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German Pages 442 Year 2014
Wiebke Porombka Medialität urbaner Infrastrukturen
Wiebke Porombka (Dr. phil.) lehrte Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Als Literaturkritikerin schreibt sie vor allem für die F.A.Z.
Wiebke Porombka
Medialität urbaner Infrastrukturen Der öffentliche Nahverkehr, 1870-1933
Zugleich: Berlin, Humboldt-Universität, Philosophische Fakultät II, Dissertation 2011
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Inhalt
Vorweg
Anstelle einer Einleitung: Straßenbahnfahren mit Joseph Roth | 9
TEIL EINS I.
Grundmuster einer ambivalenten Wahrnehmung von Technik | 41
1. 2.
Vom Floß des Odysseus ... | 41 ... bis zur Tragödie der Kultur | 46
II.
Perspektiven der Technikphilosophie | 55 Die Anfänge der neuzeitlichen Technikphilosophie | 58 Technische Zivilisation versus Kultur und Lebenswelt | 69
1. 2.
III. Technik als Kultur | 89
1. 2. 3.
Historische Voraussetzungen: Die Entwicklung des Kulturbegriffs | 89 Exkurs. Die Kompensationsthese: doppelseitig enger Kulturbegriff | 93 Neukonturierung des Technikverständnisses | 96
IV. Zur Theorie der Inframedialität | 105
1. 2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.2 3.3 4.
Städte ohne Bedeutung? | 105 Infrastruktur: Konstruktionen von kulturellen Räumen durch Vernetzung | 115 Transformationen von Raumvorstellungen durch Beschleunigung | 115 Genese von Raum und Raumvorstellungen durch Infrastruktur | 121 Neuordnung des sozialen Raums durch Infrastruktur | 128 Infrastrukturen als Medien | 130 Organisatorische und imaginäre Medialität | 130 Inframedialität. Vier Thesen | 133 Benjamins Passagen-Werk als Vorbild für eine Theorie der Inframedialität | 140 Inframedialität und Literatur: Kulturanalyse und Imageproduktion | 143
TEIL ZWEI I.
Kulturgeschichte des öffentlichen Nahverkehrs | 151
1.
Vorabend der Metropole. Julius Rodenbergs Bilder aus dem Berliner Leben | 151 2. Berlin auf dem Weg zur Verkehrsstadt | 157 3. Geschichtliches | 161 4. Konstituierung des Stadtraums | 169 5. Die Modellierung des Stadtbildes | 181 6. Grundzüge der Psychotechnik. Die Konditionierung der Körper | 194 7. Neukonfigurierung des sozialen Raums | 205 7.1 Das Erotische des öffentlichen Raums: Frauen als Passagiere | 214 8. Der Nahverkehrszyklus | 220 II.
Erzählen in der Verkehrsstadt und Erzählen des urbanen Raums als Verkehrsraum. Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz | 229
1. 2. 3.
M it der 41 in die Stadt | 232 Ordnen des Stadtraums | 239 Die Straßenbahn als Inframedium des Erzählens | 246
TEIL DREI I.
Kulturanalyse und Imageproduktion | 253
II.
Der Nahverkehr als Medium einer kritischen Modernewahrnehmung | 259
1. 2. 3.
Siegfried Kracauer: Die Unterführung | 259 „Stahlschienen bilden die erkaltete Muschel Stadt“ | 268 Gletscher auf den Straßen: Das eiskalte Image des Nahverkehrs und seiner Passagiere | 273 Vernetzt im Verkehrsnetz | 281 Verkehr und Krieg: Imageproduktion als Ausdruck der mentalen Verfasstheit der Weimarer Republik | 289
4. 5.
III. Zeitgenössische Entwürfe zur Erweiterung des Kulturbegriffs | 299
1. 2.
Der verwandelte Blick auf die Technik: Der Stadtraum wird zur Landschaft. Das Gleisdreieck | 301 Die energetische Stadt | 313
Neujustierung des Blicks | 320 Veränderung durch Erfahren | 325 Untergründige Erfahrungen: die U-Bahn | 332 Exkurs. Medialität kontra Imageproduktion: Die Moskauer Metro | 340 6. „Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte?“ Das Nahverkehrsparadigma in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften | 345 6.1 Der Riese Agoag | 361
2.1 3. 4. 5.
TEIL VIER I.
Kleine Form | 367
1. 2. 3. 4. 5.
Das Ende des Erzählens | 367 Robert Walser: Tramfahrt | 376 Essayismus, Feuilleton und kleine Form | 378 Transport- und Informationsnetz: Nahverkehr und Presse | 385 Dichterstafette auf dem Autobus | 392
Hinterher
Anstelle eines Nachworts: Im Café Sankt Oberholz mit Alfred Döblin | 407 Literatur | 413
Vorweg Anstelle einer Einleitung: Straßenbahnfahren mit Joseph Roth
1. Vermutlich wäre Joseph Roth nie nach Berlin gezogen, hätte nicht die österreichische Tageszeitung Der neue Tag, bei der Roth nach dem Ersten Weltkrieg seine Karriere als Feuilletonist begann, ihr Erscheinen nach nur dreizehn Monaten aus finanziellen Gründen einstellen müssen. Bei dem linksliberalen Blatt hat Roth Egon Erwin Kisch kennen gelernt, mit dem ihm trotz aller Gegensätzlichkeit eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Ihn, genauso wie Alfred Polgar, den ehemaligen Literaturredakteur von Der neue Tag, wird Roth, als er Ende Juni 1920 von Wien nach Berlin kommt, wieder treffen. 1 Die expandierende Zeitungsstadt ist zum attraktiven Ort für Journalisten aller Couleur geworden, und auch Roth verspricht sich hier gute Berufsaussichten. Tatsächlich steigt er in Berlin innerhalb weniger Jahre zu einem der bestbezahlten Journalisten der Weimarer Republik auf. Und obwohl er Berlin, mit Ausnahme des Scheunenviertels, immer mit gewissen Vorbehalten gegenüber treten wird, bildet es den thematischen und topographischen Schwerpunkt der fast 2.000 gedruckten Feuilletonbeiträge, die bisher in den Archiven gefunden worden sind.2 Roth schreibt zunächst für die Neue Berliner Zeitung. Es folgt eine Anstellung beim Berliner Börsen-Courier, und 1923 wird er Feuilletonkorrespondent der Frankfurter Zeitung. Daneben schreibt Roth auch für linke Zeitungen wie Vorwärts, wo er seine
1
Zum Leben Joseph Roths vgl. Sternburg, Wilhelm von: Joseph Roth. Eine Biographie; ferner: Nürnberger, Helmuth: Joseph Roth in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten und Bronsen, David: Joseph Roth. Eine Biographie.
2
Vgl. Roth, Joseph: Werk in sechs Bänden, Klaus Westermann (Hg.). Zu Roths Verhältnis zu Berlin und seinen Berlin-Bildern vgl. u.a. Bienert, Michael: Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger.
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Artikel häufig mit „Der rote Joseph“ signiert, oder für das satirische Blatt Lachen links. Eines der ersten Berliner Feuilletons, das in der Neuen Berliner Zeitung erscheint, ist Die Tücke des Vehikels.3 Roth suggeriert darin, wie im Feuilleton der zwanziger Jahre durchaus üblich, einen möglichst hohen Grad an Authentizität und Subjektivität. Durch das „Ich“, das von seiner morgendlichen Straßenbahnfahrt zur Arbeit erzählt zum einen, zum anderen dadurch, dass das ausgelobte Fahrziel sich in der Zimmerstraße 7 in Berlin-Mitte befindet, ebendort, wo tatsächlich die Redaktion der Neuen Berliner Zeitung ihre Räume hat. Der Protagonist des Textes, der am 10. Juli in der 12-Uhr-Ausgabe der Neuen Berliner Zeitung zu lesen ist, bekennt gleich zu Beginn, dass er mit der Pünktlichkeit seine Schwierigkeiten habe. Und führt prompt den Beweis. Der frühe Arbeitsbeginn – „alltäglich um halbacht Uhr […]. Hat man schon sowas gesehen?“ – ist das eine Problem. Der Weg dorthin, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden muss, das weitaus komplexere. Das vermeintliche Autor-Ich Roth steht, ein wenig verspätet ohnehin, an der Haltestelle des Winterfeldplatzes in BerlinSchöneberg und wartet auf eine der beiden Straßenbahnlinien, die 62 oder die 162, die ihn in Richtung der Redaktionsräume bringen: „Dreiviertel vor acht stehe ich am Winterfeldplatz. Es kommen: 3, 10, 71, 82. Dann: 3, 10, 71, 82. Dann: 3, 10, 71, 82. Einviertel vor acht kommt die 162. Und hinter ihr die 62. Die 162 ist überfüllt.“
Zum Bersten überfüllt. Die Leute, schreibt Roth, „hängen an den Krawatten ihrer Reisegenossen.“ Und obwohl die direkt dahinter kommende Straßenbahn der Linie 62, die zum selben Ziel fährt, so leer ist, dass der Schaffner einen Gähnkrampf bekommt, zwängt sich, mit größter Selbstverständlichkeit, auch der Protagonist aus Roths Feuilleton noch in den übervollen Waggon. Für einen pünktlichen Arbeitsbeginn ist es, um nun mittlerweile Viertel vor acht, längst zu spät. Und nachdem am Anhalter Bahnhof ein großer Teil der Fahrgäste mit großer Langsamkeit den Waggon verlassen hat – „Sie steigen eine halbe Stunde lang aus.“ – kommt die Straßenbahn schlussendlich um fünf nach acht an der Wilhelmstraße an. Hier nun verlässt auch der vollkommen verschwitzte Prota-
3
Roth, Joseph: „Die Tücke des Vehikels“, in: Unter dem Bülowbogen, S. 889 ff. Im Folgenden wird aufgrund der Kürze des Textes auf den Ausweis der Seitenzahlen der einzelnen Zitate verzichtet.
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gonist die Bahn und hinterlässt auf dem letzten Teil des Weges „Schweißspuren die ganze Zimmerstraße entlang wie ein Wolf“. Er sei, heißt es, wegen ähnlicher Spuren schon einmal auf die Polizei geladen worden: „Wegen Irreführung der Behörden.“ Diese Pointe bildet aber nicht den Abschluss des Feuilletons, sondern der Blick geht noch einmal zurück zu dem tückischen Vehikel Straßenbahn, das den Schreiber, und das ganz offensichtlich nicht zum ersten Mal, in diese Lage gebracht hat. Jetzt sieht es allerdings äußerst harmlos aus: „Und hinten fährt die 62. Leer, langsam. / Der Schaffner gähnt.“ Das knapp 2.000 Zeichen umfassende Feuilleton Die Tücke des Vehikels tut auf den ersten Blick nicht viel mehr, als eine alltägliche Szenerie des Großstadtlebens zu einer skurrilen Episode werden zu lassen, die den Zeitungsleser, der sich nicht selten während der Lektüre gerade selbst in einem öffentlichen Verkehrmittel befinden wird, umso mehr amüsieren mag. Bei genauerer und symptomatischer Lektüre indes zeigt sich an diesem Text über die Hindernisse einer morgendlichen Straßenbahnfahrt sehr viel mehr. Zeigen lässt sich an diesem Text, wenn man ihn im Kontext seiner Zeit liest, von welchen Umständen die Wahrnehmung der Großstadt im Jahr 1920 abhängt. Die Veränderungen von Zeit- und Raumvorstellungen kann man genauso erkennen wie die Veränderungen der sozialen Öffentlichkeit. Und sehen kann man auch, wie im ästhetischen Schreibprozess selbst Form und Inhalt an neue Bedingungen geknüpft werden.
2. Was mithin auf den kommenden Seiten geschehen soll und was zunächst anmuten mag wie eine relativ kleinteilige Interpretation eines Textes, sollte tatsächlich verstanden werden als eine im Kleinen durchgeführte Modellinterpretation dessen, was in dieser Untersuchung im Großen gezeigt werden soll. Eine Art Vorspiel oder Ouvertüre, in der alle Motive, die im Folgenden systematisch behandelt werden, zumindest schon einmal anklingen, wenn sich freilich auch nicht jedes in seiner ganzen Komplexität entfalten kann. Stellen wir uns also noch einmal zu Roth an die Haltestelle und lesen den Text auf die neuralgischen Punkte hin, an denen eine Straßenbahnfahrt zur Bedingung für die Veränderungen von Zeit- und Raumwahrnehmung und ihrer Darstellung wird, für die Veränderung sozialen Verhaltens und des sozialen Gefüges und nicht zuletzt für die Veränderung des ästhetischen Produktions- und Rezeptionsprozesses selbst. Offengelegt werden soll auf diesem Wege, weshalb und inwiefern – ob nun bewusst oder unbewusst – die Straßenbahn als dasjenige literarische Motiv gewählt
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wird, in dem die grundlegenden Konstitutionsmerkmale der Moderne insgesamt und moderner Urbanität im Speziellen zusammenlaufen und darstellbar werden. Zu welcher Normalität die Straßenbahn und mit ihr das technisierte innerstädtische Verkehrssystem überhaupt bis zu diesem Zeitpunkt, 1920, bereits geworden sind, zeigt sich daran, dass der Begriff „Straßenbahn“ in dem gesamten Feuilleton nicht ein einziges Mal auftaucht. Stattdessen werden nur Zahlen genannt, deren Bedeutung als Linienbezeichnung für einzelne Straßenbahnrouten außer Frage zu stehen scheint. Andererseits jedoch ist die Straßenbahn noch Attraktion genug, den Erzählanlass des Feuilletons bereitzustellen. In dieser Gleichzeitigkeit von Normalität und Besonderheit treten die wesentlichen Strukturen und Phänomene einer Zeit am deutlichsten zutage, lassen sich freilegen und nachvollziehen. Die Korrelation von Normalität und Besonderheit findet ihre Parallele in den konkreten Umständen des Feuilletonisten Roth, der gerade erst von Wien nach Berlin gezogen ist, als er Die Tücke des Vehikels schreibt. Einerseits ist der Wiener Roth ein routinierter Verkehrsteilnehmer, der mit einiger Gelassenheit in die Abläufe des Berliner Verkehrs einsteigen kann. Auf der anderen Seite ist er als der von außen Kommende ein besonders empfindlicher Seismograph für diejenigen Strukturen des großstädtischen Alltags, die sich dem langjährigen Berliner womöglich schon als eine Art zweite Natur eingeschrieben haben. Das wesentliche Thema von Roths Feuilleton ist das der Pünktlichkeit oder besser: eine offensichtliche Unvereinbarkeit verschiedener Zeittaktungen. „Wenn sie um acht Uhr anfinge“, heißt es über die Arbeit in der Redaktion, „wäre ich auch nicht pünktlich. Denn Pünktlichkeit ist keine freie Willensfunktion, sondern eine Erfindung Friedrich Wilhelms I. Nur für jene verwendbar, deren Organismus strammheitsepochal veranlagt ist. Ich aber bin wie eine Uhr, die ewig nachgeht. Ich habe schon oft bei verschiedenen Uhrmachern gelegen. Es half nichts. Das Material ist einfach schlecht. Ich hinke meiner Zeit nach.“
Zwar führt Roth hier als Erfinder der Pünktlichkeit Friedrich Wilhelm I. ins Feld, der wegen seines straffen Regiments in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Soldatenkönig genannt wurde. Die Formulierung, dass er eine Uhr sei, die ewig nachgehe, und dass er seiner Zeit nachhinke, muss man aber vor allem als das Empfinden einer Ungleichzeitigkeit zwischen dem individuellen Tempo und dem Tempo der Metropole Berlin lesen. Im Zuge von Urbanisierung und Modernisierung hat sich in den großen Städten ein Rhythmus des Alltags herausgebildet, der das Individuum mit vollkommen neuen Ansprüchen konfrontiert, was zeitliche Abläufe, Geschwindigkeiten und die Organisation von Zeit angeht. Nicht nur haben sich die Geschwindigkeit von Personen- und Gütertransport ebenso wie der Arbeitsabläufe aufgrund der Technisierung vervielfacht. Nachdem erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts der steigende Eisenbahnverkehr in seiner Notwendigkeit der Koordination
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von Fahrzeiten und -plänen mit der Einführung einer allgemein geltenden Globalzeit zur Standardisierung und Präzisierung von bis dahin regional variierenden zeitlichen Arrangements geführt hat, scheint die Metropole des frühen 20. Jahrhunderts wie von einem Zeitraster überzogen, in dessen Ordnung die individuellen Lebensläufe eingepasst werden müssen. 4 Die Steigerung sozialer Abläufe ist die eine Seite, ein enger werdendes Zeitkorsett die andere. Beides führt zu einer grundsätzlichen Veränderung von Zeitwahrnehmung, die nicht selten den Eindruck hervorruft, dass der Mensch mit den vom technischen Fortschritt bedingten neuen Zeitstandards nicht mithalten kann: „Das Material ist einfach zu schlecht. Ich hinke meiner Zeit nach.“ Dass es gerade der Zeitungsangestellte Roth sein will, der seiner Zeit hinterherhinkt (während, wie Roth anmerkt, Goethe seiner Zeit vorauseile), hat neben der vordergründigen gleich noch eine zweite Pointe. Denn die Zeitung ist genauso ein Medium der Beschleunigung wie der Verkehr, ein Beschleuniger von Information und damit, wie Rolf Lindner es nennt, ein mentaler Beschleuniger, der zur Erhöhung der sozialen Umschlaggeschwindigkeit beiträgt.5 Wenn Roth aber ganz explizit als das Gegenbild zu Egon Erwin Kischs Rasendem Reporter auftritt, der zum Synonym für diese Form der Temposteigerung geworden ist, dann handelt es sich dabei natürlich um einen bewussten Habitus, den Roth sich aneignet: der verspielt anarchische Protest des Feuilletonisten als Absetzung vom Reporter und den modernen Zeitstrukturen insgesamt. Es geht hier mithin um eine Form der Beschleunigung, die gleichzeitig eine Reglementierung mit sich bringt, der das noch nicht vollkommen in der Moderne angekommene Subjekt sich erst anzupassen lernen muss. Erstmal hinkt es, freiwillig oder unfreiwillig, hinterher. Der heimliche Hauptakteur des Feuilletons, die Straßenbahn, ist einer der Motoren dieser modernen Optimierung. Der öffentliche Nahverkehr, als noch junge, aber flächendeckend um sich greifende Technisierung des urbanen Raums mit seinen geregelten Fahrtakten, lässt diese neue Form der Reglementierung besonders offensichtlich werden. Er tut das gerade deshalb, weil er binnen kurzer Zeit nicht nur das Stadtbild verwandelt und fortan prägt, sondern in die Tagesabläufe fast jeden Großstädters Einzug hält. Roths Straßenbahn aber – als technisiertes Transportmittel das eigentliche Synonym für die Steigerung der Geschwindigkeit – kommt zu spät:
4
Vgl. u.a. Rötzer, Florian: Die Telepolis. Urbanität im digitalen Zeitalter, S. 62.
5
Lindner, Rolf: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung des Reporters, S. 22.
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„Ich warte am Winterfeldplatz in Schöneberg auf die 162 oder auf die 62. Beide fahren Richtung Zimmerstraße. Dreiviertel vor acht stehe ich am Winterfeldplatz. Es kommen: 3, 10, 71, 82. / Dann: 3, 10, 71, 82. / Dann: 3, 10, 71, 82. / Einviertel vor acht kommt die 162. / Und hinter ihr die 62.“
Was zur schnelleren Überwindung größerer Distanzen innerhalb der Stadt gedacht ist, funktioniert in diesem Fall als Verlangsamung oder wird zumindest als eine solche empfunden. Immerhin eine halbe Stunde, von viertel nach sieben bis viertel vor acht, steht der Erzähler an der Haltestelle des Winterfeldplatzes und muss Linie um Linie vorbeifahren lassen, bis endlich eine der beiden von ihm benötigten Linien eintrifft – und die zweite, die ihn ebenfalls ans Ziel bringen könnte, kommt unmittelbar dahinter. Aber auch jetzt ist das Warten inmitten der temporeichen Großstadtabläufe noch nicht vorbei: „Ich steige in die 162. Am Anhalter Bahnhof steigen alle Passagiere aus. Es ist sonderbar. Alle Menschen, die mit dem Anhalter Bahnhof abreisen, sind alt, ungeschickt und gebrechlich. Sie steigen eine halbe Stunde lang aus.“ Dass die Passagiere eine halbe Stunde lang aussteigen, ist natürlich eine maßlose Übertreibung. Schließlich dauert die Fahrt vom Winterfeldplatz bis zur Zimmerstraße insgesamt nur zwanzig Minuten. Was hier zum Ausdruck kommt, ist etwas anderes: das individuelle Zeitempfinden unglaublicher Langsamkeit, das sich insbesondere dann einstellt, wenn die Geschwindigkeiten drumherum sehr viel höher sind. Wenn die Lebensorganisation insgesamt optimiert und beschleunigt wird, werden die Stockungen, die in ihr auftreten: das Warten an der Haltestelle, das Warten auf das Aussteigen der anderen Passagiere, umso mehr als Verlangsamung empfunden. Diese Verlangsamung kann dann viel eher als die Temposteigerung selbst Auslöser der modernen Form der Nervosität werden, wie sie allen voran Georg Simmel in seinen Arbeiten zur Mentalität des Großstädters als eines der hervorstechendsten Merkmale des modernen Menschen analysiert hat. Anhand der Beschreibung einer Straßenbahnfahrt lässt sich insofern in Roths Text etwas erkennen über die Transformationen von zeitlicher Organisation, Umschlags- und Fortbewegungstakten der Großstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zum andern lässt sich etwas darüber erkennen, wie sich das individuelle Zeiterleben innerhalb dieser neuen Bedingungen verändert. Beachtenswert ist hierbei vor allem die merkwürdige Ungleichzeitigkeit, das Hin- und Herklappen zwischen dem Eindruck der äußeren Geschwindigkeit des Lebens und der Stadt einerseits, mit der das Individuum nicht mithalten kann, und auf der anderen Seite das Empfinden einer großen Verlangsamung, der das Individuum durch die reglementierten – und in ihrer Reglementierung nicht zuverlässigen – Organisationsprinzipien, wie der öffentliche Nahverkehr eines ist, ausgeliefert ist. Genauso wie der Mensch seiner Zeit hinterherhinkt, scheint auch die Zeit dem Menschen hinterherzuhinken.
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Diese Ambivalenz, wie sie die Wahrnehmung von Geschwindigkeitssteigerung und Verlangsamung durch das Warten auf und das Fahren mit der Straßenbahn ausmacht, steht in engem Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Stadtraums selbst, wie sie durch den Straßenbahnpassagier gemacht wird. Hinlänglich bekannt ist die These vom Unübersichtlichwerden und der Inkommensurabilität des urbanen Raums durch, gerade im Straßenverkehr sich offenbarende, Temposteigerungen aller Lebensbereiche qua technischer Innovation. An Roths Text aber lässt sich sehen, wie der technisierte Nahverkehr nicht nur Erregungsakkumulationen und die Auflösung fester Beobachtungsstandpunkte bewirkt, sondern umgekehrt auch zum Mittel der Raumerschließung, zum Organisationsmedium der Raumwahrnehmung und damit der Aneignung und – kommunikativen und repräsentativen – Verfügbarmachung der Stadt wird. Der Fahrplan der Linie 162 (und der hinter ihr fahrenden 62) markiert in die Tücke des Vehikels die Ordnungspunkte, die die Stadt vor- und darstellbar machen: Winterfeldplatz, Anhalter Bahnhof, Wilhelmstraße Ecke Zimmerstraße: „Ich warte am Winterfeldplatz in Schöneberg auf die 162 oder auf die 62. Beide fahren Richtung Zimmerstraße. […] Einviertel vor acht kommt die 162. […] Am Anhalter Bahnhof steigen alle Passagiere aus. […] Acht Uhr fünf ist die 162 Ecke Wilhelmstraße angelangt.“
Der urbane Raum erhält durch das Straßenbahnnetz selbst eine Art Netzstruktur. Es gibt die dynamischen Bewegungslinien und die Knotenpunkte oder Relaisstellen, an denen die Bewegungslinien sich kreuzen. Die 3, die 10, die 71 und die 82, die ebenfalls am Winterfeldplatz halten, überschneiden sich mit Roths Linien an diesem Punkt, kommen aber von und fahren zu anderen Knotenpunkten und modellieren eine andere Strecke, die hier ungenannt bleibt. Das Liniennetz ordnet also den Stadtraum und stellt eine Struktur bereit, über die die Stadt kommunizierbar wird. Die Angaben von Haltestellen und Straßenbahnlinien markieren die Ordnungspunkte im Raum. Hinter die Bedeutung dieser Koordinaten und Knotenpunkte der Straßenbahn scheint der konkrete Stadtraum erst einmal zurückzutreten. Stattdessen ist es viel eher so, dass die Struktur dieses Netzes im Verbund mit ihrer Funktionalität – oder in diesem Fall: ihrer Dysfunktionalität – einen mentalen Raum produziert. Das heißt, Roths Feuilleton suggeriert neben dem territorial-konkreten Raum eine Raumvorstellung, in der der bürokratische Apparat, wie er sich in der Moderne herausbildet, eine imaginäre Gestalt erhält. Die moderne Urbanisierung geht mit einem rapide ansteigenden Bedarf an staatlichen und administrativen Steuerungs- und Normierungsmechanismen einher, die eine Zentralisierung staatlicher Autorität, die zumeist auch ihre Personalisierung bedeutete, aufhebt und durch einen Verwaltungsapparat ersetzt, der aufgrund seiner Größe und Dezentralisierung in seiner Gesamtheit kaum mehr fassbar ist. Die Be-
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schreibungen, in denen im frühen 20. Jahrhundert versucht wird, diese enorm gewachsene Bürokratie darzustellen, zeichnen sich deshalb durchweg durch die Ambivalenz von umfassender Präsenz einerseits und Abwesenheit andererseits aus, was die Dingfestmachung seiner konkreten und materialen Macht- und Organisationsstrukturen angeht. Immer wieder findet man daher Variationen von Beschreibungen eines gigantischen Apparats, der die Macht übernommen habe. An die exponierte und weithin sichtbare Stelle des Königs, schreibt beispielsweise Alfred Weber unter dem Titel Der Beamte, hat sich „ein riesenhaftes rechnerisches Etwas [ge]setzt, ein System, das mit einem toten Vor- und Nacheinander, brockenweisen Miteinander, seelenlosen Füreinander sich über alle Arbeit, alles Schaffen breitet.“6 Die bekanntesten literarischen Schilderungen dieses bürokratischen Apparats findet man sicher bei Franz Kafka, dessen Figuren sich in seinen riesenhaften und unübersichtlichen, alogisch funktionierenden Strukturen unwiederbringlich verfangen. Was bei Kafka zum klaustrophobischen Alptraum wird, hört sich bei Roth natürlich ganz anders an und wird von seiner vordergründig komischen Seite gezeigt. Trotzdem aber lässt sich in Die Tücke des Vehikels erkennen, dass der öffentliche Raum und damit dann natürlich immer auch das Individuum Reglementierungen unterworfen sind, die, will man Teilnehmer dieses Raums sein, ebenso wenig hintergehbar wie diskutierbar und zuweilen noch nicht einmal nachvollziehbar sind. Im öffentlichen Nahverkehr wird diese Eigenwilligkeit und Undurchschaubarkeit des bürokratischen Apparats modellhaft erlebbar: „Ich warte am Winterfeldplatz in Schöneberg auf die 162 oder auf die 62. Beide fahren Richtung Zimmerstraße.“ Auch hier steckt schon etwas von dem abstrusen Doppelcharakter der Bürokratie: Überzieht der Nahverkehr die Stadt auf der einen Seite mit einem normierten Raum- und Zeitraster, so funktioniert er immer wieder auf vollkommen verquere Weise entgegen aller Regeln und Wahrscheinlichkeiten. Zwei Linien, die sich nur durch die Hunderterzahl in der Bezeichnung unterscheiden, fahren ganz offensichtlich dieselbe Route. Unklar bleibt, warum man für dieselbe Strecke zwei Linien braucht. Aber das Ganze geht ja noch weiter und nimmt seinen, mittlerweile hinlänglich bekannten Verlauf: „Dreiviertel vor acht stehe ich am Winterfeldplatz. Es kommen: 3, 10, 71, 82. / Dann: 3, 10, 71, 82. Dann: 3, 10, 71, 82.“ Die Straßenbahnen kommen offenbar mit einer strengen Regelmäßigkeit. Nur – und das macht die Normierung wiederum undurchschaubar und unlogisch – weder die 162 noch die 62, die normalerweise in die Abfolge von 3, 10, 71, 82 eingegliedert sein müssten, biegen um die Ecke. Natürlich handelt es sich dabei nicht um eine beliebige Linie, – sonst
6
Weber, Alfred: „Der Beamte“, in: Die neue Rundschau, XXIter Jahrgang der freien Bühne, 1910, Bd. 4, S. 1321-1339, hier S. 1321f.
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würde der Protagonist es ja auch gar nicht zur Kenntnis nehmen – , sondern um eben jene Linie, auf die er für seinen Weg zur Arbeit angewiesen ist. Wie anonym und abstrakt der bürokratische Apparat auch wahrgenommen werden mag, immer hat es gleichzeitig den Anschein, als würde sich seine Autorität gezielt gegen die eigene Person richten oder als würde er zumindest gerade dort nicht funktionieren, wo man auf seine Störungsfreiheit angewiesen ist. Für die Ebene des Stadtraums kann mithin gesagt werden: Durch die Straßenbahn bzw. durch das System der Straßenbahnen werden nicht nur topographische Zusammenhänge darstellbar, sondern das gesellschaftliche Konstrukt als Lebensraum wird hier in seinen Auswirkungen erlebbar bzw. bildet sich darin ab. Das heißt, die Straßenbahn, die immer als Bestandteil eines Straßenbahnnetzes oder -systems gedacht werden muss, produziert auf der einen Seite Vorstellungen, auf der anderen Seite werden bestimmte Vorstellungen, die in dieser Zeit bestehen, am konkreten Gegenstand der Straßenbahn exemplifiziert, also bildhaft und symbolisch ausdrückbar. Die Straßenbahn ist gleichermaßen Auslöser und Möglichkeit der Versinnlichung bestimmter Inhalte. Noch auf einer anderen Stufe wird der soziale Raum in Roths Feuilleton akut. Hierfür ist ein Blick ins Innere der Straßenbahn nötig: „Die Leute hängen an den Krawatten ihrer Reisegenossen. Neulich hing einer an meinem einzigen Rockknopf vom Winterfeldplatz die ganze Potsdamer Straße entlang. Seither befestige ich meine Knöpfe mit Stacheldraht.“ Neben dem sozialen Raum auf institutioneller, gesamtgesellschaftlicher Ebene unterliegt in der modernen Metropole auch der Raum, der in der intersubjektiven Kommunikation und Interaktion entsteht, wesentlichen Veränderungen. In seinen Untersuchungen zur psychischen Disponiertheit des Großstädters hat Georg Simmel die Kategorien von Nervosität und Blasiertheit als typische Eigenschaften des modernen Menschen entwickelt. Nach Simmel ist Nervosität das Konglomerat aus innerer Aufgeregtheit und äußerer Bedrängnis, die durch Temposteigerung und dadurch resultierende Reizüberflutung ausgelöst wird. Zudem konstatiert Simmel, dass die Lebensumstände in der technisierten Großstadt auch eine vollkommen neue Art sozialer Konfrontation mit sich bringen.7 Was bei Roth lustig klingen mag – „Die Leute hängen an den Krawatten ihrer Reisegenossen.“ – ist ein Bild für diese unfreiwillige soziale Nähe, wie sie im modernen Großstadtleben vom Subjekt ertragen werden muss. Das Gedrängtsein, der enge physische Kontakt mit Fremden in der Straßenbahn ist eine solche soziale Konstellation, die das Individuum einer bisher nicht gekannten Form des sozialen Stresses, der Nervosität, aussetzt. In der Straßenbahn entsteht eine ad-hoc-Gesellschaft, in der der Einzelne den
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Simmel, Georg: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“, in: Gesamtausgabe, Bd. 11. S. 727.
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paradigmatischen Erfahrungsmustern der Moderne – Masse und Anonymität – täglich mit unhintergehbarer Vehemenz ausgesetzt ist. Der Mensch muss deshalb ein Reservoir psychischer Schutzmechanismen ausbilden und als neuen Habitus verinnerlichen, die ihn vor der Überforderung durch äußere Erregungen und durch die körperliche Bedrängtheit bewahren. In der jüngeren Literatur zur Stadtforschung werden diese Anpassungsleistungen des Individuums an die Umstände der modernen Großstadt unter dem Stichwort der „inneren Urbanisierung“8 und der „outillage mental“9 diskutiert. In seiner zeitgenössischen Theorie findet Simmel hierfür den Begriff der typisch großstädtischen Blasiertheit als Vorgang der Abhärtung und mentalen Abschottung. „Neulich hing einer an meinem Rockknopf vom Winterfeldplatz an die ganze Potsdamer Straße entlang. Seither befestige ich meine Knöpfe mit Stacheldraht.“ Die Lakonie und vermeintlich selbstverständliche Pragmatik, mit der Roth seine Maßnahmen der Knopfbefestigung beschreibt, sind Ausdruck dieser Blasiertheit, die unter der Interpretation großstädtischer Arroganz sehr viel geläufiger ist. Die neuen gesellschaftlichen Konfigurationen und damit der soziale Raum werden insofern in Roths Straßenbahnfahrt auf zweierlei Weise dargestellt: einmal auf der Ebene des Strukturellen, indem abstrakte soziale Machtmechanismen am Beispiel der misslichen Straßenbahnfahrt eine Art Anschaulichkeit erhalten. Zum anderen auf der Ebene des konkret Körperlichen, indem das haptische Erlebnis der Bedrängtheit Ausdruck der sozialen Erfahrung von Vermassung und Anonymisierung wird, auf die das Individuum mit veränderten individuellen Verhaltensweisen reagieren muss. Alle bisher angesprochenen Aspekte: die Verschiebung von Zeitorganisation und -empfinden, die Veränderung von Raumwahrnehmung und -darstellung wie auch die Neuordnung sozialer Zusammenhänge weisen dabei ein durchgängiges Prinzip auf, das man durch den gesamten Text hindurch verfolgen kann: den beständigen Wechsel zwischen Rationalität und Irrationalität. Dieses Hin- und Herklappen zwischen Rationalität und Irrationalität findet sich zunächst in der Wahl des Motivs und der erzählerischen Grundhaltung des Textes. Geht es auf der einen Seite um etwas konkret Materiales – die Fahrt mit der Straßenbahn –, dann wird von dieser realen oder realistischen motivlichen Basis aus ins
8
Korff, Gottfried: „Mentalität und Kommunikation in der Großstadt Berlin. Notizen zur ‚inneren‘ Urbanisierung“, in: Kohlmann, Theodor/Bausinger, Hermann (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, S. 343-361.
9
Lindner, Rolf: „Offenheit – Vielfalt – Gestalt. Die Stadt als kultureller Raum“, in: Jaeger, Friedrich/Rüsen, Jörn (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen, S. 385-398.
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imaginativ Irrationale vorgestoßen, um dann aber immer wieder sofort und unmittelbar auf die materialen Zusammenhänge zu rekurrieren. Dieses Changieren zwischen Rationalem und Irrationalem gilt für die Wahrnehmung der Fahrtakte der Straßenbahn. Dass seltsamerweise die 162 und die 62 dieselbe Strecke fahren, wurde schon gesagt. Dass nun aber weder die 62 noch die 162 kommen und anstelle dessen nur die „3, 10, 71, 82. / Dann: 3, 10, 71, 82, Dann: 3, 10, 71, 82“, erscheint erst recht irrational in einem System, in dem alles mit kontrollierter Regelmäßigkeit funktionieren soll. Dass nach einer halben Stunde die 162 kommt und direkt hinter ihr die 62, verstärkt diesen Eindruck nur noch. Betrachtet man es von der anderen Seite, ist man durch diese Steigerung des vermeintlich Irrationalen schon wieder im Rationalen angelangt: Wenn die beiden Bahnen denselben Weg zurücklegen, und eine von ihnen hat – aus welchen Gründen auch immer – Verspätung, dann muss ganz zwangsläufig die hinter ihr fahrende Bahn eben diese Verspätung auch haben, weil das (Schienen-)System durch die Unmöglichkeit des Überholens diese Stauung bedingt. Und auch diese Verspätung wird nun nachvollziehbar: Die 162, die kurz vor der 62 kommt, ist überfüllt. Sofort aber schlägt das Ganze wieder in ein eher irrationales Bild um: „Die 62, die knapp hinter der berstenden 162 läuft, ist leer. Der Schaffner hat einen Gähnkrampf.“ Warum, könnte man sich vernünftigerweise fragen, drängeln sich die Fahrgäste in der einen Bahn, während man direkt dahinter sehr viel komfortabler in einer leeren Bahn fahren könnte? Roth kommentiert das nicht, sondern, im Gegenteil, steigert diese absurde Szenerie noch: „Die 62, die knapp hinter der berstenden 162 läuft, ist leer. Der Schaffner hat einen Gähnkrampf. Die 162 und die 62 fahren in die gleiche Richtung. Ich steige in die 162.“ Er wiederholt noch einmal, das die beiden Straßenbahnen tatsächlich dieselbe Strecke fahren, um dann mit aller Selbstverständlichkeit – nachdem es schon absonderlich genug ist, dass sich überhaupt die Fahrgäste so ungleichmäßig über die Bahnen verteilen – auch noch in die überfüllte Bahn zu steigen. Zweimal noch wird in den verbleibenden Zeilen des Feuilletons auf die leere Straßenbahn geschaut: „Hinten staut sich die 62. Sie ist leer. Der Schaffner gähnt noch immer.“ Kurz darauf, der Verspätete ist schon ausgestiegen und hat „Schweißspuren die ganze Zimmerstraße entlang wie ein Wolf“ gelassen, geht der Blick noch einmal zurück: „Und hinten fährt die 62. Leer, langsam. Der Schaffner gähnt.“ Die Szenerie in der Mischung von – im Gegensatz zu dem gehetzten Protagonisten – extremer Langsamkeit, dem unentwegt gähnenden Schaffner und der Absurdität einer im Gedränge des Großstadtverkehrs vollkommen leeren Straßenbahn verleiht diesem Bild fast traumartige Qualitäten, so dass nicht mehr mit Sicherheit entschieden werden kann, ob diese Passagen vom Protagonisten nur pointiert oder aber sogar imaginiert werden. Gleiches gilt für die Schweißspuren, die der Erzähler in der Zimmerstraße hinterlassen haben will, nachdem er die Straßenbahnfahrt – einigermaßen ramponiert
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zwar: „Mein Knopf hängt noch an einem Stacheldrahtfetzen.“ – überstanden hat. Einmal sei er wegen dieser Schweißspuren sogar schon auf die Polizei geladen worden, erklärt der Protagonist: „Wegen Irreführung der Behörden.“ Aber nicht nur die Behörden werden hier in die Irre geführt, sondern auch der Leser wird zumindest insofern irritiert, als nicht mehr klar zu unterscheiden ist, an welcher Stelle des Textes der Übertritt vom Rationalen, ans Konkrete sich Haltende, zum Irrationalen, Imaginierten erfolgt. Dieses Hin- und Herklappen zwischen Rationalität und Irrationalität, das sowohl als produktionsästhetisches Prinzip festzustellen ist als auch für die Wahrnehmung des konkreten Gegenstands innerhalb des Textes – der Straßenbahn eben –, setzt sich fort bzw. besser: konglomeriert bereits in der Überschrift von Roths Feuilleton. Ohne dass zwingend vorausgesetzt sein muss, dass Roth die etymologische Bedeutung des Wortes „Tücke“ bekannt gewesen ist, findet sich das für diesen Text als durchgängiges Prinzip beschriebene Moment bereits in der ursprünglichen Bedeutung von „Tücke“ aufgehoben: „Tücke: mhd. Handlungsweise, Benehmen, Tun, Gewohnheit, […] Seine heute abschätzige Bedeutung erhielt es durch die Zusammenstellung mit abschätzigen Adjektiven.“10 Wenn der eine Ursprung des Wortes „Tücke“ Handlungsweise und Gewohnheit bedeutet, dann steht der Begriff für das Regelmäßige und Geordnete und damit Berechenbare. Der andere Bedeutungsstrang des Wortes meint indes etwas scheinbar vollkommen Gegenteiliges: das Arglistige, das undurchschaubar Hinterhältige, das gerade nicht vorhersehbar und souverän handhabbar ist. Wiederum hat man es hier mithin mit dem Changieren zwischen Rationalität und Irrationalität zu tun. Über diese rein etymologische Ebene hinaus lässt sich noch ein weiterer Bezug feststellen, der Roths Text in einen breiteren Bedeutungszusammenhang einordnet. Die Tücke des Vehikels nennt Roth seinen Text und spielt damit auf die Redewendung „Die Tücke des Objekts“ an, die Friedrich Theodor von Vischers in seinem Roman Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft aus dem Jahr 1879 prägte. 11 Der IchErzähler aus Vischers Roman macht auf einer Reise die Bekanntschaft eines skurrilen Mannes, der seinen Namen nicht verraten will und deshalb „Auch Einer“ genannt wird. Auch Einer ficht einen ständigen Kampf mit den Gegenständen seiner Umgebung (darüber hinaus auch mit seinen eigenen Körperfunktionen), die sich allesamt gegen ihn verschworen zu haben scheinen und alles Erdenkliche tun – nur eben nicht so funktionieren, wie er es gern möchte. Auch Einer entwickelt deshalb die Vorstellung einer Welt, in der Teufel und Dämonen hinter jeder „Tücke des Objekts“ stecken.
10 Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Drosdowski, Günther/Grebe, Paul u.a. 11 Vischer, Friedrich Theodor von: Auch einer. Eine Reisebekanntschaft.
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Auch Einer war nach dem Ersten Weltkrieg eines der Lieblingsbücher akademischer Kreise in Deutschland, so dass man annehmen kann, dass auch Roth den Roman kannte. Zumindest werden ihm die Redewendung von der „Tücke des Objekts“ und ihre Hintergründe geläufig gewesen sein. Mit der Wahl seiner Überschrift legt er auf diese Weise bereits eine Lesart des Textes nahe. Es geht darum, die im Vertrauten sich verbergenden Absonderlichkeiten aufzudecken – die allerdings, um das Spiel zwischen Rationalem und Irrationalem auch hier weiterzuführen – gleichsam schon wieder als das Bekannte, Gewohnheitsmäßige gelten können: Natürlich ist es immer die eigene Straßenbahn, die nicht kommt, während alle anderen Takte eingehalten werden. Eben deshalb sind auch die Schweißspuren, die der Erzähler in der Zimmerstraße hinterlässt, ein wiederkehrendes Phänomen. „Die Tücke des Vehikels“ heißt dann auf der einen Seite, dass die Straßenbahn – immer stellvertretend für den öffentlichen Nahverkehr insgesamt – das Planmäßige und Normierte ist, dessen Reglementiertheit so weit geht, dass sie als offensichtlichste Ausprägung einer Form umfassender bürokratischer Autorität und Kontrolle wahrgenommen wird, wie sie erst in der Moderne, vor allem natürlich in der modernen Großstadt an den Tag tritt. Gleichzeitig wird sie aber immer auch als etwas Arglistiges erlebt, das sich im alltäglichen Gebrauch als das widerspenstig Unkontrollierbare herausstellt. Gerade das macht nicht nur den wesentlichen erzählerischen Reiz aus, den die Straßenbahn als Motiv mit sich bringt. Es stellt auch allererst und immer wieder den Anlass des Erzählens selbst bereit. Die abschließende Pointe des Textes ist aber noch eine andere. Zwar erzählt er von der Unzuverlässigkeit der Infrastruktur, in der Irregularität fast schon wieder eine Regel darstellt. Von dem reibungslosen Funktionieren einer anderen Infrastruktur, dem Pressenetz, wird indes mit aller Selbstverständlichkeit ausgegangen bzw. diese wird zumindest suggeriert. „10. Juli 1920“ ist Die Tücke des Vehikels datiert. Und der Text erscheint an eben diesem 10. Juli 1920 in der Zwölf-UhrAusgabe der Neuen Berliner Zeitung. Nimmt man die Angaben über Uhrzeiten und Wegstrecken, die Roth respektive das Ich der Sprecher-Instanz machen, einmal ernst: Er ist um fünf nach acht an der Wilhelmstraße/Ecke Zimmerstraße, muss dann zu Fuß die Zimmerstraße bis zur Hausnummer 7, wo sich die Redaktionsräume der Neuen Berliner Zeitung befinden, hinuntergehen, schließlich in den dritten Stock steigen, so dass er keinesfalls vor viertel nach acht an seinem Schreibtisch sitzen kann. Gut dreieinhalb Stunden später kann der Leser – womöglich derjenige, der gerade in U-Bahn, Bus oder Straßenbahn sitzt – Roths Feuilleton über die morgendliche Fahrt von Berlin-Schöneberg nach Berlin-Mitte in der Mittagsausgabe der Zeitung lesen. Damit der Text seine volle Wirkung entfalten kann, muss Roth also darauf vertrauen, dass Die Tücke des Vehikels am Mittag genau des Tages erscheint, an dessen Morgen die tückenreiche Straßenbahnfahrt stattgefunden hat bzw. ihr Stattfinden behauptet wird.
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3. Die Störung genauso wie das reibungslose Funktionieren moderner Techniken, Apparate und Vernetzungen verbindet sich im frühen 20. Jahrhundert, nicht nur für Roth, mit einer Faszination, die von einer kaum auslotbaren Ambivalenz ist. Was in Die Tücke des Vehikels als Geste fatalistischer Schicksalsergebenheit eine absurde Komik entfaltet, wird in Roths Bekenntnis zum Gleisdreieck aus dem Jahr 1924 zu einem Hohelied auf die Überlegenheit der Technik über den Menschen, das diese gewaltig, wenn nicht bedrohlich erscheinen lässt. Immer aber – ob nun durch ihr Funktionieren oder ihre Störung – ist Technik ein Phänomen, das in unhintergehbarer Weise das Leben in der modernen Metropole bestimmt. Das gilt umso mehr dann, wenn sie in einer Form umfassender Vernetzung, als Infrastruktur auftritt. Die These, die dieser Arbeit zugrunde liegt und die im Folgenden vor-, dargestellt und diskutiert werden soll, ist die, dass der öffentliche Nahverkehr diejenige Vernetzungstechnik ist, der in den Jahren zwischen 1870 und 1933 eine herausragende Bedeutung bei der Herausbildung des urbanen Raums und seiner Lebensverhältnisse zukommt. An Roths Feuilleton Die Tücke des Vehikels aus dem Jahr 1920 wurde in aller Skizzenhaftigkeit gezeigt, dass die Straßenbahn in ihrer speziellen Konfiguration als technisiertes Mittel des Transports und der Bewegung von Menschen, als neuer sozialer Raum und als eine, die abstrakten Mechanismen staatlicher Autorität versinnlichende, materiale Vernetzungsstruktur ganz wesentlichen Einfluss nicht nur auf die Wahrnehmung der Stadt und ihrer Gesellschaft, sondern auch auf die Beschreibungsmodelle eben dieser modernen Metropole und der modernen Gesellschaft hat. Wenn sich die vorliegende Untersuchung nun insgesamt zur Aufgabe macht, die kulturanthropologischen, das heißt formenbildenden und verhaltenssteuernden Implikationen und Wirkungsweisen des öffentlichen Nahverkehrs der Jahre 1870 bis 1933 zu analysieren, dann geschieht das zum einen im Sinne einer kulturperspektivischen Erweiterung des Technikverständnisses, wie es seitens der jüngeren Philosophie, Soziologie und Ethnologie eingefordert wird. Noch immer auf den theoretischen Ansätzen Cassirers basierend, wird in diesen Positionen die Ablösung der ontologischen Betrachtung des Technischen durch das hermeneutische Prinzip zum zentralen Moment erklärt. Eine Kulturperspektive der Technik, schreibt Karl H. Hörning in dem Band Technik und Alltag aus soziologischer Sicht und in expliziter Aufnahme einer Vokabel Cassirers, erhalte „durch diesen Ansatz den zentralen Auftrag – auch in einem so ‚materialistischen‘ Feld wie der Technik –, deren symbolischen Formen nachzu-
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gehen, um so die Bedeutungen herauszufinden, die Menschen an die Dinge herantragen und diese an sie“.12 In Weiterführung dieses Gedankens soll im Folgenden nicht nur ein nach Gegenstand und Zeit eingeschränkter Bereich des Technischen zum Gegenstand der Untersuchung werden, es soll darüber hinaus ein grundsätzliches theoretisches Verfahren etabliert werden, um die Wirkungsweisen, Korrelationen und Wechselwirkungen von sozialen Strukturen, Artefakten und kultureller Symbolik mit den technisch-materialen Organisationsstrukturen einer Gesellschaft in Zusammenhang setzen zu können. Vorausgesetzt wir dabei ein Begriff der Technik, wie er sich aus den Faktoren der Modernisierung, das heißt insbesondere durch die Zunahme und Ausdifferenzierung der Alltagstechnik auf der einen Seite und durch die Institutionalisierung des technischen Fortschritts auf der anderen Seite, ergibt. Im Kontext der Moderne tritt Technik kaum noch als singulärer Apparat auf, sondern entfaltet ihre Wirkung im Wesentlichen innerhalb vernetzter Strukturen. Als moderne Infrastrukturen erweitern diese technischen Ensembles, die zur Grundlage aller gesellschaftlichen Austausch- und Organisationsprozesse werden, die tradierten Vorstellungen des Technischen.13 These dieser Arbeit ist, dass Infrastrukturen nicht nur die zentralen Organisationsmodi moderner Gesellschaften darstellen, sondern darüber hinaus auch das materiale Fundament kultureller Konstellationen bilden. Sie präfigurieren kollektive Sinnsysteme und stellen gleichzeitig das Bildreservoir bereit, an das kulturelle Bedeutungszusammenhänge gekoppelt werden. Technik bzw. Infrastruktur ist demnach zum einen konstitutive Basis von Kultur. Zum anderen ist sie aber auch internes Beschreibungsmodell, an dem kulturelle und vor allem auch kulturkritische Diskurse festgemacht werden. In Anbetracht dessen wird eine kulturelle Theorie der Infrastruktur, wie sie im Folgenden zu erarbeiten sein wird, eine Theorie ihrer m ed i a l en Wirkungspotentiale sein. Eine solche Theorie der Inframedialität basiert auf vier Grundannahmen. Sie begreift Infrastruktur 1.) als Inframedium, das den – zum Teil im Verborgenen liegenden – unhintergehbaren Organisationsmodus der Gesellschaft bildet. 2.) als Inframedium, das die materiale technische Voraussetzung von Kommunikation und der Übertragung sozialer Energie zur Verfügung stellt. Die Theorie der Inframedialität versteht Infrastruktur weiterhin 3.) als Inframedium, das Informationen formiert, transportiert und damit die Wahrnehmungsdispositionen transformiert und
12 Hörning, Karl H.: „Technik im Alltag und die Widersprüche des Alltäglichen“, in: Joerges, Bernward (Hg.): Technik im Alltag, S. 67. 13 Zur Geschichte und zum Begriff der Infrastruktur vgl. die Arbeiten Dirk van Laaks, auf die sich diese Untersuchung im Wesentlichen stützen wird.
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bedingt und schließlich 4.) als Inframedium, das neue rhetorische und formale Konzepte der Textproduktion generiert. Eine Theorie der Inframedialität gründet zudem auf der Annahme einer doppelten Medialität von Infrastruktur, derzufolge Infrastruktur als grundlegender materialer Organisationsmodus moderner Gesellschaft diejenige technische Vernetzung bereitstellt, auf deren Basis jede soziale und ästhetische Kommunikation allererst erfolgen kann. Sie wird insofern zur vorgeordneten Bedingung von Medialität überhaupt. Darüber hinaus wird Infrastruktur selbst zum Träger von Medialität, indem sie Informationen, Personen und Güter – mithin soziale Energie – präfiguriert und überträgt. Hierdurch werden die Wahrnehmungsformen formiert, die sich als neue ästhetische und formale, aber auch schlicht als inhaltliche Konzepte in die kulturelle Produktion einschreiben. Die materialen Konfigurationen werden aus der Perspektive einer Theorie der Inframedialität zu Trägern codierter Bedeutungen und Symbole und somit zu Trägern von Kommunikation. Gewendet wird sich damit gegen einen kommunikationstheoretischen Monismus, wie ihn allen voran Habermas vertritt und theoretisch ausgearbeitet hat, demzufolge Kultur und kulturelle Kommunikation einzig mit sprachlicher Verständigung gleichgesetzt wird. Nur am Rande untersucht werden kann in dieser Arbeit indes der umgekehrte Aspekt medialer Einflussnahme, obwohl er durchaus beachtenswert ist: Die Frage, inwiefern kulturelle Entwürfe von Infrastruktur auf die realen Zusammenhänge und Konzepte von Infrastruktur zurückwirken. Unter dem Stichwort einer Imagologie von Infrastruktur würde eine solche Perspektive in den Blick nehmen, inwiefern technische Entwürfe und ihre Realisierungen an die ästhetisch-imaginativen Produktionen, die ihnen vorausgehen, gekoppelt sind.14 Nicht erst an der realen Maschinerie entzündet sich folglich das imaginative und symbolische Potential, sondern zu beobachten ist gleichsam, dass technische Zusammenhänge in den so genannten „technischen Sagen“ vorausgenommen bzw. zumindest antizipiert werden. 15 Zumeist handelt es sich dabei nicht um vermeintliche utopische Wunderwerke, sondern um solche Techniken, die unmittelbar vor ihrer Realisierung stehen. Der Volkskundler und Germanist Hermann Bausinger weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass technische Sagen zwar einerseits als Vorstufen technischer Entwicklung verstanden werden müssen, anderseits aber auch gerade sie es sind, die, indem sie häufig vom – meistenteils bösen – Zauber der Maschinerien berichten, allererst den Boden für einen Widerstand gegen die neuen Techniken bereiten. 16 Damit kann der Imagologie von Technik bzw. Infra-
14 Vgl. etwa Felderer, Brigitte (Hg.): Wunschmaschine – Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 19. Jahrhundert. 15 Vgl. Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 165. 16 Vgl. Bausinger, Hermann: Volkskultur in der technischen Welt, S. 24ff.
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struktur spätestens seit dem 19. Jahrhundert zumindest einiger Anteil an der technikfeindlichen Kulturkritik zugesprochen werden.17
4. In seinem Aufsatz Perspektiven einer Philosophie der Technik18 aus dem Jahr 2000 stellt Hans Poser einige grundlegende Überlegungen zum gegenwärtigen Verhältnis von Philosophie und Technik an, die symptomatisch für den gesamten Bereich geisteswissenschaftlicher Theoriebildung sind. In der gegenwärtigen Philosophie genauso wie in der Kulturwissenschaft, so Poser, fehle es noch immer an einer Kulturtheorie der Technik. Der Grund für diesen Mangel sei, dass der Wirkungskoeffizient von technischen Apparaten und Verschaltungen nach wie vor aus dem herausgerechnet werde, was im eigentlichen Sinne als kulturelle und geistiganthropologische Entwicklung veranschlagt wird. Wenn Poser sich im Gegensatz dazu für eine „rettende Kritik der Technikkritik“19 stark macht, dann lässt sich diese Forderung programmatisch über die vorliegende Untersuchung setzen. Versteht sich doch die Herausarbeitung einer Theorie der medialen Wirkungen von Infrastrukturen als Freilegung der kulturellen und so-
17 Wenn Bausinger grundsätzlich zu dem Urteil kommt, dass Techniken weitaus besser und unkomplizierter in die Volkskultur eingegliedert werden als gemeinhin angenommen, dann bezieht er den Krisenbefund, der sich aus der Wirkung technischer Sagen ergeben kann, vorzugsweise auf gesellschaftliche Konstellationen, denen der Überbau im weitesten Sinne abhanden oder zumindest doch brüchig geworden ist, und in denen stattdessen das Verdikt umfassender Rationalität durchzusetzen versucht wird: „Widerstände gegen die Technik scheinen sehr viel eher dort aufzutreten, wo sie in eine weniger festgefügte und vor allem in eine im ganzen ‚realistischere‘ Welt einbricht, in welcher die übersinnlichen Ordnungen des Magischen und auch des Religiösen nicht mehr verpflichtend alle neuen Erscheinungen auf ihre Mitte beziehen und so dem Herkömmlichen einfügen.“ (Bausinger, Hermann: Volkskultur in der technischen Welt, S.29) Mit Blick auf den in dieser Arbeit zugrundegelegten Untersuchungszeitraum an der Schwelle zum 20. Jahrhundert wird dieser Befund besonders instruktiv, lässt sich doch eine Verbindung schlagen zwischen den zahlreichen Krisenbefunden – Lukács’ berühmte Rede von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“, Simmels Befund vom „Ende der Religion“, um nur einige zu nennen – und dem verstärkten Auftreten technikkritischer bis technikphobischer Bilder und Metaphern. 18 Poser, Hans: „Perspektiven einer Philosophie der Technik“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Heft 2.5.1 (2000), S. 99-118. 19 Ebd., S. 105.
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zialen Impulse, Konfigurationen und Entwicklungen, die an die Etablierung neuer technisch-infrastruktureller Systeme gekoppelt sind. Trotz vereinzelter Ansätze zu einer Kulturtheorie der Technik – Poser verweist auf Heinrich Becks aus dem Jahr 1979 stammende Arbeit Kulturphilosophie der Technik20 – lässt eine genuine Forschungsperspektive noch immer auf sich warten. Obwohl in zahlreichen Analysen der Mensch als Mängelwesen diskutiert wird, das Technik zur Ausbildung seiner eigentlichen Lebensweisen bedürfe, 21 ist hieraus bisher keine Anthropologie der Technik hervorgegangen, die ein tragfähiges Modell kollektiver Intentionalität beinhalten und damit die Kulturperspektive eröffnen würde. 22 Wenn Poser angesichts der Geschichte der Technikphilosophie eine Kulturphilosophie der Technik für notwendig hält, dann meint das nun aber nicht nur eine Erweiterung des Zuständigkeitsbereichs der Philosophie, der sich mit einer Modifikation der Bewertungsschemata verbindet. Viel mehr noch geht es um die Durchsetzung eines bestimmten erkenntnistheoretischen Zugriffs. Poser konstatiert, es sei vermessen zu glauben, dass sich so etwas wie das Wesen der Technik im Allgemeinen feststellen ließe. Stattdessen müsse und könne es nur darum gehen, ihre spezifischen Wirkungen herauszuarbeiten. 23 Im Sinne Kants könnte man sagen, eine Technikphilosophie sei vom Menschen her aufzubauen, nicht von einem platonischen Reich der Zwecke und idealen Lösungsgestalten. „Die vergeblichen Versuche, das Wesen der Technik philosophisch zu bestimmen“, urteilt auch Walter Ch. Zimmerli in Technologie als Kultur, „haben uns – bei aller Einsicht, die aus ihnen resultierte – gelehrt, daß das ‚Wesen‘ der Technik nicht ein für allemal bestimmt, sondern nur je und je durch ihren Gebrauch festgelegt werden kann. Und zwar haben wir das mit Bestürzung daraus lernen müssen, daß nicht, was Technik ist, sondern was sie bewirkt, uns bedingt.“24
Diese Akzentverschiebung hin zu einem deutenden Umgang mit Technologie macht, in Anschluss an den von ihm geforderten Paradigmenwechsel: „Technik ist Kultur!“, auch der Techniksoziologe Günter Ropohl zum Grundgedanken seiner
20 Beck, Heinrich: Kulturphilosophie der Technik. 21 Vgl. u.a. Platon: Protagoras 320c-322a oder Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. 22 Der vereinzelte Ansatz von Hans Sachsse: Anthropologie der Technik, ist bisher nur in nicht erwähnenswerter Form fortgeführt worden. 23 Poser, Hans: „Perspektiven einer Philosophie der Technik“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Heft 2.5.1 (2000), S. 103. 24 Zimmerli, Walther Ch.: Technologie als Kultur, S. 92.
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Systemtheorie der Technik. 25 Zwar führt Ropohl seinen Technikbegriff auf die Realtechniken zurück, will daraus aber ebenfalls keine Wesensdefinition der Technik abgeleitet wissen. Stattdessen zielt er auf ein handlungstheoretisches Systemkonzept und nimmt ebenso wie die vordem genannten Positionen eine Perspektivverlagerung zum Anthropologischen und zur Wirkungsebene vor. Anvisiert wird, ähnlich wie in zeitgleich formulierten ähnlichen Positionen aus dem Bereich der Geisteswissenschaften, 26 die Idee einer grundsätzlichen Verschiebung von der Erkenntniswissenschaft hin zu einer Hermeneutik, die realtechnische, systemtheoretische und kulturanthropologische Dimensionen einschließt. Wenn es in dieser Untersuchung darum gehen soll, Überlegungen zu einer Theorie der Medialität von Infrastrukturen anzustellen, dann ergibt sich aus der angedeuteten Prämissenverschiebung von der Ontologie zur Hermeneutik zweierlei. Zum einen müssen, wenn es darum geht, die auf breiter Basis erfolgenden sozialen Wirkungsmechanismen von Technik zu analysieren, zwangsläufig Techniken des Alltags in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Anders als die Industrietechniken, in denen bestimmte Formen der funktionalen Rationalität zwar in sehr viel geschlossenerer Gestalt auftreten, steht die Alltagstechnik an der Schwelle zur Lebenswelt – um einen Ausdruck zu verwenden, der traditionell der technikkritischen Perspektive zugeschlagen wird.27 Mehr noch: Sie überschreitet diese Grenze und kann deshalb wesentlichen Einfluss auf die individuelle und kulturelle Sozialisation nehmen.28 Andreas Reckwitz weist auf diesen Zusammenhang hin, wenn er daran erinnert, dass der Abschied von Ontologie und klassischer Erkenntnistheorie sowie die Entstehung von Philosophien der symbolischen Organisation von Wirklichkeit, wie sie maßgeblich von Richard Rorty betrieben wurde, eng verbunden ist mit dem, was Charles Taylor als die Tendenz zur „affirmation of ordinary life“29 im neuzeitlichen Denken charakterisiert hat: „Die Philosophie interessiert sich immer weniger für die außeralltäglichen Konstellationen, vor allem die der ‚theoria‘ und reinen ‚Erkennt-
25 Ropohl, Günter: Eine Systemtheorie der Technik, vgl. insbesondere S. 315 und 319. 26 Vgl. auch die verhältnismäßig frühe Problematisierung bei Lenk, Hans: Zur Sozialphilosophie der Technik, S. 17ff. 27 Ursprünglich stammt der Begriff der Lebenswelt von Edmund Husserl. Prominenz im eigentlichen Sinne bekam er aber durch die für Habermas’ Werk zentrale These von der Dichotomie von Lebenswelt und System. 28 Joerges weist zudem darauf hin, dass Alltagstechnik mehr als Industrietechnik immer in Zusammenhang mit einer grundsätzlichen infrastrukturellen Vernetzung steht bzw. in Formen von Infrastruktur besteht. Joerges, Bernward: Technik und Alltag, S. 55. 29 Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 3. Kapitel.
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nis‘, als für die Art und Weise, wie das konkrete Alltagsleben, die gewöhnliche sozial-kulturelle Welt, strukturiert ist.“30 Damit löst sich nicht nur ein an ontologischen Begrifflichkeiten orientierter Philosophiebegriff auf, sondern die zunehmende Fokussierung des Alltags ist auch gleichbedeutend mit einem Abstandnehmen von der traditionellen SystemLebenswelt-Dichotomie. Wie von Bausinger in seinen Ausführungen zur Volkskultur dargestellt, muss eine Analyse des Alltags zu der Einsicht führen, dass das Technische als kultureller und zugleich im weitesten Sinne natürlicher Faktor in die Formierungs- und Entwicklungsprozesse von Gesellschaften eingreift. Zum zweiten ergeben sich aus der Prämissenverschiebung von der Ontologie hin zur Hermeneutik wesentliche Kriterien für die Wahl einer adäquaten Analysemethode der medialen Wirkungen von Technik. Wenn es darum geht, das symbolische Reservoir zu erkunden, wie es zu einer bestimmten Zeit aus den Wirkungen von Technik entsteht, dann erscheint es nur folgerichtig, dies auf dem Feld der Literatur und mit den Methoden einer um kulturwissenschaftliche Aspekte erweiterten Literaturwissenschaft vorzunehmen. Nicht nur als Kondensat allgemeingesellschaftlicher Motive und Vorstellungen kann Literatur dabei gelten, der ein imaginativ-interpretativer Mehrwert immer schon beigegeben ist. Sondern aus der Analyse insbesondere ästhetisch-formaler Entwicklungen lässt sich auch der – bewusst oder unbewusst auftretende – mimetische und formenbildende Einfluss der Technik innerhalb der Kultur bestimmen. Literatur fungiert in von Technik bedingten kulturellen und sozialen Transformationsprozessen als eine Art Seismograph, der die kurzfristigen Erschütterungen und die längerfristigen Entwicklungen aufzeichnet. Es wird insofern in dieser Arbeit ein Diskussionszusammenhang, der in der Geschichte von Philosophie und schließlich auch Soziologie wesentliche Bedeutung eingenommen hat, in den Untersuchungsraum der Literatur übertragen. Dabei handelt es sich, das sollte an den sich formierenden Forderungen nach einer hermeneutischen Wende in der Technikphilosophie deutlich geworden sein, nicht um eine willkürliche Setzung. Vielmehr stellt Literatur dasjenige Medium bereit, innerhalb dessen die notwendige methodische Verschiebung, von der reinen Erkenntnisgewinnung hin zum Wirkungsaspekt, schon angelegt ist. Hinzu kommt die Eigenschaft von literarischen Texten, direkt und komplex auf kulturelle und soziale Diskurse der Außenwelt reagieren zu können, indem sie diese abbilden, kritisieren, imitieren, konterkarieren oder aber unbewusst aufnehmen. Gleichsam besitzen literarische Texte eine ästhetische Dimension, durch die man Veränderungen der Produktionsweisen und Stilistiken, die auf zeitspezifischen kulturellen Wahrnehmungsmustern und deren Veränderungen und damit auf Trans-
30 Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, S. 39f.
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formation der Wirklichkeit basieren, ablesen kann. Zudem sind literarische – und aufgrund der Schnelle ihrer Produktion insbesondere feuilletonistische – Texte in der Lage, aktiv auf die veränderten Rezeptionsbedingungen in der Gesellschaft, mithin auf die Transformationen des sozialen, infrastrukturell konstituierten und modifizierten Raumes zu reagieren. Und nicht zuletzt arbeiten literarische Texte immer auch an den Vorstellungen und Bildern mit, die eine Gesellschaft sich von bestimmten Techniken macht. Damit verstärkt Literatur deren Kultur transformierende Kraft.
5. Wenn in dieser Arbeit mit literaturwissenschaftlichen Methoden ein aus ihrem klassischen Verständnis herausfallender Gegenstand untersucht werden soll,31 dann wird die kulturwissenschaftliche Wende in den Geisteswissenschaften auch auf dem Gebiet der Textwissenschaft vollzogen.32 Es werden deshalb in der vorliegenden Untersuchung nicht nur die klassischerweise zum literarischen Reservoir zählenden Texte die Materialgrundlage bereitstellen. Neben feuilletonistischen, philosophischen und soziologischen sollen auch technik- und verwaltungswissenschaftliche genauso wie populärkulturelle Zeugnisse herangezogen werden, die wiederum auf ihr imaginatives und metaphorisches Potential hin gelesen werden. Gefolgt wird damit dem Konzept des New Historicism, der – als wesentliche methodische Neuerung von Seiten der Literaturwissenschaft im Zuge der Bewegung des cultural turn – die Öffnung des Literaturbegriffs hin zu nichtliterarischem Material und zeichentragenden Medien insgesamt vornimmt, also die Abgrenzung von Texten nach außen wie die Abgrenzung gegen nicht-fiktionale Texte aufhebt. Die Vertreter des New Historicism verstehen diese Erweiterung des
31 Zur Geschichte von Literaturwissenschaft und Technik vgl. die Arbeiten von Harro Segeberg und Götz Großklaus. 32 Claus-Michael Ort schreibt über das Produktive dieses Transfers von Methoden und Disziplinen: „Wenn sich nicht nur Ethnographen, sondern auch Alltags- und Mentalitätshistoriker stärker auf Texte – auch literarische – als Medien kultureller Selbstauslegung besinnen und Literaturhistoriker umgekehrt auch hochbewerteter kanonischer Literatur im Rahmen einer Poetik der Kultur außerliterarische Aussagequalitäten zubilligen, dann ergänzen sich die kulturwissenschaftliche Erweiterung der Textwissenschaft und eine textund zeichenwissenschaftliche Erweiterung der Kulturwissenschaft wechselseitig.“ Ort, Claus-Michael: „Was leistet der Kulturbegriff für die Literaturwissenschaft? Anmerkungen zu einer Debatte“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Heft 4 (1999) 46. Jahrgang, S. 541.
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klassischen Textbegriffs als adäquaten Umgang nicht nur mit Literatur. Er wird auch da zum Mittel, wo es darum geht, grundsätzlich die Entwicklungen und Veränderungen von Kultur nachvollziehbar und beschreibbar zu machen. Der New Historicism hebt mithin nicht nur die klassische Trennung von Text und Kontext auf: Der historische Hintergrund wird „selbst zum Interpretandum; er kann keine privilegierte Autorität haben, die außerhalb des Textes zu lokalisieren wäre: Der background eines Textes ist selbst ein Komplex von Texten.“33 Der New Historicism interessiert sich auch nicht mehr in dem Maße für das Verhältnis von Text und Autor, wie es innerhalb der klassischen Hermeneutik üblich gewesen ist. Auch die Fokussierung von Binnenstrukturen und -logiken von Texten, wie sie die dekonstruktivistische Analyse bestimmte, treten in den Hintergrund. Verstand die radikale Hermeneutik Literatur als „hochkulturelle Selbstkommentierung der Moderne, die individuelle und kollektive ‚Bildung‘ ermöglichen sollte“, so galt dem Poststrukturalismus die Literatur in der Moderne als „autonomes System von Texten“, das „im Prinzip separiert von anderen gesellschaftlichen Sphären“ existiert. Der New Historicism hingegen „versteht literarische und nicht-literarische Texte als modernespezifische Medien einer diskursiven Produktion und Veränderung kultureller Codes“. 34 Eine solche, um die kulturwissenschaftliche Perspektive erweiterte Literaturwissenschaft beschränkt sich nicht auf die klassischen Fragen der Textwissenschaft, mithin neben den inhaltlichen auf ästhetische, strukturelle und stilistische Fragestellungen, sondern überschneidet sich mit denen von Soziologie, Geschichtswissenschaft und Ethnologie. Entscheidendes Strukturierungswerkzeug dieser Methode ist der Diskursbegriff, vermittels dessen Gegenstände aus den verschiedenen Medien, das heißt kulturellen Bereichen und Kontexten, in einen Zusammenhang der Vergleichbarkeit gestellt werden können, indem sich die Diskurse als Fäden durch die verschiedenen Medien ziehen und so eine Verbindung zwischen dem scheinbar Getrennten schaffen: „Aufgabe einer Diskursanalyse ist es dementsprechend, die ‚Repräsentationsformen‘ eines Diskurses zu beschreiben, die spezifischen Gestalten und Funktionen, die er im jeweiligen Medium innehat.“35 Intertextualität wird zur Eigenschaft nicht nur von Texten in klassischem Sinne, sondern zum Prinzip einer ganzen Kultur.
33 Kaes, Anton: „New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne?“, in: Eggert, Hartmut (Hg.): Geschichte als Literatur, S. 56-66. 34 Reckwitz, Andreas: „Die Kontingenzperspektive der ‚Kultur‘. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm“, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3, S. 13. 35 Baßler, Moritz: „New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik einer Kultur“, in: ders. (Hg.): New Historicism, S. 14.
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Natürlich wäre es vermessen zu glauben, in der unendlichen Menge von Material, das nur einen einzelnen Diskurs einer Zeit ausmacht, auch nur annähernd einen Grad von Vollständigkeit herstellen bzw. in der Analyse berücksichtigen zu können. Immerhin aber leistet der New Historicism ein „Bewußthalten der historischen Komplexität“,36 um darüber hinaus aber den Anspruch auf Vollständigkeit selbst für sinnlos zu erklären. Wir können uns, heißt es bei Stephen Greenblatt, dem Begründer des New Historicism, „weder mit statistischen Tabellen zufrieden geben, noch haben wir die Geduld, tausende von Geschichten zu erzählen, jede mit ihren leichten Variationen. Das Problem ist nicht nur mangelnde Geduld, sondern eine Art Hoffnungslosigkeit: auf tausend Geschichten würden weitere tausend folgen, und dann weitere, ohne dass ausgemacht wäre, daß wir dem gesuchten Verständnis näherkommen. Demnach nehmen wir von den Tausenden eine Handvoll ins Auge fallender Gestalten in Beschlag, die viel von dem zu umfassen scheinen, was wir brauchen, und die sowohl ein intensives, individuelles Interesse belohnen als auch den Zugang zu umfassenderen kulturellen Mustern versprechen.“37
Es kann nicht darum gehen, einen unkategorialen Materialwust zu akkumulieren, aus dem sich „totalisierende[n] Gesamtbehauptungen“ vermeintlich ergeben, sondern das entscheidende Vermögen besteht darin, vermittels „Mut zur Auswahl“ und der „Kunst der Darstellung“ den Stoff so zu formieren, dass sich eine „Poetik der Kultur“38 aus ihm generiert. Der New Historicism stellt ein theoretisches Konzept bereit, das in idealer Weise dazu geeignet scheint, die medialen Wirkungen von Infrastrukturen als Theorie der Inframedialität zu erarbeiten, indem er durch die Öffnung des Textbegriffs und durch die Aufhebung der ausschließlichen Konzentration auf das Verhältnis von
36 Ebd., S.13. 37 Greenblatt, Stephen: „Selbstbildung in der Renaissance. Von More zu Shakespeare“, in: Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism, S. 42. (EA: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago/London 1980, S. 6.). Aufschlussreich ist, dass das, was Greenblatt hier für die horizontale Ebene formuliert, die notwendige Eingrenzung des zu berücksichtigenden Materials, dem entspricht, was für die vertikale Ebene Clifford Geertz mit seiner Anekdote über die übereinander gestapelten Schildkröten markiert (s.u.): das Rekurrieren auf die materialen Referenzobjekte und der Verzicht darauf, in immer abstraktere Tiefen einer Kultur vordringen zu wollen, um auf diese Weise der Verwässerung des Methodenapparats wie der Erkenntnisse vorzubeugen. 38 Baßler, Moritz: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik einer Kultur, in: Ders. (Hg.): New Historicism, S. 18f.
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Autor, Aussageintention und Textgestalt dezidiert das kulturelle Ganze einer Zeit in seinen Wechselwirkungen in den Blick nimmt. Die These, dass Infrastruktur, also das technisch-organisatorische Fundament einer Gesellschaft, dabei zum wesentlichen Bedeutungsträger und mithin zur Diskurs formierenden Größe wird, und dass es deshalb ein nicht nur sinnvoller, sondern notwendiger und bisher zu Unrecht übergangener Untersuchungsgegenstand ist, wenn es darum geht, eine Poetik der Kultur zu entwickeln, verknüpft das Konzept des New Historicism mit den jüngsten Forderungen der Techniksoziologie und -philosophie nach Anerkennung der Bedeutung von Technik als Teil der Kultur und nicht als deren Widerpart zum ersten und nach einer daran sich anschließenden Analyse der sinnstiftenden und symbolischen Potentiale von Technik zum zweiten. Die Notwendigkeit der Erarbeitung einer Theorie der medialen Wirkungen von Infrastruktur ist demnach von zwei Seiten motiviert. Zum einen durch eine allgemeine methodische Tendenz: durch den cultural turn in den Kulturwissenschaften, der eine methodische Öffnung und eine Erweiterung der in den Blick zu nehmenden Gegenstände bedeutet, wie sie der New Historicism speziell für die Literaturwissenschaft zugrunde legt. Hierbei handelt es sich um eine sich eher von außen dem Gegenstand nähernde Motivation. Die aber korrespondiert mit einer aus dem Gegenstand selbst – der Technik – entspringenden methodischen Entwicklung, wie sie von Seiten der aus den verschiedenen Disziplinen stammenden Techniktheoretiker reklamiert wird, die das negative, kulturfeindliche Bild der Technik, wie es die theoretischen Konzepte seit jeher dominiert hat, nicht länger gelten lassen wollen: eine hermeneutische Auseinandersetzung und Auslegung technischer Apparate und Strukturen und ihrer kulturellen Bedeutung, ohne dabei die Bindung ans Empirische zu verlieren.39 Nicht zu vergessen ist natürlich das literaturhistorische Erkenntnisinteresse, das dieser Arbeit zugrunde liegt. Während andere Techniken, wie die Eisenbahn im Jahrhundert zuvor oder das Auto, das die Attraktivität der Nahverkehrsmittel bald überholen wird, in den letzten Jahren verstärkt in das Interesse der Literaturwissenschaft gerückt sind, kann man vergleichbares für den öffentlichen Nahverkehr nicht feststellen.40 Das gilt zum einen für die systematische Untersuchung der Bedeutun-
39 Allen voran Günter Ropohl macht darauf aufmerksam, dass die Technikphilosophie neben ihrer Tendenz zur Reduzierung des Technischen auf das Andere der Kultur vor allem auch daran krankte, dass die Einbettung in die empirischen Wissenschaften weitestgehend ausgeblieben ist. Erst seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist eine zunehmende Einbeziehung der materialen Grundlagen zu verzeichnen. Ropohl, Günter: Technologische Aufklärung, S. 13. 40 Ausnahmen bilden Roskothen, Johannes: Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne und Müller, Dorit: „Faszination Untergrund: ‚Die Berliner U-Bahn in der Literatur
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gen des Nahverkehrs in durchaus bekannten Texten wie Döblins Roman Berlin Alexanderplatz oder Musils Mann ohne Eigenschaften. Es gilt aber vor allem auch für die schier unüberschaubare Anzahl von Texten aus dem Feuilleton, das nicht nur parallel zum Nahverkehr zu expandieren beginnt, sondern den urbanen Verkehr immer wieder ins Zentrum oder aber auch in die Peripherie seines Beobachtens und Schreibens rückt. Das ist umso erstaunlicher, als er doch diejenige verkehrstechnische Neuerung ist, durch die der Alltag in der Großstadt wesentlich geprägt ist.
6. Ein Erklärungsmodell von Kultur an die materialen Strukturen der Gesellschaft zu koppeln – und damit bei diesen enden zu lassen – fällt schnell dem Vorwurf anheim, eine unzulängliche Verkürzung und Simplifizierung des kulturellen Prozesses und seiner Bedingungen zu vollziehen. Jenseits theoretischer Elaboriertheit und umso überzeugender erscheint in diesem Zusammenhang die Widerlegung dieser Einwände, die der Kulturtheoretiker Clifford Geertz im Zuge der Darlegung seines Erklärungsmodells kultureller Praktiken und Symbolzusammenhänge vornimmt. Am Beispiel einer indischen Erzählung, die Geertz in Erinnerung ruft, werden in anekdotischer Form einerseits die Konsistenz und zugleich die in pragmatischer Hinsicht bestehende Alternativlosigkeit dieser Weise und Bedingtheit kultureller Erkenntnisgewinnung verdeutlicht. Der besagten Erzählung zufolge habe man einem Engländer erklärt, „die Welt stehe auf einem Podest, das auf dem Rücken eines Elefanten stehe, der selbst wiederum auf dem Rücken einer Schildkröte stehe; und dieser Engländer fragte daraufhin […], worauf denn die Schildkröte stehe? Auf einer anderen Schildkröte. Und diese andere Schildkröte? O Sahib, dann kommen nur noch Schildkröten, immer weiter hinunter.“41
Im Bild der übereinander gestapelten, ins Unendliche sich fortsetzenden Schildkröten offenbart sich das Dilemma einer auf Vollständigkeit und Letztbegründetheit angelegten Kulturanalyse. „Die Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig. Und mehr noch, je tiefer sie geht, desto unvollständiger wird sie. Es ist eine eigenartige Wissenschaft: gerade ihre eindruckvollsten Erklärungen stehen auf dem unsichersten Grund, und der Versuch, mit dem
des frühen 20. Jahrhunderts‘“, in: Fioretos, Aris (Hg.): Berlin über und unter der Erde. Alfred Grenander, die U-Bahn und die Kultur der Metropole, S. 146-163. 41 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung, S.41.
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vorhandenen Material weiter zu gelangen, führt nur dazu, daß der – eigene und fremde – Verdacht, man habe es nicht recht im Griff, immer stärker wird.“42
Der Schutz vor dem Schildkrötenphänomen, vor einem Aufweichen und letztlich Auflösen des methodischen Apparats wie des zu untersuchenden Gegenstands und Zusammenhangs überhaupt, kann nur darin bestehen, die materialen Erscheinungsformen der Gesellschaft zum Referenzobjekt der Analyse zu machen, auch auf die Gefahr hin, sich dem Vorbehalt der Verschreibung an Oberflächenphänomene auszusetzen: „Die Gefahr, daß die Analyse der Kultur auf der Suche nach allzu tief verborgenen Schildkröten die Verbindung zur harten Oberfläche des Lebens, zu den Realitäten von Politik, Ökonomie und sozialer Schichtung verliert, mit denen es die Menschen überall zu tun haben, und daß sie überdies die biologischen und physikalischen Notwendigkeiten aus dem Auge verliert, auf denen diese Oberfläche ruht, diese Gefahr lauert überall. Der einzige Schutz dagegen – und zugleich auch gegen das Umkippen der Kulturanalyse in eine Art soziologischen Ästhetizismus – ist es, eine derartige Untersuchung hauptsächlich auf jene Realitäten und Notwendigkeiten zu richten.“43
Die infrastrukturelle Grundlegung des urbanen Lebens, wie es der öffentliche Nahverkehr umso mehr in der Zeit seiner Einführung und flächendeckenden Ausbreitung vornimmt, ist mithin als Untersuchungsfeld kultureller Systeme geradezu prädestiniert, weil er nicht nur den Alltag und die aus diesem hervorgehenden Anschauungs- und Verhaltensformen transformiert, sondern darüber hinaus die materiale Konfiguration aufspannt, die ein Abgleiten in immer abstraktere Erklärungsformen von vornherein ausschließt.
7. Bei der Sichtung der Debatten und theoretischen Auseinandersetzungen, die um die aktuelle Neuformierung der Kulturwissenschaften kreisen, stößt man immer wieder auf Namen aus der Kultursoziologie des frühen 20. Jahrhunderts, die als historische Gewährsmänner und theoretische Stichwortgeber ins Feld geführt werden. Neben Ernst Cassirer und seiner Theorie der Symbolischen Formen sind es Georg Simmel und Siegfried Kracauer, deren zwischen Wissenschaft und feuilletonistischästhetischer Form gelagerten Konzepten am häufigsten Referenz gezollt wird.
42 Ebd. 43 Ebd., S.43.
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Zugleich stammen von Simmel und Kracauer diejenigen Texte, deren Betrachtungen des urbanen Raums, insbesondere Berlins, in ihrer kulturanalytischen Tiefe und Umfasstheit die wohl scharfsichtigsten Mentalitäts- und Gesellschaftsstudien ihrer Zeit bereitstellen. Diese beiden Denker sind vor allem deshalb in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussion von Bedeutung, weil sie ein Verfahren etablieren, das nicht nur in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts ein Novum darstellt, sondern das eben jenem entspricht, das die Kulturwissenschaft in ihrer Aufhebung des Methodenverhaftetseins und in der Überwindung der rationalistischen Erkenntnisgewinnung zu etablieren sucht: eine die materialen Phänomene in den Blick nehmende, auf das Gesamt der Gesellschaft gerichtete figurative und symbolische Hermeneutik der Kultur. Kracauers berühmter Aufsatz Das Ornament der Masse trägt das Prinzip der Betrachtung von Oberflächenstrukturen bereits im Titel. Diese Oberflächenphänomene werden verstanden als figurative Realisierungen dessen, was den geistigpsychischen Gehalt einer Gesellschaft ausmacht: „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenerscheinungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst. Diese sind als der Ausdruck von Zeittendenzen kein bündiges Zeugnis für die Gesamtverfassung der Zeit. Jene gewähren ihrer Unbewußtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden. An seine Erkenntnis ist umgekehrt ihre Bedeutung geknüpft. Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig.“44
Kracauer beschreibt diese Methode, anhand der Deutung von Oberflächenausbildungen grundsätzliche Dimensionen von Gesellschaft und Kultur freizulegen, in einem Aufsatz über Georg Simmel als ein fortwährendes Erschließen struktureller Äquivalenzen, die schließlich auf substanzielle Konstanten der Gesellschaft verweisen: „Von der Oberfläche der Dinge dringt er allenthalben mit Hilfe eines Netzes von Beziehungen der Analogie und der Wesenszusammengehörigkeit zu ihren geistigen Untergründen vor und zeigt, daß jene Oberfläche Symbolcharakter besitzt […].“45 Simmel selbst fasst die Korrelation von materialer Oberflächen- und geistig-kultureller Tiefenstruktur fast noch unmittelbarer und anschaulicher, wenn schreibt,
44 Kracauer, Siegfried: „Das Ornament der Masse“, in: Schriften, 5.2, S. 57. 45 Ders.: „Georg Simmel“, in: Schriften, 5.2, S. 242.
