cuique-Grundsatzes dient.1295 Das Primat der Mediation1296 gegenüber dem Zivilprozess, der Vorrang des Mediationsverfahrens im Wettbewerb der Streitbeilegungsverfahren1297 als wirksames Instrument zur Verwirklichung materieller Gerechtigkeit lässt sich aus rechtsphilosophischer Perspektive somit auch auf der Grundlage der klassischen aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie und der modernen Naturrechtslehre begründen.
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Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 8, 25 ff. Vgl. hierzu oben S. 170 Fn. 16. Augustinus, De Civitate Dei, XI, 16. Vgl. hierzu oben S. 170 Fn. 17. 1290 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIª-IIae q. 77 a. 2 ad 2. Hervorhebungen durch den Verfasser. 1291 Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 174. 1292 Finnis, Natural Law and Natural Rights (1980), S. 174. 1293 Hierzu eingehend oben S. 206 ff. 1294 Eingehend zu den materiellen Kriterien distributiver Gerechtigkeit im Mediationsverfahren oben S. 222 ff. 1295 Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff. 1296 Vgl. zum Mediationsprimat eingehend oben S. 110 ff., 729 ff., 735 ff., 740 ff. 1297 Zum Prinzip des Verfahrenspluralismus vgl. eingehend oben S. 114 f., 541 ff. 1289
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12. Mediation und Procedural Justice Forschung. Der Befund, dass die Mediation als gerechtes Verfahren informaler Billigkeit vermittelt durch die iustitia legalis in besonderer Weise dem Grundsatz der Verfahrensgerechtigkeit als Gestaltungsprinzip unterliegt und aufgrund ihrer Struktur auch prozedural über einen eigenen Gerechtigkeitswert verfügt, ist durch die Prozedural Justice Forschung auch empirisch belegt.1298 So haben empirische Untersuchungen gezeigt, dass Verfahren, die den Parteien eine hohe Prozesskontrolle und weitgehende Partizipationsmöglichkeiten gewähren, von den Beteiligten als fairer und befriedigender wahrgenommen werden.1299 Den Parteien kommt es somit nicht allein darauf an, was sie erhalten, sondern auch wie sie im Verfahren behandelt werden. Damit wurde die Verfahrensfairness als von der Ergebnisgerechtigkeit unabhängiger Faktor für die Bewertung von Verfahren nachgewiesen (Procedural Justice effect)1300. Der Mediation als privatautonomem, kooperativem und beziehungsschonendem Verfahren kommt daher ein eigenständiger Gerechtigkeitswert zu, den wir bereits im Zusammenhang mit der Prägung des Verfahrens durch den Grundsatz der iustitia legalis1301 herausgearbeitet haben und der nun auch empirisch belegt ist. Das Primat der Mediation1302 gegenüber dem Zivilprozess lässt sich damit auch auf der Grundlage der Procedural Justice Forschung empirisch begründen. Wenngleich ein deutlicher Einfluss der Verfahrensgerechtigkeit auf die wahrgenommene Fairness des Ergebnisses nachgewiesen werden konnte, so ist ein kausaler Zusammenhang zwischen Verfahrens- und Ergebnisgerechtigkeit indes nicht belegbar.1303 Zwar werden für die Parteien nachteilige Ergebnisse eher akzeptiert, wenn das Verfahren selbst als fair wahrgenommen wird. Allerdings vermag auch ein faires Verfahren über ein in sich ungerechtes Ergebnis nicht hinwegzuhelfen. Allerdings kann das Verfahren als solches insgesamt als umso befriedigender wahrgenommen werden, je gerechter es ausgestaltet ist und je mehr Partizipationschancen es den Parteien überlässt. Dies ist im Rahmen der Mediation als privatautonomem Verfahren in weitaus größerem Maße gegeben, als dies im
1298
Zur Procedural Justice Forschung eingehend oben S. 192 ff. mwN. Vgl. Klinger/Bierbrauer, ZKM 2006, 36, 38; Gottwald, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 963, 977 f. 1300 Hierzu eingehend Effect Thibaut/Walker, Procedural Justice (1975), passim; Lind/Tyler, Procedural Justice (1988), S. 64 ff., 67 ff.; Shestowsky, 10 Psychol. Public Policy Law 211 (2004); Törnblom/Vermunt (Hrsg.), Distributive and Procedural Justice (2007); Eigen/Litwin, ILR Review 67 (2014), 171 ff. 1301 Zur iustitia legalis vgl. eingehend oben S. 186 ff. 1302 Vgl. zum Mediationsprimat eingehend oben S. 110 ff., 729 ff., 735 ff., 740 ff. 1303 Zur Kritik prozeduraler Gerechtigkeitstheorien vgl. oben S. 80 ff. sowie Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 18. 1299
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
heteronomen Zivilprozess als hoheitlichem Drittentscheidungsverfahren möglich ist.1304 13. Die regula aurea als Kern des Mediationsverfahrens. Im Gang unserer Untersuchung haben wir sodann die regula aurea als den Kern, den von ihr geforderten multilateralen Rollentausch als zentralen Wirkmechanismus des Mediationsverfahrens identifiziert.1305 Der Mediation liegt damit in ihrem Kern eine allgemeingültige, formale und empirisch evidente Norm als Sollenssatz zugrunde, die wie kaum ein anderer Grundsatz materieller Gerechtigkeit Rechtsdenken und Rechtskultur gleichermaßen geprägt hat.1306 Als „sittliche Grundformel der Menschheit“1307, als „Grundregel jeder ‚wahren‘ Ordnung“1308, als „einfaches und wahres Gesetz“1309, als „Summe der vom Menschen erwarteten Verhaltensweisen“1310, als „Naturgesetz“1311, „sittliche Grundnorm“1312 und als „das elementare Gesetz allen Rechts schlechthin“1313, als „fundamental ethical truth“1314, als eines der „Prinzipien der Gerechtigkeit“1315 ist sie in ähnlichen Fassungen in den verschiedensten Kulturen und zu den verschiedensten Zeiten bekannt1316 und damit als endogenes, nicht inkulturiertes und somit universal evidentes Prinzip über Zeiten und Kulturen hinweg anerkannte Richtschnur sozialer Pflichten, universaler Maßstab materieller Gerechtigkeit und allgemeingültiger Maßstab richtigen Handelns.
1304 Vgl. hierfür die vergleichende Strukturanalyse oben S. 107 ff., 586 ff. (Mediationsverfahren), 674 ff. (Zivilprozess). 1305 Vgl. oben S. 235 ff., 248 ff., 252 ff. 1306 Hierzu oben S. 236 ff., 241 ff. 1307 Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 74. 1308 Maihofer, in: Kaufmann (Hrsg.), Begründung des Rechts (1965), S. 52, 78. 1309 Didaskalia Apostolorum, I, 25 = Achelis/Flemming, Die syrische Didaskalia (1904), S. 2. 1310 Heiligenthal, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 573, 573. 1311 Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 454 mwN. 1312 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 496. 1313 Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. 1314 Singer, in: Borchert (Hrsg.), Encyclopedia of Philosophy, Bd. 4 (2. Aufl. 2006), S. 144, 145. 1315 Kaufmann, FS Maihofer (1988), S. 11, 38. Vgl. auch Kaufmann, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1997), S. 185 f. 1316 Vgl. hierzu eingehend Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 494 ff. sowie Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 80 ff., 103 ff.; Schrey, in: Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), S. 575, 575 f. Vgl. hierzu auch Philippidēs, Goldene Regel (1929); Philippidēs, Forschungsberichte (1933).
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In ihrer negativ-prohibitiven („Was du nicht willst, das man dir tuʼ, das fügʼ auch keinem andern zu.“)1317 und in ihrer positiv-hortativen Form („Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“)1318 findet sie ihren Ursprung im liber tobiae1319 des alten und in der Bergpredigt Jesu im Matthäusevangelium des Neuen Testaments1320. Auch wenn die regula aurea zum Gemeingut des griechischen und römischen Schrifttums gehört1321, durchbricht erst das christliche Denken das der pagangriechischen wie auch der römischen Tradition entsprechende Verständnis der regula aurea im Sinne des Vergeltungsdenkens der Talion und reziproker Gegenseitigkeit.1322 Indem es die Goldene Regel mit dem Liebesgebot, der regula caritatis, verbindet, macht es den Weg frei für eine völlig neue Ethik, die auch in jenen anderen Kulturen, die das Prinzip der regula aurea kennen, keine Parallele findet und damit geschichtlich einzigartig ist.1323 Von der Patristik (Justin, Irenäus, Augustinus), Scholastik (Anselm von Canterbury1324, Bonaventura1325 und Thomas von Aquin1326) und weitgehend auch der Naturrechtslehre (Thomasius, Hobbes, Leibnitz) rezipiert1327, erlebt sie nach der Kritik Pufendorfs1328 und vor allem Kants1329 erst Anfang des 20. Jahrhundert und in jüngerer Zeit eine Renaissance. In der Folge haben sich insbesondere Zippelius1330,
1317
Tob. 4, 15. Vgl. hierzu die – sprachlich abweichende Fassung der Einheitsübersetzung: „Was dir selbst verhasst ist, das mute auch einem anderen nicht zu!“ 1318 Mt. 7, 12. Der Text entspricht in seinem Wortlaut damit weitgehend Lk. 6, 31: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.“ 1319 Tob. 4, 15 1320 Matt 7, 12. 1321 Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755, 756 f.; Spendel, FS Hippel (1967), S. 491, 493 sowie Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 103 ff. 1322 Hierzu oben S. 240. 1323 Hierzu oben S. 240. 1324 Anselm von Canterbury, Liber de voluntate Dei, II. = PL 158, 582. 1325 Bonaventura, Commentarius in Evenagelium Lucae, VI, 76 = Bonaventura, in: Collegium a S. Bonaventura (Hrsg.), Opera omnia VII (1895), S. 1. 1326 Thomas v. Aquin, Summa Theologica, IIa-IIae q. 77 a. 1 s.c. 1327 Vgl. Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 76 f.; Dihle, Die goldene Regel (1962), S. 106 ff.; Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755, 757 f. 1328 v. Pufendorf, De jure naturae et gentium (1672), S. 181 (II., 3 § 13 a.E.). Englische Übersetzung bei v. Pufendorf/Oldfather/Oldfather, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 204 f. 1329 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. 1330 Zippelius, Recht und Gerechtigkeit (2. Aufl. 1996), S. 45.
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Spendel1331 und Mayer-Maly1332, Hruschka1333, Singer1334, Radbruch1335, Kaufmann1336, Scholz1337, Dihle1338, Philippis1339 und Reiner1340 eingehend mit der regula aurea beschäftigt, und so ist sie auch für die Grundordnung des deutschen Rechts-, Verfassungs- und Sozialstaates – etwa durch ihren Beitrag zur Entwicklung der Grundrechtsdogmatik des Grundgesetzes und eines Bezugssystems der Sozialpflichtigkeit der Bürger – prägend geworden. Für das Verständnis der Mediation entscheidend ist dabei der ihr eigene Wirkmechanismus des perspektivischen Rollentauschs1341 als universaler Maßstab menschlichen Handelns, den die regula aurea zur Aktualisierung ihres Verhaltensgebotes erfordert. Als universale ethische Verhaltensnorm, die sich in der Konfrontation des Einzelnen mit konkreten Verhaltensanforderungen jeweils thematisch aktualisiert, enthält sie keine konkreten Verhaltensanweisungen, sondern einen Beurteilungsmaßstab, an dem das Verhalten des Einzelnen gegenüber seinen Mitmenschen in einer konkreten Situation zu bewerten ist. Maßstab des richtigen Handelns bilden dabei die eigenen Erwartungen an das Handeln anderer und damit die eigenen Interessen, die nun jedoch in ihrem Geltungsanspruch auf den anderen übertragen, projiziert und so gleichsam zuerkannt werden. Indem sie den Anspruch des Einzelnen auf die Durchsetzung seiner Partikularinteressen zum Maßstab erhebt und ihn in reziproker Weise auf die Verwirklichung der Interessen des anderen überträgt, neutralisiert sie die destruktive Dynamik des Egoismus eigennutzenmaximierender Partikularinteressen, transformiert sie über das Scharnier der Reziprozität in den Altruismus fremdnütziger Interessenverwirklichung, aktiviert kooperatives Verhalten und macht es so für die Beilegung des Konfliktes fruchtbar.1342 Der von der
1331
Spendel, FS Hippel (1967), S. 491 ff. Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755 ff. 1333 Hruschka, JZ 1987, 941; Hruschka, FS Kaufmann (1993), S. 129; Hruschka, JRE 2004, 157. 1334 Singer, in: Borchert (Hrsg.), Encyclopedia of Philosophy, Bd. 4 (2. Aufl. 2006), S. 144 ff. 1335 Radbruch, Rechtsphilosophie (3. Aufl. 1932), S. 70; Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe II (1993), S. 206, 303. 1336 Kaufmann, FS Maihofer (1988), S. 11, 38. Vgl. auch Kaufmann, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1997), S. 185 f. 1337 Maunz/Dürig/Grzeszick, GG (80. EL. 2017), Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 160 f. 1338 Dihle, Die goldene Regel (1962), passim. 1339 Philippidēs, Goldene Regel (1929); Philippidēs, Forschungsberichte (1933). 1340 Reiner, ZphF 3 (1948), 74 ff. 1341 Zu dem für das Harvard Modell zentralen multilateralen Rollentausch der regula aurea vgl. eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149. 1342 Vgl. Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1 ff, Lk 6, 31. 1332
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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Mediation vorausgesetzte Schritt von den Positionen zu den Interessen, das Gedankenexperiment des multilateralen Rollentauschs und des durch ihn eingeleiteten Perspektivwechsels (role taking, trading places, putting yourself into their shoes1343) wird durch den erstaunlichen, in der Regel selbst angelegten Mechanismus verwirklicht: Maßstab des Handelns sind damit nicht die Interessen des anderen, die der Einzelne ihm selbst zubilligt, sondern jene eigenen Interessen, die er für sich selbst in Anspruch nimmt, die nun jedoch zum Maßstab seines Handelns erhoben und dem anderen zugesprochen werden. Im Ergebnis werden so auch die Interessen des ursprünglichen Konfliktgegners in das Handlungsprogramm des Einzelnen einbezogen, werden letztlich selbst zum Maßstab seines Handelns und auf diese Weise mit den Interessen des Einzelnen integriert. Damit verliert die destruktive Dynamik des Egoismus seine Kraft und kann nun für die Kooperation nutzbar gemacht werden. Dadurch wird gleichsam – wie in einer wundersamen Verwandlung – ein auf den ersten Blick paradoxes Ergebnis erzielt: Je größer der Egoismus des Einzelnen ist, umso größer ist zugleich sein Altruismus. Denn je mehr er sich selbst zubilligt, umso mehr wird dem anderen zuerkannt, weil das Maß, mit dem er sich selbst zuteilt, zum Maßstab des Handelns gegenüber dem anderen genommen und ihm zugesprochen wird.1344 Der geheimnisvolle Wirkmechanismus der regula aurea entfaltet auf diese Weise eine erhebliche transformative Wirkungsmacht und ist daher in der Lage, die destruktive Kraft der Egoismen der Parteien, die regelmäßig ganz erheblich zur Eskalation des Konfliktes beitragen, aufzunehmen, gleichsam spiegelbildlich in ihr Gegenteil zu verkehren und in geradezu kongenialer Weise in kooperatives Verhalten zu transformieren. Dabei macht er sich die unter den Bedingungen der Realität immer wieder hervorbrechende Neigung des Einzelnen zu eigennütziger, die Schädigung der Interessen seiner Mitmenschen billigend in Kauf nehmender Interessenverwirklichung, die freilich zutiefst seiner Natur als sozialem, auf Kooperation und auf den anderen hin ausgerichtetem Wesen widerspricht und ihn so in der ihm eingestifteten Natur und in seiner Integrität selbst verletzt, zunutze, mobilisiert sie gleichsam, nimmt sie in Dienst, um sie zu verwandeln, verwandelnd zu heilen und auf diese Weise die verletzte Natur des eigennützigen Menschen durch Korrektur der durch das Verschließen in sich selbst hervorgerufenen Fehlhaltung durch Ausrichtung auf den anderen hin wiederherzustellen. Dass dies nicht nur punktuell, sondern
1343 Grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23 f. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. Zum Perspektivwechsel Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. Eingehend hierzu auch oben S. 248 ff. 1344 Vgl. zum Ganzen eingehend oben S. 241 ff. mwN.
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– wie wir bereits gesehen haben – in einem Lern- und Transformationsprozess1345 geschieht, der grundsätzlich geeignet ist, das Verhalten der Beteiligten nachhaltig zu prägen, stellt wohl einen der wesentlichen Gründe für den Erfolg und die besondere Wirkungsmacht des Mediationsverfahrens dar. Schürmann bringt es auf den Punkt, wenn er bemerkt, dass „die Eigenliebe des Menschenherzens … als der allen bekannte Maßstab für die Liebe zum Mitmenschen empfohlen [wird], womit aber keinesfalls diese Eigenliebe als etwas Gutes anerkannt werden soll, sondern als ein fest verwurzelter [kaum zu beseitigender] Tatbestand vorausgesetzt wird.“1346 Entsprechend dem Ziel, auf das sie ausgerichtet ist, ist die Wirkung der regula aurea und damit auch des Mediationsverfahrens eine dreifache: 1) Gegenseitige Daseinserhaltung, 2) die Implementierung kooperativen Verhaltens durch intersubjektive Ausrichtung der Parteien aufeinander hin und 3) die Überwindung reziproken Denkens.1347 Die regula aurea verlangt vom Einzelnen ein bestimmtes Verhalten seinen Mitmenschen gegenüber: Weil er selbst dieses Verhalten von anderen erwartet, um zur vollen Entfaltung seiner Person und seiner individuellen und sozialen Anlagen zu gelangen, und weil sein Gegenüber ebendieses Verhaltens aus den gleichen Gründen bedarf. Die regula aurea ist somit in ihrer Wirkung auf Daseinserhaltung, auf Ermöglichung der Grundbedingungen sozialen Lebens und damit auf die volle Entfaltung der Persönlichkeit, des Seins des Einzelnen gerichtet. Indem sie dem Einzelnen ein Verhalten auferlegt, das den grundlegenden Interessen des Gegenübers entspricht, und diese an den eigenen Interessen zu messen sind, legt sie zugleich die Grundlage für die Anerkennung eines Systems gegenseitiger Freiheits- und Interessensphären, das die Voraussetzung der objektiven Rechtsordnung unter der Herrschaft des Grundgesetzes, ja jeder Rechtsordnung überhaupt bildet. Entsprechend lassen sich aus der konkretisierenden Anwendung der regula aurea als allgemeinem Rechtsprinzip eine Vielzahl weiterer Verhaltensnormen ableiten: Neben den auf ein bestimmtes materielles Ergebnis gerichteten individuellen Verhaltensnormen der Mediationsparteien etwa die prozeduralen, auf Verfahrensgestaltung, Verfahrensleitung und Verhandlungsverhalten der Parteien gerichteten Verfahrensgrundsätze der Mediation, die Grundrechte der Verfassungsordnung und die positiven Normen des Gesetzesrechts. Dabei setzt es die Gleichheit der Person als mit gleicher Würde ausgestattetem Individuum voraus1348, das gleichen Bedürfnissen nach der vollen Entfal-
1345
Vgl. zu dem durch die Operationalisierung der regula aurea in Gang gesetzten Lernund Transformationsprozess eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff., 462 ff., 483 ff., 511 ff. sowie unten S. 607 ff., 814. 1346 Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1 ff, Lk 6, 31. 1347 Hierzu oben S. 242 ff. 1348 Hierzu oben S. 244 ff.
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tung und der Förderung und Achtung der hierfür erforderlichen Grundbedingungen unterliegt und gewährleistet mit der sich daraus ergebenden Menschenwürdegarantie und dem Gleichheitsgebot zugleich die Eckpfeiler jeder rechtsstaatlichen Ordnung. Diese Gleichheit der Interessen im Hinblick auf Daseinsgewährung, auf Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse menschlichen Seins, auf Entfaltung personaler Würde, auf ein faires, bestimmtes und effizientes Verfahren, auf Schutz davor, geschädigt oder übervorteilt zu werden sowie auf eine dauerhafte, nachhaltige und beziehungsschonende Beilegung des Konfliktes1349 bildet jene Begründung, Grundlage und Legitimation, die den der Mediation eigenen Perspektivwechsel1350 überhaupt erst möglich macht. Und es ist dieser auf die Anerkennung der Gleichheit der grundlegenden Interessen und ihrer gleichen Legitimation basierende Perspektivwechsel, der in der gleichen Würde der Person seinen eigentlichen Ursprung findet und der eine Auflösung und gegenseitige Integration der dann freilich zu konkretisierenden Ausformung der jeweils unterschiedlichen Partikularinteressen der Konfliktparteien in einem beiderseits interessengerechten, pareto-optimalen und wertschöpfenden Verhandlungsergebnis im Sinne einer win-win-Lösung ermöglicht. Durch den von ihr vorausgesetzten Perspektivwechsel bewirkt die regula aurea darüber hinaus eine intersubjektive Ausrichtung der Parteien aufeinander hin und damit das, was Fuller als Wesen des Mediationsverfahrens bezeichnet hat: „ … Its capacity to reorient the parties toward each other, not by imposing rules on them, but by helping them to achieve a new and shared perception of their relationship, a perception that will redirect their attitudes and dispositions toward one another.”1351 Damit überwindet die regula aurea die Fokussierung auf die eigenen Interessen und Rechtspositionen1352, die eine Beilegung des Konfliktes verhindert, transzendiert das dem Zivilprozess eigene reziproke Denken und geht somit weit über den Grundsatz der bloßen Gegenseitigkeit hinaus. Denn sie fordert, wie Schürmann gezeigt hat, gerade nicht 1349 Zur Bedeutung der Transformation der Parteibeziehung für das Mediationsverfahren vgl. grundlegend Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971) sowie oben S. 124 ff., 471 ff. 1350 Eingehend hierzu oben S. 248 ff. sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219. 1351 Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 1352 Vgl. zur Bedeutung des Wechsels vom Positionen- zum Interessendenken als Ankerpunkt des Mediationsverfahrens eingehend oben S. 15 f. sowie Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff.; Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27, 30 (2000); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff., 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 46 f., 167 ff.
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„dem andern das Gute zu tun …, das man von ihm wieder erwartet …, sondern ihm von sich aus das zu tun ..., was man aufgrund der Eigenliebe als wünschenswert erkennt und das man darum auch dem anderen zufügen …. soll.“1353 Diese Erkenntnis des Wesens des Mediationsverfahrens1354 und seines Wirkmechanismus1355 hat weitreichende Konsequenzen. Denn der mit der ADR-Bewegung in Gang gesetzte tiefgreifende Wandel der Konfliktkultur, der weltweit sichtbare und nahezu alle wesentlichen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassende, erstaunliche Durchbruch der Mediation als effektives Verfahren der Konfliktbeilegung, ist in seinem Kern mit der Überwindung des noch dem Gedanken bloßer synallagmatischer Reziprozität im Sinne des do ut des verhafteten kontradiktorischen Denkens zu erklären, das den Zivilprozess in besonderer Weise prägt. Der Antinomie von Goldener Regel und Vergeltungsdenken scheint damit dasselbe Spannungsverhältnis zugrunde zu liegen, das wir bereits für die Dichotomie von Mediation und Zivilprozess herausgearbeitet haben. Umgekehrt bedeutet die Überwindung der bloßen synallagmatischen Reziprozität durch den Gedanken der sehr viel weitergehenden wertschöpfenden Kooperation einen weitreichenden Paradigmenwechsel, der das Primat der Mediation1356 gegenüber dem Zivilprozess und damit den Vorrang der Mediation im Wettbewerb der Konfliktbeilegungsverfahren nachhaltig zu begründen vermag. Wie wir gesehen haben, entsprechen Struktur und Wesen der Mediation in hohem Maß der regula aurea als universaler ethischer Verhaltensnorm: Der von der regula aurea vorausgesetzte Perspektivwechsel im Rahmen eines multilateralen Rollentauschs ermöglicht die Ausrichtung des eigenen Verhaltens an den eigenen Verhaltenserwartungen gegenüber anderen und damit die Projektion der eigenen Interessen als Maßstab der Verwirklichung der Interessen des Konfliktpartners. Der von der Verhandlungsforschung als wesentlich erkannte Schritt von den Positionen zu den Interessen ergibt sich notwendig aus der Forderung der regula aurea, sich die Interessen des anderen nach dem Maßstab der eigenen zu eigen zu machen. Die Notwendigkeit der Interessenerforschung folgt aus dem hierfür erforderlichen vollständigen Wissen über die tatsächlichen Interessen des jeweiligen Gegenübers, die zum Maßstab des eigenen Handelns gemacht werden. Die Mediation stellt sich damit als praktisch handhabbare und insofern vollkommene rechtspraktische Umsetzung der regula aurea dar, die über den ihr eigenen, unmerklichen und zugleich hochwirk-
1353
Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1 ff, Lk 6, Lk 6, 31. 1354 Hierzu oben S. 124 ff. 1355 Hierzu oben S. 168 ff., 252 ff. 1356 Hierzu oben S. 110 ff., 729 ff., 735 ff., 740 ff.
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samen Lern- und Transformationsmechanismus zu einer grundsätzlich nachhaltigen Änderung des Konfliktverhaltens und damit in der Masse zu einer Änderung der Konfliktkultur beiträgt. Die enge Verwandtschaft zwischen regula aurea und Mediation stützt das Verständnis der Mediation als gerechtes Verfahren1357, als New Equity13581359. Denn wenn die Mediation als gerechtes Verfahren der Billigkeit angetreten ist, die Gerechtigkeitsdefizite des Zivilprozesses zu überwinden, so muss sie notwendig der regula aurea als universalem Grundprinzip der Gerechtigkeit entsprechen. Und weil die Goldene Regel als endogene, nicht kulturell geprägte ethische Grundnorm dem Menschen gleichsam eingestiftet ist und dem Einzelnen durch das lumen rationis1360 den Inhalt der materiellen Wertungen des ius naturae erschließt, die der der Rechtsordnung insgesamt idealiter zugrunde liegen, ist die Mediation gleichsam als prozedurale Ausprägung der Goldenen Regel wie diese selbst ein wahrhaft universales, zeiten- und kulturübergreifendes Verfahren. Sie aktiviert die dem Menschen eingestiftete, für seine Existenz notwendige und ihm zutiefst entsprechende Fähigkeit zur Kooperation mit seinen Mitmenschen, korrigiert die durch einseitige Fokussierung auf die eigenen Interessen hervorgerufene Deformation des Egoismus des Einzelnen und stellt die ihm eigene, ursprünglich zukommende Würde wieder her. Die befriedigende Wirkung des Mediationsverfahrens und die von ihm vielfach ausgelöste geradezu begeisternde Euphorie, die nicht nur die Parteien, sondern auch die Person des Mediators betrifft, mag in der das Wesen des Einzelnen berührenden und ihn in der Integrität seines Seins wiederherstellenden, transformierenden und damit heilenden Wirkung des Mediationsverfahrens ihre Ursache haben, das den Einzelnen nicht als Träger von Rechtspositionen, sondern in der ihm tatsächlich zukommenden Würde als Person in den Blick nimmt, ihn auf diese Weise in seinem Wesenskern anspricht und ihm so gerecht wird. Und weil die Mediation als Ausprägung der regula aurea zutiefst der auf Kooperation ausgerichteten Natur des Menschen, seinen natürlichen Interessen und zugleich seiner Eigenschaft als sozialem Wesen und Teil des auf Gegenseitigkeit angelegten Gemeinwesens entspricht, muss sie auch zu beiderseits interessengerechten und damit zugleich auch besseren und gerechteren Ergebnissen führen.1361
1357 1358
Hierzu oben S. 179 ff. So Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 329 ff. (2005). Vgl. hierzu auch oben S. 175 ff.,
230 ff. 1359
So Main, 74 U. Cin. L. Rev. 329, 329 ff. (2005). Vgl. hierzu auch oben S. 175 ff.,
230 ff. 1360
Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu unten S. 101, Fn. 405. 1361 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses eingehend oben S. 160 ff. sowie unten S. 289 f. Hierzu auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279.
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Die Komplementarität des Zivilprozesses zur Mediation1362 und die damit verbundene Antinomie des gerichtlichen Verfahrens zur regula aurea wirft somit zwangsläufig die Frage nach der Legitimität des Zivilprozesses als dominierendes Instrument der Streitbeilegung und seiner Stellung im System der Konfliktbeilegungsverfahren auf. Seine fehlende Kongruenz mit der Goldenen Regel als zentralem Grundsatz materieller Gerechtigkeit muss notwendig zu einer Legitimationskrise des Zivilprozesses führen, der zwar nicht als solcher, jedoch in seiner dominierenden Stellung als „Königsweg“1363 innerhalb des Systems der Streitbeilegung infrage gestellt wird. Die Einbettung der Mediation in das bestehende System grundlegender Rechtsprinzipien stellt damit die Dogmatik der alternativen Streitbeilegung auf ein auch rechtsphilosophisch abgesichertes Fundament. Die mit ihr verbundene Fokussierung auf die Parteiinteressen als von dem gesetzten Recht unterschiedenen, zentralen materiellen Maßstab erweist sich insoweit keineswegs als rechtspolitisches Experiment, sondern als zwangsläufige und geradezu notwendige Konsequenz aus den Geboten materieller Gerechtigkeit, die in der regula aurea als universalem und elementarem Grundprinzip menschlichen Verhaltens ihre besondere, dem Menschen eingestiftete Ausprägung gefunden haben. Die Hinwendung zur Mediation hebt damit aus rechtsgeschichtlicher Perspektive eine systemwidrige Verengung auf und stellt das seit jeher nachweisbare Gleichgewicht zwischen formalem Recht und informaler Billigkeit wieder her.1364 Die Diskussion um die Vorteile informaler ADR-Verfahren, die sich bislang weitgehend auf pragmatische Effizienzerwägungen beschränkt hat, kann nun auch auf rechtsphilosophisch überzeugend begründeter Grundlage geführt werden. 14. Mediation und Kohlbergs Stufenmodell moralischer Urteilsfähigkeit. Die Leistungsfähigkeit der Mediation als Implementierung der regula aurea, die empirische Evidenz der Goldenen Regel als universelles, kultur- und epochenübergreifendes Rechtsprinzip, die Existenz endogener, kulturell nicht geprägter und damit nicht extern induzierter Werte, wie sie dem klassischen naturrechtlichen Verständnis der Privatrechtsordnung entspricht, in welcher der Einzelne vermittelt durch das lumen rationis unmittelbaren Zugriff auf die Ebene des ius naturae und somit auf „jene Wertvorstellungen“ erlangt, „die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind“1365, ist durch Kohlbergs Untersuchung der Entwicklung der moralischen
1362
Vgl. hierzu die vergleichende Strukturanalyse beider Verfahrensarten oben S. 107 ff.,
143 ff. 1363
Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5. Hierzu oben S. 145 f. 1365 BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221, 1225 (Soraya). 1364
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Urteilsfähigkeit des Menschen auch aus entwicklungspsychologischer Perspektive empirisch bestätigt worden.1366 In seiner empirischen Untersuchung der Gewissensbildung von 75 US-amerikanischen Kindern und Jugendlichen konnte er nachweisen, dass die sich kontinuierlich entwickelnde Fähigkeit zum perspektivischen Rollentausch, die zur Heranbildung eines auf Gegenseitigkeit und Gleichheit ausgerichteten Gerechtigkeitsverständnisses notwendig ist, die wesentliche Grundlage für die Entfaltung des moralischen Urteilsvermögens des Menschen bildet. Die Anwendung und das Verständnis der Goldenen Regel als Verhaltensnorm sowie als materieller Maßstab im Rahmen sozialer Konflikte sind dabei abhängig von dem Entwicklungsstand der moralischen Urteilsfähigkeit des Einzelnen. Während auf der ersten Stufe, die von Kindern im Alter von 4-13 Jahren erreicht wird, das der Goldenen Regel zugrunde liegende Prinzip der Reziprozität im Sinne des Vergeltungs- und Austauschdenkens der Talion verstanden wird1367, vollzieht der Einzelne auf der dritten Stufe, die von Kindern im Alter von 8-15 Jahren erreicht wird, bereits einen einfachen, gleichwohl unvollständigen Rollentausch, der Gegenseitigkeit als Austausch der Perspektiven im Sinn der Umkehrbarkeit (reversability) versteht.1368 Ein vollständiger, multilateraler Rollentausch, in dem jeder die Rolle jedes anderen Beteiligten einnimmt und die sich aus den jeweiligen Perspektiven ergebenden Ansprüche wahrnimmt („second-order interpretation of the Golden Rule“1369), wird erst auf der sechsten und letzten Stufe vollzogen, die grundsätzlich von Kindern im Alter von 13-16 Jahren, jedoch nur von 5 % der erwachsenen Amerikaner erreicht wird.1370 Diese Stufe entspricht dem vollständigen, reifen Gebrauch der regula aurea und setzt vollständiges Wissen über Interessen, Positionen und Werte der Beteiligten voraus.1371 Er erfordert damit die für einen derartigen Rollentausch notwendige Offenlegung von Informationen, die in der Mediation durch spezielle Kommunikation und Fragetechniken im Rahmen der Interessenerforschung gewährleistet wird. Der reife Gebrauch der regula aurea im Rahmen eines multilateralen Rollentauschs bildet somit die vollkommene Anwendung des Mediationsverfahrens und bewegt sich nach Kohlberg auf der höchsten Stufe moralischer Urteilsfähigkeit des Menschen. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive bildet die Mediation daher den Schlusspunkt einer kontinuierlichen Entwicklung und Reifung moralischer
1366 Hierzu oben S. 249 ff. sowie Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 8 ff., 19, 149 ff., 197 ff., 202 ff., 410. 1367 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 15 f., 202, 235. 1368 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 18, 24, 148 ff., 410. 1369 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. 1370 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 192. 1371 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149, 203 f. Zu dem für das Harvard Modell zentralen multilateralen Rollentausch der regula aurea vgl. eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff.