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„daß sich von jedem Punkt an der Oberfläche des Daseins, so sehr er nur in und aus dieser erwachsen scheint, ein Senkblei in die Tiefe der Seelen schicken läßt, daß alle banalsten Äußerlichkeiten schließlich durch Richtungslinien mit den letzten Entscheidungen über Sinn und Stil des Lebens verbunden sind.“46
Nachdrücklich will Kracauer, der oftmals kritische Schüler Simmels, diese Arbeit am realen Erlebnishorizont der Gesellschaft von der reinen Aufreihung dokumentarischer Fakten getrennt wissen, als die er die Reportage versteht.47 Hier ist jene Differenz vorformuliert, die Stephen Greenblatt ein halbes Jahrhundert später zur Prämisse des New Historicism erklären wird: dass es nicht um eine akkumulative Sammlung des Materials gehen kann, sondern dass die figurativ-symbolische Zusammenstellung, Anordnung und Deutung und damit eine Auswahl desselben das eigentliche Wesen der Analyse ausmacht. Als Grenzgänger zwischen den Disziplinen, die in ihren phänomenologischen Betrachtungen lebensweltliche Perspektive, soziologischen Befund und ästhetische Figuration zu einer Analyse und Archäologie der Kultur zu verbinden wissen, sind allen voran Simmel und Kracauer diejenigen praktischen Theoretiker der Kultur, die im jungen 20. Jahrhundert den Grundstein für den kulturwissenschaftlichen Diskurs darstellen, wie er im ausgehenden 20. Jahrhundert geführt wird. Sind es diese unorthodoxen Denker, die von der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussion als methodische Vorbilder bzw. als Vorbilder für das Transmethodische ins Feld geführt werden, dann wird damit ein Konnex zwischen den Zeiten geschaffen, der zeigt, dass es sinnvoll ist, sich ästhetischen, lebensweltlichen und gesamtkulturellen Phänomenen aus dem ausgehenden 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert nicht nur vermittels eines theoretischen Zugangs zu nähern, der sich in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Debatte herausbildet, sondern mit einem Beobachtungsund Beschreibungsverfahren von Kultur, das ursprünglich eben in dieser Zeit entwickelt worden ist. Andersherum betrachtet ist dieser Konnex zwischen den Zeiten eine Versicherung dessen, dass es sinnvoll ist, anhand der Zusammenführung von Material aus
46 Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Gesamtausgabe, Bd. 7, S. 120. 47 „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs aber ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben, ein solches Mosaik wäre sein Bild.“ Kracauer, Siegfried: „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“, in: Schriften, Bd. 1, S. 216.
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dem ausgehenden 19. und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und einer neueren, kulturwissenschaftlich perspektivierten Literaturwissenschaft eine Theorie der Medialität von Infrastrukturen erarbeiten zu wollen, die über den exemplarischen Wert des konkreten historischen Stoffes und Zusammenhangs hinaus einen modellhaften Stellenwert einzunehmen in der Lage ist. Robert Müller, über den Musil nach dessen Selbstmord bewundernd schreibt, „er dachte immerzu, aber er dachte niemals nach, weil ihm das ‚Nach-‚, das Hinterdreindenken, während die Welt davonrast, wie ein dummer Verlust vorkam“, 48 formuliert in seinem programmatischen Essay über die neue Form des Romans eine Diagnose, die als Credo für die folgenden Untersuchungen gelten kann: „Die Bewußtseinsfrage ist gelöst, das seelische Gehirn ist nahezu körperlich anschaulich darstellbar geworden. Die Welt blinkt durch das Ereignis der Straße, des Mietszimmers oder des Waggons.“49
48 Musil, Robert: „Robert Müller“, in: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 1133. 49 Müller, Robert: „Der Denkroman“, in: Kritische Schriften, Bd. 3, S. 31.
Teil eins
I. Grundmuster einer ambivalenten Wahrnehmung von Technik
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Die Kritik an der Technik ist so alt wie die Technik selbst. Genauso alt ist der Versuch, die Technik im Zuge dieser Kritik aus dem kulturellen Diskurs herauszurechnen und als das Andere der Kultur zu stigmatisieren. Schon Homer entwirft in der Odyssee eine Art mythologisches Grundmuster, aus dem sich die kulturelle Ambivalenz gegenüber der Technik in idealtypischer Weise entfaltet: „So breit, wie ein Mann, der gut im Zimmerergewerbe Bescheid weiß, den Kreis für den Boden eines breiten Lastschiffes zieht, ebenso breit baute Odysseus sein Floß. Er stellte Pfosten auf, verband sie mit zahlreichen Spreizen und baute so die Plattform eines Verdecks. Dann deckte er sie schließlich mit breiten Bohlen ab. Darauf setzte er den Mastbaum ein und die Rahe, die passend an ihn gefügt war. Außerdem aber baute er sich, um lenken zu können, ein Steuer und verschanzte das Floß fortlaufend mit einem Geflecht aus Weidenruten, als Schutzwehr gegen die Wogen, und schüttelte daran viel Strauchwerk auf. Inzwischen brachte Kalypso, die Göttliche unter den Göttinnen, Tücher, um daraus Segel zu machen. Auch diese verfertigte er trefflich mit seiner Kunst. Drinnen im Floße band er die Brassen und Stränge und Schoten an, und dann schob er es mit Hebeln in die göttliche Salzflut hinunter.“1
Es ist das technische Vermögen, durch das Odysseus sich der Willkür der Götter entledigt. Seine Fertigkeit zum Floßbau wird zur Basis für die Heimkehr nach Ithaka. Homer weist die Technik als unabdingbares Moment der Emanzipation aus, als Konstitutionsgrundlage von menschlicher Autonomie und von Selbstbewusstsein, als Schwelle zum selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Handeln. Die Geschichte der Gottesbilder variiert die Vorstellung von Gott als Architekten der Welt,
1
Homer: Odyssee, 1. Bd., 5. Buch, Vers 234-281.
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der nach seinen technischen Paradigma die Welt konstruiert habe. Indem der Mensch als homo faber sich die Geheimnisse der Technik aneignet, formuliert er folglich den Anspruch, die göttliche Autorität und Schöpferkraft in einem autonomen Akt übernehmen zu wollen.2 Aber die Odyssee, Fahrt der Selbsterkenntnis und des Selbstbewusstseins, wird zur Irrfahrt. Was als Mittel zur Steigerung menschlicher Macht geschaffen wurde, kehrt sich ins Gegenteil. Die von den Göttern gesandten Stürme zerstören das Schiff und töten die Besatzung. Trotzdem aber beharrt Odysseus auf seinen Glauben an die Technik, wenn sie auch unweigerlich mit Entbehrungen und Leid verknüpft ist: „Solange die Balken fest in den Klammern halten, so lange will ich hier bleiben und ausharren und Qualen erdulden.“3 Waren es zunächst die Götter, die den Menschen der Amechanie anheim geben konnten, dann ist es nun die Mechanik selbst, die den Menschen zur Ohnmacht verdammt: Wie Penelope jede Nacht die Maschen wieder auftrennt, die sie am Tag geknüpft hat, so ist Odysseus tatenlos an das Werk seiner Schiffbauerkunst gefesselt, an ein Floß, das reglos auf dem windstillen Meer verharrt oder entgegen seiner eigentlichen Fahrtrichtung getrieben wird. Dem Opfer seiner irakaridischen Höhenflüge im Ovidschen Mythos kann man noch Unwissenheit und Hybris vorwerfen, wenn er den Warnungen des Architekten Dädalus nicht folgen will. 4 Aber was bei Homer das Schicksal des Helden strukturiert, birgt bereits jene Dialektik der Aufklärung, die fortan als scheinbar unüberwindbares Prinzip den Großteil der Reflexionen über Mensch und Technik grundieren wird: Die erstmals von Lukrez im 5. Buch seines Lehrgedichts De rerarum natura entwickelte Vorstellung von einem vortechnischen Daseinstatus des Menschen, der durch spontane Erfindungen in einen zivilisierten Gesellschaftszustand
2
Vgl. dazu Böhme, Hartmut: „Kulturgeschichte der Technik“, in: Ders. u.a.: Orientierung Kulturwissenschaft, S. 165.
3
Homer: Odysse, 1. Bd., 5. Buch, Vers 328-372.
4
„‚Folge mir auf den Federn, die ich dir gebe; ich werde vorausfliegen; deine Sorge sei es, zu folgen, unter meiner Führung wirst du sicher sein. Denn wenn wir in der Nachbarschaft der Sonne durch die ätherischen Lüfte fliegen, wird das Wachs die Hitze nicht aushalten, und wenn wir andererseits tief unten nah an den Fluten die Flügel schlagen, so wird die bewegliche Feder vom Wasser des Meeres feucht werden‘“, klärt der Techniker Dädalus seinen Sohn Ikarus auf. Aber schnell macht die „neuartige Fortbewegung Freude, Ikarus hat keine Angst mehr und fliegt mutiger, denn sein Können läßt ihn kühn werden.“ Ikarus fliegt höher, kommt der Sonne zu nah, das Wachs schmilzt: „(E)r schüttelt die bloßen Arme, zappelt und hat nichts, worauf er sich stützen kann. Er fällt, und im Fallen ruft er: ‚Vater, Vater, ich stürze.‘ Es schlossen die grünen Wasser den Mund, während er noch sprach.“ Ovid: Liebeskunst. 2., Vers 17-98.
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überführt und damit verfälscht und entstellt worden ist, erklärt Hans Blumenberg zu Anstoß und Movens nahezu sämtlicher folgender technikkritischer Positionen. Spätestens mit Lukrez sei „zum Schicksal der Philosophie geworden, die Selbstbehauptung ihrer Substanz nur gegen die ‚Technik‘ im weitesten Sinne leisten zu können.“5 Die Geschichte der Technikphilosophie ist mithin bestimmt durch den Konsens, demzufolge die Verfügbarmachung der Welt durch das technische Mittel diejenige anthropologische Grundkonstante ist, die den Menschen allererst von der tierischen Existenz scheidet. In der wertneutralen Bezeichnung von Helmuth Plessner wird dieses Vermögen, das gleichzeitig unabänderlicher Bestandteil des Menschlichen ist, als „exzentrische Positionalität“ definiert, als Zwang zur Ausbildung der natürlichen Künstlichkeit des Menschen,6 einer, wie Marx es nennt, „zweiten Natur“. In einer vordergründig eher negativ konnotiert anmutenden Variante, wie sie exemplarisch von Arnold Gehlen formuliert worden ist, wird der Mensch zum Mängelwesen erklärt, dem das technische Vermögen zur „Organverstärkung“ bzw. „Organverlängerung“7 dient, vermittels derer er seine natürlichen Schranken überwinden kann, um die Geschichtlichkeit seines kulturellen Daseins an die Stelle der natürlichen Evolution treten zu lassen. Dieses emanzipatorische Vermögen des Menschen führt aber ihren dialektischen Umschlag unabdingbar mit sich. Wenn Helmuth Schelsky über das Schicksal des Menschen in der wissenschaftlichen Zivilisation noch schreiben mag: „Der Mensch löst sich vom Naturzwang ab, um sich seinem eigenen Produktionszwang wiederum zu unterwerfen“, 8 dann dominiert in der philosophisch-geistesgeschichtlichen Technikfolgeabschätzung mehr noch das Bild einer quasi-mythischen Beherrschung des Menschen durch die von ihm geschaffenen Techniken, die geradewegs in seine (Selbst-)Vernichtung übergeht. Zumeist ist es ein Zweischritt, der aufgemacht wird, wenn es darum geht, die Sollseite der Emanzipation durch technische Verfügbarmachung der Welt zu bilanzieren. Zunächst, angefangen bei den antiken Mythologien, geht der Akt des sich die Natur zum Gegenüber Machens einher mit einer spezifischen Verlusterfahrung.
5 6
Blumenberg, Hans: Wirklichkeiten, in denen wir leben, S. 14. Plessner, Helmuth: „Die Stufen des Organischen und der Mensch“, in: Gesammelte Schriften, Band IV.
7
Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter, S. 8. Aber auch bei Plessner heißt es in diesem Zusammenhang: „Exzentrische Lebensform und Ergänzungsbedürftigkeit bilden ein und denselben Tatbestand.“ Plessner, Helmuth: „Die Stufen des Organischen und der Mensch“, in: Gesammelte Schriften, Band IV, S. 385.
8
Schelsky, Helmuth: „Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation“, in: Ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit, S. 461.
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Athene, Erfinderin des Webstuhls und damit Grundsteinlegerin der Sesshaftwerdung des Menschen, verkörpert einen solchen Bruch mit einer unmittelbaren und ursprünglichen Naturbeziehung und -orientierung, die fortan ersetzt werden muss durch eine arbeitsteilige, technische Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse. 9 Athenes Schützling Odysseus, wie Homer ihn schildert, versinnbildlicht diese Idee der Notwendigkeit zur Kompensation der technikinduzierten Versagungen, wenn er den Verlockungen seiner Reise vermittels von Sozialtechniken zu begegnen versucht. Und Platon wählt im Zuge seiner Kritik an der Einführung der Schrift als Kulturtechnik bewusst den Vergleich mit der technischen Verfügbarmachung der Natur im Ackerbau, der den Argumentationsgang von der Leistungs- über die Verlustanalyse hin zu einer Kompensationsforderung als logische Kopplung erscheinen lassen muss. 10 Die Emanzipation von der Natur als gleichzeitiger Verlust eben dieser Natur, der nicht mehr rückgängig gemacht, sondern dem nur noch durch ausgleichende und versöhnende Maßnahmen innerhalb der Sphäre der technischen Mittel begegnet werden kann, ist aber nur der erste Schritt innerhalb der Tradition der Geschichte der Technikkritik. Weitaus dramatischere Folgen vermeint man darin zu erkennen, was schon bei Odysseus als Dialektik des Mittels anklingt – und was nicht, wie der Sturz des Ikarus, der menschlichen Verantwortung bzw. ihrem Fehlen im Umgang mit dem technischen Gerät zugeschlagen werden kann. Die Rede von der Dialektik des Mittels meint, dass sich durch die vom Menschen entwickelten Techniken und
9
Die indogermanische Wurzel des Wortes „Technik“ bedeutet soviel wie „flechten“, das „Holzwerk des Hauses zusammenfügen“. Vgl.: Pokorny, Julius: Indogermanisches etymologisches Wörterbuch, S. 1058. Ebenso bezeichnet das griechische techné ursprünglich die Tätigkeiten des Zimmermanns: behauen, flechten, verbinden von Stein, Holz und Bast. Zwei wortgeschichtliche Zusammenhänge werden hier deutlich: Zum einen ist die Bezeichnung „Technik“ wortgeschichtlich gekoppelt an die Herausbildung der Berufe, die eine Form von Rationalität zur Voraussetzung hat, mithin die Fähigkeit, bestimmte Tätigkeitsvollzüge durch die Vermittlung bestimmter Methoden weiterzugeben und zu optimieren. Diese Rationalität zeigt sich als analytische dort, wo es möglich wird, die Tätigkeiten in einzelne Teilschritte zu zerlegen, wodurch fortan die Kooperation zur Grundlage der Vergesellschaftung wird. Diese Kooperation wird später, als objektivierte, an die Maschine abgegeben. Zum zweiten ist Technik, wie ihre Verbindung mit Haus- und Ackerbau zeigt, verbunden mit dem Übergang zum Sesshaftwerden, mit der Erschließung, Urbarmachung und damit letztlich Homogenisierung des Raums als Lebensraum, also mit seiner strukturellen und organisatorischen Ausgestaltung. Vgl. u.a. Mumford, Lewis: Mythos der Maschine, S. 153ff. und Fischer, Peter (Hg.): Technikphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart, S. 256-161.
10 Vgl. Platon: „Phaidros“, 276-277c, 7. Brief., in: Werke, Bd, 3,4.
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Verfahren zur Beherrschung der Natur ein dualistischer Prozess zwischen Subjekt und Objekt entspinnt, innerhalb dessen die von diesem konstituierten Mittel sich schließlich unabdingbar gegen das Subjekt selbst richten. Von Odysseus, der ohne das Eingreifen der Götter von seinem Floß in den Tod gerissen werden würde, reichen die Bestandsaufnahmen des dialektisches Umschlags der Technik über die in der Nachfolge Rousseaus stehenden Diagnosen der Zerstörung moralisch-humaner Zusammenhänge durch Technik bis hin zu Szenarien des atomaren Supergaus in der Moderne. „Je mehr Apparatur zur Naturbeherrschung wir erfinden, desto mehr müssen wir ihr dienen, wenn wir überleben wollen“, schreibt Horkheimer in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft: „Der Fortschritt droht das Ziel zunichte zu machen, das er verwirklichen soll – die Idee des Menschen.“11 Ebenfalls am Beginn des 20. Jahrhunderts prägt Georg Simmel das Diktum von der „Tragödie der Kultur“ 12, das er zwar nicht allein auf den technischen Zusammenhang in engstem Sinne angewandt wissen will, das aber trotzdem zum Schlagwort insbesondere der technikkritischen Kulturphilosophie geworden ist und unter dem nachfolgende wie auch früher entstandene Gesellschaftsanalysen subsumierbar sind. Dieses Urteil über die Aporie der Technik, zum einen Konstitutionsgrundlage des Menschen zu sein, zum anderen dessen Selbstauflösung bereits zu implizieren, prägt die philosophische und geistesgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Technik von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Dieses Urteil hat zur Folge, dass meistenteils das Technische per se als das Feindliche, dem menschlichen Wohl Entgegengesetzte identifiziert wird. Die von Habermas geprägte, aber nicht nur die linke, sondern auch die konservative Gesellschafts- und Kulturkritik strukturierende Dichotomie von Lebenswelt und System macht dieses Prinzip zur Basis aller Reflexion mit der Folge, dass das Technische aus dem Zusammenhang produktiver, das heißt werte- und sinngenerierender Kultur ausgeschlossen bleibt. Aristoteles hat die Modi techné, das kunstvolle Hervorbringen, und phronesis, die sittliche Einsicht, unterschieden. Der sittlichen Einsicht kam die Aufgabe zu, den Weg zum guten Leben zu weisen. Dieses Leben ist nach Aristoteles das wesensgemäße Leben in der Gemeinschaft. Und diese Gemeinschaft wiederum ist auf technische und institutionelle Organisation angewiesen. Das heißt, die maßvolle Korrelation von techné und phrónesis wird zur basalen Bedingung menschlicher Existenz erklärt. Diese von Aristoteles noch als unauflösbar reklamierte Verbindung von Technik und gutem Leben, wie er sie insbesondere im 6. Buch der Niko-
11 Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 97 u. 13. 12 Simmel, Georg: „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, in: Gesamtausgabe, Bd. 14.
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machischen Ethik13 formuliert, scheint, nach dem Urteil der meisten der Technikkritiker, innerhalb der Geschichte der Technikentwicklung, womöglich schon mit ihrem Beginn, ein für allemal verloren gegangen zu sein.14 Diese Entkopplung von Materiellem und Immateriellem lässt ein Kulturkonzept entstehen, in dem das Materielle in produktiv positivem Sinn nicht vorkommen darf. In der Tradition der philosophischen Technikkritik spiegelt sich dieses zunehmend idealistische Verständnis von Kultur wider. Auf der anderen Seite zementiert die lange Geschichte der philosophischen Technikkritik ihrerseits auch jene grundsätzliche Ausrichtung der Geisteswissenschaften, sich auf ein ausschließlich idealistisch-symbolisches Verständnis von Kultur zu beschränken.
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„Denn als ein tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes – bezeichnen wir doch wohl dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat.“15
Bevor im folgenden Kapitel die wesentlichen Strömungen der kritischen Technikphilosophie dargestellt werden sollen, um zu zeigen, unter welchen Perspektiven der Technik fast durchweg kulturelles Potential abgesprochen, oder aber dieses als rein negatives charakterisiert wird, soll zunächst Georg Simmels Der Begriff und die Tragödie der Kultur in den Blick genommen werden, kann er doch als eine Art Ur- bzw. Modelltext der Technik- und Zivilisationskritik gelten. In diesem Text, der 1911 innerhalb von Simmels Essaysammlung Philosophische Kultur und zugleich im zweiten Jahrgang der Zeitschrift Logos erscheint, sind Simmels Reflexionen über den Konflikt der modernen Kultur, der allen voran im
13 Aristoteles: Nikomachische Ethik, 6. Buch. 14 Diese Grundlegung bedingt auch einen von der Moderne wesentlich divergierenden Begriff des technischen Fortschritts in der Antike. Innerhalb des antiken Wertehorizonts kann eine technische Neuerung nicht schon als Fortschritt gelten, nur weil sie eine Optimierung hinsichtlich der Lösungs- bzw. Ertragsmöglichkeiten darstellt, sondern fortschrittlich und damit wünschenswert ist nur, was der Stabilität der Polis, den Tugenden der Menschen und damit wiederum dem guten Leben zuträglich ist. 15 Simmel, Georg: „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, in: Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 411.
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massiven und rasanten Eindringen von Technik in alle Lebensbereiche gesehen wird, in komprimierter Form zu finden. Darüber hinaus beinhaltet der Text Simmels wesentliche Argumentationsstrukturen und Muster der Kritik, die auf die gesamte Geschichte der philosophischen Kulturkritik verweisen, und die vermittels der exemplarischen Analyse bereits in ihren grundsätzlichen Prinzipien dargelegt werden können. In Anlehnung an eine Formulierung Aby Warburgs könnte man sagen, dass Simmels Diktum von der „Tragödie der Kultur“ zu einer „Pathosformel“ der philosophischen Kultur- und der Technikkritik im speziellen geworden ist, die sowohl in nachfolgende Arbeiten aufgenommen als auch als Interpretationsmuster auf ältere Texte angewendet worden ist. Wie schon in der antiken Mythologie die Beherrschung und Ausbildung von Techniken als emanzipatives Moment zu lesen ist, vermittels dessen sich der Mensch von der Natur, in diesem Fall: von der Willkür der Götter, abzusetzen vermag, so setzt auch Simmels Text mit der These einer doppelten Ab- bzw. Entgegensetzung ein. Der erste Dualismus ist bedingt dadurch, „(d)aß der Mensch sich in die natürliche Begebenheit der Welt nicht fraglos einordnet, wie das Tier, sondern sich von ihr losreißt, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt […].“16 Das heißt, Simmel zufolge besteht die wesentliche Bedingung der Menschwerdung in der Fähigkeit, sich von seiner naturgegebenen Daseinsweise zu befreien, um seine Existenz zu einer höheren Stufe fortzuentwickeln. Innerhalb des menschlichen Geistes findet das dualistische Prinzip, das Simmel als anthropologische Grundkonstante definiert, nun seine zweite Instanz, wenn dieser, wie Simmel in lebensphilosophisch geprägtem Vokabular schreibt, jene Gebilde erzeugt, „die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt.“17 Diese geistigen Objektivationen sind für Simmel notwendiger Bestandteil des kulturellen Prozesses, den er als Bildungsgedanken aus der Perspektive des Subjekts herleitet und auf die Formel bringt: „Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit.“18 Das Subjekt muss den Weg über die geistigen Objektivationen nehmen, um sich zu einer höheren Stufe der Vollkommenheit hin entwickeln zu können. Das Scheitern dieses kulturellen Prozesses, mithin die „Tragödie der Kultur“, liegt nun nicht in der Existenz der geistigen Objektivationen an sich, sondern verbirgt sich in dem, was Simmel die Selbständigkeit dieser Objektivierungen nennt. Der Verweis auf die Selbständigkeit der geistigen Objektivationen weist auf den zentralen Gehalt von Simmels Gesellschaftsanalyse voraus, auf die aus Homers my-
16 Ebd., S. 385. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 387.
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thologischem Grundmuster bekannte These von der Dialektik des Mittels, das zwar für das Subjekt geschaffen ist, aber, wenn es sich nicht sogar direkt gegen dieses selbst wendet, sich doch zumindest dessen regulierender Kontrolle entzieht. Eben diesen Mechanismus fasst die Kritische Theorie unter dem Begriff der „Dialektik der Aufklärung“, einem Umschlag der Mittel, die entgegen ihrer ursprünglichen Zweckhaftigkeit in einem als selbsttätig wahrgenommen Prozess nicht nur einer vom Subjekt unabhängigen Dynamik anheimfallen, sondern darüber hinaus sich gegen die genuin mit ihnen verbundenen Interessen des Subjekts wenden. Traditionell wird die Konstatierung dieses Prinzips in der Technikkritik mit verschiedenen Spielarten der Verkehrung der Mittel gegen die Zwecke beschrieben, die Abkehr der technischen Mittel von den Belangen des Subjekts, die Abkehr von dem mithin, was Aristoteles als die Kopplung von phrónesis und techné definiert hat. Simmel fasst dieses, wie er schreibt, Auseinandergehen von subjektiver und objektiver Kultur näher, indem er die Unterscheidung von Sachwert und Kulturwert trifft. Unter dem Sachwert versteht Simmel den spezifischen Eigenwert der geistigen Objektivationen, der nicht zwingend mit seinem Kulturwert, d.i. der Verbindung von Eigenwert der Objektivation und ihrem Wert für die Fortentwicklung des Individuums zusammenfallen muss: „(S)o ist es auch der Bedeutung eines Geisteswerkes, eine so hohe oder so niedrige sie in ihrer eigenen Reihe sein mag, daraufhin noch nicht anzusehen, was dies Werk uns für den Weg der Kultur leisten kann. Denn hier kommt alles darauf an, daß jene spezielle Bedeutung des Werkes gleichsam den Nebenertrag hat, der zentralen oder allgemeinen Entwicklung der Persönlichkeiten zu dienen.“19
Innerhalb der geschichtlichen Entwicklung nun steigert sich nach Simmel der Sachwert der geistigen Objektivationen antiproportional zu ihrem Kulturwert, das heißt durch Spezialisierung und Ausdifferenzierung – vor allem bewirkt durch Prozesse der Arbeitsteilung und der Rationalisierung – erfahren die kulturellen Objektivationen zwar für sich eine Wertsteigerung, ihr Potential als Kulturwerte zur Steigerung von Individualität nimmt aber gegenläufig deswegen ab, weil sie eine formale Struktur angenommen haben, die für das Subjekt nicht mehr kommensurabel ist. Der Prozess der Kultivierung, der Simmel zufolge ein synthetischer, den Subjekt-Objekt-Dualismus überwindender sein muss, ist immer weniger zu realisieren und entwickelt stattdessen eine Dynamik, die selbst den basalen Entwicklungsbestrebungen des Subjekts entgegensteht. Bemerkenswert an diesem wohl berühmtesten Text Simmels ist grundsätzlich dreierlei. Zum einen mag Simmel zwar nicht von Technik im Speziellen sprechen,
19 Ebd., S. 399f.
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wenn er den für das Subjekt bedrohlichen Prozess der Kultur beschreibt. Simmel unterscheidet stattdessen – auch hier erkennt man seine enge Bindung an die Lebensphilosophie – zwischen der strömenden Lebendigkeit bzw. der subjektiven Seele und den davon unabhängig sich entwickelten Objektivierungen des Geistes. Was er dann allerdings historisch konkret als diese Objektivierungen beschreibt, sind einerseits Techniken, andererseits Rationalisierungs- und Arbeitsteilungsprozesse, so dass es legitim erscheint, seinen Begriff der geistigen Objektivationen als aus der Analyse der zunehmenden Technisierung der Gesellschaft, wie sie spätestens mit der zweiten Industriellen Revolution um sich gegriffen hat, hergeleitet zu verstehen. Zum zweiten changiert Simmel in seiner Argumentation zwischen einem ontologischen Befund, hinsichtlich des mit der Emanzipation von der Natur einsetzenden Entwicklungsprozesses menschlicher Gesellschaft, der sich notwendigerweise gegen die Subjekte selbst wende, also einer Daseinsanalyse. Die aber wird dann in eine konkrete Zeit- bzw. Moderneanalyse überführt, in der die Entfremdung der Kultur von ihrem eigentlichen Zweck – der Vollendung des Subjekts auf einer höheren Daseinsstufe – vornehmlich mit Massenproduktion und Arbeitsteilung begründet wird. In einer ins Positive gewendeten Variante betreibt Friedrich Dessauer diese Kopplung von historischem Befund und Ontologisierung, wenn er in der jeweiligen Technik einer Zeit die Realisierung des „Ding an sich“, die Versinnbildlichung ewig göttlicher Ideen in einer prästabilisierten Form der Entäußerung zu erkennen vermeint.20 Die Einsicht in die Inkonsistenz ebensolcher, zwischen aktuellem Befund und Wesensbestimmung sich bewegender und dadurch zumeist in letzter Konsequenz wenig überzeugender technikanalytischer bzw. -kritischer Untersuchungen, hat in jüngster Zeit verstärkt die Forderung der im Einleitungsteil vorgestellten Perspektive einer Hermeneutik der Technik aufkommen lassen, der zufolge die Wesensbestimmung der Technik durch die Konzentration auf ihre Wirkungsimplikationen und -potentiale abzulösen sei. Zum dritten ist an Simmels Text die vermeintlich strenge Apodiktik der Schlussfolgerungen, die sich bis in die formale Anlage des Textes fortschreibt, bemerkenswert. 21 Denn Simmels Arbeiten zeichnen sich ja grundsätzlich gerade da-
20 Dessauer, Friedrich: Philosophie der Technik. Das Problem der Realisierung. 21 Wie um das Unüberwindbare der geistigen Objektivationen vorzuführen, das umso mehr für die vollständig nach rationalen Prinzipien strukturierten und rationalen Zweckzusammenhängen dienenden technischen Objektivationen gelten mag, prägt die Form der Tragödie auch den Aufbau des Textes, dessen Argumentation sich in fünf Abschnitte gliedern lässt, auf dessen ansteigenden Spannungsbogen, vorbereitet durch die Akte eins und zwei, den Begriff und den Prozess der Kultur, im 3. Akt die Katastrophe, die eigentliche Tragödie der Kultur, ins Zentrum rückt. Hierauf folgt das retardierende Moment und
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durch aus, dass sie – in ihrer Skepsis gegenüber der systematischen Philosophie – die Eigenlogiken und unkontrollierbaren Dynamiken kultureller Objektivationen erörtern wollen, und dass Simmel ihnen im Zuge dessen das ästhetisch-assoziative Moment des Essayistischen zugrunde legt. Mit der Verwendung der TragödienFormel bedient sich Simmel aber hier nun des Modells einer kulturellen Objektivation, dessen Form nicht nur qua Tradition vollständig festgelegt ist, sondern das dadurch charakterisiert ist, dass die von ihm implizierte Entwicklungslogik, allen voran der katastrophische Ausgang, vollständig von eben diesen Formzwängen bedingt wird. Nicht nur Simmels Rede von der „Tragödie der Kultur“ wird meistenteils im Sinne einer solchen finalen Lesart rezipiert, sondern – argumentationslogisch zwangsläufig – ist technik- und damit zu ihrer jeweiligen Zeit modernekritischen Texten eigen, der Entwicklung des Technischen nicht nur aktuelles Krisenpotential, sondern darüber hinaus eine teleologische Prozessualität zu unterstellen, die auf ein Szenario des Kollaps zuläuft. Wenn Ernst Cassirer, dessen philosophische Reflexionen deshalb eine Sonderstellung einnehmen, weil sie immer bemüht sind, die positiv-produktiven Dimensionen eines Problemgehalts herauszuarbeiten, in der Auseinandersetzung mit Simmel zu dem Schluss kommt, sinnvoller Weise sollte die These von der „Tragödie der Kultur“ durch die vom „Drama der Kultur“ ersetzt werden, mithin durch die von der finalen Katastrophe befreite Prozessualität, dann basieren Cassirers Überlegungen auf einer Perspektivverschiebung dahingehend, dass der Vorgang des immer wieder erneuten und veränderten Aneignens der geistigen Objektivationen bzw. auch dessen mögliches Scheitern zum Ausgangspunkt der Betrachtung wird. 22 Cassirer erklärt hier, wie in seiner Philosophie der symbolischen Formen überhaupt, die medialen Eigenschaften der gesellschaftlichen Entäußerungen zum wesentlichen Aspekt, schlussendlich eine Lesart, die auch richtungsweisend für die Thesenentwicklung dieser Arbeit sein wird. Cassirer argumentiert in seiner Auseinandersetzung mit Simmels Diktum von der „Tragödie der Kultur“ trotz dieser Transformation der Begrifflichkeiten im Sin-
schließlich, zum Ende, das Resümee, in dem die notwendig katastrophische Finalität des kulturellen Prozesses bilanziert wird. 22 „Jetzt erst zeigt sich, welcher Lösung die ‚Tragödie der Kultur‘ fähig ist. [...] Denn so bedeutsam, so gehaltvoll, so fest in sich selbst und in seinem eigenen Mittelpunkt ruhend ein Werk auch sein mag: es ist und bleibt doch nur Durchgangspunkt. Es ist kein ‚Absolutes‘, an welches das Ich anstößt, sondern es ist die Brücke, die von einem Ich-Pol zum andern hinüberführt. Hierin liegt seine eigentliche und wichtigste Funktion. Der Lebensprozeß der Kultur besteht eben darin, daß sie in der Schaffung derartiger Vermittlungen und Übergänge unerschöpflich ist.“ Cassirer, Ernst: Die „Tragödie der Kultur“.
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ne Simmels. Fasst dieser doch in der Einleitung zur Essaysammlung Philosophischen Kultur, innerhalb derer Der Begriff und die Tragödie der Kultur erscheint, das philosophische Denken im Bild vom Schatz im Acker, der nicht als solcher gefunden werden könne, sondern der durch fortwährend suchendes Graben – durch das der Acker reichere Früchte trage – sich erst konstituiere. 23 Entsprechen heißt es in Simmels Der Konflikt der modernen Kultur, es sei ein philiströses Vorurteil zu glauben, alle Konflikte und Probleme seien dazu da, gelöst zu werden. Wie das Prozessuale des philosophischen Denkens als Wert an sich über die Summierung von letzten Erkenntnisgehalten zu stellen ist, so ist es auch das Prozessuale, das den Entwicklungsgang der Gesellschaft ausmacht, wobei dieses eben durch eine intervallartige Struktur gekennzeichnet ist: die strukturellen Erfahrungen von Krise – als Erfahrung des vermeintlichen abschließenden Niedergangs – und Neuanfang. Entsprechend schreibt Simmel in Der Konflikt der modernen Kultur aus dem Jahr 1918: „Der fortwährende Wandel der Kulturinhalte, schließlich der ganzen Kulturstile, ist das Zeichen oder vielmehr der Erfolg der unendlichen Fruchtbarkeit des Lebens, aber auch des tiefen Widerspruchs, in dem sein ewiges Werden und Sich-Wandeln gegen die objektive Gültigkeit und Selbstbehauptung seiner Darbietungen und Formen steht, an denen oder in denen es lebt. Es bewegt sich zwischen Stirb und Werde – Werde und Stirb.“24
Der Topos von der „Tragödie der Kultur“ wird in dieser Perspektive zum Ausdruck der Aktualität einer solchen Krisenerfahrung, zum anderen wird er als rhetorisches Moment eingesetzt, vermittels dessen die Reflexion über die – nicht zu leugnenden – Gefährdungspotentiale des subjektiv Individuellen und seiner Entfaltungsmöglichkeiten in Gang gehalten werden soll und muss. 25
23 „In einer Fabel sagt ein Bauer im Sterben seinen Kindern, in seinem Acker läge ein Schatz vergraben. Sie graben daraufhin den Acker überall ganz tief auf und um, ohne den Schatz zu finden. Im nächsten Jahre aber trägt das so bearbeitete Land dreifache Frucht. Dies symbolisiert die hier gewiesene Linie der Metaphysik. Den Schatz werden wir nicht finden, aber die Welt, die wir nach ihm durchgraben haben, wird dem Geist dreifache Frucht bringen – selbst wenn es sich in Wirklichkeit etwa überhaupt nicht um den Schatz gehandelt hätte, sondern darum, daß dieses Graben die Notwendigkeit und innere Bestimmtheit unseres Geistes ist.“ Simmel, Georg: „Philosophische Kultur“, in: Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 166f. 24 Ders.: „Der Konflikt der modernen Kultur“, in: Gesamtausgabe, Bd. 16, S. 184. 25 Die Rhetorik Simmels variiert in der Beschreibung der tragischen Verfasstheit der Kultur verschiedene Topoi der Erstarrung, der Festigkeit, des Geronnenseins und korrespondiert
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Es ist sicher eine nicht zu unterschätzende Qualität von technikkritischer Philosophie insgesamt, Problemfelder des Gesellschaftlichen zu markieren und zu analysieren. Weniger gewinnbringend ist hingegen ihre Trennung zwischen der Sphäre der Kultur – als geistig emotionaler Fortentwicklung des Menschen über äußere Wertmuster – und derjenigen der Technik, die entweder gar nicht oder aber nur verhindernd destruktiv in diesen Entwicklungszusammenhang einbezogen wird. Ein solcher Umgang mit den Konstellationen einer von Technik strukturierten Gesellschaft verstellt die Einsicht in die tiefgreifenden und umfassenden Leistungen des Technischen in anthropologischer und kultureller Hinsicht. Simmel ist von diesem Vorwurf in gewisser Weise freizusprechen. Erstens deshalb, weil sich seine Kritik nicht auf das Technische allein bezieht, sondern die von ihm diagnostizierten Gefährdungspotentiale, denen sich das Individuum ausgesetzt sieht, das Arsenal der Objektivierungen im Ganzen umfassen. Grundsätzlich nimmt er keine Trennung zwischen technischen Erfindungen und beispielsweise dem religiösen Ritual vor. Zweitens erklärt Simmel in seiner Begriffsbestimmung der Kultur, die er im ersten Teil von Der Begriff und die Tragödie der Kultur vornimmt, diese nicht nur zur anthropologischen Grundkonstante, zu dem Moment, das den Menschen ein selbstbewusstes, intelligibles und autonomes Wesen werden lässt, sondern darüber hinaus wird der Prozess der Kultur als notwendig doppelsträngig definiert, denn die geistigen Objektivierungen fungieren in ihren Sinn und Werte stiftenden Funktionen als unabdingbare zweite Hälfte im kulturellen Prozess. Simmel, und darin ist er den meisten der im Folgenden zu betrachtenden theoretischen Auseinandersetzungen voraus, veranschlagt insofern einen weiten Begriff der Kultur, und man kann – wenn man die vermeintlich fixierte Begrifflichkeit in vorliegendem Text als eine bewusst eingesetzte Rhetorik interpretiert – sogar so weit gehen, in ihm zumindest die Anlage zu einer Wendung von einer Wesens- hin zu einer Wirkungsanalyse zu erkennen. Diese wirkungszentrierte Perspektive wiederum würde darauf verweisen, dass die Erfahrung des sich verschärfenden Fehlgehens des kulturellen Prozesses durch die Ausdifferenzierungen und Spezialisierungen der geistigen Objektivationen, wie sie insbesondere in der Ausbildung des technisierten Gesellschaftsapparats am Umbruch zum 20. Jahrhundert zu verzeichnen sind, tatsächlich eine solche ist: Eine Erfahrung sozialer Krisenhaftigkeit, die aber keinen ontologischen Befund liefert, sondern vielmehr Ausdruck ist für die Konfrontation mit bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen, die in der Sphäre des Technischen besonders umfassend und prägnant sind. Die aber – und das ist das Entscheidende – in einem Verfahren der Gewöhnung und Kompensation wieder auf ein mittleres Niveau einpendelt, bis sie,
darin mit einer der maßgeblichen Diskursformationen in der literarischen Aneignung von technischen Objekten und Zusammenhängen.
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im Zuge neuer gesellschaftstechnischer Umgestaltungsprozesse, in einer Form des Zyklischen wieder mit eben diesem Absolutheitsanspruch, wie er sich in der Formel von der „Tragödie der Kultur“ niederschlägt, erneut akut wird. Ein Drama der Kultur, das die Tragödien-Prognose zu seinem immer wiederkehrenden Selbstbeschreibungsmodell macht.
II. Perspektiven der Technikphilosophie
Lexika neueren Datums weisen zumeist drei Bedeutungsebenen des Begriffs Technik aus: zum einen die Gesamtheit der Einrichtungen und Verfahren zur Erschließung und Nutzung der natürlichen Stoff- und Energiequellen im Dienste einer Verbesserung der Lebensumstände des Menschen; zum zweiten die lehrbaren Methoden und Arbeitsweisen auf einem bestimmten Gebiet; und schließlich das virtuose, Kunstfertigkeit voraussetzende Erzielen bestimmter Leistungen. In Philosophie, Soziologie und den Gesellschaftswissenschaften insgesamt findet man nun verschiedenste Differenzierungen und Perspektivierungen des Technikbegriffs, die an dieser Stelle kaum hinlänglich und umfassend dargestellt werden können.1 Die Bandbreite des Begriffs reicht vom griechischen techné bis zu Max Webers weitem handlungstheoretischen Technikbegriff, der noch nicht zwingend denjenigen der Zweckrationalität einschließt, sondern sich erst im geschichtlichen Prozess in diesen transformiert, und demzufolge Technik die Mittel und Operationen aller menschlichen Handlungen bezeichnet, unabhängig vom jeweiligen Zweck der Handlungen und unabhängig von dem Gegenstand, auf den sich die Handlungen beziehen. 2 Sie umfasst Heideggers Konzept der „Entbergung“3 ebenso wie Rapps in
1
Häufig mit dem Technikbegriff in eins genommen wird der Begriff der „Technologie“. Günter Ropohl dagegen verweist auf die unbedingt gebotene Trennung der beiden Begriffe wie ihrer Bezugsbereiche. „Während also Technik einen bestimmten Bereich der konkreten Erfahrungswirklichkeit bezeichnet, meint ‚Technologie‘ die Menge wissenschaftlich systematisierter Aussagen über jenen Wirklichkeitsbereich, sprachphilosophisch formuliert, ist ‚Technik‘ ein ‚objektsprachlicher‘, ‚Technologie‘ dagegen ein metasprachlicher Ausdruck.“ Ropohl, Günter: Technologische Aufklärung, S. 23.
2
„‚Technik‘ eines Handelns bedeutet uns den Inbegriff der verwendeten Mittel desselben im Gegensatz zu jenem Sinn oder Zweck, an dem es letztlich (in concreto) orientiert ist, ‚rationale‘ Technik eine Verwendung von Mitteln, welche bewußt und planvoll orientiert ist an Erfahrung und Nachdenken, im Höchstfall der Rationalität: an wissenschaftlichem
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Anlehnung an Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld formuliertes Verständnis der Realtechnik4 und Hörnings Definition vom „funktionsgeladene(n) Artefakt“5. Wenn im Folgenden nun die Perspektiven der Technikphilosophie in ihren Grundzügen nachgezeichnet werden, kann es mithin nicht annährend um den Anspruch von Vollständigkeit gehen. Vielmehr soll das Verhältnis von dem, was jeweils als Technik verstanden wird, zu den entsprechenden individuellen und kulturellen Verfassungen der Gesellschaft und deren Entwicklungsmöglichkeiten im Fokus der Darstellung liegen.6 Auf diese Weise soll als etwas Grundsätzliches ausgewiesen werden, was im vorangegangenen Kapitel bereits exemplarisch und symptomatisch dargestellt worden ist: Dass die Bedeutungspotentiale von Technik im gesellschaftlichen Kontext in einem Großteil der Positionen entweder als negative dergestalt bewertet werden, dass sie zwar einen Fortschritt im Sinne der Akkumulation von Gütern und Handlungsmöglichkeiten gewährleisten, dass aber ihre Wirkung auf die individuelle und gesamtkulturelle Konstitution als eine beschädigende, und nur in einem bestimmten Maße zu kompensierende, wahrgenommen wird. Das heißt, Wirkung wird im Zusammenhang mit Technik allenthalben nur als Nebenwirkung identifiziert, was auf den Aspekt des in der eigentlichen Anlage nicht Intendierten und den des unerwünscht Unangenehmen verweist. Selbst dort, wo eine rein negative Einschätzung der Wirkung überwunden ist, werden die produktiven Zusammenhänge von Technik und Kultur viel zu wenig beachtet. Trotz der zahlreichen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen des Technischen und trotz der überwiegenden Einsicht darin, dass es sich bei der Entwicklung von Technik und technischen Handlungsvollzügen um eine, wenn nicht um die entscheidende Grundbedingung des Menschseins handelt, wird also die eigentliche Kultur und kulturelle Identität stiftende Bedeutung von Technik übersehen bzw. zu niedrig veranschlagt.
Denken. Was in concreto als ‚Technik‘ gilt, ist daher flüssig: [...].“ Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, S. 32. 3
„Die Technik ist also nicht ein bloßes Mittel. Die Technik ist eine Weise des Entbergens. Achten wir darauf, dann öffnet sich uns ein ganz anderer Bereich für das Wesen der Technik. Es ist der Bereich der Entbergung, d.h. der Wahrheit.“ Heidegger, Martin: „Die Frage nach der Technik“, in: Die Technik und die Kehre, S. 12.
4
Rapp, Friedrich: Analytische Technikphilosophie, insbesondere S. 43.
5
Hörning, Karl H.: „Technik im Alltag und die Widersprüche des Alltäglichen“, in: Joer-
6
Zur Geschichte der Technikphilosophie vgl. u.a. Fischer (1996), Fischer (2004), Rapp
ges, Bernward (Hg.): Technik im Alltag, S. 54. (1990), sowie, als Kompendium von Analysen bedeutender Einzelwerke der Technikphilosophie, Hubig/Huning/Ropohl (2000).
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Die hier zugrunde gelegten Perspektiven der modernen Technikkritik lassen sich wie folgt zusammenfassen: Zum einen wird Technik als Überformer bzw. sogar als Zerstörer traditioneller Kulturwerte gesehen, ohne dabei selbst in irgendeiner Form sinnstiftend zu sein. Zum zweiten trifft man auf Vertreter der Position, die zwar einräumen, dass der Technik selbst sinnstiftendes Potential zugesprochen werden muss, dieses dann aber einzig als negative Werte produzierend verzeichnen. Und schließlich, vorzugsweise in der Technikkritik des 20. Jahrhunderts, wird der Akzent auf die ideologische Wirkung von Technik gelegt, die in ihrer herrschaftslegitimierenden und -stabilisierenden Funktion bestehe. Die unter die erste Gruppe zu subsumierenden Positionen nehmen dabei sicher den größten Raum ein, wenn auch – und darin besteht die inhärente Ironie dieser Perspektive – unter der Überschrift „Kulturverlust“ die kulturellen Effekte der Technik nicht nur zur Sprache kommen, sondern zum Teil sehr präzise in ihren Wirkungen beschrieben werden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang zudem, dass die Kritik der Technik politisch ambivalent, das heißt lagerübergreifend in dem Sinne ist, dass sowohl die Vertreter linker wie rechter Provenienz zumeist auf dieselben Argumentationsmuster zurückgreifen und dieselben gesellschaftlichen Konstellationen beschreiben, um schließlich zu denselben Schlussfolgerungen zu kommen, wenn es darum geht, das von den Auswirkungen der Technik verursachte Gefährdungspotential für den kulturellen Korpus zu markieren. So überschneiden sich in dieser Hinsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beispielsweise die marxistischen Positionen von Horkheimer und Adorno mit denen konservativer Kulturkritik à la Spengler und Gehlen. In der These von der Technik als herrschaftsmanifestierender Ideologie schließlich, zumeist etwas irreführend unter dem Titel „Technokratiedebatte“ verzeichnet, stimmen die Frankfurter Schule unter der Federführung von Jürgen Habermas mit den Vertretern der vor allem mit dem Namen Schelsky verbundenen, konservativ ausgerichteten Leipziger Schule überein – natürlich, das versteht sich, uneingestandenermaßen.7
7
So vertritt Habermas in seinem Aufsatz „Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘“ ganz offensichtlich Positionen und Argumente, die bereits in Schelskys Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation zu finden sind, ohne sich in einer entsprechenden Form auf diesen zu beziehen. Nur an einer einzigen Stelle verweist Habermas auf Schelskys Arbeit und zitiert nicht nur den Titel falsch, nämlich als „Der Mensch in der technischen Zivilisation“, sondern rückt sie darüber hinaus in einen irreführenden Zusammenhang, wenn er sie unter dem Schlagwort „Technokratie“ subsumiert. Anstelle dessen gibt Habermas an, sich auf Marcuse und Weber zu beziehen und sich ferner mit Marx auseinander zu setzen.
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1. D IE A NFÄNGE DER NEUZEITLICHEN T ECHNIKPHILOSOPHIE Die neuzeitliche Herausbildung der modernen Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert bedingt einen grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse. Das Aufbrechen überkommener Bindungen und die forcierte Etablierung rationaler Denkformen verlangt eine geistig-organisatorische Neuordnung des sozialen Raums, vor allem aber müssen auch die Koordinaten im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft neu ausgelotet werden. Dass diese Wandlungsprozesse, die ja immer auch Auflösungsprozesse sind, vielfach als universale Gefährdungen – für das Individuum und für die sozialen Strukturen insgesamt – wahrgenommen werden, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die fortschrittskritischen Stimmen, die zu dieser Zeit verstärkt laut werden, zumeist nicht nur die Rationalisierungen, wie sie nach heutigem Verständnis den wissenschaftlich-technischen Fortschritt bestimmen, zum Gegenstand ihrer Kritik machen, sondern auch die Ausbildung und methodische Perfektionierung in den schönen Künsten unter das Paradigma der den traditionellen bzw. natürlichen Daseinsweisen entgegenstehenden Entwicklungen stellen. Das heißt, was in der modernen Rezeption unter das Schlagwort der Technikkritik subsumiert wird, schließt, genau wie die antike Philosophie, inhaltlich Aspekte ein, die späterhin gerade als Gegenpol zum technischen Fortschritt im engeren Sinn gelten werden. Bemerkenswert ist zudem, dass die neuzeitliche Technikphilosophie gerade in ihren Anfängen durchaus Positionen aufweist, die dem Ausbau technischer Mittel und Strukturen positiv gegenüberstehen und darin neben der Kontrolle der Naturkräfte auch die Quelle neuer Selbst- und Weltdeutungen, und nicht zuletzt eine der menschlichen Autonomie förderliche Kraft, erkennen. So begründet, dem spätmittelalterlichen Theologen und Philosophen Nikolaus von Kues (1401-1464) zufolge, technisches Handeln und technische Kreativität ein vollständig verändertes Weltverständnis, indem die seit Thomas von Aquin maßgebliche Vorstellung vom „procedere secundum imaginationem“ (Vorgehen gemäß der göttlichen Schöpfung) als der von einer göttlichen Macht im Weltgeschehen Verortete von der Anerkennung des Menschen als selbständigem Konstrukteur seines Standpunkts im weltlichen Zusammenhang abgelöst wird. Wenn Nikolaus von Kues mit dieser Einschätzung der emanzipatorischen Potentiale der Technik für die Vorbereitung des neuzeitlichen Technikverständnisses grundlegend wird, dann sind insbesondere seine Ausführungen über das Verhältnis von Wahrnehmung- und Denkkonfigurationen des Menschen in Abhängigkeit von technischen Strukturen in ihrer Differenz zu einem Gros der modernen technikkritischen Positionen von Bedeutung. Für von Kues ist die Überzeugung leitend, dass es die, wie er es nennt, „Verstandesseele“ ist, die die Werkzeuge, mit denen die Welt erschlossen und be-
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messen wird, schafft und ihren eigenen Strukturen entsprechend formt, und nicht umgekehrt, dass sich diese nach den Bedingungen des Technischen zu richten habe.8 Im Gegensatz dazu gründet sich bei einem Großteil der nachfolgenden technikkritischen Stimmen der Ansatz der Argumentation umgekehrt gerade darauf, dass das Technische – und das in naturwidriger und damit schädlicher Art und Weise – Einfluss auf die kognitiven und rezeptiven Eigenschaften des Menschen habe. 9 Entscheidender noch als mit Nikolaus von Kues sind die Anfänge der neuzeitlichen Technikphilosophie mit dem Namen Francis Bacon (1561-1626) verbunden. Bacon formuliert richtungsweisend den neuzeitlichen Wandel des religiösen und mythischen Weltbildes, das dem Menschen ein neues Selbstbewusstsein zuerkennt, indem er ihn als Werkmeister der Welt dem schöpferischen Prinzip Gottes annähert. So schließt Bacon das Prinzip göttlicher Finalität aus der Naturerklärung aus und erhebt stattdessen die Nutzung von kausalen Beziehungen als technische Regeln zum Programm. 10 Der auf ihn zurückgehende „Baconismus“ wird in der Folge als kompromisslos verstandener technischer Positivismus zu Konterpart und Abgrenzungsfolie der technikkritischen Stimmen schlechthin. Grundlegend hierfür ist die Erweiterung des Naturbegriffs, die Bacon vornimmt, wenn er das Machbare mit dem Begriff des Natürlichen gleichsetzt, um im Zuge dessen die Naturgesetze mit den Regeln technischer Herstellung zu identifizieren.11 Die Überlegungen Bacons sind gekennzeichnet durch einen universellen Fortschrittsoptimismus: „Gott segne dich, mein Sohn! Ich werde dir das größte Juwel darreichen, das ich habe. In Ansehung der Liebe Gottes und der Menschen will ich dir einen Bericht über den wahren Sachverhalt des Hauses Salomon geben. […] Der Zweck unserer Gründung ist es, die Ursachen
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„Die Seele erschafft durch ihre Erfindung neue Werkzeuge, um zu unterscheiden und zu erkennen, wie Ptolemäus das Astrolabium, Orpheus die Leier usf. Die Erfinder haben das nicht aus etwas Äußerem erschaffen, sondern aus ihrem eigenen Geiste. [...] So sind das Jahr, der Monat, die Stunde vom Menschen geschaffene Werkzeuge der Zeitmessung. Und so ist die Zeit, da sie das Maß der Bewegung ist, Werkzeug der messenden Seele. Der Wesensgrund der Seele hängt also nicht von der Zeit ab, sondern der Wesensgrund des Bewegungsmaßes, das Zeit genannt wird, hängt von der Verstandesseele ab.“ Nikolaus von Kues: Gespräch über das Globusspiel, S. 74.
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Eine Ausnahme bildet in dieser Reihe die Theorie der Organprojektion, die Ernst Kapp in seiner 1877 veröffentlichten Arbeit Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten entwickelt hat, in der eher die Ansätze von Cusanus wieder aufgenommen werden.
10 Vgl. insbesondere Bacon, Francis: Das neue Organon, [I,3] und [II,2]. 11 Vgl. ebd., (1620), Teil II, Aph. X.
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und Bewegungen sowie die verborgenen Kräfte in der Natur zu ergründen und die Grenzen der menschlichen Macht so weit wie möglich auszudehnen.“12
Zur bekanntesten Schrift Bacons ist seine Sozialutopie Neu-Atlantis geworden, in der ein Bericht von fiktiven Wunderdingen, die durch die Verfügbarmachung der Natur durch Technik geschaffen werden konnten, zum Erlösungsversprechen der Gesellschaft wird. 13 Im Gegensatz zu dem Theologen Nikolaus von Kues, der Technik immer an Selbstbescheidung gebunden wissen will, stellt Bacon den menschlichen Machtgewinn als Versprechen ins Zentrum seiner visionären Gesellschaftsschau. 14 Dieser Entwurf einer künftigen Gesellschaft, wie ihn Bacon in NeuAtlantis vornimmt, ordnet sich – was bis in den rhetorischen Aufbau des Textes hinein reicht – nach den Strukturprinzipien des Technischen bzw. dessen fortwährender Entfaltung und Progression. Die Dimensionen von Moral und Sittlichkeit hingegen finden in diesem Fortschrittsoptimismus keine Beachtung. Diskutiert werden im Zusammenhang mit dieser vermeintlichen Nichtbeachtung des Ethischen zwei Äußerungen Bacons. Zum einen geht es um die berühmte Aussage, der zufolge man „Herr über die Natur wird, indem man ihr gehorcht“.15 Uneinigkeit herrscht darüber, ob es sich dabei um eine eher als pragmatisch zu wertende Anweisung handelt, der zufolge die Verfügbarmachung der Natur nur gelingen kann, wenn man ihre Gesetze kennt und in produktiver Form in seinem Sinne zu nutzen weiß. Oder aber, ob es sich um eine, die moderne Technikfolgeabschätzung vorwegnehmende Mahnung zum schützend bewahrenden Umgang mit derselben
12 Bacon, Francis: Neu-Atlantis, S. 40-50. 13 Technik hatte, auch wenn Bacon wiederholt von einer Verbindung von Technik und Wissenschaft spricht, zu dieser Zeit den Charakter hoch entwickelter Handwerkskunst, ihre Verwissenschaftlichung ist erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts anzusetzen. 14 Auch der italienische Rechts- und Geschichtsphilosoph Giambattista Vico (1668-1744) warnt, wie Nikolaus von Kues, vor der Selbstüberschätzung des Menschen aufgrund seiner Erfolge auf dem Gebiet der Technik, wenn er auch das Nutzbringende des technischen Fortschritts durchaus zu würdigen weiß. Ihm geht es vielmehr darum, die mit der Technik einhergehenden Einbußen nicht zugunsten ihrer Verabsolutierung zu übersehen. Weist er zum einen darauf hin, dass technisch-rationale Methoden nicht geeignet sind, wenn es darum geht, kulturelle Zusammenhänge zu verstehen, so verschärft er diese Diagnose in eine der Nivellierung von Kultur durch Technik. Als Beispiel führt er die Technik des Buchdrucks an, der auf der einen Seite zwar eine Verbreitung des Wissens fördere – also vordergründig im Sinne der Kultur wirke –, auf der anderen Seite aber für einen Niedergang des Niveaus des Wissens verantwortlich ist, weil durch den Anstieg der Produktionsmöglichkeiten auch populistisch mittelmäßiges Wissen in Umlauf gerate. 15 Bacon, Francis: Novum organum scientiarium, I. Aph., S. 3.
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handelt, was aber mit Blick auf die grundsätzliche Ausrichtung der Baconschen Argumentation zumeist für wenig wahrscheinlich erachtet wird. Zum zweiten divergieren die Einschätzungen über Bacons Anweisung über die Abwägung der Veröffentlichung technischer Erkenntnisgewinne. „Es ist bei uns üblich, daß wir Beratungen darüber abhalten, welche Erfindungen und Entdeckungen, die wir gemacht haben, veröffentlicht werden sollen und welche nicht.“16 Kann diese Beratung einerseits als Modell gewertet werden, das dafür bürgt, dass die moralischen Prinzipien doch auf die Sphäre des Technischen übertragen werden, indem im Sinne einer Verantwortungsethik die technischen Neuerungen, bevor die Gesellschaft mit ihnen konfrontiert wird, auf ihre Konvergenz mit den ethischen Belangen dieser Gesellschaft überprüft werden, so dominiert auch hier die Einschätzung, dass Bacon mit diesem Konzept vielmehr eine Form der Diktatur der Technik durchzusetzen sucht. Bacon veranschaulicht im Anschluss an den mit der Technik verbundenen Machtgedanken als Erster den Gedanken einer Überführung politischer Herrschaftspraxis in wissenschaftliche basierte Sachherrschaft, einen Mechanismus, der – mit umgekehrten Vorzeichen – die Basis für die technikkritischen Gesellschaftsanalysen sowohl Habermas’ als auch Schelskys darstellen wird. Das Problem der Moral wird im Zusammenhang mit Bacon deshalb immer wieder diskutiert, weil man ihm vorwirft, zugunsten eines reinen Forschrittsoptimismus ihre Notwendigkeit im sozialen Gefüge auszublenden. Mithin, so das allgemeine Credo, schließen Bacons technologische Utopien einzig äußerlich materiale Strukturen ein, während die Aspekte des Kulturellen – in diesem Fall die Dimensionen der Moral –, die Reflexion über die Vereinbarkeit von technischen Neuerungen mit den individuellen und intersubjektiven Lebensweisen einer Gesellschaft bzw. die Einflüsse des Technischen auf diese keinerlei Beachtung finden. Das aber wird der entscheidende Referenzpunkt sein, um den sich die technikkritischen Stimmen gruppieren. Noch im Jahr 1912 schreibt Julius Goldstein über Bacon und seine Nachfolger: „Der Baconismus hat zwei Dinge nicht in Rechnung gezogen: 1. Neue Erfindungen erzeugen selbst immer neue Probleme. 2. Der Vervollkommnung der Technik geht nicht eine sittliche Vervollkommnung des Menschen parallel, während tatsächlich mit gesteigerter Technik höhere Anforderungen an die sittliche Kraft des Menschen gestellt werden müssen. […] je mehr wir an Macht über das einzelne des technischen Prozesses gewinnen, wir an Macht über das Ganze verlieren.“17
In den frühen Gesellschaftsanalysen eines der wichtigsten Kulturtheoretikers und Zivilisationskritikers seiner Zeit, Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), findet sich
16 Ders.: Neu-Atlantis, S. 49. 17 Goldstein, Julius: Die Technik, S. 12f. und S. 69.
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eine weitaus kritischere Haltung dem technischen Fortschritt gegenüber. Indem Rousseau der Technik generell eine negative Einflussnahme auf die moralischen Wertsphären und Verhaltensnormen der Gesellschaft attestiert, wird er auf lange Sicht zum wirkungsmächtigen Kritiker von technischem Fortschritt und Zivilisation.18 Beachtenswert an Rousseaus Auseinandersetzung mit den Bedingungen des zivilisatorischen Fortschritts ist, dass sie lebensgeschichtlich unmittelbar mit seiner Übersiedlung nach Paris und der geradezu schockartig erfahrenen Konfrontation mit einer für die damaligen Verhältnisse einzigartigen Form urbaner Strukturierung und Normierung verbunden ist, die für Rousseau nicht nur Indikator für eine äußere Überformung des Lebens wird. Er kommt vielmehr auch zu der Überzeugung, dass eine ebensolche innere Überformung damit verbunden sei. Als er 1749 von der durch die Akademie zu Dijon ausgeschriebene Preisfrage nach dem Verhältnis der Renaissance der Wissenschaften und der Künste und der Entwicklung erfährt, wird die Auseinandersetzung mit diesem Problemkomplex zu einem wegweisenden Initial seines Frühwerks.19 Rousseaus Dijon-Beitrag mündet in der These von einer Kausalität der Renaissance der Wissenschaften und der Künste einerseits und einem allgemeinen Sittenverfall andererseits.20 In dem Bewusstsein, „dasjenige, was heute die Welt bewundert, herunterzusetzen“21 – gemeint ist der technische Fortschritt – gründet seine
18 Vgl. hierzu u.a. Starobinski, Jean: Rousseau. Eine Welt von Widerständen, insbesondere S. 39-43. 19 Rousseau schreibt, allerdings erst dreizehn Jahre später, an Malesherbes über das so genannte „Dijon“- oder auch „Vincennes-Erlebnis“: „Ach, mein Herr, wenn ich jemals den vierten Teil alles dessen, was ich unter diesem Baume gesehen und empfunden habe, hätte niederschreiben können, mit welcher Deutlichkeit hätte ich alle Widersprüche des gesellschaftlichen Systems gezeigt, mit welcher Kraft hätte ich alle Mißbräuche unserer Einrichtungen dargestellt, mit welcher Einfachheit hätte ich gezeigt, daß der Mensch von Natur gut ist, und daß es lediglich von ihren Einrichtungen herrührt, wenn die Menschen böse werden. Alles, was ich von dieser großen Menge Wahrheiten behalten habe, die mich eine Viertelstunde unter diesem Baum erleuchteten, ist sehr schwach in meinen Hauptschriften verstreut erschienen, [...].“ Rousseau, Jean-Jacques: „Zweiter Brief an Malesherbes vom 12. Januar 1762“, in: Schriften, Bd. 1, S.481. 20 Rousseau wurde für seine negative Einschätzung mit dem Hauptpreis ausgezeichnet, und auch der Nebenpreis ging mit Jean-Pierre Grosley an einen Bewerber, der den Sittenverfall zum Resultat seiner Reflexionen erhob. 21 Rousseau, Jean-Jacques: „Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste“, in: Ders.: Schriften, Bd. 1, S. 29. Der vollständige Titel der Schrift Rousseaus lautet: „Ab-
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Argumentation auf der Annahme eines sozialen Kompetenzverlusts durch die Entlastungsfunktion, die die Einführung von Techniken als neuer Organisations- und Gestaltungsmodi des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit sich bringt: „Wo keine Wirkung ist, da ist auch keine Ursache zu suchen: hier aber ist die Wirkung gewiß und das Verderben augenscheinlich, unsere Seelen sind in dem Maße verdorben, in dem unsere Wissenschaften und Künste vollkommener geworden sind.“22
Dieser Kompetenzverlust wird Herd von Egoismus, Ungleichheit und Konkurrenzkampf und damit gleichsam Anzeichen und Beförderungsmittel des Zerfalls der Gemeinschaft. Rousseaus technikkritische Argumentation beruht mithin auf der Annahme einer Inkongruenz von technischer und ethischer Kompetenz. Auf diese Argumentation wird in der Nachfolge Rousseaus die Fortschritts- und Technikkritik immer wieder zurückgreifen. Je umfassender die Gesellschaftskonstitution an technische Prinzipien gebunden ist, und umso mehr der stetige Fortschritt an wissenschaftlicher und technischer Kompetenz nicht zu leugnen ist, desto ausdrücklicher wird auf die auch unter dem Namen „Kontraproduktivitätsthese“ kursierende Argumentation vom Auseinanderfallen von technischer und ethischer Kompetenz verwiesen. Bilanziert wird in der Folge, dass der technische Fortschritt der individuellen und damit der kulturellen Entwicklung mehr schade als nutze, oder, wie Rousseau es formuliert, die „menschliche Glückseligkeit“ nicht fördern könne.23 Von der Forschung und rückblickend auch von Rousseau selbst ist seine Antwort auf die Preisfrage von Dijon verschiedentlich aufgrund ihrer philosophischsystematischen Unschärfe kritisiert worden. Tatsächlich lebt sie, wie schon Rousseaus Schilderung des „Dijon-Erlebnisses“, über weite Strecken mehr durch ihre emphatische Rhetorik denn durch eine argumentative Beweisführung. So begründet Rousseau etwa seine These von der Verderbtheit der Sitten durch die technischen Neuerungen im Wesentlichen mit den ihm zufolge unlauteren Entstehungszusammenhängen dieser Mittel selbst: „Die Astronomie entstand aus dem Aberglauben; die Beredsamkeit aus dem Ehrgeiz, dem Haß, der Schmeichelei und der Lüge; die Meßkunde aus dem Geiz; die Naturlehre aus einer
handlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat? Von einem Bürger Genfs“ (1750). 22 Ebd., S. 37. 23 Ders.: „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“, in: Schriften, Bd. I, S. 275.
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eitlen Neugierde, […]. Der Makel des Ursprungs zeigte sich nur zu sehr auch an ihren Gegenständen.“24
Diese Form der Rückschließung von den Entstehungszusammenhängen eines technischen Mittels auf dessen grundsätzliche Wesenheit wird gerade von den Vertretern der Postmoderne um Paul Virilio oder Jean Baudrillard wieder ins Feld geführt, wenn ihre technikkritischen Argumente sich vorderhand aus dem Verweis auf den militärischen Ursprung der Technologieentwicklung speisen. Gerade bei Virilio führt das zu Formulierungen, die bisweilen eine quasi-magische Belegung der Technik als das schlechthin Böse suggerieren wollen.25 Diese negative Korrelation von Fortschritt und Kultur will Rousseau nicht als Besonderheit seiner Zeit verstanden wissen, sondern er sieht darin einen den Techniken immanenten Mechanismus, der auf allen Entwicklungsstufen der Kultur – als ihr Widerpart – wirksam ist. Rousseau formuliert mit seiner Kritik eine Art früher Entfremdungstheorie, der zufolge die Möglichkeit der Ablösung von ursprünglichen psychisch-physischen Verhaltensweisen durch eine technische Ausreifung der Gesellschaft die gleichzeitige Auflösung eben dieser Dispositionen mit sich bringt. Hinsichtlich des für Rousseau zentralen Themas der Moral bedeutet dies, dass keine wirkliche Disziplinierung des Einzelnen mehr nötig ist, weil nun die fortschrittsbedingten äußeren Überformungen das Individuum, als zivilisiertes, in den gesellschaftlichen Zusammenhang eintreten lassen. Entsprechend hat das etwa für den Gesichtspunkt der Geschicklichkeit zur Folge, dass die Disziplinierung der individuellen Fähigkeiten parallel zur Ausbildung ausgefeilterer Methoden und einer bedienungsfreundlicheren Technik an Relevanz verliert. Ebenso wie der Ansatz Simmels beruht die Zivilisationskritik Rousseaus auf der Annahme des Prinzips einer Überformung und damit verbundenen Hemmung bzw. sogar Verkehrung genuin menschlicher Anlagen durch die Mechanismen des Fortschritts.
24 Ders.: „Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste“, in: Ders.: Schriften, Bd. 1, S. 45. 25 Die These der Wertneutralität, die diesen Einschätzungen entgegengesetzt wird, deren populärem Beispiel zufolge ein Messer sowohl zum Morden wie zum Brotschneiden oder Operieren eingesetzt werden kann, ist allerdings eine, die lediglich auf einfache Werkzeuge in ihren weitgehenden Polyfunktionalität angewendet werden kann. Mit der zunehmenden Spezialisierung der Technik, darüber ist sich die neuere Technikphilosophie einig, schränkt sich der Umfang der durch das technische Mittel realisierbaren Zwecke zunehmend ein.
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Unter „perfectibilité“, 26 einer Wortschöpfung Rousseaus, 27 versteht dieser die Eigenschaft des Menschen, sich über seinen ursprünglichen Zustand hinaus fortzuentwickeln, die ihm von Natur aus eigene Existenz in eine eigene Form zu überführen und damit zu einem vernünftigen und geschichtlichen Wesen zu werden. Es handelt sich dabei um die anthropologische Grundkonstante, die ihn als Menschen ausmacht und von der tierischen Existenz abhebt. Diese Perfektibilität aber ist es nun auch, die den Menschen „zum Tyrannen seiner selbst und der Natur macht“, vor allem ist sie der Grund für die Entstehung einer Form der zwischenmenschlichen Konkurrenz, der widermoralischen gegenseitigen Übervorteilung und Gewaltherrschaft, die Ursprung aller gesellschaftlichen Ungleichheit ist. Die Ungleichheit wird von Rousseau ihrer göttlichen Vorbestimmtheit enthoben und als eine dem Naturzustand des Menschen fremde Auswirkung der technischen Zivilisation gekennzeichnet. 28
26 Vgl. insbesondere Rousseau, Jean-Jacques: Diskurs über die Ungleichheit, S. 103ff. Diese Schrift Rousseaus von 1754 geht in ihren Ursprüngen wiederum auf eine Ausschreibung der Akademie zu Dijon zurück, die im Juli 1753 die Frage stellte: „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ob sie durch das natürliche Gesetz autorisiert wird.“ (S. 65). Da Rousseaus preisgekrönte Arbeit aus dem Jahr 1750 einen regelrechten Eklat verursacht hatte, wurde seine Arbeit, ohne Prüfung, abgewiesen. Dieser ursprüngliche Text gilt als verschollen. Parallel dazu aber hat Rousseau eine erweiterte Form seiner Ausführungen an den Verleger Pissot gesandt, wobei er den zweiten Teil der Frage der Akademie zwar nicht in den Titel, wohl aber in seine Ausführungen übernahm. 27 Dieser Begriff wird später sogar in Hegels Geschichtsphilosophie Eingang finden. 28 „Nicht ohne Mühe haben wir es fertiggebracht, uns so unglücklich zu machen“, heißt es in einer Anmerkung im Diskurs über die Ungleichheit: „Wenn man einerseits die unermeßlichen Anstrengungen der Menschen betrachtet, so viele ergründete Wissenschaften, so viele erfundene Künste, so viele eingesetzte Kräfte, aufgefüllte Abgründe, abgetragene Berge, gesprengte Felsen, schiffbar gemachte Flüsse, urbar gemachte Böden, ausgegrabene Seen, trockengelegte Sümpfe, gewaltige Bauwerke, die auf der Erde errichtet wurden, das Meer, das voll ist von Schiffen und Matrosen, und wenn man andererseits mit ein wenig Nachdenken nach den wahren Vorteilen sucht, die aus all dem für das Glück der menschlichen Art erwachsen sind, so kann man über das erstaunliche Mißverhältnis, das zwischen diesen Dingen herrscht, nur frappiert sein und die Verblendung des Menschen beklagen, die ihn, um seinen törichten Hochmut und ich weiß nicht welche eitle Bewunderung seiner selbst zu nähren, mit Eifer all dem Elend und der Not nachjagen läßt, für die er empfänglich ist und welche die wohltätige Natur Sorge getragen hatte, von ihm fernzuhalten.“ Anmerkung IX, S. 301.
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Mit Rousseaus Gegenentwurf zum optimistischen Fortschrittsideal in der Tradition Bacons – und dessen künftiger Wirkungsmächtigkeit – hat die Idee des Fortschritts endgültig ihre Unschuld verloren, weil das Verhältnis von technischer und sozialanthropologischer Entwicklung als ein negativ-reziprokes apostrophiert wird. 29 Das heißt, Rousseau beschränkt seine Kritik nicht darauf, die negativen Seiten des technischen Fortschritts als auf lange Zeit behebbare Nebenwirkungen zu bestimmen. Vielmehr liegt es nach Rousseau im Wesen der menschlichen Vernunft selbst, im Wesen der Perfektibilität, sich in Formen zu entäußern, die dem sozialen und individuellen Wohl – dem, was Aristoteles das „gute Leben“ nennt – entgegenstehen. Mit der Klassifizierung der Vernunft, wie Rousseau sie im Diskurs über die Ungleichheit vornimmt, erweitert er seine im ersten Diskurs noch eher emphatisch motivierte Kopplung von Entstehungszusammenhängen technischer Mittel und ihren Wirkungszusammenhängen und verleiht seiner These philosophischsystematischen Charakter: „Die Vernunft erzeugt die Eigenliebe und die Reflexion verstärkt sie; sie läßt den Menschen sich auf sich selbst zurückziehen; sie trennt ihn von allem, was ihm lästig ist und ihn betrübt. […] Man kann seinen Mitmenschen unter seinem Fenster ungestraft umbringen; er braucht sich nur die Ohren zuzuhalten und sich ein paar Argumente zurechtzulegen, um die Natur, die sich in ihm empört, daran zu hindern, ihn mit dem zu identifizieren, den man meuchlings ermordet.“30
Mit dieser Kritik der Rationalität an sich, die ihr eine Form der Eigendynamik zuschreibt, die wider die genuin menschlichen Interessen wirkt, legt Rousseau den Grundstein zur „Kritik der instrumentellen Vernunft“, wie sie für die Technikkritik der Moderne und ihre Zentralthese vom dialektischen Umschlag der Mittel, ihrer
29 Schon zwei Jahrhunderte zuvor allerdings, und damit noch vor Bacons affirmativer Fortschrittstheorie, formuliert Michel de Montaigne das Verhältnis von Naturvölkern und fortgeschrittener Gesellschaft als eines, in dem er die Kategorien von Barbarei und Zivilisation entgegen der üblichen Zuordnung verteilt wissen will: „[...] diese fremden Völker kommen uns so barbarisch vor, weil sie vom menschlichen Geist wenig umgestaltet und ihrem Originalzustand noch sehr nahe sind. Bei ihnen sind die Naturgesetze noch in Geltung; sie sind durch die menschlichen Gesetze noch wenig verdorben. [...] kein Dichter und kein Philosoph hat eine so reine und einfache Natürlichkeit ausdenken können, wie wir sie hier verwirklicht sehen; keiner hat es für möglich gehalten, daß die menschliche Gesellschaft mit so wenig künstlichen Zwangsmitteln bestehen könne.“ Montaigne, Michel: „Über die Kannibalen“, in: Die Essais, S. 118f. 30 Rousseau, Jean-Jacques: Diskurs über die Ungleichheit, S. 149.
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Abkopplung von der kontrollierenden Verfügbarkeit des Menschen, bestimmend werden wird. Soweit die Fortschrittskritik, die Rousseau in seinem Frühwerk entwirft. Und soweit die Positionen Rousseaus, wie sie von der modernen Technikkritik adaptiert und zitiert werden. Denn übersehen – oder aber ausgeblendet – wird von dieser zumeist, dass Rousseau in seinem Spätwerk, allen voran im Contrat social, eine argumentative Wende vollzieht, die nicht mehr mit einer verabsolutierend fortschrittsnegierenden Perspektive zu vereinbaren ist. Während gemeinhin in der Technikphilosophie die Argumentationsfolge darin besteht, eine Fortschrittsgeschichte in eine Geschichte des Verfalls übergehen zu lassen, der zufolge auf die anfänglichen sozialen und individuellen Erleichterungen durch die technischen Fortschritte ein Umschlag erfolgt, dessen Beschreibungen zwischen den Spielarten von Repression, Degeneration oder Barbarei wechseln, ist Rousseaus Gang der Argumentation der umgekehrte. Er setzt, in seinen frühen Texten, mit der Exploration einer Verfallsgeschichte durch den Fortschritt ein. Diese vornehmlich an den Kategorien der Moral festgemachte Geschichte des gesellschaftlichen Niedergangs wendet Rousseau aber in eine aktive Geschichte der Möglichkeiten zu Erziehung und Disziplinierung des Menschen durch eben die Mittel der Zivilisation, die für ihren vormaligen Verfall verantwortlich waren.31 Wenn schon, so die Argumentation Rousseaus, die Techniken der Zivilisation unwiderruflich in das gesellschaftliche Leben eingegriffen haben, mit all ihren ne-
31 Wenn die Mittel des zivilisatorischen Fortschritts für Rousseau also zum notwendigen Regulativ im Zusammenleben der Menschen werden können, dann stimmt er in dieser Konsequenz zwar mit der Lehre von Hobbes überein. Der wesentliche Unterschied zu dessen Konzeption von Naturrecht und Staatslehre besteht aber darin, dass Hobbes einen gewalttätigen Naturzustand des Kampfes aller gegen alle voraussetzt, für Rousseau aber, wie beschrieben, der ursprüngliche Zustand des Menschen wohl einer der Eigenliebe, amour propre, ist, der sich von der Selbstliebe, amour de soi, darin unterscheidet, dass er gesellschaftlich bedingt eine Form des Mitleids beinhaltet, der den Menschen nicht zum Schaden des anderen handeln lässt. Dieser Zustand ist nicht der des Egoismus, wie er durch die Mechanismen der Zivilisation hervorgerufen wird, und in dessen Folge das Wohlergehen der anderen zugunsten des eigenen Vorteils gefährdet wird: „Schließen wir vor allem nicht mit Hobbes, daß der Mensch, weil er keine Vorstellung von der Güte hat, von Natur aus böse sei; daß er lasterhaft sei, da er die Tugend nicht kennt; daß er seinen Mitmenschen Dienste, die er ihnen nicht zu schulden glaubt, stets verweigere, noch, daß er sich, vermöge des Rechts, welches er sich mit Grund in bezug auf die Dinge beilegt, deren er bedarf, törichterweise einbilde, der alleinige Eigentümer des ganzen Universums zu sein.“ Rousseau, Jean-Jacques: Diskurs über die Ungleichheit, S. 137.
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gativen Auswirkungen, dann gilt es nun, in ihnen die Potentiale für eine produktive Behebung dieser Schäden an Gemeinschaft und Individuum freizulegen. Nicht in der Rückkehr zum vormals natürlichen Zustand besteht die von Rousseau entwickelte Alternative. Vielmehr verfasst er mit dem Contrat social einen Gesetzeskatalog, der den negativen Auswüchsen der Zivilisation durch eine Verabsolutierung der sozialen Reglementierungen und einer dadurch bewirkten neuen Form der Disziplinierung des Individuums Herr zu werden sucht. Der Begriff der individuellen Freiheit, wie Rousseau ihn in seinen späteren Schriften entwickelt, meint deshalb nicht eine Freiheit im Sinne der Abschaffung aller zivilisatorischen Strukturen und damit eine Abkehr von technischwissenschaftlichem Fortschritt, eine Anheimgebung an das Prinzip der Willkür. Im Gegenteil muss Freiheit nach Rousseau gerade den Ausschluss aller Willkür bedeuten, was eine – zustimmende – Bindung aller an konsequente Formen sozialer Reglementierung zur Bedingung hat. Dahingestellt sei an dieser Stelle, inwiefern man Rousseau die Konstituierung eines politisch-sozialen Zwangszusammenhangs attestieren muss. In jedem Fall deutet sich mit Blick auf den in dieser Arbeit zu untersuchenden Problemkomplex in der Abfolge der Rousseauschen Argumentation mit ihrer vermeintlichen Wende im Spätwerk etwas an, das nicht nur unter den Aspekt der Kompensation und einer mehr oder weniger unfreiwilligen Fügung in die lebensweltlich-sozialen Umstände gefasst werden sollte. Vielmehr handelt es sich um eine produktive Nutzbarmachung des gesellschaftlich Gegebenen und objektiv nicht wieder Rückführbaren, mit dem Ziel, innerhalb und unter Einbeziehung der Komponenten der technisch fortschrittlichen Zivilisation eine möglichst ideale Lebenswelt zu entwerfen.
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2. T ECHNISCHE Z IVILISATION VERSUS K ULTUR UND L EBENSWELT „Als Dsi Gung durch die Gegend nördlich des Han-Flusses kam, sah er einen alten Mann, der in seinem Gemüsegarten beschäftigt war. Er hatte Gräben gezogen zur Bewässerung. Er stieg selbst in den Brunnen hinunter und brachte in seinen Armen ein Gefäß voll Wasser herauf, das er ausgoß. Er mühte sich aufs äußerste ab und brachte doch wenig zustande. Dsi Gung sprach: Da gibt es eine Einrichtung, mit der man an einem Tag hundert Gräben bewässern kann. Mit wenig Mühe wird viel erreicht. Möchtet Ihr die nicht anwenden? Der Gärtner richtete sich auf, sah ihn an und sprach: Und was wäre das? Dsi Gung sprach: Man nimmt einen hölzernen Hebelarm, der hinten beschwert und vorne leicht ist. Auf diese Weise kann man das Wasser schöpfen, daß es nur so sprudelt. Man nennt das einen Ziehbrunnen. Da stieg dem Alten der Ärger ins Gesicht, und er sagte lachend: Ich habe meinen Lehrer sagen hören: Wenn einer Maschinen benutzt, so betreibt er alle seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz. Wenn einer aber ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren. Bei wem die reine Einfalt hin ist, der wird ungewiß in den Regungen seines Geistes. Ungewißheit in den Regungen des Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren Sinn nicht verträgt. Nicht daß ich solche Dinge nicht kenne, ich schäme mich, sie anzuwenden.“32
Die Anfänge der neuzeitlichen Philosophie der Technik lassen sich in mehrere Entwicklungsschritte gliedern. Stehen am Anfang mit Bacon und Nikolaus von Kues Vertreter einer grundsätzlich positiven Einschätzung der Möglichkeiten von Technifizierung und Verwissenschaftlichung, dann eröffnet bereits Condorcet eine durchaus ambivalente Haltung gegenüber dem Verhältnis von Nutzen und Nachteil des technischen Fortschritts. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert schließlich, beginnend mit Vico und Rousseau, ist die technische Entwicklung stetig flankiert von kultur- und zivilisationskritischen Schriften, die das Verhältnis von sozialem Wohlergehen und Technik als ein negativ-reziprokes fassen – wenn auch Rousseau in seinen späten Schriften das Konzept einer Förderung und Kultivierung der Gesellschaft vermittels der gegebenen zivilisatorischen Standards zu entwickeln versucht. Im Zuge der einsetzenden Industrialisierung nun sind innerhalb der philosophischen Technikkritik Akzentverschärfungen auszumachen, die auf der Annahme einer grundsätzlichen, vor allem auf die Wirkungspotentiale abzielende Trennung von Technik und Kultur gründen. Die Grenzen zwischen den Kategorien von Technik und Kunst, Zivilisation und Kultur werden neu ausgelotet mit dem Resultat, dass der Begriff des Technischen, der bis ins 18. Jahrhundert die methodische Spezialisierung und Steigerung der Effektivität in den verschiedensten menschlichen Le-
32 Heisenberg, Werner: Das Naturbild der heutigen Physik, S. 81.
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bensbereichen meinte und damit auch die schönen Künste einschloss, in einen nur mehr noch auf Zweckrationalität im Sinne Max Webers zielenden Begriff umgewandelt wird. 33 Das heißt, es findet eine Konzentrationsverlagerung statt, in deren Folge die Mechanisierung, Maschinisierung und administrative Bürokratisierung weiter Lebensbereiche – die wiederum mit dem Wirtschaftssystem des Kapitalismus verbunden werden – unter das Paradigma der technischen Zivilisation gefasst und mithin in den Fokus der Technikkritik gerückt werden. Der geistig-moralischen Entwicklung der Gesellschaft – dessen Resultat und Ausdruck allen voran die Werke der schönen Kunst sind – stehen sie künftig als hinderliche Wirkungsmächte gegenüber. Wenn etwa Kant, in vermeintlicher Abschwächung der Kulturkritik Rousseaus, schreibt: „Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit herausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus“34,
dann geht er tatsächlich einen Schritt über Rousseau hinaus. Denn er legt den Grundstein für eben jene Trennung von Kultur und Zivilisation, wie sie für die nachfolgenden kulturkritischen Auseinandersetzungen mit dem technischen Fortschritt grundlegend sein wird. Der Zivilisation wird die Sphäre des Technischen zugeschlagen als diejenige Größe, die dem eigentlichen kulturellen Prozess gegenübersteht: entweder feindlich, mindestens aber in einer Position, die keinen sinnstiftenden Beitrag innerhalb des Gefüges der Kultur zu leisten vermag. Das Vermögen zur Herausbildung geistig-moralischer Standards nun wird wiederum einzig derjenigen Sphäre attestiert, die fortan unter dem Begriff der Kultur firmiert. Neben den schönen Künsten gehören diejenigen zwischenmenschlichen Figurationen zum Bereich der Kultur, für die Husserl in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts den Begriff der „Lebenswelt“35 prägen wird und die zu einer Leit-
33 Wenig beachtet wurde von Adepten der These von der Zweckrationalität, dass ähnlich wie zwei Jahrhunderte zuvor Weber selbst diese deterministische und apokalyptische Rationalisierungsthese relativiert. Weber, Max: Zwischenbetrachtung. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, S. 544. 34 Kant, Immanuel: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, in: Werkausgabe, Bd. XI, S.31-50, hier S.44 (A 402, 403). 35 Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana VI, S. 24 und 105ff.