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Handlungsfähigkeit, die auf den reifen Gebrauch der Goldenen Regel und im Hinblick auf die Fähigkeit zu kooperativem Verhalten auf die sachgerechte Anwendung der Mediation gerichtet ist. Aus anthropologischer Sicht hat die Mediation auf diese Weise eine erstaunliche Bestätigung als dem Menschen eingestiftetes, natürliches Verfahren der Konfliktbewältigung erfahren. Aus entwicklungsbiologischer Sicht ist dies – wie wir im Folgenden sehen werden – freilich kein überraschendes Ergebnis, weil menschliches Leben wie auch das Leben insgesamt auf Kooperation als Grundprinzip des Lebens ausgerichtet ist.1372 Mit Blick auf die Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre ist dieses empirische Ergebnis aus rechtspolitischer Perspektive allerdings von grundlegender Bedeutung, weil sie das dogmatisch, rechtstheoretisch, rechtsoziologisch, rechtsgeschichtlich und rechtsphilosophisch begründete Ergebnis nun auch aus anthropologischer Sicht absichert und so bestätigt. Das menschliche Leben ist damit nicht nur auf der Kooperation als Grundprinzip menschlichen Seins gegründet, sondern zugleich auch auf die Ausbildung kooperativer Verhaltensweisen und das Erlernen eines reifen Gebrauchs der regula aurea ausgerichtet. Umgekehrt entspricht die streitige, auf dem Vergeltungsprinzip der Talion oder dem bloß synallagmatischen Austauschverhältnis der Gegenseitigkeit und des do ut des beruhgende Konfliktbewältigung aus entwicklungspsychologischer Perspektive einem vergleichsweise niedrigem Entwicklungsniveau moralischer Urteilsfähigkeit, das grundsätzlich von Kindern im Alter von 4-13 Jahren erreicht wird.1373 Dieser Befund bestätigt zugleich die Ergebnisse der modernen Verhandlungsforschung im Hinblick auf die immanenten Schwächen intuitiven Verhandlungsverhaltens, das durch einen dem Basarritual entsprechenden dance of concessions1374, die Fokussierung auf die eigenen Rechtspositionen, das Bemühen um eigennutzenmaximierende Durchsetzung der eigenen Interessen zulasten der Interessen des Verhandlungspartners, die
1372 Vgl. hierzu oben S. 474 ff., 474 ff., 799 ff. sowie Bauer, Prinzip Menschlichkeit (2008), S. 23 ff.; Bauer, Das kooperative Gen (2008), S. 32 f. Vgl. hierzu auch die Forschungen des Entwicklungsbiologen Martin Nowak, dem Direktor am Program for Evolutionary Dynamics an der Harvard University, Sigmund/Nowak, 414 Nature 403 (2001); Nowak/ Sasaki/Taylor/Fudenberg, 428 Nature 646 (2004); Rand/Dreber/Ellingsen/Fuenberg/ Nowak, 325 Science 1272 (2009); Rand/Dreber/Haque/Kane/Nowak/Coakley, 4 Religion. Brain. Behav. 31 (2014); Rand/Peysakhovich/Kraft-Todd/Newman/Wurzbacher/Nowak/ Greene, 5 Nature Comm. 1 (2014) sowie instruktiv Nowak/Highfield, SuperCooperators (2011), passim. Eingehend hierzu unten S. 795 f., 799 f 1373 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 15 f., 202, 235. 1374 Vgl. hierzu Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. Vgl. instruktiv hierzu das Beispiel oben S. 109 Fn. 20.
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Inkaufnahme möglicher Schädigungen der anderen Partei und die Existenz erheblicher, kognitionspsychologisch wirksamer Wahrnehmungsverzerrungen geprägt ist. Das in dieser Weise charakterisierte Verhandlungsverhalten ist ineffektiv1375, weil es sich gleichsam als Fortsetzung des sich im Zivilprozess in informalen Bahnen vollziehenden „Kampfes um das Recht“1376 darstellt. Der Zivilprozess und das intuitive Verhandlungsverhalten erweisen sich damit als sowohl der Natur des Menschen wie auch dem Grundsatz der regula aurea als universaler ethischer Verhaltensnorm gleichermaßen widersprechende Formen der Konfliktbewältigung. Dass diese Beobachtung jedenfalls von einem Teil der Rechtsgemeinschaft geteilt wird, mag die nie verstummte Kritik am Zivilprozess belegen, die im Rahmen der Pound Conference1377 zum Ausgangspunkt und zur Geburtsstunde der ADR-Bewegung geworden ist. Der nachhaltige Erfolg, der „weltweite Siegeszug“ des Mediationsverfahrens, der die Rechtspraxis der Streitbeilegung in einem geradezu paradigmatischen Wandel nachhaltig verändert und im Rahmen der Institutionalisierung auch rechtlich fassbare Formen angenommen hat, findet in der Untersuchung Kohlbergs nun auch aus anthropologischer und entwicklungspsychologischer Perspektive eine empirisch fundierte Begründung. 15. Mediation und die Kritik des kategorischen Imperativs Kants. Im Anschluss an unsere Untersuchung der regula aurea als Kern des Mediationsverfahrens haben wir in der Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Goldenen Regel1378 das konkurrierende Prinzip des kategorischen Imperativs in den Blick genommen und es einer kritischen Würdigung unterzogen.1379 Im Ergebnis unserer Untersuchung hat sich die Kritik Kants an der Goldenen Regel als nicht tragfähig und der kategorische Imperativ als nicht tauglich erwiesen, als universales Rechtsprinzip und damit auch als materieller Gerechtigkeitsmaßstab sowie als Gestaltungsprinzip im Rahmen des Mediationsverfahrens herangezogen zu werden. Eine nähere Betrachtung des kategorischen Imperativs Kants war notwendig geworden, weil dieser jedenfalls in der rechtsphilosophischen Diskussion – mit dem Anspruch eines universalen Rechtsprinzips versehen –
1375 Zur Ineffektivität intuitiven Verhandelns Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 3 ff.; Patton, in: Moffitt/Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279, 288 ff. sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. 1376 v. Ihering, Der Kampf um's Recht (1872), S. 11, 45. 1377 Zur Pound Conference eingehend oben S. 9 ff. sowie Judicial Conference of the United States Conference of Chief Justices, 70 FRD 79 (1976); Levin/Wheeler, The Pound Conference (1979); Strempel, JZ 1983, 596; Subrin, 59 Brook. L. Rev. 1155 (1993); Della Noce, 17 Ohio St. J. on Disp. Resol. 545 (2002); Birner, Das Multi-Door Courthouse (2003), S. 44 ff. 1378 Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. 1379 Vgl. oben S. 257 ff.
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in Konkurrenz zur Goldenen Regel tritt und damit ihre Tauglichkeit als universales Rechtsprinzip, als materieller Maßstab für die Einigungsentscheidung der Parteien im Mediationsverfahren wie auch als prozedurales Modell der Mediation infrage stellt. Darüber hinaus war zu klären, warum der kategorische Imperativ nicht wie die regula aurea zumindest als Grundmodell des Mediationsverfahrens in Betracht kommt. Wie wir gesehen haben, ist die Goldene Regel seit der Spätantike intensiv rezipiert worden und erst in der Neuzeit verstärkt auf Kritik gestoßen, insbesondere die von Kant, der sie in einer Fußnote seiner Metaphysik der Sitten mit einem einzigen Satz als trivial abtut1380 und durch den von ihm erdachten kategorischen Imperativ ersetzt, der sich freilich selbst stark an die Goldene Regel anlehnt. Die abwertende Kritik Kants hatte zur Folge, dass die wissenschaftliche Diskussion um die zuvor als universales Prinzip materieller Gerechtigkeit allgemein anerkannte regula aurea nahezu vollständig zum Erliegen kam und der Diskurs stattdessen maßgeblich vom kategorischen Imperativ als Ersatz für die Goldene Regel bestimmt wurde. So stellt etwa Mayer-Maly fest: „Es mag an einer semirationalen Nachwirkung dieser Haltung Kants liegen, daß das Interesse an der Goldenen Regel bei den Philosophen des 19. Jahrhunderts merklich abflaut und bei den Juristen überhaupt erlischt.“1381 Und Hoche bemerkt: „Dieses Verdikt und Kants eigene Lehre vom Kategorischen Imperativ als dem obersten Prinzip aller Sittlichkeit haben es offenbar fertiggebracht, daß man seither in der deutschen Philosophie die Goldene Regel kaum noch beachtet hat.“1382 Mit der kritischen Auseinandersetzung mit Kants eigener Philosophie ist jedoch auch seine Ablehnung der regula aurea verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Mit den Arbeiten von M. G. Singer1383, Cadoux1384, Blackstone1385 und Wattles1386 im anglo-amerikanischen Schrifttum sowie den Beiträgen von Kelsen1387, Radbruch1388, Kaufmann1389, Zippelius1390, Spendel1391, Mayer-Maly1392
1380
Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755 ff.50 1382 Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450, 355. 1383 Singer, in: Borchert (Hrsg.), Encyclopedia of Philosophy, Bd. 4 (2. Aufl. 2006), S. 144 ff. 1384 Cadoux, 22 Int. J. Ethics 272 (1912). 1385 Blackstone, 3 SJP 172 (1965). 1386 Wattles, Golden Rule (1996), passim. 1387 Kelsen, Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960), S. 367 f. 1388 Radbruch, Rechtsphilosophie (3. Aufl. 1932), S. 70; Radbruch, in: Kaufmann (Hrsg.), Gesamtausgabe II (1993), S. 206, 303. 1389 Kaufmann, Die ontologische Begründung des Rechts (1965), S. 79 f. 1390 Zippelius, Recht und Gerechtigkeit (2. Aufl. 1996), S. 45. 1391 Spendel, FS Hippel (1967), S. 491 ff. 1392 Mayer-Maly, FS Söllner (2000), S. 755 ff. 1381
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Hruschka1393, Reiner1394, Craemer-Ruegenberg1395, Brühlisauer1396 und Hoche1397 in der deutschsprachigen Literatur wurde indes schon bald eine Trendwende eingeleitet, die zu einer Renaissance der Goldenen Regel geführt hat. Insbesondere die Einwände Kants gegenüber der Goldenen Regel vermochten einer näheren Prüfung nicht standzuhalten. So greift Kants nominalistischer Einwand, die Regel könne nicht allgemein gelten, weil dann der Richter einen Verbrecher freisprechen müsste anstatt ihn zu verurteilen1398, schon deshalb nicht durch, weil der von Kant vorgenommene Rollenwechsel einseitig und selektiv erfolgt und damit entwicklungspsychologisch noch keinen reifen Gebrauch der Goldenen Regel darstellt. Nach Kohlbergs Untersuchung entspricht ein derartiger Gebrauch der Goldenen Regel einem Entwicklungsstadium, das von Kindern im Alter von 10-16 Jahren erreicht wird.1399 Anstatt – wie es ein multilateraler Rollentausch eigentlich vorsehen würde – die Situation jedes Beteiligten in die Beurteilung der Handlungsoption einzubeziehen1400, beschränkt sich die Lösung des Problems bei Kant ausschließlich auf die einseitig an den Richter gestellte Frage, wie er denn anstelle des Verbrechers behandelt werden würde. Die Beschränkung der Betrachtung auf den Richter allein ist indes bereits unzulässig, weil seine Entscheidung keine rein private, bilaterale Angelegenheit darstellt, sondern die Rechtsgemeinschaft als Ganzes betrifft. Es wäre daher nicht allein danach zu fragen, wie sich der Richter in der Rolle des Angeklagten, sondern auch danach, wie er sich in der Rolle jedes beliebigen Gliedes der Rechtsgemeinschaft und damit auch des Opfers verhalten würde. Denn wenn der Angeklagte im Hinblick auf den konkreten Fall nicht verurteilt werden will, so will er doch jedenfalls generell, dass die rechtsprechende Gewalt nicht willkürlich, sondern nach Recht und Gesetz handelt. Maßstab ist hier nicht das Handeln, das konkret erwartet wird, sondern ein Handeln, das generell nach denselben Grundsätzen erfolgt, die der Einzelne auch für sich selbst in Anspruch nimmt.1401
1393
Hruschka, JZ 1987, 941; Hruschka, FS Kaufmann (1993), S. 129; Hruschka, JRE 2004, 157. 1394 Reiner, ZphF 3 (1948), 74 ff. 1395 Craemer-Ruegenberg, Moralsprache und Moralität (1975). 1396 Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325 ff. 1397 Hoche, ZphF 32 (1978), 355 ff.; Hoche, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (1992), S. 450 ff. 1398 Hierzu oben S. 257 ff. sowie Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. 1399 Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 24. 1400 Zu einer solchen „second-order interpretation“ der regula aurea aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204 sowie oben S. 250. 1401 Zum Ganzen oben S. 257 ff. sowie Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 330 f.
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Auch der Einwand des Misanthropen-Dilemmas1402, dass die aurea aurea keine Liebespflichten gegenüber anderen enthalte, weil etwa ein Misanthrop keine Wohltaten ihm selbst gegenüber dulden würde, um nicht selbst anderen solche erweisen zu müssen, läuft ins Leere.1403 Denn der einem reifen Gebrauch der regula aurea entsprechende vollständige, multilaterale Rollentausch setzt gerade voraus, dass sich die Beteiligten tatsächlich in die Situation ihres Gegenübers versetzen und dabei freilich nicht ihre eigenen, sondern tatsächlich die Interessen des anderen zugrunde legen.1404 Wenn ein Misanthrop lediglich seine eigene Grundhaltung auf die des anderen überträgt, kann von einem Perspektivwechsel, wie ihn die regula aurea fordert, gerade keine Rede sein. Hierfür ist es vielmehr notwendig, dass er sich der Mühe unterzieht, sich tatsächlich in die Situation seines Gegenübers hineinzuversetzen, vollkommen in die Rolle des anderen schlüpft („put yourself into their shoes“)1405, um so die Situation aus dessen Perspektive, aus dessen Augen, aus dessen Wahrnehmung und Erleben zu betrachten und dabei die Interessen seines Gegenübers zugrunde zu legen – freilich gemessen an dem Standard, den er für sich selbst und für seine Interessen in Anspruch nimmt. Schließlich ist auch der dritte Einwand Kants, die Goldene Regel enthalte keine Pflichten gegenüber sich selbst1406, nicht tragfähig, weil die regula aurea durchaus Pflichten des Einzelnen gegenüber sich selbst enthält, auch wenn dies für ihre Geltung als allgemeines Rechtsprinzip nicht erforderlich ist. Sie muss diese notwendig enthalten, weil die Pflichten gegenüber anderen und gegenüber dem Einzelnen selbst als Kehrseite der jeweils anderen die objektive und subjektive Seite desselben Prinzips bilden.1407 Die Pflichten gegenüber dem Einzelnen selbst sind daher im sozialen Pflichtenkanon notwendig mit enthalten, weil keine Handlung des Einzelnen denkbar ist, die sich nicht direkt oder indirekt auf andere auswirkt. Mit diesem Ergebnis wurde der Kritik Kants die Schärfe genommen und die regula aurea im Zuge ihrer Wiederentdeckung und Renaissance zu Recht wieder an den ihr aufgrund ihrer Bedeutung zukommenden Platz als zeit- und kul-
1402
Kant, Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), S. 68. Hierzu oben S. 261 ff. 1404 Vgl. hierzu Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204 sowie oben S. 250. 1405 Grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 23 f. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204. Zum Perspektivwechsel Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 107 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 159 f., 219 sowie oben S. 248 ff. 1406 Vgl. hierzu oben S. 263 ff. 1407 Cadoux, 22 Int. J. Ethics 272, 273 (1912). 1403
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turübergreifendes, universales Prinzip der Gerechtigkeit gestellt. Damit ist zugleich das von Kant erdachte Prinzip des kategorischen Imperativs, den wir im Hinblick auf seine Tauglichkeit als universalen Grundsatz der Gerechtigkeit näher untersucht haben1408, in den Mittelpunkt unserer Betrachtung gerückt. Der kategorische Imperativ war vom „Alleszertrümmerer“1409 Kant auf dem Reißbrett seiner Vernunftphilosophie entwickelt worden, um nach dem in der Metaphysik der Sitten unternommenen Versuch der Delegitimierung der Goldenen Regel diese als Grundlage einer neuen Ethik zu ersetzen. Auch wenn seinem kategorischen Imperativ als Kunstprodukt von vornherein etwas Artifizielles anhaftete, so bildet er doch nach wie vor in der philosophischen Diskussion wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine feste, unverzichtbare Kategorie, auf die gleichsam reflexiv als höchstem Prinzip der Moral formelhaft verwiesen wird. Seine Rolle in der Alltagsmoral wird freilich sehr begrenzt sein, zumal sein konkreter Inhalt weiten Teilen der Rechtsgemeinschaft im Einzelnen kaum bekannt sein dürfte und seine Rezeption und Anwendung durch die Rechtspraxis dadurch erschwert wird, dass Kant nicht weniger als fünf verschiedene Varianten des eigentlich als universalen Rechtssatz entwickelten kategorischen Imperativs formuliert hat.1410 Wie wir gesehen haben ergibt sich damit der Befund, dass die öffentliche Wahrnehmung und auch die wissenschaftliche Diskussion mit dem kategorischen Imperativ weitgehend noch von einer Kategorie bestimmt werden, die in der praktischen Alltagsmoral eine marginale Rolle spielt, während die Goldene Regel als „sittliche Grundformel der Menschheit“1411 und „elementare(s) Gesetz allen Rechts schlechthin“1412 zwar für die Alltagsmoral und den Reifungsprozess der Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit von erheblicher Bedeutung ist, in der wissenschaftlichen Diskussion und wohl auch in der öffentlichen Wahrnehmung indes in weiten Teilen noch im Schatten des kategorischen Imperativs steht. Die begrenzte Tauglichkeit des kategorischen Imperativs als Rechtsgrundsatz ergibt sich dabei aus der Tatsache, dass sich ihm auch in der Konfrontation mit einer spezifischen Konfliktsituation keine konkreten Verhaltensanweisungen entnehmen lassen.1413 Denn die Regel, dass der Einzelne nach einer Maxime zu handeln habe, die zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann, wirft die Frage auf, was denn nun eigentlich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung zu gelten habe. Denn Gegenstand des Respekts und 1408
Vgl. hierzu oben S. 265 ff. So Röd, Der Weg der Philosophie II (2. Aufl. 2009), S. 158 (eine ursprünglich bis Mendelssohn zurückzuverfolgende Bewertung Kants aufgreifend). 1410 Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 339 f. 1411 Reiner, ZphF 3 (1948), 74, 74. 1412 Fechner, Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1962), S. 101. 1413 Ebenfalls kritisch Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 341; v. Schlieffen, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2002), S. 172, 184 1409
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den Maßstab, an dem das Handeln des Einzelnen zu messen ist, bilden nicht wie bei der Goldenen Regel der einzelne Mensch und seine Interessen, sondern das Gesetz. Das ethische Wert- oder Unwerturteil im Hinblick auf die Legitimation bestimmter Handlungen ergibt sich damit ausschließlich aus ihrer Kongruenz mit dem Gesetz, nicht aufgrund ihres Bezugs zum einzelnen Menschen. Aus der Perspektive des kategorischen Imperativs ist eine Handlung daher ausschließlich deshalb zu befürworten oder abzulehnen, weil sie der verallgemeinernden Abstrahierung zu einem allgemeinen Gesetz zugänglich ist oder nicht, und nicht deshalb, weil sie einem anderen Menschen nützt oder Schaden zufügt. Der einzelne Mensch, die Person als Maß sozialen Handelns, wird im kategorischen Imperativ durch das Gesetz selbst ersetzt, das freilich inhaltsleer bleibt, ja bleiben muss. Denn anders als im Rahmen der Goldenen Regel, bei der für die Konkretisierung der Verhaltensgebote die Interessen, Bedürfnisse und Wünsche der Beteiligten als Grundlage der Entfaltung ihrer Person und ihrer Anlagen, die zur Daseinserhaltung erforderlichen Güter und damit im Sinne des Gerechtigkeitsgrundsatzes des suum cuique tribuere1414 diejenigen Werte zugrunde gelegt werden können, denen der Einzelne als mit personaler Würde ausgestattetes Individuum tatsächlich bedarf, verbietet der kategorische Imperativ gerade einen Rückgriff auf die Interessen der Parteien, weil nach Kant der „Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft ...“.1415 Maßstab materieller Gerechtigkeit sind damit nicht die Interessen und Bedürfnisse der Parteien, sondern Begriffe der reinen Vernunft. Dass dies nicht aufgehen kann, haben wir bereits im Rahmen unserer Untersuchung der prozeduralen Gerechtigkeitstheorien gesehen:1416 Aus bloßer Form lassen sich keine materiellen Inhalte generieren. Sie können nicht dem Verfahren selbst entnommen werden, sondern speisen sich aus verfahrensexternen Quellen, etwa den Wertvorstellungen und Interessen der Parteien oder den der Rechtsordnung zugrunde liegenden Werten. Wie wir gesehen haben, besteht die einzige Möglichkeit, das dem kategorischen Imperativ zugrunde liegende Prinzip der Verallgemeinerung zu retten, in seiner Ergänzung um die jeweiligen Interessen der Parteien.1417 Diese hätte freilich zur Folge, dass das Prinzip des kategorischen Imperativs in der Goldenen Regel aufginge.
1414
Inst. 1, 1, 3; D. 1, 1, 10. Hierzu eingehend oben S. 170 ff. Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 341. 1416 Hierzu oben S. 80 ff. sowie Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (1989), S. 18 ff. 1417 Brülisauer, Kant-Studien 71 (1980), 325, 343. 1415
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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Damit ergibt sich der Befund, dass der kategorische Imperativ – unabhängig von der Frage seiner Tauglichkeit als universales Prinzip der Gerechtigkeit – für die Begründung wie auch die Gestaltung des Mediationsverfahrens nicht herangezogen werden kann. Zugleich wurde das Prinzip des kategorischen Imperativs Kants gleichsam en passant einer grundlegenden Kritik unterzogen, die seine Eignung als universales Rechtsprinzip grundsätzlich infrage stellt.1418 Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Kritik Kants hat sich damit die Leistungsfähigkeit der regula aurea als universaler Maßstab ethischen Handelns bestätigt. Das Primat der Mediation1419 gegenüber dem Zivilprozess als prozedurale Ausprägung der regula aurea ist somit in ihrem Verhältnis zum kategorischen Imperativ Kants legitimiert und auch im Hinblick auf die Vernunftlehre Kants auf eine rechtsphilosophisch gesicherte Grundlage gestellt. dd) Interdisziplinärer Befund: Das Prinzip der Kooperation Nachdem wir in den vorangegangenen Abschnitten die Ergebnisse unserer Untersuchung des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess aus der Perspektive unterschiedlicher Teildisziplinen des Rechts holzschnittartig im Mosaik einer gleichsam synoptischen Synthese zusammengetragen haben, um auf dieser Grundlage das Primat des Mediationsverfahrens im System einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre näher zu begründen, wollen wir nun den Blick über den Horizont der Rechtswissenschaft und ihre Teildisziplinen hinaus weiten und in einem kurzen Überblick den interdisziplinären Befund der Forschung auf dem Gebiet der Kooperation zusammentragen, sie in den Kontext des Mediationsverfahrens stellen und sie für die Begründung des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess im System einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre fruchtbar machen. Dabei wollen wir zunächst die Rolle der Kooperation im Mediationsverfahren in den Blick nehmen und uns sodann in einem kurzen Überblick den Ergebnissen der Kooperationsforschung auf den Gebieten der Kognitions- und Sozialpsychologie, der Ökonomik, der Spieltheorie sowie der Neuro- und Entwicklungsbiologie zuwenden. 1. Kooperation als Kern des Mediationsverfahrens. Wie wir gesehen haben, ist Kooperation als Gegenpol zum aggressiven Konfliktverhalten ein Verhaltensmodell von enormer Wirkungsmacht, das die Wahrnehmung1420 sowie das weitere Interaktionsverhalten der Parteien verändert und auch die Struktur1421
1418
Hierzu oben S. 257 ff. Zum Mediationsprimat vgl. eingehend oben S. 110 ff., 729 ff., 735 ff., 740 ff. 1420 Zum Problem der Wahrnehmungsverzerrungen in Verhandlung und Mediation eingehend vgl. Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. mwN. 1421 Vgl. hierzu oben S. 129 ff., 586 ff. 1419
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des Verfahrens entscheidend prägt. Indem sie überhaupt erst kreativ-wertschöpfende Einigungen, die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne im Sinne beiderseits interessengerechter win-win-Lösungen1422 ermöglicht, hat sie zugleich einen erheblichen Einfluss auf die materiellen Verhandlungsergebnisse der Parteien. In ihrem Kern auf die Ausrichtung der Parteien aufeinander hin gerichtet, geht sie untrennbar aus der regula aurea1423 hervor und ist damit auf das Engste mit dem Wesen des Mediationsverfahrens1424 verknüpft, das nach Fuller gerade in der Ausrichtung der Parteien aufeinander hin besteht1425. Aufgrund ihrer engen Verknüpfung mit der Goldenen Regel ist die Kooperation daher das eigentliche „Geheimnis“ des Mediationsverfahrens und seines Erfolges, weil sie den Schlüssel für die Realisierung immaterieller und materieller Wertschöpfung, für die Transformation der Parteibeziehung1426, die prozedurale und materielle Qualität der Konfliktbeilegung sowie für die langfristige Veränderung des Konfliktverhaltens der Parteien bildet, die durch den der Mediation eigenen Lernprozess bewirkt wird1427. Seinen Ursprung findet das Prinzip der Kooperation in der schöpferischen Kraft der dem Wesen des Menschen zutiefst entsprechenden caritas als Grundprinzip des Lebens, aus dem alles Leben hervorgeht, auf das es ausgerichtet ist und dem es zur Erhaltung seiner Existenz und seiner Fruchtbarkeit verbunden bleiben muss.1428 Es ist jene ἀγάπη, die nicht bei sich selbst stehen, nicht in den Begrenzungen der Selbstbezogenheit des Einzelnen gefangen bleiben kann, sondern stattdessen über sich selbst hinausgeht und gerade in der Ausrichtung auf den anderen hin ihre Fruchtbarkeit gewinnt. Indem der Einzelne in ihr den Zirkel des Kreisens um sich selbst durchbricht, tritt er auch tatsächlich in den Wirkbereich der Grundordnung des Lebens ein. Die fundamentale Bedeutung des Kooperationsprinzips ist in den vergangenen Jahren vor allem durch die Fortschritte interdisziplinärer Forschung im Schnittpunkt von Entwicklungsbiologie, Spieltheorie und Neurowissenschaften in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Vor allem die Forschungen des Biologen Martin Nowak, Direktor
1422 Vgl. hierzu eingehend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 56 ff. sowie Brams/Taylor, Win-Win Solution (1999), passim sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 54 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 174. 1423 Vgl. hierzu oben S. 235 ff., 252 ff., 249 ff. 1424 Eingehend oben S. 124 ff., 168 ff., 252 ff. 1425 Hierzu oben S. 124 ff. 1426 Zur Bedeutung der Transformation der Parteibeziehung durch Ausrichtung der Parteien aufeinander hin als zentralem Wesenselement der Mediation vgl. oben S. 124 ff. , 471 ff. sowie Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). 1427 Zum Lern- und Transformationsprozess vgl. eingehend oben S. 567 f., 664 f., 782 f. 1428 Bauer, Prinzip Menschlichkeit (2008), S. 23 ff.; Bauer, Das kooperative Gen (2008), S. 32 f.
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des Program for Evolutionary Dynamics1429 an der Harvard University haben nachgewiesen, dass das Kooperationsprinzip nicht nur nützlich, sondern geradezu konstitutiv für die Entwicklung menschlichen Lebens ist.1430 Sie ist die „Triebfeder der Evolution“1431, der „Schlüssel zum Spiel des Lebens“1432, gleichsam die „die Urformel aller lebendigen Schöpfung“1433. Die Hierarchie des Lebens, so Nowak, beruht auf Kooperation. Das Kooperationsprinzip zieht sich als strukturgebendes Prinzip durch alle Aspekte menschlichen Lebens, beginnend auf der molekularen und zellulären Ebene, über das soziale Verhalten des Menschen bis hin zur Interaktion ganzer Populationen, Gesellschaften und Staaten. Der Befund der Spieltheorie1434, der interdisziplinären Gerechtigkeitsforschung1435 sowie der Verhandlungsforschung1436 wird damit auch von Seiten der theoretischen Entwicklungsbiologie
1429
http://www.ped.fas.harvard.edu (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). Vgl. zu den Forschungen Nowaks Sigmund/Nowak, 414 Nature 403 (2001); Nowak/ Sasaki/Taylor/Fudenberg, 428 Nature 646 (2004); Rand/Dreber/Ellingsen/Fuenberg/ Nowak, 325 Science 1272 (2009); Rand/Dreber/Haque/Kane/Nowak/Coakley, 4 Religion. Brain. Behav. 31 (2014); Rand/Peysakhovich/Kraft-Todd/Newman/Wurzbacher/Nowak/ Greene, 5 Nature Comm. 1 (2014) sowie instruktiv Nowak/Highfield, SuperCooperators (2011), passim. 1431 Nowak, in Süddeutsche Zeitung v. 7.5.2011, S. 25. 1432 Hierzu Nowak/Highfield, SuperCooperators (2011), S, 125 ff.l 1433 Nowak in, Süddeutsche Zeitung v. 7.5.2011, S. 25. 1434 Vgl. hierzu oben S. 287 ff., 462 ff., 474 ff. sowie Rapoport/Chammah/Rapoport, Prisoner's dilemma (1965), passim; Axelrod/Hamilton, 211 Science (N.S.) 1390 (1981); Axelrod, The Evolution of Cooperation (1984), S. 113 ff., 130 ff. Vgl. auch BühringUhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 83 f., 138 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 59 ff., 62 f. 1435 Vgl. zur interdisziplinären Gerechtigkeitsforschung Gerechtigkeitsforschung grundlegend Ockenfels, Fairneß, Reziprozität und Eigennutz (1999), S. 37 ff., 131 ff. sowie Güth/Kliemt/Ockenfels, 50 J. Econ. Behav. Organ. 465 (2003); Bolton/Ockenfels, in: Plott/Smith (Hrsg.), Handbook of experimental economics results I (2008), S. 531; Bolton/Ockenfels, in: Baurmann/Lahno (Hrsg.), Perspectives in Moral Science (2009), S. 199; Ockenfels/Raub, KZfSS (Sonderheft 50) 2010, 119. 1436 Vgl. hierzu grundlegend Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991) sowie Fisher/Brown, Getting Together (1989); Ury/Brett/Goldberg, Getting Disputes Resolved (1993); Fisher/Kopelman/Schneider, Beyond Machiavelli (1994); Stone/Patton/Heen/ Fisher, Difficult Conversations (2000); Moffitt/Bordone, The Handbook of Dispute Resolution (2005); Fisher/Shapiro, Beyond Reason (2006); Lewicki/Saunders/Barry, Negotiation (5. Aufl. 2006); Lax/Sebenius, 3-D Negotiation (2006) sowie die case books Folberg/Golann/Kloppenberg/Stipanowitch, Resolving Disputes (2005); MenkelMeadow/Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005); Folberg/Golann, Lawyer Negotiation, (2006); Menkel-Meadow/Schneider/Love, Negotiation, (2006); Goldberg/ Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012). Aus dem deutschsprachigen Schrifttum vgl. nur Risse, Wirtschaftsmediation (2003); Henssler/Koch (Hrsg.), Mediation in der Anwaltspraxis, (2. Aufl. 2004); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungs1430
984
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
bestätigt. Es ist die Erkenntnis des Primats der konsensualer ADR-Verfahren, insbesondere der Mediation1437, die in der Entscheidung des BVerfG zur Zulässigkeit des obligatorischen Schlichtungsverfahrens nach § 15a EGZPO mittlerweile auch bin der verfassungsrechtlichen Judikatur Niederschlag gefunden hat: Die Erkenntnis, dass der Versuch, „eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, … auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung“1438 ist. Dies ist indes nichts anderes als die Forderung der klassischen Moralphilosophie, die im multilateralen Rollentausch des Reziprozitätsprinzips der regula aurea nicht nur auf den Punkt gebracht ist, sondern zugleich als praktisch umsetzbares Verhaltensmodell Ausdruck gefunden hat. Dies ist indes nichts anders als der Kern des Mediationsverfahrens, der Kern interessenorientierter Verhandlung nach dem Harvard Modell, das damit ebenfalls Absicherung in der jüngsten naturwissenschaftlichen Forschung gefunden hat. Prozedural realisiert wird das Prinzip der Kooperation in der Mediation durch die Verfahrensstruktur, abgesichert wird es durch die Verfahrensgrundsätze1439, über deren Verwirklichung der Mediator als Hüter des Verfahrens wacht. Wirksam wird das Kooperationsprinzip, wie wir gesehen haben, auf einer Vielzahl von Ebenen, die sich in ihrer Bedeutung für die Mediation insgesamt nur in einer Zusammenschau erfassen lassen, der wir uns nun im Folgenden zuwenden wollen. 3. Kognitions- und Sozialpsychologie. Auf der Ebene der Kognitionspsychologie bewirkt Kooperation einen Ausgleich konfliktbedingter Wahrnehmungsverzerrungen1440 und eine Begrenzung der negativen Auswirkungen kognitiver Wahrnehmungsbarrieren1441. Im Hinblick auf die Eigenwahrnehmung ermöglichen ein intensiver Informationsaustausch mit dem Konfliktpartner sowie die reflektierende Konfrontation mit möglichen Schwächen der eigenen Position, die regelmäßig im Rahmen von Einzelgesprächen
management (2009); Haft/v. Schlieffen, Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009); Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011); Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015). 1437 Hierzu eingehend oben S. 110 ff. sowie 729 ff., 735 ff., 740 ff. 1438 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 1439 Hierzu oben S. 447 ff. 1440 Vgl. hierzu Thompson, The Mind and Heart of the Negotiator (3. Aufl. 2004), S. 27; Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 41 ff.; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 26 ff. mwN. 1441 Vgl. hierzu Ross, 7 Neg. J. 389 (1991); Mnookin, 8 Ohio St. J. on Disp. Resol. 235 (1993); Arrow/Mnookin/Ross/Tversky/Wilson, Barriers to Conflict Resolution (1995); Golann, 6 ADR Currents 6 (2001).