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kategorie in der kritischen Theorie der Moderne von Habermas werden sollen. Die Lebenswelt wird von Husserl zur Bezeichnung eines Bereichs eingeführt, den er als Welt der „natürlichen Einstellung“, als „vor-wissenschaftlich anschauliche Umwelt“ kennzeichnet. Der Begriff der Lebenswelt wird in der Folge zum Konterpart von Begriffen wie „Verwissenschaftlichung“, „Kolonialisierung“ und „Technologisierung“. Die ursprünglichen und nicht überformten Lebens- und Kommunikationsverhältnisse des Menschen fallen durch die technische Entwicklung des gesellschaftlichen Kontextes zunehmend Beschädigungen anheim, so die übereinstimmende These der philosophischen Technikkritik. Simmel hatte formuliert, „daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; […].“36 Im Zuge der durchgängig positiven Belegung des Begriffs der Lebenswelt in der Nachfolge Husserls wird kaum berücksichtigt, dass Husserl selbst durchaus ambivalente Bedeutungsdimensionen der Lebenswelt aufgemacht und diese keineswegs als paradiesischen Urzustand gesehen hat. Zwar versteht er unter der Lebenswelt ein „Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten“.37 Das Selbstverständliche aber als das fraglos Vorhandene und Vertraute ist gerade in diesem Vertrautsein das eigentlich Unbekannte, in seiner Kontingenz verdeckt Bleibende. Aufgabe der Phänomenologie im Sinne Husserls muss es aber sein, „die universale Selbstverständlichkeit des Seins der Welt […] in eine Verständlichkeit zu verwandeln“, 38 um allererst Sinnproduktion erreichen zu können. Für Husserl ist es im Gegensatz zu einem Großteil derer, die den von ihm geprägten Begriff der Lebenswelt übernehmen, nicht der Abbau der Lebenswelt an sich, der eine kulturelle Krisensituation bedingt, sondern einzig die illegitime Art und Weise des Abbaus, in dem die Technisierung zur Realisierung der Inkonsequenz dieser Umstellung wird, die nicht zur Konstitution weltlichen Sinns hinreicht: Technisierung ist „Verwandlung ursprünglich lebendiger Sinnbildung“ zur Methode, die weitergegeben werden kann, ohne ihren „Urstiftungssinn“ mitzuführen, weil sie ihre „Sinnesentwicklung“ abgestreift hat und in der Beschränkung auf die reine Funktion nicht mehr erkennen lässt.39 In einer kleinen Parabel, einer Kindergeschichte, mit der er seine medienkritischen Reflexionen im ersten Band der Antiquiertheit des Menschen einleitet, setzt Gün-
36 Simmel, Georg: „Die Tragödie der Kultur“, in: „Philosophische Kultur. Gesammelte Essais“, in: Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 411. 37 Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana VI, S. 183. 38 Ebd., S.184. 39 Ebd., S. 57-59.
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ther Anders sehr anschaulich die Argumente einer Dialektik der technischen Mittel, den Umschlag von Handlungserleichterung in Handlungsvermeidung und kulturelle Verkümmerung ins Bild. „Da es dem König aber wenig gefiel, daß sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. ‚Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß gehen‘, waren seine Worte. ‚Nun darfst du es nicht mehr‘, war deren Sinn. ‚Nun kannst du es nicht mehr‘, deren Wirkung.“40
Entsinnlichung, Kompetenzverlust und Einbuße des Urteilsvermögens mithin. Hinzu kommt das Moment der politischen Kontrollausübung durch Technik, wie sie explizit in den Positionen der Kritischen Theorie zu finden ist. Die moderne, im Zeichen der Dialektik der Mittel argumentierende Technikkritik setzt zumeist bei einer Kritik der Technik in Gestalt der Maschine an, der eine Tendenz zur Entleiblichung des Menschen zugeschrieben wird, indem Handlungsvollzüge, die ehemals vom Menschen in ihrer Gesamtheit ausgeführt und damit auch sinnlich erlebt werden, nun einzig durch einen mit dem eigentlichen Prozess nicht in Verbindung stehenden Hebel- respektive Knopfdruck initiiert werden, in ihren einzelnen Vorgängen aber der Maschine selbst überlassen bleiben. „Die Werkzeugmaschine“, so die Definition von Marx, „ist also ein Mechanismus, der nach Mitteilung der entsprechenden Bewegungen mit seinen Werkzeugen dieselben Operationen verrichtet, welche früher der Arbeiter mit ähnlichen Werkzeugen verrichtete.“41 Selbst Ernst Cassirer, der den Kultur stiftenden Potentialen der Technik grundsätzlich positiv gegenübersteht, verbindet diesen Mechanismus der Selbsttätigkeit mit der These von der Entleiblichung des Menschen durch den technischen Apparat: „Der Zusammenhang von Arbeit und Werk hört auf, ein in irgendeiner Weise erlebbarer Zusammenhang zu sein. Denn das Ende des Werks, sein eigentliches Telos, ist jetzt der Maschine anheimgegeben, während der Mensch, im Ganzen des Arbeitsprozesses, zu einem schlechthin unselbständigen wird – zu einem Teilstück, das sich mehr und mehr in ein bloßes Bruchstück verwandelt.“42
Was hier als Auseinanderfallen von menschlicher Tätigkeit und entstehendem Werk, als Entwertung handwerklicher Fähigkeiten und Erfahrungen gefasst und zur Ursache einer physischen wie psychischen Auflösung des selbstbewusst ganzheitli-
40 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, S. 97. 41 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I, in: MEW, Bd. 23, S. 394. 42 Cassirer, Ernst: Form und Technik, S. 198.
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chen Menschen erklärt wird, geht noch einen Schritt über die Zivilisationskritik Rousseaus hinaus. Sind es bei Rousseau die Sitten, die aufgrund der Ablösung ursprünglicher Handlungszusammenhänge der Depravierung anheim fallen,43 so steht mit der These der Entleiblichung durch Technik das Moment des Lebendigen an sich zur Disposition. Es wird nicht mehr nur ein bestimmter Teilbereich, sondern das Menschsein als solches einem akuten Gefährdungsszenario ausgesetzt. Die Positionen, die von einer Ablösung des Menschen durch die Technik ausgehen, beruhen natürlich zum einen auf der Beobachtung technisierter bzw. industrialisierter Arbeitsprozesse. Ihre historischen und mentalitätsgeschichtlichen Wurzeln aber liegen im 17. Jahrhundert. Schweizer Uhrmacher konstruieren in dieser Zeit eine Reihe von Automaten, die als einzigen Zweck haben, die Selbsttätigkeit der Maschine zu demonstrieren. Der eminente philosophische Aspekt dieser Apparate besteht darin, dass die Selbsttätigkeit bisher als genuines Wesensmerkmal des Lebens galt. Auch wenn die Rede von der Selbsttätigkeit den Antrieb selbst nicht einschließt, der jeweils ein von außen kommender ist, und stattdessen auf die Abfolgen des technischen Operierens bezogen ist, avanciert die Technik in Gestalt des Maschinellen bald zu einem Erklärungsmodell des Lebens selbst und umgekehrt, so dass sich ein zumindest ideelles Konkurrenz- bzw. Korrelationsverhältnis zwischen Mensch und Maschine etablieren kann. 44 Zwar weist Descartes darauf hin, dass die unüberwindbare Differenz zwischen Mensch und Maschine im vernünftigen Denken und Handeln liege, und dass das selbsttätige Operieren der Automaten nur Imitation des menschlichen Handelns sei. 45 Dass aber Leibniz in seiner Monadologie eine Kritik der Übertragung des wissenschaftlich-mechanischen Erklärungsmodells auf das organische Leben intendiert, dabei aber in der Maschinenmetaphorik verbleibt, diese sogar noch ausweitet, mag ein anschaulicher Beleg dafür sein, wie schnell und umfassend technische Denkmodelle sich auf die verschiedenen Lebensbereiche übertragen haben: „Jeder organische Körper eines Lebewesens ist demnach eine Art göttlicher Maschine oder natürlichen Automats, der alle künstlichen Automaten unendlich weit übertrifft. Denn eine durch menschliche Kunst gebaute Maschine ist nicht Maschine in jedem ihrer Teile, so hat z.B. der Zahn eines Messingrades Teile oder Stückchen, die für uns nichts Kunstvolles mehr
43 Ludwig Klages spricht, in dramatischer Übersteigerung der Rousseauschen Fortschrittskritik sogar von einer „entfesselten Mordsucht“ als Hauptcharakteristikum der technischen Zivilisation. Klages, Ludwig: Mensch und Erde, S. 13. 44 Vgl. Meyer-Drawe, Käthe: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen und Ropohl, Günter: Technologische Aufklärung, S. 173ff. 45 Descartes, René: „Abhandlungen über die Methode“, in: Ausgewählte Schriften, II, § 16-18.
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enthalten und denen man nichts von der Maschine anmerken kann, für die das Rad bestimmt war. Die Maschine der Natur jedoch, d.h. die lebenden Körper, sind Maschinen noch in ihren kleinsten Teilen bis ins Unendliche.“46
Die Rede von der Entleiblichung des Menschen durch den Apparat, wie sie sich bis ins 20. Jahrhundert fortsetzt, speist sich mithin aus Beobachtungen der konkreten Auswirkungen von Technik verbunden mit einer Vorstellung von Technik, die zu einem quasi-beseelten, strukturell dem Menschlichem entsprechenden Apparat wird. Vom Menschen konstruiert, tritt dieser Apparat zu diesem in Konkurrenz. 47 Die Technik- und späterhin Medienkritik von Günther Anders dagegen entbehrt aller Thesen einer qua Selbsttätigkeit sich gegen den Menschen wendenden Maschinerie. Anders’ Die Antiquiertheit des Menschen, angelegt als Versuch einer „philosophische(n) Anthropologie im Zeitalter der Technokratie“48 und mit den Mitteln der Alltagsphänomenologie operierend, besteht im Gegenteil auf der selbstbestimmten Verantwortung der Subjekte beim Umgang mit dem technischen Fortschritt. Seine drei technikkritischen Hauptthesen stellen deshalb den Umgang des Menschen mit der Technik in den Mittelpunkt. Angesichts seiner Diagnose einer nicht adäquaten Handhabung der technischen Möglichkeiten kommt Anders zu dem Schluss, „daß wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; daß wir mehr herstellen als wir vorstellen und verantworten können; und daß wir glauben, das was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen.“49 Die Formel von der „Antiquiertheit des Menschen“ meint dann das Unzeitgemäße des klassischen Menschenbildes im Nebeneinander mit einer fortgeschrittenen Technologie. Anders nennt dieses ungleiche Verhältnis das „promethische Ge-
46 Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Monadologie“, in: Philosophische Werke, 2. Bd., S. 165, § 64. 47 Auf assoziativer Überdehnung der Maschinenmetapher basierende Szenarien einer durch technischen Fortschritt bedingten Destruktion findet man vor allem auch in Schriften der konservativ elitären Fraktion innerhalb der Lebensphilosophie wie in Friedrich Georg Jüngers Die Perfektion der Technik. 48 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. II, S. 9. 49 Ebd., Bd. I, S.VII. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang noch einmal auf Julius Goldstein, der vor einer uneingeschränkt positivistischen Technikdeutung warnt: „Der Baconismus hat zwei Dinge nicht in Rechnung gezogen: 1. Neue Erfindungen erzeugen selbst immer neue Probleme. 2. Der Vervollkommnung der Technik geht nicht eine sittliche Vervollkommnung des Menschen parallel, während tatsächlich mit gesteigerter Technik höhere Anforderungen an die sittliche Kraft des Menschen gestellt werden müssen. [...] je mehr wir an Macht über das einzelne des technischen Prozesses gewinnen, wir an Macht über das Ganze verlieren.“ Goldstein, Julius: Die Technik, S. 12f. und S. 69.
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fälle“ und die menschliche Reaktion darauf „promethische Scham“. Weil der Mensch nun aber diesen Zustand und mit ihm sein Schämen über das eigene Ungenügen nicht überwinden kann, führt das zu einer Identitätsstörung in Form einer „negativen Intentionalität“50. Was bei Anders noch unter dem Stichwort der „Passivierung“51 des Menschen gefasst wird, identifiziert ein Großteil der Technikkritik als eine Form des Kontrollverlusts, der das ehemals selbstbewusste und durch Technik über die Natur verfügende Subjekt zum Willkürobjekt einer entfesselten Technik werden lässt. 52 Zum Topos wird die Rede vom Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht zu beherrschen vermag. „Der Herr der Welt wird zum Sklaven der Maschine. Sie zwingt ihn, uns, und zwar ohne Ausnahme, ob wir es wissen und wollen oder nicht, in die Richtung ihrer Bahn. Der gestürzte Sieger wird vom rasenden Gespann zu Tode geschleift“, 53 schreibt Oswald Spengler in einem Konglomerat aus Technikkritik und der ihm eigenen Schicksalskonstruktion. In Der Untergang des Abendlandes heißt es ähnlich, dass der faustische Mensch, der zum Herrn der Natur werden will, schließlich zum „Sklaven seiner Schöpfung“, der Maschine, werde.54 Etwas verhaltener klingt die ähnliche Einschätzung einer faustischen Technik im Jahr 1921 bei Hans Freyer: „Hier hat sich zwischen den Menschen und die eigentlichen Zwecke seines Lebens ein riesenhafter und selbstherrlicher Komplex von Mitteln mit eigener Wachstumstendenz eingeschoben, und die Frage wird dringend, ob ein solcher Apparat überhaupt noch beherrschbar ist, und ob ein solcher Aufwand überhaupt noch lohnt.“55
Technik ist nach Freyer Ausdruck eines bestimmten menschlichen Willens: „Sie wird gefunden, weil sie gesucht wurde. Sie ist die Rüstung, mit der sich ein bestimmt gerichteter Wille umgibt. Sie ist die Objektivation des Weges, den ein Men56 schentum gewählt und eingeschlagen hat.“ In seinen frühen Schriften will er sich
50 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, S. 67. 51 Ebd., S. 84. 52 Prominent ins Bild fasst dieses Unbehagen der Auslieferung des Menschen an eine lückenlos operierende Maschinerie Charlie Chaplin in seiner Filmsatire Modern Times aus dem Jahr 1936. 53 Spengler, Oswald: Der Mensch und die Technik, S. 52. 54 Ders.: Der Untergang des Abendlandes, S. 1190. 55 Freyer, Hans: Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts, S. 134. 56 Ders.: „Herrschaft und Planung. Zwei Grundbegriffe der politischen Ethik“, in: Herrschaft, Planung und Technik, S. 19. Und an anderer Stelle heißt es etwas überhöhter:
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aber dem kulturkritischen Gedanken einer unabdingbaren Versklavung des Menschen durch die ehemals von ihm geschaffenen Mittel nicht anschließen. Freyer ist stattdessen in seinen frühen Schriften der Überzeugung, dass die aktuelle Technik einzig der Vollendung, des inneren Anschlusses bedarf, um im Gesamt der Kultur aufgehen zu können. Entgegen dieser frühen positiven Einschätzung wird der Freyer der fünfziger und sechziger Jahre sich darauf zurückziehen, die alternativlosen und beschränkenden Strukturen technischer Systeme zu analysieren. Ein zentraler Aspekt seiner späten Arbeitsphase besteht darin nachzuweisen, in welcher Weise sich das Technische in Denkweisen niederschlägt, was sich vor allem an sprachlichen Symptomen offenbart. Zu diesem Zeitpunkt hat sich auch Freyers Überzeugung von der Beherrschbarkeit der Technik in eine der Autonomie der Mittel im Zeitalter der Industrialisierung gewandelt: „Potenzen bereitzustellen für freibleibende Zwecke wird seither zur zentralen Intention der Technik. Das bedeutet eine Umkehrung der geistigen Grundsituation um 180 Grad. Es wird nicht mehr vom Zweck auf die notwendigen Mittel, sondern von den Mitteln, d.h. von den verfügbar gewordenen Potenzen auf die möglichen Zwecke hin gedacht. Der Sinn der Technik ist nicht mehr der Nutzen (der immer ein Nutzen für oder zu etwas ist), sondern ist die Macht, die nach Max Webers Wort wesentlich amorph ist. Der technische Geist wird damit gleichsam absolut gesetzt, er wird aus der Führung vorgegebener Zielsetzungen entlassen.“
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Im Jahr 1925 aber schreibt er noch: „Was ursprünglich als System von nützlichen Mitteln in menschlicher Hand seinen harmlosen Sinn zu haben schien, zeigt nun auch dem blödesten Auge eine eigene Dämonie, die nicht gegängelt, höchstens von 58 starker Kraft beschworen werden kann.“ Bei der starken Kraft, die Freyer in dieser frühen Phase seines Werks als Möglichkeit der menschlichen Beherrschbarkeit
„Die Technik, dieses System von eigener Herkunft, eigener Entwicklungstendenz und planetarischem Ausmaß, wird zum Glied eines Reichs gemacht: gleichsam zur Wehrverfassung des Volks in seinem Kampf gegen die Natur.“ Freyer, Hans: Der Staat, S. 175f. 57 Ders.: Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft, S. 247. 58 Ders.: Der Staat, S. 173. Ähnlich bereits zwei Jahre zuvor: „Wer viel Kraft auf Werkzeuge wendet, der braucht noch mehr Kraft, um sie in ihrer dienenden Rolle zu halten, sonst heiligen ihm eines Tages die Mittel den Zweck, und ein Rausch des unbegrenzten Könnens läßt den Geist vergessen, was er im Grunde will: begrenzte Form.“ Freyer, Hans: Prometheus, S. 24. Diese Emanzipation der Machtmittel beschreibt Freyer mit dem Begriff des „sekundären Systems“ als eine sich verfestigende Struktur, die über die ursprünglichen Lebensverhältnisse legt. Ebd., S. 55.
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der Technik anvisiert und damit als Möglichkeit, sie im Sinne der Kultur produktiv zu machen, handelt es sich nicht wie bei seinem Lehrer Georg Simmel um ein sich selbst kultivierendes und differenzierendes Individuum. Vielmehr denkt Freyer zu diesem Zeitpunkt an überindividuelle, synthetisierende Gewissheiten, die in so unspezifisch abstrakten Kategorien wie Volk, Klasse Revolution und der Überwindung des kapitalistischen Menschen gefasst werden. Unabhängig von solchen Syntheseversuchen vermittels übergeordneter Vorstellungsgebäude ist auch bei Cassirer die Tendenz festzustellen, den Wirkungsweisen technischer Mittel zumindest eine gewisse Neutralität zuzuerkennen, die sie in den Bahnen menschlicher Zweckvorstellung hält: „In diesem Aufbau des Reichs des Willens und der Grundgesinnung, auf der alle sittliche Gemeinschaft ruht, kann die Technik immer nur Dienerin, nicht Führerin sein. Sie kann die Ziele nicht von sich aus stellen, wenngleich sie an ihrer Verrichtung mitarbeiten kann und soll; […]. Sowenig die Technik, aus sich und ihrem eigenen Kreis heraus, unmittelbar ethische Werte erschaffen kann, sowenig besteht eine Entfremdung und ein Widerstreit zwischen diesen Werten und ihrer spezifischen Richtung und Grundgesinnung.“59
Wo aber der Glaube an diese Form der Neutralität der Mittel und auch der Glaube an die Gewissheiten im Sinne Freyers fehlt, muss das Urteil härter ausfallen. Es wird dann zu eben jenem Befund eines sich gegen die eigentlichen Interessen und Bedürfnisse des Menschen wendenden dialektischen Umschlags der Mittel, der im Wesen der Technik, also bereits im einfachen Werkzeug, als Tendenz zur totalen Herrschaft und Selbstzerstörung der Vernunft angelegt ist: „Bereits im Ursprung der zweckrationalen Vernunft ist demnach ein verborgenes Moment vorhandenen, das im Laufe der historischen Entwicklung zwangsläufig ins Gegenteil der Selbstzerstörung umschlägt.“60 Simmel hat dieses dialektische Prinzip als eben jenes tragische beschrieben, das den Prozess der Kultivierung notwendig scheitern und sich gegen das Individuum selbst wenden lässt. Wenn Descartes bereits ein verpflichtendes Gesetz formulieren will, wonach technische Erfindungen und Entwicklungen nicht mehr ausgehend von einem bestimmten Zweck initiiert werden sollten, sondern eine möglichst umfassende Nutzbarmachung naturwissenschaftlicher Methoden und Konstruktion technischer Mittel der Überprüfung ihrer potentiellen Zwecke vorauszugehen hätten,61 und wenn noch in den drei Hauptthesen von Günther Anders zur Technikkritik das Moment der aus
59 Cassirer, Ernst: Form und Technik, S. 212f. 60 Rohbeck, Johannes: Technik – Kultur – Geschichte, S. 89. 61 Descartes, René: „Abhandlungen über die Methode“, in: Ausgewählte Schriften, II, § 14-17, § 34.
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dem Ruder gelaufenen Regulierung von technischer Forschung und Innovation herausgestellt wird, dann wird in der modernen Kritik der instrumentellen Vernunft, wie sie am prominentesten von Horkheimer und Adorno theoretisiert worden ist, selbst die Möglichkeit der verantwortungsvollen Regulierung des technischen Expansionsprozesses negiert, indem diesem eine Eigenmacht zuerkannt wird, der die Subjekte nicht mehr gewachsen sind. Horkheimer und Adorno übernehmen Webers Begriff der Zweckrationalität, demzufolge die Funktion werthafter Zweckbestimmung ausgeklammert und die Vernunft auf Instrumentalität reduziert wird, und können deshalb zu dem Schluss kommen, dass der technische Fortschritt sich jeder rationalen Leitung enthoben und eine autonome und vom Subjekt nicht mehr kontrollierbare Eigendynamik entfaltet habe: „Die Maschine hat den Piloten abgeworfen“, heißt es bei Horkheimer: „sie rast blind in den Raum.“62 Der Akzent liegt hier nicht allein auf dem Verselbständigungsprozess. Horkheimer benennt noch einen zweiten wesentlichen Topos der philosophischen Technikkritik: den einer mächtigen zwar, aber vollständig sinnentleerten Technik. Es ergibt sich daraus ein ambivalentes Verhältnis von Affirmation und Negation des technischen Fortschritts. Muss er auf der einen Seite als umso mächtiger und umfassender anerkannt werden, damit das Ausgeliefertsein der handlungsohnmächtigen Subjekte desto deutlicher hervortritt, dann muss auf der anderen Seite eine Korrelation von technischem und sozialem bzw. kulturellem Fortschritt systematisch nicht nur infrage gestellt, sondern als ein negativ proportionales deklariert werden. Das heißt, die Verbreitung technischer Mittel und der Ausbau technischer Möglichkeiten werden zwar als das sowohl in quantitativer als auch in gesellschaftsstrukturierender Hinsicht dominierende Moment im sozialen Entwicklungsprozess gefasst. Trotzdem aber wird dem Technischen jede Form produktiver Einflussnahme auf die nicht-technischen Bereiche der Gesellschaft abgesprochen. In dem technikkritischen Diskurs, der im Sinne eines dialektischen Umschlags der Mittel angelegt ist, wie auch in folgenden, unter den Stichworten von Lebenswelt und System sich formierenden Debatten, vermischen sich in kaum auseinander zu dividierender Weise zwei Auffassungen und Argumentationsmuster von Determination. Zum einen wird die technische Entwicklung selbst als determinierte angenommen. Der Technik wird eine implizite Teleologie unterstellt, die quasi naturwüchsig und in Form eines von außen nicht regulierbaren, inneren Gesetzmäßigkeiten gehorchenden Mechanismus auf eine bestimmte, zumeist als Selbstoder Fremddestruktion dargestellte Finalität hinsteuert. Der zweite Determinismus zielt auf den Einfluss von Technik auf individuelle und soziale Verhaltensformen
62 Horkheimer, Max: „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 136; vgl. auch: „Vernunft und Selbsterhaltung“, ebd., S. 327 und 337.
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und kulturelle Konfigurationen, der ebenfalls in Kategorien unaufhaltsamer Teleologie verhandelt wird. Prominentester Vertreter der jüngeren Generation der Frankfurter Schule ist Jürgen Habermas, der mit der Kritischen Theorie II eine Fortsetzung und kritische Revision der Arbeit des Horkheimer-Adorno-Kreises betreibt. Habermas hat eine Theorie der Gesellschaft entwickelt, in der die Ebene der Kritik sich aus der Kopplung von Technikkritik und Wirtschaftsanalyse ergibt und auf eine reale gesellschaftspolitische Notwendigkeit der Veränderung ausgerichtet ist. Habermas’ Theorie des Kommunikativen Handelns, die einen Großteil seines Werks einnimmt, basiert auf der Gegenübersetzung der zentralen Kategorien von Arbeit und Interaktion, oder, wie Habermas in Rekurs auf den Husserlschen Begriffs auch formuliert, von System und Lebenswelt. Zusammengefasst lautet die alle Überlegungen grundierende These von Habermas, dass die Lebenswelt, worunter er den institutionellen Rahmen der Gesellschaft und die intersubjektiven Beziehungen als Kommunikationsverhältnisse fasst, einem stetigen Prozess der Überformung unterliegt, d.h. einer Zerstörung durch die Subsysteme zweckrationalen Handelns, die wiederum abhängen von einer bestimmten Korrelation von wissenschaftlichtechnologischem Fortschritt und kapitalistischem Wirtschaftssystem, auch wenn er von der These einer Finalität absieht. „Ich behaupte nicht, daß d(er) kybernetische Wunschtraum einer instinktanalogen Selbststabilisierung von Gesellschaften in Erfüllung geht, oder daß er auch nur realisierbar wäre. Ich meine aber, daß er vage Grundannahmen des technokratischen Bewußtseins negativ-utopisch zu Ende führt und so eine Entwicklungslinie bezeichnet, die unter der sanften Herrschaft und Technik und Wissenschaft als Ideologie sich abzeichnet.“63
In seinem frühen Text Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, 1968 erschienen und Herbert Marcuse zum 70. Geburtstag gewidmet, werden die Prinzipien des Habermaschen Denkens und vor allem seine historische Herleitung eines kritischen Technikbegriffs in exemplarischer Weise entfaltet. Im ersten Teil des Textes beschränkt sich Habermas im Wesentlichen darauf, die Technikdeutungen Max Webers und Herbert Marcuses zu referieren. Max Webers Rationalitätsbegriff münde in der Feststellung der Institutionalisierung des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts. Durch diese Institutionalisierung verlieren nach Weber die tradierten Legitimationen und Weltbilder, mithin die kulturelle Überlieferung insgesamt, ihre Bedeutung. Weber fasst diesen Vorgang unter die Topoi einer Säkularisierung und
63 Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, S. 97f.
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Entzauberung der handlungsorientierten Weltbilder und deren Ersetzung durch das Prinzip der Rationalität, wie es der Struktur des Technischen entspricht.64 Die erweiternde Kritik von Marcuse an Webers formalem Begriff der Rationalisierung, die Habermas im Folgenden nachzeichnet, stimmt in ihren Grundsätzen mit seiner eigenen überein, den von Marcuse gezogenen Konsequenzen stimmt er dagegen nicht zu. Marcuse wendet gegen Webers Begriff der Rationalisierung ein, dass die inhaltlichen Implikationen aus diesem Rationalisierungsbegriff ausgeblendet sind. Für Marcuse ist im Gegensatz dazu Rationalität und damit Technik immer selbst schon eine Form – wenn auch uneingestandener – politischer Herrschaft: „Der Begriff der technischen Vernunft ist vielleicht selbst schon Ideologie. Nicht erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und über die Menschen), methodische, wissenschaftliche, berechnete und berechnende Herrschaft. Bestimmte Zwecke und Interessen der Herrschaft sind nicht erst nachträglich von außen der Technik oktroyiert – sie gehen schon in die Konstruktion des technischen Apparats selbst ein; […].“65
Diese Form der technischen Herrschaft bringt die Legitimationsgrundlagen ihrer Herrschaft gleich mit: Obwohl von außen betrachtet „die den Individuen auferlegten Verzichte und Lasten immer unnötiger, irrationaler erscheinen“,66 kann diese Repression aus dem Bewusstsein der Bevölkerung verschwinden, weil die ständig wachsende Produktivität und Naturbeherrschung dem Einzelnen ein immer komfortableres Leben gestattet – was Marcuse wie Habermas natürlich als Illusion, oder, wie Habermas später formulieren wird, als Ideologie bestimmen. „Heute verewigt und erweitert sich die Herrschaft nicht nur vermittels der Technologie, sondern als Technologie“, so Marcuse, was zur Folge habe, dass aus der internen Perspektive nunmehr „diese Unfreiheit […] weder irrational noch als politisch (erscheint), sondern vielmehr als Unterwerfung unter den technischen Apparat, der die Bequemlichkeiten des Lebens erleichtert und die Arbeitsproduktivität erhöht.“67 Die Lösung dieses durch Technik und Wissenschaft bedingten gesellschaftlichen Zwangszusammenhangs sieht Marcuse mit der Möglichkeit einer grundsätzlichen Revolutionierung dieser beiden herrschenden und herrschaftslegitimierenden Faktoren selbst gegeben. Im Glauben an eine, wie Habermas es charakterisiert, „aus jüdischer und protestantischer Mystik vertrauten Verheißung einer ‚Resurrektion
64 Vgl. ebd., S. 48. 65 Marcuse, Herbert: „Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers“, in: Kultur und Gesellschaft II, S. 53. 66 Ders.: „Trieblehre und Freiheit“, in: Freud in der Gegenwart. Frankf. Beitr. zur Soz., Bd. 6, S. 403. 67 Ders.: Der eindimensionale Mensch, S. 172ff.
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der gefallenen Natur‘“ will Marcuse die repressive in eine befreiende Herrschaft durch Technik wandeln. In seiner Analyse der Position Marcuses kommentiert Friedrich Rapp dessen positive Technikutopie als „Mißverhältnis zwischen appellativer Suggestivkraft und praktisch-pragmatischem Ungenügen“68.Ähnlich der utopischen Position von Ernst Bloch verbinde sich bei Marcuse eine vollständige Ablehnung der gegenwärtigen Technik mit einer ebenso unbedingten Erwartung einer künftigen, grundlegenden anderen Welt, zu der „Wissenschaft und Technologie die großen Vehikel der Befreiung“69 bereitstellen, und die selbständige Automation „die geschichtliche Transzendenz zu einer neuen Zivilisation“70 eröffnen soll. Diese quasi-magische Belegung der Technik und ihre vermeintlich unreflektierte Indienstnahme für die soziale Utopie ist auch der zentrale Aspekt der Habermaschen Kritik an Marcuse. Denn, so Habermas, Marcuse muss, um diese Überlegung konsequent zu Ende denken zu können, Technik und Wissenschaft als prästabile Realisierungen verstehen, die grundsätzlich variabel und vom Menschen variierbar sind: „Diese Überlegung ernüchtert, weil Technik, wenn sie überhaupt auf einen Entwurf zurückgeht, offenbar nur auf ein ‚Projekt‘ der Menschengattung insgesamt zurückgeführt werden kann und nicht auf ein historisch überholbares.“ 71 Habermas ist im Gegensatz zu Marcuse und im Anschluss an Arnold Gehlen der Ansicht, dass zwischen der Struktur der Technik und der Struktur der Zweckrationalität72 ein immanenter Zusammenhang besteht, so dass sich eine Form alternativer Technik, die nicht nach zweckrationalen Modi funktioniert, nicht denken lässt. Habermas kritisiert, dass Marcuse mit der apostrophierten Überwindung des durch Technik bewirkten repressiven Zustands seine eigentliche These, das inhaltliche Apriori des Technischen, seine Macht- und Kontrollstruktur, selbst aufhebt, indem er auch diese auf einen Entwurf reduziert. Hinzu kommt, dass Marcuse laut Habermas nicht bestimmen kann, was es bedeuten würde, Technik und Wissenschaft zur Lebensform einer Lebenswelt zu transformieren.73
68 Rapp, Friedrich: „Utopien und Antiutopien“, in: Ders. (Hg.): Technik und Philosophie, S. 292. 69 Marcuse, Herbert: Versuch über eine Befreiung, S. 27. 70 Ders.: Der eindimensionale Mensch, S. 57. 71 Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, S. 55. 72 Zu beachten ist, dass Habermas seine Kritik tatsächlich nur auf die Sphäre des Zweckrationalen als einer depravierten Nebenform der Rationalität an sich bezieht. Grundsätzlich aber – und das macht ihn so kritisch gegenüber naturmystischen Versuchen, wie Marcuse sie formuliert – versteht sich Habermas als Vertreter der kognitiven Rationalität in der Tradition der Aufklärung. Deshalb basiert sein Konzept des Kommunikativen Handelns auch explizit auf einer Rationalität der Kommunikationsverhältnisse. 73 Ebd., S. 59f.
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Ausgehend und in kritischer Reflexion von Weber und Marcuse formuliert Habermas im Folgenden den kategorialen Rahmen System und Lebenswelt, der seiner Gesellschaftstheorie und damit allen voran seiner kritischen Analyse von Technik und Wissenschaft zugrunde liegt.74 In der historischen Analyse des Unterschieds von traditionalen und modernen Gesellschaften bestimmt Habermas als deren wesentliche Differenz, dass in der traditionalen Gesellschaft der institutionelle Rahmen qua „Überlegenheitskriterium“75 über die gesellschaftlichen Sub-Systeme dominiert, das heißt, dass die kulturell übermittelten Weltbilder eine ordnende und herrschaftslegitimierende Bedeutung haben: „‚Traditionale‘ Gesellschaften existieren so lange, als sich die Entwicklung der Sub-Systeme zweckrationalen Handelns innerhalb der Grenzen der legitimierenden Wirksamkeit von kulturellen Überlieferungen hält.“76 Die moderne, vom kapitalistischen Wirtschaftssystem strukturierte Gesellschaft hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit einer quantitativ und qualitativ ständig fortentwickelten Technik auch die Sub-Systeme zweckrationalen Handelns kontinuierlich erweitert und so die Überlegenheit des institutionellen Rahmens zunehmend und nachhaltig unterlaufen wird. In dieser Permanenz der Entwicklung des technischen Fortschritts und nicht in der Transformation des institutionellen Rahmens an sich sieht Habermas das grundlegend Neue der modernen Gesellschaft. Mit dem Übergang zur Moderne vollzieht sich zudem die Ablösung der an kommunikatives Handeln gebundenen Rationalität. Ersetzt wird sie durch die von Habermas als Zweckrationalität gekennzeichnete Form des Handelns, die einzig auf Instrumentalität und Strategie beruht. Herrschaft wird von nun an nicht mehr von oben, durch den institutionellen Rahmen, legitimiert, sondern von unten, durch das Versprechen der „Gerechtigkeit der Äquivalenz von Tauschbeziehungen“77. Habermas benennt mit diesem Prozess grundsätzlich den Vorgang, den Weber als Entzauberung und Säkularisierung durch Rationalisierung definiert hat, und legt dabei, wie Marcuse, den Akzent auf das Moment von Herrschaftsausübung und -legitimation durch eine technisch strukturierte Produktionsweise. Was hier geschieht, ist nach Habermas die für die Moderne charakteristische Wirkung von Technik und Wissenschaft: Sie werden zu Ideologien. Diese Ideologien fungieren als Ersatzprogrammatiken, die das längst nicht mehr zu leistende Versprechen des gerechten Äquivalententausches ersetzen. Als dem Bewusstsein zunehmend sich entziehende „gläserne Hintergrundsideologie“78 be-
74 Vgl. ebd., S. 62ff. 75 Ebd., S. 67. 76 Ebd. 77 Ebd., S. 69. 78 Ebd., S. 88.
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steht ihre eigentümliche Leistung darin, „das Selbstverständnis der Gesellschaft vom Bezugssystem des kommunikativen Handelns und von den Begriffen symbolisch vermittelter Interaktion abzuziehen und durch ein wissenschaftliches Modell zu ersetzen“,79 so dass sich das Bewusstsein für die Differenz von kommunikativem und rationalem Handeln sukzessive und mit ihm das emanzipatorische Interesse als solches auflöst. So ist, und darin besteht für Habermas die zentrale Diremption der Lebenswelt durch die Wirkungen von Technik und Wissenschaft, ein grundsätzliches Interesse als fundamentale Bedingung der kulturellen Existenz verletzt: „Dieses Interesse erstreckt sich auf die Erhaltung der Intersubjektivität der Verständigung ebenso wie auf die Herstellung einer von Herrschaft freien Kommunikation. Das technokratische Bewusstsein läßt dieses praktische Interesse hinter dem an der Erweiterung unserer technischen Verfügungsgewalt verschwinden.“80
Politisches Handeln fungiert in dieser historischen Situation ausschließlich in Form von „Vermeidungsimperative(n)“81 , als Abwehr potentieller Dysfunktionalitäten des sich allein durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritts rechtfertigenden, selbst stabilisierenden Systems. Ein produktiver, auf praktische Fragen abzielender demokratischer Prozess ist damit außer Kraft gesetzt. Der Staat ist durch die Vorherrschaft des Technischen auf Verwaltungsaufgaben reduziert worden. Stattdessen wird durch Wohlfahrtsversprechen und -leistungen, wie sie vermittels der Ersatzprogrammatiken bereit gestellt werden, eine kontrollierende und systemstabilisierende Form der Herrschaft ausgeübt, die nach technischen Imperativen ausgerichtet ist. Hingewiesen wurde bereits darauf, dass technikkritische Positionen sich in rechtskonservativen wie linken Theorien gleichermaßen finden, ohne sich in der Argumentation wesentlich zu unterscheiden. Mehr noch: Es kommt hier quer durch die politischen Lager zu einer erstaunlichen Äquivalenz der Perspektiven. So analysiert Helmuth Schelsky, leitende Größe der konservativen Leipziger Schule und damit Konterpart Habermas’, bereits einige Jahre vor dem Erscheinen von dessen Schrift Wissenschaft und Technik als ‚Ideologie‘ die Auswirkungen der Technisierung auf das Prinzip der Demokratie und die Legitimations- und Handlungsgrundlagen staatlicher Macht. In Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation aus dem Jahr 1961 konstatiert Schelsky, wie später Habermas nahezu in denselben Worten, ein Ende demokratischer Entscheidungsprozesse durch die Ubiquität der
79 Ebd., S. 81. 80 Ebd., S. 91. 81 Ebd., S. 77.
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durch die technische Sachdimension vermeintlich notwendigen Entscheidungsgrundlagen: „Der ‚technische Staat‘ entzieht, ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz. Technisch-wissenschaftliche Entscheidungen können keiner demokratischen Willensbildung unterliegen, sie werden auf diese Weise nur uneffektiv. Wenn die politischen Entscheidungen der Staatsführung nach wissenschaftlich kontrollierten Sachgesetzlichkeiten fallen, dann ist die Regierung ein Organ der Verwaltung von Sachnotwendigkeiten, das Parlament ein Kontrollorgan für sachliche Richtigkeit geworden.“82
Anders als in dem kurzen Verweis von Habermas auf Schelsky in Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘83 will dieser selbst aber diese Transformation der Staatsführung durch Technik nicht als politische Technokratie verstanden wissen, da nach seiner Auffassung in einer qua funktionierender Technik organisierten Gesellschaft Herrschaft als solche und mit ihr die Erfordernisse nach Legitimierung dieser Herrschaft gar nicht mehr existierten: „[…] hier ‚herrscht‘ gar niemand mehr, sondern hier läuft eine Apparatur, die sachgemäß bedient sein will. Gerade weil es keine ‚Herrschaft der Techniker‘ gibt, können die alten ‚Herrschenden‘ ruhig bleiben, wo sie sind, und werden durch keine neue herrschende Klasse ersetzt.“84 Übereinstimmend mit Habermas’ These von der Reduktion des Staates auf Verwaltungsaufgaben und der Überformung der Lebenswelt durch die Subsysteme zweckrationalen Handelns, erkennt Schelsky in der modernen Technologie eine alle Lebensbereiche erfassende und überformende Kraft, die vor allem die individuelle und intersubjektive Lebensstruktur grundlegend und nach ihren Gesetzlichkeiten verändert: „Wenn die moderne Technik vor allem Analyse beliebiger Gegenstände in unnatürliche Grundelemente und deren Synthese nach dem abstrakten Prinzip höchster Wirksamkeit, also nach keinem vorfindlichen Naturvorbild, ist, dann ist darin das werkzeughafte Organverhalten des Menschen gegenüber der Welt so weit aufgehoben, daß es das Belanglose ist; an dessen Stelle ist ein Verhältnis des Menschen zu der so technisch erzeugten Gegenständlichkeit
82 Schelsky, Helmut: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 30. 83 Hinsichtlich der aufgrund der Dominanz der Sachgesetzlichkeit von Technik und Wissenschaft notwendigen Ersetzung demokratischer Entscheidungsprozesse durch die neuen „Führungsgarnituren des Verwaltungspersonals“ schreibt Habermas: „Diese Technokratie-These ist auf wissenschaftlicher Ebene in verschiedenen Versionen entwickelt worden. Vgl. H. Schelsky: Der Mensch in der technischen (sic!) Zivilisation, 1961; Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, S. 81. 84 Schelsky, Helmut: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 26
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getreten, die diese als sein künstliches Werk ansehen läßt. Diese technische Welt ist in ihrem Wesen Konstruktion, und zwar die des Menschen selbst.“85
Die moderne Technologie ist nach Schelsky zu einem System geworden, das allen Gesellschaftsbereichen seine Logik und seine Funktionsstrukturen aufzwingt, sie nach ihren Handlungs- und Denkbedingungen normiert. Mit Blick auf die in dieser Arbeit zu entwickelnde Theorie der Inframedialität ist an der Argumentation Schelskys zweierlei von besonderem Interesse. Zum einen, dass er drei Anwendungsbereiche von Technik unterscheidet: erstens Techniken der Produktion, der Erzeugung sachhafter Güter, zweitens Techniken der Organisation, also Methoden der Beherrschung und Erzeugung sozialer Beziehungen und drittens die unter dem Begriff der Humantechniken zu fassenden Erscheinungen, die auf die Veränderung, Beherrschung und Erzeugung des seelischen und geistigen Innenlebens des Menschen gerichtet sind.86 Zwar hat es Organisationsund Humantechniken nach Schelsky schon mit dem Aufkommen des Technischen selbst gegeben. Das historisch Besondere sei aber, dass sie nun in Form von nichtwerkzeughafter Realtechnik betrieben werden. Das heißt, Schelsky bestimmt damit die infrastrukturelle Verfasstheit von Technik, in ihrer Gleichzeitigkeit von materieller und organisatorisch-strukturierender Präsenz als moderne Erscheinungsform des Technischen überhaupt. Hieran schließt nun das eigentlich Bemerkenswerte von Schelskys Überlegungen an. Er will – natürlich unter dem Verdikt des Kulturverlusts – nicht so sehr den instrumentellen Charakter technischer Gestaltung in den Vordergrund gestellt wissen, sondern es ist der mediale Aspekt, dem die zentrale Rolle zugesprochen wird, indem Technik „die Gegebenheitsweise der Welt in ihrer Totalität bestimmt und die Unterscheidung zwischen dem Technisch-Artifiziellen und dem von Natur aus Gewordenen in einem quasi selbstreferentiellen, autopoietischen System der Technik aufgehoben ist.“87 Die dargestellten, unter dem Stichwort „System versus Lebenswelt“ firmierenden technikkritischen, politische sowie kulturelle und subjektive Dynamiken einschließenden Analysen zweier so unterschiedlich sich positionierender Denker wie Habermas und Schelsky stehen für ein Krisenszenario, wie es – forciert durch den infrastrukturellen Systemcharakter von Technik – zu einem typischen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts geworden ist.
85 Ebd., S.13. 86 Vgl. ebd., S.11. 87 Ebd.
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Gerade in den literarischen Anti-Utopien des vergangenen Jahrhunderts findet man dieserart infrastrukturell akzentuierte Krisenszenarien einer durch einen politischbürokratischen Verwaltungsapparat reglementierten und durch eine allgegenwärtige technische Maschinerie psychisch und physisch malträtierten Lebenswelt. Neben George Orwells aus dem Jahr 1948 stammendem futuristischen Entwurf eines autoritären Totalitarismus, 1984, in dem die technische Vernetzung eine Organisationsund Kontrollmacht bedingt, die die totalitäre Herrschaft ermöglicht und zugleich unumgehbar macht, wird in Aldous Huxleys Brave new world von 1932 Technik zu einer unbemerkt einsetzbaren Zwangsmaßnahme, vermittels derer menschliche Freiheit und Individualität in letzter Konsequenz vollständig ausgeschaltet werden soll – um nur zwei der prominentesten Vertreter dieses Genres zu nennen. In Burrhus F. Skinners Darstellungen einer perfekten Konditionierung des Menschen indes wird Technik zum Auslöser eines Glücksgefühls, so dass man hier fast schon wieder von einer positiven Utopie sprechen könnte. Bis heute hat die These einer durch Technik deformierten und beständig gefährdeten Lebenswelt Bestand. So heißt es, im Aufgreifen der Trennung von Kultur und Technik und der standardisierten technikkritischen Topoi, in einem im Jahr 2002 erschienenen Aufsatz unter der Überschrift ‚Kultur‘ versus naturwissenschaftlichtechnologische Welt: „Kulturell befinden wir uns schon seit Jahrzehnten in einer Dauerkrise, indem sich der naturwissenschaftlich-technisch-technologische Fortschritts- und Modernisierungsprozeß aufgrund seiner akzelerierenden Eigendynamik und der sich fast überschlagenden Innovationsschübe mehr und mehr von der Lebenswelt gelöst hat und ein Eigendasein führt, das von der beharrlicher laufenden Lebenswelt mit ihrem an humanen Verhältnissen orientierten, eher konservativen Wertebewusstsein und ihren spezifisch regionalen und nationalen sowie nach Herkunftskulturen variierenden Kulturgütern weder beherrschbar noch beeinflussbar erscheint.“88
Ähnliche Diagnosen finden sich auch in der jüngeren Techniksoziologie, wobei hier die Enteignung der Kontrollmöglichkeiten einzelner sehr viel unmittelbarer um eine ökologische Rückwirkung industrieller Prozesse auf körperliche und soziale Befindlichkeiten geht. 89 So erkennt der Organisations- und Techniksoziologe Werner Rammert „in den Mechanismen einer gegenseitigen Verstärkung von ‚Produkti-
88 Gloy, Karen: „‚Kultur‘ versus naturwissenschaftlich-technologische Welt. Ein Tableau“, in: Dies. (Hg.): Im Spannungsfeld zweier Kulturen. Eine Auseinandersetzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, Kunst und Technik, S. 27. 89 Vgl. u.a. Beck, Ulrich: „Der anthropologische Schock. Tschernobyl und die Konturen der Risikogesellschaft“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für anthropologisches Denken, 40. Jg., 8. August 1986, S. 653-663.
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onsmodellen‘ und ‚Konsummodellen‘ eine ‚Modernisierungsfalle‘, die zu Monokulturen, zur weiteren Einebnung kulturell vielfältiger kommunikativer Praxis führen könnte.“90
90 Joerges, Bernward: Technik im Alltag, S. 15; vgl. u.a. Rammert, Werner: „Paradoxien der Informatisierung – oder: Bedroht die Computertechnik die Kommunikation im Alltagsleben?“, in: Weingarten, Rüdiger: (Hg.): Information ohne Kommunikation? Die Loslösung der Sprache vom Sprecher.
III. Technik als Kultur
1. H ISTORISCHE V ORAUSSETZUNGEN : D IE E NTWICKLUNG DES K ULTURBEGRIFFS Die Geschichte der Technikphilosophie, wie sie auf den vergangenen Seiten kursorisch dargestellt worden ist, hat eine Tradition der Kritik und Skepsis etabliert, die in einer wechselseitig sich verstärkenden Korrelation mit den grundsätzlichen Positionen der Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Raum steht. Das Materielle und speziell die verschiedenen Spielarten des Technischen werden dabei ganz grundsätzlich als Bestandteil einer Profan-, wenn nicht gar Destruktionsgeschichte aus dem Komplex des Geistigen ausgeklammert. Die historische Entwicklung dessen, wofür der Begriff der Kultur selbst steht, ist so charakterisiert durch eine stetige Zunahme seiner Ausrichtung auf das rein Ideelle. Und das, obwohl doch der Begriff der Kultur in seinen sprachhistorischen Wurzeln dezidiert auf materielle Zusammenhänge rekurriert: Der antike Terminus „cultura“ wurde zunächst allein auf die Bearbeitung des Ackerlandes bzw. auf dieses selbst bezogen und meinte die methodisch angeleitete Gestaltung eines Gegenstands über die ihm qua Natur gegebene Form hinaus. In der Folge aber setzt eine Wandlung des Kulturverständnisses ein, die eine sukzessive Ausschließung materieller Phänomene aus den Vorstellungen von Sinn- und Bedeutungsgenese betreibt. Der Kulturbegriff wird in wirkungsgeschichtlich entscheidender Weise auf anthropologisch-ideologische Kontexte übertragen, so dass er fortan Beschreibungsmodus für die Entwicklung des menschlichen Geistes werden kann.1 „Kultur ist hiernach technisch transformierte Natur. Erst davon abgeleitet verstand man auch den religiösen Kultus, die Werte und Normen, die gepflegten Sitten und die Erziehung als Elemente ‚symbolischer Kultur‘. Cultura animi – die Pflege des
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Cicero, Marcus Tullius: Gespräche in Tusculum, II.5: „cultura autem animi philosophiae est“.
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Geistes – folgt der cultura agri, dem Ackerbau und seinen Techniken nach.“2 Bezieht sich der Begriff der Kultur als cultura animi zunächst auf die individuelle Intellektualität, so wird in der modernen, in der Aufklärung sich etablierenden Verwendungsweise eine neuerliche Verschiebung vorgenommen. Zwar verbleibt der Begriff in seiner ideellen Perspektivierung, wird aber fortan auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext angewendet. Das Attribut des Kulturellen wird in diesem normativen Verständnis zur Auszeichnung des geistigen Niveaus einer sozialen Gemeinschaft. Mit noch spezifischeren Definitionsmerkmalen arbeiten die Vertreter des differenzierungstheoretischen Kulturbegriffs. Eine zunehmende Fokussierung und schließlich die Identifikation von Kultur und Hochkultur führen dazu, dass der Begriff der Kultur in letzter Konsequenz auf das Feld von Kunst und Wissenschaft eingeschränkt wird. Der Technikphilosoph Walter Ch. Zimmerli bilanziert die Genese des Kulturbegriffs lakonisch: „‚Kultur‘, ein Begriff, der seiner lateinischen Herkunft nach einen deutlich handwerklichen, nämlich bäuerlichen Hintergrund hat (Agri- und Hortikultur) hat sich im Verlaufe seiner Begriffsgeschichte zum Bannerbegriff des deutschen Bildungsbürgertums entwickelt.“3 Identitätsstiftender Gegenpol zur Herausbildung des auf das Ideelle beschränkten Kulturbegriffs ist der Begriff der Zivilisation. Wenn die Vorstellungen von Kultur auf jene ausdifferenzierten Teilsysteme der modernen Gesellschaft bezogen werden, die sich auf intellektuelle und ästhetische Weltdeutungen spezialisiert haben, dann werden der Sphäre der Zivilisation die rational-funktionalen Bereiche der Gesellschaft zugeschlagen.4 „Die Civilisation ist die Vermenschlichung der Völker in Gesinnung. Die Cultur fügt dieser Veredelung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst hinzu.“5 Die Worte Wilhelm von Humboldts aus dem Jahr 1836 lassen Wertneutralität der beiden Sphären von Kultur und Zivilisation zumindest möglich erscheinen. Grundsätzlich aber formiert sich im 19. Jahrhundert das Gegensatzpaar Kultur und Zivilisation als ein nicht zu vereinbarender Dualismus. Nicht nur wird Kultur in ihrer Charakterisierung als Hochkultur zum Distinktionsmerkmal des Bildungsbür-
2
Böhme, Hartmut: Kulturgeschichte der Technik, in: Orientierung Kulturwissenschaft, S. 164; vgl. auch: Rauhut, Franz: „Die Herkunft der Worte und Begriffe ‚Kultur‘, ‚Civilisation‘ und ‚Bildung‘“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, S. 81-91, hier: S. 81ff.
3
Zimmerli, Walther Ch.: Technologie als Kultur, S. 20.
4
Vgl. Rehberg, Karl-Siegbert: „Kultur versus Gesellschaft? Anmerkungen zu einer Streitfrage in der deutschen Soziologie“, in: Neidhardt, Friedhelm u.a. (Hg.): Kultur und Gesellschaft, S. 92-115.
5
Humboldt, Wilhelm von: Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, Bd. 1, XXXVIII.
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gertums – Zimmerli fasst es in die Formulierung des „Bannerbegriffs“ –, sondern Kultur wird im Lichte einer geistig-ästhetischen Vervollkommnung des Menschen interpretiert. Demgegenüber wird mit dem Begriff der Zivilisierung ein Prozess staatlich-rationaler Überformung umschrieben, der als unvermeidbares, aber in seinen Einflüssen möglichst klein zu haltendes Übel der Gesellschaftsentwicklung angesehen wird. In eben diesem Sinne hatte der frühe Rousseau den Gegensatz von Kultur und Zivilisation gefasst, bis er in seinen späten Überlegungen den Gedanken entwickelte, die Mittel der Zivilisation in den Dienst der Kultivierung zu stellen.6 Die Dichotomie von Zivilisation und Kultur fundiert die Ausgrenzung der Technik aus dem kulturellen Prozess endgültig und grundsätzlich, indem sie ihr einen Platz in den Koordinaten des Zivilisatorischen anweist.7 Was anhand der Geschichte der philosophischen Technikkritik dargestellt worden ist, basiert also auf und korreliert mit einer im geistesgeschichtlichen Gefüge grundsätzlich angelegten Trennung von Materiellem und Ideellem. Nachhaltigkeit hat dem Gegensatz zwischen der technischen Zivilisation als Betätigungsfeld einer naturwissenschaftlichen Intelligenz auf der einen Seite und einer ästhetisch-intellektuellen Bildungskultur auf der anderen C.P. Snow mit seiner Theorie der „Zwei Kulturen“ verliehen. 8 Auch in der Kultursoziologie des 20. Jahrhunderts herrscht wie in Philosophie und Geistesgeschichte über diese mit der Abwertung der Wirkungspotentiale des Technischen verknüpften Trennung von Kultur und Zivilisation lange Zeit weitgehender Konsens. Dazu tragen nicht zuletzt Ferdinand Tönnies’ für die Soziologie der Moderne einflussreichen soziologischen Grundlegungen bei, in denen er die Gegenüberstellung von Zivilisation und Kultur zur Entsprechung seines Gegensatzpaars von Gesellschaft und Gemeinschaft macht. 9 Im Wörterbuch der Soziologie aus dem Jahr 1982 etwa ist nachzulesen, dass der Begriff der Zivilisation die „bloß zweckmäßigen, nützlichen, praktisch notwendigen Daseinsformen des Menschen“ bezeichnet, während der Terminus Kultur die „geistig-seelischen, moralisch-rechtlichen, wissenschaftlichen, künstleri-
6
Norbert Elias analysiert in seiner zweibändigen Studie Über den Prozeß der Zivilisation die politischen und sozialgeschichtlichen Implikationen der Herausbildung des deutschen Kulturbegriffs, der im Jahrhundert des Nationalismus (1830-1930) zu einem Kampfbegriff avanciert, der zum einen die Emanzipation des Bürgertums vom Adel begleitet, andererseits sich gegen den französischen Begriff der Zivilisation stellt.
7
Vgl. u.a. Adorno, Theodor: „Kultur und Zivilisation“, in: Soziologische Exkurse, Institut
8
Snow, C.P.: „Die zwei Kulturen“, in: Kreuzer, Helmut: Die zwei Kulturen. Literarische
für Sozialforschung (Hg.), S. 83-92. und naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P. Snows These in der Diskussion. 9
Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft, insbesondere S. 279f.
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schen, das heißt letztlich ‚höheren‘, von Notwendigkeit und Nützlichkeit befreiten Aktivitäten der Menschen“10 meine. Angesichts solch umfassender, bis in die Definitionsmacht von Nachschlagewerken und einflussreicher Theorien wie die von Tönnies oder Snow sich einschreibenden Gegenübersetzungen, erklärt Günter Ropohl die Dichotomie von Zivilisation und Kultur und die damit verbundene „Geringschätzung des TechnischPraktischen“ zu einer der „Lieblingsfiguren des deutschen Denkens.“ 11 Diese Denkfigur greift zu kurz. Darauf verweist nicht nur Ropohl, sondern mit ihm eine ganze Reihe jüngerer Überlegungen und theoretischer Ansätze zur Neuformierung eines Kulturverständnisses. Dieses neue Kulturverständnis will den traditionellen Gegensatz von Materiellem und Ideellem, von Kultur und Zivilisation überwinden und ist ausdrücklich darauf ausgerichtet, abgrenzend-ausschließende und normative Kriterien aus dem Vorstellungskomplex des Kulturellen herauszuhalten. Gearbeitet wird an der Revision eines Kulturverständnisses, das einseitig auf eine idealistische Geistkonzeption ausgerichtet ist: „Das seit 1980 mobilisierte Konzept der Kulturwissenschaften streift diese geistesphilosophische Tradition ab, indem kulturelle Gegenstände als materielle und symbolische Praktiken – und nicht als Geisteszeugnisse – bestimmt werden.“12 Normative wie differenzierungstheoretische Kulturtheorien sind kaum geeignet, um den Kulturbegriff zu einer heuristischen Analysemethode zu machen, die innerhalb von kultur-, vor allem aber auch von sozialwissenschaftlichen Kontexten an Bedeutung gewinnen könnte. Zu diesem Zwecke wäre es notwendig, potentiell sämtliche Phänomene und Strukturen einer Gesellschaft zum Untersuchungsgegenstand zu erheben, um auf diese Weise grundlegende soziale, kulturelle und ästhetische Konfigurationen freizulegen. Unter der Bezeichnung cultural bzw. interpretive turn vollzieht sich deshalb eine Wende in der Kulturtheorie, die auf eine doppelte Öffnung des Kulturbegriffs angelegt ist. Zum einen soll das Reservoir der Gegenstände und Themenfelder dessen, was unter Kultur zu verstehen ist, ausgeweitet werden, so dass jeder Gegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaften als kulturelles Phänomen rekonstruiert werden kann: ökonomisch-technische Praktiken ebenso wie Politik und Staat.13
10 Hartfiel, Günter/Hillmann, Karl-Heinz (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, Stichwort „Kultursoziologie“, S. 418f. 11 Ropohl, Günter: Technologische Aufklärung, S. 198. 12 Böhme, Hartmut: www.culture.de/HB/texte/realex.html 13 Reckwitz, Andreas: „Die Kontingenzperspektive der ‚Kultur‘. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und kulturwissenschaftliche Forschungsprogramme“, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3, S. 1.
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„Das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm zielt darauf ab, die impliziten, in der Regel nicht bewussten symbolischen Ordnungen, kulturellen Codes und Sinnhorizonte zu explizieren, die in unterschiedlichen menschlichen Praktiken – verschiedener Zeiten und Räume – zum Ausdruck kommen und diese ermöglichen.“14
Kultur meint hier also nicht mehr ein einzelnes gesellschaftliches Teilsystem und – wie im Sinne eines totalitätsorientierten Kulturbegriffs – auch keine spezifisch historische Lebensweise in ihrer Gesamtheit und ist damit auch nicht aufs komparatistische Moment ausgerichtet, genauso wenig wie wertende oder differenzierungstheoretische Kriterien impliziert werden. Vielmehr meint Kultur hier den Gesamtkomplex von Sinnsystemen, mit denen Wirklichkeit als Bedeutungsträger erschaffen wird. In diese Entwicklung des Diskurses der Kulturtheorien ist die in folgendem Abschnitt vorgestellte Neukonstituierung des Verhältnisses von Technik und Kultur in der neueren Philosophie eingebettet bzw. steht mit dieser in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit und Einflussnahme. Dass besondere Impulse dabei auch von soziologischer Seite kommen, verdeutlicht umso mehr, dass man es beim cultural turn mit einer disziplinenübergreifenden und disziplinenöffnenden Perspektivenerweiterung zu tun hat, die vor allem auch in methodischer Hinsicht eine Dynamisierung bzw. Auflösung des Methodenverhaftetseins mit sich bringt.
2. E XKURS . D IE K OMPENSATIONSTHESE : DOPPELSEITIG ENGER K ULTURBEGRIFF Eine ebenso einflussreiche wie umstrittene Position nehmen in der Diskussion um eine Selbstverortung der Kultur und um das Verhältnis von Technik und Kultur bis in die 1980er Jahre hinein die unter dem Schlagwort der Kompensationsthese sich formierenden Positionen ein, die durch einen sehr engen Kulturbegriff und ein negativ-reziprokes Korrelationsverhältnis von Technik und Kultur bestimmt sind. Aufschlussreich an der Kompensationsthese ist vor allem eines: Hier zeigt sich, welch verheerende Folgen eine Trennung von Zivilisation und Kultur, Technik und Lebenswelt für die letztgenannten, vor allem für das Verständnis kultureller, in diesem Falle ästhetischer Produktion mit sich bringt. Nicht nur dem Technischen wird hier kulturelle Sinnsstiftung abgesprochen. Auch umgekehrt wird die Bedeutung der Kultur wesentlich beschnitten. Sie wird darauf reduziert, eben jene Schäden und Mängel, die wiederum durch den Einfluss des Technischen verursacht worden sind, zu kompensieren. Damit drückt sich in
14 Ebd., S. 2.
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der Kompensationsthese in ihrer konsequentesten Ausformung ein Literaturverständnis aus, das der Literatur zwar eine gewisse Wirkungsmacht zuschreibt, grundsätzlich aber ihre Wirkung wie Motivation auf eine therapeutische, pragmatisch ausgerichtete Funktionalität beschränkt. Die Kompensationsthese – auch Komplementaritätsthese – geht in ihrer Bezeichnung auf Joachim Ritter zurück, der sie in äußerster Einseitigkeit ausgelegt hat. In einem Vortrag aus dem Jahr 1961 über die Aufgabe der Geisteswissenschaft in der modernen Gesellschaft kommt Ritter zu dem Urteil: „Sie [die Geisteswissenschaften] werden auf ihrem Boden [der Gesellschaft] ausgebildet, weil die Gesellschaft notwendig eines Organs bedarf, das ihre Geschichtslosigkeit kompensiert und für sie die geschichtliche und geistige Welt des Menschen offen und gegenwärtig hält, die sie außer sich setzen muß.“15
Zu ihrer eigentlichen Popularität ist die Kompensationsthese durch die RitterSchüler Hermann Lübbe und Odo Marquard gelangt, insbesondere durch die als Bamberger Botschaft nachhaltig wirkende Rede Letzteren anlässlich der Jahresversammlung der Westdeutschen Rektorenkonferenz am 5. Mai 1985. „Je moderner die moderne Welt wird“, formuliert Marquard in bewusster Pointierung, „desto un16 vermeidlicher werden die Geisteswissenschaften.“ An anderer Stelle wird er noch deutlicher: „Die – durch die experimentellen Wissenschaften vorangetriebene – Modernisierung verursacht lebensweltliche Verluste, zu deren Kompensation die 17 Geisteswissenschaften beitragen.“ Die kulturelle Kompensation dient nach Marquard dem Ausgleich der spezifisch neuzeitlichen Rationalisierungsbewegungen der Gesellschaft. Sie reagiert auf die modernen Versachlichungs- und Objektivierungstendenzen, die aus der Verbreitung von Technik und Wissenschaft folgen, vermittels der Subjektivierung und Ästhetisierung des Weltbezugs in den Künsten. Zum anderen tritt sie der durch zunehmende Dynamisierung und Abstraktion bedingten Fiktionalisierung der Wirklichkeit durch eine Hinwendung zu Erfahrung und Faktizität entgegen. Marquard argumentiert in seinem zum Manifest der Kompensationstheorie avancierten Vortrag ganz offensichtlich nach dem Prinzip der doppelten Abqualifizierung. Nicht nur wird die technische Entwicklung in Übernahme der bekannten
15 Ritter, Joachim: Subjektivität. Sechs Aufsätze, S. 105-140. S. 27 bzw. S. 131. 16 Marquard, Odo: „Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften“, in: Ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, S. 98-116, bes. S. 98, vgl. auch: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur, Jg. 42, Nr. 1, S. 18-25, bes. S. 19. 17 Marquard, Odo: „Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften“, in: Ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, S. 102.
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kulturkonservativen Perspektive als an sich kultur- und subjektschädigend klassifiziert. Hinzu kommt die Reduzierung dessen, was unter Kultur gefasst wird, auf einen Nutzenzusammenhang. Die Geisteswissenschaften, so die einschränkende Bedeutungszuweisung durch Marquard, erzählen „Sensibilisierungsgeschichten“, um den lebensweltlichen Farbigkeitsbedarf zu decken, sie erzählen „Bewahrungsgeschichten“, um die durch technologischen Fortschritt bedrohte Alltagskultur zu konservieren, und schließlich erzählen sie „Orientierungsgeschichten“, um das menschliche Sinnbedürfnis zu befriedigen. 18 Kultur wird in dieser Argumentation auf ein in der modernen Gesellschaft vermeintlich notwendiges Selbstvergewisserungsmodell reduziert. Folglich wird Literatur zu einem narrativen Sinnersatz, der im Dienst einer Erträglichmachung der eigentlich unverträglichen historischen Bedingungen steht.19 Man kann der Kompensationsthese vom Standpunkt eines weiten Kulturbegriffs zum einen den Vorwurf von unzulässiger Beschränkung dessen, was überhaupt zum Kulturellen gerechnet wird, machen. Dazu kommt die – zumindest in Kauf genommene – Funktionalisierung der Kultur als ein Mittel psychosozialer Stabilisierung. Dabei bleibt selbst das aus, was noch als fruchtbare Perspektive gelten könnte: den praktischen Vollzug von kulturellen Modernisierungsentlastungen zu untersuchen, auf die Kultur zwar ausdrücklich nicht zu reduzieren ist, die aber sicher – ob nun per Intention oder nicht – einen Teilaspekt innerhalb des kulturellen Gefüges beanspruchen können. Mit Blick auf die konstruktiven Potentiale des Technischen ist der Kompensationsthese ein traditioneller Wertekonservatismus eigen, der, den althergebrachten Argumenten philosophischer Technikkritik folgend, die emanzipatorischen und produktiven Aspekte technischer Entwicklung vollständig ausblendet. Trotz dieser fundamentalen und doppelseitigen Unzulänglichkeit und Überholtheit des kompensatorischen Modells trifft man auch in der neueren Forschung immer wieder auf Ansätze einer versuchten Rehabilitierung der Kompensationstheorie. So jüngst bei Ludger Heidbrink, der auf eine ausführliche Darlegung der Argumentationsstrukturen der Kompensationstheoretiker einzig die These folgen lassen kann, man solle sich deshalb nicht von diesem Konzept verabschieden, weil tatsächlich die Aufgabe
18 Vgl. ebd., S. 105. 19 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Marquard, Odo: „Kunst als Anti-Fiktion. Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive“, in: Henrich, Dieter/Iser, Wolfgang (Hg.): Funktionen des Fiktiven; ders.: Krise der Erwartung – Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes; ders.: „Zeitalter der Weltfremdheit. Beiträge zur Analyse der Gegenwart“, in: Apologie des Zufälligen, S. 76-97.
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der Geisteswissenschaften nicht allein in ihrer Orientierungs- und Kompensationsfunktion liege.20 Der spezifischen Unterkomplexität, dem engen Kulturbegriff sowie dem fortschrittskritischen Wertekonservatismus ist mit dieser und ähnlichen Positionen aber nichts entgegengesetzt. So findet man selbst unter so jungen Argumentationen wie der Heidbrinks eine eigentlich längst als obsolet gelten sollende Reduzierung des kulturellen Korpus. Das Technische in all seinen strukturellen und phänomenologischen Ausformungen ist die erste gesellschaftliche Größe, die dabei auf der Strecke bleibt.
3. N EUKONTURIERUNG
DES
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In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kamen die Impulse für einen um das Technische erweiterten Kulturbegriff vor allem aus Ingenieurskreisen. Unter Schlagwörtern wie „Kulturmacht“, „Kulturformung“ und „Kulturwert“ sollte entgegen der einseitigen Vereinnahmung des Kulturellen durch den Bereich des Schöngeistig-Intellektuellen das kulturschaffende und gesellschaftsprägende Potential auch der Technik reklamiert werden. 21 Diese Arbeiten, die natürlich auch der eigenen Profession zu besserem Ansehen verhelfen sollten, konnten allerdings kaum an Einfluss gewinnen. Stattdessen waren es die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert sich formierenden Ansätze aus Ethnologie und Volkskunde, die wesentliche Grundlage für eine veränderte Konturierung und Bewertung der Wirkung von Technik lieferten, indem sie explizit technische Apparate, Vollzüge und Strukturen in ihren Untersuchungsbereich einbezogen. Sie waren auch die ersten, die sich mit den so genannten Techniken des Alltags auseinandersetzten, jenen Techniken, die die handlungstheoretischen, kommunikativen und symbolischen Beziehungen in den Industriegesellschaften wesentlich strukturierten, trotzdem aber aus der Betrachtung kultureller Konfiguration der Gesellschaft weitgehend ausgeschlossen worden waren. 22
20 Heidbrink, Ludger: „Kultur als Kompensation der Modernisierungsschäden? Zur Auseinandersetzung mit einer strittigen Deutungskategorie“, in: Gloy, Karen (Hg.): Im Spannungsfeld zweier Kulturen, S. 31-61, insbesondere S. 48. 21 Zusammenfassend zu dieser Debatte vgl. Dessauer, Friedrich: Streit um die Technik, S. 439-472. 22 Vgl. hierzu insbesondere die Einleitung von Ruppert, Wolfgang (Hg.): Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge. Hier heißt es: „In der anthropologischen Unterscheidung zwischen Mensch und Tier wird die Natur des ‚animal symbolicum‘ (Ernst Cassirer) mit seinen Fähigkeiten begründet, Natur anzueignen und umzu-
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In seiner Schrift Volkskultur in der technischen Welt aus dem Jahr 1961 sorgt Hermann Bausinger mit seinen Ausführungen über die kulturellen Bedeutungen von Alltagstechnik für eine wesentliche Neuorientierung des Selbstverständnisses von Ethnologie und Volkskunde und legt damit gleichzeitig den Grundstein für eine disziplinenübergreifende kulturwissenschaftliche Erweiterung des Blicks. 23 Bausinger macht die These stark, dass die althergebrachte Überzeugung einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit von technischer Welt und Volkswelt aufzuheben sei – also dem, was in nicht-volkswissenschaftlichen Positionen unter den Begriffen von Kultur und Ursprünglichkeit gefasst wird und der Vorstellung vom „mechanischen Charakter der technischen Welt, welcher der beseelten Volkswelt entgegensteht“.24 Bausinger hält der einseitig negativen Einschätzung technischer Entwicklungen zweierlei entgegen. Zum einen würde der Bereich dessen, was man unter dieser Perspektive noch unter Kultur fassen könnte, in einer Radikalität eingeschränkt werden, die schlicht nicht mehr als sinnvoll zu erachten ist. Hinzu kommt, so Bausinger, eine – in der Technikkritik zumeist vernachlässigte – Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen dem Binnencharakter der Technik und ihrer Verwirklichung: „Denn vieles, was von der technischen Welt allgemein gesagt wird, gilt tatsächlich nur für den Binnenraum der Technik selbst, während es sich in der Verwirklichung – insofern also die Technik die menschliche Welt bestimmt und formt – auflöst oder mildert oder modifiziert.“25 Das bedeutet, das etwa Strukturen von Rationalität oder Funktionalität, die konstitutiv für das Wesen des Technischen selbst sind, nicht in gleicher Form – also nach dem Äquivalenzprinzip – auf die kulturellen und sozialen Zusammenhänge der Gesellschaft Einfluss nehmen müssen. Und das bedeutet weiterhin, dass technische Neuerungen zwar durchaus Veränderungen des Bisherigen mit sich bringen können, dass diese aber nicht nur unter der Perspektive des Verlusts zu subsumieren sind, sondern durchaus auch konstitutive Funktion haben. Bausinger führt hierfür das Beispiel der Steigerung technischer Mobilität an. Ein Sachverhalt, der vielfach für die Auflösung tradierter Gruppenstrukturen und sozialer Beziehungen verant-
formen, Werkzeuge und Dinge zu schaffen und in einem Prozeß der sozialen Kommunikation mit symbolischen Bedeutungen zu besetzen. Es scheint, daß sich diese innovative Kompetenz gerade mit der Industrialisierung weiter gesteigert oder zumindest differenziert hat, nicht aber das Urteils- und Einordnungsvermögen, das Wissen um die langfristigen kulturgeschichtlichen Wirkungen der Alltagsdinge.“ (S. 8.) 23 Fast zeitgleich, im Jahr 1962, propagiert der amerikanische Kunsthistoriker George Kubler sein Konzept einer Kulturgeschichte der Dinge, das allerdings auf wenig Beachtung stößt. 24 Bausinger, Hermann: Volkskultur in der technischen Welt, S. 18. 25 Ebd.
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wortlich gemacht wird. „Insgesamt ist jedoch das Gruppenleben nicht weniger intensiv als früher“, weiß Bausinger aus empirischer Sicht dagegen zu halten: „Gelegentlich sind es sogar technische Erscheinungen, die neue Gruppen schaffen oder doch vermitteln. […] So zeigt auch ein Blick auf die sozialen Grundlagen nicht das Ende, sondern Veränderungen der Volkskultur durch die Technik, welche die Volkswelt auf natürliche Weise durchdringt.“26
Als empirisch-historischen Beleg seiner These, dass dem Technischen produktive Wirkung im kulturellen Gefüge zukommt, verweist Bausinger u.a. auf den Eigenwert, der der Maschinerie noch im Barockzeitalter beigemessen werde.27 Bei Theateraufführungen galt ein Großteil des Zuschauerinteresses der Bühnenmaschinerie selbst. Der Attraktionsgrad der Abende war zumindest anteilig durch die mechanischen Verrichtungen bestimmt, die sichtbar das szenische Spiel begleiteten. Diese Bindung der Technik an einen positiven Eigenwert fiel mit der allgemeinen Einschätzung des Technischen zu dieser Zeit zusammen. Mit dem Ausklingen des Barock tritt allerdings nicht nur die Technik als konstitutives Element der Bühnenhandlung zurück, sondern es findet ein genereller Umschlag der Bewertung technischer Mittel statt, die fortan vermehrt in magische und furchterregende Kontexte gerückt werden. Mit Blick auf die moderneren Technologien führt Bausinger hinsichtlich des kulturellen Eigenwerts von Technik ein Beispiel aus den ersten Jahren des 20. Jahrhundert an, das die spielerische Aneignung von Technik und ihre Integration in den volkskulturellen Rahmen verdeutlichen mag. So wird im Jahr 1910 die um sich greifende Elektrifizierung in Neresheim zum Motto der Fastnachtsveranstaltung. „In Neresheim / Elektrische Kraft / Elektrisches Licht / Elektrische Straßenbahn“28 ist auf den Plakaten des Narrenkomitees zu lesen. Gerade angesichts der Entwicklung des sprachlichen Verhaltens, insbesondere von Redensarten und traditionellem Liedgut, ist also nicht nur eine additive Ergänzung durch den Themenbereich des Technischen zu verzeichnen, die wiederum verbunden mit formalen Neuerungen der Sprache ist, sondern die Aufnahme von technischen Erscheinungen erfolgt in die vorhandenen Sprach- und Liedformen selbst. Grundsätzlich gelangt Bausinger daher zu dem Befund, dass die immer größer werdende Natürlichkeit der Technik darin Ausdruck findet, „daß technische Requisiten und Motive in alle Bereiche der Volkskultur eingedrungen sind und dort ein
26 Ebd., S. 39f. 27 Vgl. ebd., S. 23. 28 Plakatsammlung der Heimatstube Neresheim, in: Ebd., S. 34.
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ganz selbstverständliches Dasein führen.“29 An anderer Stelle heißt es: „Wie der nur rationale Charakter der technischen Welt, so muß aber auch der irrationale Charakter der Volkswelt in Frage gestellt werden.“30 Unterstützung finden Bausingers Analysen auf Seiten der soziologischen Technikforschung. Hier wird zum einen argumentiert, dass die übliche SystemLebenswelt-Theorie auf einer unzulässigen Gleichsetzung der Sphären von Zentralbereichen technologischer Anwendung und alltäglicher Umwelt basiere. Die These der rationalen Überformung der lebensweltlichen Zusammenhänge übertrage industrietechnische Strukturen und Funktionszusammenhänge auf den Bereich des Alltäglichen, die tatsächlich in dieser Form dort nicht zu finden sind. Was sich im großtechnischen Bereich an funktionaler Innovation durchsetzt, könne nicht mit der Entwicklung technischer Strukturen im gesellschaftlichen Leben ineins verhandelt werden.31 „Meine Argumentation“, erklärt Hörning, „richtet sich im folgenden zuallerst gegen die weitverbreitete Grundannahme, daß sich die im industriellen Kernsystem hervorgebrachte Technik nicht nur früher oder später unentrinnbar in alle Lebensbereiche ausbreite, sondern diese auch unabdingbar mit den Rationalisierungsprinzipien und -zwängen des Industriesystems durchsetze. Diese Annahme wird der Vielschichtigkeit von Technik im Alltag keineswegs gerecht, und gar zu sehr unterschätzt sie die Entwicklungsdynamik der modernen Gesellschaft.“32
So kann im Gegensatz zur Vorstellung umfassender Rationalisierung, die sich mit der Annahme einer Beschädigung des Individuellen verbindet, die These stark gemacht werden, „daß hochkomplexe Gesellschaften keineswegs auf die Individualität ihrer Mitglieder verzichten.“33 Technik dringt weder als autonome technische Bedingung und nicht-initiierter Fremdkörper in die Gesellschaft ein, noch als „Ding an sich“ oder als ein seine starre Ontologie unabänderlich mittransportierendes Ge-
29 Ebd., S. 36. 30 Ebd., S. 21. 31 Hörning, Karl H.: „Technik im Alltag und die Widersprüche des Alltäglichen“, in: Joerges, Bernward (Hg.): Technik im Alltag, S. 51. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 79. In der Industriesoziologie wird darüber hinaus sogar insistiert auf der „beharrlichen Reproduktion des kommunikativen Eigensinns, der im elektronischen Gehäuse (des Betriebs) sein offensichtlich höchst lebendiges Unwesen treibt“, dass also „der Algorithmisierungbeitrag des betrieblichen Fachmanns wirksam nur im Medium kommunikativer Verständigung erschlossen werden kann.“ Malsch, Thomas: „Die Informatisierung des betrieblichen Erfahrungswissens und der ‚Imperialismus der instrumentellen Vernunft‘“, in: Zeitschrift für Soziologie 16, S. 89.
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stell. Vielmehr tritt Technik in einen Zusammenhang denkender und handelnder Menschen ein. Von der soziologischen Technikforschung werden im Zuge dieser Überzeugung die im Sinne einer deterministischen Sachzwangthese angelegten Argumentationsmuster kritisiert, die drei unbedingt zu hinterfragende und aneinander gekoppelte Hypothesen voraussetzten: „Erstens nimmt man an, daß im Institutionalisierungsprozeß auschließlich kognitiv-zweckrationale Handlungsorientierungen vergegenständlicht werden; zweitens scheint man zu glauben, daß die angenommene – und partiell wohl tatsächlich praktizierte – Zweckrationalität des Produktionsprozesses auf die Struktur der Produkte durchschlägt, […]; drittens schließlich faßt man den Sozialisationsprozeß außerordentlich mechanistisch auf, wenn man behauptet, der Mensch werde sich bei der soziotechnischen Integration in jeder Hinsicht den mehr oder minder rationalen Verwendungsprogrammen unterordnen, die in den Sachsystemen inkorporiert sind.“34
Sowohl der Nutzungs- wie der Interpretationsspielraum technischer Objekte und Zusammenhänge wird in dieser Perspektive, die von einer umfassenden und unwiderruflichen Überformung der Lebenswelt ausgeht, übersehen. Hörning spricht in diesem Zusammenhang auch von der Unzulässigkeit von Übergriffsthesen: „Derartige Übergriffsthesen übersehen bei ihrer Suche nach ‚gleichen Gestalten‘ völlig die situativen Handlungszusammenhänge und Sinnzuschreibungen, in die die Technik bei ihrer alltäglichen Nutzung ihren Eingang findet.“35 Schließlich weist auch die Techniksoziologie, wie Bausinger, nachdrücklich darauf hin, dass es eine ursprüngliche, von den Einflüssen des Technischen freie Lebenswelt in dieser Form nie gegeben habe. Es handelt sich dabei einzig um eine Setzung der Technikkritik, die zu ihrer skeptischen Sicht funktional-materieller Zusammenhänge ein idealistisches Gegenbild entwerfe: „Auf dieser Folie eines stilisierten Reservats von gemeinschaftlicher Emotion und Interaktion sind viele der Gefährdungs- und Verlustthesen zu sehen, deren Sorge dem einseitigen Übergreifen technischer Rationalität in den Alltag – einen bisher weitgehend von dieser Rationalität ‚verschonten‘ Raum – gelten.“36
34 Ropohl, Günter: „Zum gesellschaftstheoretischen Verständnis soziotechnischen Handelns im privaten Bereich“, in: Joerges. Bernward (Hg.): Technik im Alltag, S. 137. 35 Hörning, Karl H.: „Technik im Alltag und die Widersprüche des Alltäglichen“, in: Joerges, Bernward (Hg.): Technik im Alltag, S. 61. 36 Ebd., S. 58.
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Bausinger hat davon gesprochen, dass der Ausschluss jedweder Technik aus dem Korpus dessen, was als Volkskultur anerkannt wird, eine nicht nur unzulässige, sondern vor allem in seiner Einschränkung sinnlose Perspektivverkürzung darstellen würde. In der soziologischen Technikforschung findet man entsprechend den Verweis auf die lange anonyme Geschichte der Alltagstechnisierung, die in den auf dem Lebensweltmodell fußenden Modernekritiken nicht zu Buche geschlagen werde.37 Gerade in der Untersuchung der Geschichte der Alltagstechnisierung gelangt man aber zu der Erkenntnis, dass in Genese und Entwicklung lebensweltlicher Zusammenhänge dem Einsatz technischer Mittel eine entscheidende und konstitutive Rolle zukommt. „Meiner Ansicht bedarf deshalb die Techniksoziologie unbedingt einer Perspektivenänderung, die das alltägliche Handeln mit seinen kulturellen Bedeutungsstrukturen voll in den Blick nimmt. Sie hat dann eine doppelte Aufgabe: Nicht nur die sich deutlich vollziehende Technisierung des Alltags in ihren handlungsstrukturierenden Bedingungen und Zwängen zu analysieren, sondern vor allem auch den Wegen und Wirkungen technischer Artefakte in alltäglichen Deutungs- und Hanldungskontexten, also der Veralltäglichung von Technik nachzugehen.“38
Hörning kommt deshalb zu dem Fazit, dass in der Technikbetrachtung die Konstituierung und Etablierung einer „Kulturperspektive“39 unbedingt vorzunehmen sei, um den Phänomenen und den Folgen technischer Apparate und Strukturen in angemessener Form und nicht nur im Sinne universaler Überformungsthesen zu begegnen. Stattdessen gelte es, den Eigensinn von Technik herauszuarbeiten, der in deterministischen Technikkonzepten keinen Platz findet. Diese aus ethnologischer Forschung und Soziologie stammenden Erkenntnisse haben auf den jüngeren philosophischen und kulturwissenschaftlichen Technikdis-
37 Vgl. u.a. Gidion, Siegfried: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Oder zum Thema der Frauenarbeit, die eine wesentliche Stellung in der anonymen Geschichte der Technisierung einnimmt: Hausen, Karin: „Technischer Fortschritt und Frauenarbeit im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte der Nähmaschine“, in: Geschichte und Gesellschaft 4, S. 148-169; Hausen, Karin.: „Große Wäsche, soziale Standards, technischer Fortschritt. Sozialhistorische Beobachtungen und Überlegungen“, in: Lutz, Burkhart (Hg.): Technik und sozialer Wandel, S. 204-219. 38 Hörning, Karl H.: „Technik im Alltag und die Widersprüche des Alltäglichen“, in: Joerges, Bernward (Hg.): Technik im Alltag, S. 51. 39 Ebd., S. 62.; vgl. dazu insbesondere den kurzen programmatischen Aufsatz: Hörning, Karl H.: „Technik und Alltag: Plädoyer für eine Kulturperspektive in der Techniksoziologie“, in: Lutz, Burkart (Hg.): Technik und sozialer Wandel, S. 310-314.
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Da aber die Rede von der Bereicherung eine grundsätzliche Trennung der beiden Sphären noch immer impliziere, formuliert Ropohl die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels, „den Wechsel vom analytisch-dichotomischen zum synthetisch-
40 Vgl. u.a. König, Wolfgang/Landsch Marlene (Hg.): Kultur und Technik. Zu ihrer Theorie und Praxis in der modernen Lebenswelt; Kaiser, Gert/Matejovski, Dirk/Fedrovitz, Jutta (Hg.): Kultur und Technik im 21. Jahrhundert. 41 Zimmerli, Walther Ch.: Technologie als ‚Kultur‘. 42 Koslowski, Peter: Die postmoderne Kultur – Perspektiven und Orientierungen, Bd. 2, S.4. 43 Ropohl, Günter: Technologische Aufklärung, S. 200.
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integrativen Denken“, der zu dem Schluss kommen müsse: „Technik ist Kultur!“44 In diesem Sinne beginnen sich schließlich im ausgehenden 20. Jahrhundert neben Ansätzen in der soziologischen Technikforschung auch Ansätze in der Philosophie herauszubilden, in denen die bipolare Dimension der Kultur stark gemacht wird. Weitergedacht wird Cassirers Einsicht in die Notwendigkeit einer Hermeneutik der Technik, die lange Zeit ignoriert worden ist. Der immer noch vorherrschende vorsichtige Konjunktiv im Verhältnis von Kultur und Technik soll aufgehoben werden, um die Phänomene der technischen Zivilisation – als Bestandteil der Kultur – konsequenter als eine unabdingbare Forschungsperspektive in die philosophische und kulturwissenschaftliche Agenda aufzunehmen. Unter dem Stichwort einer „rettenden Kritik der Technikkritik“ versammeln sich Positionen, die eine Einsicht darin formulieren, dass Technik durchaus in der Lage ist, kulturelle Wirkung zu erzeugen. Mehr noch, dass Technik im kulturellen Prozess eine konstitutive Rolle spielt, Bestandteil der Kultur ist, die nicht Kulturverfall, sondern Kulturwandel bedingt.45 Im Zuge dieser Rückbesinnung des Kulturellen auf seine materiellen Wurzeln wird nicht nur den Arbeiten Cassirers, sondern auch der bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen und ebenfalls lange Zeit in Vergessenheit geratenen Arbeit Ernst Kapps Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten 46 wieder einige Aufmerksamkeit gezollt. Kapp erklärt darin die technischen Mittel zur strukturellen Grundlage aller anthropologischen Weltwahrnehmung und -aneignung, wobei seine kulturgeschichtliche Grundüberlegung in der Annahme besteht, dass der Mensch dasjenige am besten erkenne, was er selbst gemacht hat. Werkzeuge, Geräte und Maschinen dienten nicht allein als Mittel zur Herstellung bestimmter Gegenstände. Größer ist ihre Bedeutung als „Culturmittel“, die neue Bedingungen für Welterfahrung, Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein schaffen.47 So deutete sich der Mensch im anthropologisch zentrierten Ansatz von Kapp nach dem Modell seiner Artefakte. Kapp setzt allerdings, in der Tradition Hegels, ein identisches Ich voraus, das sich in Werkzeugen, Geräten und Maschinen entäußert, um sich in denselben Produkten wiederzufinden und als solches zu erkennen. Kapp nimmt insofern eine per-
44 Ebd., S. 200f. 45 Janich, Peter: Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Weg zum Kulturalismus; Hartmann, Dirk/Janich, Peter (Hg.): Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne; Beck, Heinrich: Kulturphilosophie der Technik. Perspektiven zu Technik – Menschheit – Zukunft. 46 Kapp, Ernst: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten. 47 Ebd., S. 208.
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spektivische Verkürzung vor, wenn er den Menschen als Kulturwesen nicht als ein sich beständig herausbildendes und fortentwickelndes Subjekt begreift, sondern als ein mit sich identisches, das vermittels der Technikentwicklung, die vollständig in diesen Dienst gestellt wird, sich sukzessive seiner bewusst wird. Dass das Technikkonzept Kapps zwar wieder in die Diskussion aufgenommen worden ist, aber keine Arbeiten seine theoretischen Ansätze aus dem Jahr 1877 fortschreiben, mag im Wesentlichen diesem obsoleten Subjektbegriff geschuldet sein.
IV. Zur Theorie der Inframedialität
1. S TÄDTE
OHNE
B EDEUTUNG ?
Der Sozialwissenschaftler und Stadtforscher Richard Sennett stellt in seiner Untersuchung Civitas grundsätzliche Überlegungen über die wechselseitigen Bedingtheiten von Städtebau und kulturellen Konfigurationen und Praktiken an. Mit Blick auf die Verbindung von antiker Stadt und den Formen der antiken Kultur gelangt Sennett zu der Überzeugung: „Die alten Griechen konnten die Komplexität des Lebens mit den Augen sehen. Die Tempel, die Märkte, die Stadien, die Versammlungsorte, die Mauern, die öffentlich sichtbaren Statuen und Bilder der antiken Stadt, sie alle verkörpern die Wertvorstellungen dieser Kultur in bezug auf Religion, Politik und Familie.“1
Die materialen Fundamente der griechischen Gesellschaft und die geistig-ideologischen Prämissen dieser Zeit sieht er in einem unmittelbaren Zusammenhang in dem Sinne, dass in den Ausbildungen des öffentlichen Raums der Geist einer Zeit zum Ausdruck komme. Umgekehrt bedeutet das natürlich, dass die materialen Formen immer auch als Stabilisatoren, wenn nicht als Produzenten der geistigen Verfasstheiten fungieren. Stadt und Kultur stehen in einem wechselseitigen figurativen und gestaltgebenden Verhältnis zueinander. Die Analyse dieses Verhältnisses kann deshalb in Vokabeln der Lesbarkeit überführt werden, weil der Stadt ein semantisches Potential zugeschrieben wird, das einerseits kulturelle Bedeutung produziert und diese anderseits lesbar macht.2
1
Sennett, Richard: Civitas, S. 11.
2
„Zu jener Zeit hatte man eine ausschließlich bedeutungsbezogene Auffassung von Stadt. Die utilitaristische Auffassung, die Stadt nach Funktionen und Nutzen aufteilt, wie sie heutzutage unbestreitbar vorherrscht, sollte erst später auftauchen.“ Barthes, Roland:
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In modernen Gesellschaften nun aber findet diese Form der Wechselwirkung zwischen Konstruktion der Stadt und Konstruktion der Kultur nach Meinung von Sennett nicht mehr statt: „Als Stoff für die Kultur sind die Steine der modernen Stadt von den Planern und Architekten, wie es scheint, schlecht gesetzt, denn das Einkaufszentren, der Parkplatz, der Aufzug im Apartmenthaus verraten in ihrer Form nichts von der Komplexität des möglichen Lebens in ihnen. Aus dem, was einmal Erfahrung öffentlicher Räume war, sind heute, so scheint es, schwebende Vorgänge in der Psyche geworden.“3
Der Prozess von Urbanisierung und Modernisierung führt nach Sennett zu einer sinnlichen Verarmung des öffentlichen Raums und einer damit einhergehenden Ablösung dieses Raums von den kulturellen Konfigurationen der Gesellschaft. Das bedeutet dann wiederum auch, dass der Stadt ihr semantisches Potential abhanden kommt. Stellvertretend für eine ganze Schule von Urbanismus-Kritikern kommt auch Francoise Choay am Ende ihres Essays über die Semiotik des Stadtraums zu dem Fazit, „daß wir aufhören müssen, dem urbanen Raum einen Diskurs abzuverlangen, den er nicht mehr halten kann“, eben weil „das gebaute System der industriellen Gesellschaft eine semantische Reduktion erfahren, seine Macht zu sozialer Integration und damit gleichzeitig seine Autonomie und Spezifität eingebüßt hat.“4 Natürlich schreiben sich solche Analysen des modernen Stadtraums zu einem Gutteil aus einem architekturspezifischen Diskurs her, in dem es um die Abgrenzung gegen bestimmte bauliche Konzepte und Konzeptionen geht. Auf einer grundsätzlicheren Ebene aber wird hier von den Urbanismus-Kritikern mit Blick auf die moderne Stadt dasselbe gemacht, was für die Geschichte der Technikkritik dargestellt worden ist: Die technisch-materiale Seite einer Gesellschaft, das zivilisatorische Handwerkszeug, wird als das pragmatische Muss der Existenz zwar anerkannt, aus dem Komplex von Kultur und Geistigkeit aber herausgerechnet, wenn nicht als zu dessen Schaden wirkend deklariert. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass Sennett, Choay und mit ihnen die Kritiker moderner Stadtplanung ihre Befunde nicht als ontologische verstanden wissen wollen, wie es große Teile der Technikkritiker tun, die Technik per se in ein antagonistisches Verhältnis zur geistigen und kulturellen Entwicklung einer Gesellschaft setzen. Vielmehr wird im Urbanitätsdiskurs damit argumentiert, dass eine
„Semiotik und Urbanismus“, in: Carlini, Alessandro/Schneider, Bernhard (Hg.): Konzept 3, S.34. 3
Sennett, Richard: Civitas, S. 11.
4
Choay, Francoise : „Semiotik und Urbanismus“, in: Carlini, Alessandro/Schneider, Bernhard (Hg.): Konzept 3, S. 57.
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ehemals harmonische Korrelation von geistigen und materialen Strukturen einer Gesellschaft in der Moderne aufgebrochen wird. Sennett spricht von der „Spaltung der inneren, subjektiven Erfahrung und dem äußeren, materiellen Leben“,5 so dass fortan diese beiden als voneinander unabhängige Größen weiterexistieren. In der Tradition der unter dem Postulat der Entfremdung firmierenden linken Gesellschaftskritik stehend, bilanziert Sennett hier eine soziale Verlusterfahrung, die sich mit dem modernen Fortschritt in das Leben einschreibt. Zweifelsohne ist es so, dass mit der zunehmend sich ausdifferenzierenden modernen Industriegesellschaft eine Form komplexer Technisierungs- und Planungsstrukturen einhergeht bzw. allererst zur Voraussetzung moderner Gesellschaft wird, die den Akzent beim Städtebau mehr und mehr weg von in engem Sinne architektonischen Vorhaben – im Sinne einzelner, Wertsysteme verkörpernder Bauwerke – hin zu einer Stadtplanung verschieben, bei der die utilitaristischen und funktionalistischen Erfordernisse der technischen Organisation des Stadtraums in den Vordergrund treten. Diese Strukturen der Moderne, die als technisch-materiale Organisations- und Verteilungsstrukturen die Gesellschaft in ihrer Komplexität regeln und am Laufen halten, kann man insgesamt unter dem Begriff der Infrastruktur fassen. An ihrem Auftreten ist zu beobachten, wie technischer und städtebaulicher Diskurs im 20. Jahrhundert zunehmend miteinander verschmelzen. Ob allerdings, wie Sennett es diagnostiziert, dieses komplexer werdende technische Planungssystem sozialer Öffentlichkeit einerseits aus einem „zwanghaften Wunsch nach Neutralisierung“ erfolgt und andererseits zu einer „Verarmung der Sinne“ und damit zu einem Auseinanderfallen von „Technik und Lebenswelt“ und städtischem und kulturellem Raum führt, soll mit dieser Arbeit nicht nur in Frage gestellt werden. Ganz im Gegenteil soll stattdessen dargestellt werden, dass die Verbindung von Infrastrukturen als materialem Unterbau der Gesellschaft mit den kulturellen Formen dieser Gesellschaft auch und gerade in der modernen Stadt eine mindestens ebenso produktive und wechselseitige ist, wie Sennett das Verhältnis von Stadt und Kultur für die antike Welt beschreibt. Im Unterschied zur philosophischen und soziologischen Technikkritik und im Unterschied zu den Kritikern des modernen Urbanismus besteht die entscheidende Akzentverschiebung darin, den Fokus nicht mehr nur auf Technik und nicht mehr speziell auf architektonische Ensembles zu richten, sondern mit Infrastrukturen eine Verbindung technischer und städtebaulicher Perspektiven in den Blick zu nehmen, die in der Gleichzeitigkeit fester Anlagen und dynamischer Techniken das genuin der Moderne zugehörige Fundament urbanen Lebens bildet. Unter der Formulierung Technik als Kultur wurden im vorangegangenen Kapitel die wechselseitig produktiven Verbindungen von Technik und subjektiver wie
5
Sennett, Richard: Civitas, S. 12.
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gesamtgesellschaftlicher Kultur zumindest angedeutet. Mit Blick darauf, dass in der Moderne Technik als komplexes System – als infrastrukturelle Verkopplung technischer, planerischer und architektonischer Mittel – zutage tritt, kann nun diese Perspektive noch spezifiziert und erweitert werden. „Der geschichtliche Sinn der modernen Technik kann in der Tat so bezeichnet werden“, schreibt schon im Jahr 1929 der Technikphilosoph Hans Freyer: „sie sei der ‚Unterbau‘ einer Gesamtkultur.“6 Zwar spricht Freyer in Zusammenhang mit der modernen Technik noch nicht von Infrastruktur. In Anlehnung an die Marxsche Formel von der „zweiten Natur“ verweist sein Begriff der „sekundären Systeme“ aber auf eben diese Form der Verbindung von technischem Ensemble und Steuerungsmechanismus als nicht aus dem Blick zu verlierendes Fundament der Kultur der Moderne.7 Auch Arnold Gehlen verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der „Hintergrundserfüllung“, die einerseits zur Ausbildung von Gewohnheiten und andererseits zur Motivanreicherung durch Außenstabilisierung diene. Zum anderen verwendet Gehlen den Begriff der „Superstruktur“, die als wesentliche Kulturleistung der Entlastung des Mängelwesens Mensch fungiere.8 Zwar formulieren sowohl Freyer als auch Gehlen die Einsicht in die kulturelle Einflussnahme infrastruktureller Systeme, diese Einsicht droht aber – wie bei einem Großteil der soziologischen und philosophischen Auseinandersetzungen mit den Phänomen der Technik – immer wieder in eine pessimistische Modernevision umzuschlagen. Siegfried Giedions materialreiche Studie Die Herrschaft der Mechanisierung, die 1948 zunächst in Amerika erscheint, stellt einen der detailliertesten Versuche dar, die Rolle der technischen Mechanisierung, die als zweite Natur die langsame und unwiderrufliche Ausformung des täglichen Lebens betreibe, in ihren bedrohlichen Dimensionen zu beschreiben. Giedions Grundthese ist, dass sich die Mechanisierung als eine universale, dabei aber unbewusste Denkweise in allen Lebensbereichen durchsetzt und damit eine neue Form der Herrschaft etabliert. Michel Foucault stellt seine Medienanalyse insgesamt unter die Überschrift einer Machtanalyse. Die moderne Macht, so Foucault in Sexualität und Wahrheit, folge nicht länger dem personalisierten Autoritätsprinzip, sondern der Eigenlogik unbewusster Technologien, deren „höchste Funktion […] die vollständige Durch-
6
Freyer, Hans: „Zur Philosophie der Technik“, in: Ders.: Herrschaft, Planung und Tech-
7
Freyer spricht in diesem Zusammenhang von der Verbindung von Technik und Planung:
nik, S. 15. „Dann zeigt sich, daß der Begriff der Technik nicht zu Ende gedacht, ja daß er überhaupt nicht gedacht werden kann, ohne in eine höhere Kategorie einzudringen: in die Kategorie des Plans.“ Freyer, Hans: „Herrschaft und Planung. Zwei Grundbegriffe der politischen Ethik“ , in: Ders.: Herrschaft, Planung und Technik, S. 20. 8
Gehlen, Arnold: Sozialpsychologische Probleme der industriellen Gesellschaft.
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setzung des Lebens ist.“9 Dieses Unbewusste der Technik formt nach Foucault die Kommunikation einer Gesellschaft, diszipliniert die Körper ihrer Bürger und reglementiert, was wahrgenommen und aufgeschrieben wird. Mit den Worten Alfred Webers beschreibt Foucault die moderne Gesellschaft als ein gewaltiges System, das nicht durch Befehl und Gehorsam, sondern im Medium diffuser „Kontroll- und Zwangsinstitutionen“, mit „diskreten Überwachungs- und […] Zwangsmaßnahmen“10 fungiere. Die Überzeugung, dass infrastrukturelle Systeme eine ganz grundsätzliche gesellschaftsstrukturierende Kraft haben, ist offenbar auch Bestandteil von Analysen derjenigen, die sich als Warner und Mahner vor den unnatürlichen und damit immer auch unsozialen und nicht-kulturellen Auswirkungen der Technik verstehen, und die sich als Verteidiger einer Sphäre ursprünglicher und – soweit das denkbar ist – technikfreier Lebenswelt positionieren. Dass die Annerkennung von Infrastruktur als basaler Hintergrundsstruktur der Gesellschaft aber nicht zwangsläufig unter den Vorzeichen der Repression gelesen werden muss, dafür sprechen sich vor allem Arbeiten jüngeren Datums aus. So stellt der Medienwissenschaftler Manfred Faßler in seinen Reflexionen zur Netzwerktheorie zunächst einmal fest, „daß es neben den sogenannten dauerhaften und determinierenden natürlichen Hintergründen menschlich gemachte, konstruierte Felder gibt, die die Sicherheits- und Verläßlichkeitserwartungen ebenso bedienen wie Anschlußfähigkeit und bedachte und begründete Veränderung. Diese im weiteren Sinne ‚Struktur‘ genannten Maße und Maßstäbe von Zusammenhängen sind unhintergehbar mit dem verbunden, was herkömmlich Identität genannt wird.“11
9
Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, S. 166.
10 Ders: Überwachen und Strafen, S. 386. Vgl. auch die Einleitung zu Maresch, Rudolf/Werber, Niels (Hg.): Kommunikation, Medien, Macht. 11 Faßler, Manfred: Netzwerke, S. 164. Vgl. hierzu die umfassende Anweisung, die Bubner und Mesch an eine künftige Technikphilosophie stellen: „Denn dass Technik nicht bloß ein Inbegriff disponibler Fähigkeiten und Mittel ist, wie er von manchen Protagonisten vorgängiger Technikphilosophie gefasst wurde, sondern a) wesentliches Konstituens eines Selbstbewusstseins, welches sich als welterschließend und -gestaltend begreift, ferner b) nicht als bloßes Instrumentarium – in der Domäne einer verkürzten Klugheit – Zwecksetzungen untergeordnet ist, über welche die Ethik regiert, sondern als Medium der Wirklichkeitserzeugung sowohl die Reflexionsbasis als auch die Verwirklichungsgarantie der Sittlichkeit abgibt, also ihrerseits ethisch sensitiv ist, und schließlich c) in ihrer Systematik die Struktur dessen prägt, was dann höherstufig als System die wirtschaftliche und politische Verfasstheit ausmacht – dies zusammenzudenken legte die Aufgabe einer sich entwickelnden Technikphilosophie fest, der sich seit Marx dann Denker unterschiedlicher
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Darüber hinaus heißt es bei Faßler, solcherart „Standardisierungen sind unhintergehbare Bedingungen für Vermittlung, Verständnis, Interindividualität und Kultur.“12 Um die Aufwertung dieser Form technisch bedingter Identität geht es auch dem Historiker Georg Schmid, der den Begriff der „Technokultur“ entwickelt, „um damit auf Feld, Ausdehnung, ‚Strahlkraft‘ bestimmter Entwicklungslinien von Industrien und technologischen Basisoptionen verweisen zu können.“13 Schmid vertritt die Überzeugung, dass es die alltäglichen Techniken sind, die das kulturelle Gesicht einer Zeit formen. Gerade diese alltäglichen Techniken aber werden aufgrund ihrer fehlenden Ereignishaftigkeit im Gegensatz zu den vermeintlich spektakulären historischen Neuerungen zumeist übersehen. Dirk van Laak, dessen historisches Interesse sich ebenfalls auf die Konstruktionen des Alltags richtet, kommt entsprechend zu dem Befund, dass Infrastrukturen – als wesentliche technische Verbünde des modernen Alltags – aus der Geschichtswissenschaft, wie in Philosophie und Kulturwissenschaften, bisher weitgehend ausgeklammert worden sind: „In der klassischen Geschichtsbetrachtung der historischen Schule hatten die Dinge des Alltags keine Bedeutung. Weder die Dinge, noch der Alltag. Der Alltag nicht, weil er in aller Regel nicht zur Geschichte gerechnet wurde. […] Die Dinge nicht, weil sie zur Sphäre des Materiellen gehören, also nicht zum Geistigen.“14
Infrastrukturen im Besonderen nun haben „in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten vielleicht am tiefgreifendsten in unser aller Alltagsleben eingegriffen […]. Dennoch hat sich die Geschichtswissenschaft dieser Einrichtungen der Ver- und Entsorgung, des Verkehrs und der Kommunikation kaum einmal angenommen.“15
Provinienz widmen.“ Bubner, Rüdiger/Mesch, Walter (Hg.): Die Weltgeschichte – das Weltgericht, S. 338. 12 Faßler, Manfred: Netzwerke, S. 192. 13 Schmid, Georg: Die Spur und die Trasse: (post-)moderne Wegmarken der Geschichtswissenschaft, S. 271. 14 van Laak, Dirk: „Infrastrukturen“, in: König, Gudrun M. (Hg.): Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, S. 81; vgl. auch: van Laak, Dirk: „Alltagsgeschichte“, in: Maurer, Michael (Hg.): Aufriss der historischen Wissenschaften in sieben Bänden, Bd. VII: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, S. 14-80. 15 van Laak, Dirk: „Infrastrukturen“, in: König, Gudrun M. (Hg.): Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, S. 84.
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Es handelt sich hierbei nach van Laak um eine wesentliche Forschungslücke, bilden sich doch in Infrastrukturen „gesellschaftliche Gedächtnisstrukturen ab“16 . Auch aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft sei eine systematische Aufarbeitung der, wie Schmid es nennt, „Technokultur“ einer Zeit das probate Mittel, um Aufschluss über die geistigen und kulturellen Konfigurationen einer Zeit zu gewinnen. Im Gegensatz zu dem Urteil Sennetts und seiner These über die „Spaltung zwischen der inneren, subjektiven Erfahrung und dem äußeren, materiellen Leben“17 wird hier die Überzeugung einer Verbindung von modernen technischen Strukturen und der Gesellschaft vertreten, die in zweifacher Hinsicht eine positiv-produktive Lesart an den Tag legt. Wenn Sennett die materialen Fundamente der griechischen Gesellschaft und die geistig-ideologischen Prämissen dieser Zeit in einem unmittelbaren Zusammenhang sieht, dergestalt, dass in den Ausbildungen des öffentlichen Raums der Geist einer Zeit zum Ausdruck kommt, und wenn er zudem der Überzeugung ist, dass diese materialen Formen immer auch als Stabilisatoren, wenn nicht als Produzenten dieser geistigen Verfasstheiten fungieren, dann erkennt van Laak in den modernen technischen Ensembles eine ebensolche Synthese von geistiger und materieller Kultur, wenn er sagt, in den Infrastrukturen bildeten sich gesellschaftliche Gedächtnisstrukturen, also die geistig-kulturellen Strukturmomente einer Gesellschaft, ab. Das täten sie wiederum deswegen – und damit wird auch der zweite Aspekt von Sennetts Argumentation aufgenommen und für die Technik der Moderne reklamiert –, weil Infrastrukturen mit den Worten Georg Schmids eine „Strahlkraft“ besitzen, die sämtliche anderen Bereiche der Gesellschaft mit- und, in einem wertneutralen Sinne, überformen. 18
16 Ebd., S. 91. Und mit Blick auf die Leerstellen der historischen Disziplin in diesem Zusammenhang heißt es weiter: „Und ein Nachvollzug ihrer Geschichte kann auch wieder herausführen aus der entmaterialisierten Tendenz der jüngeren Kulturgeschichte hin zu Dingen, die jedem Alltag vorgelagert sind und ihn in fundamentaler Weise strukturieren.“ 17 Sennett, Richard: Civitas, S. 12. 18 Gerrit Confurius schreibt über die moderne Architektur, die im 20. Jahrhundert – nach rational-industriellen Standards konzipiert – ebenfalls zum technisch-materialen, also im weitesten Sinne infrastrukturellen Fundament der Gesellschaft gezählt werden muss: „Sie hat einen nicht zu überschätzenden Anteil daran, wie wir leben und wie wir die Welt und uns selbst erleben, am Aufbau und an der Stabilisierung der Selbstverständlichkeitsstrukturen unserer Alltagswelt und daran, wie es uns gelingt, von uns selber, die wir diese Welt konstituieren, abzusehen, und die Strukturen der Außenwelt und damit unsere Verhaltensnormierungen als etwas zu erfahren, das nicht wegzudenken ist, das gar nicht anders denkbar ist. Sie ist die Infrastruktur einer sich in den Körper einnistenden und um den Körper herumlegenden Kultur der Gestik und der Dinge, in deren Schicklichkeit und ‚richtigen‘ Gebrauchsweisen das gesamte Alltagsleben sozial kodiert wird und sich in
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Der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme bezeichnet moderne Techniken deshalb als „Superstruktur“ der Gesellschaft: „Technik ist längst nicht mehr ein Subsystem der Gesellschaft, deren übrige Sektoren – z.B. Medien, Verwaltung, Stadtkultur – sich unabhängig von Technik entwickeln würden. Eher stellt die Technik eine Superstruktur der Gesellschaft dar, will sagen: Es gibt in der Kultur (beinahe) nichts, was nicht technisch verfaßt wäre. Die moderne Kultur ist technomorph, das heißt, ihre wesentlichen Erscheinungsformen sind technisch geprägt.“19
Dass die Kultur in dieser umfassenden Weise eine technomorphe Gestalt annehmen kann, wird nach Böhme bedingt durch den Systemcharakter der modernen Technik: „Moderne Technik tritt nicht mehr als einzelne Praxis auf, sondern als komplexes soziales System mit weitreichenden kulturellen Folgen.“20 Die grundlegende kulturelle Folge, die mit der Etablierung technischer Systeme einhergeht, besteht nach Böhme darin, dass „die sozialen Kommunikationsformen entsprechend modalisiert werden.“21 Diese Modalisierungen, so Böhme, dürfen nun nicht nur als aus einem unmittelbaren und einsträngigen Ursache-Wirkung-Verhältnis hervorgehend verstanden werden. An dieser Stelle könnte wiederum der Begriff der Strahlkraft von Georg Schmid zum Einsatz kommen, der die vielschichtigen und manchmal ungerichteten, jenseits funktionaler Zweckmäßigkeiten auftretenden Wirkungen von Techniken umschreibt. Böhme verdeutlicht dies am Beispiel des Autos: „Das Auto ist nicht die funktionale Antwort auf ein Bedürfnis nach Bewegungsoptimierung, sondern ein strategisches Dispositiv, das ein ganzes System voraussetzt und erzeugt: von der Fabrik zum Straßennetz, von der Logistik bis zur Integration einer riesigen Zahl von SubTechniken, von Verhaltenskonditionierung aller Teilnehmer bis zur Verrechtlichung, von der Subsumierung der Städte unter das System Auto bis zu seinen ökonomischen Dimensionen, welche von der Haushaltspolitik des Staates über die Profitpolitiker der Industrie bis in die private Ökonomie und den Lebensstil der Nutzer hinreichen.“
dieser Kodiertheit als Konstituiertes und damit Kontigentes sichtbar macht.“ Selbstverständlich argumentiert Confurius hier aus einer zivilisations- und damit fortschrittskritischen Perspektive. Confurius, Gerrit: „Alltäglicher Situationismus“, in: Lammert, Angela/Diers, Michael/Kudielka, Robert/Mattenklott, Gert (Hg.): Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. 19 Böhme, Hartmut: „Kulturgeschichte der Technik“, in: Orientierung Kulturwissenschaften, S. 164-178. 20 Ebd. 21 Ebd.
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In diesem Sinne, so schreibt Böhme, „ist das technische Dispositiv ‚Auto‘ eine komplexe, dynamische und extrem festlegende kulturelle Konfiguration.“22 Indem sie „Codierungen des Umgangs“23 enthält und soziale Verhaltens- und Kommunikationsformen modalisiert, wird Technik so einerseits zur „Superstruktur“ der Gesellschaft, anderseits prägt Böhme aber auch den Begriff von Technik als „Inwelt“24. Technik umgibt mithin nicht nur als Umwelt das Leben, sondern durchdringt und strukturiert es bis in die kleinsten Verrichtungen hinein. Obwohl die Begrifflichkeiten von Technik als „Superstruktur“ einerseits und Technik als „Inwelt“ andererseits es nahe legen, kommt der Begriff der Infrastruktur bei Böhme nicht vor. Das ist insofern erstaunlich, als doch dieser Terminus in idealer Weise das zu fassen vermag, was Böhme in seinen Ausführungen über die Kulturgeschichte der Technik hinsichtlich der kulturellen Potentiale der Technik und den Bedingungen ihrer Verfasstheit in der Moderne herausarbeitet. Denn Infrastrukturen bezeichnen ja nicht nur die basalen technischen Organisationmodi, die sämtlichen Lebensbereichen zugrunde liegen, und die nicht nur auf rein technische Vorgänge beschränkt sind, sondern sie verbinden sich mit der sozialen Organisation und schreiben sich in diese ein. Sie sind dabei von einer Unhintergehbarkeit, die Böhme zur Bedingung der kulturellen Konfigurationskraft von Technik erklärt. Nicht zuletzt schließt der Begriff der Infrastruktur dasjenige Moment ein, das Böhme in seiner Definition zur Grundlage der umfassenden Einflussnahme von Technik auf alle anderen, vermeintlich nicht-technischen Lebensbereiche erklärt: das Auftreten als komplexes System. Wenn Sennett über die Verbindung von antiker Stadt und den Formen der antiken Kultur schreibt: „Die alten Griechen konnten die Komplexität des Lebens mit den Augen sehen. Die Tempel, die Märkte, die Stadien, die Versammlungsorte, die Mauern, die öffentlich sichtbaren Statuen und Bilder der antiken Stadt, sie alle verkörpern die Wertvorstellungen dieser Kultur in bezug auf Religion, Politik und Familie.“25,
hingegen seien „(a)ls Stoff für die Kultur […] die Steine der modernen Stadt von den Planern und Architekten, wie es scheint, schlecht gesetzt, denn das Einkaufszentrum, der Parkplatz, der Aufzug im Apartmenthaus verraten in ihrer Form nichts von der Komplexität des möglichen Lebens in ihnen“, dann muss es anstelle dessen heißen: Es ist vor allem der Systemcharakter der modernen Technik, der eine ganz grundlegende und umfassende Strukturierung der Gesellschaft und ihrer kulturellen
22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Sennett, Richard : Civitas, S. 11.
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Praktiken bedingt. Der Modus der Vernetzung als Bedingung für Konfigurationen und Veränderungen von Konfigurationen ersetzt dabei das, was die auf Ewigkeit angelegten Architekturen der griechischen Städte ausgemacht haben, auf die Sennett sich in seinen Beschreibungen bezieht. Heißt es bei Böhme in Abgrenzung von Heidegger, Technik habe ihr Wesen nicht darin, dass sie „Gestell“, 26 sondern darin, dass sie Vernetzung sei,27 dann basiert eine Theorie der Inframedialität auf der Verbindung dieser beiden Positionen: Technik ist Gestell insofern, als sie der Unterbau einer Gesellschaft ist, der sie in ihren wesentlichen kulturellen und sozialen Strukturen formt – und umgekehrt natürlich auch von dieser Gesellschaft immer wieder selbst verändert wird. Und die Technik kann diese Gestell-Funktion einnehmen, eben weil sie auf einer umfassenden Vernetzungsstruktur beruht. Der Strukturierung von Gesellschaft und Kultur durch Technik sind nun zwei, auf den ersten Blick nicht zwingend miteinander in Einklang stehende Wesensmerkmale eigen. Auf der einen Seite ist in der Moderne die Kopplung von technischen, materialen Grundlagen und geistigen Gehalten nicht in einer so unmittelbarer Weise sichtbar, wie Sennett es für die antike Stadtkultur beschreibt. Das heißt, die technisch bedingten kulturtransformierenden Vorgänge spielen sich eben aufgrund ihrer umfassenden und komplexen Durchdringung des Lebens auf einer sehr viel subtileren Ebene ab. Dirk van Laak spricht davon, dass die Wirkungen von Infrastrukturen ins Unbewusste verschoben werden. Auf der anderen Seite – das wurde anhand des Kulturbegriffs von Clifford Geertz bereits deutlich – sind Infrastrukturen aber eine materiale Basis, durch die Kultur nicht in einer idealistischen Endlosschleife erklärt werden muss, sondern als auf konkreten Bedingungen fußend erkannt und reflektiert werden kann. So verleihen Infrastrukturen kulturellen Prozessen eine Sinnlichkeit und Anschaulichkeit, die der These vom Unbewusstwerden von Infrastruktur auf den ersten Blick entgegenstehen mag. Tatsächlich aber muss man diese Gleichzeitigkeit von Sinnlichkeit und Unsichtbarkeit als einen Prozess ständiger Wechselwirkung verstehen, der die durch Technik in Gang gehaltenen kulturellen Vorgänge auf der einen Seite der Aufmerksamkeit entzieht, indem sie zur alltäglichen Normalität und Routine werden, der sie aber auf der anderen Seite immer wieder ins Zentrum der Anschaulichkeit stellt. Infrastrukturen bedingen so in ganz grundsätzlicher Weise die Transformation der Gesellschaft. Und gleichzeitig fungieren sie auch als Versinnlichung eben dieser Transformation.
26 Vgl. Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre, S. 14-19. 27 Böhme, Hartmut: „Einführung. Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“, in: Barkhoff, Jürgen/Böhme, Hartmut/Riou, Jeanne (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, S. 18.
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Weil diese Wechselwirkung von Gesellschaft und Infrastruktur nun nicht derart offensichtlich in Erscheinung tritt, wie Richard Sennett es für die antike Kultur feststellen konnte, müssen die Kategorien für die Untersuchung des kulturbildenden und -transformierenden, also des medialen Potentials von Infrastruktur zunächst herausgearbeitet werden, um in der Folge eine Theorie der Inframedialität entwickeln zu können, die – ohne das Ganze unter die Perspektive einer im Zeichen der Repression und Deformation stehenden Moderne- oder Technikkritik zu stellen – Aufschluss gibt über die Strukturbildungen und Veränderungen einer Gesellschaft in einer bestimmten Zeit durch eine bestimmte Infrastruktur.
2. I NFRASTRUKTUR : K ONSTRUKTIONEN VON KULTURELLEN R ÄUMEN DURCH V ERNETZUNG 2.1 Transformationen von Raumvorstellungen durch Beschleunigung Technische, insbesondere verkehrstechnische Vernetzung wird neben der Kategorie der Zeit gerade in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen immer wieder mit den verschiedenen Spielarten des Räumlichen in Zusammenhang gesetzt. Stellt Vernetzung die basale Bedingung dafür bereit, dass Beschleunigung überhaupt, vor allem ungestört und dauerhaft erfolgen kann, so wird sie nicht nur zum Hauptakteur, wo es um die Veränderungen zeitlicher Dimensionen geht, sondern auch und gerade dort, wo Fragen des Raums zur Disposition stehen.28 Karriere hat dabei vor allem die Annahme eines Kleinerwerden des Raums gemacht, die in der Forschung lange Jahre unter den Topoi des Schrumpfens und der
28 Foucault nennt das 20. Jahrhundert, in Abgrenzung zum 19. und mit Verweis auf die Struktur des Netzes, das Jahrhundert des Raumes: „Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich die Geschichte gewesen: die Entwicklung und der Stillstand, die Krise und der Kreislauf, die Akkumulation der Vergangenheit, die Überlast der Toten, die drohende Erkaltung der Welt. Im Zweiten Grundsatz der Thermodynamik hat das 19. Jahrhundert das Wesentliche seiner mythologischen Ressourcen gefunden. Hingegen wäre die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes. Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.“ Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Karlheinz Barck (Hg.) u. a., S. 34.
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Vernichtung des Raums diskutiert worden ist. Prominentester Stichwortgeber hierfür ist Paul Virilio, dessen seit den 1970er Jahren entstandene Arbeiten über die von ihm so genannte Dromologie, die Wissenschaft von der Beschleunigung, in einer Mischung aus essayistisch-assoziativer Methodologie und historischer Materialbasis allesamt um das Phänomen des „Verschwinden des Raums“ kreisen. Hat also in den 1980er und 1990er Jahren die These einer kausalen Verknüpfung von fortschreitender Technisierung und einem Ortloswerden oder „A-topischWerden“ der Moderne die Theorie geprägt, dann ist erst seit Kurzem eine vor allem von den Kulturwissenschaften betriebene Entwicklung in Gang gesetzt worden, die unter dem Stichwort einer Renaissance des Raums firmiert. 29 Unter den Schlagworten des „topograhical“30, „spatial“31 oder „topological turn“32 werden hier verschiedene Spielarten einer Wiederkehr des Raums diskutiert, dessen Bedeutung lange Zeit vernachlässigt worden sei.33 Dass unter dieser Prämisse dann auch aus den verschiedenen Disziplinen der Blick auf den urbanen Raum gerichtet wird, ist eine Selbstverständlichkeit. 34 Immer da aber, wo der für die Großstadt paradigmatische Topos des Verkehrs, der Modus
29 Vgl. in Auswahl: Borsò, Vittoria/Göhring, Reinhold (Hg.): Kulturelle Topographien; Böhme, Hartmut: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext; Lange, Sigrid: Raumkonstruktionen in der Moderne, Kultur, Literatur, Film; Hofmann, Franck/Lazaris, Stavros/Sennewald, Jens E. (Hg.): Raum – Dynamik. Beiträge zu einer Praxis des Raums. Im Zuge dieser Hinwendung zum Raum richtet sich das Interesse natürlich auch auf bisher weniger beachtete Texte der klassischen Philosophie, vgl. den Sammelband: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg.). Einen Versuch zur fächerübergreifenden Disziplinenbildung unternahmen jüngst Kessl, Fabian/Christian Reutlinger/Susanne Maurer/Oliver Frey (Hg.): Handbuch Sozialraum. 30 Vgl. Weigel, Sigrid: „Zum „topographical turn“. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“, in: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft, Bd. 2, 2002, S. 151-165. 31 Vgl. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, S. 17-78. 32 Günzel, Stephan: Topologie. WeltRaumDenken. 10.11.2005. Online abrufbar unter: http://www.geophilosophie.de/Material/Guenzel_Topologie-Einfuehrung.pdf (27.1.2006). 33 Natürlich aber formieren sich auch zu dieser Entwicklung bereits Gegenstimmen: Geppert, Alexander/Jensen, Uffa /Weinhold, Jörg (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. 34 In Auswahl: Schroer, Markus: Räume, Orte Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes; Wentz, Martin (Hg.): Stadt-Räume.
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der durch Technisierung beschleunigten Bewegung ins Spiel kommt, scheint sich – trotz aller Bemühungen um eine Rehabilitierung des Raums – eine Tradition fortzusetzen, wie sie vermeintlich mit den modernen Verkehrsmitteln aus der Taufe gehoben worden ist. Bereits im Brockhaus der Gegenwart aus dem Jahr 1838 heißt es über die Auswirkungen der Eisenbahnen: „Sie heben die räumliche Trennung durch Annäherung in der Zeit auf […]. Denn alle Räume sind nur durch die Zeit, derer wir bedürfen, um sie zu durchlaufen, Entfernungen für uns; beschleunigen wir diese, so verkürzt sich für den Einfluss auf das Leben und den Verkehr der Raum selbst. […] Eisenbahnen reduzieren Europa ungefähr auf den Flächenraum Deutschlands.“35
Diese Tradition der Ungleichung von Geschwindigkeit und Raum setzt sich auch in den Diskursen über die Urbanisierung fort. Was allerdings immer wieder in dieser Auseinandersetzung mit dem Geschwindigkeits-Raum-Paradigma übersehen wird, ist die Tatsache, dass es sich bei diesem aus der technischen Bewegung erwachsenen Phänomen nicht eigentlich um eine Veränderung des Raums, sondern – das wird schon in der anthropologischen Perspektivierung des Brockhaus-Zitats deutlich – um eine Entkonkretisierung des Raums bzw. noch deutlicher: Um eine Entkonkretisierung der Raumwahrnehmung handelt. Selbst dort allerdings, wo man ganz eindeutig Phänomene der Wahrnehmungstransformation beschrieben findet, werden dann letzten Endes doch wieder die Vokabeln von der Schrumpfung des Raums bemüht. So heißt es beispielsweise bei dem Soziologen Hartmut Rosa, der jüngst den umfang- und materialreichen Versuch unternommen hat, eine theoretische Grundlage für die Beschleunigung als Wesen der Moderne zu erarbeiten. Solange wir uns zu Fuß fortbewegen, so Rosa, „nehmen wir den Raum in allen seinen Qualitäten unmittelbar wahr; wir fühlen, riechen, hören und sehen ihn. Mit dem Straßenbau beginnt die Einebnung des Geländes, die Beseitigung von Hindernissen, die Manipulation der Raumqualität; […]. Mit der Erfindung der Autobahnen wird der Raum dann bereits verkürzt, zusammengedrängt, ausgeblendet. Den Blick ab von der immer gleichen Fahrbahn und in den Raum zu richten wird lebensgefährlich. Wo er sich jeweils befindet, liest der Fahrer nicht mehr an der vorbeiziehenden Landschaft ab, sondern an den abstrakten Symbolen am Wegesrand oder gar vom Display seines Bordcomputers.“36
35 Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, S.164. 36 Ebd.
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Was Rosa beschreibt, ist eine Veränderung des Verhältnisses von fahrendem Subjekt und Landschaft dergestalt, dass eine – von Rosa quasi als ursprüngliche apostrophierte – Bindung, die auf der Annahme einer Durchquerung des Raums mit der metabolischen Eigengeschwindigkeit des Fußgängers beruht, aufgehoben wird. Diese Entkonkretisierung der Wahrnehmung des Außenraums und eine damit einhergehende Aufhebung des haptischen Bezugs zu diesem Raum durch die Beschleunigung qua Technik ist leicht nachzuvollziehen. Ob es allerdings sinnvoll ist, hierbei – und Rosa sei in diesem Zusammenhang nur stellvertretend für eine ganze Forschungsrichtung genannt – von einer „Verkürzung des Raums“ zu sprechen, soll an dieser Stelle nicht nur mit einem großen Fragezeichen versehen werden, handelt es sich doch um eine ganz wesentliche Unschärfe insofern, als sich nicht der Raum verändert, sondern nur die Weise seiner Wahrnehmung, indem durch die Bindung des Subjekts an und vor allem sein Aufgehobensein in den technischen Apparat eine Distanz zum durchquerten Raum entsteht und zudem der Fokus der Aufmerksamkeit sich in den Apparat hinein und auf die technischen Vollzüge und ihre re37 zeptionsästhetischen Neuerungen hin verlagert. Selbst der Begriff der „Entkonkretisierung“ der Raumwahrnehmung scheint deshalb noch zu negativ konnotiert, ist ihm doch ebenfalls der Modus des Verlusts eingeschrieben. Sehr viel sinnvoller erscheint mithin, den neutralen Terminus der Wahrnehmungstransformation und damit der Transformation des Raumverständnisses durch veränderte Formen der Beschleunigung zur Grundlage der Überlegungen zu machen.38 Denn tatsächlich wird Raum überhaupt erst durch die durchque-
37 Der Begriff der „Ortlosigkeit“, den Kudielka und Lammert alternativ zu dem auf den Begriff des Raumes abzielenden Schwundstufenvokabulars prägen, scheint auch nicht unmittelbar zu überzeugen, wohl aber die Erläuterung, die sie auf ihn folgen lassen: „Die Aktualität des Raumes in der zeitgenössischen Kunst ist untrennbar verknüpft mit der Erfahrung der Ortlosigkeit, d.h. der Auflösung verläßlicher Grenzen und Richtmaße in der Moderne. Die Mobilität der Gesellschaften und die Globalisierung der technischen und ökonomischen Entwicklung lassen erkennen, daß der Verlust traditioneller Grundlagen und Hierarchien zu einer Vorstellung von Raum führt, die stärker von den beweglichen Parametern der Wahrnehmung und des okkasionellen Handelns bestimmt ist, von dem ‚ensemble relations‘.“ Kudielka, Robert/Lammert, Angela: „Die Erfindung und die Wiederfindung des Raums“, in: Lammert, Angela (Hg.): Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart, S. 42. 38 In seinen Überlegungen zur Geschichte des Fahrstuhls macht Andreas Bernard den Vorschlag, die Ablösung des Treppenhauses durch den Fahrstuhl, die ganz wesentlichen Einfluss auf die Wahrnehmung des Hauses hat, als den Übergang vom analogen zum digitalen Prinzip zu verstehen. Bernard zitiert in diesem Zusammenhang die Definition aus Michel Serres’ Thesaurus der exakten Wissenschaften: „In der Informationstechnik
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rende Bewegung erfahrbar: Am Unbewegten, so Böhme, „können wir weder Raum noch Zeit begreifen“, woraus folgt – und das kann man durchaus in doppeltem Sinne wörtlich nehmen: „Raum kann nur in bzw. durch Bewegung erfahren werden.“39. So wäre es weitaus interessanter, nicht immer wieder die These vom Verschwinden des Raums durch Technik und technische Beschleunigung zu variieren, sondern statt dessen zum einen zu fragen, was für neue Arten von Räumen – wie z.B. Bahnhöfe, Haltestellen, Kreuzungen, Innenräume von Fahrzeugen – in den verschiedenen Phasen der Geschichte der technischen Beschleunigung im Gegensatz zu einem als natürlich oder ursprünglich zu apostrophierenden Raum zentral und welche Bedeutungen und Assoziationen mit ihnen verbunden werden.40 Vor allem aber ist auf der Ebene der Wahrnehmungstransformation zu fragen, wie genau sich die Verhältnisse der Wahrnehmung des durchquerten Raums verändern und welchen Status und welche Form er nunmehr innehat. 41
spricht man von einem analogen Signal, wenn es die Botschaft, die es trägt, kontinuierlich in einem proportionalen Verhältnis übermittelt […]. Im Unterschied zu analogen Verfahren reduzieren digitale Techniken die Informationen auf die Abfolge ganzer Zahlen.“ Serres, Michel/Farouki, Nayla (Hg.): Thesaurus der exakten Wissenschaften, S. 37. Genau diese strukturelle Verschiebung, so Bernard, treffe in den Jahren um 1900 auch auf die Erschließung von Gebäuden mit dem Fahrstuhl zu. Vgl. Bernard, Andreas: Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne, S. 65. 39 Böhme, Hartmut: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, S.XIVf. (Hervorhebungen, W.P.) 40 Vgl. hierzu Geisthövel, Alexa/Knoch, Habbo (Hg.): Orte der Moderne. 41 Richard Sennett vertritt die Überzeugung, dass mit der Technisierung der Fortbewegung sich nicht nur die Wahrnehmung des Stadtraums verändert, sondern dass damit einherund darüber hinausgehend der Stadtraum an Attraktionen und Stimulanzien abnimmt, eben deswegen, weil der Fokus der Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Fahrens selbst gelegt wird: „[...] – heute messen wir städtischen Raum daran, wie leicht wir ihn durchqueren und verlassen können. Das Aussehen des städtischen Raums, das von diesen Bewegungsmächten versklavt wird, ist notwendigerweise nichtssagend: Der Fahrer kann nur bei einem Minimum an Ablenkung sicher fahren; gutes Fahren fordert genormte Leitplanken und Straßen ohne eigenes Straßenleben – abgesehen von den anderen Fahrern. In dem Maße wie der städtische Raum zur bloßen Funktion der Bewegung wird, ist er auch weniger stimulierend; der Fahrer will den Raum durchqueren, nicht durch ihn angeregt werden. [...] Freie Bewegung vermindert die sinnliche Wahrnehmung, die Erregung durch Orte oder die Menschen an jenen Orten. [...] Dieses allgemeine Prinzip sehen wir nun in Städten verwirklicht, die den Bedürfnissen des Verkehrs und der schnellen Individualbewegung überlassen worden sind, Städten voller neutraler Räume, Städten, die der
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Der technische Fortschritt in der Moderne ist – auch wo es sich nicht um vernetzte Transportsysteme handelt – immer dominiert von den Faktoren der Vernetzung und der Beschleunigung. So dass selbst da, wo diese Parameter nicht so offensichtlich im Vordergrund stehen, neue Raumkonzepte modelliert werden. Für die vorliegende Studie meint eine solche Analyse der Neukonzeptionen von Raum und Raumimaginationen neben den Untersuchungen des Fahrgastraums als neuartigem Innenraum vor allem die Analyse der Veränderungen des Stadtraums und seiner Wahrnehmung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Transformation des urbanen Raums an der Schwelle zur Moderne durch den öffentlichen Nahverkehr eine doppelte ist. Zum einen ist die Herausbildung des Nahverkehrsnetzes eine der zentralen Konstitutionsgrundlagen der modernen Metropole überhaupt, das heißt, die Veränderungen des Stadtraums sind ganz wesentlich solche des Baus von Nahverkehrsinfrastruktur: Das Kopfsteinpflaster der Straßen wird aufgerissen, um Schienen zu verlegen. An Masten wird das Netz der elektrischen Oberleitungen gespannt. Riesige Baugruben für die U-Bahn-Schächte werden ausgehoben.42 Ganze Plätze werden der neuen Verkehrssituation entsprechend umgestaltet. Diese Herausbildung des urbanen Raums der Moderne wiederum – und das ist die zweite Seite dieser Transformation der Stadt durch den öffentlichen Nahverkehr – wird im Wesentlichen wahrgenommen aus eben diesem öffentlichen Nahverkehr heraus. Stadtbeobachtung findet zunehmend aus der Perspektive des Fahrenden statt. Denn der öffentliche Nahverkehr avanciert innerhalb weniger Jahre zum Massenverkehrsmittel schlechthin, das – nahezu allen Bevölkerungsschichten zugänglich – zur favorisierten und meist frequentierten Art der Stadtdurchquerung wird. Wenn Hartmut Rosa über die Veränderungen der Landschaftswahrnehmung durch Autos und Autobahnen schreibt: „Den Blick ab von der immer gleichen Fahrbahn und in den Raum zu richten wird lebensgefährlich. Wo er sich jeweils befindet, liest der Fahrer nicht mehr an der vorbeiziehenden Landschaft ab, sondern an den abstrakten Symbolen am Wegesrand oder gar vom Display seines Bordcomputers“43,
Herrschaft des Kreislaufes erlegen sind.“ Sennett, Richard: Fleisch und Stein, S. 24 und S. 320. 42 Vgl. die von Jürgen Groth herausgegebene Photodokumentation: Berlin-Mitte um die Jahrhundertwende. 103 Photos aus dem Bildarchiv der Berliner Verkehrs-Gesellschaft (BVG). 43 Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung von Zeitstrukturen in der Moderne, S. 164.
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wenn er also die Ablösung des Subjekts von den konkreten Signaturen der Landschaft und die Fokussierung des Fahrzeuginnenraums beschreibt, dann muss entsprechend die Transformation der Raumwahrnehmung, die durch den öffentlichen Nahverkehr bedingt wird, eine Veränderung der Modi sein, in denen der Stadtraum Eingang in die Wahrnehmungs- und Darstellungsformen findet. Darüber hinaus müssen die Transportmittel selbst als neue Form der öffentlichen Innenräume untersucht werden, in denen diese neuen Wahrnehmungserfahrungen sich realisieren. In einer Untersuchung der Auswirkungen von Technik auf die Kategorie des Raums muss deshalb zunächst die innerhalb der Forschung populäre These des Verschwindens des Raums durch Technik bzw. technische Beschleunigung widerlegt werden, indem dargestellt wird, wie sich erstens nicht der Raum selbst, sondern die ihm entgegengebrachten Rezeptionsverhältnisse verändern, und wie, zweitens, im Zuge dieser Wahrnehmungsverschiebung neue Räume sich als wesentlich herauskristallisieren. Hinzu kommt noch ein dritter Aspekt: Wenn sich die Wahrnehmung von Räumen bzw. die Wahrnehmung innerhalb des Raums verändert, dann zieht das zwangsläufig auch eine Veränderung nicht nur der Darstellung dieser Räume nach sich, sondern auch eine Veränderung ästhetischer Formen. Dass eine Veränderung der Raumwahrnehmung, wie sie aus einer Transformation der Bewegungsverhältnisse hervorgeht, einen ganz grundlegenden Einfluss auf die Ästhetik einer Zeit hat, stellt um 1900 schon der zeitgenössische Kulturbeobachter Michael Haberlandt fest, allerdings noch mit Blick auf ein Fortbewegungsmittel der vorelektrischen Zeit, das nur auf mechanischer Technisierung fußt – das Fahrrad: „Der flüchtige Blick, die Raschheit des Wechsels, die Flucht der Momentbilder im raschen Flug auf rollendem Rad, während das Auge unablässig die Bahn controlliert, diese neue Art zu schauen, bedingt gewissermaßen auch eine neue Ästhetik.“44
Die Untersuchungen inframedial bedingter Veränderungen der Raumwahrnehmung müssen mithin einhergehen mit der Frage nach den damit zusammenhängenden Neukonzeptualisierungen von ästhetischen Repräsentationsformen. 2.2 Genese von Raum und Raumvorstellungen durch Infrastruktur Mindestens ebenso wichtig wie die Relativierung der These vom Verschwinden des Raums scheint im Kontext von infrastruktureller Vernetzung und Raum ein weiterer Aspekt, der vom Gros der Forschung übersehen wird. Denn sie legt ihren Fokus
44 Michael Haberlandt: „Das Fahrrad“, in: Ders.: Cultur im Alltag, gesammelte Aufsätze, S. 130.
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zumeist ausschließlich auf den Aspekt der Beschleunigung innerhalb von technischen Netzwerken, nicht aber auf den Sachverhalt der Vernetzung selbst. Dieser aber kommt im Zusammenhang mit der Genese von Räumen eine ganz wesentliche Bedeutung zu. Zwar mag im speziellen Moment der Bewegung innerhalb des Netzwerks für das Subjekt der Landschafts- bzw. Stadtraum einer gewissen Form der Entkonkretisierung unterliegen, das heißt, die Landschaft oder die Stadt kann nicht mehr in ihren einzelnen haptischen Eindrücken aufgenommen werden. Auf der anderen Seite aber stellt sich durch die Vernetzungsstruktur auch ein ganz und gar gegenteiliger Effekt ein, der noch offensichtlicher der These vom Verschwinden des Raums entgegensteht. Nimmt man größere Raummaßstäbe in den Blick, dann kann man feststellen, dass durch Vernetzungen – und durch Verkehrsnetze umso mehr – Räume allererst modelliert, und das heißt, Raumzusammenhänge konstituiert werden: „Netze sind Raumorganisationen“, schreibt Hartmut Böhme in der Einführung in die Kulturgeschichte des Netzes: „Netze sind Baupläne der Natur und Kultur derart, dass dabei materielle Agglomerationen entstehen, deren sämtliche Elemente gemäß bestimmter Funktionsziele wechselseitig ergänzend, konnektiv und ausgerichtet, man kann auch sagen: formatiert und verschaltet werden.“45
Die Vernetzungszusammenhänge, wie sie durch Infrastrukturen gegeben sind, stellen durch die Form ihres Verschaltetseins eine reale wie symbolische Ordnung bereit, die Flächen derart umspannt und strukturiert, dass auf diese Weise Räume und gleichzeitig immer auch die Möglichkeit ihrer repräsentativen Verfügbarmachung entstehen. „Oft zielte Infrastrukturplanung“, schreibt Dirk van Laak über die ordnende Anlage von Infrastrukturen, „ausdrücklich auf eine Klarheit ab, die dem oft als ‚mittelalterlich‘ bezeichneten Gewirr der urbanen Zentren ihre – auch polizeiliche – Unübersichtlichkeit zu nehmen sich bemühte.“46 Innerhalb der Metropolen, deren immer wieder aufgerufene Inkommensurabilität doch gerade mit dem rapiden Anstieg von Technifizierung und Elektrifizierung des urbanen Lebens und der damit einhergehenden universalen Geschwindigkeitssteigerungen begründet wird, kommt Infrastrukturen deshalb eine modellierende und ordnende Kraft zu. Hier zeigt sich der Doppelcharakter von Infrastrukturen, die auf der einen Seite Beschleunigungsprozesse in Gang setzen und damit zur Auflösung tradierter Strukturen führen, anderseits in ihrer Eigenschaft als geplante Ver-
45 Böhme, Hartmut: „Einführung. Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“, in: Barkhoff, Jürgen/Böhme, Hartmut/Riou, Jeanne (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, S. 25f. 46 van Laak, Dirk: „Infra-Strukturgeschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft, 27. Jg., Heft 3/2001, S. 386.
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schaltungen auf einer höheren Ebene Ordnung generieren. Diesen Doppelcharakter kann man damit beschreiben, „dass Netze immer den Versuch darstellen, die Unwahrscheinlichkeit von Ordnung zu minimieren; sie sind also Regime der Ordnung, die von Unordnung umgeben und von innen her immer wieder bedroht werden. Netze wollen und können Unordnung nicht gänzlich aufheben. Denn dies würde heißen, dass das Netz ‚alles‘ wäre, damit aber gäbe es keine Knoten und keine Verbindungen mehr. Die absolute Ordnung wäre also zugleich die Aufhebung des Netzes selbst und damit absolute Unordnung. Darum sind alle Netze praktische Kompromisse zwischen Ordnung und Unordnung, die beide von Netzen erhalten werden müssen.“47
Am Beispiel des öffentlichen Nahverkehrs mag diese Form der Raumkonstruktion durch Vernetzung sehr viel von seiner vermeintlichen Abstraktheit verlieren. Das Liniennetz des Nahverkehrs verräumlicht die Stadt auf drei Ebenen. Zunächst ist da die konkrete Streckenführung der einzelnen Linien, die bestimmte Routen innerhalb der Stadt absteckt und auf diese Weise den Benutzern – innerhalb ihrer Auswahlmöglichkeiten zwischen den einzelnen Linien – eine Wegstrecke vorgibt. Diese Strecke kann überirdisch liegen und sich dem übrigen Straßenverlauf anpassen, sie kann sich aber auch wie bei der U-Bahn unter der Oberfläche befinden und die Anordnung der Straßenführung unterlaufen. In beiden Fällen geben die Routen der einzelnen Linien auf das Prinzip von Konstanz und Wiederholbarkeit angelegte Wege vor, die durch ihren Netzcharakter, durch ihr Verschaltetsein, der ständig wachsenden und sich verzweigenden, scheinbar unübersichtlich werdenden Metropole ein kalkulierbares Struktur- und Orientierungskorsett verleihen. Diese konkrete oder reale Verräumlichung der Stadt durch ihre nahverkehrstechnische Vernetzung ist eng gebunden an eine symbolische räumliche Ordnung, die sich aus der graphischen Darstellung des Liniennetzes ergibt. Die Netzspinne, die symbolische Repräsentanz des gesamten Streckennetzes, in der alle Linien, Haltestellen und Kreuzungs- bzw. Umsteigepunkte dargestellt sind, ist eine aufs Äußerste reduzierte Form der Karthographierung der Stadt, die unter Aussparung der Komplexität von Straßen, Plätzen, etc. der Stadt einen Korpus verleiht, der zwar weder ihren tatsächlichen Relationen noch denen des realen Liniennetzes entspricht, der aber dem Stadtraum eine fast mathematische Überschaubarkeit verleiht und ihn auf diese Weise eben nicht nur symbolisch darstellbar, sondern auch wahrnehmbar
47 Böhme, Hartmut: „Einführung. Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“, in: Barkhoff, Jürgen/Böhme, Hartmut/Riou, Jeanne (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, S. 22.
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und damit kommunizierbar macht.48 Diese Struktur, die die Stadt durch den Nahverkehr erhält, wird zur Bedingung für die Art und Weise, wie die einzelnen Orte und Wege innerhalb der Stadt wahrgenommen werden oder eben auch nicht wahrgenommen werden. Sie wird zur Bedingung des Entwurfs, den der einzelne und den eine Gesellschaft von der Stadt haben. 49 Michel de Certeau beschreibt ein mediales Prinzip, das die Entstehung dieser mentalen Karten, die gleichzeitig natürlich wieder auf die aktuelle Wahrnehmung
48 „Das bunte Knäuel ist Über- und Unterweltsplan, auf dem alle Zugangsstollen zu den Schächten der U- und S-Bahn mit Namen eingezeichnet sind. Je nach dem Jahrzehnt ihrer Entstehung sind es Grabkammern der Gründerzeit, der zwanziger oder der siebziger Jahre. / Auf der Netzspinne […] wirkt die Stadt leicht benutzbar, denn der Plan verzerrt und verfälscht im Dienst der Übersichtlichkeit. Auf ihm präsentiert die Unterwelt sich benutzerfreundlich, der Plan ist ihre Bedienungsanleitung.“ Wagner, David: „Die Netzspinne“, in: In Berlin, S. 41ff. 49 In der Zeitschrift Bauwelt aus dem Jahr 1966 ist ein in diesem Zusammenhang bemerkenswertes Experiment zur Wahrnehmung von Stadträumen dokumentiert, das Stadtplaner der Technischen Universität Berlin initiiert haben. Probanden verschiedener Altersstufen wurden gebeten, ihr Wohnumfeld, tägliche Wege oder auch die Stadt als ganze zeichnerisch darzustellen. Herausgekommen ist dabei nicht nur, dass mit zunehmendem Alter die Darstellung der Vernetzung des Straßensystems über die Darstellung von Einzelheiten des Straßenbildes überhand gewinnt. (S. 705f.) Auffallend ist auch, dass in fast allen Skizzen, die den gesamten Stadtraum in den Blick nehmen sollen, der Kernbereich der Innenstadt – also der Bereich der fortgeschrittensten infrastrukturellen Erschlossenheit – im Vergleich zu den Randgebieten weit überdimensioniert dargestellt wird. (S. 707) Die Bedeutung, die Stadtteilen zugeschrieben wird, hängt also ganz wesentlich von ihrer Nutzung ab: „Die Zeichnungen scheinen darauf hinzuweisen, daß rein architektonische Elemente als Einzelobjekte wenig zur Stärkung des Stadtbildes beitragen. Erst nach einer Kombination mit einer anziehenden Nutzung und einer starken Einbindung in eine einfache und einprägsame Ordnung tragen Einzelobjekte zur Verankerung eines Stadtbildes im Bewußtsein der Bewohner bei.“ (S. 710) Diese beiden Feststellungen bestätigen also, dass das Nahverkehrsnetz ganz wesentlich nicht nur den Stadtraum, sondern vor allem die Art und Weise prägt, wie er wahrgenommen wird. Aufschlussreich sind auch die Ergebnisse, die in dem stadtplanerischen Experiment aus den mündlichen Wegbeschreibungen der Probanden gewonnen werden konnten. So ist die Bedeutung allgemeiner Orientierungsmerkmale einer städtischen Umwelt abhängig von der jeweils bevorzugten Art der Raumdurchquerung, steht also in einem kausalen Verhältnis zur Benutzung der Verkehrsmittel. So konnte festgestellt werden, dass die U-Bahn-Nutzer sich überdurchschnittlich stark an den Kategorien von Licht und Farbe orientieren. Sieverts, Thomas: „Stadt-Vorstellungen“, in: Stadtbauwelt 9, Berlin. März 1966, S. 704-713.
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des Stadtraums zurückwirken und damit immer auch Imaginerien der Stadt sind, sehr anschaulich werden lässt. Zwar entwickelt de Certeau sein Konzept, das auf einer Parallelsetzung von Sprechakt und Durchquerung des urbanen Raums basiert, für den Modus des Gehens. Es lässt sich aber – dem Prinzip nach – auf die Verräumlichung durch die urbanen Verkehrsmittel übertragen: „Zum einen“, so gliedert de Certeau sein dreistufiges Modell, „gibt es den Prozeß der Aneignung des topographischen Systems durch den Fußgänger (ebenso wie der Sprechende die Sprache übernimmt oder sich aneignet), dann eine räumliche Realisierung des Ortes (ebenso wie der Sprechakt eine lautliche Realisierung der Sprache ist); und schließlich beinhaltet er Beziehungen zwischen unterschiedlichen Positionen, das heißt pragmatische ‚Übereinkünfte‘ in Form von Bewegungen (ebenso wie das verbale Aussagen eine ‚Anrede‘ ist, die den Angesprochenen festlegt und die Übereinkünfte zwischen Mitredenden ins Spiel bringt).“50
Aufschlussreich ist insbesondere die Fortsetzung dieser Passage, weil hier deutlich wird, wie die Ordnung des Raums mit seiner Durchquerung und beide wiederum mit seiner realen und imaginären Entstehung zusammenhängen: „Wenn es also […] richtig ist, daß die räumliche Ordnung eine Reihe von Möglichkeiten (z.B. durch einen Platz, auf dem man sich bewegen kann) oder von Verboten enthält, dann aktualisiert der Gehende bestimmte dieser Möglichkeiten. Dadurch verhilft er ihnen zur Existenz und verschafft ihnen eine Erscheinung.“51
So entsteht in der Verbindung dieser beiden gerade dargestellten Ebenen der räumlichen Repräsentanz – der realen und der symbolischen – durch Infrastruktur etwas, das man als „Psychogeographie“ beschreiben kann. Die Linienführung des Verkehrs modelliert die Stadt und bestimmte Wege innerhalb der Stadt, so dass die mentalen und imaginären Vorstellungen, die mit dieser Stadt verbunden werden, ganz wesentlich auf dem materialen Unterbau, wie sie der Verkehr bereitstellt, basieren. Solche Psychogeographien können dabei Bestandteil einer allgemeinen Stadtwahrnehmung werden – der Potsdamer Platz als Zentrum Berlins, die Gedächtniskirche als Verkehrshindernis, das dem großstädtischen Verkehr auf dem Kurfürstendamm im Weg steht. Es können sich aber auch ganz spezielle, persönliche Psychogeographien herausbilden. Man spricht in diesem Zusammenhang auch
50 de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, S. 189. 51 Ebd., S. 190.
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von mentalen Geographien oder den „mental maps“52 , den mentalen Kartierungen des Stadtraums.53 Aus diesen beiden Ebenen der Verräumlichung durch Infrastruktur, der konkreten und der symbolischen, geht nun noch eine dritte Ebene der Verräumlichung hervor, die man als metaphorische oder im Sinne Foucaults als die diskursive bezeichnen könnte.54 Stichworte wie Unübersichtlichkeit, Inkommensurabilität, Fluktuation beschreiben nur die eine Seite dessen, was die rasant wachsenden Metropolen ausmacht. Auf der anderen Seite entsteht ein gewaltiger Verwaltungsapparat, der die komplexer werdenden gesellschaftlichen Verhältnisse organisiert und strukturiert. Dieser sich bis in die kleinsten Zusammenhänge des Lebens ausdehnende Apparat hängt natürlich aufs engste mit Infrastruktur zusammen, indem er entweder selbst Infrastruktur ist oder aber ihre bürokratische Seite. Er wird zum wesentlichen Thema nicht nur philosophischer und soziologischer Arbeiten, die kritisch die sozi-
52 Vgl. zum Konzept der “mental maps” u. a. Kaiser, Wilhelm: Mental maps – kognitive Karten; Tolman, Edward C.: „Cognitive Maps in Rats and Men“, in: Collected Papers in Psychology, S. 241-264. Auf das Konzept einer "imagery map" trifft man im Zusammenhang mit Untersuchungen zum Orientierungs- und Richtungsverhalten bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts: Trowbridge, C.C.: „On Fundamental Methods of Orientation and ‚Imaginary Maps‘", in: Science 38 (1913), 990, S. 888-897. Vgl. weiterhin: Evans, Gary W.: „Environmental Cognition“, in: Psychological Bulletin 88 (1980), 2, S. 259-287; Downs, Roger M./Stea, David (Hg): Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen; Rodwin, Lloyd/Hollister, Robert M. (Hg.): Cities of the Mind. Images and Themes of the City in the Social Sciences. Zur mentalen Kartierung vgl. Stapf, Kurt H.: „Die subjektive Landkarte – Untersuchungen zu einer phänomenalen Struktur geographischer Bereiche“, in: Lammers, Gadso/Reichenbach, Ernst (Hg.): Verhalten in der Stadt, S. 25-57. 53 Paul Austers hat in City of glass diese Form der Bedeutungsgenese durch Kartierung des Stadtraums auf den Gipfel getrieben. Die Bewegungen seiner Protagonisten durch New York werden im Roman durch schematische Kartierungen seiner Wege begleitet, die in ihrer graphischen Notation ein Schriftbild ergeben: die Buchstaben „o“, „w“ und „e“ des Wortes „tower“ – eine Referenz offensichtlich an die beiden Urtexte des Urbanen: den Turmbau zu Babel und die Stadt Babylon. 54 „Meint man nicht den spontanen, direkt-körperlichen, phylogenetischen Raum, sondern den vermittelten, vorgedachten und vermittelten Raum, so ist er, im Sinne Michel Foucaults, ein Diskurs. Er besteht dann in ökonomischen, wissenschaftlichen, ethnischen, rechtlichen, urbanen, häuslichen Rhetoriken. Damit ist der Raum nicht mehr stabil, sondern eine Figur kulturanthropologischer und sozialer Instabilität.“ Faßler, Manfred: Netzwerke, S. 199.
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alen, kulturellen und gesellschaftlichpolitischen Gegebenheiten der Moderne diskutieren. 55 Wenn eines der signifikantesten Merkmale dieser Bürokratisierung darin besteht, dass sie zu großen Teilen im Verborgenen, zumindest aber in einer für die meisten Menschen undurchschaubaren Weise betrieben wird, dann ist eine Institution wie der öffentliche Nahverkehr – als im öffentlichen Leben präsente und mit aller Selbstverständlichkeit für alle nutzbare Infrastruktur – eine Art Wurmfortsatz des bürokratischen Apparats, an dem dieser wahrgenommen und diskursiviert werden kann. Das heißt, im Regelwerk öffentlicher Nahverkehr, wie es die Stadt überzieht und ihre verkehrstechnischen Abläufe organisiert, kann das gesellschaftliche Regelwerk als Ganzes, eben jener abstrakte bürokratische Apparat, stellvertretend wahrgenommen werden. Auf diese Weise wirkt das Verkehrssystem nicht nur modellierend auf den Stadtraum, sondern es wird zu einer metaphorischen Verkörperung des gesellschaftlichen Raums in der Moderne, der in seiner Abstraktheit und – ähnlich der modernen Stadt selbst – Unübersichtlichkeit an sich kaum zu erfassen wäre. Gerade der innerstädtische Nahverkehr ist in dieser Hinsicht natürlich eine „dankbare“ Infrastruktur. Denn während die meisten anderen urbanen Infrastrukturen meistenteils im Verborgenen bleiben – Wasser- und Gasleitungen werden unterirdisch verlegt – fungieren vor allem die Schienenfahrzeuge des Massentransports in idealer Weise als Bildlieferanten, wenn es darum geht, nicht nur den Netzcharakter selbst, sondern eben auch das aus ihm erwachsende Assoziationspotential zu umschreiben. Dass es vom eisernen Schienenkorsett, das die Stadt umschließt, nicht weit ist zum „stahlharten Gehäuse der Moderne“56 Max Webers, liegt auf der Hand. Interessant sind umso mehr die Fragen nach der Kräfteverteilung in diesem Verhältnis. Ist das Schienensystem – an dieser Stelle in der notwendigen Verkürzung gesagt –
55 „Und so fragt mich daher auch nicht: ‚Wo sind Gesetze, wo ist Regierung?‘ Umsonst ist Euer Gang nach Schönbrunn, in die Downing Street oder zum Palais Bourbon. Außer Ziegel- und Steingebäuden und einigen mit Bindfäden verschnürten Papierstößen findet ihr dort nichts. Wo befindet sich nämliche, gewitzt ausgeheckte allmächtige Regierung, daß man Hand an sie legen könnte? Überall und nirgends; wahrnehmbar nur in ihren Auswirkungen, auch sie ein luftförmiges, unsichtbares oder, wenn ihr so wollt, mystisches und mirakulöses Etwas.“ Carlyle, Thomas: Sartor Resartus (1833/34), S. 232. 56 Weber, Max: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, S. 203. Und an anderer Stelle heißt es: „Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der Einzelne hineingeboren wird und der für ihn [...] als faktisch unabänderliches Gehäuse gegeben ist, [...].“ Ebd., S. 37.
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Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Verfassung, oder greifen Analysen und Beschreibungen gesellschaftlicher Verfassungen auf ein Bildreservoir zurück, das sie im Alltag vorfinden, oder aber ist es vielleicht sogar so, dass bestimmte Diskurse allererst durch den Rückgriff auf dieses Bildmaterial inspiriert und formiert werden? 2.3 Neuordnung des sozialen Raums durch Infrastruktur Von den neuartigen Räumen, die durch eine Erschließung der Gesellschaft durch Infrastruktur die hergebrachten ablösen, ist in Zusammenhang mit dem Phänomen der Aufmerksamkeitsverschiebung bereits die Rede gewesen. Nimmt man die soziale Komponente dieser Neukonfiguration von Räumen in den Blick, dann wird deutlich, dass es sich hierbei nicht nur um rezeptionsspezifische Verschiebungen handelt, die das einzelne Subjekt betreffen. Vielmehr bedeuten diese Neukonfigurationen von Raumverhältnissen immer auch Neukonfigurationen des sozialen Raums, das heißt eine konkrete Veränderung der Lebensbedingungen und der Bedingungen der Kommunikation im gesellschaftlichen Kontext.57 Infrastrukturelle Vernetzung bedingt neue Formen der sozialen Vernetzung. Hierbei muss man zwischen Infrastrukturen unterscheiden, die neue Formen der Privatheit produzieren und großzügigere individuelle Freiräume eröffnen, und sol-
57 Vgl. als Beispiel für die politisch restriktive Kopplung von Raumorganisation und Sozialverhalten die Überlegungen Foucaults zum „disziplinarischen Raum“ im 18. Jahrhundert, in denen er beschreibt, wie die Raumprinzipien von Kasernen oder Fabriken nach den Kategorien von Transparenz und Übersichtlichkeit organisiert wurden, um Gruppenbildungen oder das unreglementierte Bewegen von einzelnen zu vermeiden. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, S. 183. Die Umbaumaßnahmen, die Haussmann in Paris vornimmt, funktionieren genau nach diesem Prinzip, sind also zuvörderst als politische und erst in einem zweiten Schritt als hygienische Maßnahme zu verstehen. Die verwinkelten Gassen der Pariser Altstadt, die allein zwischen 1827 und 1851 neunmal zum Schauplatz von Barrikadenkämpfen geworden waren, wurden durch gerade, breite Boulevards ersetzt, die in Richtung der Stadtgrenzen liefen. Andreas Bernard schreibt deshalb zu Recht – gerade wenn man auch an das Prinzip der Infrastrukturisierung des 20. Jahrhunderts denkt –, dass „das Projekt der Moderne architektur- und städtebauhistorisch als Praxis des Breschelegens“ zu charakterisieren sei: „Die Bresche, als Korrektur alles Zufälligen, organisch Gewachsenen, ist die architektonische Signatur der Moderne schlechthin.“ Bernard, Andreas: Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne, S. 57ff., hier S. 64.
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chen, die eine neue Form der Öffentlichkeit herstellen, in der und gegen die sich der moderne Mensch behaupten muss.58 Zur ersten Kategorie von Infrastrukturen gehören vor allem die Versorgungseinrichtungen rund um das Wohnen. Durch die Installation von Wasseranschlüssen zunächst in jedem Haus und in der Folge sogar in den einzelnen Wohnungen wird der öffentliche Treffpunkt am Brunnen, eine fast emblematische Form gerade dörflicher Kommunikation, aufgelöst. Infrastruktur wirkt in diesem Falle separierend und individualisierend. Dass die Bewohner der urbanen Zentren auf sehr engem Raum nebeneinander leben, oft ohne sich zu kennen oder nachbarschaftlichen Umgang zu pflegen, ist einer der Eindrücke, der zeitgenössische Beschreibungen über die Verstädterung dominiert. 59 Kann man diese Entwicklung als Lockerung oder Entzerrung von sozialer Vernetzung lesen, so wirken hingegen allen voran die Infrastrukturen des Transports als eine Verdichtung von sozialer Vernetzung. Aus der technischen Vernetzung geht eine Vernetzung von Subjekten hervor, die neue Kompetenzen in sozialer Kommunikation und Konfrontation verlangt. Georg Simmel beschreibt diese in der Moderne an den Menschen herangetragenen Anforderungen, die durch Technik bedingt sind, die sich aber auf der sozialen Ebene äußern, am Beispiel der Konstellationen, wie sie der technisierte Massentransport mit sich bringt. Vor seiner Einführung, schreibt Simmel in seiner Soziologie, waren die Menschen „überhaupt nicht in der Lage, sich minuten- bis stundenlang gegenseitig anblicken zu können oder zu müssen, ohne miteinander zu sprechen. Der moderne Verkehr gibt, was den weit überwiegenden Teil aller sinnlichen Relationen zwischen Mensch und Mensch betrifft, diese in noch immer wachsendem Maße dem Gesichtssinne anheim und muß damit die generellen soziologischen Gefühle auf ganz veränderte Voraussetzungen stellen.“60
Durch die Einführung neuer Infrastrukturen wird demnach auch der soziale Raum auf veränderte Voraussetzungen gestellt und konfiguriert sich in der Folge neu. Für
58 Vgl. zum Aspekt von Raum als Strukturelement des Handelns: Martina Löw: Raumsoziologie. 59 „Auf dem Lande liegt das Gewebe des menschlichen Lebens offen zutage; persönliche Beziehungen binden das Ganze zusammen. Das Gleichgewicht, auf dem die bestehende Ordnung beruht, ist, ob zufriedenstellend oder nicht, eindeutig und offensichtlich. Ganz anders sieht es in den Großstädten aus, wo wir, was diese Frage angeht, in Dunkelheit leben, mit zweifelnden Herzen und aus Unkenntnis sich ergebenden unnötigen Ängsten.“ Booth, Charles: Labour and Life of the people, Bd. 1: East London, London 1889. 60 Simmel, Georg: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“, in: Gesamtausgabe, Bd. 11. S. 727.
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den Teilnehmer im gesellschaftlichen Prozess, der in diesem Fall vor allem ein Verkehrsteilnehmer ist, bedeutet das auf der horizontalen Ebene eine Verschiebung des eigenen Aktionsrahmens: Die Stadt kann auf andere Weise durchmessen und wahrgenommen werden. Und auf der vertikalen Ebene bedeutet es die Erfahrung einer neuen Form gesellschaftlicher Konfrontation, die von befremdlich, bedrängend bis stimulierend die ganze Bandbreite affektiver Reaktionen hervorrufen mag.