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
985
(caucus)1442 mit dem Mediator als agent of reality erfolgt, eine kritische Bewertung der eigenen Nichteinigungsalternativen (reality check) und damit eine effektive Begrenzung des regelmäßig auf selektiver Wahrnehmung beruhenden Überoptimismus1443. Zugleich erlaubt der mit der Kooperation stets verbundene Perspektivwechsel die Überwindung attributioneller Wahrnehmungsverzerrungen und die Neutralisierung des Mechanismus reaktiver Abwertung.1444 Die mit der gemeinsamen Problemlösung einhergehende persönliche Nähe der Parteien (exposure effect, propinquity effect) und das Entdecken von Gemeinsamkeiten (similarity-attraction effect)1445 haben darüber hinaus einen positiven Effekt auf die emotionale Beziehung und die gegenseitige Wahrnehmung der Beteiligten und richten sie aufeinander hin aus, so dass das Beziehungsband zwischen ihnen fortbesteht. Indem sie überhaupt erst die Möglichkeit der gemeinsamen Wertschöpfung eröffnet und die Realisierung pareto-optimaler Prozessgewinne ermöglicht, trägt die Kooperation der Parteien ganz erheblich zur Überwindung des Nullsummenmythos (fixed pie conception)1446 als wesentlicher Einigungsbarriere bei, deren Bewältigung für den Erfolg der Mediation von zentraler Bedeutung ist. Mit dem Wechsel vom aggressiv-kontradiktorischen Positionen-1447 hin zum deeskalierend-konsensualen Interessendenken1448 verändern die Parteien nicht nur den Fokus des Verhandlungsobjektes, sondern auf sozialpsychologischer
1442
Hierzu eingehend Calkins, 54 Drake L. Rev. 259 (2006); Menkel-Meadow/ Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 355 ff. 1443 Hierzu vgl. Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 44 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 28 f., 239 ff.; Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 372 f. 1444 Zum Phänomen der reactive devaluation eingehend Ross, 7 Neg. J. 389 (1991); Ross, in: Arrow/Mnookin/Ross/Tversky/Wilson (Hrsg.), Barriers to Conflict Resolution (1995), S. 26, 26 ff. 1445 Zum exposure effect, den propinquity effect sowie den similarity-attraction effect eingehend Zajonc, 9 J. Pers. Soc. Psychol. 1 (1968); Segal, 30 J. Pers. Soc. Psychol. 654 (1974); Griffin/Sparks, 7 J. of Soc. and Pers. Relationships 29 (1990); Thompson, Negotiator (6. Aufl. 2015), S. 138 sowie oben S. 476 1446 Vgl. hierzu Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 102, 116 ff. (1990) sowie aus dem deutschen Schrifttum Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 6 f., 55; Duve/ Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 49 1447 Zum kontradiktorischen Rollenzwang des Zivilprozesses vgl. oben S. 24 ff. 1448 Zur Bedeutung des Wechsels vom Positionen- zum Interessendenken als Ankerpunkt des Mediationsverfahrens eingehend oben S. 15 f. sowie Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 41; Lax/Sebenius, in: Breslin/Rubin (Hrsg.), Negotiation Theory and Practice (1993), S. 161; Breidenbach, Mediation (1995), S. 69 ff.; Love, 38 Fam. & Conciliation. Cts. Rev. 27, 30 (2000); Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 ff., 30 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 46 f., 167 ff.
986
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Ebene zugleich auch ihr Verhandlungsverhalten in grundlegender Weise, indem sie die eigentlich für den Zivilprozess typischen vordefinierten Rollen einander sich antagonistisch gegenüberstehender Gegner verlassen und jeweils die Rolle des kooperierenden Problemlösers einnehmen. Damit wird die weitere Eskalation des Konfliktes verhindert, ein Goffmanʼscher „character contest“1449 als abgeleiteter Metakonflikt1450 vermieden und die destruktive Dynamik der Konfliktspirale deutlich entschärft. Darüber hinaus wurde in empirischen Studien nachgewiesen, dass kooperatives Verhandlungsverhalten regelmäßig zu deutlich besseren, häufig beiderseits interessengerechten Verhandlungsergebnissen führt1451, während aggressiv-kompetitive Strategien der Konfliktbewältigung, die weitgehend dem intuitiven Verhandlungsverhalten des bargaining entsprechen, deutlich hinter den Möglichkeiten kooperativer, interessenorientierter Verhandlung zurückbleiben und regelmäßig zu ineffizienten Verhandlungsergebnissen1452 sowie regelrechten lose-lose agreements führen können.1453
1449
Hierzu Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff.; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 sowie oben S. 24 ff. 1450 Eingehend hierzu oben S. 15 ff. sowie Aubert, The Hidden Society (1965), S. 98 f.; Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 104; Aubert, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 178, 191; Galtung, in: Bühl (Hrsg.), Konflikt und Konfliktstrategie (1972), S. 113, 139; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/ Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186. 1451 Zur Ineffektivität intuitiven Verhandelns vgl. auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 3 ff. sowie Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 5 f.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 43 ff. 1452 Vgl. zu dem eindrucksvollen empirischen Befund nur Schneider, 6 Disp. Resol. Mag. 24, 28 (2000) („Second, as adversarial bargaining has become more extreme, it has also become far less effective. This is a key lesson for those hoping to become effective ‚Rambo‘ negotiators.“); Schneider, 7 Harv. Negot. L. Rev. 143, 196 (2002) („The myth of the effective hard bargainer should be destroyed. In each cluster analysis, increasingly adversarial behavior was perceived as increasingly ineffective. … As adversarial bargainers became nastier in the last 25 years, their effectiveness ratings have dropped.); Tinsley/ O‘Connor/Sullivan, 88 Org. Behav. & Hum. Decision Processes 621 (2002) (Tough Guys Finish Last: The Perils of a Distributive Reputation). 1453 Ein solches kann schon bei einem „normalen“ Kompromiss gegeben sein. Zu loselose agreements vgl. Thompson/Hrebec, 120 Psychol. Bull. 396, 400 ff. (1996).
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
987
4. Ökonomik und Spieltheorie. Wie wir gesehen haben, bieten Strategien der additiven und synergetischen Kooperation erhebliche Wertschöpfungspotentiale. So können etwa durch das Ausnutzen von Unterschieden1454 und Gemeinsamkeiten1455, von Interessen- und Zeitpräferenzen1456 sowie durch den unterschiedlichen Zugang zu Ressourcen1457 erhebliche Skaleneffekte und interessengerechte Lösungen erzielt werden. Darüber hinaus ermöglicht Kooperation wertschöpfende Einigungsoptionen, die über die kosten- und zeiteffiziente Realisierung vorhandener Werte hinausgehen und so etwas grundlegend Neues hervorbringen, das die Summe der von den Parteien zur Verfügung gestellten Einzelbeiträge übersteigt. Schließlich hat auch die Spieltheorie1458 die Bedeutung kooperativen Verhaltens mathematisch erfasst und im Rahmen des Gefangenendilemmas1459 und der kooperativen Lösungsstrategie „Tit for Tat“1460 mathematisch nachgewiesen, dass allein kooperative Strategien zu einem maximalen Nutzen für alle Beteiligten führen, während Strategien der Konfrontation oder der Eigennutzenmaximierung für den Einzelnen wie auch für die Gruppe nachteilig sind. 5. Neuro- und Entwicklungsbiologie. Wesentliche Impulse für die Kooperationsforschung gehen derzeit von der Neuro- und Entwicklungsbiologie aus. So konnte in einer Vielzahl von Arbeiten nachgewiesen werden, dass menschliches Leben von seiner sozialen Interaktion über das Motivationssystem bis hinab in seine neuronalen Korrelate wesentlich vom Grundprinzip der Kooperation bestimmt wird. Kooperatives Verhalten stellt damit keine Ausnahme dar, sondern ist eine grundlegende Eigenschaft menschlichen Lebens, ja des
1454 Vgl. hierzu Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 56 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 189 ff. 1455 Vgl. hierzu Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 62 ff.; .; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 189 f. 1456 Vgl. hierzu Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 60; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 192 ff. 1457 Vgl. hierzu Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 57, 61; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 160, 189 ff., 285. 1458 Vgl. hierzu oben S. 287 ff., 462 ff., 474 ff. sowie Rapoport/Chammah/Rapoport, Prisoner's dilemma (1965), passim; Axelrod/Hamilton, 211 Science (N.S.) 1390 (1981); Axelrod, The Evolution of Cooperation (1984), S. 113 ff., 130 ff. Vgl. auch Bühring-Uhle/ Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 83 f., 138 ff.; Duve/Eidenmüller/ Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 59 ff., 62 f. 1459 Grundlegend Rapoport/Chammah/Rapoport, Prisoner's dilemma (1965), passim. Vgl. auch Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement (2009), S. 83 f., 138 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 59 ff., 62 f. 1460 Hierzu Axelrod/Hamilton, 211 Science (N.S.) 1390 (1981); Axelrod, The Evolution of Cooperation (1984), S. 113 ff., 130 ff.
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Lebens überhaupt. Für den an der Harvard University1461 lehrenden Mathematiker und Entwicklungsbiologen Martin Nowak ist sie sogar die „Urformel aller lebendigen Schöpfung“1462 und „Triebfeder der Evolution“1463. Tatsächlich hat die neuro- und entwicklungsbiologische Forschung nachgewiesen, dass der Mensch als Beziehungswesen nicht auf kompetitives Verhalten, aggressiven Wettbewerb, Konkurrenz und Überlegenheit, sondern im Gegenteil auf Kooperation, Zuwendung und damit letztlich auf caritas hin ausgerichtet ist, die als grundlegendes Prinzip des Lebens dem Kern der Natur des Menschen als auf den anderen hin ausgerichtetem, mit personaler Würde ausgestattetem sozialen Wesen entspricht.1464 Als in ein Geflecht von sozialen Beziehungen eingebettetes Beziehungswesen ist der Mensch auch aus neurobiologischer Sicht nicht für einen stetigen durch Verdrängung, Isolation und Durchsetzung gegenüber anderen geprägten Überlebenskampf geschaffen, sondern im Gegenteil „auf gelingende Beziehungen hin konstruiert“1465. Aufgrund seiner wesensmäßigen Ausrichtung auf den anderen hin wird er durch aggressive Verhaltensmuster sowohl auf emotionaler als auch auf neuronaler Ebene auf Dauer überfordert. Dauerhafte Störungen auf der Beziehungsebene aktivieren das Stresssystem und können so letztlich zu einem Funktionsversagen des Motivationssystems bis hin zu depressiven Störungen führen. Aggression ist damit nicht nur, wie wir im Rahmen unserer Betrachtung der spieltheoretischen Forschung gesehen haben1466, im Hinblick auf die Interaktionsbeziehungen des Einzelnen ineffektiv1467 und sozial schädlich, sondern macht darüber hinaus krank und wirkt sich destruktiv auf die körperliche und geistige Integrität des Menschen aus. Umgekehrt erhöht kooperatives Verhalten nicht nur den individuellen und gemeinschaftlichen Nutzen des Menschen als sozialer Akteur, indem es kreative, problemlösungsorientierte Wertschöpfung überhaupt erst ermöglicht, sondern ist eine der wesentlichen Grundbedingungen seiner Existenz und damit seiner körperlichen und geistigen Integrität und seines Wohlbefindens. Aus entwicklungsbiologischer Perspektive bildet 1461 Martin Nowak ist Direktor des Program for Evolutionary Dynamics, http://www.ped. fas.harvard.edu (zuletzt abgerufen am 27.11.2017). 1462 Nowak, in Süddeutsche Zeitung v. 7.5.2011, S. 25. 1463 Nowak, in Süddeutsche Zeitung v. 7.5.2011, S. 25. 1464 Zur Forschung Nowaks vgl. die oben S. 795 Fn. 1430 genannten Nachweise. 1465 Bauer, Prinzip Menschlichkeit (2008), S. 23. 1466 Vgl. hierzu oben S. 287 ff., 462 ff., 474 ff. 1467 Vgl. hierzu nur das spieltheoretische Experiment des sog. Ultimatum-Spiels, Nowak/Page/Sigmund, 289 Science 1773, 1773 (2000). Hierzu auch Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse (5. Aufl. 2012), S. 109 mwN.; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 219; Halali/Bereby-Meyer/Ockenfels, 7 Front. Hum. Neurosci. 1 (2013). Aus der empirischen verhandlungstheoretischen Forschung vgl. Schneider, 6 Disp. Resol. Mag. 24, 28 (2000); Schneider, 7 Harv. Negot. L. Rev. 143, 196 (2002); Tinsley/O'Connor/Sullivan, 88 Org. Behav. & Hum. Decision Processes 621 (2002).
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Kooperation eine zentrale Voraussetzung für die Weiterentwicklung menschlichen Lebens und seiner sozialen Ordnung, ohne die insbesondere die Entwicklung der Kunst, Kultur, der Wissenschaft wie auch des Rechts nicht denkbar wäre. Im Hinblick auf die Ordnung der Konfliktbeilegung ergibt sich daher aus neuro- und entwicklungsbiologischer Perspektive der Befund, dass kooperative, konsensuale Streitbeilegung die dem Wesen, der Natur des Menschen und seinen Anlagen zutiefst entsprechende, natürliche Form der Konfliktbewältigung darstellt, die seiner Natur bis hin zur Struktur seiner neuronalen Korrelate unveränderbar eingestiftet ist. Die Mediation stellt sich somit als die natürliche, dem Menschen und seiner Natur zutiefst entsprechende Form der Konfliktbeilegung dar. Damit ergibt sich das Ergebnis, dass die in der Rechtspraxis wie auch im Schrifttum zu beobachtende hohe Akzeptanz des Mediationsverfahrens, die durch die wissenschaftliche Begleitforschung gerichtsverbundener Mediationsprogramme auch empirisch nachgewiesen worden ist1468, auf der einen und die Kritik des Zivilprozesses aufgrund seiner destruktiven Auswirkungen auf die Parteien und den Konflikt1469 auf der anderen Seite durch die neuround entwicklungsbiologische Forschung bestätigt werden. ee) Mediation und Zivilprozess: Ein Verhältnis komplementärer Einheit Mit dem Blick auf das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess aus der Perspektive unterschiedlicher Teildisziplinen des Rechts sowie auf den Befund der interdisziplinären Kooperationsforschung ist der Boden bereitet, um uns nun dem Verhältnis von Mediation und Recht als Grundlage einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre und damit dem Kern unserer Untersuchung zuzuwenden. 1. Strukturanalyse. Komplementarität formaler und informaler Gerechtigkeit. Im Rahmen unserer Strukturanalyse haben wir gesehen, dass sich das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess als Antinomie bzw. Dichotomie, als wechselseitiges Spannungsverhältnis struktureller Komplementarität beschreiben lässt, in dem sich beide Verfahren gerade aufgrund ihrer gegensätzlichen Strukturmerkmale jeweils idealtypisch und gleichsam spiegelbildlich ergänzen.1470 Die Schwäche des einen bildet dabei als Kehrseite desselben Prinzips die Stärke des anderen Verfahrens, so dass etwa die Mediation aufgrund ihrer besonderen Verfahrenseigenschaften die systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses in geradezu idealtypischer Weise auszugleichen vermag.
1468
Hierzu Greger, Abschlussbericht (2007), S. 51 ff., 57 ff.; Spindler, Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen (2006), S. 192 ff. 1469 Vgl. zu den systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses eingehend oben S. 12 ff. 1470 Vgl. hierzu oben S. 107 ff., 143 f.
990
§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
Das Prinzip der Komplementarität bestimmt dabei nicht nur die Struktur1471, sondern setzt sich in den Funktionen1472, den Wirkungen1473 und den Risiken1474 beider Verfahren fort. Das dem Verhältnis der beiden Verfahren zueinander eigene Spannungsverhältnis erwächst dabei aus der Polarität ihres Wesens als Instrumente interessenorientierter Selbst- und normorientierter Fremdsteuerung im Sinne der Institutionenlehre Lon L. Fullers1475, die wir bereits eingehend in den Blick genommen haben. Als prozessuale Erscheinungsformen informal-materieller und formal-rationaler Rationalität im Sinne Max Webers1476 liegt ihnen als Urbild (είδος) der Gegensatz von formaler und materieller Gerechtigkeit, die Dichotomie der Prinzipien des Formalen und des Informalen zugrunde, zwischen denen das Recht seit jeher im Gang seiner Geschichte oszilliert und die uns, wie wir bereits gesehen haben, entsprechend der jeweiligen Epoche in unterschiedlichen Formen gegenübertreten: In materieller Hinsicht im Gegensatz von ius honorarium und ius civile, equity und common law, strengem und billigem Recht, prozessual in der Antinomie von transactio und sententia des römischen Rechts, von Minne und Recht des Mittelalters und von Vergleich und Urteil des modernen Rechts. Beide Verfahren dienen dabei der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit und schöpfen unmittelbar oder vermittelt durch das positive Gesetzesrecht aus demselben Fundus absoluter, überpositiver Werte und Normen des ius naturae, die zugleich auch der objektiven Rechtsordnung als immanente Wertpostulate zugrunde liegen. Als formaler und informaler Aspekt der Gerechtigkeit dienen sie damit demselben Ziel und verwirklichen es auf ihre je eigene, indes komplementäre, einander ergänzende Weise. Mediation und Zivilprozess fügen sich als Primärverfahren so zu einem einheitlichen System der Konfliktbeilegung, das durch Ausdifferenzierung und Kombination der Trias der drei Primärverfahren der Verhandlung, der Mediation und des Zivilprozesses1477 in abgeleiteten Hybridverfahren1478 alle idealtypisch denkbaren Verfahrensvarianten in einem Kontinuum der Streitbeilegungsformen abdeckt.
1471
Vgl. hierzu oben S. 129 ff., 586 ff. (Mediation), 674 ff. (Zivilprozess). Vgl. hierzu oben S. 558 ff. (Mediation), 615 ff. (Zivilprozess). 1473 Vgl. hierzu oben S. 597 ff. (Mediation), 689 ff. (Zivilprozess). 1474 Vgl. hierzu oben S. 604 ff. (Mediation), 696 ff. (Zivilprozess). 1475 Hierzu eingehend oben S. 116 f. sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff., 27 ff., 36 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381 f., 404 f. (1978). 1476 Hierzu eingehend oben S. 34 ff. sowie Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396 ff., 504 ff. 1477 Zur Trias der Primärverfahren eingehend oben S. 102 ff. 1478 Zur Problematik aus der Perspektive von Fullerʼs Verfahrenslehre vgl. Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381, 405 ff. (1978) sowie oben S. 117 ff. Zu den Primär- und Hybridverfahren der alternativen Streitbeilegung vgl. eingehend Menkel-Meadow/Love/Schneider/ 1472
IV. Grundsätze einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
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2. Mediation und Recht: Das Spannungsverhältnis von Privatautonomie und Gesetzesrecht als Grundlage. In einem zweiten Schritt haben wir sodann das Verhältnis von Mediation und – materiellem wie prozessualem – Recht, von subjektivem Parteirecht und objektiver Rechtsordnung näher in den Blick genommen1479 und dabei mit den bislang noch wenig erforschten Problemkreisen der Auswirkungen dieses Spannungsverhältnisses auf (1) die Mediation, (2) das Recht, (3) die Justiz und (4) den Staat den Rahmen unserer weiteren Untersuchung abgesteckt.1480 (1) Im Hinblick auf die Mediation selbst wirft ihr Verhältnis zum Recht die Frage auf, ob die Parteien durch das von ihnen im Wege der Verhandlung geschaffene subjektive Privatrecht eine autonome normative Ordnung mit eigenen Maßstäben und damit ein „eigenes Recht“ konstituieren, das in Wettbewerb zu der objektiven Rechtsordnung tritt, oder ob subjektives Verhandlungsund objektives Normensystem sich vielmehr ergänzend gegenseitig durchdringen.1481 Damit verbunden ist zugleich die Frage nach der Qualität dieser Ordnung und den in ihr geltenden materiellen Maßstäben und Gerechtigkeitskriterien, nach der Rolle des positiven Rechts in ihr, den Grenzen, die das Prozessrecht ihr auferlegt und der verfassungsrechtlichen Stellung der durch Parteirecht geschaffenen Ordnung. Dabei haben wir im Rahmen unserer Untersuchung gesehen, dass die eigenverantwortliche Beilegung von Konflikten durch die Parteien keine autonomen normativen Ordnungen konstituiert1482, nicht zu einem gewandelten Rechtsbegriff1483 oder einem „anderen Recht“1484 führt, sondern sich als Ausübung privatautonomer Rechtsgestaltung, als Wahrnehmung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Befugnis zur eigenverantwortlichen Regelung der eigenen Angelegenheiten darstellt, die sich stets durch das Recht, in seiner Form, im Rahmen und innerhalb seiner Grenzen vollzieht. Die Mediation – in rechter Weise verstanden – führt damit nicht zur Etablierung eines subjektiven Verhandlungssystems, das in Konkurrenz zum objektiven Normsystem der Rechtsordnung stünde, sondern stellt eine neue Form des Umgangs mit Gesetzesrecht bei der
Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 57 ff., 613 ff.; Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution (6. Aufl. 2012), S. 3 ff., 418 ff.; Risse/Wagner, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 553, 580 ff.; Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft (2. Aufl. 2011), S. 66 ff. 1479 Hierzu oben S. 149 ff. 1480 Hierzu oben S. 151 ff. 1481 Hierzu oben S. 153 ff. 1482 Hierzu oben S. 153 ff., 156 ff. 1483 Hierzu oben S. 153 1484 Hierzu Haffke, in: Duss-von Werdt/Mähler/Mähler (Hrsg.), Mediation (1995), S. 65, 108; Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 57 ff., 75.
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privatautonomen Gestaltung der Lebensverhältnisse zur Verfügung und verleiht so privatautonomen Verfahren innerhalb des Rechtssystems, insbesondere im Rahmen der Konfliktbeilegung, eine besondere Bedeutung.1485 Im Gang unserer weiteren Untersuchung haben wir sodann gesehen, dass dem Recht in der Mediation tatsächlich eine zentrale Schlüsselrolle zukommt, die Mediation daher kein „unjuristisches“ Verfahren darstellt.1486 Statt durch die Thematisierung und Dethematisierung von Recht unterscheidet sich die Mediation vom Zivilprozess dadurch, dass die verbindliche Rechtsanwendung durch die unverbindliche Rechtsverwendung ersetzt wird, und damit in der Art und Weise, wie mit Recht umgegangen wird.1487 Die Mediation bedarf des Rechts, sie vollzieht sich nicht in einem rechtlichen Vakuum, sondern stets im Schatten des Rechts1488, und steht damit zu ihm in einer symbiotischen Beziehung, die in den grundlegenden Funktionen deutlich wird, die dem Recht in der Mediation zukommen: Der 1) konstitutiven, 2) durchsetzenden, 3) nährenden und 4) begrenzenden Funktion des Rechts.1489 So wird die Mediation vom Recht überhaupt erst ermöglicht, ist zu ihrer Durchsetzung auf das Recht angewiesen, schöpft aus ihm und wird von ihm begrenzt. Zwar schöpfen die Parteien im Mediationsverfahren tatsächlich subjektives Individualvertragsrecht, allerdings stellt sich dieses rechtsgeschäftliche Handeln der Parteien als Ausübung ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten Privatautonomie dar und ist damit konstitutiver Bestandteil der Privatrechtsordnung. Im Hinblick auf die Konfliktbeilegung besteht die primäre Funktion des Rechtes somit nicht darin, den Parteien eine Regelung autoritativ aufzuerlegen, sondern vielmehr darin, den Parteien einen Rechtsrahmen zur Verfügung zu stellen, innerhalb dessen sie ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich regeln können.1490 Zugleich dienen das Recht und die der Rechtsordnung insgesamt zugrunde liegenden überpositiven Wertgrundsätze – neben der regula aurea1491
1485
Hierzu oben S. 157 f. Ebenso So auch Risse, Wirtschaftsmediation (2003), S. 288; Hess, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 1053, 1055; Ripke, in: Haft/Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (2. Aufl. 2009), S. 161, 162. 1487 Hierzu oben S. 285 f. sowie Mähler/Mähler, FPR 1996, 16, 17; Gottwald, AnwBl 2000, 265, 268; Mähler/Mähler, in: Dieter/Montada/Schulze (Hrsg.), Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation (2000), S. 9, 30; Köper, Die Rolle des Rechts im Mediationsverfahren (2003), S. 67 f. 1488 So Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L. J. 950, 968, 997 (1979). Vgl. zur Bedeutung des Rechts in der Mediation eingehend oben S. 149 ff. (allgemein), 280 ff. (materielles Recht), 432 ff. (Verfahrensrecht). 1488 Zur Funktion des Rechts als Rückgriffsordnung vgl. oben S. 299 ff. 1489 Zu den Funktionen des Rechts vgl. oben S. 280 ff., 284 ff. 1490 Hierzu oben S. 157 f., 298 ff. 1491 Hierzu oben S. 235 ff., 249 ff., 252 ff. 1486
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und den Grundsätzen kommutativer1492 und distributiver1493 Gerechtigkeit, die wir bereits eingehend in den Blick genommen haben1494 – aufgrund ihres Gerechtigkeitsgehaltes und der Vermutung der Richtigkeit den Parteien als freilich unverbindlicher materieller Maßstab für ihre Einigungsentscheidung. (2) Mit Blick auf die Rückwirkungen der Mediation auf das Recht sind wir der Frage nachgegangen, ob mit der möglichen Etablierung autonomer normativer Ordnungen durch die Mediation negative Konsequenzen für die Geltung und Autorität des positiven Rechts verbunden sind, die Mediation auf diese Weise zur Erosion des Rechts in der Gesellschaft oder zu seiner stärkeren Durchdringung beiträgt.1495 Angesprochen ist damit die Frage nach dem Ursprung und der Qualität der materiellen Maßstäbe1496, die im Mediationsverfahren zur Anwendung kommen, und somit das Problem, ob die Mediation zu Wertrelativismus1497 und Normskepsis oder im Gegenteil zu einer Verwirklichung und weitreichenden Akzeptanz der dem Gesetzesrecht zugrunde liegenden Wertgrundsätze beiträgt.1498 Dabei sind wir der Frage nachgegangen, welche Konsequenzen sich aus einer solchen gleichsam diskursiv etablierten normativen Ordnung für den Rechtsschutz, die Fairness des Verfahrensergebnisses und die Privatautonomie ergeben.1499 Im Gang unserer Untersuchung hat sich die Befürchtung, dass die Mediation zu einer Erosion der Geltung und Autorität des positiven Rechts beiträgt, nicht bestätigen können. Im Gegenteil hat unsere Betrachtung des Zusammenspiels von Mediation und Recht gezeigt, dass das materielle wie das Verfahrensrecht auf vielfältige Weise in das Mediationsverfahren hineinwirken und die Beschäftigung der Parteien mit dem materiellen Recht im Wege der Rechtsverwendung darüber hinaus zu höherer Akzeptanz und zu einem tieferen Verständnis des Rechts führen kann.1500 Und weil die Parteien der von ihnen entwickelten Einigungslösung idealiter als materiellen Maßstab jene ungeschriebenen, überpositiven Wertgrundsätze zugrunde legen, die auch der objektiven
1492
Hierzu oben S. 206 ff. Hierzu oben S. 217 ff. 1494 Zum Ganzen oben S. 167 ff., 182 ff. 1495 Hierzu oben S. 156 ff. sowie Eder, ZfRSoz 1987, 193, 193 ff. Zum verwandten Phänomen der „Auflösung des Rechts“ bzw. der „regulatorischen Krise des Rechts“ eingehend oben S. 50 ff., 153 ff. sowie Stürner, JR 1979, 133, 134; Eder, ZfRSoz 1987, 193, 193 ff.; Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 190 ff.; Hoffmann-Riem, Orientierung (Evangelische Akademie Hamburg), Heft 2/1997, 31, 31 ff.; Hager, Konflikt und Konsens (2001), S. 18 ff., 40; Ritter, NJW 2001, 3440, 3443 ff.; Peters, Gütegedanke (2004), S. 53 ff.; Röhl, FS Heldrich (2005), S. 1161 ff. 1496 Hierzu oben S. 222 ff. 1497 Hierzu eingehend oben S. 53 ff., 58 ff., 81 ff. 1498 Hierzu oben S. 149 ff. 1499 Hierzu oben S. 149 ff. 1500 Hierzu oben S. 297 ff. 1493
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Rechtsordnung immanent sind1501, dient das Mediationsverfahrens zugleich der Verwirklichung des Rechtsschutzes der Parteien1502, als gerechtes Verfahren1503 darüber hinaus der Fairness und als selbstbestimmtes Verfahren schließlich in besonderer Weise auch dem Schutz der Privatautonomie der Parteien1504. Dies gilt allerdings nur insoweit, als die Parteien über annähernd gleiche strukturelle Verhandlungsmacht verfügen: Im Fall eines Machtungleichgewichtes besteht dagegen die Gefahr, dass die Parteien von der ihnen de iure zustehenden Privatautonomie in tatsächlicher Hinsicht keinen Gebrauch machen können und daher auch nicht in der Lage sind, für ihre Rechte effektiv einzustehen (selfagency).1505 In diesen Fällen können sich, wie wir Rahmen unserer Fallstudien von Mietstreitigkeiten an US-amerikanischen Gerichten gesehen haben, erhebliche Risiken für den Rechtsschutz, die Fairness und Privatautonomie ergeben.1506 (3) Hiervon ausgehend haben wir vor dem Hintergrund der gerichtsverbundenen Mediation sodann das Verhältnis der Justiz zur Mediation und der aus ihr hervorgegangenen normativen Ordnung in den Blick genommen und die Konsequenzen betrachtet, die sich aus der Integration der Mediation in den Zivilprozess ergeben.1507 Dabei sind wir insbesondere der Frage nachgegangen, auf welche Weise sich die vermittelnde Tätigkeit staatlicher Güterichter und die Tatsache, dass die rechtsprechende Gewalt mit der Mediation ein informales Verfahren als Justizdienstleistung anbietet, das sich an den Interessen der Parteien und nicht an den Vorgaben der objektiven Rechtsordnung orientiert, auf das Grundverständnis der Justiz und des Richteramtes auswirken.1508 In diesem Zusammenhang haben wir die Frage untersucht, ob die Tätigkeit des Güterichters als Rechtsprechung im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG anzusehen ist, so dass diese nach wie vor der grundgesetzlichen Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 103 GG unterliegt, und ob der Rechtsgewährleistungsanspruch des Bürgers gegenüber der staatlichen Justiz durch das Mediationsverfahren ergänzt wird, so dass dieser auch die vermittelnde Unterstützung der Parteien bei der konsensualen Beilegung ihrer Konflikte mit umfasst.1509 Schließlich haben wir die Frage untersucht, inwieweit sich die vermittelnde
1501
Hierzu oben S. 175 ff., 230 ff., 249 f., 283 ff., 293 ff. Zum sog. Access to Justice Project oben S. 563 ff. sowie Breidenbach, Mediation (1995), S. 122 ff., 232 ff. 1503 Hierzu oben S. 179 ff. 1504 Zur Bedeutung der Privatautonomie als wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Mediation vgl. oben S. 127, 130 ff., 137, 459 ff. 1505 Hierzu eingehend oben S. 336 ff., 344 ff., 349 ff. 1506 Zu den Risiken des Mediationsverfahrens oben S. 604 ff. 1507 Vgl. oben S. 432 ff. 1508 Hierzu eingehend oben S. 385 ff., 389 ff., 401 ff. 1509 Hierzu oben S. 389 ff. 1502
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Tätigkeit der Justiz im Rahmen der gerichtsverbundenen Mediation auf die urteilende Tätigkeit rechtsprechender Gewalt auswirkt und inwieweit auch die Mediation selbst durch die Institutionalisierung und Einbettung in das Gefüge des staatlichen Justizsystems verformt oder sogar deformiert wird.1510 Damit aus prozessrechtlicher Perspektive der Befund, dass die vermittelnde Tätigkeit des Richters, das Bemühen um eine gütliche Einigung und somit auch die gerichtsverbundene Mediation auf der Grundlage des geltenden funktionalen Verständnisses als Ausübung rechtsprechender Gewalt im Sinne des Art. 92 GG zu bewerten sind.1511 Das Bemühen um eine gütliche Einigung gehört im Übrigen seit jeher zu den originären Aufgaben richterlicher Tätigkeit, die im Güteversuch letztlich sogar ihren geschichtlichen Ursprung finden dürfte. Die Mediation verändert daher weder das Grundverständnis der Justiz noch das Richterbild in einer ihrem Wesen fremden Weise, sondern behebt im Gegenteil eine Engführung im gegenwärtigen Verständnis richterlicher Tätigkeit, indem sie diese auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurückführt. Da die konsensuale Konfliktbeilegung im Rahmen der Mediation nicht nur eine prozedural zeitund kostengünstigere und damit effektivere, sondern auch materiell dauerhafte, nachhaltige und ursächliche Beilegung des Konfliktes ermöglicht und dadurch, dass sie einen wertschöpfenden Interessenausgleich und die Realisierung pareto-optimaler Kooperationsgewinne anstrebt, auch in besonderer Weise der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit dient, ergibt sich, wenn nicht eine rechtliche, so doch eine rechtspolitische Verpflichtung des Staates, die Mediation im Rahmen der ihm obliegenden Pflicht zur Rechtsgewährleistung in besonderer Weise zu fördern. Die gerichtsverbundene Mediation stellt somit eine notwendige Ergänzung der von den Gerichten zur Verfügung gestellten Justizdienstleistung des Staates dar, die als Ausprägung des Kooperationsprinzips und dadurch, dass sie eine wertschöpfende und zugleich friedliche Beilegung von Konflikten ermöglicht, eine zentrale gesellschaftliche Funktion erfüllt und auf diese Weise die Engführung auf den Zivilprozess als dominierenden Streitbeilegungsverfahren und als „komfortabel ausgebauten Königsweg“1512 korrigiert.1513 Wenn mit der Mediation ein prozedural wie materiell effektives und gerechtes Verfahren zur Beilegung von Konflikten zur Verfügung steht, so ist nicht einsichtig und kaum vertretbar, dass sich der Staat bei dem von ihm zur
1510 Hierzu oben S. 408 ff., 417 ff. Zur US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte vgl. eingehend oben S. 46 ff. sowie Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 1511 Hierzu oben S. 389 ff., 397 ff. 1512 So Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5. 1513 Hierzu oben S. 400 f.