3. I NFRASTRUKTUREN ALS M EDIEN 3.1 Organisatorische und imaginäre Medialität Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle Folgendes sagen: Infrastrukturen, wie sie als komplexe Verschaltungen zur Basis jeder modernen Gesellschaft werden, lassen sich nicht auf Planungsstrukturen reduzieren, die den kulturellen und sozialanthropologischen Dynamiken einer Zeit entgegenstehen. Mehr noch, sie sind sogar diejenigen Faktoren, die maßgeblichen Anteil daran haben, diese Dynamiken in Gang zu setzen und in Bewegung zu halten. Und schließlich lassen sie sich auch nicht auf Planungsstrukturen reduzieren in dem Sinne, dass man aus ihnen nichts herauslesen kann über diese kulturellen und sozialanthropologischen Dynamiken. Das kulturelle Gefüge in Bewegung setzen Infrastrukturen, indem sie durch die Parameter Geschwindigkeit und Vernetzung die Kategorie des Raums auf verschiedenen Ebenen verändern und neu konfigurieren. Zum einen lösen sie die Verbundenheit an bestimmte Orte und Räume auf und stellen gleichzeitig neue Bindungen zu neuen Räumen her. Im Zuge dessen unterliegt die Wahrnehmung des Raums einem grundlegenden Wandel und, wiederum gebunden daran, gilt ebensolches für die Art und Weise seiner Darstellung und Kommunizierbarkeit. Nicht zu vergessen ist, dass neue Formen der Wahrnehmung, Darstellung und Kommunizierbarkeit dazu führen, dass wiederum neue Räume – und das heißt immer Raumvorstellungen – überhaupt erst entstehen. 61 Kann man diese Dimension des Raums und die mit ihm verbundenen Vorstellungen im weitesten Sinne als an das Territoriale gebunden charakterisieren, dann wurden auf den vorhergehenden Seiten zwei weitere Dimensionen des Raums vorgestellt, die durch den Einfluss von Infrastruktur neue Gestalt annehmen. Es handelt sich dabei zum einen um den sozialen Raum auf der konkreten Ebene der intersubjektiven Vernetzung bzw. der Auflösung von Vernetzungen, das heißt um das gesellschaftliche Gefüge als realiter Lebenszusammenhang, in dem das Individuum
61 Vgl. u.a. Stockhammer, Robert (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen.
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sich zu verhalten, abzugrenzen und einzufügen hat. Zum anderen geht es um den sozialen Raum auf einer umfassenderen und damit abstrakteren und abstrahierten Ebene. Ändert sich durch komplexer werdende technische und verwaltungstechnische Planungs- und Organisationsstrukturen der gesellschaftliche Korpus als ganzer, so werden diese – an sich und als ganze nicht zu überblickenden – Veränderungen selbst wiederum anhand bestimmter im Alltag erlebbarer Techniken stellvertretend wahrnehmbar, darstellbar und kommunizierbar. Und umgekehrt gilt: Durch die Wahrnehmung bestimmter Alltagstechniken werden dem großen gesellschaftlichen Rahmen auch erst bestimmte Deutungen zugeschrieben. Gesellschaftliche wie kulturelle Diskurse werden also durch die Wirkungen von Infrastruktur produziert, sie werden aber auch nachträglich an bestimmte Infrastrukturen gekoppelt, was wiederum dazu führt – und damit wird das Prinzip der Wechselwirkung erst komplett –, dass die diskursproduzierende Kraft von Infrastruktur sich verstärkt. Mit der Absteckung dieses Wirkungsspektrums von Infrastrukturen hat man die Gesellschaft als Kulturraum einmal durchschritten. Das heißt, die These, die hier exemplarisch an den kulturfigurierenden Wirkungsweisen des öffentlichen Nahverkehrs belegt werden soll, ist die, dass durch die Einführung neuer Infrastrukturen die Raumwahrnehmungen und -darstellungen, die Individual- und Gruppenidentitäten und die mit Ihnen verbundenen soziologischen und philosophischen Konzepte, sowie nicht zuletzt die ästhetische Produktion und Rezeption selbst auf neue Vorraussetzungen gestellt werden und sich dadurch ganz grundlegend verändern. Die Wirkungsweisen von Infrastrukturen sind dabei ganz offenbar auf zwei Ebenen zu verorten. Zum einen wirken sie organisatorisch, das heißt, sie stellen die organisatorischen Voraussetzungen dafür bereit, dass die Verhältnisse des Raumerlebens sich verändern, dass soziale Vernetzung und mit ihr der gesamte soziale Apparat neu konfiguriert werden. Und nicht zuletzt stellen sie auch die organisatorischen Voraussetzungen dafür bereit, dass ästhetische Produktion genauso wie die Rezeption sich in neuen Formen abspielen. Zum zweiten haben sie imaginäre Wirkung. Das heißt, sie stellen die Voraussetzungen dafür bereit, dass neue Bildfelder und Assoziationspotentiale allererst generiert werden können. Mehr als einzelnen technischen Apparaten und mehr als der Architektur einer Stadt, ob Gebäuden oder Baudenkmälern, wie sie von den Stadtsemiotikern ins Feld geführt bzw. für aktuelle Architekturen in Abrede gestellt werden, ist Infrastrukturen dieses imaginative und damit sinnstiftende Potential eigen. Und wiederum ist es auf ihre strukturelle Anlage der Vernetzung zurückzuführen, dass Infrastrukturen, obwohl sie im Alltag auch oftmals im Verborgenen bleiben, eine spezifische Sinnlichkeit innewohnt bzw. sie Auslöser für Imagination werden. Wenn Michael Andritzky und Klaus Beyrer auf den ersten Seiten ihrer Kulturgeschichte der Netze und des Netzbegriffes schreiben: „Das Netz war immer auch
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eine Metapher für den Versuch, Strukturprinzipien in unserer Welt, ja, in unserem Kosmos zu erkennen“,62 dann erklären sie Netz und Vernetzung zu kulturanthropologischen Grundkonstanten, die das Prinzip der Erkenntnisgewinnung nicht nur beschreiben, sondern in denen sich das Wesen und die Gestalt dieser Erkenntnisgewinnung selbst abbilden. Aufgrund dieser auf Strukturkorrelation oder, wie Benjamin sagen würde, auf Ähnlichkeit basierenden Eigenschaft wird das Netz zu einem Modell, das über das Prinzip von Sinnlichkeit Wissen über die Welt zu generieren sucht. Diese Sinnlichkeit von Vernetzungen und Netzwerken findet ihr Pendant nun allerdings immer auch in einer spezifischen Ambivalenz ihrer Bewertung. Foucaults Analysen von gesellschaftlicher Kommunikation unter dem Gesichtspunkt der Machtanalyse oder Giedions Formel von der „Herrschaft der Mechanisierung“ sind nur zwei Beispiele unter vielen, die davon zeugen, „[…] dass Vernetzungen keineswegs nur positiv als kreative und selbstorganisierte Kulturtechniken zu verstehen sind, sondern, wie alle Artefakte, ihre dunkle Kehrseite aufweisen. So lässt sich argumentieren, dass die Vernetzungen der Moderne von deren struktureller wie psychischer, ihren Ideologien und ihren technischen Unterdrückungs- und Kontrollapparaten nicht zu trennen sind.“63
Zwar kann man in der Analyse die Ebenen von Imagination und Organisation durch Infrastruktur unterscheiden. Im Grunde aber lassen sich diese beiden Ebenen nicht voneinander separieren, geht doch die Sinnlichkeit und mit ihr die Ambivalenz von Vernetzungsassoziationen unmittelbar aus ihren organisatorischen Funktionen hervor. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Studie des Ethnologen Claude Lévy-Strauss. Lévy-Strauss führt in seinen Untersuchungen südamerikani-
62 Andritzky, Michael/Beyrer, Klaus: Das Netz. Sinn und Sinnlichkeit vernetzter Strukturen, S. 11. 63 Barkhoff, Jürgen/Böhme, Hartmut/Riou, Jeanne (Hg.): „Vorwort“, in: Dies.: Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, S. 10. Diese Ambivalenz des Netz-Begriffs, die an seine Sinnlichkeit verbunden ist, lässt sich bis in früheste Zeugnisse zurückverfolgen. So wird Hiob durch ein Netz auf die Probe gestellt: „Seine kräftigen Schritte werden in die Enge kommen, und sein Anschlag wird ihn fällen. Denn er ist mit seinen Füßen in den Strick gebracht und wandelt im Netz. Der Strick wird seine Ferse halten, und die Schlinge wird ihn erhaschen.“ (Hiob 18,7-9.) Während diese Verbindung von Netz mit Gefangennahme und Unglück im Alten Testament überwiegt, ist das Netz im Neuen Testament zumeist positiv. Zwar auch mit der Eigenschaft des Fangs verbunden, wird der Fischfang hier zur Metapher für die Vergrößerung der Gemeinde. (Lukas 5,2-11 u. Johannes 21, 4-11)
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scher Gesellschaftsverbände nicht nur die reale Untrennbarkeit von imaginären und organisatorischen Wirkungen von Infrastrukturen vor. Er liefert mit seinen Aufzeichnungen über die Verbindungen von Dorfarchitektur und Leben im BororoDorf ein auch in seiner Überschaubarkeit ideales Modell, das die kulturellen und sozialen Wirkungen von Infrastrukturen illustrieren mag. Die vorgeschriebene Anordnung der Häuser im Bororo-Dorf bildet ein System, aus dem alle Bereiche gesellschaftlicher Organisation und sämtliche individuellen Beziehungen und Verhaltensnormen abgeleitet werden: „(D)ie Struktur des Dorfes ermöglicht erst das feine Zusammenspiel der Institutionen. Sie schafft die Übersicht und die Gewähr für die Beziehungen zwischen Mensch und Universum, zwischen der Gesellschaft und der übernatürlichen Welt, zwischen Lebenden und Toten.“64
Nicht nur die organisatorische Grundlage der Dorfgemeinschaft wird also durch das Prinzip der Anordnung der Häuser vorgegeben. Auch kulturelle Vorstellungen und Gehalte werden hiervon präfiguriert. Wie stark der Einfluss dieser materialen Struktur ist, zeigt Lévy-Strauss an ihrem Wegfall. Als Missionare in das Dorf kommen, um die Bewohner zu christianisieren, genügt es ihnen, eine Änderung der Anordnung der Häuser zu bewirken, um ihr Ziel zu erreichen: „Desorientiert in den Himmelsrichtungen, des Plans beraubt, der die Grundlage ihres Wissens bildet, geht den Eingeborenen schnell der Sinnzusammenhang ihrer Tradition verloren, so als wären ihre sozialen und religiösen Systeme zu kompliziert, um das Schema entbehren zu können, das der Plan des Dorfes anschaulich machte, und dessen Konturen im täglichen Umgang aufgefrischt werden.“65
3.2 Inframedialität. Vier Thesen Infrastruktur nimmt die Funktion eines Mediums ein. Das bedeutet, sie wird zur formgebenden Funktion, durch die die gesellschaftlichen Praktiken und Diskurse zwangsläufig hindurchlaufen müssen. Da diese mediale Wirkung von Infrastruktur erstens keine intendierte ist, also keiner Ziel- und Zweckorientierung unterliegt, zweitens deshalb auch nicht als ein einfacher Ursache-Wirkung-Mechanismus wahrgenommen werden kann, dabei aber – drittens – eine der technischen Vernetzung entsprechende Universalität mit sich bringt, scheint es sinnvoll, die mediale Wirkung von Infrastruktur als inframediale Wirkung zu bezeichnen.
64 Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen, S. 166f. 65 Ebd.
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Im Folgenden sollen anhand von vier Thesen der Begriff, der Bedeutungsumfang und die Wirkungsweisen eines Inframediums dargestellt werden. Inframedien, so die erste These, stellen die Bedingungen der Möglichkeit von kultureller Kommunikation und kulturellem Wandel bereit. Mit ihrer Untersuchung wird, zweitens, eine materiale (Wieder-)Einbettung des Medienbegriffs vorgenommen, die ihm ursprünglich eigen war. Inframedialität funktioniert, das führt die dritte These aus, nach einem Basis-Überbau-Modell, das nach dem in der ersten These formulierten Prinzip der losen Kopplung arbeitet. Und schließlich und viertens unterliegt Inframedialität zyklischen Verläufen. Bezeichnet werden soll mit dem Begriff des Inframediums mithin erstens ein Medienbegriff, der nicht auf den Kommunikationsbegriff zu reduzieren ist, der nicht zwischen Sende- und Empfangsoptionen differenzieren muss und der nicht auf einer Informationsvermittlung im klassischen Sinn basiert. Vielmehr wird hiermit zum einen eine Erweiterung des Medienbegriffs dahingehend vorgenommen, dass technischen Ensembles grundsätzlich mediales, das heißt kulturtransformierendes Potential zugesprochen wird. Dieses mediale Potential wirkt – weil es ja eben auf das Prinzip der Vernetzung basiert – nicht einfach und singulär, sondern als komplexe und umfassende Bedingung von Kultur. Bei all ihrer Komplexität und Universalität der Medialität soll aber der Begriff der Infra-Medialität immer auch eins verdeutlichen: Genauso wie Infrastrukturen die Bedingungen der Möglichkeit von Transport – von Gütern oder Personen – bereitstellen, so stellen sie auch die Bedingungen der Möglichkeit von Medialität und das heißt, die Bedingungen der Möglichkeit kultureller Kommunikation und Transformation bereit. Als materiale Netze fungieren Infrastrukturen nicht als starre Figuratoren. Die Überlegungen Friedrich Kittlers zur technischen Medialität scheinen deshalb in ihrem radikalen Reduktionismus, der Großstadt als Verkehrs- und Kommunikationsnetz, das auf Schaltplänen beruht, denkt und Kultur auf die Umsetzung technischer Vorgaben beschränken will, allzu eindimensional – selbst unter Einrechnung des Maßes an Provokation, die Kittler dem medienwissenschaftlichen Standpunkt in der Germanistik beimischen will. 66 Vielmehr muss man das Potential von Infrastrukturen mit Niklas Luhmann als lose gekoppelte Systeme verstehen, deren mediale Funktion darin besteht, dass sie die Voraussetzung für eine Formung bereitstellen. Wenn Inframedialität nun zum zweiten nicht die konventionellen technischen Kommunikationsmedien, sondern als hervorstechende Infrastrukturen vor allem die Leitungs- und Transportsysteme des Verkehrs bezeichnet, dann ist die hier vorgenommene Definition des Medienbegriffs als Inframedialität nicht eigentlich zu ver-
66 Kittler, Friedrich: „Die Stadt ist ein Medium“, in: Mythos Metropole, Gotthard Fuchs (Hg.) u.a.
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stehen als seine Ausweitung, sondern vielmehr als die Freilegung seiner ursprünglichen Bedeutung – setzten doch die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts die Begriffe Transport und Kommunikation gleich. Der Wirtschaftsprofessor Karl Knies veröffentlicht 1857 eine Arbeit mit dem Titel Der Telegraph als Verkehrsmittel, 67 in der er die Folgen der neuartigen Form der Datenübertragung als physische und psychische Vernetzung weit entfernter Akteure aufgrund neuer Verkehrs- und Transportsysteme diskutiert. Auch der kanadische Wirtschaftstheoretiker Harold Innis hat in seinen Arbeiten über eine Verbindung der „trade-routes of external world“, der Verkehrswege und Handelsstraßen, und den „trades-routes of mind“ eine materialistisch fundierte Kulturgeschichte als Kommunikationsgeschichte schreiben wollen. „Von allen erkennbaren Technologien, die im Geschichtsprozess am Werk sind“, fasst Karlheinz Barck die Grundthesen von Innis zusammen, „ist es die Kommunikationstechnologie, die bei der Kontrolle über politische Abläufe, d.h. über Raum und Zeit, am meisten hervorsticht.“ Und weiter: „Unter Kommunikation sind zunächst einmal die materiellen Mittel zu verstehen, die für die physikalische Bewegung von Gütern und Menschen und für deren Austausch verwendet werden – Straßen, Flüsse, Kanäle, Eisenbahnschienen und die Fahrzeuge, die sich auf ihnen bewegen.“68
Marshall McLuhan, der in seiner Medientheorie die formengebenden Eigenschaften von Medien in den Mittelpunkt stellt, verweist immer wieder auf seinen Landsmann Innis: „Jahre lang haben die Philosophen der westlichen Welt jede Technologie aus der Behandlung des Materie-Form-Problems ausgeklammert. Innis hat viel Zeit seines Lebens darauf verwandt, um die Aufmerksamkeit auf die psychischen und sozialen Folgen von Technologien zu lenken. Er konnte noch nicht sehen, daß unsere Philosophie systematisch die techné aus ihren Meditationen ausschließt.“69
67 Knies, Karl: Der Telegraph als Verkehrsmittel. 68 Barck: Karlheinz: „Harold Adam Innis – Archäologie der Medienwissenschaft“, in: Ders.: Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, S. 17. Trotzdem allerdings haben bei Innis die auf Transportsystemen fußenden Kommunikationssysteme eine der menschlichen Sprache untergeordnete Bedeutung, das heißt, auch Innis würde für sein Medienmodell des Transports den Begriff der Infra-Medialität bevorzugen. 69 McLuhan, Marshall: Letters of Marshall McLuhan, S. 429.
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Wenn eine Theorie der Inframedialität eben diese Ansätze fortschreiben will, dann macht sie sich zur Aufgabe, auch einen kleinen Beitrag zu dem großen Projekt zu leisten, über das McLuhan trotz seiner eigenen und Innis’ Arbeiten feststellen muss: „Von Plato bis heute hat es in der westlichen Welt keine nennenswerte Theorie des durch den technologischen Wandel verursachten psychischen Wandels gegeben.“70 Auf diese Weise zielt eine Untersuchung der Medialität von Infrastrukturen darauf, dem dominierenden Paradigma von der digitalen Auflösung alles Gegenständlichen zu widersprechen und anstelle dessen die technisch-materiellen Bedingungen als Basis von Kultur und kulturellen Prozessen herauszuarbeiten und für Kultur- und Gesellschaftsanalysen generell fruchtbar zu machen. Inframedien zeichnen sich dabei durch jene besondere Doppelgestalt aus, auf die Innis immer wieder hingewiesen hat: dass sie „sowohl Realität konstituieren als auch selbst Realität sind.“71 Mit dem Konzept der „Inframedialität“ wird zum dritten die in der Begriffsgeschichte von infra- und superstructure angelegte Gegenübersetzung und gleichzeitige Abhängigkeit von – zumeist unsichtbarem – Unterbau und überirdischem Oberbau dem Prinzip nach übernommen.72 Handelt es sich dabei ursprünglich um Begriffe aus dem Eisenbahnbau, die Funktionszuschreibungen und -kopplungen jeweils materieller Konstruktionen bezeichnen, so weist Dirk van Laak darauf hin, dass im französischen Sprachraum, dem die Begriffe entstammen, schon bald Bedeutungsverschiebungen zu beobachten sind. Das technisch-materiale UnterbauÜberbau-Modell wird um Ebenen des Geistig-Psychologischen erweitert. So bedeutet im Französischen der Begriff Infrastruktur nicht nur „Basis“ im Sinne von Marx, sondern auch „unbewusster Handlungsgrund“73. Dieses Modell der Verknüpfung
70 Ebd., S. 458. 71 Barck: Karlheinz: „Harold Adam Innis – Archäologie der Medienwissenschaft“, in: Ders.: Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, S. 6. 72 Vgl. van Laak, Dirk: Infrastruktur. Archiv für Begriffsgeschichte, S. 281f.: „Etymologen datieren den erstmaligen Gebrauch des Wortes auf den 13. August 1875: Der Sekretär einer von der Nationalversammlung eingesetzten Kommission zur Überprüfung eines Eisenbahnprojekts in Midi, M. Aclocque, verwandte den Begriff infrastructure in seinem Bericht zur Kennzeichnung des Unterbaus von Eisenbahn-Konstruktionen, der die superstructure gegenübergestellt wurde.“ Bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein bezeichnet der Begriff Infrastruktur „sämtliche ortsfesten Anlagen als Voraussetzung und im Dienste der Mobilität.“ 73 Ebd., S. 288. Van Laak verweist an dieser Stelle auf Maurice Merleau-Ponty, der in der Phänomenologie der Wahrnehmung Infrastruktur mit dem Empfinden bzw. dem „leiblichen Urgrund“ gleichsetzt, dem die Superstruktur des Verstandes gegenübergestellt ist: „Nous cherchons à faire voir dans la perception à la fois l’infrastructure instinctive et les superstructures qui s’établissent sur elle par l’exercise de l’intelligence.“ (S. 65). Und
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von strukturellem, dabei sinnproduzierendem oder -präfigurierendem Moment und seinem variablen Produkt findet sich im semiotischen Urbanismusdiskurs wieder. Im Sinne der Zeichentheorie wird hier von dem semiotischen Unterbau einer Stadt – wobei nur die Architektur in den Blick genommen wird – ausgegangen, der die Semantik dieser Stadt bedingt. Viktor Hugo hat in Notre-Dame von Paris eine Art Urtext der urbanen Semiotik verfasst, in dem die Stadt zu einem Buch aus Stein wird.74 Ähnlich wie Innis, der zwischen kalten – selbst auf Dauer angelegten und zum Merkmal traditioneller Gesellschaften werdenden – und heißen – wandlungsfähigen und für dynamische Gesellschaften typischen – Medien unterscheidet, geht Hugo davon aus, dass mit der Einführung des Buchdrucks die Architektur ihre mediale Vorherrschaft an ein flexibleres Medium hat abtreten müssen: „(D)as gedruckte Buch war berufen, das Baudenkmal zu vernichten. […] Wie ein Nagwurm nagte der Buchdruck so lange an ihrem stolzen Gefüge, bis sie morsch zusammenbrach.“75 Wenn Hugo hier ein Untergangsszenario entwirft, das das Ende der Architektur als Träger von Medialität und damit als Zeichen und Vermittler von Kultur beschreibt, dann liefert er eine frühe Variante dessen, was Urbanismus-Kritiker wie Sennett über die moderne Architektur urteilen: Dass sie weder Ausdruck noch Vermittler von Kultur sei, sondern einzig den Gesetzen der Rationalität und Effektivität unterliege. Was hier als Inframedialität bezeichnet wird – das basale kulturtransformierende Vermögen von Infrastrukturen – müsste im Verständnis der Stadtsemiotiker heißen, dass Infrastrukturen die Grammatologie einer Stadt im Speziellen und einer Gesellschaft im Ganzen bilden.76 Die Begriffsgebung der Inframedialität von Infrastrukturen erscheint insofern sinnvoll, als sie nicht nur die materiale Einbettung des Medienbegriffs leistet, sondern darüber hinaus mediale Wirkung nicht als eine intendiert-direkte, sondern als eine sublim-strukturelle kennzeichnet.
weiter: „Pas un seul acte ‚spirituel‘ qui ne repose sur une infrastructure corporelle.“ (S. 493) 74 Hugo, Victor: Notre-Dame von Paris, v.a. 5. Buch. 75 Ebd., S. 208f. 76 Wiederum war es übrigens Innis, der auf diesem Gebiet Pionierarbeit leistete, als er in seinem programmatischen Aufsatz „Die Eule der Minerva“ aus dem Jahr 1947 ein strukturelles Medienkonzept entwarf. In den 50er Jahren war es eine interdisziplinäre Forschergruppe um den Kulturanthropologen Edmund Carpenter, die an der Universität Toronto eine „Grammatik der Medien“ in Anschluss an Innis Thesen zu entwickeln versuchte. Vgl. dazu: Barck, Karlheinz: „Harold Adam Innis – Archäologie der Medienwissenschaft“, in: Ders.: Harold A. Innis, S. 10f. und vgl. Carpenter, Edmund/McLuhan, Marshall (Hg.): Explorations in Communication. An Anthology.
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Im Unterschied zur ‚kalten‘ Architektur indes, deren Medialitätsideal immer wieder beschworen bzw. dessen Auflösung beklagt wird, sind Infrastrukturen aufgrund ihrer Entwicklungsgeschwindigkeit und aufgrund der ihnen innewohnenden Dynamiken und Prozesse tendenziell als – zumindest im Gegensatz zur Architektur verhältnismäßig – warme Medien zu bezeichnen, und sie sind damit auch symptomatisch für warme, also moderne dynamische Gesellschaften. Innis versteht unter warmen Medien solche, die beweglich und wandlungsfähig sind. Das bedeutet dann natürlich auch, dass sie nicht wie die Steinarchitektur auf Dauer angelegt sind, sondern dass sie zwar für die jeweilige Gegenwart aussagekräftig, dass sie aber auch einer kürzeren Verfallszeit anheim gegeben sind und von neuen Medien abgelöst werden. So kann man viertens feststellen, dass die medialen Wirkungen von Infrastrukturen einem zyklischen Verlauf unterliegen, der in einem relativ klar umgrenzten zeitlichen Rahmen stattfindet. Dass Infrastrukturen die Tendenz haben, sich ins Unbewusste zu verschieben, schreibt van Laak in seinem Beitrag zur Geschichte des Infrastruktur-Begriffs: „Daß die auf Dauer gestellten Infrastrukturen selbst ‚Lebenszyklen‘ unterliegen, wird immer deutlicher, seitdem physische Mobilität zunehmend durch virtuelle und elektronische Mobilität ergänzt wird. Die Territorialität von Infrastrukturen, mit der Raumordnungen neuer Qualitäten entstanden waren, wird dabei durch zeitliche Ordnungsschema verdrängt.“77
Der Soziologe Karl H. Hörning nennt dieses Phänomen „sekundäre Traditionalisierung“.78 Während eine Infrastruktur bei ihrer Einführung zu wesentlichen kulturellen und sozialen Transformationen führt, indem sie Gesellschaft auf veränderte organisatorische Bedingungen stellt und neue Bildreservoirs freisetzt, werden diese Wirkungen sukzessive ins Unbewusste verschoben, was meint, dass eine Gesellschaft sie sich so weit aneignet, dass diese Gesellschaft ein neues kulturelles Niveau erreicht, das wiederum von einer neuen Infrastruktur konfiguriert und transformiert wird.79 Dem Prinzip nach hat schon Harold Innis nicht nur die materiale Anbindung von Medialität betrieben, sondern auch den Zyklus, der diesen Medien innewohnt, bereits beschrieben: „Wir können wohl davon ausgehen, daß der Gebrauch eines bestimmten Kommunikationsmediums über einen langen Zeitraum hinweg in gewisser Weise die Gestalt des zu übermittelnden Wissens prägt. Auch stellen wir fest, daß der überall vorhandene Einfluß dieses Me-
77 van Laak, Dirk: „Infra-Strukturgeschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 27, S. 369. 78 Hörning, Karl: „Technik und Symbol“, in: Soziale Welt, 36. Jg, 1985, S. 203. 79 In diesem Sinne kann man auch Hans Freyers Begriff der „Kulturschwellen“ verstehen.
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diums eine Kultur schafft, […] und daß schließlich ein neues Kommunikationsmittel auftreten muß, dessen Vorzüge eklatant genug sind, um die Entstehung einer neuen Kultur herbeizuführen.“80
Wenn man die medialen Eigenschaften von Infrastrukturen untersucht, ist deshalb nicht von der Infrastruktur wie von der Architektur auszugehen. Vielmehr sind es für bestimmte Zeiträume jeweils bestimmte Infrastrukturen, denen die wesentliche gestaltgebende Funktion zukommt. Anders als im Architekturdiskurs kann man insofern nicht davon sprechen, dass Infrastrukturen generell ihre Semantik abhanden kommt. Vielmehr kann man beobachten, dass die medialen Wirkungen verschiedener Infrastruktureinrichtungen zyklischen Verläufen unterliegen. Steht am Beginn eines solchen Zyklus eine Phase großer Spektakularität, die mit einem dementsprechenden hohen kulturtransformierenden Wirkungsakzent der neuen Infrastruktur einhergeht, dann folgt darauf eine Phase der Normalisierung. Sie wiederum geht mit der Etablierung jener durch Infrastrukturen hervorgerufenen Veränderungen einher. Diese zweite Phase schließlich geht in eine Phase über, die man als Invisibilisierung bezeichnen könnte, weil hier die Infrastruktureinrichtung so weit etabliert und normalisiert ist, und mit ihr alle kulturellen und sozialen Veränderungen habitualisiert worden sind, dass sie kaum länger Gegenstand der Aufmerksamkeit wird. Mit dieser Phase kommt ein Infrastrukturzyklus zu seinem Abschluss. Der zyklische Verlauf von inframedialen Wirkungen ist gerade auch darum beachtenswert, weil er in unmittelbarer Beziehung zum methodischen Waisendasein von Infrastrukturen steht. Denn der zyklische Verlauf ist es, der wesentlich zur Nichtbeachtung von Infrastrukturen in den Kultur- und Geschichtswissenschaften führt. Georg Schmid schreibt in diesem Zusammenhang: „Unser kollektives ‚Geschichtsgedächtnis‘ ist darauf dressiert, Wahrnehmungen und Registrierungen nur in ganz bestimmten ‚geschichtswürdigen‘ Sektoren vorzunehmen (‚große kulturelle Leistungen‘, Einzelerfindungen, politische Zäsuren, u. dgl.). Sachverhalte der materiellen Kultur (vor allem aus dem Transportsektor) unterliegen dagegen, aus Gründen mangelnder Kulturwürdigkeit, raschem Vergessen.“81
Die, wie van Laak es nennt, „Implementierung“, die Unbewusstwerdung von Infrastruktur, führt dazu, dass nicht nur in zeitgenössischen Praktiken und Diskursen die Bedeutung einer bestimmten Infrastrukturleistung zurückgeht. Auch für die kultur-
80 Innis, Harold Adam: „Tendenzen der Kommunikation“, in: Barck, Karlheinz: Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, S. 96. 81 Schmid, Georg: Die Spur und die Trasse: (post-)moderne Wegmarken der Geschichtswissenschaft, S. 261.
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geschichtliche Perspektive hat das zur Folge, dass Infrastrukturen und ihre Wirkungen gar nicht erst in den Blick genommen werden. Der theoretische Ansatz für eine solche Analyse von Infrastrukturen unter medialen Gesichtspunkten, der auf den vorangehenden Seiten entwickelt worden ist, bringt nun allerdings die Gefahr einer Unschärfe mit sich, auf die Roland Barthes schon für das semiotische Verfahren der Bedeutungsübertragung von Text- und Stadttheorie hingewiesen hat: das Problem einer Entkronkretisierung und assoziativen Ablösung vom Gegenstand. Barthes weist sehr nachdrücklich darauf hin, dass eine kulturanthropologische Deutung der Stadt nur dann Sinn macht, „wenn man von der Sprache der Stadt ohne Metapher sprechen kann.“82 Und, so Barthes weiter: „Auch wir müssen uns diesem Problem stellen: wie kommen wir von der Metapher zur Analyse, wenn wir von der Sprache der Stadt sprechen?“83 Die Faktoren von Entkonkretisierung und assoziativer Ablösung durch Metaphorisierung ist eben dasjenige Problem, dem sich auch eine Theorie der Inframedialität zu stellen hat, bewegt sie sich doch zwischen den Polen materialer historischer und geistiger, mentaler wie imaginativer Realitäten, sprich: im Spannungsfeld von Technik und Kultur. Der Abschnitt „Literatur und Infrastruktur“ wird Aufschluss darüber geben, warum es sinnvoll ist, inframediale Wirkungen gerade in und an Literatur zu untersuchen, mithin selbst wiederum an einem Medium, das zwischen den Polen von Faktizität und Fiktion, Konkretem und Imaginativem aufgespannt ist. 3.3 Benjamins Passagen-Werk als Vorbild für eine Theorie der Inframedialität Walter Benjamins Passagen-Werk ist der Versuch, in einer Genese von „makrotheoretische(r) Gesellschaftsanalyse mit mikrosoziologischen Wahrnehmungsstrategien“84 eine materiale Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhundersts, oder, wie Benjamin selbst es nennt, die „Urgeschichte des 19ten Jahrhunderts“85 zu schreiben. Das ästhetische Verfahren der Stadtbeobachtung, mit dem Benjamin Physiognomie und geistige Konstruktion des vorvergangenen Jahrhunderts freilegen will und das er an den Pariser Passagen umsetzt, ist in doppelter Weise beachtenswert für die Untersuchung medialer Wirkungen von Infrastrukturen, die ebenso symptomatisch
82 Barthes, Roland: „Semiotik und Urbanismus“, in: Carlini, Alessandro/Schneider, Bernhard (Hg.): Konzept 3. Die Stadt als Text, S. 37. 83 Ebd. 84 Eckhardt, Frank: Soziologie der Stadt, S. 20. 85 Benjamin, Walter: Gesammelte Werke, Bd. V, S. 98.
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für das 20. Jahrhundert sind, wie es nach Benjamin die Pariser Architekturen für das 19. Jahrhundert waren.86 Benjamin macht zweierlei: Er untersucht erstens die medialen Wirkungen und die kulturellen Bildreservoirs der Glas- und Stahlarchitekturen der Pariser Passagen. Er gibt damit das Verfahren vor, wie man die Verbindungen zwischen dem material Konkreten einer Gesellschaft und ihrem Imaginärem, ihrem ideellen Horizont, herstellt, beobachten kann und reflektiert, ohne dabei den Umweg über eine im klassischen Sinne auf Fakten basierende Geschichtstheorie zu gehen. Das heißt, Benjamin führt mit dem Passagen-Werk vor, wie Kultur aus den materialen Bedingungen der Zeit heraus produziert und figuriert wird. Benjamin ist, zum zweiten, dabei immer selbst in die medialen Wirkungen involviert, die er zum Gegenstand seiner Arbeit macht, insofern er seine Texte aus ihrer Einflusssphäre heraus schreibt. Das trifft auch dann noch zu, wenn Benjamins Blick auf die Pariser Architekturen der historisch nach rückwärts in das vorherige Jahrhundert gewandt ist. Entstanden ist das Passagen-Werk im geistigen Umfeld des Surrealismus, dessen Entdeckung der Dingwelt Benjamin genauso übernahm wie das Vermögen, die Optik des Traums auf diese konkrete Wachwelt zu richten. Was bei Benjamin hinzukommt, ist das Vermögen, den Blick auf die Kultur und Geschichte der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts so zu richten, dass er sie selbst als etwas wahrnimmt, das als kollektives Traumbild der Architektur entstanden ist. Worin Benjamin sich von den Surrealisten unterscheidet, wenn er die Kultur als etwas betrachten will, das als Traumbild entstanden ist, dann ist es das Motiv des Erwachens, das heißt dem Durchdringen der Bilder mit der Vernunft, um auf diese Weise sie selbst und ihre materialen Fundamente zu entschlüsseln. Ebenso wie es für das Konzept der Inframedialität beschrieben wurde, dass es eine – lose – Kopplung von infrastructure und superstructure gibt, die darin besteht, dass die materiale infrastructure formenbildend und verhaltenssteuernd auf den Oberbau einwirkt, ohne dabei eine zielgerichtete Gestaltungstheorie zu verfolgen bzw. ohne überhaupt eine kulturtransformierende Absicht zu intendieren, beschreibt Benjamin im Passagen-Werk ein Verfahren, das über ein Basis-Überbau-Modell Ästhetik und Erkenntnisgenese verschmelzen lassen soll:
86 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Willi Bolle, der die topographische Anlage von Benjamins Fragmentarchiv der Passagen herausarbeitet und damit indirekt zeigt, inwiefern inframediale Wirkung immer auch die Struktur von Texten bedingt. Bolle, Willi: „Metropole & Megastadt. Zur Ordnung des Wissens in Walter Benjamins Passagen“, in: Böhme, Hartmut (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, S. 559-585.
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„Wenn der Unterbau gewissermaßen im Denk- und Erfahrungsmaterial den Überbau bestimmt, die Bestimmung aber nicht die des einfachen Abspiegelns ist, wie ist sie dann […] zu charakterisieren? Als deren Ausdruck. Der Überbau ist der Ausdruck des Unterbaus. […] genau wie beim Schläfer ein übervoller Magen im Trauminhalt, obwohl er ihn kausal ‚bedingen‘ mag, nicht seine Abspiegelung, sondern seinen Ausdruck findet.“87
Zugleich wendet Benjamin im Passagen-Werk auch ein romantisches Verfahren an: Wenn die romantische Denkfigur des Witzes darin besteht, durch die Verbindung des scheinbar weit voneinander entfernt Liegenden Erkenntnis zu generieren, dann beruht Benjamins Prinzip, „unsinnliche() Ähnlichkeit“88 und „natürliche Korrespondenzen“89 wahrzunehmen, aus eben dieser Überzeugung, durch die probeweise Zusammenführung des Getrennten Sinn erschließen zu können. Romantisch – und damit zutiefst poetisch – ist auch das Denken in Fragmenten, in denen das Große und Ganze sich stellvertretend zeigt. Benjamin nennt das, einer Mode seiner Zeit entsprechend, „das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen“. Was soviel bedeutet wie: „(D)ie großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken.“90 Dass dieses romantische Verfahren, das Benjamin im Passagen-Werk zu einer Methode werden lässt, die das theoretische Erkenntnisvermögen bei Weitem überholt, immer auch als ein poetisches Verfahren verstanden werden muss, bedeutet aus der Perspektive einer Theorie der Inframedialität, dass Benjamin nicht nur – für das 19. Jahrhundert – eine Geschichtstheorie als Theorie materialer Medialität entwirft. Es heißt auch, dass Benjamins Pariser Aufzeichnungen selbst zu Fragmenten werden, die an der imaginären Seite der Kultur mitarbeiten, indem sie durch die Wirkungen der materialen Konstruktionen der Stadt hindurchgelaufen und dadurch von ihrem medialen Potential geformt worden sind. Und das wiederum heißt, dass
87 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, K 2,5. 88 Benjamin, Walter: Gesammelte Werke, Band II/1, 207. 89 Ebd., 205. 90 Benjamin, Walter: Das Passagenwerk, N2,6. Das wiederum ist auch zu Verstehen als der Versuch einer Fortschreibung marxistischer Theorien: „Benjamin verfuhr im Passagenwerk nicht ideologiekritisch, er hing der Idee einer materialistischen Physiognomik nach, die er wohl als Ergänzung oder Erweiterung der marxistischen Theorien sich vorstellte. Physiognomik schließt vom Äußeren aufs Innere, sie entziffert das Ganze aus dem Detail, stellt im Besonderen das Allgemeine dar. Nominalistisch geht sie vom leibhaften Diesda aus, induktiv setzt sie in der Sphäre des Anschaulichen ein.“ Tiedemann, Rolf: Einleitung des Herausgebers, in: Benjamin, Walter: Das Passagenwerk, S. 29.
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sie als Produkte der materialen Medialität gelesen werden können, wie sie für das 19. Jahrhundert charakteristisch ist.
4. I NFRAMEDIALITÄT UND L ITERATUR : K ULTURANALYSE UND I MAGEPRODUKTION Am Ende seiner Überlegungen zur Semiotik der Stadt schreibt Roland Barthes: „In den Beobachtungen, die ich angeführt habe, habe ich das Problem der Methodologie nicht berührt. Warum? Weil ich meine, daß auch dann, wenn man die Absicht hat, eine Semiotik der Stadt in Angriff zu nehmen, der beste Zugang, wie übrigens jeder Unternehmung mit der Semantik, in einer gewissen naiven Einstellung des Lesers liegt. Man muß zu vielen sein bei dem Versuch, die Stadt, in der wir leben, zu entziffern, und dabei, wenn nötig, von einem persönlichen Bezug ausgehen. In der Überlagerung aller Lesarten von unterschiedlichen Leser-Typen (denn es gibt eine ganz Skala von Lesern, vom Ortsansässigen bis zum Fremden) könnte man so die Sprache der Stadt herausarbeiten. Ich würde es für das Wichtigste halten, nicht die funktionalen Erhebungen und Studien über die Stadt, sondern die Lesungen der Stadt zu vermehren. Dafür haben uns bis jetzt leider nur die Schriftsteller Beispiele geliefert.“91
Was Barthes als Verfahren für die gegenwärtige Stadtforschung vorschlägt: Die Lesungen der Stadt zu vermehren, um auf diese Weise ihre Grammatologie zu entziffern, erscheint als das probate Mittel auch dort, wo es darum geht, die medialen Wirkungen infrastruktureller Zyklen herauszuarbeiten. Kurz gesagt: An literarischen – aber auch an philosophischen, populärkulturellen oder technikhistorischen – Texten lässt sich die imaginäre genauso wie die organisatorische Wirkung von Infrastruktur erkennen, und das heißt: ihr mediales, kulturstiftendes Potential. Literatur leistet dabei nicht nur das „zu vielen sein“, das Barthes zur Voraussetzung für die Entzifferung einer Stadt macht. Sie wird zum Seismographen für Inframedialität gerade auch deshalb, weil sie im Gegensatz zu funktionalistischen Untersuchungen nicht nur Vielstimmigkeit und Multiperspektivität gewährleistet, sondern darüber hinaus auch die unbewussten Einschreibungen von Infrastruktur sich aus der Literatur einer Zeit herauslesen lassen. Das heißt, Literatur ist das Medium, in der das mediale Potential – die lose Kopplung – von Infrastrukturen in eine konkrete Form gebracht ist und dadurch beobachtbar wird.
91 Barthes, Roland: „Semiotik und Urbanismus“, in: Carlini, Alessandro/Schneider, Bernhard (Hg.): Konzept 3. Die Stadt als Text, S. 41f.
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In der Stadt- und Modernebeobachtung – wie sie am Beispiel von Sennett und den Urbanismus-Kritikern dargestellt wurden – führen die Diagnose von „semantischer Reduktion“ einerseits und „Hyposignifikanz“92 andererseits dazu, dass zu dem Schluss gelangt wird, an der modernen Stadt könne rein gar nichts mehr abgelesen werden. Oder aber es wird bilanziert, dass durch die Schwemme der von außen angetragenen Codes und Zeichensysteme, die zur Regelung komplexer urbaner Abläufe notwendig sind, ein solcher Zeichenüberschuss entsteht, dass ein Entziffern der Stadt und ihrer Wirkungen genauso wenig mehr möglich ist. Literatur nun ist in der Lage, die konstruierte und gebaute Umwelt „in den Termine zu erfassen, nach denen das wahrnehmende Bewusstsein sie erfasst.“93 Auf diese Art wird Literatur zu einer Matrix, in die sich das kulturformende Potential von Infrastrukturen einschreibt. So verändert sich durch die Einführungen neuer Infrastrukturen nicht nur das Bildreservoir von Texten. Sondern Infrastruktur nimmt auch ganz direkt Einfluss auf die ästhetische Form, indem sie zum einen die technischen Bedingungen der Produktion und Rezeption von Literatur auf veränderte Voraussetzungen stellt, zum anderen aber auch die Wirklichkeitswahrnehmung insgesamt neu justiert und konfiguriert, so dass auf diese veränderten Rezeptionsbedingungen mit veränderten ästhetischen Konzepten reagiert werden muss. Einerseits ist Literatur also Analyseinstrument für inframediale Wirkungen von Infrastruktur. Gleichzeitig ist Literatur aber immer auch selbst in einen Prozess der Wechselwirkung mit der Infrastruktur eingebunden, für deren mediales Potential sie zum Analyseinstrument dient. So wirkt Literatur als Attraktionsverstärker. Das bedeutet, dass sie die Vorstellungen und Phantasien mitformt, die man mit Infrastruktur verbindet. Das heißt, Literatur verstärkt die kulturformende Kraft von Infrastruktur, indem sie bestimmte Vorstellungen, die durch Infrastruktur hervorgerufen werden, durch Wiederholung etabliert oder aber auch überhaupt erst formuliert. Literatur arbeitet als eine Art Katalysator, der die inframedialen Wirkungen einer infrastrukturellen Neuerung auf eine Stufe höherer Intensität hebt, indem sie Diskurse über Infrastruktur produziert. 94 Die urbanen Mythen sind die bekanntesten unter den
92 Vgl. zu den Begriffen semantische Reduktion und Hyposignifikanz Choay, Francoise: „Semiotik und Urbanismus“, in: Ebd., S. 43-60. 93 Barthes, Roland: „Semiotik und Urbanismus“, in: Ebd. 94 Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen über den Zusammenhang von Literatur und Geopolitik, also raumübergreifender Infrastrukturleistungen, von Torsten Hahn. Am Beispiel von Bernhard Kellermanns Bestseller Der Tunnel aus dem Jahr 1913 diskutiert der Autor, „inwiefern Literatur einen vorgreifenden Kommentar auf geopolitisches Möglichkeitsdenken abgeben kann. Literatur ist dann eine Instanz, die nicht nur Diskursformationen abbildet“, heißt es weiterhin, „sondern eine eigene – dann zu bestimmende – populäre Kommunikationsform der Raumrevolution entwirft. […] Literatur wird so zum Motor
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infrastrukturellen Imagologien. Interessanter aber scheint noch die Betrachtung der eher unspektakulären Diskurse und imaginären Potentiale, die an Infrastruktur herangeschrieben und in diese hineingeschrieben werden. Diese diskursformende Kraft, die Texte gegenüber infrastrukturellen Einrichtungen einnehmen, hat aber noch eine andere Seite. Denn Literatur wirkt nicht nur als Attraktionsverstärker, sondern gleichzeitig als eine Form des Trainings, das die Menschen in eine neue Infrastruktur einübt. Gerade indem sie Bilder und Geschichten an Infrastruktur anschließt, fungiert sie als eine Art semantischer Coach, der die neuen sozialen und wahrnehmungsästhetischen Konstellationen in eine Form der Kommunizierbarkeit überführt, die zur Grundlage von Erfahrung und Erfassung dieser Veränderungen wird. Attraktionsverstärkung von Infrastrukturen und Training bzw. Einübung in Infrastrukturen andererseits kann man zusammenfassen unter den Begriff der Imagebildung oder des Imagemarketings. Das heißt, indem Infrastrukturen auf inhaltlicher und auf formaler Ebene in literarische Texte Eingang finden, hat man nicht nur ein Analyseinstrument für die kulturellen und sozialen Auswirkungen von Infrastrukturen zur Hand. Sondern durch Literatur wird ein bestimmtes Image von einer Infrastruktur produziert, und dieses Image wird gleichzeitig in ein bestimmtes Gesellschafts- und Lebenskonzept eingepasst, oder besser: Lebenskonzept und Image werden mit- und gegeneinander austariert, so dass die neue und zunächst für ihre Benutzer und Beobachter ungewohnte Infrastruktur sukzessive in einen Status der Normalität und Gewohnheit überführt werden kann. Diese Imagebildung durch Literatur darf nun auf keinen Fall so verstanden werden, als ob durch reihenweise technikbegeisterte Texte darauf hingearbeitet werden würde, gesellschaftliche Skepsis in eine Form universellen Einverständnisses mit einer infrastrukturellen Neuerung zu verwandeln und bestenfalls gleich noch einen neuen Technikmythos mit zu installieren. Imagebildung, wie Literatur sie betreibt, funktioniert im Gegenteil zu einem guten Teil dadurch, dass Texte entweder mehr oder weniger bewusst Infrastrukturen zum Bestandteil ihrer Erzählkulisse werden lassen. Oder aber, dass sie sich gerade als Störfall in den üblicher Weise reibungslosen Verlauf von Infrastrukturen einschalten, indem sie den Unfall, das NichtFunktionieren, die Irritation überhaupt zum Thema werden lassen. Natürlich gibt es auch solche Texte, die ganz dezidiert und zumeist in programmatischer Weise – man denke nur an die Manifeste der Futuristen – ein positives Bild von einer infrastrukturellen Neuerung entwerfen und auf diese Weise nicht
der modernen Raumrevolution.“ Hahn, Torsten: Tunnel und Damm als Medien des Weltverkehrs. Populäre Kommunikation in der modernen Raumrevolution, in: Böhme, Hartmut (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, S. 480.
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zuletzt an ihrer Mythenbildung entscheidenden Anteil haben. Diese Texte aber sind, was ihre Entstehung angeht, zumeist in einem klar begrenzten zeitlichen Rahmen zu verorten. Dass ihre Entstehung – genauso wie die der entschieden kritischen oder sogar feindlichen Texte – eng mit dem Einführungszeitpunkt einer Infrastruktur korreliert, bildet den Normalfall. Stehen solche affektiven und programmatischen Texte insofern in der Regel am Anfang von Diskursen über eine Infrastruktur, dann hängt mit dem Grad der Imagebildung, das heißt mit der Kräfteverteilung zwischen Attraktionsverstärkung und Training im jeweils aktuellen Diskurs, der zyklische Verlauf inframedialer Wirkungen eng zusammen. Ein weiterer Aspekt für den Zusammenhang von Infrastruktur und Literatur wird deutlich, betrachtet man die Bedeutung von Infrastruktur sehr viel konkreter aus der Perspektive der literarischen Produktion. Das Ordnung stiftende und Raum konfigurierende Moment von infrastrukturellen Vernetzungen ist mit Blick auf das Liniennetz des öffentlichen Nahverkehrs und seine Möglichkeiten der visuellen und damit dann auch sprachlichen Darstellbarkeit durch die Netzspinne bereits angedeutet worden. Für die Produktion von Literatur in der Moderne bedeutet diese Eigenschaft zur Generierung von Raum und Raumvorstellungen einen idealen Anknüpfungspunkt: Denn in der strukturellen Unsicherheit der hochtechnisierten Metropole findet sich das Erzählen an sich zur Disposition gestellt. Wo das schockartig Fluktuierende und fließend Flüchtige der Wahrnehmung mit einem scheinbar unvereinbaren Gegenüber des blockhaft Statischen, in seiner Abstraktheit aber ebenso Inkommensurable rationaler Denk- und Organisationsformen konfrontiert wird, da scheint das Ende der großen Erzählungen nicht nur auf inhatlicher Ebene, sondern auch auf der Ebene der Form erreicht. In einer Akkumulation transitorischer Nicht-Orte, wie sie in der Moderne zumindest in den Augen ihrer Beobachter symptomatisch wird, zeichnet sich mehr noch als das Liniennetz das Verkehrsmittel selbst durch das Moment des Ort-Seins aus. In einem Zustand höchster Entropie, in dem die Geschwindigkeit und das Ausmaß wechselnder Erregungen sich der souveränen Beherrschbarkeit zu entziehen scheinen, birgt das Transportmittel durch seine festen Raum- und Zeitgrenzen – durch seine räumliche Materialität, durch die Möglichkeit des Einsteigens und des Verlassens des Wagens – den Boden für Erzählbarkeit überhaupt. Auf diese Weise stellt der öffentliche Nahverkehr die medialen Vehikel bereit, die in ihrer Verbindung von Konkretheit und Flexibilität dem Prinzip des Erzählens in der Moderne in idealer Weise entsprechen. Schon in der berühmten Eingangssequenz vom Mann ohne Eigenschaften, in der Musil den urbanen Raum als eigenartiges Konglomerat aus Materialem und Abstraktem beschreibt, findet sich ein erster Hinweis auf das ordnende Moment der Verkehrsmittel innerhalb dieser kaum erfassbaren Dichte von Ereignissen:
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„Es soll also auf den Namen der Stadt kein besonderer Wert gelegt werden. Wie alle Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, […].“95
Wenn es an dieser Stelle noch den Anschein haben könne, als sei hier wiederum nur von – wiederum abstrakten – Richtungsvektoren oder Bewegungen die Rede, dann kann man im Verlaufe des Romans feststellen, dass die Straßenbahn für Musil, der auf inhaltlicher wie formaler Ebene die Problematiken des Erzählens in der Moderne reflektiert, zum wesentlichen Denk- und Erzählmodell wird. Sie wird nicht nur zum Signifikanten des technischen Fortschritts, der für die Auflösung tradierter Wahrnehmungs- und Erlebnismuster verantwortlich ist. Sie wird gleichzeitig auch zu demjenigen Medium, mit dem Musils Protagonist versuchen wird, dieser Moderne adäquate Wahrnehmungs- und Erlebniskonzepte und damit dann auch Konzepte von Individualität herzustellen. Ob nun Medium des Erzählens, Matrix, Analyseinstrument, Training oder Imageproduktion. Die bisher angesprochenen Facetten des Verhältnisses von Infrastruktur und Literatur sollten eines gezeigt haben: Eine Studie über die Medialität von Infrastrukturen kann nicht zum Ziel haben, ein einfaches Ursache-WirkungVerhältnis nachzuzeichnen, sondern muss sich der dynamischen Anlage des Wechselverhältnisses von Infrastruktur und Kultur bewusst sein. Was an dieser Stelle noch abstrakt erscheinen mag, das soll in den folgenden Abschnitten, in denen zunächst die kulturgeschichtlichen und sozialen Wirkungen des Nahverkehrs und im Anschluss daran seine imaginären Potentiale untersucht werden sollen, am Konkreten ins Konkrete überführt werden.
95 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 10.
Teil zwei
I. Kulturgeschichte des öffentlichen Nahverkehrs
1. V ORABEND DER M ETROPOLE . J ULIUS R ODENBERGS B ILDER AUS DEM B ERLINER L EBEN Er selbst bezeichnete sich als einen Chronisten des Übergangs, der sich zur Aufgabe gemacht hatte, das flüchtige „Bild zu fixieren, welches Berlin im Verlaufe seiner Umgestaltung dem Blicke des Beobachters“1 zeigt und das Morgen schon wieder ein anderes sein wird. Die Rede ist von Julius Rodenberg, dem Gründer und Herausgeber der Deutschen Rundschau, in der so gewichtige Werke wie Fontanes Effi Briest oder Storms Novelle Der Schimmelreiter erstveröffentlicht wurden. Mindestens so interessant wie seine verlegerische und redaktionelle Tätigkeit sind Rodenbergs mit wenigen Ausnahmen2 bislang kaum gewürdigten eigenen schriftstellerischen Arbeiten. Vermutlich wird man kaum vergleichbare Zeugnisse für die ersten Urbanisierungsprozesse, wie sie im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts einsetzen und schnell um sich greifen, finden. Von bemerkenswerter Symptomatik sind Rodenbergs Berlin-Betrachtungen auch deshalb, weil sich in ihnen gleich in doppelter Weise ein Umbruch manifestiert. Rodenberg kann auf der einen Seite als Vorläufer der urbanen Figur des Flaneurs gelten, wenngleich seine ausgedehnten Spaziergänge durch das Berlin der 1880er Jahre sich noch nicht durch das spezifisch moderne Moment des bohemienhaften Schlenderns auszeichnen, sondern einer geradezu preußisch anmutenden Ordnung unterliegen. 3 Dem Prinzip nach aber verbindet Rodenberg bereits das Ge-
1
Rodenberg, Julius: Bilder aus dem Berliner Leben, Bd. 1, S. VII.
2
Vgl. Köhn, Eckhardt: Straßenrausch, S. 101-112.
3
Eckhardt Köhn weist darauf hin, dass Rodenberg sich selbst „weder als Flaneur noch als Bummler vorstellt. Der erste Typus war diskreditiert durch den aristokratischen Müßig-
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hen durch die Stadt mit dem ethnologischen und kulturkritischen Blick, wie er in den kommenden Jahrzehnten für den urbanen Flaneur charakteristisch werden wird. Auf der anderen Seite geben seine Texte – wie Rodenberg schon in seiner Selbstcharakteristik sagt – Auskunft über eine Stadt im Umbruch, über ein Berlin, das in weiten Teilen einen noch fast ländlich-idyllischen Anstrich zu haben scheint. Die Zeichen der Metropolisierung aber, die das Stadtbild Berlins innerhalb von wenigen Jahrzehnten ganz grundlegend gewandelt haben wird, brechen in Rodenbergs Schilderungen immer wieder durch die Bilder des alten Berlin hindurch. Wer etwas erfahren will über die Anfänge der Veränderungen des urbanen Raums durch seine verkehrstechnische Erschließung, der sollte Rodenbergs Bilder aus dem Berliner Leben lesen, in denen die beginnende Umstrukturierung der Stadt aus der unmittelbaren Perspektive des zeitgenössischen Beobachters dokumentiert wird. Dem Berlin, dessen Wandel von der preußischen Residenz- zur deutschen Hauptstadt Rodenberg beschreibt, sind die Spuren des vorindustriellen Dorfes noch immer eingeschrieben, aber die Indizien von Urbanisierung und Modernisierung sind nicht mehr zu übersehen. „Versteht sich der urbane Spaziergänger in Rodenbergs Texten als Historiograph des alten Berlins, so fungiert er ebenso als Chronist des neuen, der mit genauem Blick alle Innovationsprozesse in der Großstadt selbst verfolgt“4,
schreibt Eckhardt Köhn über diese Umbruchsstimmung, die Rodenberg in seinen Texten festhält und die auch die Perspektive seines Schreibens selbst kennzeichnet. So ist es charakteristisch, dass sich in seinen Texten über diesen Prozess der Neuerung – der immer an die Zerstörung des Bestehenden gebunden ist – Passagen, die mit einem melancholischen Flor überzogen sind, abwechseln mit solchen, die das Alte nur noch abschätzig betrachten können und in einer Art erwartungsvoller Aufbruchsmentalität auf die Veränderungen blicken. Die Neuerungen gänzlich ohne Skepsis oder zumindest einen Beigeschmack des Bedrohlichen zu kommentieren, gelingt Rodenberg allerdings nur selten – zu sehr hat er sich der Figur des kulturpessimistischen Melancholikers verschrieben. Was überwiegt, sind deshalb zunächst die Verzeichnisse des Verlusts. An der sukzessiven Abholzung einer Pappelallee im Zuge von Straßen- und Wohnraumneuerschließungen, von der Rodenberg in Die letzte Pappel erzählt, zeigt sich im Kleinen, was für den Stadtraum Berlins im ausgehenden 19. Jahrhunderts insgesamt konstitutiv wird.
gänger, der zweite durch die radikalen Demokraten.“ Köhn, Eckhardt: Straßenrausch, S. 281. 4
Ebd., S. 109.
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„Als ich zuerst in diese Gegend der Stadt kam, vor vierzehn oder fünfzehn Jahren, da waren mehr Pappeln hier; in der Tat, mehr Pappeln als Häuser. Das Haus, in dem ich jetzt wohne, war noch nicht da, und die Straße, in der es steht, war noch nicht da, und all die anderen Straßen um sie her waren auch noch nicht. […] Still war es hier wie auf dem Lande; Wagen kamen selten, Omnibusse gab es noch nicht.“5
Was als mehr oder minder zufällig anmutende Bautätigkeit beginnt, entpuppt sich schnell als systematische Urbanisierung des Raums: „Ein paar Pappeln wurden gefällt, ein paar Häuser wurden gebaut – scheinbar ohne Zusammenhang. Aber mehr Pappeln und mehr Häuser folgten, und der Zusammenhang stellte sich bald genug heraus: es war auf ein neues Stadtviertel und eine vollkommene Vernichtung der ländlichen Allee abgesehen, […].“6
Ironischer Weise ist es am Ende die Natur selbst, die auch die letzte Pappel fällt: Auf einem seiner morgendlichen Spaziergänge findet der Erzähler den einzig verbliebenen Baum vom nächtlichen Sturm umgeweht. Im Stile einer Trauergemeinde haben sich die Anwohner um das letzte Wahrzeichen einer nun schon der Vergangenheit angehörenden Epoche versammelt, und pathetisch ist Rodenbergs Kommentar: „Wie ein Andenken aus alter Zeit und eine Verheißung der Natur, die immer weiter herausgetrieben wird aus dem steinernen Umfange von Berlin, war mir dieser Baum. Ich habe ihn geliebt, wie keinen zweiten Baum in Berlin – […]. Als ich heute meinen Morgenspaziergang machte, da lag er da, geknickt, abgebrochen vom Sturm. Viele Menschen standen um ihn her, um den zerstückelten Stumpf, der noch in seinem Tode einen frischen Erdgeruch ausströmte.“7
Versehen aber wird die Episode über das im Zuge der Modernisierung unwiderrufliche Ende einer Pappelallee schon mit dem Wissen um die Unaufhaltsamkeit und das Zeitgemäße einer Entwicklung, die nun auch die Natur selber zu bestätigen scheint: „(D)aß nämlich Pappeln und Menschen sterben mü(ss)en, wenn ihre Zeit gekommen.“8 Das ist eine Einsicht, die Rodenberg auch für Berlin als Ganzes in ihrer Ambivalenz von Verlusterfahrung und Aufbruch immer wieder machen wird.
5
Rodenberg, Julius: Bilder aus dem Berliner Leben, Bd. 1, S. 6.
6
Ebd., S. 13f.
7
Ebd., S. 16f.
8
Ebd., S. 17.
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„Auf dem trockenen Bette des weiland Königsgrabens erheben sich die Strukturen eines anderen Werkes“, schreibt Rodenberg in Sonntag vor dem Landsberger Tor aus dem Jahr 1880: „der Stadtbahn, welche so recht im Geist der neueren Zeit rücksichtslos fortschreitet durch unsere Straßen, zerstört, was im Wege ist, und bald mit ihrem steinernen Ring uns umschlossen haben wird; auch eine Stadtmauer, aber eine andere, als die einst hier gewesen, eine, auf der Leben und Bewegung ist, die den Verkehr beschleunigt, welchen jene gehemmt hat.“9
Auch an dieser Stelle fehlt der melancholische Kommentar nicht: „Oh, über die gute, alte Zeit, wo jeder noch seine Bequemlichkeit und seine Ruhe hatte! […] Wo noch Ruhe war in den Straßen und Gemütlichkeit in den Häusern! Wo noch kein Gerassel von Pferdeomnibussen war und kein Geklingel von Pferdebahnen, keine Kanalisationsarbeit, welche jahrelang bald hier, bald da die Stadt aufwühlt und in tiefe Gruben und unübersteigliche Sandberge verwandelt.“10
Bald wird es vor allem der Bau des U-Bahn-Netzes sein, der Berlin zu dieser von Kratern durchzogenen alpinen Landschaft macht, wie sie noch in Döblins in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts situiertem Berlin Alexanderplatz als Zeichen des Unfertigen und Provisorischen den Hintergrund des Erzählens über die Stadt bilden wird. Mehr noch als der Eindruck des Provisorischen ist es in den Schilderungen Rodenbergs das Gefühl eines kaum noch überschaubaren Wachstums, das die ganze Stadt ergriffen hat. So kann er nur ein ums andere mal feststellen: „[…] wie sehr dies Berlin eine wachsende Stadt ist, eine Stadt, die sich beständig verändert, verschönert, vergrößert […].“11 Was er auf seinen ausgedehnten Spaziergängen an Veränderungen beobachtet, offenbart sich zusehends als großangelegter und systematischer Aus- und Umbau des Stadtraums durch seine verkehrsinfrastrukturelle Erschließung. In einer Beschreibung von Berlin-Mitte heißt es: „Die Acker- und die Gartenstraße, die damals hier, am Pappelplatz ein Ende hatten, sind ins Grenzenlose hinausgewachsen, bis hinauf nach dem Humboldthain, mit neuen Straßensystemen zwischen sich, die jetzt zwei ganze Stadtteile, den ‚Wedding‘ und das ‚Spandauer Revier‘ außerhalb bilden.“12
9
Ebd., S. 23.
10 Ebd. 11 Ebd., S. 22. 12 Ebd., S. 162.
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Es ist die verkehrstechnische Vernetzung, in der sich das Umfassende und das Systematische dieses Umbaus der Stadt zeigt und in der sich deshalb auch maßgeblich eben jene Ambivalenz spiegelt, die den Wandel begleitet: „Prachtvoll erhebt sich in ihrer Mitte der Stettiner Bahnhof, und an ihrem Rand brausen unaufhörlich Züge der Ringbahn, deren eiserne Stränge die Stadt umgürten.“13 Schlussendlich aber ist es die Einsicht in die verkehrstechnischen Notwendigkeiten der Zerstörung historischer Bausubstanz, die Rodenberg nicht gänzlich gegen die Umbaumaßnahmen einnimmt: „Nicht nur zu Zwecken der Verschönerung allein […] hat man hier aufgeräumt und neu geschaffen: sondern es mußte geschehen, wenn dem ungeheuren Wachstum Berlins die freie Circulation und Entfaltung gesichert […] werden sollte.“14
Es sind, das klingt in der wiederholten Formulierung der „Verschönerung“ schon an, aber eben nicht nur Verluste, sondern durchaus auch Zugewinne, die Rodenberg verzeichnet. Ganz im Gegensatz zu seinen melancholischen Verabschiedungen liest man deshalb in seinen Texten immer wieder auch den Stolz des Großstädters, im Brennpunkt dieser historischen Umwälzungen zu stehen und an ihnen teilzuhaben. So berichtet Rodenberg sichtlich beeindruckt über das urbane Flair, mit dem der Landsberger Platz sich selbst am Sonntag dem flanierenden Beobachter präsentiert: „(W)enn man jetzt auf den Landsberger Platz kommt, so hat man einen wirklich großstädtischen Anblick vor sich: Zu beiden Seiten ausgedehnt liegt eine prachtvolle neue Straße: die Friedenstraße – links, wo die Kommunikation am Königstor war, ihr vornehmerer Teil, mit wahrhaft herrschaftlichen Häusern an einer schönen Promenade, rechts, wo die Kommunikation am Landsberger Tor war, eine Straße, wie einer von den Pariser äußern Boulevards, […]. Da fahren die Pferdebahnen, da kreuzen sich die Wagen und die Omnibusse, da drängeln sich die Menschenhaufen auf dem weiten, offenen Platz.“15
Der Prozess der Urbanisierung ist oftmals in einer Form dargestellt worden, die mit der Kategorie des Raums operiert. Topisch geworden sind die zahlreichen Einfahrten nach Berlin, in denen die ländliche Gegend mehr und mehr durch die Insignien des Urbanen abgelöst wird, man denke an die berühmten Anfangssequenzen von Ruttmanns Symphonie der Großstadt oder Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Aber hier vollzieht sich durch den Ortswechsel, durch die Bewegung von der Peripherie zum Zentrum etwas, das wenig über die Entstehung dieses Zentrums selbst
13 Ebd. 14 Ders.: Bilder aus dem Berliner Leben, Bd. 2, S. 165. 15 Rodenberg, Julius: Bilder aus dem Berliner Leben, Bd. 1, S. 37.
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aussagt, weil zeitlich auf der synchronen Ebene verblieben wird. Rodenberg dagegen kann die diachrone Perspektive in seine Stadtbeobachtungen aufnehmen, indem er das Vergangene, das Gegenwärtige und das Kommende eines Ortes zusammenführt. Die Umbruchssituation, wie Rodenberg sie auf der inhaltlichen Ebene verdichtet, findet sein Pendant in der formalen Struktur seiner Bilder aus dem Berliner Leben. Bevor die Textsammlung in Buchform publiziert wurde, erschienen die einzelnen Stücke in der Deutschen Rundschau. Zwar sind sie, was ihre Länge angeht, wesentlich umfangreicher als die „kleine Form“, wie man die feuilletonistischen Prosastücke nennt, die in der expandierenden Zeitungslandschaft des jungen 20. Jahrhunderts so reißenden Absatz finden werden. Aber in ihrer Verbindung von Alltagsbeobachtung und Reflexion, von der Betrachtung des Konkreten und dem Versuch seiner gesellschaftlichen und kulturellen Symptomatisierung sind sie Kennzeichen einer Textform des Übergangs, die auf dem Weg zur feuilletonistischen Kurzform ist. 16 Und die damit auch auf dem Weg ist zu einer neuen, auf den Bedingungen ihrer veränderten Konstitution und den Bedingungen ihrer veränderten Wahrnehmung beruhenden Darstellungsweise der Stadt, wie sie mit der Wende zum 20. Jahrhundert stilbildend werden wird. Rodenbergs Beschreibungen des Berlins des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind zwar durchzogen von Indizien für den bevorstehenden und bereits einsetzenden Wandel. Es ist aber trotz aller Brechungen noch ein vergleichsweise idyllisches Panorama, das sich in seinen Texten mitteilt – auch wenn Rodenberg selbst das nicht so gesehen haben mag. Noch lässt sich die Stadt nach allen Richtungen hin bequem zu Fuß durchqueren, die wenigen bisher entstanden verkehrstechnischen Zentren und infrastrukturellen Knotenpunkte können noch aus einer Art Sicherheitsabstand betrachtet werden. Rodenberg ist nie mitten drin in den Baustellen, wie Biberkopf, der über ausgehobene Baugruben, vorbei an der Dampframme und auf Bretterprovisorien gehen muss. Rodenbergs Position ist die des Gegenübers. Das gilt für seinen Standpunkt im Raum – die Züge der Stadtbahn fahren an der Peripherie seiner Perspektive, sie rauschen in der Ferne. Das trifft sich aber auch mit Rodenbergs Haltung als Beobachtendem und Schreibendem, die kaum einmal zur emphatisch involvierten wird, sondern die sich, selbst in Augenblicken der Melancholie, durch eine kühle Beherrschtheit auszeichnet. Diese Distanz, die Rodenberg zu halten weiß, hat zur Folge, dass die Baustellen der Urbanität wie Inseln anmuten, deren kontinuierliche Ausbreitung zwar nicht zu übersehen ist, denen aber noch nicht das Moment des Unausweichlichen und Inkommensurablen eigen ist. Das liegt vor allem auch daran, dass ein Aspekt noch so
16 Vgl. Kauffmann, Kai/Schütz. Erhard (Hg.): Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilleton-Forschung.
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gut wie gar nicht zum Tragen kommt: der Lärm, der bald dazu führen wird, dass sich das, was man als urbanen Raum der Moderne versteht, nicht nur nach territorialen Gesichtspunkten figuriert, sondern ein Raum ist, der sich auch durch seine akustische Reizakkumulation auszeichnet. Natürlich rattert auch bei Rodenberg mal ein Wagen vorüber oder es klingelt ein Pferdeomnibus. Aber in dem von ihm geschilderten Berlin geht es vergleichsweise leise zu. Das wird sich mit dem fortschreitenden infrastrukturellen Ausbau Berlins ändern. Immer dichter wird das Verkehrsnetz werden, immer dichter die Folge der Straßenbahnen und Busse, die durch die Straßen fahren, und immer dichter und ansteigender der Geräuschpegel, der von ihnen ausgeht: „Die elektrischen Wagen und die Trams bilden eine ununterbrochene Linie, […], das Läuten aller dieser Vehikel, das Rasseln der Räder ist ohrenzerreißend, der Übergang der Straßen ein Kunststück für den Großstädter, eine Pein für den Provinzler.“17
Bis es zu Szenen wie dieser kommt, in denen unablässige Reihen von Straßenbahnen und Bussen und der von ihnen verursachte Lärm eine schier undurchdringliche Wand bilden, von der der Einzelne umschlossen ist, werden nur wenige Jahre vergehen. 1902, Julius Rodenberg ist gerade 70 Jahre alt, ist im Berliner Stadtplan erstmals die Rodenberg Straße verzeichnet, eine Seitenstraße am nördlichen Ende der Schönhauser Allee im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Äußerst selten lässt eine Stadt diese Ehre Zeitgenossen bereits zu Lebzeiten zuteil werden, was davon zeugt, wie unmittelbar dieser Chronist des Übergangs sich mit seinen Beobachtungen in die Historie wie auch in die unmittelbare Gegenwart der Stadt eingeschrieben hat.
2. B ERLIN
AUF DEM
W EG ZUR V ERKEHRSSTADT
Vier Kilometer in Nord-Süd-Richtung und drei Kilometer in West-Ost-Richtung erstreckt sich die Stadt Berlin zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Wohn- und Arbeitsplatz sind, wenn nicht identisch, so doch in unmittelbarer Nachbarschaft gelegen. Alle Wege können in durchschnittlich einer halben, höchstens in einer Stunde zu
17 Vierhaus, Rudolf (Hg.): Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, geb. Freiin v. Varnbüller. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches. Dt. Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 43, S. 381.
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Fuß bewältigt werden, so dass der öffentliche Verkehr ohne technische Hilfsmittel bewerkstelligt werden kann.18 Als der Nationalökonom Gustav Schmoller 1873 über die Notwendigkeit des Nahverkehrs nachdenkt, tut er das bereits vor dem Hintergrund komplett neuer Ausgangsbedingungen. So schreibt Schmoller, dass die Großstadt der „rapiden Beförderungsmittel“ dringend bedürfe, „um die ungeheuren Wege zwischen Arbeits- und Wohnort, zwischen Schule und Haus, zwischen Börse und Privatgeschäft überhaupt zurückzulegen, um hie und da mal außerhalb der Dunstatmosphäre der Riesenstadt Luft zu schöpfen und das Grüne zu sehen. Sie bedarf desselben, um überhaupt auf so engen Raume zu existieren.“ 19
Die wesentlichsten dieser durch Metropolisierung und Urbanisierung bewirkten Veränderungen, die Schmoller nennt, sind: Die in den 80er bzw. 90er Jahren des 19. Jahrhunderts mit der ersten und zweiten industriellen Randwanderung, der Verlagerung von Fabriken in die Vororte und die Peripherie der Stadt sich vollziehende Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz, 20 den Ausbau von Handel und Wirtschaft und nicht zuletzt das Aufkommen einer Freizeit- und Ausflugskultur, die im ausgehenden Jahrhundert zu einem Faktor wird, der das Sozialverhalten aller Schichten neu justiert. Im Zuge dessen werden die ersten, damals noch Pferdebahn- und Pfer-
18 Vgl. Siewers, Horst H.: „Nahverkehr und Stadtentwicklung“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Glaser, Hermann (Hg.): Exerzierfeld Moderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert, S. 98. 19 Schmoller, Gustav: „Der moderne Verkehr im Verhältnis zum wirtschaftlichen, sozialen und sittlichen Fortschritt“, in: Ders.: Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart, S. 31. 20 „Neue Industriegebiete bildeten sich im Westen bis Norden sowie im Südosten bis Osten heraus. Die sogenannte erste Randwanderung ließ die relativ enge Beziehung von Wohngebiet und Industriestandort in vielen Fällen zwar noch bestehen, dennoch mußten die Beschäftigten zunehmend die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Die zweite industrielle Randwanderung setzte 1890 ein. In ihrem Zusammenhang entstand eine zweite suburbane industrielle Zone rund 12 bis 20 km vom Berliner Stadtzentrum entfernt. Diese Randwanderung zog nicht unmittelbar eine Dezentralisation im Wohnungswesen nach sich, da große Teile der Arbeiterschaft in Berlin wohnen blieben.“ Bendikat, Elfi: „Öffentliche Verkehrssysteme im Spannungsfeld kommunaler Intervention“, in: Dienel, Hans-Liudger/Schmucki, Barbara (Hg.): Mobilität für alle. Die Gesichte des öffentlichen Personennahverkehrs in der Stadt zwischen technischem Fortschritt und sozialer Pflicht, S. 168f.; vgl. auch: Timm, Albrecht: Die Entwicklung des Industriestandortes Berlin und Escher, Felix: Berlin und sein Umland.
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deomnibuslinien für den Ausflugsverkehr angelegt.21 Und die günstigen Beförderungstarife machen die Nutzung selbst für große Teile der Arbeiterklasse erschwinglich. Was Schmoller aus der Perspektive des in die Zeit Involvierten formuliert – dass die Lebensorganisation in der Großstadt auf schnellere Verkehrsmittel angewiesen sei –, kann man aber noch sehr viel grundsätzlicher formulieren: Nicht nur ist die Großstadt auf ein gut ausgebautes Verkehrsnetz angewiesen. Vielmehr gilt: Die Großstadt entsteht erst durch das System des öffentlichen Verkehrs. Das heißt, das Nahverkehrsnetz stellt die technischen und organisatorischen Strukturen dafür bereit, dass sich die Großstadt überhaupt herausbilden kann. Dass vielleicht auch Schmoller dem Nahverkehr eine umfassendere Bedeutung zugeschrieben haben mag, als aus dem kurzen Zitat hervorgeht, verrät indes der Titel seiner Schrift: Der moderne Verkehr im Verhältnis zum wirtschaftlichen, sozialen und sittlichen Fortschritt. Hiermit gibt Schmoller im Grunde bereits das Programm für eine kulturgeschichtliche Untersuchung des Massenverkehrs vor. Wenn im Folgenden eine kleine Kulturgeschichte des öffentlichen Nahverkehrs Berlins von seinen Anfängen bis in die Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts geschrieben werden soll, dann kann es nicht um eine auf Vollständigkeit angelegte Historie der Entwicklung der einzelnen Verkehrsmittel gehen. Stattdessen muss einer Kulturgeschichte daran gelegen sein, die zentralen Transformationsprozesse zu erfassen, wie sie sich aus der Einführung und aus dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ergeben. Eine solche Kulturgeschichte bildet nicht nur die Grundlage für die im Hauptteil dieser Arbeit erfolgende Untersuchung der inframedialen Wirkungen des Nahverkehrs. Sie ist selbst schon Teil derselben, indem sie vor allem die materiale Seite
21 „Das erste Omnibusunternehmen war die ‚Concessionirte Berliner Omnibus-Compagnie‘, der am 30. Oktober 1846 die Genehmigung für 5 Linien erteilt wurde. Bemerkenswert an den ersten Linien ist, daß alle als einen Endpunkt ein damals beliebtes AusflugsEtablissement oder einen Ausflugsort aufwiesen.“ Jung, Heinz/Kramer, Wolfgang: „Der Omnibus“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Glaser, Hermann (Hg.): Exerzierfeldmoderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert, S. 130; vgl. hierzu auch: Siewert, Horst H.: „Nahverkehr und Stadtentwicklung“, in: Ebd., S. 99. Robert Krause, seit 1886 Generaldirektor der Berliner Straßenbahn, schreibt rückblickend über dieses Betriebsjahr, die Höchsteinnahme, damals noch der Berliner Pferdeeisenbahn-Gesellschaft, „am 2. Pfingstfeiertag mit annähernd 45 Mark erzielt“ worden. (Erwiderungsrede des Generaldirektor Krause anläßlich der Abschiedsfeier am 24. Oktober 1925 in den Kammersälen, Teltower Straße, in: Berliner Straßenbahn. Zeitschrift für die Angehörigen der Berliner Straßenbahn-Betriebs GmbH, Sondernummer, Berlin, den 25. Oktober 1925, XXII. Jahrgang, S. 2.
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der Inframedialität untersucht, mithin diejenigen an den Nahverkehr gebundenen Parameter zusammenträgt und interpretiert, die konstitutiv für die Herausbildung des urbanen Raums und des urbanen Lebens sind. Den Makel, anderen europäischen Metropolen wie Paris oder London nicht nur, was den wirtschaftlichen Fortschritt angeht, hinterherzuhinken, ist Berlin bis heute nicht vollständig losgeworden. 22 Indes hat der forcierte Ausbau des Nahverkehrs einen erheblichen Anteil daran, dass Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine infrastrukturellen Rückstände zumindest teilweise wettmachen und auf diese Weise den wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt befördern kann. So führt die Technisierung und Beschleunigung des öffentlichen Lebens durch den Nahverkehr nicht zuletzt dazu, dass sich Berlin immerhin das Image einer Weltstadt zulegen kann. Nicht nur die vielen Studienreisen, die Stadtplaner und Architekten in den anderen Kontinent unternehmen, dokumentieren allerdings, dass die Städte der Vereinigten Staaten von Amerika in praktischer wie auch in symbolischer Hinsicht weiterhin ein Ideal von Fortschritt und Urbanität verkörpern, das dem Ausbau des Berliner Verkehrssystems als visionäre Orientierungsmarke dient.23
22 Vgl. Brunn, Gerhard/Reulecke, Jürgen (Hg.): Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europäischer Hauptstädte 1870-1939; Briesen, Detlef: Berlin die überschätzte Metropole. Über das System der deutschen Hauptstädte von 1850-1940; vgl. ebenfalls die Studie aus dem Jahr 1930: Metz, Friedrich: Hauptstädte. 23 Vgl. exemplarisch: Hensel, Rudolf: Amerika. Aus Tagebuchblättern einer Reise, Sonderdruck aus der Allianz-Zeitung. Monatsblätter für Versicherungswesen. Für ihre Mitarbeiter, Allianz und Stuttgarter Verein Versicherungs-Akt.-Ges./Allianz und Stuttgarter Lebensversicherungsbank A.G (Hg.); Pavel. E. (Baurat, Direktor der Hochbahngesellschaft): Studienreise nach Amerika. Besichtigung von Schnellbahnen und anderen Anlagen der Nordamerikanischen Grosstädte. Nach einem Vortrag im Verein für Eisenbahnkunde am 16. Dezember 1924. Zu Ernst Reuters Amerika-Reise 1929: Die Fahrt (Amerika-Sondernummer) 19, 1929.
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3. G ESCHICHTLICHES 1875
1885
1895
1904
Einwohnerzahl Gross-Berlins
1,051
1,450
2,089
rund 2,650
Beförderte Personen... ... auf Strassenbahnen
18
87
168
394
... Omnibuslinien Stadt- u. Ringbahn, Lokalverkehr
14 -
16 15
44 75
93 111
Hoch- und Untergrundbahn Reisende auf öffentlichen Ver- 32 kehrsmitteln = zusammen
118
287
32 638
Jährliche Fahrten auf den Kopf der 31 Bevölkerung Gross-Berlin
82
137
rund 238
Angaben in Millionen24
Diese Statistik aus dem Jahr 1905, in der das Wachstum der Bevölkerung Berlins seit 1875 und der Anstieg der Nahverkehrsfrequentierung nebeneinander gestellt werden, lässt in ihrer ganzen Einfachheit womöglich am besten erahnen, zu welcher Bedeutung das öffentliche Transportwesen innerhalb weniger Jahre kommen konnte. Während die Einwohnerzahl Berlins in 30 Jahren um das Zweieinhalbfache ansteigt, kann die Zahl der jährlichen Pro-Kopf-Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln mit dem Faktor acht multipliziert werden. Sinnfälliger noch ist die Gesamtzahl der Nutzer des Nahverkehrs, die im dokumentierten Zeitraum von 32 Millionen um das Zwanzigfache auf 638 Millionen angestiegen ist. Eine zeitgenössische Untersuchung stellt in diesem Zusammenhang fest: „Im allgemeinen wird man annehmen können, daß die Dichtigkeit des Straßenverkehrs nicht etwa im gleichen Verhältnis mit der Bevölkerungszahl zunimmt, sondern eine schärfere Steigerung aufweist.“ Erklärt wird dieses Phänomen durch folgende Abstraktion: „Die Ortsveränderungen der Menschen werden zu einem wesentlichen Teil durch ihre Beziehungen zueinander beeinflußt. An solchen besteht unter zwei Menschen (a und b) nur die eine a b. Unter der doppelten Zahl, als unter vier Personen (a, b, c und d) sind aber nicht nur zwei,
24 Continentale Gesellschaft für elektrische Unternehmungen: Zum Entwurf einer Schwebebahn in Berlin, S. 5.
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sondern bereits sechs Beziehungen möglich: a b, a c, a d, b c, b d und c d. […] daß die Menge der Straßenbesucher über das einfache Verhältnis der Einwohnerzahl hinauswächst.“25
Der Ausbau des Nahverkehrs, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts seinen eigentlichen Anfang nimmt, ist ein sich selbst verstärkender Prozess. Und er ist ein Prozess, in dem sich die Entwicklungen des urbanen Raums – wie eben etwa die Entstehung der Massengesellschaft – in potenzierter Form zu erkennen geben. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts legen die ersten noch mit Pferdekraft betriebenen innerstädtischen Omnibusse den Grundstein für ein sich kontinuierlich erweiterndes System. Die erste innerstädtische Pferdebahn befördert am 22. Juni 1865 Fahrgäste vom Brandenburger Tor nach Charlottenburg. Gegen Ende des Jahrhunderts beginnt die Elektrifizierung des Verkehrs, die untrennbar mit dem Namen Werner von Siemens verbunden ist, der im Jahr 1866 die dynamoelektrische Maschine erfunden und damit die Voraussetzung für die Elektrifizierung des Nahverkehrs geschaffen hatte. Schon 1881 eröffnet er auf einer stillgelegten Materialbahnstrecke in Lichterfelde die erste elektrische Straßenbahn der Welt. Erst 1896 – mit fünfzehnjähriger Unterbrechung – beginnt die umfassende Umstellung des bisher von Pferdekraft geleisteten Verkehrs auf den elektrischen Betrieb. Einmal in Gang gesetzt, geht sie in einem rasanten Tempo vor sich. 1902 fährt zum letzten Mal ein Pferdebahnwagen in Berlin – innerhalb von nur sechs Jahren ist nahezu das gesamte Nahverkehrsnetz elektrifiziert worden. Die Einführung der Straßenbahn läuft nicht immer reibungsfrei ab. Ein ums andere Mal liest man in den Zeitungen über Störungen des Betriebs oder über spektakuläre Brände von Leitungskabeln. „Die Gefahren der Oberleitungen bei der elektrischen Straßenbahn wachsen mit jedem Tag“, berichtet im Juni 1901 das sozialdemokratische Blatt Vorwärts: „Gestern (Sonnabend) nachmittag brannten gleichzeitig beide Leitungsdrähte an der Ecke Chaussee-/Invalidenstraße...Als kurz vor einhalb zwei Uhr ein elektrischer Straßenbahnwagen aus der Richtung Moabit vor dem Hause Invalidenstraße 105 ankam, erfolgte ein heftiger Knall, und nach wenigen Schritten stockte der Wagen. Ehe sich die Fahrgäste von ihrem Schrecken erholt hatten, brannte das vor ihnen quer über die Straße führende Schaltkabel, das die beiden Leitungsdrähte verband. Alles stürmte aus dem Wagen, und binnen weniger Minuten hatte sich ein vielhundertköpfiges Publikum zu beiden Seiten des Straßendamms angesammelt, um der Weiterentwicklung des Vorgangs zu warten. Vor dem Haus 105 war mitt-
25 Der innere Personenverkehr, 1896, aus: Berlin und seine Eisenbahnen 1846-1896, zit. nach: Berliner Hausbuch. Geschichten und Gedichte, Lieder und Berichte aus Alt-Berlin und drum herum – mit vielen alten Bildern, S. 536-552.
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lerweile ein Draht gerissen und zur Erde gefallen, was zur Folge hatte, daß meterhohe Flammen dort emporloderten.“ 26
Häufig sind es Pferdfuhrwerke, die sich mit dem neuen elektrischen Verkehr die Straßen teilen müssen, die bei den Zwischenfällen in Mitleidenschaft gezogen werden. Der Vorwärts berichtet über den weiteren Verlauf des Unfalls: „Ein Kutscher, der gerade die Straße passierte, wäre beinahe samt seinem Pferde verloren gewesen. Als er über den herabfallenden Draht fuhr, erhielt seine Droschke einen solchen Schlag, daß sie mit gewaltigem Ruck zur Seite geschleudert wurde.“27
Genauso gefährlich wie die Oberleitungen ist für die Pferdedroschken auch die für einige Zeit übliche unterirdische Stromzufuhr, die über die Schienen geleitet wird. Bei einem Schienenabstand von einem Meter ist für Menschen die Gefahr, beide Schienen gleichzeitig zu berühren, sehr gering. Pferde aber sieht man oft vom elektrischen Schlag getroffen sich aufbäumen und zusammensinken. Fast hat es den Anschein, als würde hier vorgeführt, wie das neu aufkommende Verkehrsmittel das traditionelle nicht mehr duldet. 28 Die logische Konsequenz: Innerhalb weniger Jahre verschwindet der Pferdebetrieb vollständig aus dem Straßenbild, das nun neben den elektrischen Straßenbahnen von Motoromnibussen dominiert wird, die seit 1905 für den Personenverkehr eingesetzt werden. Der Bau der Hoch- und Untergrundbahn von Berlin beginnt ebenfalls, wie die Elektrifizierung der Straßenbahn, im Jahre 1896. 1902 wird die erste Linie, die vom Stralauer Tor bis zum Potsdamer Platz führt, eröffnet. Dass der Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes so schnell und umfassend erfolgt, hängt einerseits damit zusammen, dass er durch Interessen aus Industrie und Wirtschaft forciert und gelenkt wird: „Im Jahre 1900 hatte die Verbindung zwischen lokaler Wirtschaft und den Schlüsselindustrien das hohe Niveau des Öffentlichen Nahver-
26 Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 9. Juni 1901. 27 Ebd. 28 Das Pferd wird zum Fremdkörper in der modernen Stadt. Das zeigt auch ein Unfallszenario aus Döblins Berlin Alexanderplatz, der immerhin schon in den späten zwanziger Jahren spielt: „An der Brunnenstraße, wo sie Untergrund ausschachten, ist ein Pferd in den Schacht gefallen. Die Leute stehen schon eine halbe Stunde rum, die Feuerwehr rückt mit einem Wagen an. Die legt einen Gurt dem Pferd um den Bauch. Das steht auf lauter Leitungsröhren und Gasröhren, wer weiß, ob es sich nicht ein Bein gebrochen hat, es zittert und wiehert, man sieht von oben bloß den Kopf.“ Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, S. 236.