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Verfügung gestellten Angebot an Konfliktbeilegungsverfahren auf ein mit erheblichen systemimmanenten Schwächen behaftetes und weitgehend ineffektives Verfahren beschränkt. (4) Schließlich sind wir der Frage nach dem Verhältnis von Mediation und Zivilprozess als Instrumenten gesellschaftlicher Steuerung im kooperativen Staat1514 nachgegangen und haben sodann die Frage untersucht, ob sie als Steuerungsformen nebeneinander bestehen können oder sich auf Dauer gegenseitig ausschließen und welche Wechselwirkungen zwischen beiden Formen staatlicher Steuerung bestehen.1515 Schließlich haben wir die Auswirkungen konsensualer Konfliktlösungsverfahren auf die Rechtsbewährungs-1516 und Rechtsfortbildungsfunktion1517 des Zivilprozesses vor dem Hintergrund der Fiss’schen ADR-Kritik1518 in den Blick genommen. Im Gang unserer Untersuchung aus der Perspektive ganz unterschiedlicher Teildisziplinen des Rechts und aus dem Blickwinkel der interdisziplinären Verhandlungsforschung haben wir dabei insbesondere im Hinblick auf die Institutionenlehre Fullers1519 gesehen, dass Mediation und Zivilprozess als Ausprägungen privatautonomer, interessenbezogener und heteronomer rechtsbezogener Steuerung zu den idealtypischen, in jeder Gesellschaft notwendig vorhandenen Formen gesellschaftlicher Steuerung gehören. Als einander ergänzende Verfahren symbiotischer Komplementarität1520 können sie nicht nur nebeneinander bestehen, sondern bedürfen zugleich einander, da sie als Ausprägung der Prinzipien des Formalen und des Informalen die beiden zentralen Aspekte der Gerechtigkeit repräsentieren. Die Rechtsbewährungs- und Rechtsfortbildungsfunktion des Zivilprozesses wird dabei durch die breite Anwendung der Mediation nicht gefährdet,
1514 Hierzu oben S. 38 ff. sowie Ritter, AÖR 104 (1979), 389; Voigt (Hrsg.), Der kooperative Staat (1995); Schneider, VerwArch 87 (1996), 38 ff.; Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421; Frick, Der freundliche Staat (2001). Einen Überblick bietet Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 561 mwN. 1515 Hierzu oben S. 100 ff. 1516 Vgl. hierzu eingehend oben S. 637 ff. Für die Rechtsbewährungsfunktion des Zivilverfahrens als Prozesszweck Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht (17. Aufl. 2010), S. 2 f.; Hess/Jauernig, Zivilprozessrecht (30. Aufl. 2011), S. 2. A.A. MünchKomm/ Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 8; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 3 ff. Vgl. zum Ganzen auch Gaul, AcP 168 (1968), 27, 37 ff., 59 f. 1517 Vgl. hierzu oben S. 651 ff. sowie MünchKomm/Rauscher, ZPO (5. Aufl. 2016), Einl. Rn. 10; Musielak/Voit/Musielak, ZPO (13. Aufl. 2016), Einl. Rn. 5; Saenger/Saenger, ZPO (7. Aufl. 2017), Einl. Rn. 4. 1518 Zur Kritik Fissʼ vgl. klassisch Fiss, 93 Yale L.J. 1073 (1984) sowie Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1 (1979); Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121 (1982); Fiss, 78 Fordham L. Rev. 1273 (2009). Vgl. hierzu auch oben S. 552 ff. 1519 Hierzu eingehend oben S. 116 f. sowie Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 ff., 27 ff., 36 (1963); Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 381 f., 404 f. (1978). 1520 Hierzu oben S. 143 ff.
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da sie dem Zivilprozess nicht Fälle in dem Maße entzieht, dass kein Fallmaterial mehr zur verbindlichen gerichtlichen Entscheidung zur Verfügung stünde. Darüber hinaus trägt, wie wir gesehen haben, die intensive Beschäftigung mit dem materiellen Recht in der Mediation im Rahmen der Rechtsverwendung ganz erheblich zu einer höheren Akzeptanz und einem tieferen Verständnis des Rechts bei. 3. Mediation und materielles Recht. Nachdem wir gleichsam in der makroskopischen Gesamtschau holzschnittartig das Verhältnis von Mediation und Recht in den vier Problemkreisen Mediation, Recht, Justiz und Staat in den Blick genommen haben, haben wir uns sodann gleichsam aus mikroskopischer Perspektive dem Verhältnis der Mediation zum materiellen Recht zugewandt.1521 Dabei haben wir gesehen, dass das Recht auf vielfältige Weise in das Mediationsverfahren hineinwirkt. a) Ius naturae als gemeinsamer Maßstab. Zwar wird das dispositive materielle Recht als verbindlicher inhaltlicher Maßstab für das Verfahrensergebnis weitgehend derogiert und durch das an einem Interessenausgleich orientierte Individualvertragsrecht der Parteien ersetzt. Allerdings legen die Parteien ihrer Einigungsentscheidung idealiter ebenfalls jene ungeschriebenen, überpositiven Wertgrundsätze zugrunde, die der objektiven Rechtsordnung und damit auch dem positiven Recht immanent sind.1522 Und weil die Parteien in der Mediation, wie wir gesehen haben, vermittelt durch das lumen rationis1523 und den Mechanismus der regula aurea1524, unmittelbar auf die Ebene des ius naturae zugreifen können, ohne dass es einer „Übersetzung“ durch positives Gesetzesrecht bedarf, vermag die Mediation als gerechtes Verfahren1525 die Gebote materieller Gerechtigkeit in weitaus vollkommenerer Weise zu verwirklichen, als dies im Wege hoheitlicher Entscheidung im Rahmen des Zivilprozesses möglich wäre.1526 Positives Gesetzesrecht und privatautonomes Parteirecht greifen damit idealiter auf denselben Fundus materieller Grundwertungen zurück, die auf die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit gerichtet und dem ius naturae entnommen sind.1527 Sie sind somit Teil derselben Hierarchie von Normen, setzen indes auf unterschiedlichen Ebenen an: Während die Wertpostulate des ius naturae im Zivilprozess erst der Vermittlung durch das positive Gesetzesrecht
1521
Hierzu oben S. 280 ff. Hierzu oben S. 175 ff., 230 ff., 249 f., 283 ff., 293 ff. 1523 Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª-IIae q. 91 a. 2 co. Vgl. hierzu unten S. 101, Fn. 405. 1524 Hierzu oben S. 235 ff., 249 ff., 252 ff. 1525 Hierzu oben S. 179 ff. 1526 Hierzu oben S. 295. 1527 Zu den naturrechtlichen Grundlagen der Privatrechtsordnung eingehend oben S. 85 ff. 1522
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bedürfen, wobei indes die Eigennützigkeit der Parteien durch die Neutralität des Verfahrens ausgeschaltet wird, haben die Parteien in der Mediation zwar unmittelbaren Zugriff auf die Ebene naturrechtlicher Wertgrundsätze, sind aufgrund der stets vorhandenen Neigung der Parteien zu primär eigennützigem Handeln allerdings in ihrer Fähigkeit beschränkt, sie zu erkennen, als richtig anzuerkennen und entsprechend zu handeln. Wie wir gesehen haben, ist es aber gerade der dem Mediationsverfahren eigene Mechanismus der regula aurea, der diese Engführung überwindet und das Vermittlungsproblem löst: Indem den Parteien durch die Dynamik des Verfahrens die Perspektive ihres jeweiligen Konfliktpartners vermittelt wird1528 und sie auf gleichsam unmerkliche Weise in die Bewegung der regula aurea hineingeführt werden, wird die Eigennützigkeit der Parteien begrenzt1529 und der Weg zu wertschöpfender Kooperation eröffnet.1530 Und weil in das positive Recht zugleich auch die vielfältigen Überlegungen des Gesetzgebers zu einem gerechten Ausgleich divergierender Interessen, die überpositiven Werte des ius naturae und der Verfassungsordnung sowie die jahrhundertealten Erfahrungen gelebter Rechtspraxis eingeflossen sind, weil damit auch dem positiven Gesetzesrecht ein eigener Gerechtigkeitswert und die grundsätzliche Vermutung der Richtigkeit zukommt, greifen die Parteien im Rahmen der Mediation auch auf das Recht als materiellen, gleichwohl unverbindlichen Maßstab zurück.1531 b) Funktionen des materiellen Rechts. Die Bedeutung des materiellen Rechts für die Mediation geht indes weit über die eines materiellen Maßstabs für die von den Parteien zu entwickelnde Einigungsentscheidung hinaus. Es erfüllt in der Mediation vielfältige Funktionen und wirkt über ganz unter-
1528
Zu dem für das Harvard Modell zentralen multilateralen Rollentausch der regula aurea vgl. eingehend oben S. 242 ff., 249 ff., 252 ff. sowie aus entwicklungspsychologischer Perspektive Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 149, 204. 1529 Schürmann, in: Wikenhauser/Vögtle/Schnackenburg (Hrsg.), HThK III (1969), S. 1 ff, Lk 6, Lk 6, 31. 1530 Hierzu oben S. 252 ff. 1531 Zur Funktion des materiellen Rechts als unverbindlichen Orientierungsmaßstab in der Mediation vgl. oben S. 293 ff.
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schiedliche „Einfallstore“ auf das Mediationsverfahren ein: Es dient 1) als verbindliche Entscheidungsgrundlage1532, 2) als unverbindlicher Orientierungsmaßstab1533, erfüllt 3) eine Informations-,1534 4) Akzeptanz-1535 und 5) Gerechtigkeitsfunktion1536 und dient schließlich 6) als formeller Rahmen (Leitplankenfunktion)1537 und 7) Rechtsschutz gewährende Rückgriffsordnung1538. Der Einbruch des materiellen Rechts in das eigentlich informale, nicht rechtsförmliche Mediationsverfahren erfolgt auf verschiedenen Verfahrensebenen: a) bei der Entwicklung von Einigungsoptionen, b) der Bewertung von Nichteinigungsalternativen, c) in der Gestaltung der Abschlussvereinbarung und d) als objektives Kriterium für die Wertverteilung.1539 Im Rahmen des ius cogens dient das materielle Recht zunächst als (1) verbindliche Entscheidungsgrundlage: Die Mediationsvereinbarung muss sich wie jedes rechtsgeschäftliche Handeln materiell im Rahmen des zwingenden Rechts bewegen.1540 Über diesen vergleichsweise engen Anwendungsbereich hinaus fungieren die Normen des materiellen Rechts im Mediationsverfahren aber vor allem als (2) unverbindlicher Orientierungsmaßstab1541 für die Gestaltung der Einigungsoptionen, denen als Schatzkammer „praktischer Lebensklugheit“1542 und zu Rechtsnormen verdichteter Lebenserfahrung aufgrund ihrer Qualität, Legitimität, Neutralität und ihres Gerechtigkeitsgehaltes eine erhebliche Bedeutung zukommt. In diesem Zusammenhang erfüllen gesetzliche Normen eine wichtige Funktion bei der Auflösung des Verhandlungs- und des Wertschöpfungsdilemmas als zentralen Einigungshindernissen, indem sie als objektive Kriterien für die Wertverteilung herangezogen werden können. Als (3) Informationsquelle1543 dienen sie darüber hinaus der Information der Parteien über die Rechtslage und tragen als Maßstab zur Bewertung der Nichteinigungsalternativen insbesondere im Rahmen einer Prozessrisikoanalyse zum Ausgleich von Wahrnehmungsverzerrungen und der Objektivierung entsprechender irrealer Rechtsvorstellungen (reality check, debiasing) bei. Auf diese Weise legen sie die Grundlage für eine informierte, auch in tatsächlicher Hinsicht eigenverantwortliche Einigungsentscheidung der Parteien. Aufgrund der
1532
Hierzu oben S. 286 ff. Hierzu oben S. 293 ff. 1534 Hierzu oben S. 295 f. 1535 Hierzu oben S. 297 f. 1536 Hierzu oben S. 297 f. 1537 Hierzu oben S. 298 1538 Hierzu oben S. 298 ff. 1539 Hierzu oben S. 301 ff. 1540 Hierzu oben S. 286 ff. 1541 Hierzu oben S. 293 ff. 1542 Haft, FS Söllner (2000), S. 391, 392. 1543 Hierzu oben S. 295 f. 1533
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Qualität, Legitimität und Neutralität des materiellen Rechts, seines Gerechtigkeitsgehaltes und der damit verbundenen Vermutung der Richtigkeit fördert eine am objektiven Recht orientierte Einigungsentscheidung der Parteien schließlich ganz erheblich die (4) Akzeptanz1544 des Verhandlungsergebnisses und damit eine nachhaltige und dauerhafte Beilegung des Konfliktes. Durch das verbindliche ius cogens als zwingenden Rechtsrahmen, das unverbindliche ius dispositivum als fakultativen Orientierungsmaßstab und insbesondere durch den Ausgleich von Machtungleichgewichten dient das materielle Recht darüber hinaus der Sicherung (5) gerechter Ergebnisse1545 und insoweit der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit als originäre, ureigenste Aufgabe des Rechts. Das materielle Recht ist als kautelarjuristisches Gestaltungsmittel ferner für die Umsetzung der von den Parteien ausgehandelten Einigungsentscheidung in einen rechtsverbindlichen Mediationsvergleich erforderlich und bildet so den (6) formalen Rahmen1546 für die vertragliche Gestaltung der Einigung. Und schließlich stellt das Recht als (7) Rückgriffsordnung1547 jenen schützenden Rahmen zur Verfügung, der als Nichteinigungsalternative die Beteiligten häufig erst zu einer gütlichen Beilegung ihres Konfliktes auf der Grundlage eines objektiv gerechten Interessenausgleichs motiviert. Der geschützte Rahmen des Rechts begrenzt auf diese Weise die Eigennützigkeit der Parteien und ist unter den Bedingungen der Rechtswirklichkeit regelmäßig für eine effektive Beilegung des Konfliktes erforderlich. c) Gefahren der Thematisierung des Rechts. Die Thematisierung des Rechts birgt allerdings auch erhebliche Gefahren1548. Weil den Parteien mit dem materiellen Recht als autoritativem, abstrakt-generellem Ordnungssystem ein Bewertungsmaßstab gegenübertritt, der in seiner Struktur dem Wesen des privatautonomen, auf konkrete Interessen gerichteten Mediationsverfahrens gleichsam diametral entgegengesetzt ist, besteht die Gefahr, dass das materielle Recht die Dynamik des Verfahrens dominiert, indem es den Parteien den Blick auf ihre tatsächlichen Interessen verstellt und die Entwicklung kreativer, wertschöpfender Verhandlungslösungen blockiert: „The law [can be] like an elephant in the room. The mediatorʼs job is to discharge the power ... the law has
1544
Hierzu oben S. 297 f. Hierzu oben S. 297 f. 1546 Hierzu oben S. 298. 1547 Hierzu oben S. 299 f. 1548 Hierzu oben S. 302 ff. sowie Kurtzberg/Henikoff, 1997 J. Disp. Resol. 53, 111 (1997); Kovach, 7 Cardozo J. Conflict Resol. 27, 57 (2005); Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 529 (2006). Zu den Folgen einer Thematisierung auf die Konfliktdynamik mit Blick auf den Zivilprozess eingehend oben S. 24 ff. sowie Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), S. 62 f.; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil (1981), S. 19. 1545
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over people”.1549 Mit der Thematisierung des Rechts ist damit das Risiko verbunden, dass die systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses1550, die das Mediationsverfahren gerade überwinden will, auch in die Mediation hineingelangen, dort wirksam werden und das Mediationsverfahren so gleichsam „sprengen“. Gewinnt die Erörterung rechtlicher Fragestellungen in der Mediation in einer Weise Raum, dass sie das Verfahren gleichsam dominiert, so verstärkt dies die Verstrickung der Parteien in ihrem Positionendenken, fördert das Verständnis des Konfliktes als Nullsummenspiel1551 im Sinne binärer Alles-oder-Nichts-Entscheidungen1552 und blockiert so einen auf kreative Wertschöpfung gerichteten Interessenausgleich. Darüber hinaus droht der Konflikt weiter zu eskalieren, indem der von Luhmann beschriebene Kettenprozess in Gang gesetzt wird, der sodann in einen Goffmanʼschen „character contest“1553 mündet, in dem sich die Parteien nunmehr als Gegner antagonistisch gegenüberstehen. Dem Thematisierungsmodus und damit der Art und Weise, wie das materielle Recht in die Verhandlung eingeführt wird, kommt daher eine zentrale Bedeutung für die Gestaltung des Mediationsverfahrens (Verfahrensdesign) zu. c) Verfahrensmodell zur Integration des Rechts in das Mediationsverfahren. Aufgrund der unterschiedlichen Funktionen und Wirkbereiche des materiellen Rechts in der Mediation, der strukturellen Antinomie von Mediation und materiellem Recht und den mit der Thematisierung des Rechts verbundenen Gefahren erweist sich die Integration des Rechts in die Mediation als komplexes Verfahrensproblem. Im Rahmen dreier Fallstudien haben wir anhand der Fälle Wright v. Brockett, Woodruff Corp. v. Lacrete1554 und mehrerer Verfahren vor
1549
Kurtzberg/Henikoff, 1997 J. Disp. Resol. 53, 111 (1997). Vgl. auch Friedman/ Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 529 (2006): „ … law is like bringing an elephant into the room. The power and authority of the law will inevitably dominate, making it impossible for the parties to focus on their real business and personal interests and priorities. … In effect, we hope to cut the elephant down to manageable size ̶ no bigger or smaller than the parties want it to be. “ 1550 Hierzu oben S. 12 ff., 24 ff. 1551 Vgl. zur Problematik des Nullsummenspiels oben S. 17, Fn. 59 sowie Thompson, 59 J. Pers. Soc. Psychol. 82, 87 (1990); Thompson/Hastie, 47 Organ. Behav. Hum. Dec. Proc. 98, 102, 116 ff. (1990). 1552 Hierzu oben S. 20 ff. sowie sowie Luhmann, in: Asmussen/Pawlik (Hrsg.), Material über Zukunftsaspekte der Rechtspolitik (1976), S. 67, 69; Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58. Vgl. auch Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 33 ff. (1963); Stürner, DRiZ 1976, 202, 203; Bierbrauer/Falke/Koch, in: Bierbrauer/Falke/Giese/Koch/Rodingen (Hrsg.), Zugang zum Recht (1978), S. 141, 186 ff. 1553 Hierzu eingehend Goffman, Interaction Ritual (1982), S. 139 ff. Vgl. dazu auch Luhmann, in: Luhmann (Hrsg.), Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 53, 58 sowie S. 24 ff. 1554 Fox, 1 Harv. Negot. L. Rev. 85 (1996).
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dem Boston Housing Court (BHC)1555 dabei die Grenzen des privatautonomen Handelns der Parteien, das Problem der Beschränkung der self-agency und damit die Notwendigkeit einer differenzierten Intervention des Mediators vor dem Hintergrund seines Pflichtenkanons und seiner Stellung im Mediationsverfahren näher in den Blick genommen. Mit dem understanding-based Model of Mediation1556 haben die US-amerikanischen Mediatoren Friedman und Himmelstein ein erstes Modell als Antwort auf das Thematisierungsproblem vorgelegt, das die mit der Thematisierung des Rechts verbundenen Probleme durch Ausgleich rechtlicher Informationsdefizite auf drei Ebenen zu bewältigen sucht: 1) Die Information der Parteien über den Inhalt des materiellen Rechts und damit die Rechtslage, 2) die Vermittlung des Verständnisses der dem Recht zugrunde liegenden Wertentscheidungen des Gesetzgebers und 3) die Aufklärung der Parteien über den dispositiven Charakter des materiellen Rechts in der Mediation.1557 Ziel der Bemühungen ist dabei die Sicherung einer informierten Entscheidung der Parteien und damit die Stärkung ihrer Privatautonomie, um sie so auch tatsächlich in die Lage zu versetzen, für ihre Interessen effektiv einzustehen und ihren Konflikt auch tatsächlich eigenverantwortlich beizulegen. Dieser Spur folgend haben wir das Thematisierungsproblem weiter konkretisiert und sind im Rahmen des auf der Grundlage des bisherigen Befundes entwickelten Verfahrensmodells1558 insbesondere der Frage nachgegangen, wann und durch wen das Recht innerhalb der Mediation zu thematisieren ist. Da hierbei dem Mediator aufgrund seiner verfahrensleitenden Funktion eine besondere Rolle zukommt, haben wir auf der Grundlage seiner Rechte und Pflichten als Wächter der Verfahrensintegrität, als Hüter der Privatautonomie und als Garant für ein gutes und damit objektiv angemessenes, dauerhaftes und nachhaltiges Ergebnis ausgehend vom Riskin-Grid1559 die Rolle des Mediators in den Blick genommen und den Umfang seiner Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht sowohl für die vertragsautonome1560 wie auch die gerichtsverbundene Mediation1561 geklärt. aa) Vertragsautonome Mediation. In der vertragsautonomen Mediation ist der Mediator bei anwaltlich vertretenen Parteien im Hinblick auf seine Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht weitgehend entlastet, sofern die Anwälte nicht wesentliche rechtliche Aspekte des Falles verkannt oder zentrale
1555
150 Misc.2d 1031 571 N.Y.S.2d 660 (9.5. 1991). Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 552 (2006). 1557 Friedman/Himmelstein, 2006 J. Disp. Resol. 523, 552 (2006). 1558 Hierzu oben S. 309 ff. 1559 Vgl. hierzu oben S. 312 ff. sowie Riskin, 12 Alternatives to High Cost Litig. 111 (1994); Riskin, 1 Harv. Negot. L. Rev. 7 (1996); Riskin, 1 Notre Dame L. Rev. 1 (2003). 1560 Hierzu oben S. 360 ff. 1561 Hierzu oben S. 408 ff. 1556
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Rechtsansprüche der Parteien übersehen haben.1562 Ist dies der Fall, ist der Mediator verpflichtet, wie dies auch für den Richter im Rahmen des § 139 ZPO anerkannt ist, die Parteien und Anwälte auf einen entsprechenden Beratungsbedarf hinzuweisen, wenn dieser offensichtlich und für den Mediator aufgrund seines Sachverstandes auch erkennbar ist. Bei anwaltlich nicht vertretenen Parteien sind die Anforderungen an das Eingreifen des Mediators indes deutlich geringer.1563 Neben dem Hinweis auf das Einholen von Rechtsrat als Grundlage einer informierten und damit auch privatautonomen Entscheidung ist der Mediator insbesondere im Fall struktureller Machtungleichgewichte1564 und besonderer Schutzrechte verpflichtet sicherzustellen, dass die Parteien Kenntnis der ihnen zustehenden Rechte erhalten, diese verstehen und sich der Tragweite einer Zustimmung zu einem Vergleich vollumfänglich bewusst sind. Dabei kann der Mediator den Parteien die Bedeutung rechtlichen Rates mit dem Hinweis auf einen möglichen Rechtsverlust noch einmal in besonders eindringlicher Weise vor Augen führen und sie auf das Bestehen konkreter Ansprüche hinweisen. Wird die Mediation von einem Anwaltsmediator geleitet, so kann und sollte dieser beide Parteien umfassend über die Rechtslage und die ihnen jeweils zustehenden Rechte aufklären. Im Hinblick auf den Ausgleich von Informationsasymmetrien ist zu differenzieren: Der Mediator ist grundsätzlich zum Ausgleich von Informationsasymmetrien verpflichtet, soweit dies erforderlich ist, um eine informierte Einigungsentscheidung zu gewährleisten. Rechtliche Informationen müssen den Parteien, soweit sie im Einzelfall entscheidungserheblich sind, in vollem Umfang zur Verfügung stehen. Ein Austausch von sachlichen Informationen ist dagegen nur insoweit erforderlich, als hieran ein berechtigtes Interesse besteht. Den Mediator trifft dabei die Pflicht zur Wahrung der Vertraulichkeit1565, zur Sicherung der Privatautonomie1566, zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens1567 und zur Förderung eines den Zielen der Mediation1568 entsprechenden
1562
Hierzu oben S. 362 ff. Hierzu oben S. 364 ff. 1564 Vgl. zur Kompensation von Machtungleichgewichten oben S. 341 ff., 348 ff., 365 ff., 416 ff., 604 ff. sowie Breidenbach, Mediation (1995), S. 127 f. 1565 Hierzu oben S. 477 ff. 1566 Hierzu oben S. 459 ff. Zur Bedeutung der Privatautonomie als wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Mediation auch gl. oben S. 127, 130 ff., 137. 1567 Hierzu oben S. 186 ff., 202 ff. 1568 Hierzu oben S. 558 ff. 1563
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Verhandlungsergebnisses1569. Pflichtenkollisionen sind im Wege des Einzelgesprächs mit den Parteien (caucus)1570 und als ultima ratio durch Beendigung des Mediationsverfahrens aufzulösen. Aus dogmatischer Sicht ist es sinnvoll, aufgrund der stark voneinander abweichenden Handlungspflichten des Mediators in einem Zwei-Phasen-Modell1571 deutlich zwischen dem Normalfall und dem atypischen Fall ungleicher Verhandlungsmacht zu differenzieren. bb) Gerichtsverbundene Mediation. In der gerichtsverbundenen Mediation ist die Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht des Güterichters aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Bindung und der Qualifikation richterlicher Vergleichstätigkeit als Ausübung rechtsprechender Gewalt im Sinne des Art. 92 GG verfassungsrechtlich überformt.1572 Die allgemeinen verfahrensimmanenten Anforderungen entsprechen zunächst denen des Mediators in der vertragsautonomen Mediation als Hüter der Verfahrensintegrität1573 und als Garant für die Verwirklichung der Verfahrensziele: Aufgrund dieser zweifachen Aufgabe, die Wahrung der Verfahrensgrundsätze und damit die Integrität der Verfahrensgrundsätze sicherzustellen sowie auf ein beiderseits interessengerechtes, faires, nachhaltiges, dauerhaftes, effektives und wertschöpfend kreatives Verhandlungsergebnis hinzuwirken, trifft ihn eine Förderungs- Überwachungs- und Interventionspflicht1574, welche die ihm obliegenden Schutzfunktionen operationalisiert. Darüber hinaus erwachsen aus seiner Stellung als nach Art. 20 Abs. 3, 97 GG an Gesetz und Recht gebundenen Träger rechtsprechender Staatsgewalt1575 und der mit dem Richteramt verbundenen Amtsautorität besondere Anforderungen, die ihn zu einer besonderen Sorgfalt im Hinblick auf typische Risikobereiche verpflichten. So ist er einerseits im Rahmen des Untermaßverbots1576 zu einer hinreichenden Information der Parteien und zum Ausgleich von Macht- und Informationsasymmetrien verpflichtet, wobei er Prognosen über die Erfolgsaussichten des ausgesetzten Zivilprozesses abgeben oder eigene Einigungsvorschläge unterbreiten darf. Andererseits ist es ihm
1569 Zu den Kriterien eines guten Verhandlungsergebnisses eingehend oben S. 160 ff., 289 f. Hierzu auch Fisher/Ury/Patton, Getting to Yes (1991), S. 4; Patton, in: Moffitt/ Bordone (Hrsg.), The Handbook of Dispute Resolution (2005), S. 279. 1570 Hierzu oben S. 29 sowie Calkins, 54 Drake L. Rev. 259 (2006); Menkel-Meadow/ Love/Schneider/Sternlight, Dispute Resolution (2005), S. 355 ff. 1571 Hierzu oben S. 383 ff. 1572 Hierzu oben S. 387 ff. 1573 Vgl. zum Prinzip der strukturellen Integrität eingehend oben S. 116 f., 546 ff. 1574 Hierzu oben S. 426. 1575 Zur Gesetzesbindung des Güterichters eingehend oben S. 406 ff. 1576 Hierzu oben S. 414 ff.
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im Rahmen des Übermaßverbotes1577 verwehrt, die ihm zukommende Amtsautorität auszunutzen, um die Willensentschließung der Parteien durch unzulässigen Einigungsdruck zu beeinträchtigen.1578 4. Mediation und Verfahrensrecht. Die Wechselwirkungen zwischen Recht und Mediation sind indes nicht auf das materielle Recht beschränkt. Vielmehr sind es gerade verfahrensrechtliche Fragen, an denen sich die rechtspolitische Diskussion entzündet und die Gegenstand der Gesetzgebung auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene sind.1579 Ähnlich wie das materielle Recht erfüllt das Verfahrensrecht im Hinblick auf die Mediation eine Reihe zentraler Funktionen: So ist das Verfahrensrecht für die Mediation zunächst (1) konstitutiv, weil es etwa mit einem zuverlässigen Vertraulichkeitsschutz nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm. § 4 S. 1 MedG bzw. – für Anwaltsmediatoren – § 43a Abs. 2 BRAO und § 18 BORA, den für die Mediation notwendigen Rechtsrahmen zur Verfügung stellt.1580 Darüber hinaus kommt ihm (2) auch eine durchsetzende Funktion zu, indem es über die verfahrensrechtlichen Vorschriften der Vollstreckbarkeit von Mediationsvergleichen nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (Prozessvergleich), § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO (Vollstreckung aus notarieller Urkunde) und §§ 796 a-c ZPO (Anwaltsvergleich) den in der Mediation getroffenen Vereinbarungen vollstreckungsfähige Rechtswirkung verleiht und ihnen auf diese Weise objektiv zur rechtlichen Durchsetzung verhilft.1581 Weil die Dogmatik des Verfahrensrechts den Parteien eine Vielzahl von Rechtsfiguren, Grundsätzen und Prinzipien zur Verfügung stellt, die – wie etwa die Waffengleichheit der Parteien oder die Grundsätze der materiellen Prozessleitungspflicht nach § 139 ZPO – für das Mediationsverfahren fruchtbar gemacht werden können, kommt dem Verfahrensrecht darüber hinaus eine (3) nährende Funktion zu.1582 Und schließlich wirkt das Verfahrensrecht in der Mediation auch (4) begrenzend1583, indem es über die verfassungsrechtlichen Verfahrens- und die allgemeinen Prozessgrundsätze den Rahmen des zulässigen Handelns des Mediators wie der Parteien absteckt.
1577
Hierzu oben S. 417 ff. Zur Problematik des unzulässigen Einigungsdrucks (settlement pressure) vgl. eingehend oben S. 130 ff., 132 ff., 315 ff., 337 ff., 368 f., 411 f., 417 ff., 605 f. sowie Jennings, 6 Ohio St. J. on Disp. Resol. 313 (1991); Lande, 50 UCLA L. Rev. 69, 86 ff. (2003); Bone, 28 Cardozo L. Rev. 1961, 2011 (2007). Aus dem deutschsprachigen Schrifttum vgl. Stürner, JR 1979, 133, 136; Wendenburg, Schutz (2013), S. 54 ff. 1579 Hierzu oben S. 432 ff. 1580 Hierzu oben S. 432. 1581 Hierzu oben S. 432. 1582 Hierzu oben S. 432. 1583 Hierezu oben S. 433. 1578
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Die Quellen des Verfahrensrechts in der Mediation sind vielfältig.1584 So findet sich das prozedurale Recht der Mediation in vertraglichen Verfahrensregelungen – etwa der Mediationsvereinbarung, dem Mediatorvertrag, den Verfahrensordnungen und der Collaborative Law Vereinbarung – sowie in den gesetzlichen Rahmenregelungen auf internationaler (UNCITRAL Model Law on International Commercial Conciliation), europäischer (europäische Mediationsrichtlinie) und nationaler Ebene (Uniform Mediation Act in den USA, ZivMediatG in Österreich1585, Mediationsgesetz in Deutschland). Über das Verfahrensrecht hinaus wird die Mediation allerdings auch von eigenen, spezifischen Verfahrensgrundsätzen bestimmt, die weitgehend den äußeren und inneren Strukturmerkmalen des Mediationsverfahrens entsprechen: Privatautonomie, Kooperation, Interessenorientierung, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität und Neutralität. Zugleich haben wir im Rahmen unserer Untersuchung gesehen, dass auch die verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien sowie die Prozessmaximen des Zivilprozesses trotz der Strukturunterschiede beider Verfahren in ihrem Wesensgehalt auf die Mediation anwendbar sind, dabei indes eine eigene, für die Mediation spezifische Ausprägung erfahren.1586 Schließlich haben wir das Problem des Verfahrensübergangs vom Zivilprozess zur Mediation in den Blick genommen und die prozedurale Verknüpfung beider Verfahren näher untersucht.1587 Weil die Umsetzung des Mediationsprimats im Sinne einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre mit einem Paradigmenwechsel verbunden ist, der das tatsächliche Primat des Zivilprozesses als die Rechtspraxis dominierendes Verfahren aufbricht und gleichsam umkehrt, kommt der Verfahrenswahl für die Bestimmung des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess als Instrument der Korrektur der Verfahrensentscheidung und als Katalysator des von einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre geforderten Paradigmenwechsels eine zentrale Bedeutung zu. Die Art des Verfahrensübergangs hängt dabei von der Struktur des Mediationsverfahrens und seiner Einbettung in das Gefüge staatlicher Ziviljustiz ab: Während im Rahmen der gerichtsexternen, vertragsautonomen Mediation (Mediation vor Klageerhebung) der Übergang in das Mediationsverfahren über präventiv-vorsorgende ex ante1588 oder kurativ-nachsorgende ex post1589 Mediationsvereinbarungen durch die Parteien erfolgt, geht im Rahmen der gerichtsverbundenen, d.h. der
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Zu den verfahrensrechtlichen Grundlagen oben S. 433 ff. ZivMediatG v. 6.6. 2003, BGBl I, 29 (Österreich). 1586 Zu den Verfahrensgrundsätzen der Mediation oben S. 459 ff. 1587 Hierzu oben S. 492 ff. 1588 Hierzu oben S. 497 f. 1589 Hierzu oben S. 498 f. 1585
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gerichtsnahen1590 (Mediation durch externe Mediatoren) oder externe n1591 Mediation (Mediation durch Richtermediatoren) die Initiative zur Einleitung des Verfahrensübergangs vom erkennenden Prozessrichter aus, wobei hier (1) mit der unverbindlichen Anregung, (2) der verbindlichen Verweisung sowie (3) der gesetzlichen Anordnung der obligatorischen Mediation drei unterschiedliche, idealtypische Instrumente des Verfahrensübergangs zur Verfügung stehen. Die obligatorische Mediation1592 als Vorschaltverfahren vor Klageerhebung gehört dabei zu den rechtspolitisch umstrittensten, gleichwohl effektivsten Formen des Verfahrensübergangs. Sie stellt die konsequenteste verfahrensrechtliche Umsetzung des Mediationsprimats als Element einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre dar. Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit einer solchen Mediationsobliegenheit hat das BVerfG im Hinblick auf die Vorschrift des § 15a EGZPO bestätigt.1593 Und auch auf der Grundlage unserer Untersuchung ergibt sich der Befund, dass die obligatorische Mediation keinen durchgreifenden Bedenken unterliegt und insbesondere mit den Verfahrensprinzipien der Mediation, namentlich der Privatautonomie der Parteien, ohne weiteres vereinbar ist, weil die Obliegenheit zur Teilnahme am Mediationsverfahren die Freiwilligkeit der Einigung nicht tangiert.1594 Mit der Prüfungspflicht der Parteien und Anwälte und entsprechenden anwaltlichen Hinweispflichten, dem Einsatz von Mediations-Koordinatoren und mit kostenrechtlichen Anreizstrukturen1595, wie es etwa die englischen Civil Procedure Rules1596 vorsehen, stehen damit effektive Instrumente der Verfahrensförderung zur Verfügung. Indem das Verfahrensrecht auch im Rahmen eines laufenden Zivilprozesses einen Wechsel in das Mediationsverfahren ermöglicht, schafft es die Voraussetzungen für eine rechtspolitische Verwirklichung des Mediationsprimats. Mit der Möglichkeit der bindenden Verweisung an den Güterichter gem. § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO sowie der Anregung einer freiwilligen gerichtsexternen mediation gem. § 278a Abs. 1 ZPO, der Aktivierung des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm. § 4 S. 1 MedG bzw. bei der Mitwirkung von Anwaltsmediatoren zusätzlich nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO iVm. § 43a Abs. 2 BRAO, § 18 BORA und der Möglichkeit der Vollstreckung des Mediationsvergleichs nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (Prozessvergleich), § 794 Abs. 1
1590
Hierzu oben S. 502 ff. Hierzu oben S. 504 ff. 1592 Hierzu oben S. 511 ff. 1593 BVerfG NJW-RR 2007, 1073, 1074 (obligatorisches Schlichtungsverfahren). 1594 Hierzu Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737, 2742 (zwischen Teilnahme- und Abschlussfreiheit differenzierend). 1595 Hierzu oben S. 507 ff. 1596 Vgl. hierzu Greger, JZ 2002, 1020; Wagner, ZKM 2004, 100 sowie oben S. 419 Fn. 398. 1591
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Nr. 5 ZPO (Vollstreckung aus notarieller Urkunde) bzw. §§ 796 a-c ZPO (Anwaltsvergleich) steht der für einen effektiven Wechsel vom Zivilprozess in die Mediation notwendige rechtliche Rahmen zur Verfügung. Mediation und Recht sind damit auf das Engste miteinander verknüpft. Dabei macht vor allem der Blick auf das Verfahrensrecht in besonderer Weise deutlich, dass die Mediation auf einen soliden rechtlichen Rahmen konstitutiv angewiesen ist. Daraus ergibt sich das auf den ersten Blick paradoxe Ergebnis, dass das Primat des Mediationsverfahrens1597 als zentrales Element einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre zu seiner Verwirklichung in besonderer Weise des Verfahrensrechts bedarf. Die enge Verknüpfung von Mediation und Recht als Ausdruck des Prinzips informaler und formaler Gerechtigkeit, common law und equity, ius civile und ius honorarium setzt sich so auch auf verfahrensrechtlicher Ebene fort. Die Mediation erweist sich insoweit als integraler Bestandteil der Privatrechtsordnung, der seit jeher das Prinzip informaler Gerechtigkeit immanent ist und die im Hinblick auf die Ordnung der Konfliktbehandlung des Primats des Mediationsverfahrens bedarf, um das Gleichgewicht von Formalität und Informalität als Voraussetzung für eine möglichst weitgehende Verwirklichung der Gerechtigkeit als letztes Ziel des Rechts wie der Rechtsordnung insgesamt wiederherzustellen.