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kehrs gefördert“, schreibt der Historiker Georg Schmid über die Lobby des städtischen Nahverkehrs: „Das Bedürfnis der Arbeiter nach schnellen Verkehrsmitteln und die politischen Forderungen der Arbeiter und des Kapitals nach Transportmitteln förderte das Wachstum der Städte. Dieser Prozeß spornte den Bahnbau an. In ähnlicher Weise erhöhte der wachsende Dienstleistungssektor die Nachfrage im Öffentlichen Nahverkehr.“29
Es ist aber nicht nur die hochzentralisierte und miteinander verflochtene Kohle-, Stahl-, Eisen-, chemische und Elektroindustrie, die den Nahverkehr fördert und als Teil nationaler und örtlicher Politik institutionalisiert. Die Städte selbst „erweiterten den Öffentlichen Verkehr durch Kommunalisierung und Subvention der Fahrpreise als Teil eines allgemeinen Programms zur städtischen Industrialisierung und Förderung privater industrieller Entwicklung“. 30 So kommen die Stadtforscher Dienel und Schmucki zu dem Urteil, „[…], daß die elektrische Straßenbahn hier ebenso Ausdruck einer sich neu etablierenden Organisationsform der städtischen Leistungsverwaltung sein konnte, gleichzeitig aber auch für den neuen wirtschaftlichen Leitsektor der elektrotechnischen Industrie eine entscheidende Rolle spielte.“31
Großstädter zu sein, das sollten bereits die zu Anfang dieses Abschnitts zitierten Zahlen über Auslastung und Nutzung der öffentlichen Transportmittel deutlich gemacht haben, bedeutet immer mehr, nicht nur seinen Tagesablauf mit dem Liniennetz und mit den Fahrzeiten des Nahverkehrs zu synchronisieren, sondern in ein verkehrstechnisches Netz eingebunden zu sein, in dem die Fäden aus technischem Forschritt mit denen staatlicher, kommunaler und wirtschaftlicher Interessen zusammenlaufen. „Da wohl kein Grund vorliegt, anzunehmen, dass diese Entwicklung ins Stocken gerät, sofern ihr nicht künstliche Hemmnisse bereitet werden“, schreibt die Continentale Gesellschaft in Anbetracht der oben zitierten Zahlen aus dem Jahr 1905 über den stetigen Ausbau des Nahverkehrs in Berlin, „so ist es nicht unwahr-
29 Schmid, Georg: Die Spur und die Trasse: (post-)moderne Wegmarken der Geschichtswissenschaft, S. 39. 30 Ebd., S. 38. 31 Dienel, Hans-Luidger/Schmucki, Barbara: Mobilität für alle, S. 11. Vgl. auch: Krabbe, Wolfgang R.: Kommunalpolitik und Industrialisierung. Die Entfaltung der städtischen Leistungsverwaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Fallstudien zu Dortmund und Münster und Löwe, Josef: Die elektrotechnische Industrie.
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scheinlich, dass der gesamte Personenverkehr nach weiteren zehn Jahren sich gegen den heutigen verdoppelt haben wird.“32 Indirekt enthält diese optimistische Zukunftseinschätzung allerdings schon einen Hinweis darauf, dass dem Aufstieg des Nahverkehrs – zumindest was die Straßenbahn angeht – sein Ende bereits eingeschrieben ist. So wird die Straßenbahn von der Continentalen Gesellschaft aus ihrer Prognose explizit ausgenommen. Zwar wird sie, wie Dienel und Schmucki rückblickend in ihrer historischen Periodisierung des Nahverkehrs feststellen, bis 1920 das dominierende unter den Nahverkehrsmitteln sein.33 Zurückzuführen ist das vor allem darauf, dass der Bau von Straßenbahnanlagen im Gegensatz zu denen von Hoch- und insbesondere Untergrundbahnen vergleichsweise günstig und schnell durchzuführen ist. Im Falle des U-Bahn-Baus erschweren die ungünstigen Berliner Bodenverhältnisse – der Boden besteht über große Flächen aus Schwemmsand – zusätzlich den Bau. Im Falle der Hochbahn sind es ästhetische Vorbehalte gegen die Verdunklung gerade der schmalen Straßen, die dem Ausbau ebenfalls entgegenarbeiten. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg aber werden sowohl aus politischer als auch aus stadtplanerischer Sicht die Bedenken gegen die technische Leistungsfähigkeit der Straßenbahn einerseits und die Vorbehalte gegen den Schienenbetrieb auf den zusehends voller werdenden Straßen anderseits so hoch geworden sein, dass es nunmehr ausschließlich der Ausbau des über- und unterirdischen Schnellbahnsystems ist, der mit aller Kraft vorangetrieben wird. Die Continentale Gesellschaft merkt bereits zu Beginn des Jahrhunderts an, „dass neue Schnellbahnen von grosser Leistungsfähigkeit geschaffen werden müssen, wobei in erster Linie darauf Wert zu legen ist, dass die weitere Anhäufung des Verkehrs auf den bereits heute überlasteten Strassenzügen nach Möglichkeit zurückgehalten wird.“34
32 Continentale Gesellschaft für elektrische Unternehmungen: Zum Entwurf einer Schwebebahn in Berlin, S. 5. 33 Dienel und Schmucki entwerfen in ihrem Aufsatz folgende Periodisierung des Nahverkehrs: 1860-1890 Monopol der Pferdebahn, wobei dieses Transportmittel den Autoren zufolge noch nicht als Massenverkehrsmittel im eigentlichen Sinn zu bezeichnen ist. Darüber hinaus bezweifeln sie, dass – wie später für den Nahverkehr charakteristisch – sich auch Angehörige der Arbeiterklasse die Fahrten leisten konnten. Vgl. Dienel, HansLiudger/Schmucki, Barbara: Mobilität für alle, S. 9ff. 34 Continentale Gesellschaft für elektrische Unternehmungen: Zum Entwurf einer Schwebebahn in Berlin, S. 5.
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Werner von Siemens äußert rückblickend, dass das utopische Potential, das aus seiner Erfindung hervorging, von Anfang an eigentlich an das Projekt des Hochbahnbaus gekoppelt war: „Im ersten Erfindungseifer nach Auffindung des dynamo-elektrischen Prinzips und der dadurch gegebenen Möglichkeit, beliebig starke Ströme zu erzeugen, träumte ich schon von einem Netz hängender elektrischer Eisenbahnen auf den Straßen Berlins.“35
Selbst wenn mithin in der öffentlichen Wahrnehmung und im öffentlichen Diskurs die Straßenbahnen bis in die 20er Jahre mindestens genauso präsent sein sollten wie die U-Bahnen und sogar dort dominierten, wo es um die veränderte Wahrnehmung des urbanen Raums und um die neuen Anforderungen an die Verkehrsteilnehmer gehen sollte (die Hoch- und Untergrundbahnen waren ja vom Straßenverkehr und damit vom eigentlichen Verkehrsgeschehen abgelöst), so waren es doch die Schnellbahnen, auf die im technischen Diskurs von vornherein gesetzt wurde. Die Hoch- und Untergrundbahnen sind es auch, deren imaginäre Aufladung und deren Veränderungen des Stadtraums prägnanter scheinen: „Da, wo die elektrische Untergrundbahn in Arbeit ist, hat das Terrain einen gewissen alpinen Charakter angenommen; es wechselt angenehm zwischen Höhen und Tiefen, Sandbergen und schwebenden Brücken, schmalen Brücken und gefährlich engen Passagen.“ Die Hochbahn wirkt auf Zeitgenossen bisweilen noch phantastischer: „Am Nollendorfplatz beginnt […] die Hochbahn. In mächtiger Höhe über dem Platze, ein Wirrwarr von Eisenlinien, Bogen und Brücken und Treppen, erhebt sich der Luftbahnhof. Jules Vernesches Phantasie ist hier in die Wirklichkeit übertragen worden.“36
Das Konzept, das der Gründung der Berliner Verkehrsgemeinschaft, der BVG, im Jahr 1929 zugrunde liegt, ist als Fortführung und Umsetzung dieser in technischen, stadtplanerischen und imaginären Diskursen schon seit Beginn des Jahrhunderts dominierenden Vorstellungen von der Ablösung der Straßenbahn und der Zukunftsträchtigkeit der Hoch- und Untergrundbahnen zu verstehen. Anlässlich des 75jährigen Bestehens der BVG erläutert Heinz Reif die Pläne des Unternehmens:
35 Siemens, Werner von: zitiert nach: 50 Jahre Berliner U-Bahn, S. 7. Siemens legt bereits 1880 einen Entwurf für eine elektrische Hochbahn in der Friedrichstraße vor. Als dieses Projekt abgelehnt wurde, entwickelt er alternativ das Konzept für eine Hochbahn, die eine über die Leipziger Straße gespannte Eisenkonstruktion befahren soll. Auch dieser Antrag wird von der Stadt Berlin abgelehnt. 36 Zobelitz, Fedor von: Chronik der Gesellschaft unter dem letzten Kaiserreich.
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„Die innerstädtischen Verkehrsstraßen waren durch beschleunigten Ausbau von ‚Straßen der zweiten Ebene‘ […], also durch dynamischen Schnellbahn-Bau, und dies war par excellence die U-Bahn, umfassend zu entlasten. Parallel dazu sollten die Straßenraum ‚fressenden‘, den Verkehrsfluss an Haltestellen und Kreuzungen behindernden, wenig flexiblen, weil schienengebundenen Straßenbahnen aus den Straßen der Innenstadt […] zurückgezogen werden.“37
Ernst Reuter sieht in seiner Denkschrift Das künftige Berliner Schnellbahnnetz von 1928 sogar eine Verdreifachung des bestehenden U-Bahnnetzes vor: Das Anwachsen des Oberflächenverkehrs“, schreibt Reuter 1928 unter der Überschrift Das Gesicht des neuen Berlin, „zwingt uns, einen möglichst großen Teil des örtlichen Nahverkehrs unter die Erde zu legen. Nur dort lassen sich die beiden Voraussetzungen schaffen, die der moderne Verkehr einfordert: Schnelligkeit und Sicherheit“.38 Nicht nur in den Konzeptionen der BVG findet die Straßenbahn immer weniger Berücksichtigung. Insgesamt ist zu beobachten, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung mehr und mehr das Image eines Verkehrshindernisses bekommt. Sie wird damit aus dem, was fortan unter weltstädtischem Verkehr verstanden wird, regelrecht hinausgerechnet. Billy Wilder, der in den 20er Jahren als Reporter in Berlin unterwegs ist, berichtet über eine Sitzung der demokratischen Stadtverordneten im Berliner Rathaus, auf der für die Abschaffung der befestigten Fahrdämme für die Straßenbahn votiert wird. „Es ist erfreulich“, schließt Wilder seinen knappen Bericht, „daß die demokratischen Gemeindevertreter den Unfug der Erschwerung des Verkehrs durch die Abriegelung von Straßenteilen für die Straßenbahn einmal zur Sprache gebracht haben. Hoffentlich werden sich auch andere Fraktionen im Rathaus dagegen zur Wehr setzen.“39
Versuche, diesen Bedeutungsverlust der Straßenbahn auf institutionelle Ebene zu forcieren, bilden die seit 1928 in Preußen vorgenommenen gesetzgeberischen Vorstöße zur Beseitigung des bisher uneingeschränkten Vorfahrtsrechtes der Straßenbahnen anlässlich einer Erneuerung der Straßenverkehrsordnung. Grund für diesen Imagewandel, den die Straßenbahn durchlebt, können allerdings nicht die veränderten Bedingungen des Marktes sein, weist doch Georg Schmid darauf hin, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Anzahl der Fahrgäste sogar noch immer schneller anstieg als in der aufkommenden Automobilbranche. Trotzdem aber, so Schmid, hängt der
37 Reif, Heinz: „Mobilität für alle“ – 75 Jahre BVG, 1929-2004, S. 2. 38 Reuter, Ernst: „Das Gesicht des neuen Berlin“, in: Der Abend, 7. September 1928. 39 Wilder, Billy: „Besondere Strassenbahndämme – eine Verschwendung“, in: Ders.: Der Prinz von Wales geht auf Urlaub. Berliner Feuilletons, Reportagen und Kritiken der 20er Jahre, S. 95.
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Niedergang der Straßenbahn – sowohl im öffentlichen Ansehen als auch als Objekt kommunaler Finanzierung – unmittelbar mit dem Automobilsektor zusammen. Dass die „Expansion des Auto-, Öl- und Gummisektors […] einen Niedergang des Öffentlichen Nahverkehrs zur Folge“40 habe, obwohl dieser doch wachsende Auslastungszahlen zu verzeichnen hat, erklärt Schmid wie folgt: „Dieses Beharrungsvermögen des Öffentlichen Verkehrs rief eine Krise bei den Automobilherstellern hervor. Seit 1923 war der Neuwagenmarkt gesättigt. Die Auto-, Benzin- und Reifenfirmen standen vor einer Überproduktion bei fallenden Preisen. Die Stagnation der Nachfrage brachte die Automobilindustrie und ihre Partner dazu, eine neue Strategie zu entwickeln: den städtischen Schienenverkehr zunächst durch Busse und dann durch Autos zu ersetzen.“41
Hinzu kommt in den 1930er Jahren unter der nationalsozialistischen Regierung eine politische Entwicklung, die Stadt- und Verkehrsplanung im Sinne der Automobilindustrie neu justiert und in der der öffentliche Nahverkehr, allen voran die Straßenbahn, keine Beachtung mehr findet. Schmid resümiert: „Die Verschiebung zugunsten der Interessen von Transportmittelherstellern deckte sich mit dem Interesse der Nationalsozialisten an Motorisierung und Militarisierung. Der Niedergang des Öffentlichen Verkehrs begann.“42 Besonders anschaulich wird das an einer der ersten unter nationalsozialistischer Herrschaft vorgenommenen gesetzgeberischen Maßnahmen im Straßenverkehr, der
40 Schmid, Georg: Die Spur und die Trasse: (post-)moderne Wegmarken der Geschichtswissenschaft, S. 39. 41 Ebd., S. 43. Die Entwicklung der Ablösung der Straßenbahnen ist ebenfalls bei Schmid dokumentiert: „Nach dem Ersten Weltkrieg setzte die technische Ausreifung alltagstauglicher Omnibusse ein, die als Hochrahmen-Omnibusse auf LKW-Fahrgestellen, ausgerüstet mit Benzinmotoren und Vollgummireifen, zunächst noch keine ernsthafte Konkurrenz für die Straßenbahnen darstellten. Dies änderte sich ab 1925 durch die Konstruktion spezieller Niederrahmen-Fahrzeuge mit niedrigen Einstiegen und Luftbereifung, die in Verbindung mit passendem Anhängewagen für den Stadtlinienverkehr nunmehr geeignet waren. Ab 1928 kamen Dieselmotoren zum Einbau, die nach damaliger Marktlage statt mit teurem Importbenzin mit billigerem Gasöl aus einheimischer Produktion gefahren werden konnten. Für die Verkehrsbetriebe war der Kraftomnibus damit betriebswirtschaftlich interessant geworden, zumal er im Gegensatz zur Straßenbahn nicht mit Wegekosten und Konzessionsabgaben belastet und überdies noch durch einen um 4% niedrigeren Beförderungssteuersatz gefördert wurde. Für das Großkapital waren in den 20er Jahren die Straßenbahnen kein lohnendes Spekulations- und Renditeobjekt mehr, [...].“ Ebd., S. 48. 42 Ebd., S. 38.
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Reichsverordnung vom Mai 1934, die endgültig das Vorfahrtsrecht der Straßenbahnen gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern abschafft. Darüber hinaus werden die Linien nicht nur nicht weiter ausgebaut, sondern in ihrer bisherigen Form erheblich beschnitten: „Große Veränderungen gab es vor allem da, wo man in Hitlers und Speers Germania-Visionen hineingeriet“, erläutert Heinz Reif die Eindämmung der Straßenbahnen durch die Nationalsozialisten: „Die Straßenbahn wurde so aus der Ost-West-Achse des von Speer geplanten Prachtstraßenkreuzes, also aus der Charlottenburger Chaussee (1934) und aus Bismarckstraße wie Kaiserdamm (1937), Schritt für Schritt verdrängt. 1939 war es ihr schließlich sogar verwehrt, diese Repräsentationsachse – am Großen Stern – auch nur zu überqueren.“43
Unter den Stichworten der „autogerechten Stadt“ und der „Motorisierung der Volksmassen“ wird ein repräsentativ-monumentaler Straßenbau zum zentralen Moment der Verkehrplanung unter Hitler. Für Straßenbahnen ist in diesen Planungen kein Platz. Zugleich wird auch die Finanzierung der Planungen Ernst Reuters, insbesondere den Ausbau des U-Bahnnetzes betreffend, erheblich verringert.44 Der öffentliche Nahverkehr, der seit seiner umfassenden Ausdehnung im ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht nur zur präsentesten Infrastruktur des öffentlichen Lebens geworden ist, sondern der die moderne Lebensweise auch ganz maßgeblich mitgeformt hat, wird in den dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts mehr und mehr von seiner besonderen Bedeutung einbüßen. In den bis dahin vergehenden Jahrzehnten aber ist sein sozialer und kultureller Einfluss nicht hoch genug einzuschätzen.
4. K ONSTITUIERUNG DES S TADTRAUMS Dass der Ausbau des öffentlichen Schienen- und Verkehrsnetzes der Bewältigung von größeren Strecken in kürzerer Zeit dient und damit vor allem im Dienste eines größer werdenden Stadtraums steht, ist eine Selbstverständlichkeit. Weniger selbstverständlich indes ist, dass der Nahverkehr nicht nur eine Erfindung zur Durchquerung des größer werdenden Raums der Großstadt ist, sondern dass er diejenige Organisationsleistung ist, durch die der urbane Raum sich überhaupt erst zusammenfügt – und durch die sich dann auch die Vorstellungen und Wahrnehmungen zusammenfügen, die man mit diesem Stadtraum verbindet. In einem 1908 in der Bauwelt ausgeschriebenen Wettbewerb zur städteplanerischen Konzeption von
43 Reif, Heinz: „Mobilität für alle“ – 75 Jahre BVG, 1929-2004, S .4. 44 Ebd.
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„Groß-Berlin“ können die Verkehrslinien und Schienentrassen deshalb „das eiserne Gerüst einer Großstadt“45 genannt werden. Die durch den Nahverkehr vorangetriebene Metropolisierung Berlins fußt auf einer umfassenden Neukonzeption dessen, was man bis dahin unter Stadtplanung verstanden hat. Hatte sie ihre Aufgabe bis ins ausgehende 19. Jahrhundert darin gesehen, neu anzulegende Stadtteile außerhalb der Innenstädte zu planen, also im Sinne einer in Teilschritten erfolgenden Stadterweiterung zu wirken, so agiert sie nun aus einer umfassenderen Perspektive heraus, indem sie die Stadt als Funktionssystem begreift, das immer als Ganzes reagiert und das immer als Ganzes gedacht werden muss.46 Symptomatisch für dieses Programm der Ablösung der Stadterweiterung und Stadtbaukunst durch eine nach modernen und rationalen Gesichtspunkten ausgerichtete Weltstadtplanung sind die Arbeiten des Stadtbaurates Martin Wagner. Er versteht die Stadt nicht mehr wie bisher als relativ stabiles Konstrukt, das vornehmlich an den Rändern ausgebaut wird und wächst, sondern als vielfach verknüpftes Netz aus Funktionszusammenhängen, die es in möglichst effizienter Weise miteinander zu verschalten und abzustimmen gilt. Seinem Selbstverständnis als Manager des ‚Betriebs‘ Metropole entsprechend, macht Wagner die Optimierung der infrastrukturellen Organisation zum Zentrum seiner Überlegungen. An Wagners Entwürfen zur Neustrukturierung Berlins wird deutlich, wie sehr diese Umgestaltungen an den Ausbau des Verkehrswesens gekoppelt sind. Ihm wird eine universelle Vorreiterrolle zugesprochen, an der sich die architektonische Planung und mit ihr auch alle weiteren Infrastruktureinrichtungen auszurichten haben. Wie radikal der von 1926 bis 1933 amtierende Berliner Stadtrat das Konzept von der Verkehrsstadt versteht, wird vor allem an seinen Plänen zum Umbau des Alexanderplatzes augenscheinlich, den er gänzlich den Erfordernissen des Ver-
45 Brinckmann, A. E.: „Der Wettbewerb ‚Groß-Berlin‘“, in: Bauwelt, 10/1910, S. 9. 46 Bis dahin war auch das Berliner Straßennetz sektoral konzipiert und nicht darauf ausgerichtet, die verschiedenen Teile der Stadt miteinander zu verknüpfen und interagieren zu lassen: „Das Straßennetz spiegelt eine Abgeschlossenheit wider“, schreibt Siewert über die bis ins 19. Jahrhundert hinein bestehende Eigenständigkeit der Stadtteile, „die erkennen läßt, daß seine Funktion mehr in der Erschließung einzelner in sich geschlossener Stadtteile lag, als in einer Kommunikation zwischen ihnen.“ Siewert, Horst H.: „Nahverkehr und Stadtentwicklung“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Glaser, Hermann (Hg.): Exerzierfeld Moderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert, S. 98. Vgl. zum Überblick u.a. : Leendertz, Ariane: Ordnung schaffen – deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert; Düwel, Jörn: Städtebau in Deutschland im 20. Jahrhundert: Ideen – Projekte – Akteure; Reinborn, Dietmar: Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert.
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kehrs, dem er formschaffende Qualitäten zuspricht, anpassen will. „Architektur“, so lautet eine seiner grundsätzlichen Anschauungen, „ist keine Malerei und auch keine Plastik, die nur sich selbst gibt, […]. Ein Bauwerk hat in erster Linie einem Nutzzweck zu dienen, und wenn dieser Nutzzweck nicht mehr da ist oder nicht mehr erfüllt werden kann, dann erleidet dieses Bauwerk seinen geistigen und seinen wirtschaftlichen Tod.“47
In Wagners Verständnis wird Architektur zu einem Verbrauchsobjekt, das sich nach seinem Nutzen – und das sind vor allem die Dynamiken und Konjunkturen des Verkehrs – auszurichten hat, mithin auch wieder abgerissen werden kann: „Dem Abschreibungsgedanken zufolge sollten die den Platz umgebenden Gebäude vertraglich auf Verlangen der Stadtverwaltung wieder ersetzt werden können, wenn die Verkehrsbedürfnisse es für nötig erscheinen lassen.“48
Der Architekt und Stadtplaner Ludwig Hilbersheimer, der sich mehr durch seine theoretischen Schriften als seine bautechnisch verwirklichten Arbeiten einen Namen gemacht hat, bemerkt zu Wagners Ideen: „Früher vergewaltigte die Architektur den Verkehr. Heute scheint das Umgekehrte der Fall zu sein.“49 Liest man diesen zeitgenössischen Kommentar nicht in erster Linie als Kritik, dann beschreibt er in all seiner Kürze das inframediale Prinzip der Neustrukturierung des Stadtraums durch den Nahverkehr. Musste sich ehemals die Straßenführung den Arrangements der Bauten anpassen, dann werden es im 20. Jahrhundert verkehrstechnische Belange, die der Stadt eine Struktur zugrunde legen, nach der sich die architektonische Bebauung zu richten hat. Positiver formuliert es Bruno Schwan im Jahr 1932: „[…] wenn der Verkehr sich dermaleinst neue Wege durch dieses alte Berlin bahnen will“, schreibt der Geschäftsführer des Vereins für Wohnungsreform ganz im Sinne Wagners, dann sei „die Beseitigung des ihm im Wege stehenden Alten nicht als ein pietätloses Opfer zu betrachten“, vielmehr müsse es „begrüßt werden“.50
47 Wagner, Martin: Das neue Berlin, 1929, H. 7. S. 129f. Vgl. auch: Wagner, Martin: „Das Formproblem eines Weltstadtplatzes – Wettbewerb der Verkehrs AG für die Umbauung des Alexanderplatzes“, in: Die Fahrt, H. 7. 48 Scarpa, Ludovica: „Martin Wagner oder die Rationalisierung des Glücks“, in: Martin Wagner, 1885-1957, S. 18. Vgl. dazu: Dies.: „Alexanderplatz – ein Abschreibungsmythos“, in: Boberg, Jochen/Gillen, Eckart (Hg.): Industriekultur in Berlin. 49 Hilbersheimer, Ludwig: zitiert nach: Kluge, Ulrich: Die Weimarer Republik, S. 240. 50 Schwan, Bruno: Die Wohnungsverhältnisse der Berliner Altstadt, S. 39. Es gibt allerdings auch eine große Zahl von Stimmen, die im Ausbau des Nahverkehrsnetzes eher das
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Martin Wagner ist allerdings nicht der erste, der die Verkehrsstadt – und unter Verkehr muss man bis in die frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts immer den öffentlichen Massentransport verstehen – ins Zentrum seiner Überlegungen zur Stadtplanung rückt (wenn er es auch mit einer Konsequenz verfolgte, die ihresgleichen sucht). Im Wettbewerb Großberlin 1910, den im Jahr 1908 zwei Architekturvereine als einen Wettbewerb für eine Neuordnung der künftigen Weltstadt ausschreiben, formulieren die Initiatoren ausdrücklich die Erwartung, dass „von einem vereinheitlichten, ‚fließenden‘ Verkehr diejenige Schubkraft, welche die noch schlummernden riesigen Entwicklungspotentiale der Großstadt freisetzen würde“, 51 ausgehen müsse. Und bereits in den siebziger Jahren des vorhergehenden Jahrhunderts sind die Entwürfe des Architekten August Orth Ausdruck der herausragenden Stellung, die der Verkehrsinfrastruktur im Rahmen der Stadtplanung zukommt. Wichtigstes Mittel für die „einheitliche durchgreifende Umgestaltung Berlins“52 ist Orth zufolge Anlage und Ausbau des lokalen Massenverkehrs – wobei Orth in seiner Denkschrift Eine Berliner Centralbahn aus dem 1871 noch die Vorstellung eines Systems von Dampfeisenbahnen verfolgt: „Bei der Anlage und Regulirung großer Städte muß in neuerer Zeit anders verfahren werden, wie früher, entsprechend den modernen Verkehrs-Verhältnissen. […] Die Verknüpfung der neuen Hauptverkehrsadern mit dem localen Verkehr wird eine der Hauptaufgaben der modernen Städtebildung sein.“53
Von der verkehrsinfrastrukturellen Erschließung der Stadt verspricht Orth sich „eine vollständige und tief einschneidende segensreiche, aber auch nothwendige Revolution in unserem wirthschaftlichen und Verkehrsleben der Stadt […] und zugleich deren Umbildung gerade in ihrem inneren Kerne […].“54 Die Konzeption des Verkehrs sei demzufolge das infrastrukturelle Hauptgerüst, an das der Ausbau der übrigen Infrastruktureinrichtungen gebunden ist und das eine umfassende Reorganisation der Stadt als ganzer nach sich zieht. So fordert Orth in Abstimmung mit der Verkehrsinfrastruktur eine bessere Kanalisation, Markthallen,
zerstörende Moment erkennen: „Da mußten Häuser durchschlitzt werden“, konstatiert Hans Dominik, „so daß heute die Züge dahinrollen, wo früher eine friedliche Küche oder eine gemütliche Wohnstube war.“ Dominik, Hans: „Moderne Tiefbauten“, in: Die Gartenlaube, H. 6 (1911). 51 Reif, Heinz: „Mobilität für alle“ – 75 Jahre BVG, 1929-2004, S. 1. 52 Orth, August: Zur baulichen Reorganisation der Stadt, S. 17 53 Ebd., S. 23f. 54 Ebd., S. 55.
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Viehmarkt- und Schlachthaus-Anlagen, Erholungsplätze, Parkanlagen und vor allem repräsentative Bauten, die ein „würdiges Kleid“ für den „Reichsmittelpunkt“55 darstellen sollen.56 Darüber hinaus stellt Orth fest, verspreche die Anlage einer Berliner Lokalbahn für den Massentransport eine Steigerung der Lagewerte „in der von ihr durchschnittenen Gegend“,57 die wiederum die Änderung städtischer Strukturen und Nutzungen bedingen wird. Mit der Bedeutung, die Orth dem Nahverkehr beimisst, benennt er bereits die grundlegenden Prinzipien, die auch in den folgenden Jahren die Rolle des Nahverkehrs innerhalb der Neustrukturierung des Stadtraums ausmachen werden. 58 Zunächst ist die Leistung des Nahverkehrswesens als eine organisatorische zu verstehen, indem es das infrastrukturelle Fundament für die Reorganisation des Stadtraums bereitstellt, Verbindungen schafft und Anschlüsse legt.59 „Wie konnte der Stadtkörper Berlin in verhältnismäßig kurzer Zeit zu solchem Umfang und solcher Größe anwachsen?“ fragt der Berliner Börsen Courier im Jahr 1929 unter der Überschrift „Stadtgeschichte als Verkehrsgeschichte“ und gibt, metaphorisch angereichert, die Antwort sogleich selbst:
55 Ebd., S. 59. 56 Vgl. Bodenschatz, Harald: Platz frei für das neue Berlin!, S. 25. 57 Orth, August: Zur baulichen Reorganisation der Stadt, S. 26. 58 Auch ein gutes halbes Jahrhundert später wird im Nahverkehr, jetzt aber speziell seinem fortschrittlichsten Verkehrsmittel: der U-Bahn, die wesentliche Rolle im Prozess der Stadterneuerung zuerkannt. Werner Hegemann schreibt in seiner berühmten Studie Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt aus dem Jahr 1930: „Erneuerung der Innenstadt wäre ohne die Untergrundbahnbauten (soll heißen der Schnellbahnbauten) undenkbar, wirtschaftlich unmöglich und auch organisatorisch, so wie unsere Verhältnisse nun einmal liegen, kaum durchzuführen.“ (S. 313). 59 Dass auf diese Weise auch eine ganz wesentliche soziale Frage, das Problem der Wohnungsnot, gelöst werden soll, zeigt etwa eine Berliner Broschüre aus dem Jahr 1873, in der für die Einrichtung eines S-Bahn-Systems geworben werden sollte. Der Ausbau eines S-Bahnsystems, der die Erschließung von Neubaugebieten in den Vororten und im Umland möglich machen würde, wird nicht als Mittel zur Bekämpfung der Wohnungsmisere in der Innenstadt angekündigt, sondern avanciert in den Worten des Verfassers Herrmann Schwabe – Direktor des statistischen Bureaus der Stadt Berlin – zu einem Allheilmittel, das gegen die mit der Wohnungsnot verknüpften „consitutionellen Leiden aller Art“ sowie alle Formen der „moralischen Entartung“, die „Heiligkeit, Sittlichkeit und allgemeine Wohlfahrt des Familienlebens“ bedrohe, Abhilfe schaffen könne. Schwabe, Hermann: Berliner Südwestbahn und Centralbahn. Beleuchtet vom Standpunkt der Wohnungsfrage und der industriellen Gesellschaft, S. 3.
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„[…] wir werden sicher keinem Widerspruch begegnen, wenn wir annehmen, daß in erster Reihe die Entwicklung unserer Verkehrsmittel es war, die ein solches Anwachsen Berlins und der Vororte ermöglichte. Die vielen Stahlbänder, die Schienen, vermögen allein ein so gewaltiges, aus vielerlei Teilen und Gemeinwesen zusammengesetztes Stadtgebilde zu einer Einheit zu umschnüren.“60
Die Eingemeindung der Vorortgemeinden Schöneberg und Wilmersdorf, um nur zwei Beispiele zu nennen, hing unmittelbar mit der Erschließung dieser Gebiete durch neue U-Bahnlinien zusammen. Sie kann als exemplarisch gelten, wenn gezeigt werden soll, wie die Veränderung und Vergrößerungen des Stadtkörpers, die unter dem Stichwort der Entstehung eines Groß-Berlins verhandelt werden, an den Ausbau des Nahverkehrsnetzes gebunden ist.61 Es sei „ein dringendes Erfordernis“, kann man in der Projektpräsentation über Die elektrische Untergrundbahn der Stadt Schöneberg nachlesen, dass die „teilweise schon heute sehr bedeutenden Verkehrsmittelpunkte des westlichen Schöneberg […] nicht nur durch Straßenzüge, sondern auch durch eine Bahn miteinander verbunden werden, und daß diese Bahnverbindung möglichst unmittelbar weiter nach Berlin hineingeführt werde. Bei den wachsenden Anforderungen des Verkehrs und angesichts des stets mehr hervortretenden Bedürfnisses nach schnellster Beförderung kann überhaupt nur eine Schnellbahn in Betracht kommen, welche vollkommen unabhängig von dem Straßenverkehr mit größter Geschwindigkeit und möglichster Bequemlichkeit selbst größere Mengen von Fahrgästen ihrem Ziele zuzuführen in der Lage ist, […].“
Zwar war nach langen Auseinandersetzungen erst 1897 Schöneberg das unabhängige Stadtrecht zuerkannt worden, nach der Inbetriebnahme der neuen U-Bahn-Linie 4, die vom Nollendorfplatz zum Innsbrucker Platz führte, war aber bereits eine infrastrukturelle Anbindung an Berlin geschaffen, auf die wenige Jahre später die vollständige Eingemeindung Schönbergs folgen sollte. Die Stadt Schöneberg, Bauherrin und Eigentümerin der Strecke, übertrug der Hochbahngesellschaft den Betrieb der Linie und vereinbarte noch einen Tag vor ihrer Eröffnung am 1. Dezember 1910 eine Tarifgemeinschaft, so dass den Fahrgästen gar nicht auffallen mochte, dass sie zu diesem Zeitpunkt verwaltungstechnisch noch eine Stadtgrenze überfuhren. Zehn
60 „Berliner Verkehrsgeschichte als Stadtgeschichte. Erst die Züge – dann der Zug nach Westen“, in: Berliner Börsen Courier, 3. November 1929. 61 Vgl. hierzu: Frank, Ute: „Terrainerschließung und U-Bahn-Bau“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Glaser, Hermann (Hg.): Exzerzierfeld Moderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert, S. 232-239. Vgl. auch: Elektrische Untergrundbahn Schöneberg, Baudokumentation der Siemens und Halske A.-G. o.D. (ca. 1911).
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Jahre später, mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin, kurz: Groß-Berlin-Gesetz, das Schöneberg zum zwanzigsten Verwaltungsbezirk von Berlin machte, war diese Grenze vollständig, auch administrativ aufgehoben.62 In einer von der BVG herausgegebenen Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen der Berliner U-Bahn werden die Qualitäten des Nahverkehrs zur Stadterweiterung, erwartungsgemäß im Ton einer Werbebroschüre, wie folgt resümiert: Es sei „ein interessantes Kapitel kommunaler Verwaltungsarbeit, an dem man studieren kann, wie ein großes Gemeinwesen durch die Wirkungen von Verkehrslinien innerlich wirtschaftlich zusammenwächst, wie der Nahverkehr sich als Klammer um einen Wirtschaftsraum legt und ihn zusammenfasst, und wie anderseits die Gemeindeverwaltungen diese Zusammenhänge erkannten und schließlich zu einem großen Ganzen zusammenführten.“63
Auch das Wachstum der Stadt, das nicht auf Eingemeindung, sondern auf der Gründung neuer Wohnviertel an den Rändern der Stadt beruht, ist ohne die Basis einer Nahverkehrsinfrastruktur nicht denkbar. Bereits 1871 heißt es in einem Bericht des Berliner Magistrats: „Die cohärente Berliner Steinmasse hat bereits einen Durchmesser erlangt, dessen Maas […] an die Grenze einer noch möglichen Fusscommunication streift. […] Es erscheint und deshalb nothwendig, das Massregeln getroffen werden, welche auch den im Centrum der Stadt beschäftigten Personen die Möglichkeit geben und es ihnen sogar bequem und angenehm machen, in einer weiteren Entfernung vom Mittelpunkte der Stadt ihre Wohnung zu nehmen.“64
Genauso erklärt der Ingenieur Richard Petersen, der wenige Jahre zuvor die technische Leitung beim Bau der Wuppertaler Schwebebahn inne hatte, im Jahr 1908 ein funktionierendes Beförderungssystem zur Grundlage der Stadterweiterung: „Eine weitere Ausdehnung der außenliegenden Wohnviertel hat aber zur Vorbedingung, daß die Fahrt nach der Geschäftsstadt ein gewisses Zeitmaß nicht überschreitet. […] Eine von der Geschäftsstadt ausgehende Bahn, die mit der dreifachen Geschwindigkeit der bisherigen Ver-
62 Schwenk, Herbert: „Es hing am seidenen Faden. Berlin wird Groß-Berlin“, in: Berlinische Monatsschrift; Splanemann, Andreas: Wie vor 70 Jahren Groß-Berlin entstand, aus: Reihe Berliner Forum, Band 3/90. 63 50 Jahre Berliner U-Bahn, 1902 bis 1952, Berliner Verkehrs-Betriebe (BVG) (Hg.). 64 Zitiert nach Siewers, Horst H.: „Nahverkehr und Stadtentwicklung“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Glaser, Hermann (Hg.): Exerzierfeld Moderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert, S. 101.
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kehrsmittel fährt, verdreifacht die Entfernung, bis zu der das Gelände für Wohnzwecke benutzbar ist.“65
Petersens Formulierung von der Nutzbarmachung von Territorien deutet aber an, dass dem Nahverkehr eine Funktion zukommt, die nicht nur als rein organisatorische zu beschreiben ist. Wenn bereits August Orth von der Aufwertung einzelner Stadtteile durch ihre verkehrsinfrastrukturelle Erschließung gesprochen hat, dann wird in Petersens Ausführungen umso offensichtlicher, dass der Nahverkehr – in diesem Fall die Schnellbahnlinien – zum Instrument der spekulativen Bodenerschließung wird. Und so kann selbst der Fortschrittskritiker Theodor Lessing bei allem Kulturpessimismus zu einer fast utopischen Einschätzung der Rolle des Nahverkehrs in der Stadtentwicklung kommen, so sehr er ihn auch ansonsten in seiner Streitschrift über den Lärm aburteilen mag: „(I)ch glaube, dass erst die allgemeine Ausbreitung des elektrischen Vorortverkehrs schließlich ganz neue Riesenstädte, voll Feldern, Parks und Gärten, möglich macht, deren eine einzige vielleicht so gross wie halb Belgien ist.“66
Neben der organisatorischen Wirkung auf den Stadtraum kommt demnach noch ein weiterer Faktor zum Tragen. Abhängig davon, ob sie an das Verkehrsnetz angebunden sind oder außerhalb seiner Anschlüsse liegen, gewinnen einzelne Straßenzüge, aber auch ganze Stadtteile an Attraktivität, was eine verstärkte wirtschaftliche und wiederum bessere infrastrukturelle Erschließung dieser Gebiete zur Folge hat.67
65 Petersen, Richard: Die Aufgaben des großstädtischen Personenverkehrs und die Mittel zu ihrer Lösung, S. 25. 66 Lessing, Theodor: Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens, S. 45. 67 Auch insgesamt steigt parallel zum Ausbau des Nahverkehrsnetzes der Wert des Berliner Bodens an, wie ein Ausschnitt aus dem Statistischen Jahrbuch der Stadt Berlin, Jg. 28, S. 164, verdeutlichen mag. Dokumentiert ist der Wert des Grund und Bodens in Berlin, berechnet aus der Kapitalisierung des Nutzertrages: „im Jahre 1872: 1475 Millionen Mark; im Jahre 1882: 2760 Millionen Mark; im Jahre 1892: 5291 Millionen Mark; im Jahre 1902: 7350 Millionen Mark.“ „Deutlich bezeichnen diese Zahlen die Entwicklung Berlins in den letzten dreißig Jahren. Es hiesse natürlich zu weit zu gehen, wenn man behaupten wollte, dass diese Entwicklung auf die Verkehrsmittel allein zurückzuführen sei“, kommentiert die Continentale Gesellschaft 1905. „Aber ohne die guten Verkehrseinrichtungen würde die Entwicklung Berlins zweifellos so bedeutend nicht gewesen sein.“ Continentale Gesellschaft, S. 13.
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Harald Bodenschatz erklärt in seiner Geschichte des Umbaus Berlins seit den 1870er Jahren die „Projektierung öffentlich finanzierter verkehrsinfrastruktureller Anlagen zum stärksten Motor bei der Durchsetzung der Stadterneuerung. Durch den Bau von U-Bahnstationen“, so Bodenschatz, „wird die vorhandene Stadt neu strukturiert, wird die städtische Bodenrente in die Höhe getrieben.“68 In diesem Sinne ist die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzende Citybildung als Prozess der Modernisierung und Umstrukturierung bestimmter privilegierter Stadtteile zu verstehen, „der durch verkehrsinfrastrukturelle Maßnahmen organisiert und über die städtische Bodenrente vermittelt wird“.69 Umgekehrt verbleiben andere Bezirke der Stadt gerade deshalb in ihrer herkömmlichen Struktur, weil sie nicht an das Netz des öffentlichen Nahverkehrs und die von ihm abhängigen Neuerungsmaßnahmen angebunden werden.70 Ein Beobachter schreibt kurz vor der Jahrhundertwende über diese im stadtplanerischen Modernisierungsprozess ausgesparten Straßen, sie seien „von großer Unregelmäßigkeit und einige […] haben noch bis auf den heutigen Tag ihren mittelalterlichen Charakter getreulich bewahrt; man wähnt sich nicht in Berlin, wenn man den Fuß in diese Strassen lenkt; dem anderen Verkehr sind sie ganz entrückt.“71
Der zeitgenössische Kommentar ist deshalb besonders aufschlussreich, weil er über die bloße Zustandsbeschreibung hinausgeht. An der Feststellung, man wähne sich nicht in Berlin, wenn man diese jenseits der Verkehrsführung liegenden Straßen betrete, zeigt sich wie nebenbei, wie wesentlich die Vorstellung und Wahrnehmung der Metropole Berlin durch den Nahverkehr geprägt werden. Nicht nur, dass man das abseits des Verkehrsnetzes Liegende kaum zur Kenntnis nimmt. Selbst wenn man die Gebiete einmal betreten sollte, scheinen sie wie Fremdkörper aus einer an-
68 Bodenschatz, Harald: Platz frei für das neue Berlin!, S. 10 69 Ebd. 70 Mit Blick auf den globalen Zusammenhang bildet sich in dieser Zeit der Begriff von der „geophysischen Lage“ von Regionen oder Territorien heraus: „Unter der geophysischen Lage versteht man in der Geopolitik die zufällige Gunst oder Ungunst der Lage eines Landes zu den beherrschenden Hauptverkehrslinien des Zeitalters. Diese Lage ist deshalb von größter politischer Bedeutung, weil der erhöhte Anteil am Welthandel und Verkehr, den eine gute geophysische Lage bedingt, dem betreffenden Lande naturgemäß materielle Güter und Reichtümer zuführt […].“ Hennig, Richard/Körholz, Leo: Einführung in die Geopolitik, S. 66. 71 Berlin und seine Eisenbahnen 1846-1896, hg. im Auftrag des königlich preuss. Ministers d. öffentlich. Arbeiten, S. 69f.
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deren Zeit, die im Prozess der Urbanisierung übersehen worden sind. Zum urbanen Raum und zum urbanen Leben zählen sie aber nicht. Natürlich handelt es sich bei der beschriebenen Auf- bzw. Abwertung einzelner Bezirke durch ihre verkehrstechnische Erschließung zu einem Gutteil um einen sich wechselseitig und selbst verstärkenden Prozess: Der reichere Westen der Stadt wird sehr viel früher mit einem komfortablen Liniennetz ausgestattet, während der weniger privilegierte Ostteil Berlins vergleichsweise spät in den Nahverkehr eingebunden wird. Und dort, wo das Nahverkehrsnetz ausgebaut wird, entstehen durch Geschäftsansiedlungen wirtschaftliche Kernräume, die wiederum neuerliche Ausbauten von Infrastruktur nach sich ziehen. Es handelt sich bei diesem Komplex der Abhängigkeit von infrastruktureller Erschließung und Lagewert von Stadtteilen bzw. Grundstücken aber natürlich auch um einen Prozess, auf den gerade von wirtschaftlicher Seite aus versucht wird, Einfluss zu nehmen. Es versteht sich von selbst, dass es für den Handel, und insbesondere für die in dieser Zeit neu entstehenden großen Warenhäuser, von existentieller Bedeutung ist, möglichst optimal in das Verkehrnetz eingebunden zu sein. Wenn die Linienführung des Nahverkehrsnetzes die Wege vorgibt, auf denen die Stadt befahren und durchquert wird, dann bedeutet die Nähe zu einem Haltepunkt des Nahverkehrs einen attraktiven Standort insofern, als über die Verkehrsströme die potentiellen Kundenströme direkt zu den Waren gebracht werden. Zur Bekanntheit und damit nicht unwesentlich zu seinem wirtschaftlichen Erfolg trägt bei, dass das Warenhaus Karstadt am Hermannplatz, das 1929 eröffnet wird, über eine Rolltreppe direkt mit einer U-Bahnstation verbunden ist. Ein mindestens ebenso spektakulärer, dabei aber auch heftig umstrittener Coup gelingt bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem Kaufmann Georg Wertheim. 72 Als 1901 über die Linienführung des U-Bahnbaus am Potsdamer Platz verhandelt wird, die vom Potsdamer Platz über das Gleisdreieck und durch Kreuzberg bis zum Stralauer Tor führen soll, einigt Wertheim sich mit der Gesellschaft für Hochund Untergrundbahnen darüber, den Ausstieg jenseits des zentralen Umsteigepunkts am Potsdamer Platz, wo die Linien aller anderen Verkehrmittel halten, weiter nördlich anzulegen, so dass dieser unmittelbar mit seinem Warenhaus am Leipziger Platz Ecke Voßstrasse verbunden ist. Die Ein- und Ausgänge von gleich zwei Stationen der Untergrundbahn – dem Leipziger Platz und dem am Hintereingang des Warenhauses gelegenen Wilhelmplatz73 – leiten auf diese Weise die Fahrgäste
72 Vgl. zu Folgendem: Fischer, Erica/Ladwig-Winters, Simone: Die Wertheims. Geschichte einer Familie, S. 99ff. 73 Die U-Bahnstation Wilhelmplatz wird auch optisch schon in Bezug zu den Verlockungen der Warenwelt gesetzt, die den Aussteigenden erwarten: „Der inmitten einer Gartenanlage gelegene Eingang erhielt eine reichere architektonische Ausgestaltung, so einen mit
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geradezu unmittelbar in das Warenhaus. Für die Einzelhandelsgeschäfte an der Leipziger Straße bedeutet eine solche Konkurrenz durch ein verkehrstechnisch derart bevorzugtes Großkaufhaus natürlich eine erhebliche Schädigung.74 Ausdruck des massenhaften Protests gegen diese verkehrstechnische Begünstigung Wertheims ist die Streitschrift von Fritz Bernhard aus dem Jahr 1903, in der er sich dagegen wendet, dass der „Polyp“ Wertheim „mit seinen Fangarmen unwiderstehlich das kauflustige Publikum an sich zieht“. „Man kann doch nicht“, so Bernhard, „Plakate auf dem Potsdamer Platz aufstellen, die dem Publikum verkünden, dass im Geschäftsinteresse des Warenhauses Wertheim der Untergrundbahnhof vier Minuten nach Norden verlegt werden musste.“75 Als Wertheim 1913 am Kreuzberger Moritzplatz eine weitere Filiale eröffnet, gelingt es erneut, direkten Anschluss an das Berliner U-Bahnsystem zu erhalten. In diesem Fall erreicht Georg Wertheim nach fast zehnjähriger Verhandlung und einer Kostenbeteiligung von fünf Millionen Euro sogar, die Streckenführung einer ganzen U-Bahnlinie in seinem Sinne verlegen zu lassen. Die U-Bahnlinie, die vom Nordringbahnhof Gesundbrunnen über den Alexanderplatz zum Südringbahnhof führt und dabei ursprünglich den Oranienplatz überqueren sollte, wird auf Betreiben Wertheims im Jahr 1923, nachdem die Nord-SüdBahn AG den Trassenausbau von der Konkurs gegangen AEG-Schnellbahn AG übernommen hatte, nun über den Moritzplatz geleitet, mit dem Ergebnis, dass der bereits bestehende U-Bahnhof am Oranienplatz nicht in die Linie integriert und zum ‚toten‘ Bahnhof wird. Zwar lässt sich noch nicht, wie sechs Jahre darauf bei Karstadt am Hermannplatz, ein direkter Zugang von der U-Bahn ins Kaufhaus realisieren, aber die von Peter Behrens entworfene Station Moritzplatz liegt immerhin
Majoliken der Kaiserlichen Werkstätten in Cadinen ausgekleideten Vorraum. Alle übrigen U-Bahnhöfe hatten identisch gestaltete portalartige Eingänge aus Schmiedeeisen.“ Fischer, Erica/Ladwig-Winters, Simone: Die Wertheims. Geschichte einer Familie, S. 101. 74 Auch innerhalb des zu dieser Zeit noch in einzelne Unternehmen aufgesplitteten Nahverkehrs kommt es zu Unstimmigkeiten. Die Große Berliner Straßenbahn reicht sogar eine Klage gegen die Verlegung der U-Bahnstation abseits des zentralen Haltepunktes von Bus und Straßenbahn ein. Man befürchtet, dass die Fahrgäste den anfallenden Fußweg von vier Minuten, den das Umsteigen kosten würde, nicht auf sich nehmen. Nachdem die Verhandlung durch drei Instanzen gegangen ist, wird vom Reichsgericht die geplante Streckenführung der U-Bahn gestattet, so dass 1907 die Station Leipziger Platz eröffnet werden kann. Vgl. dazu: Wittig, Paul: Vortrag über die Untergrundbahn am 12.05.1908. 75 Bernhard, Fritz: Wertheim und die Untergrundbahn, S. 5 und 9.
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direkt vor dem Eingang von Wertheim, so dass nicht einmal – wie beim KaDeWe am Wittenbergplatz – eine Straße überquert werden muss. 76 Wertheim ist es am Leipziger wie auch am Moritzplatz gelungen, sich den Nahverkehr in idealer Weise nutzbar zu machen. Dass die Konzernleitung diese Wirkungen des Nahverkehrs, die Stadt selbst und damit auch die Wege der potentiellen Kunden zu strukturieren, sehr genau einschätzen konnte, zeigt sich nicht zuletzt an den hohen Summen, die sie bereit war in ihre Vorstellungen vom U-Bahnbau zu investieren. Am Beispiel der erfolgreichen Einflussnahme Wertheims auf die Trassenführung der U-Bahn und an den vorhergehenden Darstellungen über die Stadterweiterung durch den Nahverkehr sollte zweierlei deutlich geworden sein. Zum einen ist das Nahverkehrsnetz die inframediale Basis, die den Stadtkörper als territoriale Einheit formt, und er ist die inframediale Basis, die diesen Stadtkörper wiederum auch in seinen inneren Strukturierungen bedingt. Damit wird, zum anderen, der Nahverkehr auch zu dem Medium, von dem aus die Wahrnehmungen und Vorstellungen des Stadtraums sich figurieren. Der Geograph Hugo Hassinger liefert im Jahr 1910 das theoretische Fundament für diese Verquickung von Stadtraum und Nahverkehr, an dem die grundsätzliche Perspektivverschiebung, die der Nahverkehr in der Stadtwahrnehmung bewirkt, deutlich wird. Am Beispiel Wiens entwickelt Hassinger eine Formel zur Definition des Stadtraums, die auf die Bedingungen und Möglichkeiten seiner zeitlichen Durchquerung rekurriert, also die räumliche mit der zeitlichen Dimension kurzschließt. Die „Stundenisochrone im Nahverkehr“ ist nach Hassinger die Verbindungslinie all derjenigen Orte, die vom Stadtzentrum, im Falle Wiens vom Stephansplatz, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in einer Stunde zu erreichen sind. 77 Hassingers neues Modell, das die Stadt als Figuration des Nahverkehrnetzes bestimmt, besagt mithin: Je schneller die Beförderungsbedingungen im Nahverkehr werden, desto mehr vergrößert sich das Territorium, das zur Stadt hinzugerechnet wird. Und umgekehrt: Je langsamer die Fahrtmöglichkeiten mit dem Nahverkehr sind, desto mehr schrumpft der Stadtraum bzw. das, was zu ihm gerechnet werden kann, in sich zusammen. Kurz gesagt: Was die Stadt in territorialer Hinsicht ist und was als Stadt wahrgenommen wird, bestimmt das Inframedium Nahverkehr.
76 Vgl. hierzu: Fischer, Erica/Ladwig-Winters, Simone: Die Wertheims. Geschichte einer Familie, S. 183ff. und Stürzenbrecher, Peter: Das Berliner Warenhaus, S. 15. 77 Hassinger, Hugo: „Beiträge zur Siedlungs- und Verkehrsgeographie von Wien“, in: Mitteilungen der K.K. Geographischen Gesellschaft in Wien 53 (1910), S. 5-88, hier S. 35.
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Die Einführung der öffentlichen Verkehrsmittel formt aber nicht nur die Stadt als ganze, in ihren territorialen Grenzen und in ihren internen Strukturen und Verteilungen. Sie nimmt auch Einfluss auf das unmittelbare Erscheinungsbild der Straßen. Eine Langzeitwirkung der Veränderung der Straßen, die dem zeitgenössischen Betrachter vielleicht gar nicht so unmittelbar zu Bewusstsein gekommen sein wird, beschreibt Peter Behrens, der sich nicht nur in seinem theoretischen Werk mit den Aspekten des Massenverkehrs auseinandersetzte, sondern Ende der zwanziger Jahren neben seinen Entwürfen für U-Bahnhöfe auch erheblichen Anteil an der Umgestaltung des Alexanderplatzes hatte. Behrens schreibt über die neue Konfigurierung der Wahrnehmung, die dadurch entsteht, dass ein Großteil der Beobachtungen, die man über die Stadt anstellt, nunmehr vom technisierten Transportmittel aus erfolgt: „Die Eile hat sich unserer bemächtigt, die keine Muße gewährt, sich in Einzelheiten zu vertiefen. Wenn wir im überschnellen Gefährt durch die Straßen unserer Großstädte jagen, können wir nicht mehr die Einzelheiten der Gebäude gewahren.“78
Interessant sind nun für den Architekten Behrens vor allem die Konsequenzen, die sich aus den neuen Formen der Stadtbeobachtung für die moderne Konstruktionsund Bauweise ergeben. So erklärt Behrens, dass „[…] die Neuanlage einer Stadt oder eines Stadtteils, im Gegensatz zum mittelalterlichen Prinzip der unregelmäßig geführten gewundenen Straßen und der idyllisch winkligen Platzausbildungen, nach vorgefaßtem großzügigen Plane mit breiten, weithin durchgeführten graden Straßen zu geschehen (habe).“79
Neben diesen sukzessive und zeitverzögert stattfindenden Veränderungen des Äußeren der Stadt halten aber im Zuge des Nahverkehrsausbaus auch einige in der Geschwindigkeit ihrer Realisierung sehr viel drastischere Neuerungen Einzug: Oberleitungen werden gespannt, Schienen überziehen wie ein eisernes Netz die Straßen, für die Hochbahn werden steinerne und stählerne Viadukte errichtet. Und das sind nur die spektakulärsten Veränderungen, die im Stadtbild auszumachen sind. Hinzu kommen allerhand Institutionen und Phänomene, die sich auf den Straßen im Umfeld des Nahverkehrs ansiedeln: Verkehrszeichen, Haltestellen, Kioske, Uhren,
78 Behrens, Peter: „Einfluß von Zeit- und Raumausnutzung auf moderne Formentwicklung“, in: Der Verkehr. Jahrbuch des deutschen Werkbundes, S. 8. 79 Ebd.
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Verkehrspolizisten und seit 1924 der Verkehrsturm am Potsdamer Platz – die erste Ampelanlage Europas. Dass diese Veränderungen – gerade in der Phase der Elektrifizierung und Motorisierung – als massive Eingriffe in das traditionelle Stadtbild wahrgenommen wurden, zeigt sich vor allem an den zeitgenössischen Vorbehalten gegen diese Technifizierung des Stadtbildes. Eine Flugschrift, die der Wiener Verein zum Schutze und zur Erhaltung der Kunstdenkmäler im Jahr 1907 anlässlich des geplanten Baus einer Straßenbahnlinie durch den Ersten Bezirk in Umlauf bringt und in der man den historischen Stadtkern vor Straßenbegradigungen, vor der Verlegungen von Gleisen und Leitungen zu bewahren sucht, formuliert programmatisch den zeitgenössischen Standpunkt der Kritiker verkehrstechnischer Umbauten. Gefordert wird die „Erhaltung des Bestehenden, weil dieses Bestehende einen durch keine Nachahmung ersetzlichen Wert darstellt, der auch für das seelische Leben der Stadt, für ihre Charakteristik und organische Vollständigkeit eine große Bedeutung hat. Beachtung der alten Verkehrs- und Verbindungswege, die eine natürliche funktionelle Rolle im Stadtorganismus bilden […].“80
In Berlin sind es insbesondere die geplanten Oberleitungen der Straßenbahnen, die nicht nur in der Bevölkerung ästhetische Bedenken hervorrufen, sondern gegen die sich in den ersten Jahren auch in Regierungskreisen erheblicher Widerspruch regt. 81 Denn in seinen Anfängen ist der Nahverkehr keine Angelegenheit der Kommunen und Städte, die allerdings natürlich auf Konzessionsverteilungen und die Vergabe von Baugenehmigungen Einfluss nehmen und als eine Art Restriktionsapparat fungieren können. Der Nahverkehr ist stattdessen privatwirtschaftlich organisiert und setzt sich gerade in Berlin bis zur endgültigen Fusion in der BVG, im Jahr 1929,
80 Neues Wiener Tageblatt, 28.3.1909. 81 Vgl. Bericht über die Gemeindeverwaltung der Stadt Berlin, 1895-1900, S. 2f. und vgl. König, Wolfgang/Weber, Wolfhard: Netzwerke Stahl und Strom, 1840 bis 1914, S. 343; Jung, Heinz/Kramer, Wolfgang: „Die Straßenbahn“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Gillen, Eckhart (Hg.): Exerzierfeld der Moderne: Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert, S. 128; Deutsches Historisches Museum in Frankfurt am Main (Hg.): „Eine neue Zeit...!“ Die Internationale Elektrotechnische Ausstellung 1891, S. 205 sowie Siemens, Georg: Erziehendes Leben. Erfahrungen und Betrachtungen. Im Vergleich mit den Auseinandersetzungen, die es zeitgleich in Paris über die Betriebssysteme des Nahverkehrs gegeben hat, müssen die für deutsche Städte, insbesondere Berlin, verzeichneten Konflikte allerdings als gering veranschlagt werden. Vgl. Bendikat, Elfi: „Öffentliche Verkehrssysteme im Spannungsfeld kommunaler Intervention im Metropolenvergleich: Berlin und Paris 1890-1914“, in: Dienel, Hans-Liudger/Schmucki, Barbara (Hg.): Mobilität für alle, S. 149-181, insbes. S. 170.
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aus einer kaum überschaubaren Anzahl von Unternehmen zusammen. Der Generaldirektor der Berliner Straßenbahn fasst in einem Rückblick über die Probleme bei der Durchsetzung des Oberleitungsbetriebs die Bedenken zusammen: „Der Magistrat von Berlin und die Aufsichtsbehörden vertraten den Standpunkt, daß die Herstellung der Oberleitung das Straßenbild verschandelt.“82 Ähnliche Vorbehalte sind aus fast allen Städten zu hören, in denen nahverkehrstechnische Infrastrukturen etabliert werden sollen. Der Stadtdirektor von Hannover – Tramm ist sein Name – erklärt 1893, „[…] der Magistrat habe die Eingabe der Anlieger (der Celler Straße, betreffend die Anlage einer elektrischen Straßenbahn) ablehnend beschieden, weil er der Ansicht sei, daß der elektrische Betrieb in den Straßen der inneren Stadt gefährlich sei und zugleich einen unästhetischen Eindruck mache.“83
Neben dem ästhetischen Faktor ist es vor allem die Konfrontation mit einer technischen Neuerung wie der Elektrizität, die Bedenken hervorruft. Wenn im vorhergehenden Abschnitt dargestellt worden ist, inwiefern die Anbindung von Stadtgebieten an das öffentliche Verkehrsnetz zu ihrer Aufwertung und zum wirtschaftlichen Aufschwung beitragen, dann findet man gerade in den frühen Jahren des Nahverkehrs auch sehr gegenteilige Einschätzungen, die sich aus der Ablehnung der technischen Apparaturen speist: „Man verschone uns im Innern der Stadt mit solchem Drahtnetze […]“84 – diesen Ausruf findet man in den Jahren der Implementierung des Nahverkehrs in unendlichen Variationen. Von Beginn an ist die öffentliche Haltung gegenüber dem Nahverkehr im Stadtbild folglich eine ambivalente. Zum einen deswegen, weil alte Stadtstrukturen aufgebrochen werden. Das konnte man in den Bildern aus dem Berliner Leben von Julius Rodenberg exemplarisch nachlesen. Zum anderen aber auch deshalb, weil der Nahverkehr nie zu einer Infrastruktur geworden ist, die in größere Repräsentationsdiskurse eingebunden wurde. Das wird spätestens an den architektonischen und stadtplanerischen Umgestaltungen deutlich, die Albert Speer in Diensten des Nationalsozialismus vornehmen wird, und in denen gerade die Straßenbahn als störendes Element aus dem Bild eines gigantomanischen Berlins entfernt werden muss.
82 Erwiderungsrede des Generaldirektor Krause anläßlich der Abschiedsfeier am 24. Oktober 1925 in den Kammersälen, Teltower Straße, in: Berliner Straßenbahn. Zeitschrift für die Angehörigen der Berliner Straßenbahn-Betriebs GmbH, Sondernummer, Berlin, den 25. Oktober 1925, XXII. Jahrgang, S. 2. 83 Beyer, Heinrich: „Zur Geschichte des hannoverschen Stadtverkehrs“, in: Hannoversche Geschichtsblätter, Neue Folge, 1959, S. 73f. 84 Ebd.
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Der mangelnde Repräsentationscharakter des Nahverkehrs wird aber auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich, als Kaiser Wilhelm II. die Einführung von Oberleitungen in der Altstadt untersagt, so dass der Oberstrombetrieb zunächst nur in den Außenbezirken realisiert werden kann. In den Innenstadtbereichen müssen die Bahnen mit Akkumulatoren betrieben werden, die sich allerdings als sehr störanfällig erweisen. Ab 1900 wird alternativ auf die unterirdische Stromzufuhr zurückgegriffen. Auch die ist aber in ihrer extremen Abhängigkeit von den Witterungsbedingungen nicht in der Lage, dauerhaft einen funktionierenden Massentransport aufrecht zu erhalten, so dass sich auf lange Sicht doch der Oberleitungsbetrieb durchsetzen sollte. Für den Boulevard Unter den Linden veranlasst der Kaiser zuvor noch eine zusätzliche bauliche Maßnahme. Durch den Lindentunnel, der von der Dorotheenstraße bis zum Bebelplatz bzw. bis zum Platz zwischen der Staatsoper und dem Prinzenpalais reichte, sollten die Bahnen die Straße unterfahren, weil man zwar die Notwendigkeit, eine Nord-Süd-Verbindung zu schaffen, eingesehen hatte, um die sich die Berliner Pferdestraßenbahngesellschaften schon seit den 1870er Jahre bemüht hatten. Erst 1894 wurde überhaupt eine Überquerung der Straße durch Pferdebahnen zwischen Neuer Wache und Universität genehmigt. Die Optik des Prachtboulevards sollte aber keinesfalls durch die Oberleitungen einer elektrischen Straßenbahn beschädigt werden. Und da eben sowohl der Akkumulatorenbetrieb als auch die unterirdische Stromzufuhr, die zwischen 1901 und 1907 Unter den Linden angewandt wurde, sich als unpraktikabel erwiesen hatten, musste eine andere Lösung zur Vereinbarung von Verkehrs- und Repräsentationsbedürfnissen gefunden werden. 1914 wurde mit dem Bau begonnen, 1916 wurde der Tunnel dem Betrieb übergeben. Seine Gesamtlänge betrug einschließlich der zwischen Singakademie (dem heutigen Maxim-Gorki-Theater) und Universität gelegenen Zufahrtsrampen 556 m, die eigentliche unterirdische Tunnelstrecke 187 m für den westlichen, 123 m für den östlichen Tunnelzweig. Wenn er auch niemals zu wirklicher verkehrstechnischer Bedeutung gelangte, so war er doch Anlass für den Entwurf verschiedener Konzepte, die vorsahen, das gesamte Straßenbahnnetz auf, wie es damals hieß, Unterpflasterbetrieb umzustellen.85 Auf diese Weise sollte versucht werden, der Konkurrenz durch die expandierende U-Bahn entgegenzuwirken. Die allerdings sollte sich bald nicht nur im Falle des Lindentunnels durchsetzen. Bereits 1923 wird der Tunnelbetrieb wegen mangelnder Rentabilität eingestellt.
85 Zu den Plänen zu einem Unterstraßenbahnnetz vgl. die Ausführungen Dr. Ing. Blum aus dem Jahr 1907: Bericht über die Entwürfe der Grossen Berliner Strassenbahn zur Anlage von Unterstrassenbahnen in Berlin.
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Genauso wie gegen die Oberleitungen der Straßenbahnen regen sich – zumindest in den reicheren Stadtgebieten des Westens – Proteste gegen die geplanten Konstrukte der ersten von Siemens und Halske geplanten Hochbahnstrecke, so dass die Strecke vom Nollendorfplatz bis zum Zoologischen Garten unter erheblichen finanziellen und zeitlichen Mehraufwand unter die Erde verlegt werden musste. 86 Die Nahverkehrsbetriebe reagierten zumeist pragmatisch und unter Einsatz moderner Marketing- und Sponsoringstrategien auf die kommunalen und staatlichen Restriktionsversuche. So können die lange umstrittenen Oberleitungen in und um den Tiergarten schließlich aufgestellt werden, als die Straßenbahngesellschaft anbietet, im Gegenzug die Finanzierung von Denkmälern im Tiergarten bereitzustellen. Dass die Proteste gegen die Veränderungen im Stadtbild immer mehr verstummen, ist ein Indikator dafür, wie die neue Infrastruktur als Teil des modernen Lebens und des urbanen Lebensraums akzeptiert wird. Nicht zuletzt ist dies ein Prozess, der durch zeitgenössische Diskursivierung des Phänomens und der mit ihm verbundenen Probleme erreicht wird. Werden auf der einen Seite in Fachzeitschriften Studien veröffentlicht, in denen Ingenieure zu Gutachtern werden, die der öffentlichen und politischen Meinungsbildung vorangehen, und wird auch an Universitäten technisches Wissen vermittelt,87 so wird es in sehr viel stärkerem Maße noch der außerfachliche Diskurs sein, der populärkulturelle, aber gerade auch der literarische, der die zunehmende Normalisierung und damit quasi die Invisibilisierung des Nahverkehrs vorantreibt, wenn er doch im Straßenbild die dominierende und allgegenwärtige Erscheinung bleibt. Einige Zahlen mögen diese Dominanz gerade der Straßenbahn innerhalb des städtischen Verkehrs noch in der Mitte der zwanziger Jahre belegen: „In dem am höchsten belasteten Straßenabschnitt der Leipziger Straße zwischen Potsdamer Platz und Wilhelmstraße wurden 1925 in der Spitzenstunde 599 Fahrzeuge und dazu 273
86 Vgl. Spielberg, Hanns von: „Auf der Berliner Hoch- und Untergrundbahn“, in: Deutsches Lesebuch in drei Bänden, Oberstufe, Steger und Wohlrabe (Hg.), Rektoren. Neubearbeitung nach den Forderungen des Ministerialerlasses vom 28.2.1902, S. 292-297 87 Dienel, Hans-Liudger/Schmucki, Barbara: „Aufstieg und Fall des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) in Deutschland bis heute“, in: Dies. (Hg.): Mobilität für alle, S. 12; vgl. u.a. Hilse, Karl: Handbuch der Straßenbahnkunde zugleich als Unterlage für seine Vorlesungen an der königlichen Technischen Hochschule zu Berlin; Verkehr und Wissen. Eine Sammlung zeitgenössischer Schriften.
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Fahrräder gezählt. Die 599 Fahrzeuge setzten sich zusammen aus 265 PKW, 177 Straßenbahnen, 71 Omnibussen, 36 LKW, 17 Motorrädern und 33 Pferdefuhrwerken.“88
Bereits für das Jahr 1914 ist für die Potsdamer Straße, die zwischen dem Potsdamer Platz und der Lützowstraße von 33 Linien durchlaufen wird, eine beträchtliche Straßenbahndichte zu verzeichnen: „Bei einer Wagenfolge von 15 Minuten bei fast jeder Linie bedeutete das etwa 132 Wagen je Stunde, also alle halbe Minute ein Straßenbahnwagen oder -zug! Und hierbei sind die zahlreichen Einsetzwagen noch nicht mitgezählt.“89 Durch die verkehrsinfrastrukturelle Erschließung und die damit einhergehende Metropolisierung Berlins verändert sich also auf der einen Seite das Stadtbild als solches. Es verändert sich auf der anderen Seite aber auch die Art und Weise, wie die Stadt wahrgenommen wird. Denn sowohl die gezielte Beobachtung als auch die weniger bewusste Wahrnehmung der Stadt findet nun zu einem Großteil aus der Perspektive des öffentlichen Nahverkehrs heraus statt. Das heißt, der Blick des Beobachters begegnet der Stadt aus der fahrenden Straßenbahn heraus, vom Bus oder vom Viadukt der Hochbahn aus. Oder aber, im Falle der U-Bahn, es werden lange Strecken unterirdisch zurückgelegt, so dass man für die Dauer der Fahrt dem Straßengeschehen vollkommen entzogen ist. „Die Stadt jagt dir über dem Kopf davon, du siehst nichts von ihrer Hast, kein Schaufenster lockt dich, kein Beamter ruft dich, nichts hält dich auf“, 90 schreibt Egon Erwin Kisch, der für zahlreiche seiner Stadtreportagen zum Passagier des Nahverkehrs wird. Gerade dadurch aber, dass man während der Fahrt mit der U-Bahn die sukzessive Veränderung der Bezirke, wie man sie während der Fahrt an der Oberfläche der Stadt erleben würde, nicht bemerkt, wird die U-Bahn für Kisch zu einem Verkehrsmittel, das den Blick für die sozialen Gefälle schärft: „[…] es ist, als wärest du in München in den Schlafwagen eingestiegen und solltest in Venedig aussteigen…Ich höre Sie sagen: ‚Na, na, nur nicht übertreiben!‘ Aber der Kontrast ist fast so, wenn man die Erdoberfläche inmitten der schönen Villen des Schöneberger Stadtparks
88 Stimmann, Hans: „Weltstadtplätze und Massenverkehr“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Gillen, Eckhart (Hg.): Die Metropole: Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, S. 139. 89 Jung, Heinz/Kramer, Wolfgang: „Die Straßenbahn“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Gillen, Eckhart (Hg.): Exerzierfeld der Moderne: Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert, S. 129. 90 Kisch, Egon Erwin: „Die Untergrundbahn“, in: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 382.
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verlässt und erst wieder draußen in Rummelsburg um sich blickt, umringt von Proletarierkasernen, verrauchten Fabriken und erschreckend kleinen Kindergestalten.“91
Nicht nur was man sieht, unterliegt somit einem vom Nahverkehr bedingten Wandel, sondern es wandelt sich immer gleichzeitig auch, wie man das sieht, was man sieht. Schon der Reiseführer Berlin für Kenner aus dem Jahr 1912 erklärt den Nahverkehr nicht nur zum Sinnbild Berlins, sondern Berlin, so wird hier behauptet, forme sich vor dem Auge überhaupt erst, wenn man es vom öffentlichen Verkehrsmittel aus betrachte. Hier wird eine regelrechte Imagekampagne für den öffentlichen Transport durchgeführt: „Am Abend zwischen 7 und 8 mache man noch einmal denselben Spaziergang nach dem Potsdamer Platz. Man fahre dann mit dem Omnibus, Linie 5, zurück. Man stelle sich auf die Plattform des Wagens, das Gesicht der Wertheim-Seite der Leipziger Straße zugekehrt. Das Bild der unglaublichen Bewegung in Menschen, Lichtern und Wagen, das sich jetzt dem Auge darbietet, das ist Berlin! […] Berlin W. gehört dazu mit seinem snobistischen Parfüm, das hier bereits ein eigenes, hypermondänes Milieu zu schaffen beginnt. Zur Abwechslung schließe sich der Fremde einer interessanten Fahrt an, […]: einer Fahrt auf der Stadtbahn im Nordring in die Arbeiterreviere Berlins. Auch das ist Berlin!“92
Man kann es von kulturpessimistischer Warte aus kritisieren, man kann es wie im Falle des Reiseführers als Fortschritt feiern – oder wie Kisch als neues Instrument sozialer Analyse anerkennen: Berlin und mit ihm die anderen technifizierten und verkehrsinfrastrukturell erschlossenen Metropolen sind vor allem das, als was und wie sie von den öffentlichen Verkehrsmitteln produziert werden. Und sie sind das, wie sie durch die Perspektive des Nahverkehrs wahrgenommen werden. Das zeigt sich nirgendwo so gut, wie an dem schier unüberschaubaren Material von literarischen Nahverkehrsszenarien, die bis in die Literatur der späten Weimarer Republik hinein zu einem allgegenwärtigen Sujet werden. Unablässige Reihen von Straßenbahnen und Bussen, kaum zu durchdringender Verkehrslärm werden
91 Ebd. Dass man die sozialen Kontraste durch den Nahverkehr verstärkt wahrnehmen, und dass man die besser wie die schlechter situierten Stadtteile mit ein und derselben Linie erreichen kann, bedeutet aber natürlich nicht, dass die Unterschiede dadurch aufgehoben werden würden. Siegfried Kracauer schreibt über die Fahrt mit einer neuen Schnellbahnlinie: „Die beiden Stadtteile, die ineinander übergehen, scheinen unabsehbar weit voneinander entfernt. Wieder und wieder erschüttert die Erkenntnis, daß der Abstand zwischen ihnen durch keine Schnellbahn zu verringern ist.“ Kracauer, Siegfried: „Proletarische Schnellbahn“, in: Schriften, Bd. 5.2: Aufsätze 1927-1931, S. 180. 92 Berlin für Kenner von 1912.
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topisch für die Wahrnehmung und Darstellung des urbanen Raums. Als Schauplatz der Handlung oder als Kulisse im Hintergrund, die indikatorisch auf Urbanität und Moderne verweist, wird die Nahverkehrsszenerie zum festen Bestandteil der modernen Großstadterzählung. Was sich in einem Großteil dieser Szenerien inhaltlich vermittelt: die extreme optische und akustische Erregungsakkumulation durch den Verkehr, in der Reiz auf Reiz folgt, so wie Wagen sich an Wagen reiht, hat seine Entsprechung auf der stilistischen Ebene. Die Reihung, die Umschlagdichte, die enge Verschneidung von Sätzen und Satzteilen – Döblin hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Montage etabliert – wird zum beherrschenden formalen Element, wenn es darum geht, das Bild Berlins zu entwerfen. Fast beliebig sind die Beispiele, die man zitieren kann: „Und doch wogt draußen schon buntes, wechselvolles Treiben, doch pulsiert das Leben in der Riesenstadt im hellen Sonnenschein mit schrillem Geräusch und dumpfen Rollen“, schreibt Max Kretzer bereits zu Anfang der 1880er Jahre: „Die Pferdebahn klingelt, die Omnibusse rumpeln, Wagen reiht sich an Wagen. Wie lang nebeneinandergezogene bunte Ketten, deren Glieder sich fortwährend loslösen, erscheinen die Passanten auf den Trottoirs […]. Das ist die Leipzigerstraße […].“93
Die Reihe dieser Szenen ließe sich lange fortsetzen, ohne dass sich allerdings etwas wesentlich Neues daraus ergeben würde. Die Variationen dieser Szenerie sind zwar unüberschaubar, was ihre Menge angeht. Dagegen weichen sie, was die Breite ihrer Variation betrifft, bis in die späten zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts nur graduell voneinander ab. Noch in Erich Kästners erst 1931 erschienenem Roman Fabian trifft man auf ein Bild der Großstadt, das sich vorwiegend aus den bekannten symptomatischen Abbildungen des öffentlichen Personenverkehrs zusammensetzt. Dabei macht es kaum einen Unterschied, dass man es hier mit der Figur des routinierten Großstädters und Fahrgasts zu tun hat. „Als er aus dem Bahnhof trat und wieder diese Straßenfluchten und Häuserblocks vor sich sah, dieses hoffnungslose, unbarmherzige Labyrinth, wurde ihm schwindelig. Er lehnte sich neben ein paar Gepäckträgern an die Wand und schloß die Augen. Doch nun quälte ihn der Lärm. Ihm war, als führen die Straßenbahnen und Busse mitten durch seinen Magen. Er kehrte wieder um, stieg die Treppe zum Wartesaal hinauf und legte dort den Kopf auf eine harte
93 Kretzer, Max: „Die Betrogenen“, in: Schutte, Jürgen/Sprengel, Peter (Hg.): Die Berliner Moderne 1885-1914, S. 253.
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Bank. Eine halbe Stunde später war ihm wohler. Er ging zur Straßenbahnhaltestelle, fuhr nach Hause, warf sich aufs Sofa und schlief sofort ein.“94
Und fast unmittelbar geht Fabians Fahrt durch die Stadt weiter: „Am selben Abend fuhr er mit der Untergrundbahn in den Norden hinauf. Er stand am Fenster des Wagens und blickte unverwandt in den schwarzen Schacht, in dem manchmal kleine Lampen vorbeizogen. Er starrte auf die belebten Bahnsteige der unterirdischen Bahnhöfe. Er starrte, wenn sich der Zug aus dem Schacht emporhob, auf die grauen Häuserzeilen, in düstere Querstraßen und in erleuchtete Zimmer hinein, wo fremde Menschen rund um den Tisch saßen und auf ihr Schicksal warteten. Er starrte auf das glitzernde Gewirr der Eisenbahngeleise hinunter, über denen er dahinfuhr; auf die Fernbahnhöfe, in denen die roten Schlafwagenzüge ächzend an die weite Reise dachten; auf die stumme Spree, auf die von grellen Leuchtschriften belebten Theatergiebel und den sternlosen violetten Himmel über der Stadt.“95
Die Feststellung dieser Ähnlichkeit der Großstadtschilderungen vermittels der Topoi des Massenverkehrs mag zunächst überraschen. Scheint sie doch der These vom zyklischen Verlauf von Infrastrukturen zu widersprechen, demzufolge im Verlaufe der Etablierung einer bestimmten Infrastruktur eine sukzessive Gewöhnung an die von ihr hervorgerufenen neuen physischen und psychischen Bedingungen eintritt, die wiederum dazu führt, dass diese mehr und mehr aus der bewussten Wahrnehmung verschwinden. Mitzudenken ist im Zusammenhang dieser Beobachtung allerdings zweierlei. Zum einen kommen – vor allem in den Texten späteren Datums – diese topischen urbanen Parameter bevorzugt dann zum Einsatz, wenn es darum geht, eine Outsider-Position des Protagonisten zu markieren. Sie werden zu erzählerischen Mitteln, die signalisieren, dass eine Figur aus dem alltäglichen Rhythmus hinausgeworfen, von den eigentlich gewohnten Bedingungen des Großstadtlebens überfordert ist. Wie dieses Erzählmittel funktioniert, wird im folgenden Kapitel anhand der Straßenbahnszenen in Döblins Berlin Alexanderplatz ausführlich dargestellt werden. So verdichtet sich auch im Fall von Kästners Protagonisten Fabian der Verkehrsraum dann zu einem als physisch und psychisch bedrängend wahrgenommenem Raum, als der Werbetexter durch seine Arbeitslosigkeit aus der sicher geglaubten und souverän geführten Existenz hinausgeworfen wird. Zum anderen ist die Ähnlichkeit insbesondere von urbanen Hintergrundszenerien ein Hinweis darauf, dass man es hier mit einer Form von Imagebildung zu tun hat, in der die Behauptung bestimmter Parameter von Urbanität – wie Geschwin-
94 Kästner, Erich: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, S. 160f. 95 Ebd., S. 163.
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digkeit, Übervollheit, Unübersichtlichkeit – sozusagen zum guten Ton der Großstadtschilderung gehören, die sich im Diskurs des Metropolitanen einen Platz sichern will. Das heißt, diese Parameter werden häufig mehr behauptet als tatsächlich in dieser Intensität wahrgenommen. Was sich im Falle des Reiseführers mit großer Offensichtlichkeit als Marketingkampagne für ein metropolitanes und den Signifikanten der Moderne gehorchendes Berlin zu erkennen gibt, das kann man auch mit Blick auf eine Vielzahl von literarischen Großstadtschilderungen feststellen: Sie bilden nicht ab, sondern sie betreiben – von Fall zu Fall mehr oder weniger bewusst – Imageproduktion, die entweder am Bild der urbanen Weltstadt mitwirken will – oder gerade umgekehrt an seiner Demontage. So beschreibt mancher den Alexanderplatz – nicht nur aus Gründen der indirekten Charakteristik von Figuren – noch um 1930 als wilden Verkehrsstrudel und poliert auf diese Weise noch einmal kräftig an dem stumpfer werdenden Bild vom weltstädtischen Berlin. Der Ton immerhin ist merklich sachlicher geworden im Vergleich zu früheren Jahren: „Über den Platz rauscht in Wellen der Verkehr. Es gibt Augenblicke, wo alles wie tot daliegt, und Augenblicke, wo ein Hexenkessel brodelt. Omnibus auf Omibus schiebt sich heran, gelbe ächzende Riesenkästen. Elektrische klingeln und klirren über die Schienen.“96
Andere Kommentatoren, die sich zur selben Zeit zu Wort melden, stellen das allerdings schon ganz anders dar. Vom Potsdamer Platz entwirft Franz Hessel 1929 ein Bild, das eher an einen beschaulichen dörflichen Marklatz erinnert, als an ein urbanes Zentrum: „Der Verkehr ist hier offiziell so gewaltig auf ziemlich beengtem Raum, daß man sich häufig wundert, wie sanft und bequem es zugeht. Beruhigend wirken auch die vielen bunten Blütenkörbe der Blumenfrauen. Und in der Mitte steht der berühmte Verkehrsturm und wacht über dem Spiel der Straßen wie ein Schiedsrichterstuhl beim Tennis. Seltsam verschlafen und leer stehen jetzt am hellen Mittag die riesigen Buchstaben und Bilder der Reklamen an Hauswänden und Dächern aus, […].“97
Und Kurt Tucholsky erklärt Ende der zwanziger Jahre gleich in verschiedenen Texten den gesamten Berliner Verkehr zu einem Mythos, der sich aus der hysterischen Ordnungswut von Bürokratie und Verwaltung her schreibe:
96 Steibock-Fermor, Alexander Graf: Deutschland von unten. Reise durch die proletarische Provinz 1930, S. 57. 97 Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin, S. 59f.
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„Bezüglich dem berliner Verkehr steht an jeder Ecke ein Mann, der müllert / und hält alle Autos und Kinderwägen und Invaliden auf Rollen an. // Weiße Handschuhe heben sich, Lampen blinken, Signale blitzen, / während gelangweilte Fahrgäste in den Wagen sitzen, / auch haben wir leuchtende Schildkröten, bitte sehr – / und das einzige, das noch fehlt, ist der Verkehr“,98
befindet Tucholsky 1926, unter seinem Pseudonym Ignaz Wrobel in Die Weltbühne. Nur gut einen Monat später schreibt er ebendort und unter derselben Überschrift: „Die Pausen, in denen man etwa auf dem Kurfürstendamm die ‚Wagenburgen‘ passieren läßt, sind so lang wie an den Champs-Elysées – nur lohnt es sich da, nur ist es da nötig, solche Pausen im Verkehr eintreten zu lassen, während in Berlin die Pause erst dazu dient, eine Ansammlung hervorzurufen, die sonst nicht vorhanden wäre.“
Einen „beängstigenden Schwachsinn von Überorganisation“ nennt Tucholsky das Ganze – nicht zuletzt von der Presse, vom „Zeitgeheul um das pure Nichts“99 befördert. Daran wird sich auch bis 1929 kaum etwas ändern: „Der Verkehr ist in Deutschland zu einer nationalen Zwangsvorstellung geworden. […] Was da zusammengeregelt wird, geht auf keine Kuhhaut. Die organisationswütigen Verwaltungsbeamten haben jeden gesunden Sinn für Maß und Ziel verloren; sieht man sich dieses Gefuchtel, Geblink, Geklingel und Gewink an, so wird einem angst und bange – vor lauter Leitern, Regelern, Organisatoren ist nur eines nicht zu sehen: der Verkehr.“100
Die Stadt als alle bisher gekannten Kategorien der Geschwindigkeit sprengender Verkehrsraum – das ist für Tucholsky ähnlich wie für Hessel ein Produkt moderner Imagebildung. Eines Images indes, an dem Stimmen wie die von Hessel oder Tucholsky, wenn auch unter einer anderen Devise, dann doch selber kräftig mitarbeiten. Indem sie in der ausgestellten Abgeklärtheit des souveränen Großstädters den Verkehr für nichtig erklären, machen sie ihn genauso zur Folie – und das heißt, zum wesentlichen Medium der Großstadtwahrnehmung – wie diejenigen, die ihn als überwältigend darstellen.