1597
Hierzu eingehend oben S. 110 ff., 729 ff., 735 ff., 740 ff.
V. Zusammenfassung 1. Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung wurden mit dem Ziel der Entwicklung einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre in einer Synthese zu einem einheitlichen Gesamtbild zusammengefügt. Einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre kommt die dreifache Aufgabe der Analyse, der systembildenden Dogmatik sowie der Bestimmung des Verfahrensdesigns zu. 2. Analyse: In einem ersten Schritt wurden die Verfahren der Mediation und des Zivilprozesses zunächst im Wege einer analytischen Bestandsaufnahme als reale Phänomene der Rechtswirklichkeit umfassend analytisch erfasst und beschrieben, wobei dem interdisziplinären Ansatz eine zentrale Bedeutung zukam. 3. Dogmatik: Auf der Grundlage des durch die Analyse gewonnenen Befundes wurden beide Verfahren sodann in einem zweiten Schritt in ein dogmatisches Gesamtsystem unterschiedlicher Verfahrensarten eingefügt. Ein solches dogmatisches System der Konfliktbehandlung setzt die einzelnen Verfahren in ihrer Struktur, ihren speziellen wie gemeinsamen Verfahrensgrundsätzen sowie ihren gegenseitigen Wechselwirkungen zueinander in Beziehung und ermöglicht so eine begriffliche Handhabung sowie ein an dogmatischen Grundsätzen ausgerichtetes praktisches Verfahrensdesign. 4. Verfahrensdesign: Analyse und Dogmatik stehen im Dienst eines praktischen Verfahrensdesigns. In einem dritten Schritt ermöglicht die dogmatische Durchdringung der einzelnen Verfahren der Konfliktbehandlung in ihren Wechselwirkungen zueinander die Entwicklung eines effektiven Verfahrensdesigns. Denn aus dem analytischen und dogmatischen Befund, dem Verständnis der Struktur der einzelnen Verfahren, der sie prägenden Prinzipien und ihrer Wechselwirkungen zueinander ergeben sich praktische Konsequenzen für die Ausgestaltung wie auch für den Einsatz der Verfahren in der Praxis. 5. Die zu entwickelnde allgemeine Konfliktbehandlungslehre wurde von den in der Vergangenheit immer wieder angestoßenen Versuchen der Formulierung einer allgemeinen Prozessrechtslehre abgegrenzt. Denn trotz der unverkennbaren Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die Zielsetzung und den rechtspolitischen Hintergrund erfassen allgemeine Konfliktbehandlungslehre und allgemeinen Prozessrechtslehre unterschiedliche, sich in ihrem Wesen gegenseitig ausschließende Sachgegenstände: Während sich die allgemeine Prozessrechtslehre ausschließlich um die Entwicklung gemeinsamer Verfahrensgrundsätze für das streitige, gerichtliche Urteilsverfahren bemüht, nimmt die allgemeine Konfliktbehandlungslehre das gesamte Kontinuum unterschiedlicher Verfahrensarten in den Blick. Während die eine mit dem heteronomen Drittentscheidungsverfahren ein im Wesentlichen kohärentes Verfahren zum
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Gegenstand hat, geht es bei der anderen gerade um die Vielfalt unterschiedlicher, sich in Struktur, Wesen und Verfahrensgrundsätzen unterscheidender Verfahren der Konfliktbehandlung. 6. Den methodischen Ausgangspunkt für die Entwicklung der Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre bildet dabei der interdisziplinäre Befund der bisherigen Untersuchung, der für die Entwicklung eines dogmatischen Rahmens fruchtbar gemacht wird. Als dogmatischer Ausgangspunkt wurde Fullers Verfahrens- und Institutionenlehre herangezogen. Von besonderer Bedeutung sind hierbei insbesondere die Grundsätze des Verfahrenspluralismus, die Prinzipien der strukturellen Verfahrensintegrität und der Rollentrennung sowie das Primat der Mediation als Grundlage der Verfahrenswahl. 7. Das Prinzip des Verfahrenspluralismus bildet das erste Element der allgemeinen Konfliktbehandlungslehre. Ausgehend von der Überlegung Fullers, dass jede menschliche Gesellschaft aufgrund der Bedingtheiten des menschlichen Lebens über einen vorgegebenen Satz bestimmter Verfahren gesellschaftlicher Steuerung (processes of social ordering) verfügen muss, ergibt sich auch für die Konfliktbeilegung ein Kontinuum unterschiedlicher Streitbehandlungsformen mit jeweils eigener Struktur und eigenen Verfahrenseigenschaften. Die Vielfalt unterschiedlicher Verfahrensarten und -kombinationen lässt sich dabei im Sinne einer Verfahrenstypologie auf die Trias der drei Primärverfahren der Konfliktbehandlung aus Verhandlung, Mediation und autoritativer Drittentscheidung zurückführen. 8. Alle übrigen ADR-Verfahren, insbesondere auch die Hybridverfahren wie die Early Neutral Evaluation, der Mini Trial, Med-Arb, Arb-Med, NegArb, Online Dispute Resolution (ODR), die Schlichtung und das Institut des Ombudsmanns gehen regelmäßig aus der Kombination mehrerer Primärverfahren hervor. Dabei handelt es sich nicht um eigenständige Verfahrenstypen, sondern lediglich um Abwandlungen der drei Primärverfahren. 9. Die Trias der drei Primärverfahren ist rechtsgeschichtlich gut belegt. Sie findet sich zunächst in der Gemeinderegel Jesu, die gleichsam als „erstes abgestuftes Konfliktmanagementsystem der Geschichte“ zunächst die bilaterale Konfliktbeilegung („Verhandlung“), sodann das Hinzuziehen eines oder mehrerer Vermittler („Mediation“) und schließlich die verbindliche Entscheidung eines Dritten (gerichtliches Verfahren) vorsah. Bei den Naturrechtlern wie Samuel Pufendorf und Hugo Grotius lässt sie sich explizit als Trias von Freundschaftsgespräch (colloquium), Vergleich (compromissum) und Los (fors) nachweisen. 10. Die Verfahrenstypologie der drei Primärverfahren kann darüber hinaus mit Blick auf ihren konsensualen Charakter in konsensuale und heteronome Verfahren weiter ausdifferenziert werden. Dabei treten (konsensuale) ADRVerfahren wie die Verhandlung und die Mediation als Ausdruck des Prinzips des Informalen bzw. der Billigkeit, heteronome Drittentscheidungsverfahren, wie etwa der Zivilprozess, als Ausdruck des Prinzips des Formalen bzw. des
V. Zusammenfassung
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(strengen) Rechts in Erscheinung. Dogmatisch lässt sich daher die Trias der Primärverfahren auf den Dualismus zwischen konsensualen und heteronomen Verfahren, auf die Dichotomie zwischen dem Prinzip informaler Billigkeit und formaler Gerechtigkeit reduzieren. Diese Zweiteilung der Streitbeilegungsformen, die zugleich die formale und informale Seite des Rechts selbst – Billigkeit und strenges Recht – repräsentiert, findet sich als strukturprägendes Merkmal in nahezu allen Rechtsordnungen über alle Kulturen und Epochen hinweg. In besonderer Weise wird der Dualismus zwischen Formalität und Informalität in der Entwicklung der ADR-Bewegung deutlich, die sich als Gegenbewegung zu dem als defizitär empfundenen System staatlicher Ziviljustiz entwickelt hat. 11. 1Das Gegensatzpaar des Prinzips des Formalen und des Informalen, der Billigkeit und des Rechts durchzieht schließlich die menschliche Rechtsentwicklung seit ihren Anfängen: materiell-rechtlich als Gegensatz von ius honorarium und ius civile, equity und common law, von strengem und billigem Recht, der in der Antinomie von transactio und sententia des römischen Rechts sowie im Spannungsverhältnis von Minne und Recht des Mittelalters sowie Urteil und Vergleich des modernen Rechts seine prozessuale Entsprechung findet. 12. Allerdings kommt auch den ADR-Verfahren und selbst den konsensualen Primärverfahren der Konfliktbeilegung ein jeweils unterschiedliches Gewicht und eine unterschiedliche praktische Bedeutung zu, womit bereits das Prinzip der Verfahrenshierarchie aufscheint. So hat sich in der Praxis das Kontinuum der ADR-Verfahren im Wesentlichen auf die Mediation als dem maßgeblichen Verfahren alternativer Streitbeilegung verengt. Aus der Verfahrenstrias ist in der Praxis weithin der Dualismus von Mediation und Zivilprozess geworden. 13. Die Ursache hierfür liegt in der Struktur von Verhandlung und Mediation und ist damit dogmatisch begründet: So setzt die Verhandlung bereits eine grundlegende Fähigkeit zur Implementierung der hierfür erforderlichen Verhaltensanforderungen an die Parteien, insbesondere einen umfassenden multilateralen Rollentausch voraus. Hierzu sind die Parteien indes in der Regel nicht in der Lage. Sie müssen ein konsensuales Konfliktverhalten zunächst erlernen. Ohne Unterstützung eines neutralen Dritten sind sie mit der einvernehmlichen Beilegung ihres Konfliktes in der Regel überfordert und fallen stattdessen in intuitives Konfliktverhalten zurück. Diesen Lern- und Transformationsprozess leistet das Mediationsverfahren durch die verfahrensleitende Funktion des Mediators. Mediation ist damit Hilfe zur Selbsthilfe. Dem Mediator kommt eine pädagogische, unterstützende und heilende Funktion zu. 15. Fuller geht davon aus, dass jedes Verfahren über ein ihm eigenes Wesen (morality) und eine eigene innere Struktur (design) verfügt, die ihm eine unverwechselbare Identität verleihen. Während das Wesen die das Verfahren bestimmenden Grundprinzipien, seine Zwecke und seine Natur beschreibt, ver-
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weist die Struktur auf die dem Verfahren eigenen Mechanismen der Entscheidungsfindung, die in den jeweils spezifischen Strukturmerkmalen der Verfahren zum Ausdruck kommen. 16. Wesentlich dafür, dass die Verfahren die ihnen zugedachte Funktion im Kontinuum der Konfliktbehandlungsverfahren erfüllen können, sind die Prinzipien der strukturellen Verfahrensintegrität und der Rollentrennung. Aus dem Grundsatz der strukturellen Integrität ergibt sich das Gebot, die ein jedes Verfahren konstituierenden, ihm wesenhaft eigenen, identitätsstiftenden Strukturmerkmale vor Beeinträchtigungen zu schützen sowie den Verfahrensrahmen so auszugestalten, dass sie zur vollen Entfaltung gelangen. Diesem Ziel dienen die Verfahrensgrundsätze, wie im Mediationsverfahren etwa der Schutz der Vertraulichkeit, der Privatautonomie sowie die Neutralität des Mediators. Im Zivilprozess sind es dagegen umgekehrt gerade die Öffentlichkeit des Verfahrens sowie die Rolle des Richters als Entscheider, die den Zivilprozess in seiner strukturellen Integrität bewahren. 17. Beeinträchtigungen der Verfahrensintegrität sind von erheblicher praktischer Bedeutung gehören zu den umstrittensten Fragen der Mediationspraxis. So wird etwa im Rahmen der US-amerikanischen Institutionalisierungsdebatte intensiv die Frage diskutiert, ob durch die Integration der Mediation in gerichtsverbundene Mediationsprogramme und die damit verbundene Gefahr des Einigungsdrucks durch stark bewertendes Verhalten proaktiver Mediatoren nicht die Grundsätze der Mediation unzumutbar verletzt werden und die Privatautonomie der Parteien in einem unerträglichen Maß beschnitten wird. 18. Die Prinzipien der strukturellen Integrität und das Gebot der Rollentrennung sind eng miteinander verknüpft. Entsprechend versagt das Gebot der Rollentrennung den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, verfahrensfremde Rollen einzunehmen, weil nur so der Schutz der strukturellen Integrität des jeweiligen Verfahrens gewährleistet werden kann. So ist es etwa dem Mediator verboten, die Rollen des Vermittelnden und des Richtenden zu vermischen und abhängig von der jeweiligen Situation entweder die eine oder die andere Rolle einzunehmen. Insbesondere im Rahmen der bewertenden Mediation (evaluative Mediation) besteht die ernsthafte Gefahr, dass der Mediator durch rechtliche Bewertungen (etwa der Prozessaussichten aus der Perspektive des Güterichters) oder sogar durch eigene Lösungsvorschläge einen zu starken Einfluss auf die eigentlich den Parteien vorbehaltene Sachentscheidung nimmt. Im Extremfall besteht das Risiko, dass der Mediator direkt oder indirekt seine eigene Entscheidung an die Stelle der Einigungsentscheidung der Parteien setzt, so dass nicht mehr ein Mediationsvergleich als Ausdruck der eingenverantwortlichen Selbstbestimmung der Parteien, sondern stattdessen ein „Urteil in Vergleichsform“ am Ende des Mediationsverfahrens steht. 19. Die einzelnen Verfahren im Kontinuum der Konfliktbehandlung, insbesondere die drei Primärverfahren, stehen nicht gleichrangig nebeneinander.
V. Zusammenfassung
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Sie sind vielmehr Teil eines hierarchisch abgestuften Systems unterschiedlicher Verfahrensarten, in dem den konsensualen Verfahren der Verhandlung und Mediation Vorrang vor dem insoweit subsidiären Zivilprozess zukommt (Prinzip der Verfahrenshierarchie). 20. Für die Bestimmung des Verhältnisses der einzelnen Verfahren zueinander werden drei Prinzipien herangezogen: 1) das Prinzip funktionaler Differenzierung, 2) das Prinzip qualitativer Differenzierung und 3) das Prinzip hierarchischer Differenzierung. 21. Das Prinzip der funktionalen Differenzierung versucht das hierarchische Verhältnis der einzelnen Verfahren zueinander auf der Grundlage ihrer Funktion zu bestimmen, die ihnen im Gefüge der Privatrechtsordnung wie auch mit Blick auf die Bezugsgrößen Gesellschaft, Konflikt und Parteien zukommt. Vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Owen-Fiss-Debatte, dessen Kritik an der vergleichsweisen Einigung sich zu Recht nicht durchzusetzen vermochte, wurden Mediation und Zivilprozess mit Blick auf Funktion, Struktur, Wirkungen und Risiken näher untersucht. Als Ergebnis des komplexen Befundes der vergleichenden Analyse beider Verfahrensarten konnte die symbiotische Komplementarität beider Verfahren nachgewiesen werden. Mit Blick auf ihr hierarchisches Verhältnis zueinander wurde die These des Primats des Mediationsverfahrens im Rahmen der funktionalen Analyse beider Verfahren bestätigt. 22. Das Prinzip qualitativer Differenzierung geht einen anderen Weg und versucht, das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess auf der Grundlage ihrer Eignung zur Lösung eines bestimmten Konflikttyps sowie der Präferenzen der Parteien zu bestimmen. Dieser Ansatz geht von der unterschiedlichen Eignung der verschiedenen Konfliktbeilegungsverfahren zur Lösung spezifischer Konflikte aus. Eine entsprechende Taxonomie wurde von Sander und Rozdeiczer vorgelegt, wirft jedoch eine Reihe methodischer Probleme auf. Als Alternative wurde ein eigenes Modell der Verfahrenswahl auf der Grundlage von Struktur und Funktion der jeweiligen Verfahren sowie der Verfahrensrisiken entwickelt und den im Rahmen der Modellprojekte gerichtsverbundener Mediation in Deutschland empirisch gewonnenen Eignungskriterien gegenübergestellt. 23. Schließlich wurde das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess vor dem Hintergrund des Prinzips der hierarchischen Differenzierung näher untersucht. Dabei wurde zur Begründung des Mediationsprimats der interdisziplinäre Befund der bisherigen Untersuchung, insbesondere die rechtstheoretischen, rechtssoziologischen, rechtshistorischen und dogmatischen Begründungsansätze herangezogen. Ausgehend vom Konzept des Multi-Door Courthouse wurde vor dem Hintergrund einer Konzentration der ADR-Verfahren in der Rechtspraxis auf die Mediation als dem maßgeblichen ADR-Verfahren das Primat der Mediation als zentrales Prinzip einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre herausgearbeitet.
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§ 7 Grundzüge einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre
24. Zur Begründung des Mediationsprimats wurde dabei zusätzlich der interdisziplinäre Befund der Verhaltensökonomik, der Spieltheorie, der Gerechtigkeitsforschung sowie der aktuellen Forschung im Schnittpunkt von Entwicklungsbiologie und Neurowissenschaften herangezogen. Die Mediation erweist sich dabei als das dem Menschen eigene, selbst bis auf die Ebene seiner neuronalen Korrelate entsprechende Verfahren konsensualer Streitbeilegung. Indem es das Reziprozitätsprinzip des multilateralen Rollentauschs der regula aurea in praktisch handhabbarer Weise implementiert, ist es das gerechte Verfahren informaler Billigkeit schlechthin. 25. Es gewährleistet damit ein weitaus höheres Maß an Richtigkeitsgewähr, als dies auf der Grundlage des gängigen Vertragsmodells möglich ist. Denn das der Schmidt-Rimplerschen Theorie der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus zugrunde liegende Vertragsmodell beruht gerade auf jenem von der behavioral law and economics Forschung widerlegten Verhaltensmodell des homo oeconomicus, das noch vom intuitiven, positionsorientierten und damit ineffektiven Verhandlungsverhalten geprägt ist, das durch interessenorientierte Verhandlung nach dem Harvard Modell gerade überwunden werden sollte. Trotz des Primats der Mediation als zentralem Element einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre sind Mediation und Zivilprozess auf das Engste miteinander verknüpft. Sie stehen zueinander im Verhältnis komplementärer Einheit und erweisen sich als Ausdruck informaler und formaler Gerechtigkeit als notwendige, sich spiegelbildlich entsprechende Seiten des einen Prinzips des Rechts.
§ 8 Gesamtergebnis und Thesen I. Ausgangslage Mit dem Spannungsverhältnis zwischen Mediation und Zivilprozess steht ein rechtspolitisch wie rechtspraktisch hochaktuelles Problem im Mittelpunkt der Untersuchung. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Mediation zunehmend an Bedeutung gewonnen. An den Gerichten sind gerichtsverbundene Mediationsprogramme mittlerweile fest etabliert. Aus dem System staatlicher Justizdienstleistungen ist die Mediation nicht mehr wegzudenken. Entsprechend gehört die Mediationsausbildung – in den USA noch sehr viel stärker als in Deutschland – heute an den Universitäten zum selbstverständlichen Curriculum der Juristenausbildung. Hatten Verfahren der alternativen Streitbeilegung noch vor wenigen Jahren weitgehend Pioniercharakter, so sind sie inzwischen im Herzen der einzelnen Rechtsordnungen wie auch in der Justiz angekommen. Gefördert durch europäische Rahmengesetzgebung ist ihre rechtliche Institutionalisierung in den Mitgliedstaaten mittlerweile weit vorangeschritten. Die Auswirkungen der ADR-Revolution sind dabei nicht auf die Rechtswissenschaft beschränkt: Als Verfahren konsensualer Streitbeilegung die Mediation in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens etabliert – in Schulen, Krankenhäusern, Unternehmen, bei Planfeststellungsverfahren wie auch in Vereinen und Verbänden. Die mit ihr verbundenen rechtlichen Probleme sind inzwischen weitgehend ausgelotet. Es existiert mittlerweile eine Fülle an Literatur, die sich mit den unterschiedlichsten rechtlichen Aspekten der Mediation – vor allem aus der Sicht der Praxis – auseinandergesetzt hat. 1. ADR-Bewegung und Rechtswissenschaft Vor diesem Hintergrund mag es umso mehr verwundern, dass der dogmatische Standort des Mediationsverfahrens im Gefüge der Privatrechtsordnung noch weitgehend terra incognita geblieben ist. Trotz der überwältigenden Resonanz der Praxis und des regen Interesses an der rechtlichen Lösung spezifischer Einzelprobleme stößt die Mediation in der Privatrechtslehre zwar auf grundsätzlich wohlwollendes, indes weitgehend verhaltenes Echo. Im dogmatisch klar geordneten Gefüge des Privatrechts erscheint das Mediationsverfahren noch weitgehend als Fremdkörper, das eher im Bereich der soft skills, der verwaschenen, unscharfen psychosozialen Kompetenzen angesiedelt scheint, als im Kernbereich seriöser Dogmatik. Bei diesem ersten Blick auf das Verhältnis der Mediation zur Privatrechtslehre drohen allerdings zwei wesentliche Aspekte in den Hintergrund zu geraten: Zum einen die Tatsache, dass diese Beschreibung
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§ 8 Gesamtergebnis und Thesen
zugleich auf den gesamten, naturgemäß tendenziell „schwammigen“ Bereich der Billigkeitsrechtsprechung – man denke nur an die anglo-amerikanische Judikatur zum Law of Equity – zutrifft. Zum anderen der Befund, dass die verbreitete Skepsis gegenüber dem als „unjuristisch“ oder unscharf empfundenen Mediationsverfahren der Bedeutung und dem Wesen der Mediation nicht gerecht zu werden vermag. Wie im Gang der vorliegenden Untersuchung deutlich geworden ist, verfügt das Mediationsverfahren tatsächlich über ein klares Profil und eine spezifische dogmatische Struktur, die sich ohne Weiteres in das System der zivilverfahrensrechtlichen Dogmatik integrieren lässt. 2. Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes Allerdings ist es für dieses Unternehmen notwendig, den Blick zu weiten und auch methodisch neue Wege zu gehen. Gerade die Beschäftigung mit dem Mediationsverfahren aus dogmatischer Perspektive hat gezeigt, dass ein umfassendes Verständnis der Mediation nicht auf die zivilverfahrensrechtliche Dogmatik beschränkt bleiben kann, sondern diese notwendig überschreitet. Das Mediationsverfahren transzendiert die Ebene des rein Rechtlichen. Das Projekt der Integration eines auf den ersten Blick „schwer fassbaren“ Phänomens wie jenes der Mediation in die Prozessrechtsdogmatik kann daher nur aus einer übergreifenden, interdisziplinären Perspektive gelingen. Entsprechende Versuche, den Befund interdisziplinärer Forschung für die Privatrechtslehre fruchtbar zu machen, gab es insbesondere in jüngerer Zeit wiederholt: Zu denken ist etwa an die ökonomische Analyse des Rechts sowie die zunehmende Bedeutung der Rechtstatsachenforschung als Grundlage rechtspolitischer Entscheidungen. In den Wirtschaftswissenschaften als Lehre vom wirtschaftlichen Handeln des Menschen ist die interdisziplinäre Herangehensweise an ökonomische Fragestellungen mittlerweile fest etabliert. Insbesondere hat hier der interdisziplinäre Befund der Verhaltensökonomik (behavioral law and economics) eine umfassende Rezeption erfahren. Eine entsprechende Entwicklung ist auch für die Privatrechtsdogmatik als Lehre vom rechtlichen Handeln des Menschen wichtiger denn je. So kann etwa der Befund der behavioral law and economicsForschung in seiner Widerlegung der Plausibilität des homo oeconomicus-Ansatzes als Verhaltensmodell nicht ohne Auswirkungen auf die Privatrechtslehre bleiben, die dem Vertragsmodell mit Schmidt-Rimplers Theorie der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus gerade die Rationalitätsannahmen des mittlerweile empirisch widerlegten homo oeconomicus zugrunde legt. Vor diesem Hintergrund will die vorliegende Untersuchung einen Beitrag dazu leisten, den Befund der interdisziplinären Forschung für die zivilverfahrensrechtliche Dogmatik fruchtbar zu machen.
II. Mediation und Zivilprozess: Wesentliche Ergebnisse
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Diesem Ansatz folgend wurden Mediation und Zivilprozess zunächst einer umfassenden analytischen Bestandsaufnahme aus der Perspektive unterschiedlicher Grundlagenwissenschaften unterzogen, gleichsam „aufgebohrt“, um ein möglichst umfassendes Verständnis beider Verfahren zu gewinnen. Wesentliches Anliegen dieser Analyse war es, nicht lediglich bei der üblichen Beschreibung der Vor- und Nachteile beider Verfahren stehenzubleiben, sondern vielmehr ihre Auswirkung auf die Konfliktdynamik sowie auf Recht und Gesellschaft zu untersuchen. Auf der gesicherten Grundlage des interdisziplinären Befundes wurde sodann der Versuch der Entwicklung einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre mit dem Ziel der Integration des Mediationsverfahrens in die zivilverfahrensrechtliche Dogmatik unternommen. Die Untersuchung konnte dabei an die Vorarbeiten dreier US-amerikanischer Wissenschaftler anknüpfen, die an der Harvard University gelehrt hatten und deren Arbeit für ihr jeweiliges Fachgebiet prägend geworden ist: Den Rechtsphilosophen Lon L. Fuller, den Psychologen Lawrence Kohlberg und den Rechtswissenschaftler und Doyen der modernen ADR-Bewegung Frank E.A. Sander. In jüngster Zeit ist mit dem Entwicklungsbiologen Martin Nowak vom Program for Evolutionary Dynamics an der Harvard University darüber hinaus ein Forscher hinzugekommen, der sich am Schnittpunkt von Entwicklungsbiologie und Neurowissenschaften intensiv mit dem biologischen Grundlagen kooperativen Verhaltens auseinandersetzt.
II. Mediation und Zivilprozess: Wesentliche Ergebnisse Die Ergebnisse der Untersuchung finden sich in den jeweiligen Kapitelzusammenfassungen. Im Folgenden soll der wesentliche Ertrag der Arbeit aus systematischer Perspektive in sieben Thesen zusammengefasst werden. 1. Das herkömmliche System der Konfliktbeilegung durch heteronome Drittentscheidung im Rahmen des Zivilprozesses erweist sich aufgrund der systemimmanenten Schwächen des zivilgerichtlichen Verfahrens als defizitär. Zur ursächlichen, dauerhaften, nachhaltigen und interessengerechten Lösung von Konflikten ist der Zivilprozess nur begrenzt und lediglich als ultima ratio geeignet. Die Transformation des Sachkonfliktes in einen rechtlichen Metakonflikt durch komplexitätsreduzierende Verrechtlichung erschwert beiderseits interessengerechte win-win-Lösungen, da die hierfür erforderliche Dimension der Sachinteressen durch Verrechtlichung ausgeblendet wird und für die rechtliche Lösung des Konfliktes ohne Bedeutung bleibt. Im Gegenteil hat die durch den Zivilprozess in Gang gesetzte formalisierte Thematisierung des Rechts eine weitere Eskalation des Konfliktes zur Folge, der nach Überschreiten eines point of no return in einen Goffman’schen character contest mündet, bei dem es nicht mehr um die Lösung eines Sachproblems, sondern nunmehr allein da-
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§ 8 Gesamtergebnis und Thesen
rum geht, aus dem Konflikt als Sieger hervorzugehen. Retrospektivität, der binäre Schematismus zivilprozessualer Alles-oder-Nichts-Entscheidungen, kontradiktorischer Rollenzwang sowie das für den Zivilprozess typische Kommunikations-, Partizipations- und Akzeptanzdefizit bergen erhebliches Eskalationspotenzial und erschweren die Lösung des Konfliktes. Für die Privatrechtsordnung wie für die Gesellschaft insgesamt ist das funktionale Versagen des zivilgerichtlichen Verfahrens als Instrument effektiver Streitbeilegung umso folgenreicher, als das System privatrechtlicher Konfliktbehandlung weitgehend auf den Zivilprozess als „komfortabel ausgebauten Königsweg“1 zugeschnitten ist. 2. Die Mediation als konsensuales Verfahren eigenverantwortlicher, privatautonomer Konfliktbeilegung gleicht die systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses spiegelbildlich aus. Statt eines verfremdeten, seiner Sachebene beraubten und ausschließlich auf die Ebene der Rechtspositionen reduzierten transformierten Metakonfliktes stehen in der Mediation die Interessen der Parteien und damit der unmittelbar konfliktrelevante Sachverhaltsstoff im Mittelpunkt. Durch den Wechsel von den Positionen zu den dahinter stehenden eigentlichen Interessen der Parteien und die damit verbundene Überwindung des binären Schematismus rechtlicher Alles-oder-Nichts-Entscheidungen werden pareto-optimale win-win-Lösungen möglich. Die Ausrichtung der Parteien aufeinander hin und der durch das Mediationsverfahren in Gang gesetzte Wandel von der Rolle sich antagonistisch gegenüberstehender Streitparteien in die Rolle des Problemlösers hat eine weitreichende Deeskalation des Konfliktes zur Folge. An die Stelle defizitärer Kommunikation und Partizipation sowie daraus erwachsender eingeschränkter Akzeptanz des gerichtlichen Urteils tritt eine intensive Einbeziehung der Parteien in den Prozess der sachgerechten Lösung des Interessenkonfliktes. Waren die Parteien im Zivilprozess lediglich auf die Rolle passiver Verfahrensbeteiligter beschränkt, so gestalten sie die Einigungsentscheidung in der Mediation selbst. Der durch den multilateralen Rollentausch gewährleistete Perspektivwechsel ermöglicht eine Auflösung typischer Wahrnehmungsverzerrungen und ebnet damit den Weg zu einer effektiven Kommunikation. Ein auf diese Weise gemeinsam und eigenverantwortlich erarbeiteter Vergleich gewährleistet nicht nur eine effektive Verwirklichung der gegenseitigen Interessen im Sinne eines angemessenen Interessenausgleichs, sondern trägt durch die damit verbundene Akzeptanz erheblich zu einer dauerhaften und ursächlichen Beilegung des Konfliktes bei. 3. Die funktionale Komplementarität von Mediation und Zivilprozess folgt dem wechselseitigen Spannungsverhältnis struktureller Komplementarität beider Verfahren. Mediation und Zivilprozess sind durch gegensätzliche, sich gegenseitig ergänzende Strukturmerkmale geprägt: Während die Mediation durch die 7 Strukturprinzipien der Privatautonomie, Kooperation, Orientierung an 1
So Greger, FS Vollkommer (2006), S. 3, 5.
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Parteiinteressen, Beziehungsorientierung, Vertraulichkeit, Informalität des Verfahrens und die Vermittlung durch einen neutralen Dritten gekennzeichnet ist, folgt der Zivilprozess mit seinen Strukturprinzipien der Heteronomie, kontradiktorischer Entscheidungsstruktur, der Orientierung an Rechtsansprüchen, Ergebnisorientierung, Öffentlichkeit, Formalität des Verfahrens sowie der Entscheidung durch einen neutralen Dritten einer spiegelbildlich komplementären Verfahrensstruktur. Dem Spannungsverhältnis zwischen den strukturellen Eigenschaften beider Verfahren liegt die Polarität ihres Wesens als Instrumente interessenorientierter Selbst- und normorientierter Fremdsteuerung im Sinne der erweiterten Verfahrens- und Institutionenlehre Lon L. Fullers2 bzw. als Erscheinungsformen informal-materieller und formal-rationaler Rationalität im Sinne Max Webers zugrunde.3 Mediation und Zivilprozess bilden als prozessuale Ausprägung der Prinzipien des Formalen und des Informalen die beiden archetypischen Kehrseiten und Pole des Rechts, zwischen denen die Rechtsordnungen im Lauf ihrer Geschichte oszillieren. Es ist jenes Spannungsverhältnis, das materiell-rechtlich im Gegensatz von ius honorarium und ius civile, equity und common law, strengem und billigem Recht, prozessual in der Antinomie von transactio und sententia des römischen Rechts, in Minne und Recht des Mittelalters und in Urteil und Vergleich des modernen Rechts geschichtlich Gestalt angenommen hat. Die Mediation erweist sich damit nicht etwa als Fremdkörper in der Privatrechtsordnung, sondern vielmehr als untrennbarer Teil und komplementäres Gegenstück zum strengen formal-rationalen Recht. Dieser Befund wird durch Fullers Verfahrens- und Institutionenlehre sowie die aus ihr erwachsenen Prinzipien des Verfahrenspluralismus, der strukturellen Integrität sowie der Rollentrennung bestätigt. In der Trias der Primärverfahren der Verhandlung, Mediation und der gerichtlichen Entscheidung kommt der interessenorientierten Verhandlung nach dem Harvard Modell sowie – aufgrund des mit ihm verbundenen Lern- und Transformationsprozesses – rechtspraktisch dem Mediationsverfahren Vorrang zu (Mediationsprimat). Aus seinen funktionalen und strukturellen Eigenschaften sowie seiner Qualität als Ausdruck informaler Billigkeit ergibt sich die rechtspolitische Forderung nach einer Erweiterung des in der Rechtsordnung verfügbaren Angebotes an Konfliktbeilegungsverfahren durch informale ADR-Verfahren. Dem grundsätzlichen Vorrang der Mediation vor den übrigen Verfahren im Kontinuum der Konfliktbehandlung ist durch geeignete Gestaltung des Zivilverfahrensrechts, insbesondere die Möglichkeit entsprechender Verfahrensübergänge, Rechnung zu tragen (§§ 278 Abs. 5, 278a ZPO). 2 Vgl. hierzu Fuller, 1963 Wis. L. Rev. 3, 23 (1963). Vgl. auch Fuller, 44 S. Cal. L. Rev. 305, 325 (1971). Hierzu eingehend oben S. 111 ff. 3 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Hb. 2 (5. Aufl. 1976), S. 396 ff., 504 ff. Hierzu eingehend oben S. 34 ff.