98
Wrobel, Ignaz (d.i. Tucholsky, Kurt): „Berliner Verkehr“, in: Die Weltbühne, 5.10.1926, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 518.
99
Ebd.
100 Tucholsky, Kurt: „Der Verkehr“, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 305f. Vgl. auch: Kessel, Martin: „Illusion vom Tempo“ (1929), in: Günther, Herbert: Hier schreibt Berlin. Ein Dokument der 20er Jahre, S. 116f.
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Beginnend mit der Betrachtung von Rodenbergs frühen Bildern aus dem Berliner Leben aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Großstadtdarstellungen der späten zwanziger Jahren des darauf folgenden Jahrhunderts lässt sich an dieser Stelle über die inframedialen Qualitäten des Nahverkehrs, über die Zusammenhänge des verkehrsinfrastrukturellen Ausbaus und den Herausbildungen und Veränderungen des urbanen Raums sowie den Neukonfigurierungen seiner Wahrnehmung und Darstellungen dreierlei befinden: Erstens kann man verfolgen, auf welche Weise die Stadt durch einen umfassenden Um- und Ausbau allererst zum urbanen Raum im eigentlichen Sinne gemacht wird. Sind es bei Rodenberg besagte Inseln des Verkehrs, zu denen der Betrachter noch eine Haltung innerer und äußerer Distanz behalten kann, dann ist in der qua Nahverkehr durchtechnisierten und komplett neu strukturierten Metropole des 20. Jahrhunderts die Stadt vollkommen zum Verkehrsraum geworden, dem man sich kaum mehr entziehen kann. Zum zweiten gilt diese Transformation der Stadt zum Verkehrsraum nicht nur für die Gestalt der modernen Stadt. Vor allem hat diese Verkehrsraumwerdung auch Einfluss auf die Art und Weise, wie der urbane Raum fortan wahrgenommen wird. Ist Rodenberg noch überwiegend zu Fuß unterwegs, dann bewegt man sich – wie Fabian aus Erich Kästners gleichnamigem Roman – als ein zwischen den verschiedenen Verkehrsmitteln hoppender ständiger Passagier durch Berlin. Und diese Position des Passagiers ist es auch, die fortan die vorherrschende Perspektive für die Wahrnehmung des urbanen Raums bilden wird. 101 Wenn Ernst Jünger eine allge-
101 In diesem Aspekt der Konstituierung des Wahrnehmungserlebnisses in der und durch die Bewegung liegt eine Wirkungsparallele der innerstädtischen Nahverkehrsmittel zur Eisenbahn, die zur wesentlichen Verkehrs-Infrastruktur des 19. Jahrhunderts geworden ist. Das Stichwort von der Revolution der Sinne begleitet fast alle Texte, die sich die veränderten Wahrnehmungsbedingungen zum Thema machen. Vgl. hierzu insbesondere Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Verkehrssystemen und folglich auch der entscheidende Unterschied in ihrer Wirkung besteht allerdings darin, dass die Eisenbahn als Verkehrsmittel zum einen zwischen verschiedenen Städten verkehrt und damit zum anderen einen Raum durchquert – die Landschaft – die seit jeher vorhanden ist. So sind es die Blumen, die unter den veränderten Perzeptionsbedingungen der Eisenbahnfahrt „keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote und weiße Streifen“ sind (so die exemplarische und sich in vielerlei Variationen findende Beschreibung, die Viktor Hugo in einem Brief vom 22.8.1837 verwendet.) Der Nahverkehr aber, als paradigmatisches Medium des frühen 20. Jahrhunderts, zeichnet sich im Gegensatz dazu aus, dass er selbst Bestandteil dessen ist, was sich verändert: Bestandteil der Technifizierung und
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meine „Achtlosigkeit, mit welcher der Spaziergänger als eine aussterbende Spezies von den Verkehrsmitteln beiseite gestoßen wird“,102 bemerkt, dann beschreibt er damit die Auswirkungen einer städtebaulichen Entwicklung, die sich primär an den Erfordernissen der verkehrsinfrastrukturellen Erschließung der Stadt orientiert, und die zur Folge hat, dass die regelmäßige Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel zum festen Bestandteil des Alltags eines Großteils der Großstädter wird. Es werden damit nicht nur aus Passanten Passagiere. Die Verdrängung der Fußgänger aus bestimmten Bereichen der Stadt lässt auch die literarische Figur des Flaneurs mehr und mehr – wenn nicht vollkommen verschwinden, so doch zumindest auch die Fortbewegungsart ändern, die er doch gerade erst als Form der Stadtbeobachtung etabliert hat. So fährt die moderne Ausgabe des Flaneurs Straßenbahn oder auch Bus und tauscht so die kontemplative, verweilende Betrachtung gegen die flüchtig-fragmentarische Wahrnehmung der Stadt aus der Bewegung des Verkehrsmittels heraus.103 Hinzu kommt, dass er als Passagier die Route, die er zurücklegt, nur noch bedingt – durch die Entscheidung für eine bestimmte Linie – wählen kann, sich grundsätzlich aber passiv dem Modus des Gefahrenwerdens anheimgibt. Und drittens ist der Stadtraum immer das Ergebnis einer Imageproduktion, die an einen Prozess der ständigen Wechselwirkung von realem, wahrgenommenem und dargestelltem Raum angeschlossen ist.
Urbanisierung der Stadt, und dass er darüber hinaus die Bedingungen dafür bereitstellt, unter denen diese neuen Entwicklungen wahrgenommen werden. 102 Jünger, Ernst: „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“, in: Sämtliche Werke, Bd. 8, S.121. 103 Wer weiterhin zu Fuß unterwegs und mit ausgestellter Gemächlichkeit dem allgegenwärtigen Verdikt vom „Tempo“ trotzt, wird kritisch beäugt. Nicht von ungefähr und nicht ohne Gefallen empfindet sich der spazierende Franz Hessel – den Benjamin unter der Überschrift „Die Wiederkehr des Flaneurs“ (Benjamin, Walter: „Die Wiederkehr des Flaneurs“, in: Gesammelte Schriften, Bd. III, erstmals erschienen in: Die literarische Welt, Jg. 5, Nr. 40, 4.10.1929) feiert – im urbanen Betrieb als Sonderling: „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht, wenn man ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäften zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.“ Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin, S. 7.
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6. G RUNDZÜGE DER P SYCHOTECHNIK . D IE K ONDITIONIERUNG DER K ÖRPER Mögen die Menschen auch spätestens in den frühen zwanziger Jahren an die neuen Bedingungen urbanen Lebens gewöhnt sein und ihren Wahrnehmungsapparat darauf ausgerichtet haben: Gerade was die Jahre der eigentlichen Vernetzung der Stadt und des alltäglichen Lebens durch den öffentlichen Nahverkehr angeht, müssen die veränderten Wahrnehmungsanforderungen, vor die sich der einzelne durch die Beschleunigung eines technisierten und immer dichter werdenden Verkehrs gestellt sieht, als ungeheuer einschneidend und radikal verstanden werden. Georg Simmel, dessen Bedeutung auf dem Gebiet der zeitgenössischen urbanen Theoriebildung in den letzten Jahren zunehmend erkannt worden ist, bestimmt als psychisch-physiologische Grundlage des Lebens in der modernen Großstadt eine „Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“. 104 Was Simmel die Steigerung des Nervenlebens nennt, wird im zeitgenössischen Diskurs mit dem ursprünglich medizinischen Begriff von der modernen Nervosität bezeichnet. Innerhalb weniger Jahre avanciert der erstmals von dem amerikanischen Arzt und Elektrotherapeuten George M. Beard verwendete Terminus zu einem regelrechten Modebegriff. Sein inflationärer Gebrauch entspricht dabei seiner inhaltlichen Breite: Nahezu sämtliche Symptome und vermeintlichen Auswirkungen des urbanen Lebens werden mit der Diagnose der Nervosität bedacht. 105 Wenn Simmel von einem raschen Wechsel der inneren und äußeren Eindrücke spricht, dann benennt er dasjenige Moment urbanen Lebens, das maßgeblich für das moderne Leiden des Großstädters verantwortlich gemacht wird: die Beschleunigung aller Lebensbereiche, die man in der Beschleunigung des Verkehrs am konkretesten zu erleben meint. Was aber bereits im Zusammenhang mit der zweifelhaften These vom A-Topisch-Werden der Moderne durch Beschleunigung festgestellt worden ist: Dass Beschleunigung nicht so einseitig linear funktioniert, wie die verschiedenen Variationen der Raumvernichtungs-Metaphern es nahe legen wollen, das wiederholt sich mit Blick auf den Zusammenhang von Beschleunigung und Nervosität. Entgegen der prominenten These, der zufolge dem Phänomen der technisierten Beschleunigung wesentliche Bedeutung im modernen Nervositätsdiskurs zukommt, kann an einem Großteil von Nahverkehrsszenarien festgestellt werden, dass es zum einen
104 Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Gesamtausgabe, Bd. 7, S. 116. 105 Vgl. als ausführliche und materialreiche Studie zum Themenkomplex Nervosität: Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler.
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viel eher der Wechsel von Beschleunigung und Verlangsamung ist, der das Bewusstsein der Verkehrsteilnehmer reizt. Tatsächlich seien es die Tempo-Diskrepanzen, „die das ‚nervöse Zeitalter‘ ganz besonders irritieren“ schreibt Joachim Radkau über dieses Phänomen.106 Der zeitgenössische Psychiater und Nervositätsexperte Willy Hellpach beschreibt am Beispiel einer für sich betrachtet relativ unspektakulären Alltagsszenerie diese Akkumulation einzelner Reizmomente: „Ich trete aus dem Hause und gerade fährt die elektrische Bahn fort. Ich muss mich quer übers Trottoir winden; ein paar Kleinstädter hemmen den Menschenstrom; eine Droschke kommt in rasendem Tempo um die Ecke. Ich muss auf die nächste Straßenbahn warten; kaum finde ich oben einen Stehplatz; mein Nebenmann raucht eine fürchterliche Zigarre; Russ fliegt mir an den frischen Leinenkragen; der Wagen fährt bald rasend, so dass alles gegeneinander taumelt, bald hält er, weil ein Lastwagen das Geleise versperrt.“107
Wenn Hellpach aus seinen Beobachtungen das Fazit zieht, wünschenswert sei, dass „der mehr individuell geprägte Motorwagenverkehr die kommunistische Straßenbahn“ ablöse, dann benennt er gleich noch einen zweiten Aspekt, der wesentlich für die veränderte Nervenanspannung des Einzelnen im modernen Verkehr verantwortlich zu sein scheint: Gerade das Gefühl des Ausgeliefertseins an eine Unzahl nicht zu kontrollierender Faktoren und Reize im modernen Verkehr, das einem im fremd gesteuerten Nahverkehrsmittel umso bewusster werden muss, ist Ursache dessen, was mit dem Stichwort der Nervosität beschrieben wird. Denn es kommt etwas Entscheidendes hinzu, was schon in Die Tücke des Vehikels, dem zu Anfang dieser Arbeit betrachteten Feuilleton über eine morgendliche Straßenbahnfahrt, zum zentralen Movens wurde: Im Verkehrsgeschehen, das man weder als Ganzes überschauen noch in seinen Abläufen steuern kann, muss es dem Einzelnen gelingen, innerhalb einer bestimmten Zeit eine bestimmte Strecke zurückzulegen, 108 was durch die allzu
106 Ebd., S. 131. 107 Hellpach, Willy: Nervosität und Kultur, S. 28f. 108 Die Verbindung von modernem Verkehr und Nervositätsdebatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist über dieses real kausale Verhältnis hinaus auch metaphorischer Art. So greift der medizinische Nervendiskurs auf Motivelemente der technisierten Verkehrsmittel, der Gleissysteme und Leitungsnetze zurück, um das Funktionieren des Nervensystems oder aber seine Stockung zu beschreiben, die zumeist im Bild der Leitungsstörung oder des aus dem Gleise Springens dargestellt werden. Vgl. Scharfe, Martin: „Die Nervosität der Automobilisten“, in: Dülmen, Richard von (Hg.): Körper-Geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung, S. 202 und Link-Heer, Ursula: „Nervosität und Moderne“, in: Graevenitz, Gerhart von (Hg.): Konzepte der Moderne, S. 108ff.
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augenfällige Tatsache, dass die Regeln des Verkehrs mit ebensolcher Regelmäßigkeit gegen sich selbst verstoßen, umso unkalkulierbarer wird. „In der Stadt“, schreibt Musil, „ist die einzige Geschwindigkeit, die man eigentlich noch spürt, die des zu erreichenden Anschlusses, die Hast des Umsteigens und die Unsicherheit des rechtzeitigen Weiterkommens.“109 Beginnend mit einzelnen und nicht immer ganz ernst gemeinten Forderungen, „dem Tempo gewachsen zu sein, es zu beherrschen“110, d.h. das Bewusstsein auf die veränderten Bedingungen der Moderne einzustellen, und die Eile des Umsteigens vielleicht sogar als moderne Form der sportlichen Ertüchtigung zu etablieren,111 entstehen zu Anfang des 20. Jahrhunderts parallel zur Nervositätsdebatte verschiedene Konzepte zur Bewältigung der durch die veränderten Bedingungen des urbanen Lebens an das Individuum herantretenden bewusstseinsspezifischen Anforderungen. Wiederum stammen wesentliche Beiträge hierzu von Georg Simmel. Er erklärt den „intellektualistische(n) Charakter des großstädtischen Seelenlebens“112 zur existentiellen Bedingung des urbanen Menschen. Denn nur unter dieser Voraussetzung sei es möglich, auf die Erregungen der Umgebung anstelle des Gemüts mit dem
109 Musil, Robert: „Geschwindigkeit ist eine Hexerei“, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 685. Und so ist es nur logisch, dass das Automobil – obwohl es die Nahverkehrsmittel in Sachen Beschleunigung weit hinter sich lässt – in der zeitgenössischen Nervositätsdebatte zum Antipoden der öffentlichen Transportmittel werden kann. Gerade weil hier der Einzelne selbst am Steuer sitzt, wird die dem Autofahrer abverlangte „Kaltblütigkeit“ zum Heilmittel gegen die Nervosität avancieren. Vgl. Scharfe, Martin: „Die Nervosität der Automobilisten“, in: Dülmen, Richard von (Hg.): Körper-Geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung, S. 205; vgl. auch Hellpach, Willy: Nervosität und Kultur, S. 212. 110 Heinemann, Moritz: „Der Verkehr und die Seele“, in: Was ist das: ein Gedanke. Essays, S. 79f. 111 „Wer auf Massenverkehrsmittel angewiesen war, und das waren 95% aller Berliner, der konnte sich frühmorgens an einer Art von Frühsport beteiligen, das war der Verkehr. Er wurde unter Benutzung aller Verkehrsmittel betrieben, das große Einmannspiel gegen Zeit und Entfernung, gespielt von einigen hunderttausend Teilnehmern, ein Massenrausch. [...] Störend waren nur die Niveauunterschiede beim Übergang von einem zum anderen Verkehrsmittel. Man mußte viele Stufen auf- und absteigen. Aber weil der Berliner durch die vier- oder fünfgeschossige Bauweise seiner Häuser an diesen Briefträgersport gewöhnt ist, ging es gerade über die Treppen in großem Tempo, und der Fremde, der unversehens in diesen Sog des Berliner Frühsports geriet, blieb bald atemlos zurück, [...].“ Kiaulehn, Walter: Berlin. Schicksal einer Weltstadt, S. 22f. 112 Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Gesamtausgabe, Bd. 7, S. 117.
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Verstand zu reagieren: „(D)amit ist die Reaktion auf jene Erscheinungen in das am wenigsten empfindliche, von den Tiefen der Persönlichkeit am weitesten abstehende physische Organ verlegt.“113 Auf diese Weise schafft sich der Mensch durch die intellektuelle Fähigkeit zur „Objektivierung des Verkehrscharakters“ eine „innere Grenze und Reserve“114 – Simmel nennt es ein „Präservativ“115 – das ihn innerhalb der hohen Reizdichte im urbanen Alltag mit Souveränität agieren lassen lässt. Die emotionale und körperliche Berührungsabwehr, die sich aus dieser Abschottung ergibt, definiert Simmel als spezifisch moderne Haltungen der Blasiertheit und Reserviertheit. 116 Bei dieser sich auch als Unfähigkeit, auf neue Reize mit der ihnen angemessenen Energie zu reagieren, mitteilenden Fähigkeit, handelt es sich um die der Moderne adäquate Fähigkeit des Individuums zur Rationierung und Selektierung von Datenflüssen. 117 Joseph Roth, der schon in Die Tücke des Vehikels die Haltestellensituation zu einer die Nerven strapazierenden Prozedur hat werden lassen, führt auch in seinem Text Der Herr mit dem Monokel 118 die prekäre psychische Lage vor, in die man durch den zunächst wenig spektakulären Sachverhalt geraten kann, dass die öffentlichen Verkehrsmittel nicht taktgenau – und damit den eigenen Erwartungen entsprechend – eintreffen. Durch sein Einglas als Vertreter des konventionell altmodischen Blicks gekennzeichnet, der dem urbanen Milieu des 20. Jahrhunderts nicht mehr angemessen ist, wird Roths Figur durch das plötzliche und unerwartete Herannahen eines Busses – anstelle der laut Plan angekündigten Straßenbahn – derart aus der Fassung gebracht, dass er nicht nur sein Monokel verliert. Seine mangelnde Reaktionsgeschwindigkeit auf die überraschende Situation führt schließlich dazu, dass der Bus wieder von der Haltestelle abfährt, als der Herr, jetzt ohne Monokel, sich gerade entschlossen hat einzusteigen: „Das Gehirn des Herrn revoltierte gegen die Diktatur des Monokels, es faßte zuerst den kühnen Gedanken, den Autobus statt der Straßenbahn zu benützen, setzte die Füße des Herrn in Bewegung, so daß dieser zu laufen anfing. Aber, wie es nun einmal mit subordinierten Naturen zu sein pflegt: Das rebellische Gehirn fiel in seine Abhängigkeit vom Monokel zurück, gebar hurtig einen neuen Sorgengedanken, so daß der Herr mitten im Laufen den rechten Arm
113 Ebd. 114 Ders.: „Philosophie des Geldes“, in: Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 542. 115 Ders.: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Gesamtausgabe, Bd. 7, S. 118. 116 Ebd., S. 121f. 117 Vgl. Bolz, Norbert: Die Welt als Chaos und als Simulation, S. 98. 118 Roth, Joseph: „Der Herr mit dem Monokel“, in: Werke, II. Band: Das journalistische Werk, 1924-1928, S. 225.
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erhob, mit dem Ärmel das Einglas streifte und es zu Boden fallen ließ, wo es leider mit einem wehmütigen silbernen Klirren zerschellte.“119
Nicht nur zur Reduzierung der Reizeinwirkung aber ist die Konditionierung des Blicks vonnöten, vielmehr wird sie im technisierten Massenverkehr der modernen Städte zu einer lebenserhaltenden Notwendigkeit: „Wenn Poes Passanten noch scheinbar grundlos Blicke nach allen Seiten werfen, so müssen die heutigen das tun, um sich über die Verkehrssignale zu orientieren. So unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art“,120 schreibt Walter Benjamin. Ganz ähnlich konstatiert Ernst Jünger hinsichtlich der modernen Form optischer Reizerfassung, die das Überleben in der Großstadt sichert: „Der Blick ist ruhig und fixiert, geschult an der Betrachtung von Gegenständen, die in Zuständen hoher Geschwindigkeit zu erfassen sind.“121 Die lakonische Einsicht von Döblins Franz Biberkopf bringt es schließlich auf den Punkt: „(P)aßt du nicht auf den Omnibus, fährt er dich zu Appelmus.“122 Die unausweichlich katastrophische Folge mangelnder Konditionierung der Wahrnehmung auf die Erfordernisse des Verkehrs erzählt Robert Müller am Schicksal der verträumt-naiven Figur Irmelin, die, aus einer idealtypisch entworfenen Gartenidylle kommend, in der Großstadt von einer elektrischen Straßenbahn überfahren wird. „‚Dagestanden hat sie nur und geschaut wie ein Lampl‘- - -“123, berichten die Zeugen des Unfalls über Irmelins ausbleibende Reaktion. Ihrem Blick,
119 Ebd. 120 Benjamin, Walter: „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: Gesammelte Schriften, Bd. I/2, S. 630. 121 Jünger, Ernst: „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“, in: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 116f. 122 Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, S. 500. Im Zuge einer großen Unfallverhütungs-Kampagne geben die „Städtischen Straßenbahnen“ Wiens im Jahr 1912 bei dem renommierten Graphiker Fritz Schönpflug eine Plakatserie in Auftrag. Auf Schönpflugs Bildern ist der souverän und regelgerecht agierende Straßenbahnpassagier als distanziert indifferenter Urbaner den aus Unsicherheit und Ungeschick gegen die Verhaltensregeln verstoßenden und sich selbst gefährdenden tumben Kleinstädtern gegenübergestellt. Vgl. Meißl, Gerhard: „Hierarchische oder heterarchische Stadt? Metropolen-Diskurs und Metropolen-Produktion im Wien des Fin-deSiècle“, in: Horak, Roman/Maderthaner, Wolfgang/Mattl, Siegfried/Meißl, Gerhard/Musner, Lutz/Pfoser, Alfred (Hg.): Metropole Wien. Texturen der Moderne, Bd. 1, S. 339. 123 Müller, Robert: „Irmelin Rose. Die Mythe der großen Stadt“, in: Irmelin Rose – Bolschewik und andere verstreute Texte, S. 52.
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in expressionistischer Tradition auf die affektive Reizaufnahme ausgerichtet, mangelt es an der notwendigen Fähigkeit zur rationalen Strukturierung des Gesehenen. Nur durch ebenjene „Selektierung von Datenflüssen“ vermittels des „intellektualistischen Charakters“ wäre der Unfall zu vermeiden gewesen. Irmelins Bewusstein aber ist nicht mit dem notwendigen Schutz gegen die Inkommensurabilität von Eindrücken ausgestattet, stattdessen ist es das technisierte Vehikel Straßenbahn, an dessen „Schutzvorrichtung“124 die blutigen Überreste von Irmelins Kleidung hängen bleiben. Jenseits dieser literarischen Beispiele zeigen vor allem die zahlreichen physiologischen und psychologischen Tests, die in dieser Zeit entwickelt werden, um die Reaktionsgeschwindigkeiten und -weisen der Großstädter zu erproben, wie sehr man sich der Vehemenz der Veränderungen, die sich aus der Technisierung und Vernetzung des Verkehrs ergeben, bewusst gewesen ist. 125 Den wohl bekanntesten dieser Tests entwickelt – erstaunlicher Weise allerdings erst im Jahr 1928 – der Philosoph und Mitbegründer der Angewandten Psychologie Hugo Münsterberg in seinem Buch Grundzüge der Psychotechnik. Es handelt sich um einen Test für angehende Straßenbahnfahrer, die sich als professionelle Verkehrsteilnehmer häufig solcher und ähnlich gearteter Eignungsprüfungen unterziehen müssen, um unter Beweis zu stellen, dass sie den hohen sensorischen Anforderungen, denen sie dauerhaft ausgesetzt sein werden, gewachsen sind. Bevor Münsterberg den Aufbau seines Experiments vorstellt, gibt er einige grundsätzliche Hinweise auf die sinnvolle Erarbeitung von Tests wie dem seinen. So weist er darauf hin, dass das Bemühen einer psychologischen Versuchsanordnung, in der die individuelle Bewältigung realer Umstände untersucht werden soll, „niemals darauf zielen darf, etwa die äußeren Formen, unter denen sich die Leistung im praktischen Leben vollzieht, nun in Miniaturformen für den Versuch nachzuahmen“126. Fast ein bisschen spöttisch merkt er an: „Mit kleinen elektrischen Wägelchen könnten wir diese Experimente nicht anstellen.“127 Nach Münsterbergs Überzeugung kann man also mit Miniaturmodellen die psychologischen Bedingungen, mit denen der Proband in der Realität – in diesem Fall der Straßenbahnfahrer im technisierten Massenverkehr der Metropole – konfrontiert
124 Ebd., S. 48. 125 Vgl. u. a. den Vortrag „Psychotechnische Eignungsprüfung“ von Oberingenieur Tramm der Berliner Straßenbahn, in: Internationaler Straßen- und Kleinbahnverein (Hg.): Internationaler Straßenbahn- und Kleinbahn-Kongreß Wien, 29. Mai bis 1. Juni 1921, S. 65-73. 126 Münsterberg, Hugo: Grundzüge der Psychotechnik, S. 131. 127 Ebd.
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ist, nicht adäquat simulieren. Es müssen stattdessen, so Münsterberg, Möglichkeiten gefunden werden, „die Seelenlage selbst rein zu reproduzieren“128. Das Verfahren, das Münsterberg zu diesem Zweck entwirft, zeigt zweierlei. Auf der einen Seite ist es zu verstehen als Ausdruck um das Wissen in die ungeheuren Verschiebungen, denen der Wahrnehmungsapparat des modernen Großstädters, der allem voran ein Verkehrsteilnehmer ist, unterworfen ist. Auf der anderen Seite suggeriert das Verfahren in seiner rechnerischen Exaktheit und Einfachheit aber auch die Möglichkeit eines rationalisierenden Umgangs mit bzw. Trainings in die Anforderungen, die der technisierte Transport an den Einzelnen stellt. Und es suggeriert damit dann natürlich auch, dass die veränderten physiopsychologischen Bedingungen der Großstadt auf relativ wenige, in ihrem Verhältnis zueinander klar bestimmbare Faktoren zu reduzieren ist. Nicht zuletzt entwirft Münsterberg mit seinem Versuch die These einer Semantik des Verkehrs, indem er durch die Anordnung des Versuchs implizit behauptet, dass die Abläufe des Verkehrs aus Signifikanten bestehen, die man entziffern können muss, wobei die verschiedenen Grade der Virtuosität des Einzelnen beim Entziffern zu messen sind. Münsterberg beschreibt sein Experiment, das hier in aller Ausführlichkeit dargestellt werden soll, wie folgt: Die Grundlage bildet ein Satz langer Kartonblätter, die dem Probanden von einer Apparatur, deren Funktionsgeschwindigkeit man variieren kann, nacheinander vorgeführt werden. „Jedes dieser Blätter ist 9 cm breit und 26 cm hoch. In der Mitte läuft durch die Länge ein Paar paralleler Linien mit einem Zentimeter Distanz. Sie stellen gewissermaßen ein Schienengeleise vor. Die ganze Karte ist in Zentimeterquadrate geteilt; innerhalb des Gleises liegt somit eine Reihe von 26 Quadraten, in deren jedes ein großer Buchstabe des Alphabets von A bis Z eingedruckt ist. Auf jeder Seite dieses mittleren Geleises liegen nun also noch vier Parallelreihen solcher Quadrate. In diese sind scheinbar vollkommen unregelmäßig und zufällig eine Masse Ziffern eingedruckt, und zwar ausschließlich die Ziffern 1, 2 und 3. Auf jedem Blatt sind etwa hundert dieser Zahlen. Mehr als die Hälfte sind schwarz, der kleinere Teil ist rot. Ehe ich mit dem Versuch beginne, zeige ich eine oder zwei solcher Karten dem Individuum, das geprüft werden soll, und sage ihm etwa das Folgende: ‚Denken Sie sich, daß diese Mittellinien ein Geleise auf der Straße bedeuten, daß jede 1 einen Fußgänger, jede 2 einen Wagen und jede 3 ein Automobil darstellt, weil das Auto sich um die dreifache, der Wagen sich um die zweifache Strecke fortbewegt hat, wenn der Fußgänger einen einfachen Schritt macht. Jeder solcher Schritte soll durch ein Quadrat dargestellt sein. Alle die schwarzen Zahlen bewegen sich dem Geleise parallel, kommen also für etwaiges Kreuzen des Geleises gar nicht in Betracht. Sie können von den schwarzen Zahlen mithin vollkommen absehen. Die roten Zah-
128 Ebd., S. 132.
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len dagegen sind die gefährlichen. Sie bedeuten die Passanten, die sich von rechts oder von links her auf das Geleise zu bewegen. Ihre Aufgabe ist es nun, das Geleise von A bis Z mit den Augen entlangzugehen und so schnell wie möglich herauszufinden, an welcher Stelle die roten Ziffern gerade auf das Geleise kommen würden, wenn die 1 einen Schritt, die 2 zwei Schritte oder die 3 drei Schritte macht. Ist die rote 3 beispielsweise vier Quadrate vom Geleise entfernt, so liegt keine Gefahr vor, da sie das Geleise schon überschritten haben würde. Gefahr ist also nur dann, wenn die rote 1 um ein Quadrat, die rote 2 um zwei Quadrate und die rote 3 um drei Quadrate entweder auf der rechten oder auf der linken Seite vom Mittelgeleise entfernt ist. Denken Sie nicht etwa nur an Ihre Straße oder an wirkliche Menschen, sondern wenden Sie ihre ganze Aufmerksamkeit einfach den Zahlen selbst zu. Aber hüten Sie sich, daß Sie sich nicht um die schwarzen Zahlen kümmern, statt um die roten, und daß Sie nicht zu nahe oder zu ferne Zahlen als gefährlich ansehen, und seien Sie ganz besonders bemüht, keinesfalls eine rote Zahl zu übersehen, die gerade in ihr Geleise hineintreten würde, wenn sie die entsprechende Zahl der Schritte macht.‘“129
Was also Münsterberg als die wesentliche Leistung des modernen Verkehrsteilnehmers erkennt, ist die Fähigkeit, eine auf den ersten Blick inkommensurabel erscheinende Mengen von Zeichen – die verschiedenen technisierten und zum Teil eben auch nicht-technisierten Verkehrsmittel auf den immer voller werdenden Straßen – innerhalb kürzester Zeit strukturiert wahrnehmen zu können. Das heißt, zum einen möglichst genau voraussagen zu können, was das einzelne Objekt als nächstes tun wird, vornehmlich mithin, in welche Richtung es sich bewegt – Münsterbergs natürlich vereinfachter Versuch unterscheidet zwischen roten und schwarzen Zahlen, solchen, die sich parallel zu den Straßenbahngleisen bewegen und solchen, die es potentiell kreuzen werden. Darüber hinaus ist natürlich von entscheidender Bedeutung, die differierenden Geschwindigkeiten der übrigen Verkehrsteilnehmer einschätzen zu können – deshalb Münsterbergs Unterscheidung zwischen den Zahlen 1, 2 und 3, die jeweils für eine bestimmte Potenzierung der Geschwindigkeit stehen. Während diese Tempoeinschätzungen im Falle der Fußgänger und der traditionellen Pferdefuhrwerke kaum größere Schwierigkeit verursachen sollten, ist bei den elektrisierten und motorisierten Verkehrsmitteln nicht nur die Bewältigung an sich, sondern vor allem die richtige Einschätzung dieser veränderten Geschwindigkeiten ein tägliches Problem auf den Straßen der Großstadt.130 Regelmäßig wird in Tageszeitungen darauf hingewiesen, dass „die elektrische Bahn schneller als die Pferdebahn fährt und deswegen ein schnelleres Ausweichen
129 Ebd., S. 132f. 130 Tramm, Karl August: Verkehrsordnung und Straßenunfall, Berlin 1925, Zeitschrift für Kleinbahnen.
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als bisher am Platze ist“131. In den Schulen wird mit den Kindern das Aufspringen auf die Straßenbahn geübt, das in den ersten Jahren noch erlaubt ist. 132 Es laufen auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen beständig Programme ab, mit denen die Menschen in psychologischer und vor allem auch physiologischer Hinsicht auf die Anforderungen des modernen Verkehrs konditioniert werden sollen. Wie hoch neben dem psychologischen gerade auch der physiologische Druck eingeschätzt wird, den die Technisierung des Verkehrs auf die Menschen ausübt, wird wiederum anschaulich an den zeitgenössischen Beschreibungen über die körperlichen Anforderungen, die – neben der Reaktionsfähigkeit – an angehende Straßenbahnfahrer gestellt werden. 133 Noch im Jahr 1902 wird in einem Bericht über die Arbeitsverhältnisse im Nahverkehrsbetrieb vom Straßenbahnfahrer, den man einige Jahrzehnte später eher mit einer gewissen Gemächlichkeit assoziieren wird, ein geradezu heroisches Bild entworfen. Der Fahrer, heißt es, schwebe in der ständigen Gefahr, „mit anderen Fuhrwerken zusammenzustoßen oder gar Menschen zu überfahren. Andererseits darf er auch nicht ängstlich sein, denn sonst würde er in dem Wagengedränge überhaupt nicht vom Fleck kommen. Dem Wind und Wetter ist der Führer vollkommen preisgegeben. Selbst bei strömendem Gewitterregen darf er seinen Posten nicht verlassen. Trotzdem er oft bis auf die Haut durchnässt ist, muß er, zitternd vor Kälte, bis in die Tiefe Nacht hinein seinen Dienst versehen.“134
Der technisierte Verkehr stellt die Menschen demnach vor Anforderungen, die nicht nur die Rezeptionsfähigkeiten betreffen, sondern die den Körper als ganzen auf die Probe stellen. Ein Aspekt, der erstaunlicherweise sowohl in der Versuchsanordnung von Münsterberg als auch in dem eben zitierten Bericht über die Arbeitsverhältnisse im Nahverkehrsbetrieb nicht vorkommt, ist die Veränderung der akustischen Verhältnisse in der Stadt, die durch die Elektrifizierung des Verkehrs einerseits und die massive Steigerung des Verkehrsaufkommens andererseits bedingt wird. Dass diese Lärmbelastung gerade bei den Anwohnern betroffener Straßen einiges Missvergnü-
131 Vgl. Beyer, Heinrich: „Zur Geschichte des hannoverschen Stadtverkehrs“, in: Hannoversche Geschichtsblätter, Neue Folge, 1959, S. 76. 132 Vgl. Müller, Lothar: „Nervosität und Sachlichkeit. Das Berlin der Jahrhundertwende als Hauptstadt der ‚neuen Zeit‘“, in: Hickethier, Kurt (Hg.): Mythos Berlin. Zur Wahrnehmungsgeschichte einer industriellen Metropole, S. 88. 133 Vgl. Handbuch der Arbeiterkrankheiten, Dr. Theodor Weyl (Hg.), S. 597-610. 134 Deichen, Fritz: Erhebungen über die Verhältnisse der unteren Bediensteten und Arbeiter im Straßenverkehrsgewerbe.
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gen verursacht, liegt auf der Hand. In einer Zeitungsmeldung aus dem Jahr schreibt ein Kritiker der Elektrifizierung des Verkehrs: „Außerdem ist das Geräusch, welches der Betrieb in den engen Straßen macht, für die Anlieger gar nicht zur ertragen […] Wenn die anliegenden Hausbesitzer gern ihre Wohnung leerstehen haben wollen, dann sollen sie sich nur bereden lassen, für Einführung des elektrischen Betriebes in den engen Straßen zu stimmen...“135
Wahrlich kaum zu ertragen mutet der Lärm in den Anfangspassagen von Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurdis Brigge an. Der Erzähler, den Schlaf nicht finden könnend, scheint malträtiert von den akustischen Erschütterungen von der Straße: „Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Schreibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich ein dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles.“136
Wenn Rilke seinen Protagonisten in einen verzweifelten Vorschlafs-Alp sich wälzen lässt, dann dominiert bei dem Kulturkritiker Theodor Lessing in seiner Streitschrift Über den Lärm die Empörung, die ihn mehr als 80 Seiten füllen lässt. Es bedrohe das Nervensystem, so Lessing, „ein neues Geräusch, das unvergleichlich schrecklicher ist, als aller lärmende Trubel, den die einst lebenden Geschlechter von toten oder lebenden Radauinstrumenten erdulden mussten. Ich denke an die transportablen Maschinen, die Strassenlokomobile, das Motorrad, den Motoromnibus, […].“137 Trotz allem ist Lessing aber kultureller Analyst genug, um zu erkennen, dass der durch den technisierten Massenverkehr verursachte Anstieg des Lärms ein symptomatisches Phänomen moderner Urbanität ist. So schreibt er über den allgegen-
135 Beyer, Heinrich: „Zur Geschichte des hannoverschen Stadtverkehrs“, in: Hannoversche Geschichtsblätter, Neue Folge, 1959, S. 73f. 136 Rilke, Rainer Maria: „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, in: Werke, 6. Bd., S. 710. 137 Lessing, Theodor: Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens, S. 45
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wärtigen Lärmpegel: „Das ist die Morphologie der Stadt.“138 Diese Morphologie kann zuweilen von einiger Schlagkraft sein. Als „Sturzwelle von Luft und Lärm, / Die jäh über die Stirne der Dächer nach vorne prallt / Und durch die Fenster schlägt“139 etwa. Andernorts wird sogar die Kopfhaut von den „Schwingungen des betäubenden Lärms massier(t)“140. Dass „das schallende Geheul der Geschwindigkeit“141 der Verkehrsmittel ohrenbetäubend sei, liest man in ebenso vielen Varianten.142 Neben den vornehmlich mit Bereichen des Optischen in Wechselwirkung stehenden Aspekten des Verkehrs tragen offensichtlich auch seine akustischen – vornehmlich als Reizüberflutung wahrgenommenen – Reize dazu bei, dass die Stadt sich neu figuriert bzw. durch die Wirkungen des Nahverkehrs eine neue Figuration als akustischer Verkehrsraum erfährt. Lessing nun geht es nicht nur darum, die Veränderungen der Wahrnehmungsdispositionen, die an diesen Verkehrsraum gekoppelt sind, aufzuzeigen. Er geht einen Schritt weiter. Er erkennt – aus seiner kulturpessimistischen Position heraus – ein „sozialbiologisches Problem“, das sich an diese Veränderungen der sensorischen Bedingungen anschließt. Es gibt, nach Lessing, auf der einen Seite direkte biologische, die Körperfunktionen betreffende Auswirkungen des modernen Verkehrs. Überzeugt, „dass grosse anatomische Umwandlungen mit dem Menschengeschlechte bevorstehen“, 143 entwirft Lessing ein düsteres Bild der Schwächung des Menschen durch die Einflüsse der Großstadt:
138 Ebd. 139 Wetzel, Hellmuth: „Untergrundbahn“, in: Schutte, Jürgen/Sprengel, Peter (Hg.): Die Berliner Moderne 1885-1914, S. 330f. 140 Müller, Robert: „Manhattan“, in: Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte, S. 140. 141 Kessel, Martin: Herrn Brechers Fiasko, S. 341. 142 In Amerika wird das Lärmaufkommen natürlich noch um einiges stärker erlebt: „Der Lärm ist so stark, daß es fast unmöglich ist, sich selbst durch lautes Schreien verständlich zu machen“, berichtet Rudolf Hensel über die amerikanischen Verhältnisse des Jahres 1928: „Das schlimmste vom Schlimmen war aber für mich das Drehkreuz, das man am Eingang aller und beim Verlassen vieler Stationen kreuzen muß. Für Nervöse, die geräuschempfindlich sind, ist dies Drehkreuz, das aus zwei gewaltigen Holzbalken zusammengefügt ist, der reine Mord.“ Hensel, Rudolf: „Amerika. Aus Tagebuchblättern einer Reise“, in: Sonderdruck aus der Allianz-Zeitung, S. 60. 143 Lessing, Theodor: Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens, S. 49.
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„Zumal der Grosstädter empfindet häufig dunkles Unbehagen, Erschöpfung oder nagendes Ermüdetsein, dessen Quell ihm erst klar wird, wenn die Aufmerksamkeit zufällig auf Geräusche der Umwelt fällt, deren Einwirkung vielleicht schon Tage und Monate von den Nerven ertragen wurde, ohne dass die Störung irgendwie bemerkt worden wäre.“144
An anderer Stelle schließt Lessing noch unmittelbarer an den Neurasthenie-Diskurs an: „Die notgedrungene Gewöhnung an Umgebungsgeräusche jeder Art, wie Zischen, Stossen, Kreischen, Pfeifen und Schreien bewirkt, dass beim Menschen durch andauernde Schwingung der vielen Gehörteile zahllose Nervenstränge chronisch erschlaffen.“145 Ganz ähnlich schreibt ein gewisser Dr. Richard Korherr einige Jahre später: „Tempo, Geschäft ist solchen Berlinern alles. Aber die Hast, der Kampf ums Dasein, der Kampf aller gegen alle, mit allen Mitteln, wozu noch der fürchterliche Lärm der Weltstadt tritt, das Hupen der Automobile, das Rattern und Läutern der Omnibusse und der Straßenbahn, das unterirdische Dröhnen und Donnern der U-Bahn, das Gedränge in den Geschäftsstraßen, das alles erzeugt einen egoistischen, überreizten, müden, geistig erschöpften Menschen.“146
Mit diesen biologischen Wirkungen aber sind wiederum soziale Wirkungen, Veränderungen mithin des Sozialverhaltens, verbunden. „Im modernen Verkehr“, schreibt Lessing, „geht jeder rücksichtslos zugrunde, der sich allzulange unpraktischen Sentiments ergibt.“147
7. N EUKONFIGURIERUNG
DES SOZIALEN
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Die Konditionierungsanforderungen, die an den Bewohner der Großstadt gestellt werden, haben folglich neben den rezeptionsspezifischen und körperlichen, sich nach den technischen Bedingungen richtenden Anpassungsleistungen auch solche zur Folge, bei denen es sich um eine Neukonfiguration des Sozialverhaltens handelt. Notwendig wird sie dadurch, dass sich im öffentlichen Nahverkehr vollkom-
144 Ebd., S. 33. 145 Ebd., S. 32 146 Korherr, Richard: „Berlin“, in: Süddeutsche Zeitung. Monatshefte, H. 6, 27. Jg., März 1930, S. 390. 147 Lessing, Theodor: Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens, S. 49.
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men neue gesellschaftliche Räume – und das heißt immer auch soziale Spannungsräume herstellen. Die zu Anfang dieses Kapitels zitierten Statistiken über die im Verhältnis zum Wachstum der Bevölkerung innerhalb weniger Jahre überproportional ansteigende Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs zeigt, dass er als technisierte Form der Personenbeförderung nicht nur den sozialen Lebens- und Handlungsspielraum des Einzelnen ganz enorm ausdehnt: Die nun mögliche Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz und die damit verbundene Freistellung der Wahl und des Wechsels der Wohngegend zum einen, die Flexibilisierung des sozialen Umfeldes – wozu vor allem die Entstehung einer Ausflugs- und Freizeitkultur zu zählen ist – zum anderen, muss als eine Pluralisierung von Optionen verstanden werden, die eine Individualisierung von Biographien nach sich zieht. Fast wichtiger noch ist die Wirkung des öffentlichen Nahverkehrs als neuer Drehpunkt sozialer Wechselwirkungen, der durch räumliche und institutionelle Kristallisation, die sich mit einer Präsenz in der alltäglichen Lebensorganisation eines Großteils der Metropolenbewohner verbindet, das gesellschaftliche Gefüge, genauso wie die Wahrnehmung dieses Gefüges ganz erheblich beeinflusst. Der öffentliche Nahverkehr bzw. der Massentransport – in der einen wie der anderen Bezeichnung ist diese Tatsache angelegt – hat diese soziale Wirkung mehr als jede andere technische bzw. infrastrukturelle Neuerung der Moderne, weil er eine Infrastrukturleistung ist, die in der Öffentlichkeit platziert ist, für eine breite Öffentlichkeit konzipiert ist und auf diese Weise neue Öffentlichkeiten schafft. Im Bus oder in den Waggons von Straßenbahnen und U-Bahnen entstehen für die Dauer der Fahrt kleine adhoc-Gesellschaften, in denen nicht nur eine bisher nicht gekannte Form sozialer und geschlechtlicher Durchmischung stattfindet. Auch die paradigmatischen Erlebnismuster der Moderne: Vermassung und Anonymisierung werden im öffentlichen Transport zu einer konkreten Erfahrung. Als neu entstehender Drehpunkt sozialer Wechselwirkung, dessen steigende Bedeutung an den umfassenden Ausbau und an die einen großen Teil der Bevölkerung einschließende Klientel des Nahverkehrs gekoppelt ist, entwickelt sich mit dem öffentlichen Transportmittel ein gesellschaftlicher Raum, dessen Einfluss im gesellschaftlichen Diskurs und mithin dessen Bedeutung für die sozialphilosophische Theoriebildung nicht hoch genug einzuschätzen ist. Oder, wie Joseph Roth in schlagender Einfachheit schreibt: „Es liegt ein Sinn in dem sprachlichen Zufall, daß ‚Verkehr‘ in den Straßen der Stadt und ‚Verkehr‘ zwischen Mensch und Mensch denselben Ausdruck haben…“148 Grundlegend anders als die des Nahverkehrs ist in diesem Zusammenhang indes die Bedeutung des Autos. Zwar wird es immer wieder zu dem paradigmatischen
148 Roth, Joseph: „Betrachtung über den Verkehr“, in: Frankfurter Zeitung, 15.11.1924.
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Fortbewegungsmittel, wenn nicht zu der paradigmatischen Technik der Moderne überhaupt erklärt. Sein Einfluss auf die Neukonfiguration des Sozialen kann aber als relativ gering veranschlagt werden. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass das Auto im doppelten Sinne ein exklusives, auf Singularität ausgerichtetes Transportmittel ist. So ist es zum einen bis in die 1930er Jahre ein Privileg der Besserverdienenden – ein Großteil der Bevölkerung nimmt also überhaupt nicht an dieser Art der Fortbewegung teil.149 Und diese Exklusivität des Fahrens setzt sich in der direkten Situation der Fahrt fort: Im Auto fährt man allein oder mit wenigen bekannten Personen, so dass sich ein neuer sozialer Raum gar nicht erst herstellen kann. Die öffentlichen Verkehrsmittel hingegen zeichnen sich genau durch diese Aspekte aus: Sie stellen neue Formen der Öffentlichkeit dadurch her, dass fremde Menschen auf engstem Raum zusammenkommen. Zudem ist der Nahverkehr allen Bevölkerungsschichten zugänglich. Bereits in der photographischen Dokumentation der Präsentation erster Straßenbahnen auf der Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung in Frankfurt am Main im Jahre 1891 werden sie als eine Infrastruktur präsentiert, die ganz explizit den Anschluss an das Gesamt der Bevölkerung sucht. Während es grundsätzlich üblich ist, nur Bilder von menschenloser Technik, von Hallen, Einrichtungen und Ausstellungsgegenständen auszustellen, werden die Straßenbahnen fast durchweg mit Publikum abgebildet. „Das Moment der ‚Volkstümlichkeit‘, das auf diese Weise inszeniert wurde“, heißt es dazu in der rückblickenden Dokumentation der Ausstellung, „war der bildhafte Anspruch des Verkehrsmittels, für alle dazusein.“150 Dieser Anspruch setzt sich in den Nutzungsbedingungen fort. So gibt es in Wien, dessen Straßenbahnsystem dem von Berlin schnell ebenbürtig ist, ab 1903 einen verbilligten Tarif bei Fahrten vor 7.30 Uhr speziell für Fabrikarbeiter. Die Arbeiter sind es auch, die in Berlin in den Morgenstunden die Straßenbahnen füllen.
149 Der durchschnittliche Anschaffungspreis für einen PKW betrug 1913 etwa 10.000 RM. Bei 9.000 RM jährlichen Betriebskosten war daher ein Jahreseinkommen von 25.000 bis 40.000 RM (das entsprach dem Jahresgehalt eines Reichskanzlers) zu Kauf und Haltung erforderlich. Der Preis für Motorräder bewegte sich von 1903-1914 je nach Marke, Hubraum und PS zwischen 700 und 1.300 RM. Vgl. Herz, Dieter/Reese, Karl: Die NSU-Renngeschichte 1904-1956, S. 24. Der Jahresdurchschnittslohn eines Arbeiters betrug in jenen Jahren ca. 1.200 RM. Nach Abzug aller Kosten konnte ein Arbeiter im günstigsten Fall ca. 120-150 RM im Jahr ansparen. Vgl. Flemming, Jens: „‚...von Jahr zu Jahr ein Sorgen und Bangen ohne Ende.‘ Einkommen, Lohn, Lebensstandard“, in: Ruppert, Wolfgang (Hg.): Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur, S. 139. 150 Deutsches Historisches Museum in Frankfurt am Main (Hg.): „Eine neue Zeit...!“ Die Internationale Elektrotechnische Ausstellung 1891, S. 207.
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„Um halb sieben Uhr früh fuhr ich aus der Seestraße im Norden, aus der Gegend, wo die Arbeiterhäuser stehen, der Friedrichstadt zu“, schreibt Egon Erwin Kisch in einer seiner Berlin-Reportagen: „Der Wagen war vollgepfercht, alle Fahrgäste kannten einander, sie waren aus derselben Straße, manche vielleicht aus demselben Haus, und allmorgens fahren sie gemeinsam in die Fabriken.“151 Proletarisches Publikum – „Männer mit Werkzeugmappen, Burschen in Lederjoppen, Büroangestellte, Arbeiter, Frauen mit Taschen und Kindern“152 – sieht man dann auch nach Feierabend, als „arbeitsmüdes Volk aus überstopften Trambahnen steig(end)“, 153 auf dem Weg in seine Wohnviertel. Die Zusammensetzung der Benutzer der öffentlichen Transportmittel umfasst aber „nicht nur die kleinen Beamten und Angestellten und die […] Arbeiter, sondern auch die im Westen und Südwesten Berlins wohnenden leitenden Angestellten, die Beamten und Unternehmer“ und geht damit quer durch alle Bevölkerungsschichten.154 Nachhaltig verstärkt wird diese neue Erfahrung sozialer Durchmischung durch die nicht gekannte Enge und körperliche Konfrontation mit einer Vielzahl fremder Menschen, die für einen mehr oder weniger kurzen Streckenabschnitt den Waggon, vielleicht sogar die Sitzbank miteinander teilen müssen. Noch einmal sei an Simmels Hinweis auf die das soziale Erlebnis geradezu revolutionierende Rolle der öffentlichen Verkehrsmittel erinnert, der zufolge die Menschen vor der Etablierung des Massentransports nicht fähig waren, „sich minuten- bis stundenlang gegenseitig anblicken zu können oder zu müssen, ohne miteinander zu sprechen. Der moderne Verkehr gibt, was den weit überwiegenden Teil aller sinnlichen Relationen zwischen Mensch und Mensch betrifft, diese in noch immer wachsendem Maße dem Gesichtssinne anheim und muß damit die generellen soziologischen Gefühle auf ganz veränderte Voraussetzungen stellen.“155
Ohne dass die grundsätzliche Bereitschaft bzw. die Möglichkeit bestehen würde, die Schwelle der Distanz und Anonymität zu überwinden, sieht sich das Individuum
151 Kisch, Egon Erwin: „Experiment mit einem hohen Trinkgeld“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 53f. 152 Kracauer, Siegfried: „Proletarische Schnellbahn“, in: Schriften, Bd. 5.2: Aufsätze 19271931, S. 180. 153 Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin, S. 192. 154 Stimmann, Hans: „Weltstadtplätze und Massenverkehr“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Gillen, Eckhart (Hg.): Die Metropole: Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, S. 139. 155 Simmel, Georg: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“, in: Gesamtausgabe, Bd. 11. S. 727.
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während der Fahrt im öffentlichen Transportmittel schutzlos den Blicken der Fremden ausgeliefert. Und gleichzeitig ist es natürlich immer auch selbst Empfangender flüchtiger Persönlichkeitssegmente der Anderen, die diese nicht unbedingt freiwillig preisgeben. Nicht nur, dass man sich gemeinsam in einem relativ kleinen Raum befindet, auch das räumliche Arrangement innerhalb des Fahrgastraums intensiviert die Bedeutung als Ort sozialer Wechselwirkung. Mancher spricht sogar von der „furchtbare(n) Tatsache“, dass „die Fahrgäste sich über die ganze nicht endenwollende Länge der einzelnen Wagen hin gegenübersitzen“156. Das Erlebnis sozialer Konfrontation im öffentlichen Nahverkehr, das zu einer Erfahrung wird, die fast alle Großstädter teilen, wird in der sozialphilosophischen Theoriebildung zum Anlass, über die Genese und Bewahrung von Individual- und Gruppenidentitäten neu nachzudenken. Parallel zu den im vorangegangenen Kapitel erläuterten Theorien des Reizschutzes bilden sich in der Auseinandersetzung mit den Formen der Öffentlichkeit, wie sie durch die öffentlichen Verkehrsmittel entstehen, Konzepte der Individualitätssicherung in der Konfrontation mit den Dynamiken der Massengesellschaft heraus. Zur grundlegenden Kompetenz des modernen Großstädters wird wiederum eine Variante dessen erklärt, was im vorangehenden Abschnitt die „Selektierung von Datenflüssen“ bezeichnet worden ist. In diesem Fall bezieht sich die Fähigkeit zur Selektierung aber sehr viel konkreter auf die Wahrnehmung anderer Menschen. Es ist „eine erstaunliche Fähigkeit der Berliner Seele, die noch dazu durch ständige Übung gesteigert wurde“, schreibt Walter Kiaulehn über die Distanznahme durch bewusste Ignoranz, „daß vier Millionen Menschen zur gleichen Zeit nur das sahen, was sie sehen wollten. Die Berliner konnten nicht nur die Fabriken wegzaubern, sondern auch Menschen.“ 157 Diese moderne Form des Sehens bedingt, so Jünger, dass der einzelne Mensch als individuelles Ganzes weder selbst als solches erfasst werden, noch sein Gegenüber in seiner Vollständigkeit aufnehmen kann. Die Notwendigkeit zur selektiven Wahrnehmung lässt den Menschen die Metropolen durchqueren, „ohne daß eine besondere Person, ein besonderes menschliches Ge-
156 Theunissen, Gerd H.: „Berliner U-Menschen“, in: Kölnische Zeitung vom 17.5.1943, Abendblatt. Dagegen bringt das Telefon eine den öffentlichen Verkehrsmitteln diametral entgegengesetzte Qualität in das Sozialverhalten. Während man sich in den Fahrzeugen extremem Blickkontakt ausgeliefert sieht, ohne im Normalfall miteinander zu sprechen, ist durch das Telefon eine Kommunikation möglich, ohne dass man den Gesprächspartner sehen kann noch sich im selben Raum mit ihm befindet. 157 Kiaulehn, Walter: Berlin. Schicksal einer Weltstadt, S. 557.
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sicht in seiner Erinnerung haften geblieben ist“, und „das ist seltsam in einem Zeitalter, in dem er (der Mensch, W.P.) en masse auftritt“158. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang ein Experiment, das die Berliner Morgenpost in Zusammenarbeit mit der Berliner Kriminalpolizei im November 1919 veranstaltet. Es handelt sich um eine mit immerhin 2.000 Mark dotierte Reporterjagd. Aufgabe ist, ein auf zahlreichen Litfasssäulen Berlins plakatiertes Gesicht eines Redakteurs, der von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends auf den Straßen unterwegs ist, mit den Worten „Augen auf!“ zu identifizieren. Der Gesuchte, der U-Bahn fährt, sich im Kaufhaus Wertheim photographieren lässt und sogar bei der Polizei einen Diebstahl meldet, wird nicht erkannt. Als das Experiment eine Woche später wiederholt wird, identifiziert ein dreizehnjähriger Junge den Reporter bereits morgens um zehn vor elf. 159 Wie es den Anschein hat, haben bei der Wiederholung des Versuchs einige Berliner – entgegen dem sonst üblichen Wahrnehmungsmodus des Übersehens des Individuellen – ihre Aufmerksamkeit speziell auf die ausgeschriebene Person konzentriert. Ganz offensichtlich kann man bei der modernen Form des selektiven Sehens nicht von einem Fähigkeitsverlust sprechen, sondern es handelt sich vielmehr um eine bewusst eingesetzte und einsetzbare Sinnesfunktion. „[…] das Aneinander-Gedrängtsein und das bunte Durcheinander des großstädtischen Verkehrs wäre ohne jene psychologische Distanzierung einfach unerträglich“,160 befindet Georg Simmel und fügt an anderer Stelle hinzu: „Der moderne Mensch wird von Unzähligem chokiert, Unzähliges erscheint ihm sinnlich unaushaltbar, […]. Und unvermeidlich bringt dies eine größere Isolierung, eine schärfere Umgrenzung der personalen Sphäre mit sich.“161 Diese durch infrastrukturelle Erschließung der Gesellschaft notwendigen Veränderungen im Sozialverhalten sind ein klassischer Anknüpfungspunkt für jene technikkritischen Stimmen, wie sie im ersten Teil dieser Arbeit erläutert worden sind. Was die anthropologische und kulturelle Entwicklung angeht, ist technischer Fortschritt – so der durchgehende Tenor – einzig unter der Perspektive des Verlusts zu sehen. Stellvertretend sei an dieser Stelle Ferdinand Tönnies genannt, der mit seiner 1912 erschienen Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft zahlreiche Befürworter gefunden hat. Tönnies vertritt darin die Überzeugung, dass die Rationalisierung
158 Jünger, Ernst: „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“, in: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 105. 159 Vgl. Jameson, Egon: Augen auf! Streifzüge durch das Berlin der zwanziger Jahre, S. 44-72. 160 Simmel, Georg: „Philosophie des Geldes“, in: Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 542. 161 Ders.: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“, in: Gesamtausgabe, Bd. 11, S. 734.
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des Gemeinschaftszusammenhangs, wie sie in der eben beschriebenen Weise in modernen Gesellschaftsformen notwendig wird, dem anthropologischen Vermögen entgegenstehe, es sogar schlichtweg überschreite. Helmuth Plessner indes, der mit seinen soziologischen und philosophischen Arbeiten zu den wichtigsten Vertretern der philosophischen Anthropologie zählt, entlarvt nicht nur Tönnies Appell an einen nebulösen Gemeinschaftsethos als zweifelhafte Legitimationsbasis für alle Formen politischer Radikalität.162 Viel wichtiger ist in diesem Zusammenhang und mit Blick auf die von der Technikkritik grundsätzlich aufgemachten Verlustrechnungen, dass Plessner die durch Rationalisierung und Technisierung in Gang gesetzten Entwicklungen als kulturelle Notwendigkeiten sogar befürwortet. Vor allem mit seiner Schrift Die Grenzen der Gemeinschaft aus dem Jahr 1924, in der er den traditionellen Begriff sozialer Gemeinschaft unter den Voraussetzungen der Moderne einer kritischen Revision unterzieht, wird Plessner zum maßgeblichen Theoretiker einer neuen Sozialethik, die sich zur Aufgabe macht, die produktiven Potentiale stark zu machen, die sich aus dem zivilisatorischen Fortschritt ergeben. Wesentliches Kennzeichen des neuen gesellschaftlichen Typus, der als „kalte persona“163 in den geisteswissenschaftlichen und individualpsychologischen Diskurs eingeht, ist sein Einverständnis mit den urbanen Bedingungen der Moderne. Was Fortschrittskritiker als defiziente kulturelle Erfahrung des drohenden Persönlichkeitsverlusts und der verletzten Schamgrenzen beschreiben, das wird mit der offensiven Proklamierung dieses neuen gesellschaftlichen Typus in die aktive Verhaltenskategorie der Stärke und des Stolzes umgewandelt. So werden die technisierten und funktionalisierten Organisationsmechanismen der Moderne, wie sie die Menschen nachgerade im System des öffentlichen Nahverkehrs erleben, von Plessner nicht mehr „als Sphäre des uneigentlichen ‚Man‘ verwünscht, sondern als offener Möglichkeitshorizont des Menschen aufgewertet“, 164 in dem die autonom verfügbaren Denk- und Handlungsfreiräume des Subjekts im Gegensatz zur engen ideologischen Vereinheitlichung innerhalb des irrational verschwörerischen Gemeinschaftszusammenhangs erheblich angewachsen sind. Natürlich bergen diese neu gewonnenen Freiheiten auch Risiken: Die durch die abnehmende Kontrollfunktion der Gemeinschaft entstehenden Spielmöglichkeiten
162 Vgl. Plessner, Helmuth: „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus“, in: Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 43. 163 Vgl. insbesondere Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. 164 Lethen, Helmut: „Die elektrische Flosse Leviathans. Ernst Jüngers Elektrizität“, in: Emmerich, Wolfgang/Wege, Carl (Hg.): Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära, S. 19.
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individueller Autonomie schließen die Preisgabe des ganzheitlichen Aufgehobenseins im gemeinschaftlich reglementierten Schutzraum ein. Außerhalb der sicheren Schranken der Gemeinschaft muss das Individuum vollkommen auf sich gestellt in den Verkehrszusammenhang gesellschaftlicher Wechselwirkungen eintreten. Damit setzt es sich natürlich immer auch der Gefahr des Versagens innerhalb der Handlungsanforderungen der Gesellschaft aus. „Im kollektiven Grinsen über einen Alten, der in die automatischen Türen der Straßenbahn eingeklemmt ist, im abschließenden Kommentar: ‚Der hot Angst um sei' Rüb'!‘ wird Brutalität gesellschaftlich ritualisiert“, erläutert Adorno die Reaktionen auf dieses Versagen: „Als soziales Phänomen stellt, nach diesem Schema, Lachen sich ein, wo das Besondere gleichsam seiner logischen Form nach als Störenfried des Allgemeinen verurteilt wird.“165 Einerseits will man also die mit der Rationalisierung verbundenen individuellen Freiheiten nutzen – eben die Flexibilität von Wohn- und Arbeitsplatz genauso wie die Optionalisierung des Freizeitverhaltens. Andererseits will man die Verletzung der eigenen Schamgrenzen vermeiden, wie sie Adorno am Beispiel des kollektiven Lachens über die Ungeschicklichkeit des alten Mannes beim Benutzen der Straßenbahn beschreibt. Zu diesem Zweck wird das Prinzip der Selektierung, wie es bereits für die Wahrnehmung anderer Passagiere erläutert worden ist, auf das Individualverhalten übertragen. So stellt sich der moderne Mensch, als kalte persona, dem gesellschaftlichen Kontext nicht mehr als vollständige Persönlichkeit gegenüber, sondern entäußert nur mehr noch eines seiner Segmente in Form einer universellen Typik, die im Vorgang der „Bewegungsmimikry entlang der Technisierungs- und Rationalisierungsprozesse modernster Verkehrs- und Medien-Zirkulation“166 konstituiert wird. „Die Technisierung macht einstweilen die Gesten präzis und roh und damit die Menschen“, schreibt in gewohnt zivilisationskritischem Gestus Adorno über das Phänomen der Angleichung des menschlichen Sozialverhaltens an die Bedingungen seiner Apparaturen: „Sie treibt aus den Gebärden alles Zögern aus, allen Bedacht, alle Gesittung.“167 „Der Mensch“, so Plessner, „verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne jedoch völlig als Person zu verschwinden.“168 Durch die Strategie der Beschränkung seiner
165 Adorno, Theodor W.: „Soziologische Schriften I: Anmerkungen zum sozialen Konflikt“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 26. 166 Fischer, Joachim: „Panzer oder Maske. ‚Verhaltenslehren der Kälte‘ oder Sozialtheorie der ‚Grenze‘“, in: Eßbach, Wolfgang/Fischer, Joachim/Lethen, Helmut (Hg.): „Grenzen der Gemeinschaft“. Eine Debatte , S. 82. 167 Adorno, Theodor W.: „Minima Moralia“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 43. 168 Plessner, Helmuth: „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus“, in: Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 40. Indem er sie als grundlegende Kategorien
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Repräsentation auf einen spezifischen Teilaspekt verzichtet der Mensch auf die umfassende individuelle Achtung, um dadurch den verborgenen Rest vor den möglichen Deformationen durch das Soziale zu verbergen. Die Maske wird damit zu einer künstlichen Ausdrucksgrenze, die „im Ausdruck zum Ausdruck Abstand wahrt“169. Walter Kiaulehn erklärt: „Der Berliner hat zwei Arten von Gesichtern, ein öffentliches und ein privates. Das öffentliche Gesicht zeigt ihn als Mann der Masse. Es ist sein ‚Verkehrsteilnehmergesicht‘, eine seltsame Maske, bewußt unpersönlich, gespannt und gleichzeitig abwesend. […] Dieses Gesicht setzt der Berliner morgens auf, wenn er die Tür hinter sich zuschlägt.“170
Wenn innerhalb der rationalisierten Strukturen der Moderne Plessner diese Künstlichkeit einer verallgemeinerten sozialen Gestalt nicht als Ausdruck einer degenerierten Kultur gilt, sondern „als genuines Mittel humanen Verhaltens“,171 dann trifft er sich, ohne deren tragische Komponente zu teilen, mit der Gesellschaftsanalyse
der Antike offen legt, bestimmt auch Oswald Spengler die soziale Objektivation vermittels der Maske und des Gestischen als genuin anthropologische Konstante und eben nicht als Moment der modernen Degeneration: „Es versteht sich also von selbst, daß wir, dem antiken Lebensgefühl zugewendet, dort ein Grundelement der ethischen Wertung finden müssen, das dem Charakter ebenso entgegengesetzt ist [...]. Es ist die Geste. Damit ist das Grundprinzip einer seelischen Statik gegeben, und das Wort, welches an Stelle unsrer „Persönlichkeit“ in den antiken Sprachen steht, heißt , persona, nämlich Rolle, Maske.“ Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, S. 405. 169 Plessner, Helmuth: „Das Lächeln“, in: Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 426. An anderer Stelle heißt es bei Plessner über die Funktion der Maske: „Sie rettet die Würde, indem sie der schwer fasslichen, natürlichen das Äquivalent einer irrealen, aber klar umgrenzten Würde bietet.“ Plessner, Helmuth: „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus“, in: Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 84. Und, so Simmel, gleichfalls für die Betrachtung des fremden Individuums ist die Typisierung des Besonderen notwendig: „Wir sehen den Andern in irgend einem Maße verallgemeinert. Vielleicht, weil es uns nicht gegeben ist, eine von der unsern abweichende Realität völlig in uns zu repräsentieren.“ Simmel, Georg: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“, in: Gesamtausgabe, Bd. 11, S. 47. 170 Kiaulehn, Walter: Berlin. Schicksal einer Weltstadt, S. 20. 171 Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, S. 9.
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Georg Simmels, der ebenfalls die Existenz formgebender Gestalten für die Entfaltung des amorph Lebendigen zur Bedingung macht. 172 Um also innerhalb der Koordinaten des Gesellschaftlichen, gleichzeitig aber außerhalb ihrer Beschränkungen seine persönlichen Motive verwirklichen zu können, muss das Individuum in seinem Auftreten als soziale Teilperson, als kalte persona, den Umweg über die sozialen Formen nehmen und insofern gewissermaßen ‚Steuern‘ an die Gesellschaft zahlen, gewinnt damit aber im Gegenzug einen Status der Autonomie, der es ihm erlaubt, im Schutze beliebig variierbarer typisierter Gestalten mit souveränem Kalkül im öffentlichen Gesellschaftsapparat zu agieren, ohne sich dabei in seinem Wesen preisgeben zu müssen. 7.1 Das Erotische des öffentlichen Raums: Frauen als Passagiere Ganz unabhängig von der Diskussion darüber, wie diese Neupositionierungen des Einzelnen im öffentlichen Raum letzten Endes zu bewerten sind, gibt es zumindest eine Verschiebung sozialer Grenzen, die – zumal von den männlichen Nahverkehrsbenutzern – mit großer Zustimmung aufgenommen wird. Jene Verschiebung, durch die der öffentliche Nahverkehr zu einem Raum wird, in dem außerhalb offiziell reglementierter gesellschaftlicher Ereignisse gerade junge Frauen, zumeist ohne Begleitung, täglich anzutreffen sind. Das gilt zum einen für das Personal: Nach 1914, als große Teile der männlichen Angestellten an die Fronten des Ersten Weltkriegs eingezogen werden, müssen Schaffner- und Fahrerpositionen verstärkt mit weiblichen Kräften besetzt werden. 173 Im Gegensatz zu Berlin ist in Wien das weibliche Personal in öffentlichen Verkehrsmitteln nur ein vorübergehendes Phänomen. Joseph Roth nimmt den endgültigen Dienstschluss der Schaffnerinnen Ende Oktober 1919 zum Anlass, um noch einmal ausführlich zu rekapitulieren, welche Reize die männlichen Fahrgäste künftig werden entbehren müssen:
172 In Übereinstimmung mit Simmel basiert Plessners Anschauung auf dem Begriff der exzentrischen Positionalität, dessen kopernikanische Konsequenz darin besteht, dass nur durch die Ausdruckskategorie der Maske menschliche Wirklichkeit überhaupt möglich ist. „Bekleidung mit Form, Maske, Schauspielen sind in den Grenzen der Gemeinschaft jene Akzidenzien, die für die Seele als Substanz wesentlich sind.“ Haucke, Kai: Plessner zur Einführung, S. 24, vgl. auch S. 21. Bei Friedrich Nietzsche heißt es: „Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, [...].“ Nietzsche, Friedrich: „Jenseits von Gut und Böse“, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. VI/2, S. 54. 173 Vgl. Ministerium für öffentliche Arbeiten (Hg.): Zeitschrift für Kleinbahnen, XXVII. Jahrgang, Januar 1920, S. 1-13.
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„Sie war gewöhnlich blond, was durchaus nicht nach den Dienstvorschriften war, sondern im Gegenteil – nach irgendwelchen geheimen, göttlichen Dienstvorschriften. […] Sie zwängte ihre reizende Schlankheit anmutig durch die Menschenleiberlabyrinthe, und trat sie einem auf die Zehen, so sagte sie nichts, sondern sah ihm nur in die Augen. […] Wenn sie gerade in einer „Blauen“ Dienst machte und ich Fahrgast war, so wünschte ich, daß sich die Strecke in die Unendlichkeit dehnen möge. Ich fuhr bis zur Remise und ging dann zu Fuß zurück. Und nicht immer allein.“174
Aber auch der grundsätzliche Anstieg berufstätiger Frauen, die sie auch zu Verkehrsteilnehmern macht, führt dazu, dass für den männlichen Passagier schon mal „das Fehlen oder Vorhandensein von gut aussehenden Damen für die Wahl des Wagens maßgebend“175 werden kann. 176 Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war – wollten sie nicht in den Verdacht moralischer Anrüchigkeit kommen – die Bewegungsfreiheit von Frauen im öffentlichen Raum äußerst begrenzt und in jedem Fall an männliche Begleitung gebunden. Mit der Zunahme der Berufstätigkeit von Frauen und mit der Entstehung neuer öffentlicher Räume wie der öffentlichen Verkehrsmittel, die außerhalb der alten Etiketten liegen, beginnen sich diese Grenzziehungen immer mehr aufzulösen. Gerade aber an den zwischengeschlechtlichen Konstellationen, zu denen es im urbanen Alltag kommt, zeigt sich, inwiefern historische Schwellensituationen immer wieder Anlass für Konflikte bergen. Der Historiker Moritz Föllmer etwa weist auf eine Leserdebatte hin, die sich noch 1930 in der B.Z. am Mittag entspinnt: Anlass ist die Beschwerde eines Lesers, dass ihm Frauen nie einen Platz in der U-Bahn angeboten hätten, als er nach einem Beinbruch am Stock gegangen sei. Zahlreiche Frauen melden sich daraufhin bei der B.Z., um sich ihrerseits über die männlichen Verkehrsteilnehmer zu beschweren, die in ihrer Rücksichtslosigkeit noch nicht einmal Schwangeren einen freien Platz überlassen würden. Vielschichtiger noch ist das zweite Beispiel, das Föllmer anführt: Die Empörung eines Mannes darüber, der eine elegante Dame darauf hingewiesen hatte, dass eine Nadel aus ihrem Mantel rage, sie aber mit keinem Wort oder Blick auf ihn reagiert habe, wird von den Le-
174 Roth, Joseph: „Abschied von der Schaffnerin“, in: Werke, Bd. 1: Das journalistische Werk 1915-1923, S. 156-158. 175 Theunissen, Gerd H.: „Berliner U-Menschen“, in: Kölnische Zeitung, 17.5.1943, Abendblatt. 176 Der Anteil der großstädtischen weiblichen Angestellten (Verkäuferinnen, Stenotypistinnen, Sekretärinnen und andere) betrug 1925 bereits 12,6 Prozent der Angestelltenschaft. Auch erhöhte sich der Anteil der Studentinnen zwischen 1919 und 1932 von sieben auf 16 Prozent.
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sern so kommentiert: „Sie versäumten es, Ihre ‚Höflichkeit und Menschenfreundlichkeit‘ mit Takt zu verbinden, und das Verhalten der Dame war nicht unhöflicher als ihr eigenes.“177 „Solchen und anderen Alltagskonflikten“, kommentiert Föllmer, „lag ein tieferes Problem zugrunde. Einerseits blieb ein bürgerliches Höflichkeitsverständnis auch in der Weimarer Republik präsent und wurde gerade von den Frauen eingeklagt. Andererseits hatte es aber an Geltung verloren und wurde teils wissentlich verletzt, teils durch das raue Klima einer modernern Metropole, in deren Verkehrssystem sich zudem unterschiedliche soziale Gruppen mischten, unterminiert.“178
Vicki Baum, als literarische Vertreterin der „neuen Frau“, ruft explizit mit Blick auf die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ihre Geschlechtsgenossinnen dazu auf, „die Arbeit, das Müdesein und die Unfreundlichkeit der Außenwelt“179 genauso zu ertragen wie die männlichen Verkehrsteilnehmer. Nicht zu vergessen indes ist die andere Seite. Dass die Anwesenheit gerade von jungen Frauen in den Wagen des öffentlichen Nahverkehrs immer mehr an Normalität gewinnt, wenn diese auch nicht konfliktfrei ist, ändert nichts daran, dass nicht nur die Aufmerksamkeit der männlichen Fahrgäste dadurch ganz besonders erregt wird. In Iwan Golls Gedicht Unterwelt wird die U-Bahn, die mehr noch als die überirdischen Verkehrsmittel stimulierend auf die Vorstellungskraft zu wirken scheint, zu einem Ort, an dem sich sinnliches Begehren und poetische Imagination vermischen: „Das goldne Auto gleitet wie ein Kahn auf nächtlich tiefem Boulevard. / […] Da stößt Cupido goldne Türen auf, und rosa Tänzerinnen schleudern ihre Beine wie Seraphen. / […] Ein Maurer, stieg er eben aus dem Untergrundbahntunnel / Mit einem weißen, schimmerweißen Kittel. / Doch brennt ein schwarzer Fleck darin, sein ausgehungert Herz. / Musik! Musik! Die Erde ist versteinte Musik! / Die lös ich wieder frei mit Dirnen schönen Namen.“180
Nicht nur Golls Text zeigt: Die körperliche Nähe zu fremden Menschen, die man während der Fahrt im innerstädtischen Massenverkehrsmittel erlebt und die bisher in ihren bedrängend-irritierenden Komponenten beschrieben worden ist, birgt genauso Potentiale des Reizvollen, indem ein bisher nicht gekannter Freiraum intensi-
177 Tribüne für alle. Fiasko der Höflichkeit, Tempo, 17.11.1932. 178 Föllmer, Moritz: „Die Berliner Boulevardpresse und die Politik der Individualität in der Zwischenkriegszeit“, in: Hardtwig, Wolfgang: Ordnungen in der Krise, S. 302. 179 Baum, Vicki: „Güte der Frau“, in: B.Z. am Mittag, 31.7.1930. 180 Goll, Iwan: „Unterwelt“, in: Die Aktion 1917, Nr. 39/40, Sp. 532ff.
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ver assoziativer Beobachtung des, in der Regel, anderen Geschlechts entsteht. 181 So gewinnt die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel durchaus an reizvollen Momenten. Otto Julius Bierbaum schwärmt in Gedichtform: „Ach wie schön sie ist, meine Nachbarin! / Blaue Augen hat sie und ein Grübchenkinn, / Blonde Haare steigen ihr vom Nacken an, / […] Und ich schätze sie auf höchstens neunzehn Jahre alt. / Eine Augenweide ist sie, ein Genuß! / „Neue Friedrichstraße!“ Hält der Omnibus.“182
Mindestens ebenso nah, wie Bierbaum im Bus dem Nacken seiner Sitznachbarin kommt, rückt in Kafkas Erzählung Der Fahrgast der männliche Beobachter einem jungen Mädchen, das neben ihm auf der Plattform der Straßenbahn steht: „Sie erscheint mir so deutlich, als ob ich sie betastet hätte“, heißt es über das fast unmittelbar Körperliche der Begegnung: „Sie hat viel braunes Haar und verwehte Härchen an der rechten Schläfe. Ihr kleines Ohr liegt eng an, doch sehe ich, da ich nahe stehe, den ganzen Rücken der rechten Ohrmuschel und den Schatten an der Wurzel“. 183 Robert Walser erzählt: „Einmal riet mir einer, ich möchte Straßenbahner werden, da könnt’ ich täglich Frauen aufs artigste behilflich sein.“184 Das Auftauchen weiblicher Fahrgäste vermag mitunter gar die Stimmung eines ganzen Wagens vollkommen umzukrempeln: „Pums, da platzt etwas herein in die rollende maulende Misere. Hast du schon etwas Hübscheres gesehen, Mutter und Tochter – […]. Ein Brillenknabe ist der erste, der umschwenkt. Ein Börseaner kann seine Augen nicht von ihnen wenden. Dem Schriftsteller, dem der Magen mehr knurrt als den anderen, eröffnen sich himmlische Aspekte. […] Der ganze Waggon baumelt plötzlich mit den Beinen, wackelt mit den Köpfen, spitzt das Mündchen, um zu pfeifen.“185
In seinen Reflexionen zur Soziologie des Raumes definiert Georg Simmel die räumliche Nähe als die wesentliche das Prinzip von Lust bzw. Unlust bestimmende Kategorie. Kann die Potenzierung körperlicher Nähe einerseits eine sich bis zum Ausbruch direkter Gewalt steigernden Aversion bewirken, so ist andererseits
181 Vgl. auch Ortega y Gasset, José: Ästhetik in der Straßenbahn, S. 102-112. 182 Bierbaum, Otto Julius: Wundersames Abenteuer in einem Omnibus und einem Hausflur. 183 Kafka, Franz: „Der Fahrgast“, in: Sämtliche Erzählungen, S. 16. 184 Walser, Robert: „Tramfahrt“, in: Wenn Schwache sich für stark halten. Prosa aus der Berner Zeit 1921-1925, S. 25. 185 Flesch, Hans: „Die Untergrundbahn lacht“, in: Berliner Tageblatt, 14.12.1928.
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„räumliche Nähe für die Erregung des Geschlechtstriebs“186 der ausschlaggebende Faktor. Dementsprechend erklärt Max Weber in seiner Religionssoziologie die Sphäre des Erotischen zur Antithese der These vom Vorherrschen von Askese und kalter Sachlichkeit im „stahlharte(n) Gehäuse“187 der modernen Gesellschaft. Die erotische Sensation wird Weber zur „innerweltlichen Erlösung vom Rationalen“, die spezifisch moderne Form ekstatisch-flüchtiger Liebe in ihrem Primat der visuel-
186 Simmel, Georg: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“, in: Gesamtausgabe, Bd. 11, S. 742. Eben in der Szenerie einer nächtlichen Straßenbahn lässt Thomas Mann im 42. Kapitel von Doktor Faustus die Aspekte von Gewalt und Liebe kollidieren. Der aus enttäuschter Liebe begangene Mord an dem Geiger Rudolf Schwerdtfeger durch Ines Institoris geht zurück auf einen historischen Fall aus dem Jahr 1901, als in Dresden der Kammermusiker Adolf Gunkel von einer abgewiesenen Verehrerin in einer vollbesetzten Straßenbahn erschossen wird. Wenn auch Thomas Mann erst in seinem 1947 erschienen Roman direkt die Episode des Straßenbahnmordes verarbeitet, so zeigt doch sein Brief an Hilde Distel vom 14.3.1902, die er um eingehendere Informationen zu dem Verbrechen bemüht, seine frühzeitige Auseinandersetzung mit diesem Motiv. Mann, Thomas: Briefe 1889 – 1936, S. 31ff. Vgl. dazu auch Mann, Thomas: Die Entstehung des Doktor Faustus, 14. Kapitel. Eine Variante des Motivs der Verbindung von Liebe und Tod in Zusammenhang mit dem Straßenbahn-Topos findet sich in den einleitenden Passagen von Manns Tod in Venedig: Seinen Spaziergang beendend, erwartet Gustav Aschenbach „am Nördlichen Friedhof die Tram, die ihn in gerader Linie zu Stadt zurückbringen sollte“. Mann, Thomas: „Der Tod in Venedig“, in: Erzählungen, S. 494. Unterbrochen aber wird die künftige Gradlinigkeit seines Lebens, als er während seines Wartens auf die Straßenbahn, angeregt durch die Beobachtung eines fremden Mannes, zu derjenigen Reise verführt wird, auf der er nicht nur der leidenschaftlichen Liebe zum jungen Tadzio verfallen, sondern auch den Tod finden wird. Sowohl das erotische, im plötzlichen Auftauchen des Aschenbach augenblicklich faszinierenden Mannes, als auch das Todesmotiv, in der Ortsangabe des Friedhofs, sind der Episode an der Straßenbahnhaltestelle bereits eingeschrieben. A Streetcar Named Desire heißt Tennessee Williams als Endstation Sehnsucht übersetztes Schauspiel aus dem Jahr 1947 im Original, und mit eben dieser Straßenbahnlinie namens Sehnsucht kommt Blanche DuBois, voller Hoffnung und Leidenschaft nach einem neuen Leben, bei ihrer Schwester und ihrem Schwager an. Es gibt diese Straßenbahnlinie tatsächlich, sie fährt in New Orleans die Royalstreet hinauf. Die Gegenrichtung aber heißt Cemetery, Friedhof, und sagt damit das eigentliche Schicksal von Blanche voraus. 187 Weber, Max: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, S. 203.
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len Attraktion sieht er „den kalten Skeletthänden rationaler Ordnung ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltages“188. Das surrealistische Motiv der flüchtigen Liebe zur unbekannten Passantin, wie es sich in André Bretons Roman Nadja als eine Art Grundkonstellation der Erotisierung des anonymen Alltagserlebnisses in der modernen Metropole findet, mag in seiner ephemeren Zufälligkeit zwar die fatalistische Einsicht des modernen Menschen in die Fiktionalität dauerhaft erfüllbarer Liebe bedingen, 189 birgt aber zugleich das Wissen um die Erreichbarkeit der sinnlichen Stimulation zumindest für den Augenblick.190 „Durch all den Frühling kommt die fremde Frau. / Der Strumpf am Spann ist da. Doch wo er endet, / ist es weit von mir“, heißt es in Gottfried Benns Gedicht Untergrundbahn über die Phantasie stimulierende Beobachtung eines weiblichen Fahrgasts: „Dunkel: nun lebt es unter ihren Kleidern: / nur weißes Tier, gelöst und stummer Duft.“191
188 Ders.: „Zwischenbetrachtung. Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung“, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, S. 560f. Im Zusammenhang mit dem visuellen Aspekt des Erotischen zitiert Stephanie D’Alessandro den Schriftsteller Curt Moreck, der für die zwanziger Jahren eine „allgemeine Erotisierung des öffentlichen Lebens“ konstatiert. „Gewiß verdankt sich dieser Wandel“, so D’Alessandro, „der steigenden Zahl erotischer Darstellungen von Frauen auf Anzeigen oder Buchumschlägen oder auch der steigenden Präsenz sexuell unabhängiger ‚Neuer Frauen‘ im städtischen Alltagsleben; doch es gab in der Weimarer Republik auch eine allgemeinere Entwicklung der Erotik visueller Erfahrung, [...].“ D’Alessandro, Stephanie: „Der erregte Betrachter. Über Voyeurismus“, in: Schmölders, Claudia/Gilman, Sander (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, S. 193f. 189 Vgl. Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, S. 370. 190 Georg Simmel beschreibt die Intensität kurzfristiger Begegnungen anhand der Reisebekanntschaft, die in zeitlicher Hinsicht die gemeinsame Fahrt im innerstädtischen Verkehrmittel zumeist noch überschreiten mag: „Die Reisebekanntschaft verlockt oft von dem Gefühl aus, daß sie zu nichts verpflichtet, und daß man einem Menschen gegenüber, von dem man sich in wenigen Stunden für immer trennt, eigentlich anonym ist, zu ganz merkwürdigen Konfidenzen, zu haltloser Nachgiebigkeit gegen den Äußerungstrieb, die uns in den gewöhnlichen langsichtigen Beziehungen nur die Erfahrung ihrer Konsequenzen einzudämmen gelernt hat“, bereit ist. Simmel, Georg: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“, in: Gesamtausgabe, Bd. 11, S. 754. 191 Benn, Gottfried: „Die Untergrundbahn“, in: Gesammelte Werke, Bd. 3: Gedichte, S. 31.