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§ 8 Gesamtergebnis und Thesen
4. Die außerordentliche Leistungsfähigkeit des Mediationsverfahrens, das „Geheimnis ihres Erfolges“, beruht auf ihrem Charakter als praktisch handhabbare Implementierung des Reziprozitätsprinzips der regula aurea als universalem Gerechtigkeitsprinzip. Die Mediation erweist sich damit als das gerechte Verfahren informaler Billigkeit schlechthin, weil es prozeduraler Ausdruck der Forderungen kommutativer, distributiver und prozeduraler Gerechtigkeit nach der klassischen aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie ist. Die Mediation gibt den Parteien durch die ihr eigene Verfahrensstruktur ein effizientes Instrument an die Hand, um einen multilateralen Rollentausch als Voraussetzung eines umfassenden Perspektivwechsels zu vollziehen, der sie in die Lage versetzt, die Interessen des jeweiligen Verhandlungspartners umfassend wahrzunehmen und bei der Erarbeitung der Einigungsoptionen zu berücksichtigen. Den Kern interessenorientierter Verhandlung nach dem Harvard Modell bildet damit gerade jener multilaterale Rollentausch, jenes Reziprozitätsprinzip, das im Mittelpunkt der regula aurea als universalem Prinzip gerechten Handelns steht. Indem die Mediation die Parteien aufeinander hin ausrichtet, die Parteibeziehung transformiert und eine Auflösung typischer Wahrnehmungsverzerrungen und emotionaler Blockaden ermöglicht, erweist sie sich als effektives und geradezu idealtypisches Verfahren zur Umsetzung der regula aurea. Wenn dem Mediationsverfahren mit der regula aurea aber das zentrale Gerechtigkeitsprinzip schlechthin zugrunde liegt, dann ist es in der Tat das gerechte Verfahren informaler Billigkeit. Dieser Befund wird aus entwicklungspsychologischer Sicht durch Kohlbergs Stufenmodell moralischer Urteilsfähigkeit des Menschen bestätigt. Denn der vom Harvard Modell vorausgesetzte multilaterale Rollentausch entspricht ebenjenem reifen Gebrauch der regula aurea, jener „second order interpretation“4 der Goldenen Regel, die der höchsten Stufe moralischer Urteilsfähigkeit des Menschen nach Kohlbergs Stufenmodell entspricht. Denn den Abschluss der kognitiven und moralischen Entwicklung des Menschen bildet nach Kohlberg gerade jener Perspektivwechsel, jener multilaterale Rollentausch, der im Mittelpunkt der regula aurea als universalem Grundsatz gerechten Handelns steht und den gerade das Harvard Modell interessenorientierter Verhandlung und damit das Mediationsverfahren praktisch umsetzen. Wenn die Mediation als Implementierung der regula aurea einen angemessenen Ausgleich der gegenseitigen Interessen im Sinne pareto-optimaler Kooperationsgewinne und damit materiell gerechte Lösungen ermöglicht, so kann dies nicht ohne Auswirkungen auf das Vertragsmodell bleiben. Denn der dem Mediationsverfahren zu Grunde liegende Mechanismus, die Implementierung der regula aurea als universales Prinzip gerechten Handelns, gewährleistet eine weitaus höhere Richtigkeitsgewähr, als durch das bloße Abschleifen der
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Kohlberg, The Philosophy of Moral Development (1981), S. 204.
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gegenseitigen Interessen nach der Schmidt-Rimpler’schen Theorie der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus möglich ist. Die Verhandlungsforschung vermag daher fruchtbare Impulse für die Weiterentwicklung des Vertragsmodells und damit die Privatrechtsdogmatik zu geben. Eine entsprechende Entwicklung wird durch den interdisziplinären Befund der Verhaltensökonomik, insbesondere durch die Widerlegung der Grundprämissen des Verhaltensmodells des homo oeconomicus, gestützt, das auch dem vom formalliberalen Denken des 19. Jahrhunderts geprägten Schmidt-Rimplerschen Vertragsmodell zu Grunde liegt. 5. Die Mediation ist kein unjuristisches Verfahren, sondern dient als Instrument informaler Billigkeit – wie auch das formale Recht – der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit und damit der Bewährung jener Wertgrundsätze, die auch der positiven Rechtsordnung insgesamt zu Grunde liegen. Entsprechend wirkt das materielle Recht auf vielfältige Weise auf die Einigungsentscheidung der Parteien im Mediationsverfahren ein. Die Mediation schafft daher keine der objektiven Rechtsordnung widersprechende autonome Ordnung eigenen Partei- oder Verhandlungsrechts. Vielmehr effektuiert sie das materielle Recht, indem sie gerade aus den diesem zu Grunde liegenden Wertgrundsätzen schöpft, sie jedoch mithilfe des Reziprozitätsprinzips der regula aurea gezielter und elastischer auf den konkreten Sachverhalt anzuwenden vermag, als dies durch abstraktes Gesetzesrecht überhaupt möglich wäre. Bezogen auf den konkreten Konflikt sind damit effektivere und für beide Parteien bessere, da interessengerechtere Ergebnisse möglich, als sie im Wege rein rechtlicher Konfliktbehandlung erzielt werden könnten. Dass informale Konfliktbeilegung durch Verhandlung keineswegs die Integrität der Rechts-, Staats- und Gesellschaftsordnung infrage stellt, sondern sich im Gegenteil vielmehr in übergreifende Entwicklungstendenzen staatlichen Handelns und gesellschaftlicher Steuerung einfügt, hat der Blick auf den Wandel des Staates, des Rechts und der Konfliktkultur gezeigt: Die Mediation fügt sich ein in einen tiefgreifenden Wandel des Rechts vom formal-rationalen hin zum materiellrationalen Recht (Entformalisierung und Materialisierung), in einen Wandel staatlichen Handelns von heteronomer Steuerung hin zum kooperativen und Verhandlungsstaat (Mediatisierung und Prozeduralisierung) und schließlich in einen tiefgreifenden Wandel der Konfliktkultur, die durch eine Zunahme konsensualer Streitbeilegung geprägt ist. Vor diesem Hintergrund erscheint die Mediation als eine der vielfältigen Erscheinungsformen einer übergreifenden Entwicklungstendenz hin zu informalen und kooperativen Steuerungsformen in Gesellschaft, Staat und Recht. 6. Mediation und Zivilprozess erfüllen unterschiedliche Funktionen im Gefüge der Gesamtrechtsordnung, die aus ihrer Natur als Ausdruck der Prinzipien des Informalen und des Formalen erwachsen. Bereits vor dem Hintergrund der Verfahrens- und Institutionenlehre Lon. L. Fullers, die von einem Satz ideal-
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typischer, in jeder Gesellschaftsordnung verfügbarer Verfahren gesellschaftlicher Steuerung ausgeht, erweist sich die Engführung auf den Zivilprozess als dem maßgeblichen Verfahren der Konfliktbeilegung als problematisch. Die Untersuchung der Funktion, Struktur, Wirkungen und Risiken beider Verfahren konnte ihre symbiotische Komplementarität nachweisen. 7. Der Ertrag einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre, in der die einzelnen Verfahren der Streitbilegung mit Blick auf Funktion, Struktur, Risiken und Wirkungen für die Parteien, den Konflikt, die Rechtsordnung und die Gesellschaft zueinander in Beziehung gesetzt werden, wurde für die Gestaltung des zivilverfahrensrechtlichen Instrumentariums gerichtlicher und außergerichtlicher Formen der Konfliktbehandlung fruchtbar gemacht. Aus dem schon bei Fuller aufscheinenden Grundsatz des Verfahrenspluralismus ergibt sich zunächst die Legitimität der ADR-Verfahren als ordentlichen Instrumenten der Konfliktbehandlung. Sie stellen keine qualitativ minderwertige Alternative zum etablierten Zivilprozess dar, sondern bilden vielmehr ihm gleichwertige, in vielfacher Hinsicht sogar überlegene Verfahren der Konfliktbehandlung. Hieraus ergibt sich zugleich die Notwendigkeit einer Erweiterung der Perspektive auf das gesamte Kontinuum der Streitbeilegungsverfahren, die eine Engführung und Fokussierung auf den streitigen Zivilprozess überwindet. Rechtspolitisch folgt aus dem Grundsatz des Verfahrenspluralismus das Erfordernis eines effektiven Zugangs zu ADR-Verfahren sowie eine staatliche Obliegenheit zur aktiven Förderung von ADR-Verfahren soweit ein effektiver Zugang nicht gewährleistet ist. Vor diesem Hintergrund finden auch Bemühungen des Gesetzgebers um eine aktive Förderung der alternativen Streitbeilegung – wie etwa die 2013 verabschiedete europäische ADR-Richtlinie5 und die ODR-Verordnung6 – ihre dogmatische Begründung im Grundsatz des Verfahrenspluralismus einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre. Aus den Grundsätzen der strukturellen Integrität sowie der Rollentrennung ergeben sich konkrete Anforderungen an die Rolle des neutralen Vermittlers – etwa einen Mediator oder Schlichter – sowie an die weitere Ausgestaltung des Verfahrens. Entsprechend sehen die Verfahrensordnungen der Mediationsverbände sowie rechtliche Rahmenregelungen wie das deutsche MedG oder die
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Richtlinie 2013/11/EU v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 63. 6 Verordnung Nr. 524/2013 v. 21.5.2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten v. 21.5.2013, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 1.
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europäische ADR-Richtlinie7 und die ODR-Verordnung8 spezifische Verfahrensprinzipien für die Mediation oder weitere ADR-Verfahren vor. Auch die US-amerikanische Institutionalisierungsdebatte, die sich intensiv mit der Frage der wesensfremden Verformung des Mediationsverfahrens durch problematische Integration in das zivilgerichtliche Verfahren auseinandersetzt, wird erst vor dem Hintergrund der Prinzipien struktureller Verfahrensintegrität und der Rollentrennung verständlich.9 Aus einer Gesamtschau der Grundsätze des Verfahrenspluralismus, der strukturellen Verfahrensintegrität und der Rollentrennung wurde schließlich die Trias der drei Primärverfahren der Verhandlung, der Mediation sowie der gerichtlichen Entscheidung entwickelt. Dabei gehen alle übrigen ADR-Verfahren, insbesondere auch die Hybridverfahren wie die Early Neutral Evaluation, der Mini Trial, Med-Arb, Arb-Med, Neg-Arb, Online Dispute Resolution (ODR), die Schlichtung und das Institut des Ombudsmanns aus der Kombination der Primärverfahren hervor. Bei diesen Verfahrensarten handelt es sich nicht um eigenständige Verfahrenstypen, sondern um Abwandlungen und Kombinationen der drei Primärverfahren. Dass mit der Trias der drei Primärverfahren tatsächlich ein zentrales, archetypisches Strukturprinzip menschlicher Konfliktbehandlung vorliegt, wird durch den rechtsgeschichtlichen Befund belegt. Sie findet sich bereits in der fast 2000 Jahre alten Gemeinderegel Jesu, die gleichsam als „erstes abgestuftes Konfliktmanagementsystem der Geschichte“ ein System aufeinander aufbauender Instrumente der Konfliktbeilegung – bilaterales Gespräch, Vermittlung mit Drittbeteiligung und gerichtliche Entscheidung – vorsieht.10 Sie lässt sich später bei den Naturrechtlern Pufendorf und Grotius als Trias von Freundschaftsgespräch (colloquium), Vergleich (compromissum) und Los (fors) nachweisen11 und findet schließlich in der Gegenwart im Dreiklang von Verhandlung, Mediation und Zivilprozess als den für die Praxis zentralen, archetypischen Formen der Konfliktbehandlung ihre Entsprechung.
7 Richtlinie 2013/11/EU v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 63. 8 Verordnung Nr. 524/2013 v. 21.5.2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten v. 21.5.2013, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 1. 9 Vgl. hierzu eingehend oben S. 46 ff. sowie Menkel-Meadow, 19 Fla. St. U. L. Rev. 1 (1991); Welsh, 6 Harv. Negot. L. Rev. 1 (2001); Folger, 3 Pepp. Disp. Resol. L.J. 1 (2002); Welsh, 2002 J. Disp. Resol. 179 (2002); Hensler, 108 Penn St. L. Rev. 165 (2003); Press, 43 Penn St. L. Rev. 108 (2003); Yarn, 108 Penn St. L. Rev. 929 (2004). 10 Mt. 18,15-17. 11 Grotius, De jure belli ac pacis libri tres (1995), S. 395 (lib. 2, cap. 23, § 6-9). Vgl. auch v. Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo (1995), S. 563 (lib. 5, cap. 13, § 3),
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§ 8 Gesamtergebnis und Thesen
Die drei Primärverfahren stehen nicht gleichrangig nebeneinander, sondern sind Teil eines hierarchisch abgestuften Systems funktional ausdifferenzierterVerfahrensarten, in dem den konsensualen Verfahren der Verhandlung und der Mediation Vorrang vor dem subsidiären Zivilprozess zukommt (Prinzip der Verfahrenshierarchie). Für die Bestimmung des Verhältnisses der Verfahren zueinander wurden die Prinzipien funktionaler, qualitativer und hierarchischer Differenzierung entwickelt. Nach dem Prinzip der funktionalen Differenzierung, das darauf gerichtet ist, das Verhältnis der einzelnen Verfahren zueinander auf der Grundlage ihrer Funktion zu bestimmen, die ihr im Hinblick auf Rechtsordnung, Gesellschaft, Konflikt und Parteien zukommt, ergibt sich insgesamt ein Verhältnis funktionaler Komplementarität, im Hinblick auf die Eignung zur effektiven Konfliktbeilegung ein Vorrang von Verhandlung und Mediation gegenüber dem Zivilprozess. Das Prinzip qualitativer Differenzierung, nach dem das Verhältnis von Mediation und Zivilprozess auf der Grundlage ihrer jeweiligen Eignung zur Lösung eines bestimmten Konflikttyps sowie der Präferenzen der Parteien bestimmt wird, vermag zwar eine gezielte Konfliktzuweisung zu leisten, begegnet jedoch methodischen und praktischen Bedenken. Eine verlässliche Klärung des Verhältnisses von Mediation und Zivilprozess ist schließlich auf der Grundlage des Prinzips der hierarchischen Differenzierung gelungen, wobei zur Begründung des Mediationsprimats der interdisziplinäre Befund der bisherigen Untersuchung, insbesondere die rechtstheoretischen, rechtssoziologischen, rechtshistorischen und dogmatischen Begründungsansätze, herangezogen wurden. Die interessenorientierte Verhandlung nach dem Harvard Modell erweist sich damit als das zentrale und vorzugswürdige Verfahren im Kontinuum der Konfliktbehandlung. Da die Parteien ohne Anleitung eines Mediators zu dem für die Anwendung der regula aurea erforderlichen Rollentausch und damit zu einer eigenverantwortlichen Beilegung ihres Konfliktes regelmäßig nicht in der Lage sind und häufig in ein intuitives, positionsorientiertes und somit ineffektives Konfliktverhalten zurückfallen, bedürfen sie in der Regel der Unterstützung durch einen neutralen Dritten, den gerade das Mediationsverfahren leistet. Vor diesem Hintergrund kommt der Mediation in der Praxis eine zentrale Bedeutung und damit Vorrang vor dem Zivilprozess zu. Nach dem interdisziplinären Befund erweist sich die Mediation somit als integraler Bestandteil der Privatrechtsordnung und als das dem Menschen eigene, ihm entsprechende Verfahren der Konfliktbehandlung. Der rechtstheoretische Befund hat die Eignung der Mediation zur Überwindung der systemimmanenten Schwächen des Zivilprozesses nachgewiesen. Der rechtsphilosophische Befund hat ihre Qualität als prozedurale Implementierung des Reziprozitätsprinzips der regula aurea als universalem Grundsatz der Gerechtigkeit und ihre Kongruenz mit der klassischen aristotelisch-thomistischen Gerechtigkeitstheorie aufgezeigt. Aus rechtssoziologischer Perspektive ist sie Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels der Konfliktkultur und fügt sich in entsprechende
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Entwicklungstendenzen staatlichen Handelns ein (kooperativer Staat). Entwicklungspsychologisch entspricht der von ihr vorausgesetzte multilaterale Rollentausch als reifer Gebrauch der regula aurea der höchsten Stufe und dem Abschluss der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit des Menschen nach Kohlbergs Stufenmodell. Die aktuelle Forschung im Schnittpunkt von Entwicklungsbiologie und Neurowissenschaften – insbesondere die Arbeit Martin Nowaks vom Program for Evolutionary Dynamics an der Harvard University – hat darüber hinaus die Bedeutung des Kooperationsprinzips als grundlegendem Strukturprinzip menschlichen Lebens und Verhaltens nachgewiesen und damit auch einen naturwissenschaftlichen Nachweis für die Eignung der Mediation als der Natur des Menschen entsprechendes Verfahren der Konfliktbehandlung erbracht. Dieser Befund wird durch die empirische Begleitforschung zu gerichtsverbundenen Mediationsprogrammen in Deutschland bestätigt, die einen überdurchschnittlich positiven Bewertung des Verfahrens durch die Beteiligten nachweisen konnte. Schließlich hat die verhaltensökonomische Forschung, insbesondere die Spieltheorie, die Effektivität konsensualer Streitbeilegungsverfahren und hier vor allem der interessenorientierten Verhandlung nach dem Harvard Modell aufgezeigt.
§ 9 Ausblick Für die zivilverfahrensrechtliche Gestaltung des Systems staatlicher Konfliktbeilegung ergibt sich damit die Forderung nach einem effektiven Zugang zu ADR-Verfahren, insbesondere zur Mediation sowie nach geeigneten Verfahrensübergängen zwischen Zivilprozess und ADR-Verfahren, dem der deutsche wie auch der europäische Gesetzgeber durch die Vorschriften der §§ 278 Abs. 5, 278a ZPO, des MedG1 sowie durch die europäische ADR-Richtlinie2 und die ODR-Verordnung3 Rechnung getragen hat. In einem 2007 veröffentlichten Aufsatz zur Entwicklung eines Mediation Receptivity Index (MRI)4, hat Frank E. A. Sander drei zentrale Phasen der Entwicklung und Institutionalisierung alternativer Streitbeilegung unterschieden: Eine erste Phase der Experimente und der Innovation („Let a Thousand Flowers Bloom“)5, eine zweite Phase der wissenschaftlichen Durchdringung und kritischen Reflexion („Separating the Wheat from the Chaff”)6 sowie eine dritte Phase der Institutionalisierung und Vereinheitlichung („Institutionalization or Mainstreaming“)7, in der die Mediation als selbstverständlicher Teil in das bestehende System der Konfliktbehandlung integriert und so vom Ausnahme- zum Regelfall der Konfliktbehandlung wird.8 Statt als begründungsbedürftige Alternative zum Zivilprozess erweist sich die Mediation dabei als vorrangiges Vorschaltverfahren vor Einleitung eines zivilgerichtlichen Verfahrens, wobei ihre Eignung keiner besonderen Legitimation mehr bedarf, sondern stattdessen widerleglich vermutet wird.9 Hat die
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Eingeführt durch Art. 1 des MedFördG (Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung) v. 12.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 ff. 2 Richtlinie 2013/11/EU v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 63. 3 Verordnung Nr. 524/2013 v. 21.5.2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten v. 21.5.2013, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 1. 4 Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599 (2007). Vgl. zum MRI auch eingehend Prause, 22 Ohio St. J. on Disp. Resol. 610 (2007); Prause, 13 Harv. Negot. L. Rev. 131 (2008). 5 Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). 6 Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). 7 Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). 8 Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007). 9 Sander, 22 Ohio St. J. On Disp. Resol. 599, 599 (2007).
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§ 9 Ausblick
Rechtswirklichkeit – etwa mit dem MedG oder der europäischen ADR-Richtlinie vom 18. Juni 201310 – diese Entwicklung zumindest teilweise bereits vollzogen, so bedarf ein derart weitreichender Eingriff in die Privatrechtsordnung einer dogmatisch fundierten Begründung, die sich nicht in dem bloßen Verweis auf die klassischen Vorteile der Mediation – Kosten- und Zeiteffizienz, höhere Parteizufriedenheit, Selbstbestimmung und Vertraulichkeit, tragfähigeres Ergebnis und differenzierte Lösungen – erschöpfen kann. Mit den Grundzügen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre auf der Grundlage der Verfahrens- und Institutionenlehre Lon L. Fullers sowie des interdisziplinären Befundes aktueller Forschung in den Bereichen Rechtstheorie, Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie, Verhaltensökonomik, Spieltheorie, Kognitions- und Entwicklungspsychologie, Entwicklungsbiologie und Neurowissenschaften sowie der Topoi der Verhandlungs-, Kooperations- und Gerechtigkeitsforschung wurde der Versuch einer dogmatischen Begründung und Fundierung der alternativen Streitbeilegung und ihrer Integration in das System der zivilverfahrensrechtlichen Dogmatik vorgelegt. Mit Blick auf die Weiterentwicklung des Vertragsmodells sowie die Rezeption verhaltensökonomischer Forschung haben sich darüber hinaus Anknüpfungspunkte für die Fortbildung der Privatrechtsdogmatik ergeben. Damit erweist sich die alternative Streitbeilegung nicht nur in der Rechtspraxis, sondern auch in der Privatrechtswissenschaft als Quelle und Motor einer innovativen und fruchtbaren Weiterentwicklung der Privatrechtslehre wie auch des Zivilverfahrensrechts.
10 Richtlinie 2013/11/EU v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. EU L 165 v. 18. Juni 2013, S. 63.
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Sachregister Abstraktion 860 – antizipierende 861 – typisierende 812, 913 – Verrechtlichung durch 20, 172 ff. Abweichungsverbot 504 Abwertung, reaktive 864, 983 Access to Justice Project 39, 696 ff., 717, 726, 734, 831 ADR Suitability Guide 885 ADR-Angebot 945 ADR-Bewegung 14, 16, 45, 156, 259, 271, 275, 312, 331, 341, 342, 345, 367, 478, 556, 852, 872, 934, 935, 936, 944, 945, 949, 968, 974, 1009 – Beginn 16, 312 – Geschichte 82 ff., 139, 198 f., 340 – Institutionalisierung 84, 85 – Konfliktkultur, Wandel 82 ff., 259, 309 – Materialisierung 49 – Pionier der (Frank E.A. Sander) 902 – Pound Conference 14 ff., 135, 198, 859, 903, 944, 973 – Ursachen 49 ff., 65, 69 – weltweit 934 – Zivilprozess, Rückgang 62, 313 ADR-Forschung 346 – interdisziplinärer Ansatz 7, 8, 9, 11 ADR-Koordinatoren Siehe MediationsKoordinatoren ADR-Kritik 852, 872, 954, 995 ADR-Revolution 1013 ADR-Richtlinie 84, 241, 354, 550, 944 ADR-Verfahren 344, 345, 503, 555, 876, 947 – Spektrum der Verfahrensarten 5, 132 ADR-Zeitalter 16 aequitas 226 AGB-Recht 97, 117 aktives Zuhören 170 Akzeptanz 246, 247, 350 – des Mediationsverfahrens 179
– des Verfahrensergebnisses in der Mediation 358 – des Verfahrensergebnisses im Zivilprozess 183 f. – im Zivilprozess 41 Akzeptanzdefizit 39 ff., 183, 924 ff. Alles-oder-Nichts-Entscheidungen 24, 29 ff., 34, 860 Allgemeine Konfliktbehandlungslehre 9, 668 f., 832, 899 f., 906, 910, 912, 950, 972, 980, 988, 1005 ff., 1015, 1025 – Abgrenzung zur allgemeinen Prozessrechtslehre 655 ff. – Anforderungen 659 ff. – Aufgabe 1007 – Dogmatik, und zivilverfahrensrechtliche 8 f. – Einstiegsverfahren der Konfliktbehandlung 902 – funktionale Differenzierung 1011, 1022 – funktionale Komplementarität 1022 – Gerechtigkeitsprinzip 957, 977 – Gleichheitsprinzip 957 – Grundansatz 8 f. – interdisziplinäre Dogmatik 8 f. – intersubjektive Ausrichtung aufeinander hin 953, 957 – konfliktspezifische Verweisung 879 – konfliktspezifischer Ansatz 873 – Kriterien der Verfahrenseignung 873, 888 – methodischer Ausgangspunkt 1008 – Notwendigkeit 659 – Primärverfahren 132, 900, 911, 989, 1010, 1022 – Prinzip der Reziprozität 979 ff., 981, 983 – Prinzip der Rollentrennung 910, 1010 – Prinzip der strukturellen Integrität 910, 1010 – Prinzip der strukturellen Verfahrensintegrität und der Rollentrennung
Sachregister 150 ff., 171, 676, 678 f., 908 ff., 997, 1008, 1010, 1020 – Prinzip der Verallgemeinerung 979 – Prinzip der Verfahrenshierarchie 1009, 1010, 1022 – Prinzip des Verfahrenspluralismus 148 f., 669 ff., 907 – Prinzip funktionaler Differenzierung 681 ff. – Prinzip gestaffelter Subsidiarität 27 – Prinzip hierarchischer Differen-zierung (Verfahrenshierarchie) 27, 143, 899 ff., 910 f., 910, 1011, 1022 – Prinzip qualitativer Differenzierung 873 ff., 1011, 1022 – Trias der Primärverfahren 5, 134 f., 148, 666, 671 ff., 907, 910, 1008 – Verfahrenswahl 891, 1011 – Verhältnis zur allgemeinen Prozessrechtslehre 1007 – Ziel 8 f. Allgemeine Prozessrechtslehre 649 f. – begrifflich-dogmatischer Ansatz 651 – Hintergrund 652 f. – interdisziplinärer Ansatz 652 – Methoden 651 f. – vergleichender Ansatz 652 – Ziele 650 f. Alternative Streitbeilegung 275 – Begriff 4, 12, 131 – Begründung 11 ff., 13, 27 – Dogmatik 9, 11, 145 – Geschichte 134 f., 1008 – Grundlagen 11 ff. – Gütegedanke 486 – Instrumentalisierung zur Justizentlastung 63 – Kontinuum der ADR-Verfahren 11, 131 ff. – Parteipartizipation 133 – staatliches Verfahrensangebot 486 – Strukturanalyse 138 ff. – Systematik 137 f. – Theorie 9 – Transformation durch gerichtsverbundene ADR-Programme 63, 64 – Trias der Primärverfahren 134 f., 148 – Typologie 131 ff.
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– Vorteile 12 amicabilis compositio 7 Analyse der Verfahren 660 ff., 873 ff. anglo-amerikanischen case method 907 Antinomie 970, 988, 1009 Antizipation, defizitäre 913 f. Anwälte – im Zivilprozess 39–42 – in der Mediation 178 Anwaltsmediator 1002 Anwendungsgebot 504 Äquivalenzprinzip 68, 94, 218, 219, 220, 265, 266, 348, 959 Arb-Med 5, 131, 136, 152, 188, 1008 aristotelisch-thomistische Gerechtigkeitstheorie 955, 957, 959 Aufklärung der Parteien 882 ff. Ausdifferenzierung 900 Auslegung 121, 122, 226 Austauschgerechtigkeit 954 Autonomiedefizit 702 autopoietisches System 78, 110 Autorität des Gerichts 522 Autorität des Rechts 756 BAFM, Richtlinien 358 f., 449, 462 bayrisches Güterichtermodell 947 Bedürfnisse der Parteien 24 Befolgungsrate – im Mediationsverfahren 184 – im Zivilprozess 183 Befriedungswirkung 858 – des Zivilprozesses 42 – gerichtlicher Urteile 918 Begriffsjurisprudenz 46 Begründung der alternativen Streitbeilegung – ökonomischer Ansatz 12 – rechtsphilosophischer Ansatz 9, 11, 93 ff. – rechtssoziologischer Ansatz 9, 11, 45 ff. – rechtstheoretischer Ansatz 9, 11, 14 ff. Beklagter 862 Belastungen – emotionale 866 – menschliche 866 – psychische 866
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Sachregister
– seelische 866 Bergpredigt 134, 963 Bestandsaufnahme analytische 1007 Beweislastregeln 30 Beziehung 28, 29, 161 ff., 176, 206, 230 – Dauerbeziehungen 29, 31, 897 – Geschäftsbeziehung 866 symbiotische 991 Beziehungsebene Vermichung von Sach- und Beziehungsebene 169 Beziehungskonflikt 874 Billigkeit 94 f., 101, 116 ff., 215, 224, 226, 292, 341, 349, 357, 950, 955, 957 – im Verhältnis zu Recht und Gerechtigkeit 293 f. Billigkeitserwägungen 828 f. Billigkeitsrechtsprechung 48, 1014 binärer Schematismus 15, 24, 29 ff., 187, 860, 918, 927 BMWA, Richtlinien 358 Boston Housing Court 1000 Brown vs. Board of Education 688 Bürgschaftsrechtsprechung des BVerfG 68 caritas 981, 986 Caucus-Mediation 40, 124, 170, 202 Celler Hofgerichtsordnung 520 character contest 164, 675, 733, 923 Christentum – Bergpredigt 134, 963 – cor incurvatum in se ipsum 230 – Gütegedanke 231 Civil Appeal Mediation Statement 630 Civil Justice Reform Act 153 Civil Procedure Rules (CPR) 38, 84, 520, 1006 Collaborative Law 5, 132, 543 ff. – Anwälte, Rolle der 545 – Collaborative Law Vereinbarung 538, 542 f., 1004 – Hybridverfahren 542 – Kooperationsvereinbarung 544 – Mandatsvereinbarung 543 – Mediation, Verhältnis zur 545
– Verfahrensleitungsverträge 544 – Verfahrensprinzipien (ground rules) 543 – Verhandlungsvereinbarung 543 colloquium 134, 136, 1008 Common Law 46, 94, 147, 155 Community und Neigborhood Justice Centers 720 Community-Gedanke 718 ff., 727 – Community Moots 719 – Gefahr der sozialen Kontrolle 721 – Nachbarschaftsforen 719 – Übervorteilung der schwächeren Partei 721 – Zielkonflikt 720 compromissum 134, 1008 conditio humana 670 CPR Institute 885, 944, 947 cultural lag 54 dance of concessions 933 Dauerhaftigkeit der Konfliktbeilegung siehe Mediation debiasing 738, 865 Deregulierung 6 Deregulierungs- und Entnormierungstendenz 688 Dethematisierung 990 Dichotomie 950, 968, 988, 989 – zwischen formalem Geltungs- und materiellem Gerechtigkeitsanspruch 952 f. – zwischen formaler und materieller Gerechtigkeit 951 f. Diskussion – in den USA 3, 7, 14 ff., 39 – in Deutschland 17 Dispositionsmaxime 167 Dispute Systems Design 8, 37, 905 Dogmatik – ADR-Dogmatik und zivilverfahrensrechtliche Dogmatik 8, 155 ff. – der alternativen Streitbeilegung 7 f., 11, 888, 145, 647 f., 660 Dreierbeziehung siehe Dyade Dual-Door-Courthouse 901 Durchsetzung der Einigung 640 Dyade 24, 40, 141, 166, 925
Sachregister Early Neutral Evaluation (ENE) 139, 143, 902, 1008 Effizienz 206 Egoismus 970 Eigenwahrnehmung 983 Eingriffsverwaltung 51 ff., 89, 511 f., 821, 938 Einigungsdruck 171, 1010 Einigungshindernisse 144, 877 – Positionsdenken 142 – Strategien zur Überwindung von 175 – Vermischung von Beziehungs- und Sachebene 142 Einigungskriterien 174, 192, 202, 234, 925 f. Einigungsoptionen (ZOPA) 165, 208, 237, 952 Einigungsquote 897 f. Einzelfallgerechtigkeit siehe Gerechtigkeit Einzelgespräche siehe caucus Emotionale Konfliktdimension 22, 173, 216 f., 392 f., 399, 529, 578, 586, 591 f., 607 f., 711 f., 738 ff., 821, 863 ff., 878, 874, 863, 886 f., 892, 904, 912 f., 927 f., 984, 987, 1018 empirische Forschung – gerichtsverbundener Mediationsprogramme 88, 164, 179, 255 ff., 344, 621 ff., 709, 905 – klassische Verhandlungsforschung 163, 179 Empowerment 452, 740 Entformalisierung staatlichen Handelns 6, 48, 74 ff., 935, 940 f., 1019 – Mediatisierung 75 ff., 941 – Prozeduralisierung 75 ff, 941 – Rücknahme des Befehlscharakters des Rechts 941 Entlastung der Gerichte 695 f., 726 Einigungsentscheidung – forum externum 280, 784 – forum internum 213, 264, 276, 280, 784 Equity 46, 94, 215, 229, 486, 969, 1014 Erledigungsdruck 713 Eskalation 32 ff., 65, 216, 863, 866, 920 ff.
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– point of no return 36, 675, 863 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 213 ff., 223 Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren 449 Evangelium 28, 134, 302, 683, 910, 963 faires Verfahren 238 f., 283, 365 Fairness 206, 207, 208, 280 Fallstudien (Boston Housing Court (BHC) 432 ff. Schlussfolgerungen 433 f. – Woodruff Corp. v. Lacrete 434, 460, 478 – Wright v. Brockett 502 Fiss’sche ADR-Kritik 930 ff. Flexibilität privatautonomer Rechtsschöpfung 919 Florida Dispute Resolution Center 899 Formalität – des Rechts 47, 118 – und Privatautonomie 672 Formalität und Informalität 15, 46, 118 ff., 186 f., 191, 224, 676 fors 134, 136, 1008 Freiheit – und Gerechtigkeit 46 Freirechtsschule 46 Fremdwahrnehmung 863 Freundschaftsgespräch 134, 136, 1008, 1021 Fullers Verfahrens- und Institutionenlehre 145 ff., 507, 509, 546, 670 f., 907, 1008 – adjudication 165 f. – design 149, 153, 676 – inner morality 149, 153, 171 – institutional design 153, 160 – mediation 161 ff,, 205, 220 – moralities 136 – morality 149, 159 ff., 676 – Normschöpfung durch Mediation 196 – primary processes of social ordering 148 f. – processes of social ordering 666 – Rollentrennung 150 ff., 154, 171, 667
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Sachregister
– social processes of ordering 670 – structure and process 147 – Verfahrensintegrität 150 ff., 171, 667 – Verfahrenspluralismus 148 f., 666– 67 – Wesen 159 ff., 676, 708 Funktionsverlust des Rechts 17, 70 Gedankenexperiment des multilateralen Rollentauschs 965 Gefangenendilemma 986 Gemeinderegel 134, 1008 Gemeinwesen- und Nachbarschaftsmediation 718 Gemeinwohl (bonum commune) 112, 219, 234 Generalklauseln 22, 48, 68, 122 gerechter Preis (iustum pretium) 96, 218, 219, 265, 270 Gerechtigkeit – aequalitas 232 – aequitas 116, 229 – als Attribut des Rechts 222 – aristotelisch-thomistische Gerechtigkeitstheorie 102, 119, 121, 215 ff., 234 ff., 262, 275 ff. – arithmetische Gleichheit 236 – Arten 233 ff. – ausgleichende siehe Austauschgerechtigkeit – Austauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) 97, 118, 217, 232, 234, 235, 236, 237, 262 ff., 276, 278, 280, 282, 286, 290, 350, 961, 1018 – Bedarfsgerechtigkeit 284, 286 – Bedürfnis nach 22 – Begriff 217 – Billigkeit 233, 292, 293 f., 950, 955 – Chancengleicheit 283, 284 – distributive siehe Verteilungsgerechtigkeit – Dreieck der 234 ff., 957 – Einzelfallgerechtigkeit 48, 69, 116, 120, 293 ff., 357 – empirische Evidenz 111 – equity 116, 229, 233, 969 – Ergebnisgerechtigkeit 247, 270
– Erscheinungsformen in der Mediation 233 ff. – formale 116, 118 ff., 689, 952 – Freiheit und 46, 93 ff. – geometrische, proportionale Gleichheit 237 – als Gestaltungsprinzip 228, 234 – Gleichheit 229, 232 f., 233, 281 – Goldene Regel (regula aurea) 299 ff., 338 f., 346, 348 – Idee der 224, 226 – iustitia commutativa siehe Austauschgerechtigkeit – iustitia distributiva siehe Verteilungsgerechtigkeit – iustitia legalis siehe Verfahrensgerechtigkeit – iustitia particularis 234 – kommutative siehe Austauschgerechtigkeit – Leistungsgerechtigkeit 286 – materielle 118 ff. – und Mediation 163, 192, 202 ff., 206, 213 ff., 282 ff. – objektive 694 f. – Paradigma 954 – prozedurale Gerechtigkeitsmodelle 80, 91, 109, 244 ff., 259, 264 – Recht und 102 ff., 114, 222 – relativistischer Gerechtigkeitsbegriff 238 – Rolle der Interessen 260 – suum cuique tribuere 230, 231 – Tugend 222, 229 ff. – Verfahrensgerechtigkeit (iustitia legalis) 42, 229 ff., 234, 237 ff., 247 ff. – verteilende siehe Verteilungsgerechtigkeit – Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) 118, 217, 232, 235, 236 f., 275 ff., 350, 366, 234, 954, 960 f., 1018 – Wahrnehmung der 247, 259 f-. – Wirkung der 238 Gerichtsverwaltung 495 Geschichte der Mediation siehe Mediation Gesellschaft 197, 277
Sachregister gesellschaftliche Reform 716 ff. Gewinner-Verlierer Dualismus 32 f., 35, 42 Gleichheit siehe Gerechtigkeit Gleichheitsgebot siehe Justizgrundrechte Gleichrangigkeit, 873 Globalisierung 71, 72 Goffman’scher character contest 863, 924, 968 ff., 974, 977 f., 980, 984, 1000, 1015 Goldene Regel 318 ff., 956 ff., 962, 965 ff. Gütegedanke 82, 231, 949 Güterichter 154, 192, 242, 257, 478 ff. 993 – aktive Verhandlungsführung 514 – allgemeine verfahrensimmanente Anforderungen 528 ff. – Amtsautorität 529 – besondere verfahrensimmanente Anforderungen 529 ff. – Förderungs-, Überwachungs- und Interventionspflicht 528 – Fürsorgepflicht 516 – Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht 506 ff. – Informationspflicht 523 – Intervention 514 – Konkretisierung der Gesetzesbindung 513 ff. – Mediator 507 – Modellversuch 508 – Rechtsbindung 504 – Rolle 480, 506 ff. – Rollendefintion 509 – Rollenwechsel 507 ff. – Sicherung der Verfahrensintegrität 528 ff. – Spruchrichter, Vergleich mit 506 ff. – strukturelle Machtungleichgewichte und Informationsasymmetrien 453, 516 f. – Übermaßverbot 517 ff., 529 – Umfang der Gesetzesbindung 511 ff. – Umfassende Informationspflicht 514 – Umsetzung der Verfahrensziele 528 – Untermaßverbot 513 ff., 529
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– verfassungsrechtliche Anforderungen 497 ff. – Verhaltensanforderungen 528 ff. – vermittelnde Tätigkeit 504 ff., 523 – Zurückhaltungsgebot 524 ff. – Vergleichsförderung und Vergleichszwang 523 ff. Güterichterverfahren 38, 483 gutes Verhandlungsergebnis 164, 203, 206 ff, 257 Güteverfahren 482 Güteverhandlung 144, 154, 242 Güteversuch 994 – unterbliebener 634 Handelsusancen 74 Handlungsmaximen 338 Harvard-Modell 205, 207, 274, 283, 285, 301, 306, 311, 326, 330 f., 339 f., 348, 351, 360, 366, 930, 933, 957, 959, 983, 1012, 1017 f., 1022 f. – Goldene Regel und 318 ff. homo cooporativus 689 homo oeconomicus 204, 711, 853, 1012, 1014 homo sociologicus 204 Hybridprozess 909 Hybridverfahren 5, 132, 143, 151, 876, 900, 902, 908, 989, 1008 – Arb-Med 1021 – Early Neutral Evaluation 1021 – Institut des Ombudsmanns 1021 – Med-Arb 1021 – Mini Trial 1021 – Neg-Arb 1021 – Online Dispute Resolution 1021 – Schlichtung 1021 Idealtyp 135 Ifugao 155 Illusion der Überlegenheit 864 imperial judiciary 871 Implementationsforschung 71 indigentia 218 Individual Autonomy Project 701 ff., 734, 831 Individualisierung 720 Individualismus 97, 112, 113 Industrialisierung 72
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Sachregister
Information der Parteien 699 Informationsasymmetrie 120, 933, 1002 – Eingriffsschwelle 463 f. – Folgen 462 f. – rechtliche Informationen 464 – sachliche Informationen 464 f. Informationsungleichgewicht 851 Inhaltskontrolle – durch den Mediator 178 Innovation siehe Kreativität institutional design 160 Institutionalisierung der Mediation 2, 6, 17, 84, 85, 648, 742, 903, 1013 – in den USA 3, 242 Institutionalisierungsdebatte 63, 125, 160, 251 Interdisziplinarität 7, 8, 661 ff., 646, 979 ff. Interesse – an der Bewährung der objektiven Rechtsordnung 894 – an der Rechtseinheit 894 – an der Rechtsfortbildung 894 – öffentliches Interesse des Staates 894 Interessen 23, 69, 329, 334, 340, 348 – als Einigungskriterien der Mediation 207 – als Streitbehandlungsgegenstand der Mediation 174 – Begriff 24, 289 – Erforschung der 25, 208, 237 – Gedankenexperiment des multilateralen Rollentauschs 313 ff. – Gerechtigkeit und 217 ff. – Kohlbergs Studenmodell 316 ff., 330, 351 – private Interessen der Parteien 894 – und Gerechtigkeit 217–19, 260 – und Gerechtigkeit (suum cuique tribuere) 218 – und Positionen 22, 23, 24, 330, 332, 334, 341 Interessenjurisprudenz 46 Interessenkonflikt siehe Konflikt Interessenverbände 72 Interessenverwirklichung – durch Mediation 694 f.
intersubjektive Ausrichtung der Parteien aufeinander hin 968 Intersubjektivität siehe Gerechtigkeit intuitives Kommunikationsverhalten 27 intuitives Verhandlungsverhalten 141 f., 863 Irrationalität – des Rechts 47 ius civile 46, 94 ius honorarium 46, 94 ius naturae 969, 971, 996 – als gemeinsamer Maßstab 996 f. iustitia commutativa siehe Gerechtigkeit iustitia distributiva siehe Gerechtigkeit iustitia legalis siehe Gerechtigkeit Justizgrundrechte – Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) 503 – Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) 503 – Anspruch auf ein faires Verfahren (Rechtsstaatsprinzip iVm. Art. 2 Abs. 1 GG) 499 – Anspruch auf Wahrung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) 501 – Gleichbehandlungsgrundsatz und Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 2 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip) 500, 967 Jesus Christus 134, 302, 673, 963, 1008, 1021 Juridifizierung 54 ff. Juristenausbildung 74, 1013 Justizdienstleistung 993 Justizgewährungsanspruch 503 Justizstatistik – Deutschland 54 ff. – Ursachen des Klagerückgangs 61 – USA 59 ff. – Vergleichsquote 86 ff. Kampf ums Recht 688 kategorische Imperativ 974, 977 kategorischer Imperativ 335 ff., 974, 977, 978 f. Kettenprozess 862 Klagerückgang 54 ff.
Sachregister Klagerücknahme 37 Kodierung – des Konfliktes 913 Kohlbergs Stufenmodell moralischer Urteilsfähigkeit 971 ff., 1018, 1023 Kollektivismus 97 Kolonialisierung der Lebenswelt 50, 65 Kommunikation 27, 65 – bipolare 865 – im Zivilprozess 179 – in der Mediation 179 – konstruktive 863 – tripolare 865 – zur Interessenerforschung 25 Kommunikationsdefizit 39 ff., 65, 924 ff. Kommunikationstheorie 32 Komplementarität 184 ff., 851, 872, 1012 – symbiotische 184 ff., 872, 1011, 1020 Komplexitätsreduktion 15, 18 ff., 173 – durch Verrechtlichung 860, 925, 913 ff., 927 Konflikt – Beilegung 870 – Bewältigung 870 – Bewertungsmaßstäbe 287 – Delegation des 935 – Dynamik 33 – Gerechtigkeitskonflikte 216 – grenzüberschreitende 72 – Hemmung 33 – in sozialen Dauerbeziehungen 918 – Interessenkonflikt 23, 25, 287, 289 – Kodierung 21, 19 ff. – Konfliktdimensionen 15, 22, 26, 174 – Konfliktenteignung 65 – Konfliktgenese 33 – Metakonflikt 35, 164 – multidimensionale 31, 153, 157, 182, 184, 918 – point of no return 36 – polyzentrische siehe multidimensionale – Prävention 33 – Rechtskonflikt 25 – sozialer 870 – Stellvertreterkonflikt 21
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– Tochterkonflikte 33 – Transformation in einen Metakonflikt siehe systemimmanente Grenzen des Zivilprozesses – Typen 873, 876, 897, 1011 – Ursache 874 – Verteilungskonflikt 23 – Wertkonflikt 23, 202, 915 Konfliktforschung 288 Konfliktkosten 744 f. – dysfunktionale Konfliktkosten 745 – funktionale Konfliktkosten 745 – immaterielle Konfliktkosten 746 Konfliktkultur 742 ff., 934, 1019 – adversariale 871 – Veränderung 831 – Wandel der 968 Konfliktbehandlung – Verfahren der 907 Konfliktbehandlungsgegenstand siehe Streitbehandlungsgegenstand Konfliktbehandlungslehre siehe Allgemeine Konfliktbehandlungslehre Konfliktbeilegung 855, 856, 873, 899, 927, 950 – effektive 872, 891 – Förderung konsensualer Konfliktbeilegung 830 f. – konsensuale 830, 994 Konfliktbeilegungsstelle 875 Konfliktbeilegungsverfahren 873, 903, 969, 994, 1017 Konfliktmanagementsysteme 313, 617, 673, 723, 905, 1008 Konfliktverhalten 924, 981, 1022 – aggressives 911, 980 – konsensuales 1009 Konfliktverständnis 881 Konfliktzuweisung 673, 658, 660, 875 ff., 885 ff., 893, 896, 1022 – allgemeine Grundsätze 887 – Einigungskriterien 887 – konfrontatives Verhalten 862 – Methodische Herausforderungen 875 ff. – Zuweisungsmodelle 875 ff., 885 ff. konsensuale Streitbeilegung 852
1076
Sachregister
– als natürliche Form der Streitbeilegung 1, 312, 342, 575, 585, 595, 674 f., 689, 911, 972, 987 – Primat 27, 85, 139 – Struktur 27 – Vorteile 1, 34, 44 ff., 577 ff., 690, 737 ff., 820, 879, 904 ff., 911 ff., Kontinuum der ADR-Verfahren 131 ff., 143, 148 ff., 188, 232, 612 ff., 658 ff., 665 ff., 671 ff., 1008, 1010, 1021 kontradiktorische Struktur 862 kontradiktorischer Rollenzwang 34 f., 275, 922 ff., 927 kontrafaktischen Stabilisierung von Rollen und Erwartungen 20, 36, 180 ff., 381, 782, 808, 839, 845, 862, 880, 922 Kooperation 219 ff., 574 ff. – Grundprinzip des Lebens 972, 1023 – homo cooporativus 689 – Kognitions- und Sozialpsychologie 983 ff. – Kooperationsforschung 986 ff. – Kooperationsgebot 574 ff. – Kooperationsprinzip 979 ff., 994, 1023 – Kooperationsvereinbarung 544 – Mediation 175 ff., 204 f., 290, 574 ff., 728 f., 980 f. – Rollenübernahme 706 ff. – staatlichen Handeln 45, 82 ff. – Verfahrensgrundsatz 161 ff., 175 ff., 574 ff., 728 f. – Wesen des Menschen 205, 689, 972, 1023 Kooperationsforschung siehe Kooperation Kooperationsgebot siehe Kooperation Kooperationsgewinne 24, 31, 162, 163, 170, 219 ff., 275, 285, 310, 312, 343, 348, 364, 861 – kreative Lösungen 31 – Rechtsphilosophie 219 ff. Kooperationsprinzip siehe Kooperation Kooperationsvereinbarung siehe Kooperation Kosten – Anwaltskosten 62, 866 – des Mediationsverfahrens 622, 866
– – – –
Gerichtskosten 622, 866 immaterielle 866 Konfliktbehandlungskosten 744 Konfliktkosten 575, 741, 744 f., 831, 866, 893, 928 – materielle 866 – menschliche 866 – mittelbare 866 – Vergütungssätze 866 Kostenanreize 631 f. Kostensanktionen 631 Kreativität 31, 260 Krise – der Ziviljustiz 13, 198 – des Rechts 18, 27, 49 ff., 52, 70 ff., 199 f., 756 ff. – heteronomer Streitbeilegung 1 Kriterien der Einigung siehe Einigungskriterien Law of Equity siehe Equity Legal Process School 145, 196 Legitimation – Mediationsverfahrens – des Zivilprozesses 34 ff. Legitimation durch Verfahren – Verfahrensrollen 167 ff. – Verstrickung in ein Rollenspiel 168 Legitimationsproblem 868, 870 Leistungswert 272 ff. Lern- und Transformationsprozess 164, 911, 924, 932, 957, 955, 966, 981, 1009 lex aeterna 102, 115, 222, 226, 279 lex humana 102, 115, 118, 119, 226, 279 lex humanitus 222 lex mercatoria 72 lex naturae 102, 106, 115, 118, 119, 222, 226, 853, 854 liber tobiae 963 liberalistisches Prozessmodell des 19. Jahrhundert 920 litigation explosion 868 litigious society 867, 868 local court rules 630, 633 – des California Court of Appeal, Third Appellate District 630
Sachregister – des Superior Court of California, County of Sacramento 630 Lon L. Fullers Institutionenlehre 486 Los 134, 136, 1008, 1021 lose-lose-Lösung 861 lumen rationis 969, 971 Macht- und Informationsasymmetrien 851, 858 Machtstruktur – feudale 942 Machtungleichgewicht 120, 122, 124, 453, 933, 1002 Marktpreis 96, 272 ff., 274 Materialisierung 13, 17 f., 45, 47 ff., 66 ff., 7 f., 94, 104, 196 ff., 935 f., 950, 1019 Materialität – des Rechts 47 Materielle Eigenschaften 904 materielle Gerechtigkeit 950 materiellen Prozessleitungspflicht 1004 materieller Gerechtigkeitsanspruch 950 Matthäusevangelium 134, 963 Mauerschützenurteil 213 ff., 223 Mechanical Jurisprudence 46 Mechanismus der Konfliktbeilegung 851 Med-Arb 5, 131, 136, 143, 152, 188, 902, 909, 1008 MedFördG 483, 484, 493, 549 f. – Praxis nach der Reform 2012 483 – Praxis vor der Reform 2012 481 ff. MedG 445, 548, 549, 944 Mediation – Abbruch 467, 472 – Akzeptanz des Verfahrens 179, 709 – Akzeptanz des Verfahrensergebnisses 184 – anchoring 527 – Annex zur richterlichen Tätigkeit 487 – Anwendungsbreich 928 – Äquivalenzprinzip 266, 274, 275, 288 – atypische Fälle 475 ff. – Ausland 551 ff. – Ausprägung informaler Billigkeit 950
1077
– autonomes Verhandlungsrecht 123, 191 ff. – befähigende Funktion 144, 164 – Befolgungsrate 184, 275 – Befriedungsfunktion 746 – Begründung 227 ff. – Benachteiligende Vereinbarung 473 – Beziehungsebene 161 ff., 740, 741 – Beziehungsorientierung 176, 205, 206, 207, 208, 731 ff. – Billigkeit 224 ff., 229, 233, 265, 295, 349 – caucus mediation 124, 170, 202 – Community-Gedanke 743 f. – Dauerbeziehungen 207 – Dauerhaftigkeit der Konfliktbeilegung 206, 207 – debiasing 723 – Deeskalation 741 – Definition 4, 141 f., 165 – Drittinteresssen 207 – Durchsetzung der Entscheidung 264 – Dynamik der Kooperation 707 – effektive Konfliktbeilegung 704 – Einfluss auf Einigung 258, 336, 339, 358, 360 – Einigung 452 – Einigungsdruck 144, 171, 172, 308, 441, 518, 712 ff., 721, 747 ff. – Einigungskriterien 192, 202, 270, 285, 298, 306, 318, 352, 361 – Einigungsrelevanz 280 – Einzelfallentscheidung 296 – empirischer Befund 521 f. – empowerment 701 ff. – Entscheidungsgrundlage 185, 263, 270, 274, 275 – Entscheidungsprinzip 185 – Ergebnisgestaltung 263 – Europäische Kommission, Empfehlungem 548 – Europäische Rahmenregelungen 547 – evaluative mediation 135, 170, 635 – externe 1005 – facilitative mediation 135, 170 – Flexibilität des Verfahrens 177, 185, 263, 736 – Freiwilligkeit 38, 175, 635 ff. – Funktion 889 ff.
1078
Sachregister
– gerechtes Verfahren 229 ff., 729, 752, 953 ff. – Gerechtigkeit in der Mediation 202 ff. – Gerechtigkeitstheorie, klassische aristotelisch-thomistische 957 ff. – gerichtsinterne 144 – gerichtsverbundene 154 ff., 192, 478, 479, 480 ff., 492, 560 ff., 830, 896, 902, 993 f., 945, 947, 1013, 1002 f. – Geschichte 130, 134, 518 ff., 662, 673 – Gesellschaft, Wirkung auf 741 ff. – Gesellschaftsbild 133, 203 f. – gesetzliche Verfahrensregelungen 545 ff. – Goldene Regel 301, 308, 320, 331, 338, 345, 351 – good faith mediation 164 – Grundsätze des Verfahrens 11, 63, 113, 239, 275, 439, 556, 570 ff., 958, 983 – Hilfe zur Selbsthilfe 739, 1009 – Housing Court New York 461 – Ideologie 133, 203f. – Informalität 165, 735–37 – Informationsasymmetrie 747 – Informationsphase 482 – Informationsproblem 450 – informierte Entscheidung 143 – Inhaltskontrolle 178, 360 ff. – Institutionalisierung 84, 85, 340, 345, 354, 478, 481, 486 – Instrumentalisierung der Mediation 946 – Integration in den Zivilprozess 830, 993 – Interessen 207, 256, 260, 284, 288 f., 311, 318, 345, 360 – Interesseneinheit 311 – interessenorientierte Verhandlung (Harvard-Konzept) 690 – Interessenorientierung 204, 205, 341, 729 ff. – interest based siehe Interessenorientierung – Internationale Regelungen 546
– Intersubjektivität 233, 234, 308, 340, 350 – Justiz 194 – Justizdienstleistung 194 – Kernaufgabe staatlicher Rechtsprechung 483 ff. – Kommunikation 65, 179, 186 – Konflikt, Wirkung auf 741 – Konfliktbehandlungskosten 744 – Konfliktkosten, Reduzierung gesellschaftlicher 744 ff. – Konfliktkultur, Einfluss auf 742 f. – Konfliktursachen 287 – konsensuales Verfahren 574 – Kooperation 574, 728 f., 739 – Kooperation, Schule der 722 – kooperationsfördernde Wirkung 179 – Kooperationsgewinne 162, 179 – Koordinatoren 631 – Kreativität 206, 208, 260 – Krise der Ziviljustiz 198 – Legitimation 447 – Lern- und Transformationsprozess 113, 144, 162, 702 – Machtungleichgewichte 114, 124, 450, 462, 717, 462 – materielle Leistungsfähigkeit 879 ff. – materiell-rechtliche Wirkung der 241 – Mediation Receptivity Index 947, 1024 – Mediationsphase 482 – Mehrparteien-Mediation (multi party mediation) 822 – Mensch, Wesen des 204 – Mitwirkung professioneller Parteivertreter 436 – Nachhaltigkeit der Konfliktbeilegung 206, 207, 290 – Nachteile 690 – Naturrecht 122 ff., 146 ff. – New Equity 229, 233, 239, 264, 291 ff., 320, 341, 350 – Notwendigkeit besonderer Regeln 478 – nationale Regelungen 549 – obligatorische 38, 164, 175, 344 f., 1005 – öffentliche Interessen 201, 206
Sachregister – – – – – – – – – –
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Orangenfall 284 Paketlösungen 184 Parteiautonomie 264 Parteibeziehung, Wirkung 184, 252, 290, 364, 738 ff. Parteiinteressen siehe Interessen Parteiverhalten 435 Partizipation der Parteien 178, 179, 185, 244, 253, 256, 260, 291, 308 Partizipation der Parteien 272 Perspektivwechsel 114, 208, 315 Primat 133 ff., 139, 142 ff., 195, 227, 232, 259, 261, 311, 321, 343 f., 346, 350, 351, 496, 950, 912 ff., 1022 principled mediation 135, 204 Prinzipien 165, 365 Privatautonomie 63, 122, 165, 168, 177, 178, 194 f., 245, 270, 291, 308, 318, 343, 349, 358, 447, 451, 702, 747, 872 Privatautonomie, Gewährleistung der 436 Probleme 462 Problemlösungstechniken 260 Procedural Justice Effekt 246 ff. Procedural Justice Forschung 961 ff. process control 736 Projekte nach Breidenbach 888, 894 psychologische Ebene 738 f. Recht, Rolle des materiellen 69, 75, 174, 192 f., 264, 270, 276, 279, 291, 343, 342, 349, 352 ff., 664, , 995 ff., 997 ff. rechtliche Grundlagen, allgemein 537 ff. rechtliche Grundlagen, gerichtsverbundene Mediation 483 Rechtsgewährungsfunktion 701 Rechtsprechung 243, 484, 553 ff. Rechtsprechung iSd. Art. 20 Abs. 3 GG 194, 265 Regressansprüche 451 regula aurea 216 ff., 320 ff., 723 Relativierung rechtlicher Normen 756 f. Relativismus 954 Reputation der Mediation 883 Reziprozität 728
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1079 Richter 485 Risiken für die Gesellschaft 753 ff. Risiken für die Parteien 746 ff. Risiken hinsichtlich des Konflikts 751 ff. Risiken, allgemein 113, 125, 252 Rollenfixierung 476 Rollentausch 723, 965 Rollenübernahme 706 ff. Sachebene 741 Sachentscheidung durch die Parteien (substance control) 168 ff., 178, 185, 735 Schlüsselrolle 531 Riskin-Grid 449, 510, 1001 Schnittstelle zum Zivilprozess 37 Screening-Phase 481 soziale Funktion 830 Spannungsverhältnis 11, 184, 186 f. Spannungsverhältnis zum Zivilprozess 2, 309 Stärkung strukturell schwächerer Parteien 698 ff. Stile 135 ff., 161 ff., 170 Streitbehandlungsgegenstand 174, 287 Struktur allgemein 3, 11, 340, 693, 908, 1016 Struktur der gerichtsverbundenen Mediation 506 f. Strukturanalyse 138 ff., 184 ff., 263, 284, 290, 346 strukturelle Komplementarität 184, 186 f., 224 Strukturmerkmale der gerichtsverbundenen Mediation 480 Strukturprinzipien 11 substance control siehe Sachentscheidung durch die Parteien Thematisierung des Rechts 999 f. Theorien 203 ff. traditionelles Regel-Ausnahme-Verhältnis 12 Transformation der Parteibeziehunng 289 transformative mediation 132, 161 f., 183, 204, 205, 207, 875 triadische Struktur 24, 40, 123, 140 f., 166, 925
1080
Sachregister
– Übergangslösung 485 – Überleitungsphase 482 – unbilliges oder rechtswidriges Ergebnis 471 – UNCITRAL-Modellgesetz 546 – Urbild (είδος) für ADR-Verfahren 4, 123, 144 – Verbreitung 947, 1024 – Verfahrensgerechtigkeit 229 ff., 243 – Verfahrensgestaltung 241, 243, 263 – Verfahrensgrundrecht 501 – Verfahrensherrschaft der Parteien 63, 177, 185, 241 – Verfahrensmodell zur Integration des Rechts in das Mediationsverfahren 1000 ff. – Verfahrensordnungen, vorgefertigte 541 – Verfahrensprinzipien siehe Grundsätze des Verfahrens – Verfahrensrecht 664 f. – Verfahrensrecht, Wechselwirkung mit 1003 ff. – Verfahrensstruktur 175 ff., 983 – Verfahrensverzögerung 751 – Verfahrenswirkung 243 – Verfassungsrecht 194 – Verfassungsrechtliche Verfahrensgrundsätze 559 – Vergleich als Verfahrensergebnis 186, 192, 253 – Vergleich mit dem Zivilprozess 3, 11, 245, 257, 266, 276, 280, 290, 312, 342, 346, 359, 367 – Verhaltenskodex für Mediatoren 74, 242 ff., 333, 548, 552 f., 958 – Verhältnis zum Zivilprozess 184 ff., 242, 257, 261, 292, 306, 313, 317, 339, 340, 344, 350, 353, 355, 357, 994 f., 1011 – Verhältnis zur Justiz 993 f. – Verhandlungsdilemma 361 – Verhandlungsergebnis 473 – Versöhnung 183 f., 206, 704 ff., 710 ff. – Verteilungskriterien 286 – vertragliche Verfahrensregelungen 538 – vertragsautonome 562 ff., 1001 f.
– Vertraulichkeit 154 ff., 165, 175 ff., 185, 733 ff., 749 – Vorrang vor anderen Verfahren siehe Primat – Vorteile 1, 12, 690 – Wahrnehmung und Verfahrenswirkung 705 f. – Wechselwirkungen allgemein 11 – Wertmaßstäbe 263, 264, 270 f., 274, 356 – Wertschöpfung 285, 292, 315, 343, 358 – Wertschöpfungsdilemma 362 f. – Wesen 150, 161 ff., 205, 208, 220, 262, 289, 338, 363, 364 – win-win-Lösungen 179, 360, 723, 725 – Ziele 133, 159, 203 ff., 291, 364, 440, 453, 466, 474 – Zielvorstellungen der Beteiligten 691 – Zivilprozess 507 – Zukunftsorientierung 174, 367 – Zulässigkeitsvoraussetzung 633, 634 – Zweck 474 – zwingendes Recht 472 Mediation Receptivity Index 947, 1024 Mediationsabrede 540 Mediationseignung 897, 898 Mediationsgesetz (MedG) 2, 84, 140, 241, 635, 6371004 Mediationsklausel 540 Mediations-Koordinatoren 631 Mediationsordnungen 353 Mediationsprojekte nach Breidenbach 888, 894 Mediationsrichtlinie 140, 177, 241, 353 f., 486, 547 f., 884, 944, 1004 Mediationsstile – evaluative mediation 135, 170 – facilitative mediation 135, 170 – principled mediation 135 – transformative mediation 135, 161– 62 – Riskin-Grid 449, 510, 1001 Mediationsvereinbarung 353, 538 ff., 958, 1004 f.
Sachregister Mediationsvergleich 183 f., 255, 274, 279, 293, 353, 355, 358, 360, 437, 444, 447 Mediatisierung siehe Entformalisierung Mediator 509, 953 – Abwägungsentscheidung 474 – Anwaltsmediator 445, 448, 449, 450 – Aufgaben 675 – berufsrechtliche Anforderungen 440 ff. – Defizite der Parteien 459 – Einzelgespräch (caucus) 467 – Empfehlung 2001/310/EG 442 f. – Ergebnisverantwortung 448 – ermöglichende Funktion 141, 169 – europäische Rahmenreglungen 442 ff. – Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren 467 – evaluative mediation 135, 170, 635 – evaluierender Mediationsstil siehe evaluative mediation – externer 1005 – Handlungsoptionen 458 – Pflichten des Mediators, allgemein 475 – Hinweis-, Aufklärungs- und Interventionspflicht 448 f., 471 f., 475 – Informationsasymmetrien, Interventionspflicht 463, 468 – Informationsaustausch 465 – Informationspflicht 444, 464 – Inhaltskontrolle 178, 360 ff. – Interventionen, allgemein 463, 474 – Interventionen, Grenzen 473 – Interventionsdichte 458 – Interventionspflicht 449, 450–75, 747 – juristische Ausbildung, Bedeutung 449 – konstitutive Funktion 448 – Machtungleichgewichte, Intervention 124, 291, 453, 458, 475 – Mediatorvertrag 242, 353, 540 f., 1004 – Model Standards of Conduct for Mediators 553 – nationales Gesetzesrecht 445 ff.
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– Neutralitätspflicht 171, 233, 307, 445, 465, 499 – Pflichten 439, 1002 – Privatautonomie der Parteien 125, 291, 473, 462 – Privatautonomie, Hüter der 124, 435, 450 f., 459, 464, 513, 703, 747 – Problemlöser, Rolle des 924 – rationales Verhaltensmodell 477 – BVerfG, Rechtsprechung des 437 – Richter als 154 ff. – berufsständischen Organisationen, Richtlinien und Verfahrensordnungen der 440, 467 – Rolle 40, 123, 124, 125, 135, 140 f., 168 ff., 170, 168 ff., 203, 242, 255, 318, 347, 434, 472, 476 – Rollentrennung 154 – Rollenvermischung (role confusion) 151, 171, 409, 418 – Schutzrechte einer Partei 462 – Spannungsverhältnis 450 – Strategien 170 – Tools 170 – Überwachungs-, Förderungs- und Interventionspflicht 440, 442 – unterstützende Funktion 141, 169, 171, 318, 452, 737 – verfahrensimmanente Anforderungen 439 f. – Verfahrensintegrität, Hüter der 435, 439, 446, 459, 464, 513 – Verfahrensleitung (process control) 178, 345, 451, 474 – Verfahrensverantwortung 442, 466 – verfassungsrechtliche Anforderungen (Güterichter) 436 ff. – Verhaltenskodex für Mediatoren 74, 242 ff., 333, 548, 552, 958 – Verhandlungsgeschick 468 f. – Verhandlungsmacht 454, 457 – Verschwiegenheitspflicht 154 ff., 466 – vertraulichkeit – Vertraulichkeit 154 ff., 465 ff. – Vertraulichkeitspflicht vs. Interventionsgebot 466–67 – Waffengleichheit der Parteien 537
1082
Sachregister
– Zeugnisverweigerungsrecht 176, 242, 640, 749 – Ziele des Verfahrens, Umsetzung 440, 459 – Zwei-Phasen-Modell 475 – zwingendes Recht, Verstoß gegen 467 Mediatorvertrag 242, 353, 540 f., 1004 Mehrparteien-Mediation (multi party mediation) 822 Menschenrechte 111 Menschenwürde 121 Menschenwürdegarantie 967 Metakonflikt 19 f., 23 ff., 35, 164, 860, 863, 920, 923, 927, 915 f., 984 Metaphysik 159 Metaphysik der Sitten 323 ff., 974 ff., 977 Methodenlehre 73 Middlesex Multi-Door Courthouse in Cambridge (Massachusetts) 899, 901 Mini Trial 5, 131, 902, 1008 Misanthropen-Dilemma 976 Model Standards of Conduct for Mediators 553 Modellprojekte gerichtsverbundener Mediation 481 – Landgericht Göttingen 896 – Modellversuch Güterichter (Bayern) 882 ff., 896 monistisch-etatistischen Rechtsmodell 940 Moral 277, 279 – und Recht 279 multidimensionale Konflikte siehe Konflikte Multi-Door Courthouse 16, 145, 153, 188, 344 f., 485, 632, 633, 636, 673, 719, 875, 889 f., 899, 900, 901 f., 907, 1011 – Arapahoe Justice Center (Colorado) 899, 901 – Washington D.C., Superior Court 898, 901 Nachbarschaftsstreit 874 Nachhaltigkeit siehe Mediation Näherungslösung 860
Naturrecht 48, 98, 102, 105, 109 ff., 118, 122, 134, 213 ff., 255, 276, 315, 342, 964 – Gesetzesrecht 82 – Mediation 122–26 – Privatrechtsordnung 955 f. – prozedurales 146 ff. Neg-Arb 5, 132, 136, 152, 188, 1008 New Equity 969 Nichteinigungsalternativen 143, 165, 207, 470, 900, 952 normative Fragmentierung 943 normative Verdichtung 913 Normenflut 53 f., 65 Normrelativismus 688 Normsystem, objektives 990 Novellengesetzgebung 851 Nullsummenmythos 984 Nullsummenspiel 24, 170, 275, 694, 860, 1000 – Mediation 179 – Zivilprozess 24, 26, 30 Nutzwert 218, 270, 348, 960 – objektive Kriterien 219, 270 – Rechtsphilosophie 218 f. obligatorisches Güteverfahren 912 obligatorische Mediation 38, 164, 175, 344 f., 1005 ODR-Verordnung 84, 241, 944 öffentliche Interessen 201, 206 Öffentlichkeitsprinzip 734 ökonomische Analyse 1014 Ombudsmann 132, 1008 Online Dispute Resolution (ODR) 5, 132. 1008 Orangenbeispiel 24, 220 Oszillation zwischen Formalität und Informalität 46, 187, 215 Owen-Fiss-Debatte 682 ff., 1011 Paketlösungen siehe Mediation Paradigmenwechsel 947, 969 Paralleljustiz 64 pareto-optimale Kooperationsgewinne siehe Kooperationsgewinne Partizipation, unmittelbare 925 f. Prozessgrundrechte 498 Parteivertreter 865
Sachregister Partizipationsdefizit 39 ff., 178, 924 ff. Patristik 964 personale Ebene 865 Perspektivwechsel 27, 164, 170, 208, 965, 968, 969 Phasenverzögerung des Rechts 54, 72, 939 plea bargaining Modell 933 Pluralismus 73 polyzentrische Konflikte 31, 71, 77, 153, 157, 182, 184 Positionen – und Interessen 22, 23, 24 Positionsdenken (positional bargaining) 135, 142, 170 Postmoderne 73, 79, 80, 109, 111, 112, 213 ff. postmoderner Relativismus 943 Pound Conference 14 ff., 135, 198, 859, 903, 944, 973 Präferenzen der Parteien 873 praktische Konkordanz 854 presumptive referral 634 Primärverfahren 132, 900, 911, 989, 1010, 1022 Problemlöser, Rolle des 924 Primat – Mediation 142 ff., 227, 661, 667 ff., 674, 873, 911 f., 961, 962, 969, 979 f., 1006, 1008, 1011 f. – konsensualer Streitbeilegung 27, 85, 139 Principles of Social Order 906 Prinzip des Informalen 949 Prinzip des Verfahrenspluralismus siehe allgemeine Konfliktbehandlungslehre Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung 978 Prinzip hierarchischer Differenzierung siehe allgemeine Konfliktbehandlungslehre Prinzip qualitativer Differenzierung siehe allgemeine Konfliktbehandlungslehre Prinzip der Rollentrennung siehe allgemeine Konfliktbehandlungslehre
1083
Privatautonomie 67, 194–95, 240, 243, 244, 263, 266, 273, 638, 699, 701, 724–28, 873, 926 private judging 135 private ordering 72, 73, 201, 941 Privatisierung der Justiz 683, 687, 753 ff. Privatrechtsdogmatik 1013 f. problemlösungsorientierter Ansatz (problem-solving mindset) 35, 208, 170, 70, 866 Problemverarbeitungskapazität des Rechts 70 Produkthaftungsrecht 756 Program for Evolutionary Dynamics 981, 1023 propinquity effect 865 prozedurale Gerechtigkeitsmodelle 951 f. 979 Prozeduralisierung siehe Entformalisierung Prozess der Verrechtlichung 938 Prozessflut 54 ff., 946 Prozessmaximen 1004 Prozessökonomie 638 Prozesspluralismus Siehe Verfahrenspluralismus Prozessrechtslehre 649 ff. Prozessrisikoanalyse 170, 202 Prozessverhalten 862 Prozesszwecklehre 850, 888, 894 Radbruchʼsche Formel 103, 116, 214 Rationalisierung des Rechts 49, 936 Rationalität, des Rechts 47, 48, 49, 69, 73, 75 reality check 904 Recht – Abwertung der normativen Verbindlichkeit 112 – Auflösung 197 – Auslegung 121 f. – autonomes Verhandlungsrecht 81 f., 77 ff., 110 f., 123, 191 ff., 756 ff. – Autorität 199 – Befehlscharakter 76, 194, 197, 200 – Begriff 196 – corruptio 103, 115, 222 – Desintegration, gesellschaftliche 78
1084 – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Sachregister
Desintegration, rechtliche 78 Entscheidungskriterien 47 Erscheinungsformen 47 Finalprogramme 76 formal-irrationales 48 Formalität 47 formal-rationales 48 ff., 192, 195 f. Funktion 102, 193 Funktionsverlust 17, 70 Geltungsmonopol des staatlichen Rechts 73, 194 Gerechtigkeit 102 ff., 114, 222, 685 Hyperkomplexität 50, 54 Hypertrophie 52, 54 Indifferenz, wechselseitige 78 informal-irrationales 192 Integrität 104, 224 Irrationalität 47 Konditionalprogramme 76 Konstituierung 102 Krise 70 ff., 112, 199 ff., 756 ff. lex aeterna 102, 279 lex humana 102, 279 lex mercatoria 72 lex naturae 102 Materialisierung 49 ff., 66 ff., 75, 94, 104, 196 ff. Materialität 47 materiell-irrationales 48, 196 f., Naturrecht 102 nichtstaatliches 72, 74 Normenflut 53 f., 65 Phasenverzögerung 54, 72 private ordering 72, 73, 941 Problemverarbeitungskapazität 70 Prozeduralisierung 75, 77 ff. Rationalisierungsphasen 47 Rationalisierungsprozess 48 f. Rationalität 47, 48, 49, 69, 73, 75 reflexives 77 ff., 197, 942 Regelungsdichte 54, 278 Richtigkeitsanspruch 73 Mediation, Rolle in der 75, 191 ff. Staat und Gesellschaft, Rolle in 45 Selbststeuerung 77 ff. Soft Law 74 subjektives 700 soziale Normen 73
– Steuerungsfähigkeit 49, 50, 54, 70, 73, 949 – Steuerungsfunktion 70 – subjektives Parteirecht 191 – Überregulation 50 – ungerechtes 102 ff., 115 f., 222 – Verbindlichkeit 72, 73 – Vergesetzlichung 53 f. – Vertrauen in das 73 – Wandel 46 ff. – Wesen 45 rechtliche Kodierung 860 Rechts- und Verfassungsstaat 942 Rechtsansprüche 861 Rechtsanthropologie 83 Rechtsbewährungsfunktion 194, 933 Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) 446 Rechtsetzung 20, 48 f. Rechtsfindung 48 f. Rechtsfortbildungsfunktion 194, 223, 226 Rechtsgefühl 73, 95 Rechtsmodell – monistisch-etatistisches 938 Rechtsordnung und Mediation 191 ff. rechtsorientierte Verfahren 862 Rechtsphilosophie 7, 9, 11, 93–130 – aristotelisch-thomistische Gerechtigkeitstheorie 111, 115, 220, 291, 262, 227 ff., – Mediationsverfahren, Begründung 227 f. – Dichotomie von formalem Geltungsund materiellem Gerechtigkeitsanspruch 93–108 – Diskurstheorie 108, 244 – Flötenbeispiel 282 – Gemeinwohl (bonum commune) 112 – Fairness, Gerechtigkeit als 108 – Handlungsmaxime 333 – Individualismus 97, 112 f. – kategorischer Imperativ 305, 324, 335 ff., 339, 342, 346, 351, 974 – kategorischer Imperativ, Kritik 974 ff. – Kollektivismus 97 – lex aeterna 115, 222, 226, 279 – lex humana 115, 118, 119, 226, 279 – lex humanitus 222
Sachregister – lex naturae 106, 115, 118 f., 222, 226 – Liberalismus 112, 204, 207 – Naturrecht 99, 102, 105, 109 ff., 146 ff., 213 ff., 262, 276 – Postmoderne 73, 79 f., 109, 111 f., 213 ff., 940 – prozedurale Gerechtigkeitsmodelle – Rawl’s Theory of Justice 328 ff. – Rechtsgefühl 296 – Positivismus 98, 264, 285 – Relativismus 73, 79, 80, 109 ff., 110, 112, 118, 684 – regula aurea 163 f., 299 ff., 662, – Sittlichkeit 99, 105 ff. – suum cuique tribuere – Mediation 109 – Vernunft (lumen rationis) 99, 102107, 109, 115, 119 ff., 124, 146, 222, 226, 248, 262, 276, 297 f., 349 – Vertragstheorie 244 – Wertepluralismus 73, 109 ff., – Werterelativismus 110, 112, 118, 73, 79 f. – Wesensbegriff (oὐσία,)159 Rechtspluralismus 940 Rechtsprechung – als Instrument gesellschaftlicher Transformation 684 – Kernbereich 494 – soziale Funktion 553 ff. Rechtsprechungsbegriff des Art. 92 GG 488 ff. – formeller 490 f. – funktionaler 493 ff. – materieller 491 ff. Rechtsprechungsmonopol 488 Rechtssatz 47 Rechtsschutz, effektiver 870 Rechtssicherheit 101, 103, 116, 117, 120, 122, 875 Rechtssoziologie 9, 11, 45 ff., 246, 662 rechtsstaatliche Garantien 700 Rechtstatsachenforschung 1014 Rechtstheorie 9, 11, 14 ff., 661 Rechtsvergleichung 7 Reconciliation Project 704 ff., 726, 734, 831 reflexives Recht 77 ff., 197, 942
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– autopoietisches System 78, 110, 197 – Kritik 79 f. – regulatorisches Trilemma 77 ff. Regelungsstreitigkeiten 827 regula aurea 164, 216 ff., 299 ff., – Mediation 163, 164, 300 ff., 320 ff., 962 ff. – Inhalt 299 ff. – Wiederentdeckung und Renaissance 303 ff., 977 regula caritatis 303, 305, 965 regulatorisches Trilemma 77 f. Reichshofratsordnung 519, 521 relationale Verträge (relational contracts) 71 Relativismus 73, 79, 80, 109 ff., 110, 112, 118, 684 Rematerialisierung siehe Materialisierung Ressourcen – immaterielle 861 – materielle 861 Retrospektivität 28 ff., 916 f., 861, 927 Reziprozitätsprinzip 969, 982, 968, 1012, 1018 f. Richter – Bindung an Recht und Gesetz 25, 504 – Entscheidung des 862, 863 – Ersatzgesetzgeber 827 – Prozedurale Berücksichtigungsgebote 505 – Hinweispflicht 637, 851 – rechtsprechende Tätigkeit 496 – Rechtsprechungsmonopol 488 – Richterbild 73, 85 – Rolle 25f., 40, 85, 167 f., 178, 231 – schlichtende Funktion 827 – sozialpolitisch motivierte richterliche Entscheidung 828–30 – Vergleichsförderungspflicht 487, 497 – Unabhängigkeit 498, 829 – vermittelnde Tätigkeit 830, 993 Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus 97, 101, 104, 106, 120, 123, 951, 1012, 1014, 1019 Richtlinien der BAFM 358 f., 449, 462 Richtlinien des BMWA 358
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Sachregister
Riskin-Grid 449, 510, 1001 Rolle des Mediators 169 – Sachmoderation 395–96 Rollenkohärenz 862, 864 Rollenkomplementarität 36 Rollenkonsistenz 20, 37 Rollenmuster – konfliktbedingtes 865 Rollentausch 738, 965 – Wirkmechanismus des perspektivischen Rollentauschs 965 Rollentransformation 35 Rollentrennung 678 f., 1008, 1020 Rollenzwang 34 ff. Rückfallordnung 952 Rücknahme des Befehlscharakters des Rechts siehe Entformalisierung Sachebene 865 Sander-Goldberg-Modell 876 ff., 885, 889 Schaden 866 Schädigungsverbot 853 Schematismus, binärer 880, 907 Schiedsmann 132 Schiedsverfahren 135, 143, 150, 165, 909 Schlichtung 5, 132, 136, 1008 Schlichtungsstellen 62 Schlichtungsverfahren, obligatorisches 982 Schlüsselqualifikationen 74 Schmidt-Rimpler’sche Theorie der Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus siehe Richtigkeitsgewähr Schnittstelle – zwischen Mediation und Zivilprozess 37 Scholastik 964 Schrankensystematik der Freiheitsgrundrechte 854 Schriftsatzwechsel 862 screening 636 Selbststeuerung 6, 77 ff. Selbstverpflichtung 74 Selbstwahrnehmung 863 selektive Realitätsverarbeitung siehe systemimmanente Grenzen des Zivilprozesses
self-agency 435, 450, 454, 455, 457, 469, 699, 703, 740 sententia 187 Service Delivery Project 693 ff., 725, 734, 830 Sieger und Verlierer, Rolle des 29, 42 similarity-attraction effect 865 Sittenwidrigkeit 120, 122 Sittlichkeit 104 small claims courts 125 Social Transformation Project 716, 727, 728, 734, 831 Soft Law 74 soft skills 1013 Sondersprache 39 Soraya-Urteil 224 soziale Normen 73, 277, 279 soziale Sanktionen 277 Spannungsverhältnis 511, 1017 – der Verfahrensprinzipien 11 – zwischen Norm- und Verhandlungssystem 263 Spieltheorie 30, 982, 986, 1023 Spirale der Konfrontation 863 Sprache, im Zivilprozess 39 Staat, kooperativer 994 Staatstheorie 940 Stellvertreterkonflikt 870, 874, 868, 930, siehe systemimmanente Grenzen des Zivilprozesses Steuerungsfähigkeit siehe Recht Steuerungskapazität Steuerungsmechanismen, informale 940 Streitbehandlungsgegenstand 174, 639 Streitbeilegungsverfahren 1020 Streitgegenstand 639, 861 Strukturanalyse 646 f. strukturelle Integrität 1017, 1020 Strukturprinzipien der Mediation – Beziehungsorientierung 1016 – Informalität des Verfahrens 1016 – Kooperation 1016 – Orientierung an Parteiinteressen 1016 – Privatautonomie 1016 – Vermittlung durch einen neutralen Dritten 1016 – Vertraulichkeit 1016
Sachregister Strukturprinzipien des Zivilprozesses – Entscheidung durch einen neutralen Dritten 1017 – Ergebnisorientierung, Öffentlichkeit 1017 – Formalität des Verfahrens 1017 – Heteronomie 1017 – kontradiktorische Entscheidungsstruktur 1017 – Orientierung an Rechtsansprüchen 1017 Strukturwandel staatlicher Steuerungstätigkeit 935 Stufenverhältnis 910, 912 Subsidiarität – und Verfahrenshierarchie 27 Subsumption 860 Summary Jury Trial 139, 143 Sunk-Cost Phänomen 864 suum cuique tribue suum cuique tribuere 217, 689, 730, 729, 752, 853, 855, 933, 951, 953, 960 f., 978 – praktische Umsetzung 853–54 – Grundformel 932 System gegenseitiger Freiheits- und Interessensphären 967 System staatlicher Konfliktbeilegung 1024 systemimmanente Grenzen des Zivilprozesses 18 ff., 224, 295, 312, 317, 320, 341, 343, 346, 1015 f. – Akzeptanzdefizit 39 ff., 183, 275 – Alles-oder-Nichts-Entscheidungen 29 ff., 34, 173 – Transformation des Konfliktes in einen Metakonflikt 164, 275 – beziehungsschädigende Wirkung 29 – binärer Schematismus 15, 29 ff., 173, 187, 343 – Eskalation 32 ff., 65, 275, 290 – irreale Sachverhalte 30 – Kommunikationsdefizit 39 ff., 65, 275, 318 – Komplexitätsreduktion 18 ff., 19, 173 – Legitimation 312, 339, 343 – Partizipationsdefizit 39 ff., 178, 275 – Positionsdenken 173
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– Retrospektivität 28 f., 275 – Rollenzwang 34 ff. – selektive Realitätsverarbeitung 21, 173 – Stellvertreterkonflikt 22 – Transformation des Konfliktes in einen Metakonflikt 23 ff., 27 – unbillige Ergebnisse 30 – unrichtige Urteile 30 – Unschärfe der Rechtsfolgen 20, 173 – Transformation des Konfliktes in einen Metakonflikt 288 – systemimmanenten Grenzen des Zivilprozesses – binärer Schematismus – systemimmanenten Schwächen 859 Systemtheorie 18 ff., 34 ff., 167 f. – Autopoiesis 78, 110, 197 – Reflexives Recht 77 ff., 197, 942 Szenarioanalyse 170 tatsächliches Leistungsvermögen 881 Taxinomien 876 Technisierung 72 Teilgerichtsbarkeiten 652 f. Thematisierung des Rechts 22, 32, 34, 923, 926 Thematisierungsmodus 1000 Thematisierungsproblem 1000 f. Tochterkonflikt 33, 921 tradeoff 24 tragenden Prinzipien alternativer Streitbeilegung 881 transactio 187 Transformation des Konfliktes in einen Metakonflikt siehe systemimmanente Grenzen des Zivilprozesses Transformation von Naturrecht 950 f. Transformationsmechanismus 957, 969 Transformationsprozess 911, 924, 932, 955, 966, 1009 Transformationswirkung 865 Transnationales Verfahrensrecht 8 Triade 24, 40, 123, 140 f., 166, 925 Trias der Primärverfahren 5, 134 f., 148, 666, 671 ff., 907, 910, 1008 Trichter des Verfahrens 19, 34, 36, 173 Tugend 222, 229 ff. typisierter Interessenausgleich 860
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Sachregister
Überlastungsproblem 868 Übermaßverbot 1003 Überoptimismus, unrealistischer 864 Überschätzung 864 UNCITRAL Model Law on International Commercial Conciliation 84, 486, 546, 944, 1004 understanding-based Model of Mediation 1000 Uniform Mediation Act (UMA) 84, 242, 486, 546, 552, 1004 Unschärfe, gesetzlicher Regelungen 15, 20 Urteilsfähigkeit des Menschen 971 f. Urteilsquote 943, 947 – Veränderung der Urteilquote USA 946 – Veränderung der Urteilsquote Deutschland 946 US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung 867 US-amerikanische Institutionalisierungsdebatte 909, 1010 vanishing trial 59 ff., 868 Verbände 72 Verbraucherschutz 48 Verbraucherstreitbeilegung 64 Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG) 2, 85, 241, 550 Vereinheitlichung der Mediation 903 Verfahren gesellschaftlicher Steuerung 906 Verfahrens- und Institutionenlehre Lon L. Fullers 511, 906, 1017, 1019, 1025 Verfahrensanalyse siehe Strukturanalyse Verfahrensarten 5, 132, 261 Verfahrensdesign 1007, 660 f., 1007 Verfahrenseigenschaften – des Zivilprozesses 697 Verfahrenseinleitung 632 ff. – aufgrund verbindlicher gesetzlicher Verweisung 634 – aufgrund verbindlicher Verweisung durch das Gericht 637 ff. – nach Klageerhebung 634 ff. – vor Klageerhebung 633
Verfahrensfunktionen 872, 888, 893 Verfahrensgerechtigkeit 235, 261, 954, 958 Verfahrensgrundsätze 63, 660 – der Mediation 663 Verfahrenshierarchie 27, 143, 900 Verfahrensintegrität 677, 909, 1008, 1010 verfahrensökonomischen Vorteile 879 Verfahrenspluralismus 5, 6, 261, 669 ff., 875, 900, 908, 910, 1008, 1017, 1020 – als empirischer Befund 673 f. – als rechtshistorischer Befund 673 Verfahrensrecht 536 – begrenzende Funktion 537 – durchsetzende Funktion 536 – konstitutive Funktion 536 – nährende Funktion 537 Verfahrensregelungen – gesetzliche 241 – vertragliche 241 Verfahrenstypologie 671 fd. Verfahrenswahl 873 f., 876, 891 ff., 927 – Bewertung der Eignungskriterien 887 ff. – eigenverantwortliche 883 – Einbindung der Rechtsanwälte 630 – empirische Eignungskriterien 893 f., 896 ff. – Einwände 893 – konfliktspezifische 876, 881, 884, 899, 900 – Verfahrensrisiken, Evaluation der 890 f. – Verfahrensfunktion und -struktur 887 ff. Verfassungsrecht – Mediation 816 Mediationspflicht 194, 816 Vergangenheitsbezogenheit siehe Retrospektivität Vergeltungsdenken 968 Vergesetzlichung 53 f. Vergleich 69, 526, 1021 Vergleich mit dem Zivilprozess 290 Vergleichsquote 86 ff., 937, 943, 946 f.
Sachregister – Bayern 12 – Deutschland 12 – USA 12 Verhaltenscodex 941 Verhaltensgebote Verhaltenskodex für Mediatoren 74, 242 ff., 333, 548, 552, 958 Verhaltensökonomik 1019 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 122 Verhandlung 675 – Entscheidungsfreiheit 240 – gutes Verhandlungsergebnis 164, 203, 206 ff, 257 – Verhandlungsverhalten, intuitives 135, 141, 142, 163, 973 – Verhandlungsverhalten, Änderung 984 – Verhandlungsforschung 83, 930, 943, 959, 982 – Verhandlungsmacht, Quellen 471 Verhandlungsstaat, kooperativer 938 Verhandlungssystem, subjektives 990 Verhandlungstheorie 470, 477 Verjährungshemmung 639 Vermischung von Beziehungs- und Sachebene 142 Verrechtlichung 20, 32, 50, 52 ff., 65, 70, 74 – durch Komplexitätsreduktion 15, 18 ff., 172 ff. Versöhnung 183 f., 206, 704 ff., 710 ff. Verteidigungsverhalten 863 Verteilungsgerechtigkeit siehe Gerechtigkeit Verteilungskonflikt siehe Konflikt Vertrag – bipolare Austauschbeziehungen 71 – Kette 72 – komplexe Langzeitverträge (relational contracts) 71 – multipolare Austauschverhältnisse 71 Vertragsfreiheit 240, 278, 280 – formelle 66 ff., 93 ff., 96 ff., 266 – materielle 66 ff., 93 ff. – und Vertragsgerechtigkeit 93 ff., 105 ff., 233 Vertragsgerechtigkeit 265, 956 – formelle 66 ff., 118 ff.
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– materielle 66 ff., 93 ff., 94 ff., 118 ff. – und Vertragsfreiheit 93 ff., 105 ff., 233 Vertrauen 170, 176, 184 – in das Rechtssystem 73 Vertraulichkeitsgrundsatz 908 Vollzugsdefizite – normative 938 Voraussetzung – emotionale 865 – kognitive 865 Vorschaltverfahren 884 Vorteile der Mediation 1025 Waffengleichheit 717 Waffengleichheit der Parteien 1004 Wahrheit 73 Wahrnehmung 864 – selektive 864 Wahrnehmungsverzerrungen 122, 170, 863 ff. 865 – Nullsummenmythos (zero sum bias) 170 – reaktive Abwertung (reactive devaluation) 142 – selektive Wahrnehmung 173 – Überoptimismus 120 Wandel – Gesellschaft 1, 6, 17 – Konfliktkultur 1, 6, 17, 82 ff., 156, 662, 722 ff., 934, 943 ff., 948 – Recht 46 ff., 662, 934, 948 – Staat 934, 948 – staatlichen Handelns 6, 17, 51 ff., 937 ff. Wandel der Konfliktkultur 1, 6, 17, 82 ff., 156, 662, 722 ff., 934, 943 ff., 948 – ADR-Bewegung 82, 156 – Vergleichsquote 86 Wandel des Rechts 46 ff., 662, 934, 948 – Entformalisierung 45, 48 ff., 76 – Finalprogramme 76 – Konditionalprogramme 76 – Materialisierung 45, 48 f., 66 ff., 74, 196 ff. Wandel des staatlichen Handelns 6, 17, 51 ff., 937 ff.
1090
Sachregister
– Abkehr von traditioneller Staatlichkeit 45, 73 – ADR-Bewegung 201 – Delegation von Verantwortung 45 – Deregulierung 45, 196 ff. – Entformalisierung 74 ff., 76 – Finalprogramme 76 – Handeln im „Schatten des Rechts“ 74 – Informalisierung 197 – Kolonialisierung der Lebenswelt 65 – Konditionalprogramme 76 – Konfliktenteignung 65 – Kooperation als Prinzip des Staatshandelns 45, 74, 197 – kooperativer Staat 45, 194, 197 – Krise des Rechts 70 ff., 112 – Liberalisierung 45 – Mediation 201 – Mediatisierung 75, 197 – Normenflut 53 f., 65 – Privatisierung 45 – Prozeduralisierung 75, 77 ff., 197 – Rückgang der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten 54 – Selbststeuerung 45, 77, 81, 197 – Strukturwandel staatlicher Steuerungstätigkeit 45, 52 – Vergesetzlichung 53 f. – Verhandlungsstaat 45 – Verrechtlichung 52 ff., 65, 70, 74 Wegfall der Geschäftsgrundlage 97, 117 Wehrhaftigkeit des Rechts 852 f. Wertbeanspruchung 163 Werterelativismus 109 ff., 110, 112, 118 Wertgrundsätze materieller Gerechtigkeit 956 Wertkonflikt siehe Konflikt Wertverteilung 163, 208, 283, 288, 365 Wertschöpfung 163, 205, 206, 208, 220, 315, 365 Wertvorstellungen 321, 330, 342, 356 win-win-Lösungen 275, 360, 861 – im Zivilprozess 26, 31 – in der Mediation 360, 690, 694 Wirksamkeit, von Rechtsgeschäften 100, 273
wise agreement siehe gutes Verhandlungsergebnis Wohlfahrtsstaat 943 Wolfenbütteler Hofgerichtsordnung 519 Woolf-Reform 947 Wucher 97, 117 wucherähnliches Geschäft 117 Zersplitterung der Prozessordnungen 652 Zeugnisverweigerungsrecht siehe Mediator Zivilprozess – Anwendungsbereich 929 – autonomes Handlungssystem 19 – Befolgungsrate 183 – Befriedungswirkung 42 – Beziehungsebene 230 – Billigkeitsrecht 292 – Entscheidung durch neutralen Dritten 849 ff. – Entscheidungsgrundlage 185 – Entscheidungsmechanismus 25 f. – Entscheidungsprinzip 185 – Ergebnisorientierung 844 ff. – Formalität 166, 180, 185 – Formalität des Verfahrens 848 f. – Funktionen 829, 830, 856 f., 862 – Gerechtigkeitsfunktion 231, 292, 855 – Grenzen 18 ff., 852 – Heteronomie 832 ff. – Instrument der Durchsetzung des materiellen Rechts 856 – Interessen 26, 168 – Kernprinzipien 166 – Klagerücknahme 37 – Kommunikation 186 – konfliktbeendigende Funktion 858 – konflikttheoretisch vorteilhafte Wirkungen 851 – Konfrontation 838 ff. – kontradiktorischer Charakter 729 – Legitimation 34 ff. – Leistungsfähigkeit 832 – Maschine 19 f., 173 – Mechanismus des Verfahrens (Galtung) 34, 173, 799
Sachregister – Metakonflikt 731, 732 – Missbrauch 869 – Öffentlichkeitsprinzip 166, 168, 185, 846 ff. – Orientierung an Rechtsansprüchen 841 ff. – Partizipation der Parteien 185 – positive Verfahrenswirkungen 850 – Rechtsbewährungsfunktion 41, 851, 995 – rechtsdurchsetzende Funktion 858 – Rechtsfortbildungsfunktion 995 – Rechtsschutzfunktion 63, 855, 858 – Retrospektivität 28 ff., 916 f., 861, 927 – Rollenübernahme 735 – Rollenzwang 167 – Sachentscheidung 167 ff., 178, 185, 292 – Schnittstelle zur Mediation 37 – soziale Funktion 827, 830 – Streitgegenstand 172 ff. – Struktur 3, 11, 831 ff. – Strukturanalyse 138 ff. – Strukturananalyse 138 ff., 184 ff., 759 ff. – Subsidiarität 168 – System 27 – systemimmanente Grenzen 18 ff., 880, 913 ff., 999 – systemtheoretisches Modell (Luhmann) 167 f. – Systemtheorie 34 ff. – Transformationsmechanismus 23 – Urteil als Verfahrensergebnis 181 ff., 186, 191 – Verengung auf 1
1091
– Verfahrensherrschaft der Parteien 177, 185 – Verfahrensleitung durch den Richter 178 – Verfahrensprinzipien 11, 165 ff., 831 ff. – Verfahrensrollen 167 f. – Verfahrensstruktur 180 f. – verhaltenssteuernde Funktion 858 – Verfahrenswirkungen 851 ff. – Verhältnis zur Mediation 184 ff. – Verhaltensökonomik 1012, 1014 – Wesen 165 f. – Wirkungen 850 – Legitimationskrise 970 – systemimmanenten Schwächen 988 ZivMediatG (ZivMediatG) 84, 486, 549, 551, 1004 Zugang – zum Recht 689 – Zugang zur Justiz 39, 638, 750 Zugangsbarrieren zum Recht 696 f. Zukunftsorientierung 28, 174 – und Vergangenheitsbewältigung 28 Zuweisungskriterien 875, 876, 885, 896 – allgemeingültige 876 – Auswahl 879 – Streitgegenstand 897 – Prozesshintergrund 896 – Prozessstadium 897 f. Zuweisungsmodelle 885 ff. Zwangsvergleich 520 Zwangsvollstreckungsverfahrens 861 Zweierbeziehung 24, 40 Zweiteilung der Streitbeilegungsformen 1009
Personenregister Abaelard, Petrus 323 Albertus Magnus 218, 348 Anselm von Canterburry 299, 304, 964 Aristoteles 218, 229, 234, 265, 267, 269, 280, 293, 303, 348, 960 Auer, Marietta 97 Augustinus 222, 299, 300, 304, 348, 960, 964 Bachmann, Gregor 652, 653, 654, 655 Ballerstedt, Kurt 99 Blackstone, W. T. 325, 975 Bonaventura 299, 304, 964 Breidenbach, Stephan 692, 888, 894 Brühlisauer, Bruno 325, 337, 975 Bülow, Oskar 650, 651 Burger, Warren 14, 869 Bush, Robert A. Baruch 161 Cadoux, A. T. 325, 334, 975 Canaris, Claus-Wilhelm 94, 109, 282, 282, 285 Craemer-Ruegenberg, Ingrid 325, 975 Dihle, Albrecht 305, 964 Diogenes Laertios 303 Dürig, Günter 305, 307 Duve, Christian 886, 887 Eidenmüller, Horst 886 Falke, Josef 886 Finnis, John 219, 221, 232, 282, 288, 348, 960 Fisher, Roger 206, 219, 319, 326, 348, 360, 366, 690, 959 Fiss, Owen M. 682 ff., 752, 753 ff., 852, 872, 930, 933, 943, 954, 995 Flume, Werner 99, 104, 105 Folger, Joseph P. 161 Fox, Erica 432 Friedman, Gary 1000 Fuller, Lon L. 155 f., 261, 670 ff., 906, 957, 968, 1008 f., 1017
Galanter, Marc 869 Galtung, Johan 19, 173 Gessner, Volkmar 886 Glazer, Nathan 871 Goffman, Erving 180, 675, 733, 923 Goldberg, Stephen B. 876, 885 Goldschmidt, James 650, 651 Greger, Reinhard 32, 896 Grotius, Hugo 134, 136, 1008, 1021 Grunsky, Wolfgang 652 Habermas, Jürgen 109, 244, 249 Hacke, Andfreas 886 Hagen, Josef 652 Hager, Günter 18, 49 ff. Hart, Henry M. 145, 146, 906 Hart, Herbert L. A. 145 ff., 666, 670 Herodot 303 Himmelstein, Jack 1000 Hobbes, Thomas 299, 304, 964 Hoche, Hans-Ulrich 324, 325, 975 Hruschka, Joachim 304, 325, 964, 975 Irenäus 304, 964 Isokrates 303 Jesus Christus 134, 302, 673, 963, 1008, 1021 Jhering, Rudolf v. 33 Justin 304, 964 Kant, Immanuel 335 ff., 976 f., 979 Kaufmann, Arthur 81, 245, 250, 300, 305, 325, 346, 964, 975 Kelsen, Hans 213, 285, 299, 304, 325, 975 Kohlberg, Lawrence 314, 316 ff., 326 ff., 331 f., 335 f., 339 ff., 346, 351, 971 f., 1015 Kornhauser, Lewis 200 Koslowski, Peter 289 Leibnitz, Gottfried Wilhelm 964 Leventhal, Gerald 247 Locke, John 300
Personenregister Luhmann, Niklas 32, 34 ff. , 164, 168, 251 ff., 314, 707, 735, 913, 923, 1000 Mayer-Maly, Theo 300, 304, 325, 964, 974 ff. Menkel-Meadow, Carrie 150, 158 Mill, John Stuart 308 Mnookin, Robert H. 200 Montesquieu, Charles de 22 Niemic 885 Nowak, Martin 981, 986, 1015, 1023 Patton, Bruce 206 f., 219, 319, 326, 348, 360, 366, 690, 959 Perelmann, Chaim 282 Philippidēs, Leonidas 305 Philippis 964 Pieper, Josef 229 Pittakos von Lesbos 303 Platon 159, 303 Polanyi, Michael 31 Pound, Roscoe 14, 198 Pufendorf, Samuel v. 134, 136, 304, 323, 326, 964, 1008, 1021 Radbruch, Gustav 94, 103, 214, 254, 292, 293, 299 f., 305, 325, 346, 964, 975 Raiser, Ludwig 66 Rawls, John 108, 244, 249, 298, 328 ff. Reiner, Hans 300, 305, 325, 327, 964, 975 Röhl, Klaus F. 197 Rottleuthner, Hubert 53 Rozdeiczer, Lukas 876, 896, 902, 904, 905, 1011 Sacks, Albert M. 145 Sander, Frank E.A. 8, 16, 134, 145, 153, 157, 344, 346, 626, 645, 673,
1093
719, 875 f., 885, 896, 902 ff., 1011, 1015, 1024 Sauer, Wilhelm 650, 651, 652, 654 Schmidt-Rimpler, Walter 106, 238, 351, 951 Scholz, Regine 305, 307, 964 Schürmann, Heinz 309, 310, 966, 968 Scotus, Duns 323 Seneca 303 Simmel, Georg 140 Singer, M. G. 964, 975 Singer, Peter 304, 325, 327 Smith, Adam 112 Sokrates 303 Spellbrink, Wolfgang 196, 199 Spendel, Günter 298, 300, 301, 304, 321 ff., 325, 964, 975 Strecker, Christoph 886 Stürner, Rolf 112 Teubner, Gunther 77, 942 Thibaut, Bernhard 258 Thibaut, John 246, 350 Thomas von Aquin 111, 115, 119, 218 ff., 229, 233 f., 262, 269, 271, 273, 280, 299, 304, 348, 960, 964 Thomasius, Christian 304, 964 Ury, William 206, 219, 319, 326, 348, 360, 366, 690, 959 Wagner, Adolph 52 Walker, Felix 258 Walker, Laurens 246, 350 Wattles, Jeffrey 325, 975 Weber, Max 45, 48 f., 52, 66, 186, 192, 197, 935, 948, 989, 1017 Wilke, Helmut 77, 942 Zippelius, Reinhold 300, 304, 325, 964, 975