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Nicht immer allerdings ist der Duft der Frauen so stumm. Manchmal kann die Enge in den Verkehrsmitteln auch der einen oder anderen schönen Fassade Abbruch tun: „(D)er gnädigen weißbehandschuhten Frau“, liest man in Martin Kessels Roman Herrn Brechers Fiasko, „lagert trotz glänzender Seide und penetranter Parfüms ein Geruch unter der Brust, säuerlich verschwitzt.“192
8. D ER N AHVERKEHRSZYKLUS Die zahlreichen Unfälle, die für die ersten Jahre nach der Elektrifizierung des Nahverkehrs verzeichnet sind, zeigen nur zu deutlich, wie wenig die Menschen psychisch und physisch auf das vorbereitet sind, was sie im technisierten Massenverkehr erwartet. In der Zeitschrift für Kleinbahnen, wo in der Abteilung Rechtsprechung exemplarische Urteile aus Verkehrsprozessen dokumentiert werden, finden sich regelmäßig Vermerke über Unfälle, die sich insbesondere zwischen Fußgängern und Straßenbahnen ereignen. Nicht selten kommt es dabei zu Todesfällen. In einem Auszug aus den Unterlagen des Reichsgerichts, des VI. Zivilsenats vom 28. September 1908 ist folgender Unfall dokumentiert: „Der Dreher H. ist am 30. September 1905 abends nach 8 Uhr, als er auf dem Wege von seiner Arbeitsstätte nach seiner Wohnung das Gleis der auf der Chaussee von G. führenden elektrischen Straßenbahn überschreiten wollte, von einem Straßenbahnwagen im Rücken erfaßt, geschleift und derart verletzt worden, daß er am 10. Oktober 1905 verstarb.“193
Über den Unfallhergang heißt es: „Er habe erwiesenermaßen ohne begründete Veranlassung das Gleis der Kleinbahn an einer Stelle, wo ein Übergang nicht vorhanden war, zu überschreiten versucht, indem er plötzlich – also ohne sich umzusehen – von dem geraden Weg nach rechts auf das Gleis abbog.“194
Hier ist der Fall eingetreten, den Hugo Münsterberg in seinem psychotechnischen Test für Straßenbahnfahrer als paradigmatisches Erfahrungsmuster des Verkehrs vermittels von Zahlenabfolgen herstellen will: die beständige Gefahr von Kollisionen mit Verkehrsteilnehmern, die auf unvorhersehbare Weise den Schienenweg der Straßenbahn kreuzen.
192 Kessel, Martin: Herrn Brechers Fiasko, S. 341. 193 „Erkenntnis des Reichsgerichts – VI. Zivilsenats – vom 28. September 1908“, in: Zeitschrift für Kleinbahnen, XVI. Jahrgang, Januar 1909, S. 18. 194 Ebd.
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Selbst für das Jahr 1917 sind nicht selten Fälle verzeichnet wie dieser, an denen sich zeigt, dass der psychische und physische Konditionierungsprozess, den der elektrifizierte und motorisierte Transport bedingt, noch immer nicht vollständig vollzogen ist: „Der Metzgermeister Z. kam am 15. Dezember 1917 gegen 7 Uhr abends auf dem Bahnhof in W. an. Als er die Straße überquerte, um zu der gegenüberliegenden Wohnung des Schuhmachers O. zu gelangen, wurde er von einem Wagen der […] Kleinbahn erfaßt und getötet. Die Behauptung […], daß der Führer des Wagens den Unfall verschuldet habe, ist nach der Feststellung des Berufungsgerichts widerlegt; er ist langsam gefahren und hat dauernd Schellzeichen gegeben; auch haben die Scheinwerfer mit hellem Lichte gebrannt.“195
Aus der Perspektive von Fußgängern und anderen Verkehrsteilnehmern, die sich die Straßen zunehmend mit den öffentlichen Verkehrsmitteln teilen müssen, kommt erschwerend hinzu, dass die Straßenbahnen zumeist nicht nur eingleisig fahren, sondern dass beim Überqueren der Gleise auf Fahrzeuge aus entgegen gesetzten Richtungen zu achten ist: „Der Kaufmann H.“, heißt es in der Dokumentation einer weiteren Rechtssprechung, „wurde am 8. Februar 1917 gegen ein Uhr mittags in der M.-Straße von einem Zug der beklagten Straßenbahn überfahren und so schwer verletzt, dass er bald nachher starb.“196 Der Unfallhergang wird mit den erhöhten Anforderungen erklärt, die sich ergeben, wenn zwei Straßenbahnen im Gegenverkehr fahren: „Zutreffend wird gesagt, daß jeder, der eine Straße mit Straßenbahnverkehr überqueren will, sich nach allen Seiten umsehen muß, ob etwa ein Wagen herankommt. Dieser Pflicht möge der Getötete in bezug auf den vom Bahnhof herankommenden Wagen der Linie 13 nachgekommen sein, dagegen habe er nicht genügend auf die in der entgegengesetzten Richtung fahrenden Wagen der Linien 4 und 25 geachtet. Vor einem der letzteren sei er zurückgeprallt und nun mit dem Wagen der Linie 13 zusammengestoßen.“197
Sind es auf der einen Seite das unaufmerksame Überschreiten der Gleise und das falsche Einschätzen der Geschwindigkeiten von Straßenbahnen, so liegt ein weiterer Grund für Unfälle darin, dass in den frühen Jahren des Nahverkehrs das Aufund Abspringen während der Fahrt noch gestattet ist. Erst zur Jahreswende
195 „Erkenntnis des Reichsgerichts, VI. Zivilsenats, vom 20. Oktober 1919“, in: Zeitschrift für Kleinbahnen, XXVII. Jahrgang, März 1920, S. 87. 196 „Erkenntnis des Reichsgerichts, VI. Zivilsenats, vom 23. Januar 1919“, in: Zeitschrift für Kleinbahnen, XXVII. Jahrgang, Januar 1920, S. 19. 197 Ebd., S. 20.
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1904/1905 entscheidet die Strafkammer des Landgerichts Köln, dass eine Polizeiverordnung, die das Auf- und Abspringen auf die fahrende Straßenbahn untersagt, rechtsgültig sei, auch wenn diese Regelung nicht vom Straßenbahnbetreiber selbst erlassen worden ist: „Der Träger der Polizeigewalt ist befugt, das Verhalten der die elektrische Straßenbahn benutzenden Personen beim Aufsteigen und Abspringen, was mit dem Bahnbetriebe nichts zu tun hat, im Interesse der Ordnung und Sicherheit des Verkehrs auf den öffentlichen Straßen zu regeln.“198
1909 kommt das Reichsgericht zu dem Urteil, dass Unfälle, die sich beim Abspringen von der fahrenden Straßenbahn ereignen, auf eigenes Verschulden des Fahrgasts zurückzuführen sind: „Der Zug, den der Kläger benutzte, sollte an der Haltestelle, die er als sein Ziel bezeichnet hatte, anhalten, seine Fahrgeschwindigkeit war zu diesem Zwecke schon so weit vermindert, daß der Kläger erkennen musste, der Zug werde in den nächsten Sekunden völlig zum Stillstand kommen, so daß er alsbald ohne jede Gefahr absteigen könne. Wenn er gleichwohl ohne ersichtlichen Grund von dem noch in Bewegung befindlichen Zuge abstieg, so wurde erst hierdurch eine Gefahr für ihn begründet.“199
Ausdrücklich stellt das Gericht den Tatbestand der „Außerachtlassung der bei der Benutzung von Fahrzeugen gebotenen Vorsicht“200 heraus, dem sich der gegen die Straßenbahngesellschaft auf Haftpflicht klagende Fahrgast schuldig gemacht hatte. Die Ablehnung des Antrags auf eine Entschädigungszahlung ist ein Indiz dafür, dass die Erziehung und Konditionierung der Großstädter im Umgang mit den modernern Verkehrsmitteln mehr und mehr voranschreitet. Auch aus anderen Rechtssprechungen dieser Jahre geht hervor, dass der technisierte Verkehr nicht mehr als eine nicht zu bewältigende Gefahr angesehen wird, der die Menschen relativ schutzlos anheim gegeben sind, sondern argumentiert wird in den Urteilen durchweg mit Blick auf die mündigen, den Gefahren körperlich und geistig gewachsenen Verkehrsteilnehmer.
198 „Erkenntnis der 4. Strafkammer des Landgerichts Cöln vom 19. November 1904 und des I. Strafsenats des Kammergerichts vom 6. Februar 1905“, in: Zeitschrift für Kleinbahnen, XII. Jahrgang, Juni 1905, S. 436. 199 „Erkenntnis des Reichsgerichts, VI. Zivilsenats, vom 8. März 1909“, in: Zeitschrift für Kleinbahnen, XVI. Jahrgang, Juni 1909, S. 405. 200 Ebd.
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So werden im Falle des verunglückten Drehers aus dem Jahr 1909 ebenfalls die Schadensersatzansprüche der Witwe abgelehnt, weil der Verstorbene sich nicht nach den Anforderungen an Vernunft und Vorsicht, wie sie im Straßenverkehr zu leisten seien, gerichtet habe. „Er habe“, heißt es in der Urteilsbegründung, „erwiesenermaßen ohne begründete Veranlassung das Gleis der Kleinbahn an einer Stelle, wo ein Übergang nicht vorhanden war, zu überschreiten versucht, indem er plötzlich – also ohne sich umzusehen – von dem graden Weg nach rechts auf das Gleis abbog.“201
Weiter schreibt das Gericht: „Es wird dahingestellt gelassen, ob das Überschreiten des Bahngleises an jener Stelle verboten war und ob H. dieses Verbot gekannt habe; die allergewöhnlichste Vorsicht habe es erfordert, daß er, bevor er das Gleis betrat, sich darüber vergewisserte, ob sich ein Motorwagen nähere.“202
Fast zeitgleich heißt es in einer anderen Urteilsbegründung, der Fußgänger müsse im Großstadtverkehr „immer der Möglichkeit eingedenk sein, daß hinter ihm her ein Straßenbahnwagen anfahren kann und muß mit geschärfter Aufmerksamkeit darauf achten, daß er eine gefährliche Annäherung vermeidet“203. Bereits ein Jahr zuvor, 1907, entscheidet das Reichsgericht grundsätzlich: „Haftpflicht wegen Körperverletzung besteht nicht, wenn der Verletzte die Betriebsgefahr durch Anwendung der gewöhnlichsten Aufmerksamkeit abwenden konnte und daher das eigene Verschulden des Verletzten die Betriebsgefahr als mitwirkende Ursache überwiegt.“204
Das Verhalten des im konkreten Fall verletzten Fußgängers bezeichnet das Gericht in der Urteilsbegründung als „ein völliges Außerachtlassen der Vorsicht, die das Straßenleben der Großstadt von jedem Fußgänger, besonders beim Überschreiten der Straßenbahngleise, gebieterisch fordert“205. Es wird auf diese Weise in öffentlichen Diskursen darauf gewirkt, dass die Großstädter sich mehr und mehr den An-
201 „Erkenntnis des Reichsgerichts – VI. Zivilsenats – vom 28. September 1908“, in: Zeitschrift für Kleinbahnen, XVI. Jahrgang, Januar 1909, S. 18. 202 Ebd. 203 „Erkenntnis des Reichsgerichts, VI. Zivilsenats, vom 7. Dezember 1908“, in: Zeitschrift für Kleinbahnen, XVI. Jahrgang, Juli 1909, S. 462. 204 „Entscheidung des Reichsgerichts vom 8. Juli 1907“, in: Zeitschrift für Kleinbahnen, XIV. Jahrgang, Oktober 1907, S. 825. 205 Ebd.
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forderungen des technisierten Verkehrs bewusst werden, und es wird vor allem darauf gewirkt, dass der Einzelne seine Verantwortung in der Konfrontation mit dem beständig zunehmenden und sich beschleunigenden Verkehr erkennt. Wenn nun aus einer Statistik aus dem Jahr 1925 hervorgeht, dass nicht nur die Unfälle mit Straßenbahnen insgesamt zurückgehen, sondern dass die Unfälle, in die Straßenbahnen verwickelt sind, wesentlich geringer sind, als diejenigen mit Autos, dann lässt sich aus diesen Zahlen schlussfolgern, dass die psychische und physische Konditionierung der Verkehrsteilnehmer – und damit die Etablierung und die Selbstverständlichwerdung des Phänomens Nahverkehr – im Wesentlichen abgeschlossen ist.206 Der Nahverkehr, der zunächst, wie die zahlreichen Debatten und Kontroversen, die um seine Einführung kreisen, gezeigt haben sollen, im Positiven wie im Negativen als Erregung wahrgenommen worden ist, ist spätestens in den 1920er Jahren zur Selbstverständlichkeit geworden, wenn nicht sogar mit einer gewissen Belanglosigkeit behaftet. Hanns von Spielberg sagt diese zyklische Entwicklung, der der Nahverkehr unterliegen wird, schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts voraus. Er erinnere sich noch, schreibt von Spielberg mit Blick auf seine Kindheit, „wie von Weltwundern gehört zu haben, daß man in London über und unter den Häusern hindurchführe mit der Eisenbahn“207. Das Typische für den Anfang eines Infrastrukturzyklus ist mithin, dass die Verkehrsmittel als spektakulär und nicht steigerungsfähig verstanden werden. Dass sie vielleicht sogar als Wunderdinge imaginiert werden, die sich realiter gar nicht umsetzen lassen. Aber von Spielberg erkennt frühzeitig die Kurzlebigkeit solcher Wundererscheinungen bzw. -vorstellungen: „Es ist ein eigen Ding um den Verkehr solch einer wachsenden Riesenstadt, […] Der Straßenverkehr solch eines Ungeheuers ist durch neue Unternehmungen immer nur auf überraschend kurze Frist befriedigt; kaum sind sie entstanden, so müssen sie auch schon wieder erweitert, durch neue verbesserte Verkehrswege, Verkehrsmittel ergänzt werden.“208
206 1926 veröffentlicht in der Zeitschrift Verkehrstechnik von Dipl. Ing. Wenßel, Volkswille, 27.7.1926. Der „Volkswille“ verlangte angesichts dieser Zahlen von den städtischen Kommunen, alles zu tun, um einen verstärkten Anreiz zur „Benutzung der Massenverkehrsmittel durch Erhöhung der Reisegeschwindigkeit, Abstellung der Überfüllung und, wo irgend möglich, durch Ausbau von Untergrundbahnen“ zu geben. 207 Spielberg, Hanns von: „Auf der Berliner Hoch- und Untergrundbahn“, in: Deutsches Lesebuch in drei Bänden, Oberstufe, Steger und Wohlrabe (Hg.), Rektoren. Neubearbeitung nach den Forderungen des Ministerialerlasses vom 28.2.1902, S. 292-297. 208 Ebd.
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Noch 1902 bemerkt Fritz Deichen in den Erhebungen über die Verhältnisse der unteren Bediensteten und Arbeiter im Straßenverkehrsgewerbe fast ein bisschen ehrfürchtig, „daß ein elektrischer Wagen eine viel größere Geschwindigkeit hat als ein anderes Gefährt; die elektrischen Straßenbahnen fahren in den Außenbezirken mehr als 30 Kilometer in der Stunde“.209 Und Deichen ist überzeugt, dass der Verkehr bereits „eine solche Dichtigkeit erlangt (hat), daß er überhaupt nicht mehr gesteigert werden kann“. 210 Das soll sich als Irrtum erweisen. Ähnlich wie Spielberg schreibt Hermann Kronsbrück im Jahr 1908 über die verhältnismäßig kurze Phase, die zwischen der Einführung und der Etablierung des Nahverkehrssystems liegt: „Verkehrsmittel, die vor zehn Jahren noch höchst amerikanisch erschienen, reichen längst nicht mehr aus.“211 Im ersten Teil dieses Kapitels ist mit Blick auf stadtplanerische Konzepte dargestellt worden, inwiefern spätestens in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre der Ausbau vor allem des überirdischen, auf der Straße verkehrenden öffentlichen Transportwesens aus den Planungen der BVG weitgehend ausgeklammert und inwiefern überdies ab den 1930er Jahren in der nationalsozialistischen Verkehrspolitik das bestehende Nahverkehrsnetz erheblich beschnitten wird – ähnlich wie zur Zeit ihrer Einführung dürfen auf bestimmten repräsentativen Straßen keine Straßenbahnen fahren – zugunsten der Forcierung der so genannten autogerechten Stadt. Diese reale historische Einschränkung der Expansion des Nahverkehrs und seiner extrapolierten Stellung auf den Straßen der Großstadt geht insofern einher mit einer diskursiven Etablierung, als eine Gewöhnung insoweit stattgefunden hat, dass er dem Großstädter sowohl psychisch als auch physisch keine außergewöhnliche Anstrengung mehr abverlangt. Die Körper haben sich an die höheren Geschwindigkeiten und die gesteigerte Komplexität auf den Straßen gewöhnt – davon zeugt die Unfallstatistik aus dem Jahr 1925. Man hat sich aber eben nicht nur an den Nahverkehr und die von ihm beförderten Transformationen des urbanen Raums und des urbanen Lebens gewöhnt. Seine Etablierung scheint fast unmittelbar in sein Obsoletwerden überzugehen, zumindest was den überirdisch verlaufenden Schienenverkehr angeht. Wenn der Nahverkehr Berlin einst zur Metropole gemacht hat, dann wird er am Ende des Zyklus zu demjenigen Verkehrshindernis erklärt, das die Weltstadtwerdung verhindert: „Berlins
209 Deichen, Fritz: Erhebungen über die Verhältnisse der unteren Bediensteten und Arbeiter im Straßenverkehrsgewerbe. 210 Ebd. 211 Konsbrück, Hermann: „Neu Berlin“, in: März. Halbmonatsschrift für deutsche Kultur, 7. Januar 1908.
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Verkehrnöte sind nicht Krankheitserscheinungen eines vergreisenden Leibes. Berlins Verkehrsnöte sind die Wehen der alten Mutter Großstadt, aus der eine Weltstadt zum Licht und zum Leben drängt“, schreibt Dr. Karl Metzer, Oberregierungsrat im Polizeipräsidium Berlin, 1926 in der Beilage zur Vossischen Zeitung, und erklärt auch umgehend, wie der Weltstadt Geburtshilfe zu leisten sei: „[…] es muß als fernes Ziel angestrebt werden, so bald wie möglich – es wird noch lange nicht möglich sein – die schienengebundenen Wagen von den Straßen des Hauptverkehrs zu verbannen, sie durch die beweglicheren Kraftomnibusse zu ersetzen oder sie auf Parallelwege zu verlegen, wo sie nicht stören und doch ihre Aufgabe erfüllen können“,
um dann geradezu propagandistisch zu enden: „Es muß gefordert werden, daß die Bevölkerung Berlins sich von der Notwendigkeit durchgreifender Maßnahmen überzeugen läßt und mitwirkt, um die vorhandenen Widerstände zu überwinden, […].“212 Ebenfalls in der Vossischen Zeitung, aber bereits im Jahr 1913, als der Aufstieg der Straßenbahn zum Massenverkehrsmittel noch in vollem Gange ist, beurteilt Joachim von Bülow sie als kaum zukunftsträchtige Einrichtung und zieht ihr den Omnibus vor: „Der Omnibus mit Hafer- oder Benzinmotor, ist die wirklich großstädtische Beförderungsgelegenheit über der Erde. Das weiß man in der ersten Großstadt der Welt London schon längst, und der Augenblick, wo Berlin sich aus den Schienenfesseln befreien wird, dürfte von späteren Generationen als der eigentliche Geburtstag der Stadt gefeiert werden.“213
Spätestens in den zwanziger Jahren hat sich im öffentlichen Diskurs eine breite Zustimmung über die Abschaffung bzw. zumindest die Eindämmung der Straßenbahn gebildet. Erscheint sie doch den meisten Beobachtern – wie schon dem zu Anfang dieses Kapitels zitierten Berlin-Reporter Billy Wilder – nachhaltig überholt. „Es scheint mir,“ schreibt etwa Joseph Roth 1924, „daß die Straßenbahnen einen weltstädtischen Verkehr unmöglich machen. Im Zeitalter des Luftverkehrs wirken sie wie Postkutschen. Sie fahren meist in der Mitte des Straßendamms. Sie können an einem Fahrzeug, das zufällig auf die Schienen geraten ist, nicht vorbei. Sie sperren die Aussicht dem Passanten und verhindern, daß er heranfahrende Gefährte auf der gegenüberliegenden Straßenseite rechtzeitig bemerkt. Sie stehen, ohne sich rühren zu können, lange, bange Minuten und bilden eine Mauer mit kleinen Lücken, durch die man sich schon
212 Beilage zur Vossischen Zeitung, 24. November 1926. 213 Bülow, Joachim von: „Berliner Vehikel“, in: Vossische Zeitung, 13. Februar 1913, Abendausgabe.
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zwängen könnte, wenn man nicht fürchten müsste, von einem gedeckt heranfahrenden Auto getötet zu werden.“214
Genauso beschreibt Vladimir Nabokov ein Jahr darauf das Image des Antiquierten, das der Straßenbahn vor allem aufgrund ihrer noch immer nicht optimalen Funktionalität anhaftet: „Alles an ihr ist ein wenig ungefüge und klapperig, und wenn sie eine Kurve etwas zu schnell nimmt und die Stromstange vom Fahrdraht springt und der Schaffner oder sogar einer der Fahrgäste sich am Heck des Wagens hinauslehnt, nach oben späht und an der Schnur ruckelt, bis die Rolle wieder Kontakt hat, dann denke ich jedes Mal daran, wie auch dem Kutscher in früheren Zeiten manchmal die Peitsche aus der Hand gefallen sein muß […].“215
Und Lion Feuchtwanger lässt den amerikanischen Besucher B. W. Smith voller Verwunderung den mangelnden Weltstadtcharakter Berlins zur Kenntnis nehmen, der sich allen voran in der Existenz der Straßenbahnen zeigt: „Er sah verblüfft selbst noch elektrische Schienenbahnen störend mitten durch den Verkehr fahren. Nichts war auch nur einigermaßen auf Höchstleistung gestellt. […] Überall funktionierten noch historische Institutionen und Gestalten.“216
Gerade der Leipziger Straße, die stets als das verkehrstechnische Zentrum der Stadt gegolten hat, wird hier ein antiquiertes Flair bescheinigt. Als umgekehrt Stefan Zweig, allerdings erst im Jahr 1935, die Weltstadt New York besucht, erscheint ihm die Fahrt mit der Straßenbahn geradezu unerträglich, eben weil sie den mittlerweile üblichen Geschwindigkeits- und Zeitempfindungen nicht mehr entspricht: „Wenn eine Stadt so den Tag lebt und die Nacht, muß sie notwendigerweise ihren Rhythmus ändern. Und wirklich, es ist heller geworden, metallischer, syncopischer und unendlich schneller: den ganzen Wandel zur Beschleunigung habe ich deutlich an einer kleinen Pulsprobe gefühlt, als ich unten am Broadway die alte elektrische Tramway wiederfand, mit der ich schon damals gefahren. Damals schien sie mir schnell, sie entsprach völlig meinem allgemeinen Zeitgefühl, diesmal war sie mir unerträglich mit ihrem Stocken und Anhalten, nach
214 Roth, Joseph: „Betrachtungen über den Verkehr“, in: Werke, Bd. II: Das journalistische Werk 1924-1928. 215 Nabokov, Vladimir: „Stadtführer durch Berlin“, in: Frühling in Fialta, S. 253. 216 Feuchtwanger, Lion: „Herr B. W. Smith besichtigt die Leipziger Straße“, in: Herbert, Günther: Hier schreibt Berlin. Ein Dokument der 20er Jahre.
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zehn Minuten sprang ich ab, ich ertrug es nicht mehr, sie antwortete nicht mehr dem neuen Zeitgefühl, das hier gelernt hat, in drei Minuten sechzig Stockwerke emporzusausen.“217
Dass das, was einmal fortschrittlich war, bald nicht nur historisch erscheint, sondern von anderen Neuerungen überholt werden wird, sieht Nabokov in seinem Stadtführer durch Berlin voraus und beschreibt das Nachwirken des infrastrukturellen Zyklus: „Die Pferdestraßenbahn ist verschwunden, die Elektrische wird verschwinden, und ein exzentrischer Berliner Schriftsteller in den zwanziger Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, der unsere Zeit schildern möchte, wird in ein historisches Technikmuseum gehen und dort einen hundertjährigen, gelben, klobigen Straßenbahnwagen mit altmodisch geschwungenen Sitzen ausfindig machen und in einem historischen Trachtenmuseum eine schwarze Schaffneruniform mit blanken Knöpfen.“218
217 Zweig, Stefan: „Blick über die elektrische Stadt in die Zukunft hinein“, in: Neue Rundschau, Heft I/1992, S. 112f. 218 Nabokov, Vladimir: „Stadtführer durch Berlin“, in: Frühling in Fialta, S. 253.
II. Erzählen in der Verkehrsstadt und Erzählen des urbanen Raums als Verkehrsraum. Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz
Die Forschung zur Großstadtliteratur wie die literarische Moderneforschung überhaupt kreist immer wieder um einen Roman: Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, erschienen 1929. Nicht nur habe sich der Protagonist Franz Biberkopf – Sinnbild des in die transzendentale Obdachlosigkeit geworfenen Subjekts – der modernen Metropole in all ihren Facetten von Beschleunigung, Technisierung, Reizüberflutung, Diskursakkumulation zu erwehren. Döblin gelinge aus ästhetischer Perspektive zudem, dieses einerseits flüchtige, andererseits bedrängende Konglomerat Großstadt durch seine Montagetechnik, oder – wie er es 1913 nennt – den „Kinostil“ in eine Form zu überführen, die fortan beispielgebend für modernes Schreiben überhaupt werde. In Anbetracht dieser ausführlichen und zum Teil äußerst instruktiven Arbeiten zu Döblins Roman und seiner Bedeutung im Kontext von Moderne- und Urbanisierungsdiskurs erscheint es auf den ersten Blick nicht sonderlich originell, sich Die Geschichte vom Franz Biberkopf ein weiteres Mal vorzunehmen. Dreht man das Ganze um, erscheint es aber nur umso konsequenter. Denn erklärt man den öffentlichen Nahverkehr zum eigentlichen Inframedium der modernen Metropole, dann muss sich diese These natürlich gerade an einem solchen Prototyp der Großstadtliteratur in idealtypischer Weise veranschaulichen lassen. Hinzu kommt, dass bei aller detaillierten Analyse von Döblins Roman als Großstadtroman bisher nicht systematisch auf den Komplex der Verkehrsmittel eingegangen worden ist. 1 Das ist
1
Eine Ausnahme bildet Klaus R. Scherpe, der auf die Bedeutung der Linienführung der Straßenbahn in Döblins Roman hinweist: Scherpe, Klaus R.: „Nonstop nach Nowhere City? Wandlungen der Symbolisierung, Wahrnehmung und Semiotik der Stadt in der Literatur der Moderne“, in: Ders. (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne.
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umso erstaunlicher, als Berlin Alexanderplatz – schon der Titel weist darauf hin – vor allem ein Roman über die Stadt als Raum, genauer: als Verkehrsraum ist. Der Alexanderplatz ist in den zwanziger Jahren neben dem Potsdamer Platz der meist besuchte und befahrene Verkehrsplatz Berlins und nimmt sogar im europäischen Vergleich eine führende Position ein. Die groß angelegten und dauerhaften Umbaumaßnahmen, die die Verkehrsführung der Busse und Bahnen auf dem Platz optimieren und neue U-Bahnlinien anlegen sollen, 2 machen diesen Platz in der Wahrnehmung der Berliner zum Synonym des beständigen Wandels, in dem die Stadt sich im Zuge ihrer infrastrukturellen Expansion befindet und der das Moment des Transitorischen zum wesentlichen Bestandteil der modernen Stadt werden lässt. Ein Moment, das ambivalente Reaktionen hervorruft. „Berlin ist wundervoll“, schreibt Döblin über diesen Wandel fast enthusiastisch in Berlin und die Künstler im Jahr 1922: „Die Pferdebahnen gingen ein, über die Straßen wurden elektrische Drähte gezogen, die Stadt lag unter einem schwingenden geladenen Netz. Dann bohrte man sich in die Erde ein; am Spittelmarkt versoff eine Grube; unter der Spree ging man durch bei Treptow, der Alexanderplatz veränderte sich, der Wittenbergplatz wurde anders: das wuchs, wuchs!“3
Seinen Protagonisten Franz Biberkopf wird er diesen Entwicklungen zunächst sehr viel skeptischer gegenübertreten lassen. Nichtsdestotrotz gibt Döblin mit der Geschichte vom Franz Biberkopf, die er in Berlin Alexanderplatz erzählt, zugleich auch die Antwort auf den Untertitel, den er seinem Essay über Berlin und seine Künstler gegeben hat. Die Frage, die Döblin eher in rhetorischer Absicht stellt, bezieht sich auf den Zusammenhang von künstlerischem Produktionsprozess und Urbanisierung des Schreibumfelds und steht damit in engem Zusammenhang mit der Frage nach den Dimensionen inframedialer Wirkungsmacht. Bei Döblin klingt das sehr viel einfacher: „Hemmt oder beeinträchtigt Berlin wirklich das künstlerische Schaffen?“ untertitelt er seinen Essay. Die Antwort, zumindest was Döblin selbst betrifft, ist bekannt. Dass Berlin nicht nur als Ort zum Schreiben alles andere als hemmend wirkt, sondern dass vielmehr der verkehrstechnische Um- und Ausbau der Stadt selbst zur Matrix, zum medialen Gerüst für den Roman wird, zeigt die inhaltliche wie auch die stilistisch-kompositorische Struktur, die Döblin seinem Roman unterlegt, der zunächst als Fortsetzungsroman
2
Vgl. insbesondere die Pläne des Architekten Martin Wagner. Hierzu u.a.: Burg, Annegret: Alexanderplatz Berlin. Geschichte – Planung – Projekte, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin.
3
Döblin, Alfred: „Berlin und die Künstler. Hemmt oder beeinträchtigt Berlin wirklich das künstlerische Schaffen?“, in: Schriften zu Leben und Werk, S. 39.
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in der Frankfurter Zeitung abgedruckt wird, bevor er 1929 im S. Fischer Verlag erscheint. In seinem programmatischen Essay Der Bau des epischen Werks fasst Döblin sein ästhetisches Credo, durch das sich der Autor des 20. Jahrhundert vom traditionellen Romanschriftsteller abzugrenzen habe, wie folgt zusammen: Zunächst muss die Realität, müssen die „zerlegten Tageswahrheiten“ quasi-protokollarisch aufgenommen werden, um schließlich zu der hinter ihnen sich verbergenden „überreale(n) Sphäre“ durchbrechen, diese offenbaren zu können: „Der wirklich Produktive aber muß zwei Schritte tun: er muß ganz nahe an die Realität heran, an ihre Sachlichkeit, ihr Blut, ihren Geruch, und dann hat er die Sache zu durchstoßen, das ist seine spezifische Arbeit.“4 Wenn auf den folgenden Seiten untersucht werden soll, in welcher Weise der öffentliche Nahverkehr sowohl die inhaltliche als auch die formale Ebene des Romans maßgeblich konfiguriert, dann wird damit ein Aspekt dieses Romans erhellt, der trotz seiner breiten Aufarbeitung in der Forschungsliteratur bisher keine systematische Beachtung erfahren hat. Kein Zweifel besteht beim Gros der Forschung allerdings darüber, dass es sich bei Döblins Roman um eine Variante der „erzählten Stadt“5 handelt, in der sich der selbsternannte Eroberer der Stadt, der Strafentlassene Franz Biberkopf, in den sich überlagernden Diskursen und Ereignissen, wie sie das Konglomerat Stadt ausmachen, zurechtfinden muss. Die Frage, welche Rolle dem Nahverkehr – als einzelnem Transportmittel und als vernetztem Transportsystem – in diesem Zusammenhang zukommt, muss die Frage danach sein, welche Auswirkungen er auf die Wahrnehmung und die Darstellung des urbanen Raums hat, wie er die Ereignisse und Diskurse strukturiert – oder eben auch gerade nicht strukturiert –, so dass sich in der Folge eine Wahrnehmbarkeit und Darstellbarkeit des urbanen Raums daraus ergibt. Besonders beachtenswert ist in diesem Zusammenhag zweierlei. Zum einen erscheint Döblins Roman im Jahr 1929, zu einer Zeit, in der – folgt man der These vom zyklischen Verlauf von Infrastruktur – die inframediale Bedeutung des öffentlichen Transportwesen, zumal der Straßenbahn, ihren Höhepunkt bereits überschritten hat. Das hat produktionsästhetisch zur Folge, dass Döblin die medialen und transformierenden Wirkungen des Verkehrs nicht nur unmittelbar abbildet, sondern bereits eine sprachliche Form dafür hat entwickeln können. Als Konsequenz daraus bedient er sich eines dramaturgischen Tricks. Biberkopf, der vier Jahre hinter den Mauern des Tegeler Gefängnisses verbracht hat, ist der von außen Kommende, der abrupt in das voll entwickelte Großstadt- und Verkehrsgefüge Berlins der zwanziger Jahre gerät. Er wird nicht langsam an eine Stei-
4
Döblin, Alfred: „Der Bau des epischen Werks“, in: Aufsätze zur Literatur, S. 107.
5
Vgl. hierzu u.a. das Abschlusskapitel in Klotz, Volker: Die erzählte Stadt.
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gerung des Verkehrs gewöhnt, sondern einem komplexen, technisierten System und mit ihm allen Anforderungen fortgeschrittener Metropolisierung von einem auf den anderen Moment ausgesetzt. Der Choc und damit die Reaktion, mit der er auf die äußere Urbanisierung reagiert, sind deshalb umso pointierter. So kann Döblin in seinem Roman nicht nur die medialen Auswirkungen des Nahverkehrs auf die Wahrnehmungsweisen des urbanen Raums verbunden mit den spezifischen Reaktionen des Subjekts vorführen. Er kann darüber hinaus an der Entwicklung Biberkopfs, an der inneren Urbanisierung seines Protagonisten, modellhaft den Verlauf eines infrastrukturellen Zyklus darstellen. Denn so irritierend sich für Biberkopf zunächst die Rückkehr nach Berlin gestaltet, relativ bald wird er sich den neuen psychischen und physischen Bedingungen der Stadt angepasst haben. Was die Irritation und was fortan auch die Gewöhnung an die technischen Bedingungen auf der Handlungsebene für die Entwicklung Biberkopfs und was sie für die Konstruktionsweise des gesamten Romans bedeuten, soll im Folgenden in einer dichten Textlektüre gezeigt werden. Leitend ist dabei die Überzeugung, dass die Abhängigkeiten von Nahverkehr und Wahrnehmung und Darstellung des urbanen Raums – in der von Döblin zugrunde gelegten Verschränkung von formaler Struktur und Fabelführung – in idealtypischer und damit modellhafter Form an diesem Roman dargestellt werden können.
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„Dieses Buch“, so die moritatenähnliche Zusammenfassung, die dem Roman vorangestellt ist, „berichtet von einem ehemaligen Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf in Berlin. Er ist aus dem Gefängnis, wo er wegen älterer Vorfälle saß, entlassen und steht nun wieder in Berlin und will anständig sein.“ Dass ihm das nicht gelingen, und dass er nahe daran ist, seinen Körper und schließlich auch seinen Verstand einzubüßen bei dem Versuch, in der Metropole Fuß zu fassen, ist die hinlänglich bekannte Geschichte vom Franz Biberkopf. Zunächst allerdings steht Biberkopf noch nicht mitten in Berlin, sondern vor dem Tegeler Gefängnis, in dem er die vergangenen vier Jahre wegen Totschlags seiner Freundin verbracht hat. Der Gefängniskomplex, im Stadtbezirk Reinickendorf gelegen, zählt seit 1920 durch die „Vereinigung Groß-Berlins“ formell zur Stadt Berlin. Noch bis zum Ende der 20er Jahre allerdings handelt es sich bei Reinickendorf, zumindest im Empfinden der Berliner, wenn nicht um einen Ort außerhalb, so doch auf jeden Fall um einen Vorort, der nicht unmittelbar zur Stadt hinzu-
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zuzählen ist. Davon zeugt auch die Überschrift des Kapitels: „Mit der 41 in die Stadt.“6 „Er stand“, so setzt dieses erste Kapitel ein, „vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei.“ (9) Anstatt aber möglichst schnell den Ort zu verlassen, an dem er die vergangenen Jahre zwangsweise festgehalten worden ist, richten sich Biberkopfs Gedanken zurück zu dem, was er nun hinter sich gelassen hat: „Gestern hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den andern, in Sträflingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten hinten, er war frei.“ (9) Was Döblin hier mit dem Topos der agrarischen Tätigkeit – dem Harken der Kartoffeln auf den Äckern – und dem Topos der Gemeinsamkeit, die dem Gefängnis zugeschrieben werden, aufruft, ist ein bekanntes Bild: Das Bild der vermeintlich intakten Provinz, das mit beginnender Industrialisierung und Urbanisierung immer wieder als Konterpart dem Bild der technisierten Welt gegenübergestellt wird. Zwar ist das Leben im Gefängnis – wie das Leben in der Provinz – streng reglementiert und organisiert. Das aber gewährleistet gerade eine Form der Überschaubarkeit und Sicherheit, die Biberkopf als individuelle Entlastung und als Aufgehobensein hat empfinden können und die er sich in der strukturellen Unsicherheit des Großstadtlebens immer wieder herbeisehnen wird. Auch die Topoi der anderen Seite – der Metropole Berlin – tauchen an dieser Stelle bereits auf. Biberkopf hebt sich im (wenn auch wohl nicht mehr ganz modischen) gelben Sommermantel als individualisierter Städter nicht nur optisch von der einheitlichen Sträflingskleidung ab. Allein draußen vor dem Tor stehend ist er von der Gemeinschaft und ihrer Ordnung abgetrennt: Der Zwang zur radikalen Individualität und Subjektivität ist eines der wesentlichen Charakteristika der modernen Stadt. Zwar handelte es sich gerade bei den Insassen des Gefängnisses um eine Zwangsgemeinschaft, das stellt sich aber im akuten Empfinden des Entlassenen anders dar: „Die schwarzen eisernen Torflügel, die er seit einem Jahr mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte (Widerwillen, warum Widerwillen), waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Die Strafe beginnt.“ (9)
Die Strafe beginnt. Das heißt, Biberkopf muss zurück nach Berlin und muss – befreit von allen unmittelbaren Reglementierungen des Alltags – die Orientierung und
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Hervorhebung von W.P. Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, S. 9. Im Folgenden nur zitiert mit Seitenangabe in Klammern hinter dem Zitat.
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Verantwortung für sein Leben selbst übernehmen. Aus eben diesem Grund will er das Gefängnis als Ort mit einer konstanten Ordnungsstruktur, in der er mit Sicherheit agieren kann, nicht verlassen. Und so versucht er, diese Stabilität so lange wie möglich, und sei es nur als eine momentan körperliche, zu bewahren. Er verharrt in nahezu vollkommener Bewegungslosigkeit: „Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses […] drückte […] den Rücken an die Mauer und ging nicht. […] Er stand an der Haltestelle.“ Und selbst dort, wo er offenbar kleinere Ortswechsel vorgenommen hat – vom Tor zur Mauer und schließlich zur Haltestelle – werden sie nicht erwähnt, sie geschehen wie unbewusst. Aber während Biberkopf noch zaudert, nehmen die Bewegungen um ihn herum zu und fordern ihn regelrecht dazu auf, ebenfalls seine starre Position aufzugeben: „Er ließ Elektrische um Elektrische vorbeifahren, […]. Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei, zeigte ihm sein Bahn.“ (9) Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt des Romans kommt die Straßenbahn ins Spiel. Sie ist nicht nur optischer Vorbote Berlins. Sie ist auch das Transportmittel, das zwischen Stadtzentrum und Peripherie verkehrt und das Biberkopf mitten hinein bringen wird in die Metropole. Und sie ist das Verkehrsmittel, das ihm zum ersten Mal seit langem den sicheren Boden unter den Füßen entziehen und ihm einen Vorgeschmack darauf geben wird, was ihn in der Stadt erwartet. „Die Strafe beginnt.“ Biberkopf überwindet sich, gibt endlich seine sichere Position auf und nimmt die Herausforderungen der Freiheit an: „Er schüttelte sich, schluckte. Er trat sich auf den Fuß. Dann nahm er Anlauf und saß in der Elektrischen. Mitten unter den Leuten. Los.“ Während er sich noch einmal wie Hilfe suchend nach dem vertrauten Ort umsieht, fährt die Straßenbahn ihn unerbittlich und in vermeintlich atemberaubendem Tempo mitten hinein ins Zentrum von Berlin: „Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer, aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in Richtung des Gefängnisses.“ Wie einen aus vormodernen und nicht-technisierten Zeiten Kommenden überfällt den entlassenen Häftling die moderne Wirklichkeit in Gestalt der Straßenbahn mit einer nachgerade körperlichen Brutalität: „Das war zuerst, als wenn man beim Zahnarzt sitzt, der eine Wurzel mit der Zange gepackt hat und zieht, der Schmerz wächst, der Kopf will platzen.“ Bruchstückhaft wahrgenommene Stadtansichten mischen sich mit optischen und akustischen Eindrücken innerhalb des Wagens zu einem Zustand völliger Entropie, der Biberkopf vollständig einer als äußerst alarmierend empfundenen Orientierungslosigkeit anheim fallen lässt. „Der Wagen machte eine Biegung, Bäume, Häuser traten dazwischen. Lebhafte Straßen tauchten auf, die Seestraße, Leute stiegen ein und aus. In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es. ‚Zwölf-Uhr-
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Mittagszeitung‘, ‚BZ‘, ‚Die neue Illustrierte‘, ‚Die Funkstunde neu‘, ‚Noch jemand zugestiegen?‘. (9)
Nur einzelne Informationen aus dem riesigen ungeordneten Pool, der auf Biberkopf eindrängt, werden zu losen Orientierungspunkten. Biberkopf registriert: „Die Schupos haben jetzt blaue Uniformen.“ Nach nur dreizehn Zeilen ist die Fahrt vorbei, Biberkopf ist, bevor er die neue Situation auch nur annähernd realisieren kann, am Rosenthaler Platz angekommen. Genauso wie sich für Biberkopf im Moment des Einsteigens in die Straßenbahn die Überlagerung und das Folgetempo der Informationen steigert und wie die Bahn an Geschwindigkeit aufnimmt, steigert sich in diesem zweiten Absatz des ersten Kapitels das Erzähltempo. Dominiert im ersten Abschnitt eine traditionelle Erzählweise, so setzt mit der Straßenbahnfahrt Döblins Montagetechnik ein, die als filmähnlich arbeitendes Verfahren Wirklichkeitssegmente aneinanderfügt und auf diese Weise der schnellen Abfolge der Eindrücke, wie sie dem Subjekt in der durch Technisierung beschleunigten Wirklichkeit begegnen, mit einem adäquaten ästhetischen Prinzip begegnet. Deshalb braucht Döblin für die Sequenz über Biberkopfs Straßenbahnfahrt knappe dreizehn Zeilen. Wenn als eine erste inframediale Wirkungsqualität die Transformation der Wahrnehmung, wie sie sich aus der veränderten Durchquerung des Raums ergibt, genannt worden ist, und wenn daran eine Veränderung der ästhetischen Darstellungsweisen gekoppelt worden ist, dann bietet die Anfangssequenz von Berlin Alexanderplatz eine ideale Veranschaulichung dessen, indem Döblin einen verharrenden, mit den Konnotationen des Vormodern-Ländlichen konnotierten Zustand mit einer Straßenbahnfahrt zusammenführt, die den unvorbereiteten Protagonisten exemplarisch den Bedingungen der technisierten Wirklichkeit der Metropole aussetzt. So kann – auf der Ebene der Figuren – Biberkopf den durchfahrenen Stadtraum in Einzelheiten, die eine logische und überschaubare Struktur bieten, nicht erkennen. Auf der stilistischen Ebene wird dies durch eine Ablösung der klassischen Erzählweise durch das Prinzip der Montage verkürzter Sinneinheiten umgesetzt. In diesem speziellen Fall kommt aber noch etwas anderes hinzu: Schon angedeutet wurde der dramaturgische Trick, dessen Döblin sich bedient. Sein Roman erscheint 1929 und spielt etwa um dieselbe Zeit. Am Ende der zwanziger Jahre muss den zeitgenössischen Lesern Biberkopfs Erleben der Straßenbahnfahrt, die längst keine Sensation mehr ist und eher als nervenaufreibend langsam wahrgenommen wird, geradezu als lächerlich erscheinen. Döblin liefert mithin, indem er zu diesem Zeitpunkt bereits überholte Phänomene der Wahrnehmungsirritation zitiert, eine Charakteristik seines Protagonisten, dem durch seinen Gefängnisaufenthalt die Kompetenzen des Städters abhanden gekommen sind bzw. der die mittlerweile erfolgten, raschen Fortentwicklungen des Verkehrsgeschehens verpasst hat.
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Vermittels einer ganz ähnlichen dramaturgischen Wendung erzählt Joseph Roth in seinem Feuilleton Der auferstandene Mensch, das aus den frühen zwanziger Jahren stammt, die gigantische Entwicklung und Ausdehnung des Verkehrs genauso wie die veränderten Anforderungen, die er nun an die Wahrnehmungsdispositionen des Einzelnen stellt. Georg B., der Protagonist von Roths Feuilleton, hat sogar „ein halbes Jahrhundert im Zuchthaus“ verbracht. „Georg B. kannte die Stadt Berlin, wie sie vor fünfzig Jahren ausgesehen hatte. Gedachte er während seines langen, dunklen Lebens dieser Stadt, so sah er eine von Fuhrwerken befahrene Straße, sah er das Ende der Stadt am Potsdamer Platz, erschien ihm Wagenrasseln wie großstädtisches Getöse.“7
Doch unwiderruflich und genauso abrupt ist er mittendrin im Großstadtgeschehen, seiner Überlagerung von Farben, Lärm und Geschwindigkeiten: „Plötzlich entstieg B. der Stadtbahn und stand mitten im zwanzigsten Jahrhundert. Im zwanzigsten? Es müßte das vierzigste sein? […] Alle verstanden es, nur B. nicht. […] Am Potsdamer Platz war nicht Ende mehr, sondern Mitte. Ein klagender Ton, der Trompete eines Schutzmanns entströmt, befahl Halt und Vorwärts, eine Volksversammlung von Straßenbahnen, Wagen, die einander die Brustkörbe platt drückten, ein Geflimmer von Tönen, eine geräuschvolle, rauschende, brausende Buntheit, rote und gelbe und violette Schreie. Und ein Netz von Drähten über den Häuptern aller, ein kreuz und quer bestrichener Himmel, als hätte ein Ingenieur seine verrückten Pläne auf einen Bogen Äther gezeichnet.“8
Roth schlägt einen Bogen vom Berlin, wie Rodenberg es durchstreift, in die Gegenwart der zwanziger Jahre. In dieser Gegenwart nun, mitten in Berlin am Rosenthaler Platz, verlässt auch Biberkopf die Straßenbahn. Die erste Etappe seiner Rückkehr nach Berlin hat er hinter sich. Und kaum meint er, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, versucht er – wie späterhin für ihn charakteristisch –, das schockierende Erlebnis der Straßenbahnfahrt durch einige markige Sprüche wegzuwischen, mithin die Diskurshoheit zu gewinnen: „Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiß dich zusammen, kriegst meine Faust zu riechen.“ (10) Aber das Gefühl der Festigkeit täuscht und hat nur für einen kurzen Moment Bestand. Wiederum scheint sich keine Ordnung um Biberkopf herum herstellen zu
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Roth, Joseph: „Der auferstandene Mensch. Ein halbes Jahrhundert im Zuchthaus“, in: Neue Berliner Zeitung – 12-Uhr-Blatt, 24.2.1923, Werke, Band I: Das journalistische Werk 1915-1923, S. 1551.
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Ebd.
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wollen: „Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte.“ Das „Gewimmel“, die ständige Bewegung von Menschen und Fahrzeugen, die fortwährende Häufung von Eindrücken – „Was war das alles. Schuhgeschäfte. Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen.“ – führt dazu, dass auf der Ebene des Stadtraums das wiederholt wird, was sich im Straßenbahnwaggon angekündigt hat. Wie in eine Art Initiationsritus hat Biberkopf während der Fahrt mit der Straßenbahn die Irritationen erfahren, die sich durch die Überlagerungen und das Abfolgetempo von akustischen und optischen Reizen ergeben und die eine Strukturierung des Stadtraums verhindern. Jetzt scheint selbst der steinerne Untergrund – ebenfalls ein wiederkehrendes Motiv im Roman – keinen Halt mehr zu bieten: „Man riß das Pflaster am Rosenthaler Platz auf, und er ging zwischen den anderen auf Holzbohlen.“ (10) Nicht nur die Erhöhung des Informationsumschlags durch die Fahrt, sondern der Ausbau des Nahverkehrsnetzes selbst, allem voran die Ausschachtung der U-Bahn-Tunnel, macht den Stadtraum zu einem ständig im Wandel begriffenen Provisorium, das sich in keine Form fügen will. Sogar auf die steinernen Bauten scheint dieser transitorische Auflösungszustand übergreifen zu wollen: „Die Wagen tobten und klingelten weiter, es rann Häuserfront neben Häuserfront ohne aufhören dahin. Und Dächer waren auf den Häusern, die schwebten auf den Häusern.“ (11) Aber erneut, wie beim Verlassen der Straßenbahn, gelingt es Biberkopf wenigsten für den Augenblick, die Kontrolle über seine Sinne zu gewinnen: „(W)enn die Dächer nur nicht abrutschten, aber die Häuser standen gerade.“ Immer wieder muss er zu diesem Zweck die Regeln der Haftanstalt memorieren, wie eine Art inneres Koordinatensystem, das das Fehlen der äußeren Orientierung ersetzt: „Die Gefangenen werden in Einzelhaft, Zellenhaft und Gemeinschaftshaft untergebracht. Bei Einzelhaft wird der Gefangene bei Tag und Nacht unausgesetzt von anderen Gefangenen gesondert gehalten. Bei Zellenhaft wird der Gefangene in einer Zelle untergebracht, jedoch bei Bewegung im Freien, beim Unterricht, Gottesdienst mit andern zusammengebracht.“ (11)
Nach der Unterbrechung durch die Vision der abrutschenden Dächer, geht es unmittelbar weiter mit der diskursiven Selbst- und Weltversicherung: „Auf entsprechendes Glockenzeichen ist sofort mit der Arbeit zu beginnen. Sie darf nur unterbrochen werden in der zum Essen, Spaziergang, Unterricht bestimmten Zeit. Beim Spaziergang haben die Gefangenen die Arme ausgestreckt zu halten und sie vor- und rückwärts zu bewegen.“ (11)
In einem engen, schmalen Hausflur sucht Biberkopf Schutz vor dem Geschehen auf der Straße, versucht, einen festen Raum mit möglichst wenigen akustischen, sinnlichen oder Bewegungsreizen herzustellen: „So stand der Mann in dem Hausflur,
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hörte das schreckliche Lärmen von der Straße nicht, die irrsinnigen Häuser waren nicht da.“ (11) Das Empfinden des Dissoziiertwerdens kulminert in einer Todesvision, die gleichsam eng an die Imagination des Mutterleibs gebunden ist: „In den Boden rin, in die Erde rin, wo es finster ist.“ (15) Aber er weiß auch, dass diese Form der Regression nicht möglich ist: „Er konnte nicht zurück, er war mit der Elektrischen so weit hierhergefahren, er war aus dem Gefängnis entlassen und mußte hier hinein, noch tiefer hinein.“ (10) Hinein muss er in das Leben der Metropole mit seinen Menschen- und Verkehrsmassen, in der das Leben im Großen das ist, was er auf der Fahrt mit der 41 im Kleinen erfahren hat: Allein unter fremden Menschen, die sich gegenseitig nicht beachten, und wie hineingeworfen in eine Beschleunigungsmaschinerie, die den Körper und die Sinne durcheinander wirbelt. Biberkopf erlebt die ersten Minuten in Berlin als desaströs. Erst als er kurze Zeit später in der Wohnung eines Rabbiners sitzt, in die ein Jude den desolaten Mann im für die Jahreszeit viel zu dünnen gelben Sommermantel gebracht hat, und wo er durch eine jüdische Sage auf das Leben in der großen Stadt vorbereitet werden soll, kommt er nach und nach wieder zu sich. Die Bilder der Straßenbahnfahrt tauchen wieder auf, erscheinen nun aber sehr viel weniger bedrohlich oder bedrängend, nachgerade beschaulich wird die Fahrt in seiner Erinnerung und fast melancholisch nimmt er Abschied von der Tegeler Zeit: „Der Entlassene saß allein. […] Er fuhr mit der Elektrischen, blickte seitlich hinaus, die roten Mauern waren sichtbar zwischen den Bäumen, es regnete buntes Laub. Die Mauern standen vor seinen Augen, sie betrachtete er auf dem Sofa, betrachtete sie unentwegt. Es ist ein großes Glück, in diesen Mauern zu wohnen, man weiß, wie der Tag anfängt und wie er weitergeht.“ (13)
Genauso, wie Biberkopf die Eindrücke der Fahrt zu ordnen beginnt, verliert die Sprache ihr Abgehacktes, Montiertes und kehrt zurück zum Epischen. Biberkopfs Körper und Physis scheinen sich allmählich auf die Bedingungen der Großstadt einzustellen. Hernach kann er, als er das Haus des Juden wieder verlässt, fast schon abgeklärt auf die Insignien der Großstadt blicken: leuchtende Reklametafeln, die vorbeifahrende Straßenbahn. Der U-Bahn-Bau an der Münzstraße, der aus der Straße einen Abgrund macht, verursacht bei ihm keine Schwindelgefühle: „Es regnete. Links in der Münzstraße blinkten Schilder, die Kinos waren. An der Ecke kam er nicht durch, die Menschen standen an einem Zaun, da ging es tief runter, die Schienen der Elektrischen liefen auf Bohlen frei in der Luft, eben fuhr langsam eine Elektrische rüber. Sieh mal an, die bauen Untergrundbahn, muß doch Arbeit geben in Berlin.“ (25)
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Folglich, so könnte man den Gedanken über die Verbindungen von U-Bahn-Bau und Arbeitsplätzen fortsetzen, wird es auch Arbeit und damit einen Platz für Biberkopf geben in Berlin. Die Reizüberflutungen durch die Stadt fügen sich aus der Perspektive Biberkopfs mehr und mehr in überschaubare, logische Zusammenhänge, innerhalb derer er einen hinreichend gesicherten Standpunkt hat. Die Erzählung des Juden scheint therapeutische Wirkung gehabt zu haben.
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Dass Berlin für Biberkopf immer mehr an Kontur gewinnt, nach und nach erfassbar und überschaubar zu werden scheint, zeigt sich vor allem an den vollends veränderten Vorzeichen, unter denen er nun das Verkehrsgeschehen betrachten kann. Hat Biberkopf auf seiner ersten Fahrt mit der Straßenbahn, die ihn vom Gefängnis ins Zentrum Berlins gebracht hat, die passive, hilflose Position eines mehr Katapultierten als Transportierten eingenommen, dem nicht nur die Sinne, sondern auch die Körperbeherrschung außer Kontrolle geriet, so hat sich spätestens mit Beginn des zweiten Buchs diese Position grundlegend geändert. Die Straßenbahn wird nicht mehr als einzelnes, nicht zu kontrollierendes Gefährt erlebt, das die Sinne überfordert und auf diese Weise die Wahrnehmung des ohnehin flüchtigen Stadtraums nahezu verunmöglicht. Sie wird stattdessen zu einem Garanten von Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit, weil sie innerhalb eines Systemzusammenhangs funktioniert und von Biberkopf jetzt auch als Teil dieses Zusammenhangs wahrgenommen werden kann. Nicht mehr das einzelne Fahrzeug ist das entscheidende. Vielmehr wird der Netzplan der Bahn zu einem Raster, durch das dem Stadtraum Übersicht – und damit auch Erzählbarkeit – verliehen wird. Das infrastrukturelle Prinzip der Vernetzung, wie es sich im Netzplan der Straßenbahn in idealtypischer Form zeigt, verleiht dem Stadtraum nicht nur eine organisatorische Ordnung. Es versetzt ihn auch in einen Zustand der Darstellbarkeit und macht ihn auf diese Weise kommunizier- und verhandelbar. Umgesetzt wird diese mediale Wirkung des Nahverkehrsnetzes auf den urbanen Raum in Berlin Alexanderplatz durch eine schlichte Aufzählungen der Streckenfahrpläne, die zuweilen noch mit der Wiedergabe von Tarifbestimmungen oder Auslastungszahlen verbunden werden, so dass immer wieder Inseln der Ordnung innerhalb des Hyperreizraum Berlin entstehen. Wie in einem Automatismus knüpft Biberkopf nahezu an jede Straßenbahn, die an ihm vorbeifährt oder in die er einsteigt, die Aufzählung der von ihr zu absolvierenden Haltestellen, so als würde er dem, was als optischer und akustischer Reiz und singuläre Erregung zur Inkommensurabilität der Stadt beiträgt, nicht nur ein Ordnungsmuster unterlegen, sondern es selbst zum Botschafter dieser Ordnung machen.
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Fast unmittelbar zu Beginn des zweiten Buches, unter der Überschrift „Franz Biberkopf betritt Berlin“, im Anschluss an eine Folge ikonographischer Bilder, durch die verschiedene Einrichtungen und Ressorts der Stadtverwaltung symbolisiert werden, und vier kurze nachrichtenähnliche Passagen und Angaben über das Wetter, tritt erstmals die Straßenbahn als Ordnungsfaktor im Stadtraum auf. Wie auch die 41, mit der Biberkopf von Tegel nach Berlin-Mitte gefahren ist, kreuzt diese Linie den Rosenthaler Platz. Von hier aus entspinnt sich das Ordnungsmuster der Stadt als territorialer und als institutioneller Raum: „Die Elektrische Nr. 68 fährt über den Rosenthaler Platz, Wittenau, Nordbahnhof, Heilanstalt, Weddingplatz, Stettiner Bahnhof, Rosenthaler Platz, Alexanderplatz, Strausberger Platz, Bahnhof Frankfurter Allee, Lichtenberg, Irrenanstalt Herzberge. Die drei Berliner Verkehrsunternehmen, Straßenbahn, Hoch- und Untergrundbahn, Omnibus, bilden eine Tarifgemeinschaft. Der Fahrschein für Erwachsene kostet 20 Pfennig, der Schülerfahrschein 10 Pfennig. Fahrpreisermäßigung erhalten Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr, Lehrlinge und Schüler, unbemittelte Studenten, Kriegsbeschädigte, im Gehen schwer behinderte Personen auf Ausweis der Bezirkswohlfahrtsämter. Unterrichte dich über das Liniennetz. Während der Wintermonate darf die Vordertür nicht um Ein- und Aussteigen geöffnet werden, 39 Sitzplätze, 5918, wer aussteigen will, melde sich rechtzeitig, die Unterhaltung mit den Fahrgästen ist dem Wagenführer verboten, Auf- und Absteigen während der Fahrt ist mit Lebensgefahr verbunden.“ (45f.)
Biberkopf, eben noch ob seiner Orientierungslosigkeit verängstigt, glaubt sich durch dieses Wissen in einer Art Machtposition. Die Straßenbahn ist zu einer Erzählung geworden, die er entschlüsseln zu können meint.9 So wie er über das Wissen des Systems Nahverkehr verfügt, meint er, als souverän agierendes Subjekt über den Stadtraum verfügen zu können. Selbst wenn sich nun tatsächlich viele Häuser in Auflösung befinden, wie die Straßenbahnfahrten entlang der Abrissfronten zeigen, hat Bierkopf keine Visionen mehr von schwebenden Dächern und dahin rinnenden Häuserfronten. Das Konstrukt Stadt scheint für ihn nun fest gefügt und berechenbar. Die diskursive Verfügbarkeit über das Liniennetz und seine Reglementierungen verleiht nicht nur dem Stadtraum ein Korsett, es schließt auch an die Selbstvergewisserungsrituale an, die im ersten Buch des Romans die Repetierung der Regeln und Gewohnheiten des Haftaufenthalts geleistet haben. Sobald die Straßenbahn zum Ordnungsfaktor wird, haben deshalb die Erinnerungen an das Gefängnis, an denen sich Biberkopf im ersten Buch festgehalten hat, ein Ende. Stattdessen ist Bi-
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Allerdings hat er ja auch die chassidische Erzählung des Juden nicht in ihrer mahnenden Funktion verstanden.
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berkopf nun allerdings auch zum Multiplikator eines anderen, umso fragwürdigeren Ordnungsgedanken geworden: „Franz handelt nun völkische Zeitungen“, berichtet der Erzähler, dem im Gegensatz zur Tempo forcierenden Montagetechnik immer ein fast altmodischer, hier sogar schüttelreimender Plauderton eigen ist: „Er hat nichts gegen die Juden, aber er ist für Ordnung. Denn Ordnung muß im Paradiese sein, das sieht ja wohl ein jeder ein. […] Er steht am Ausgang der Untergrundbahn Potsdamer Platz, in der Friedrichstraße an der Passage, unter dem Bahnhof Alexanderplatz.“ (75)
In der Gewissheit seiner zurück gewonnenen Sicherheit kann Biberkopf nun nicht nur unbeeindruckt an den Hauptverkehrsadern der Stadt stehen – Potsdamer Platz, Friedrichstraße, Alexanderplatz. Er ist zudem zum Vertreter genau des Mediums geworden, das während seiner ersten Straßenbahnfahrt nach Berlin symptomatisch für den Informationsüberschuss war („Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es. ‚Zwölf-Uhr-Mittagszeitung‘, ‚BZ‘, ‚Die neue Illustrierte‘.“) Nun ist Biberkopf selbst Zeitungsverkäufer, der an den Ein- und Ausgängen der Nahverkehrsbahnhöfe seine – gleichwohl äußerst fragwürdigen – druckfrischen Informationen unter die Passantenströme verteilen will. Zwar muss Biberkopf in der Eckkneipe, in der er seine Mittagspause verbringt, seine grundsätzliche Unsicherheit in politischen Fragen eingestehen. Gleich darauf aber kann er seine Bedenken darüber, ob die Ordnungsparolen der Rechten irgendeine Substanz geschweige denn einen Sinn haben, fortwischen. Und zwar wiederum dadurch, dass eine an der Kneipe vorbeifahrende Straßenbahn, die er durchs Fenster beobachtet und deren Route durch die Stadt er memorieren kann, ihm eine intakte Ordnungsvorstellung und damit wiederum ein Gefühl der Sicherheit suggeriert: „Weiß ich nicht, ob bei denen was rauskommt mit die Binde hier. Hab ich auch gar nicht gesagt, aber ist doch ne andere Sache. […] Und sitzt auf der Fensterbank und wischt sich die Backe, blinzelt in die helle Stube, zupft sich ein Haar aus dem Ohr. Die Elektrische knirscht um die Ecke, Nr. 9, Ostring, Hermannplatz, Wildenbruchplatz, Bahnhof Treptow, Warschauer Brücke, Baltenplatz, Kniprodestraße, Schönhauser Allee, Stettiner Bahnhof, Hedwigkirche, Hallesches Tor, Hermann Platz.“ (80)
Diese Struktur, das Inframedium Straßenbahn, legt sich wie ein mentales Gerüst über den urbanen Raum, der bei Bierkopfs Ankunft doch nur wie ein Gewimmel unverbundener Einzelheiten, ein Durcheinander von Menschen und Dingen erschienen ist. Das Flüchtige und Kontigente wird mit einem Ordnungsmuster überzogen, zufällige Geschehnisse in der Ereignisdichte und -simultaneität der Stadt bekommen einen Erzählanlass dadurch, dass sie innerhalb des Systems Straßenbahn und damit innerhalb des raum-zeitlichen Zusammenhangs der Metropole verortet werden können:
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„Ein junges Mädchen steigt aus der 99, Mariendorf, Lichtenrader Chaussee, Tempelhof, Hallesches Tor, Hedwigskirche, Rosenthaler Platz, Badstraße, Seestraße, Ecke Togostraße, in den Nächten von Sonnabend zu Sonntag ununterbrochener Betrieb zwischen Uferstraße und Tempelhof, Friedrich-Karl-Straße, in Abständen von 15 Minuten. Es ist 8 Uhr abends, sie hat eine Notenmappe unter dem Arm, den Krimmerkragen hat sie hoch ins Gesicht geschlagen, die Ecke Brunnenstraße-Weinbergsweg wandert sie hin und her.“ (51)
Gleich wird sie ihren heimlichen Liebhaber treffen, mit ihm in eine Wohnung in der Brunnenstraße gehen. Licht aus, Ende der Passage. Die Straßenbahn hat längst an anderen Stationen gehalten, längst sind hunderte von neuen Passagieren am Rosenthaler Platz aus- und eingestiegen. Denn wiederum ist es der Rosenthaler Platz, an dem nicht nur die Linien der Straßenbahn, sondern offensichtlich auch die Linien der Handlung sich kreuzen, der zur Relaisstelle wird, an dem die Bahn verlassen und das Erzählen möglich wird. Ob dieses inframediale Korsett, das sich durch das Wissen um den Netzplan der Straßenbahn um den urbanen Raum legt und ihn als gedachten und als kommunzierbaren Raum zusammenhält, aber immer sinnstiftend ist bzw. ob die Bedeutung, die es zu produzieren scheint, Biberkopf wahrhaft zu einem souverän agierenden Subjekt innerhalb der Stadt werden lässt, muss – angesichts seiner weiteren, wiederum hinlänglich bekannten Geschichte – bezweifelt werden. Vielmehr scheint es so zu sein, dass Biberkopf das Ordnungssystem Nahverkehr zwar vordergründige Orientierung verschafft. Tatsächlich aber wird er sich im Glauben, der souverän Handelnde zu sein, in den Diskursen der Stadt heillos verstricken. Allemal symptomatisch ist, dass ihm, dem nach seiner ersten angstvollen Fahrt die Straßenbahn nun solche Sicherheit zu bieten scheint, ein anderes Fortbewegungsmittel, das Auto, zum Verhängnis werden und seinen Plan von einem nunmehr anständigen Leben endgültig zunichte machen soll. Nachdem er mehr oder minder unfreiwillig, in jedem Fall aber aus mangelnder Reflektiertheit an den nächtlichen Raubzügen der Pums-Bande, einer Diebes- und Hehler-Bande, teilgenommen hat, wird Biberkopf während einer Verfolgungsjagd, um ihn als unliebsamen Mitwisser auszuschalten, aus dem fahrenden Auto gestoßen und von dem hinterher fahrenden Wagen überrollt: „Heimlich hat Reinhold seine Hand an den Türdrücker dicht neben Franz geschoben. Sie sausen in eine breite Allee hinein. Franz sieht noch nach rückwärts. Er wird mit einmal an der Brust gepackt, nach vorn gezerrt. […] Der Wind braust in den Wagen, Schnee fliegt hinein. Franz wird schräg über die Ballen gegen die offene Tür gestoßen, er greift schreiend nach Reinholds Hals. Da fährt ein Stockhieb von der Seite auf seinen Arm. Der zweite im Wagen versetzt ihm einen schiebenden Stoß gegen die linke Hüfte. Von den Tuchballen herunter wird Franz durch die offene Tür liegend geschoben; er klammert sich mit den Beinen an, woran er kann. Seine Arme halten den Wagentritt umschlungen. / Da trifft ihn ein Stock-
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schlag auf den Hinterkopf. Gebückt über ihm stehend wirft Reinhold den Körper auf die Straße. Die Tür knallt zu. Das Verfolgerauto braust über den Menschenkörper. Die Jagd geht im Schneetreiben weiter.“ (205f.)
Biberkopf liegt auf einer Landstraße außerhalb Berlins, mitten in der Nacht, vollkommen orientierungslos. Nun ist die physische Gewalt eingetreten, die er schon auf der Fahrt von Tegel nach Berlin imaginiert hat: Im Krankenhaus wird Biberkopf ein Arm amputiert. Das Leben der Stadt allerdings geht unbeeindruckt weiter: „Freuen wir uns, wenn die Sonne aufgeht und das schöne Licht kommt“, heißt es im unmittelbaren Anschluss an die nächtliche Verfolgungsfahrt. Unter vollkommen veränderten Vorzeichen – es ist heller Morgen anstelle von nächtlichem Schneetreiben – und der Art und Weise, wie am Ende dieser Passage ein von Pressephotographen umringter Star in ein Auto steigt –„Mit den Worten: ‚Ich bin wahnsinnig neugierig auf Berlin‘, besteigt die berühmte Frau ihren Wagen und entschwindet der nachwinkenden Menschenmenge in der morgendlichen Stadt.“ (207) – wird umso deutlicher, dass es sich nicht um die sprichwörtliche Ironie des Schicksals handelt, wenn Biberkopf seinen Arm durch ein Auto verliert. Es ist stattdessen Ausdruck dessen, dass er den Anforderungen dieser neuen Zeit, für die tatsächlich das Auto und nicht mehr die Straßenbahn den Maßstab bildet, noch nicht gewachsen ist. Biberkopf indes nimmt das anders wahr. Nachdem er von den Folgen des nächtlichen Unfalls genesen ist, ist sein Vorhaben, „anständig zu bleiben“, endgültig gescheitert. „Nu hats geschnappt bei mir. Nee, ick bin nich anständig, ick bin ein Lude. Da schäm ich mir gar nicht für.“ (259) Fortan führt Biberkopf eine Existenz als Hehler und Zuhälter, politisch irrt er zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus hin und her, und nur in seltenen Momenten scheint er zu ahnen, dass er längst nicht so souverän ist, wie er es gern sich und anderen demonstriert. Konkret handelt es sich um die beiden Momente, in denen Biberkopf nach langer Zeit wieder in die 41 steigt und hinaus nach Tegel fährt, auf der Suche nach der alten Form der Sicherheit, die ihm in Berlin abhanden gekommen ist. „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir, mit dem Hackebeilchen macht er Leberwurst aus dir“, wie unbewusst summt Biberkopf das makabere zeitgenössische Liedchen über den Massenmörder Fritz Haarmann. Als diffuse Ahnung scheint ihn das Lied an das Prekäre seiner Existenz zu erinnern. Seine Frage: „Verflucht, wo geh ich lang, verflucht, wo geh ich lang“, ist nicht nur die Frage eines angetrunkenen Mannes auf dem Weg von der Kneipe nach Hause, hier geht es um Grundsätzlicheres. Genau in diesem Moment tritt, als ein fast magisches Leitsystem, wieder die Straßenbahn auf den Plan, die Biberkopf wie schlafwandlerisch den Weg zum Tegeler Gefängnis einschlagen lässt: „Verflucht, wo geh ich lang“, hat Biberkopf sich gefragt, und im nächsten Satz heißt es:
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„Und er steht und kann nicht über den Damm10 , dann macht er kehrt, marschiert die heiße Straße zurück, […]. Und Franz marschiert, er weiß nicht, was er will, auf den Rosenthaler Platz zurück und steht vor Fabisch an der Haltestelle, gegenüber Aschinger. Und wartet. Ja, das will er! Er steht da und wartet und fühlt wie eine Magnetnadel – nach Norden! Nach Tegel, Gefängnis, Gefängnismauer! Da will er hin. Da muß er hin.“ (276f.)
Fast erhaben erscheint nun der profane Vorgang der Straßenbahnfahrt, ohne dass mit letzter Sicherheit auszumachen ist, ob der Erzähler an dieser Stelle auch jene Ironie zwischen die Zeilen streut, mit denen er sonst so häufig die überheblichen Selbsteinschätzungen von Biberkopf kommentiert: „Und dann geschieht es, daß die 41 kommt, hält, und Franz steigt ein. Er fühlt, das ist richtig. Abfahrt, und fährt, und die Elektrische fährt ihn nach Tegel. Er bezahlt 20 Pfennig, die Fahrkarte hat er, er fährt nach Tegel, es geht wie geschmiert, es ist eine Sache. Wohl fühlt er sich! Es ist wahr, daß er hinfährt. Brunnenstraße, Uferstraße, Alleen, Reinickendorf, es ist wahr, das gibt es alles, da fährt er hinein, es steht da. Und hier ist es richtig! Und wie er sitzt, wird es immer wahrer, immer strenger, immer gewaltiger. So tief ist die Genugtuung, die er empfindet, so stark, so bezwingend ist die Wohltat, daß Franz sitzt, die Augen schließt und von einem machtvollen Schlaf umschlungen wird. / Die Elektrische hat im Finstern das Rathaus passiert. Berliner Straße, Reinickendorf-West, Endstation.“ (277)
Biberkopf steigt aus, findet im Halbschlaf eine Bank gegenüber der Haftanstalt, denkt, scheinbar zusammenhangslos, aber eigentlich umso hellsichtiger: „Ein Auto. […] Und der gewaltsame Schlaf kommt wieder und reißt ihm die Augen auf und Franz weiß alles.“ (277) Hat die Straßenbahn ihn im ersten Kapitel wie mit körperlicher Gewalt aus dem sicheren Tegel weggerissen und in die Unübersichtlichkeit von Berlin gefahren, dann ist es jetzt die 41, die ihn mit der Sanftheit einer Wiege an den Ort vor der Stadt zurückbringt, der für ihn so etwas wie Geborgenheit bedeutet. Aber natürlich kehrt Biberkopf am nächsten Morgen nach Berlin und zu seiner Freundin Mieze zurück. Vergessen sind die nächtlichen Unsicherheiten. Biberkopf fühlt sich wieder als starker Mann. Als einarmiger mit den Insignien des Kriegsinvaliden versehen – tatsächlich ist Biberkopf offensichtlich im Ersten Weltkrieg von der Front desertiert (79) – zieht er im Eroberergestus durch Berlin: „Da marschiert Franz Biberkopf durch die Straßen, mit festem Schritt, links rechts, links rechts, keine Müdigkeit vorschützen, keine Kneipe, nicht saufen, wir wollen sehen, eine Ku-
10 D.i. der zu dieser Zeit noch erhöhte Mittelstreifen, auf dem die Straßenbahnschienen verlegt sind.
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gel kam geflogen, das wollen wir sehen, krieg ich sie, liege ich, links rechts, links rechts. Endlich atmet er auf. / Er geht durch Berlin. Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren, ei warum, ei darum, ei bloß wegen dem Tschingdarada bumdara, ei warum, ei darum, ei bloß wegen dem Tschingdarada bumdara. Die Häuser stehen still, der Wind weht wo er will. Ei warum, ei darum, ei bloß wegen dem Tschingdaradada.“ (285)
Derweil sich der Fußgänger Biberkopf noch überlegen vorkommt, wird wiederum das Inframedium Straßenbahn zum Indikator dafür, wie sehr er aus dem Tritt gekommen ist und den Überblick verloren hat. Mieze ist verschwunden. Und während Biberkopf noch nicht einmal ahnt, dass sie nie wiederkommen wird, weil eben jener Reinhold, der schon Biberkopf selbst aus dem Auto stieß, sie ermordet hat, offenbart sich das vermeintliche Ordnungssystem Straßenbahn in seiner Brüchigkeit: „Die Elektrischen fahren die Straßen entlang, sie fahren alle wohin, ich weiß nicht, wo ich hinfahren soll. Die 51 Nordend, Schillerstraße, Pankow, Breitestraße, Bahnhof Schönhauser Allee, Stettiner Bahnhof, Potsdamer Bahnhof, Schmargendorf, Grunewald, mal rin. Guten Tag, da sitz ick, die können mir hinfahren, wo sie wollen. Und Franz fängt an, die Stadt zu betrachten wie ein Hund, der eine Fußspur verloren hat. Was ist das für eine Stadt, welche riesengroße Stadt, und welches Leben, welches Leben hat er schon in ihr geführt. Am Stettiner Bahnhof steigt er aus, […].“ (381)
Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass das Liniennetz der Straßenbahn zwar als Ordnungssystem funktioniert, das den Stadtraum als Territorium strukturiert, ihn darstellbar und kommunizierbar macht. Aber das Liniennetz ist – für die Figurenebene – eben auch nicht mehr als diese öffentliche Infrastruktur, die täglich Tausende von Fahrgästen zwischen den verschiedenen Haltstellen der Metropole hinund hertransportiert. Wenn ein einzelner wie Biberkopf glaubt, mit dem Wissen um das Funktionieren dieses System mehr als ein physisch und psychisch konditionierter Großstädter zu sein, und wenn er sich stattdessen in einer Machtposition meint, in der er die Diskurse des komplexen Geflechts Großstadt insgesamt durchschaut, dann ist das zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Nicht nur deshalb, weil das System Straßenbahn nur vordergründig Diskurse ordnet, die nicht mit dem Räumlichen zusammenhängen. Eine Täuschung ist für Biberkopf, der in den späten zwanziger Jahren zurück nach Berlin kommt, die Souveränität, die er als Fahrgast gewinnt und auf sein Leben als Ganzes überträgt vor allem auch deshalb, weil die Straßenbahn die längste Zeit eine psychische und physische Herausforderung gewesen ist.
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Die Straßenbahn fungiert nicht nur als schlichtes Ordnungssystem in der Unübersichtlichkeit des urbanen Raums. Sie wird vielmehr zum wesentlichen Medium des Erzählens selbst und das sowohl auf der inhaltlichen, mithin einer symbolischimaginären Ebene, genauso wie auf der strukturell-formalen Ebene des Textes. In Döblins Roman sind es auf der inhaltlichen Ebene mehr noch als das bisher beschriebene Ordnen der Stadt durch den Netzplan der Straßenbahn die Umbauarbeiten, die den Alexanderplatz in einen zeitgemäßen Massenverkehrsplatz verwandeln sollen, indem die Schienenführungen der Straßenbahn optimiert und neu U-Bahnlinien verlegt werden. Dieser Umbau zieht sich durch den gesamten Roman. Zumeist am Anfang der Bücher, die den Roman strukturieren, wird der Alexanderplatz in den Blick genommen, eine ständige Baustelle, Menschen laufen über notdürftig verlegte Bretter, Häuser werden abgerissen. Dieses Provisorium, das schon Biberkopfs ersten Eindruck der Stadt bestimmt, als er am Rosenthaler Platz aus der Straßenbahn steigt, scheint symptomatisch für den Zustand von Berlin zu sein, im konkreten wie im übertragenen Sinn: ein ständiger Wandel, der allerdings zunächst einmal nur als die Zerstörung des Bestehenden und als Einrichtung eines Provisoriums wahrgenommen werden kann. Abgerissene Häuser, aufgerissene Straßen, in deren Abgründe man von dem unsicheren Standpunkt der Bretterübergänge blickt. Zusammengehalten wird all das durch ein paar eiserne Streben, die sich wie Gürtel um das Zersplitternde legen: das Schienenkorsett der Straßenbahn. So sind es denn auch die Straßenbahnen, die mit unerschütterlicher Ruhe durch das Gedränge von Passanten, Fahrzeugen und vorbei an den Baugruben fahren und ihren Fahrplan erfüllen. Als Biberkopf in Berlin ankommt, reißt man „das Pflaster am Rosenthaler Platz auf, er ging zwischen den anderen auf Holzbohlen“. (10) Als er wenig später das Haus der Juden verlassen hat, heißt es bekanntlich: „An der Ecke kam er nicht durch, die Menschen standen an einem Zaun, da ging es tief runter, die Schienen der Elektrischen liefen auf Bohlen frei in der Luft, eben fuhr langsam die Elektrische rüber.“ (25) Zu Beginn des vierten Buches wird nun auch die Großbaustelle Alexanderplatz näher betrachtet: „Am Alexanderplatz reißen sie den Damm auf für die Untergrundbahn. Man geht auf Brettern. Die Elektrischen fahren über den Platz die Alexanderstraße hinauf durch die Münzstraße zum Rosenthaler Platz.“ (117) Wenn es an dieser Stelle noch den Anschein von vergleichsweise überschaubaren Umbauarbeiten hat, dann ist der Alexanderplatz zu Beginn des fünften Buches zu einem optischen und akustischen Abriss- und Umbaupanoptikum geworden, das sich ohne Unterbrechung über fünf Seiten des Romans erstreckt. Auffälligstes und symbolträchtigstes Gerät ist die berühmte Dampframme, die mit massierter Gewalt die Stahlschienen in den Boden rammt.
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„Rumm Rumm wuchtet vor Aschinger auf dem Alex die Dampframme. Sie ist ein Stock hoch, und die Schienen haut sie wie nichts in den Boden. Eisige Luft. Februar. Die Menschen gehen in Mänteln. […] Rumm rumm haut die Dampframme auf dem Alexanderplatz. Viele Menschen haben Zeit und gucken sich an, wie die Ramme haut. Ein Mann oben zieht immer eine Kette, dann pafft es oben, und ratz, hat die Stange eins auf dem Kopf. […] Nachher ist sie klein wie eine Fingerspitze, dann kriegt sie aber noch immer eins, da kann sie machen, was sie will.“ (159)
Während die Ramme die Schienen wie lange Nägel in den Boden stößt, geht um sie herum der Abriss weiter, Gebäude und Denkmäler, die bisher hier gestanden haben, müssen den Verkehrsplanungen weichen: „Alles ist mit Brettern belegt. Die Berolina stand vor Tietz, eine Hand ausgestreckt, war ein kolossales Weib, die haben sie weggeschleppt. Vielleicht schmelzen sie sie ein und machen Medaillen draus. / Wie die Bienen sind sie über den Boden her. Die basteln und murksen zu Hunderten rum den ganzen Tag und die Nacht.“
Wie immer verkehren in aller Regelmäßigkeit die Straßenbahnen, während um sie herum Auflösung und Ausverkauf herrschen: „Ruller ruller fahren die Elektrischen, gelbe mit Anhängern, über den holzbelegten Alexanderplatz. Abspringen ist gefährlich. Der Bahnhof ist freigelegt, […]. Über den Damm, sie legen alles hin, die ganzen Häuser an der Stadtbahn legen sie hin, […]. Vom Osten her, Weißensee, Lichtenberg, Friedrichshain, Frankfurter Allee, türmen die gelben Elektrischen auf den Platz durch die Landsberger Straße. Die 65 kommt vom Zentralviehhof, der Große Ring Weddingplatz, Luisenplatz, die 76 Hundekehle über die Hubertusallee. An der Ecke Landsberger Straße haben sie Friedrich Hahn, ehemals Kaufhaus, ausverkauft, leergemacht und werden es zu den Vätern versammeln. Da halten die Elektrischen und der Autobus 19 Turmstraße. Wo Jürgens war, das Papiergeschäft, haben sie das Haus abgerissen und dafür einen Bauzaun hingesetzt.“ (159ff.)
In der für die Erzählhaltung symptomatischen Mischung aus zuweilen auf pathetische Weise zur Schau gestellter Betroffenheit und Ironie – in der die modernetypische Haltung der Blasiertheit des Großstädters zum Stilmittel wird – kommentiert der Erzähler die Zerstörung des alten Stadtbildes: „O liebe Brüder und Schwestern, die ihr über den Alex wimmelt, gönnt Euch diesen Augenblick, seht durch die Lücke neben der Arztwaage auf diesen Schuttplatz, wo einmal Jürgens florierte, und da steht noch das Kaufhaus Hahn, leergemacht, ausgeräumt und ausgeweidet, daß nur die roten Fetzen noch an den Schaufenstern kleben. Ein Müllhaufen liegt vor uns.“ (161)
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Und es wird noch dramatischer: „Von Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du wieder werden, wir haben gebauet ein herrliches Haus, nun geht hier kein Mensch weder rein noch raus. So ist kaputt Rom, Babylon, Ninive, Hannibal, Cäsar, alles kaputt, oh, denkt daran“, um dann umso lakonischer und abgeklärter im Stile der Stadterneuerer à la Martin Wagner fortzufahren: „Erstens habe ich dazu zu bemerken, daß man diese Städte jetzt wieder ausgräbt, wie die Abbildungen in der letzten Sonntagsausgabe zeigen, und zweitens haben diese Städte ihren Zweck erfüllt, und man kann nun wieder neue Städte bauen. Du jammerst doch nicht über deine alten Hosen, wenn sie morsch und kaputt sind, du kaufst neue, davon lebt die Welt.“ (161)
Was hier zum Ausdruck kommt, ist die neue Art des Stadtverständnisses und vor allem des Verständnisses von Stadtplanung und -erneuerung, die sich nicht mehr an dem Ideal überzeitlicher Bauwerke bzw. Baukunstwerke orientiert, sondern deren Devise die Schlagworte von Funktionalität und Optimierung sind. In den architektonischen und stadtplanerischen Debatten der zwanziger Jahre wird über die Prioritäten von Bewahrung und Erneuerung kontrovers diskutiert. Dass sich Funktionalisierung und Optimierung bei der Stadtplanung dieser Jahre weitgehend durchsetzen, gehört nachgerade zum guten Ton des modernen Menschen, der das WeltstadtImage von Berlin in den Vordergrund rücken und deshalb dem Prozess von Modernisierung und Technisierung unmelancholisch gegenüber stehen muss. Trotzdem ist – auch in diesen Passagen von Berlin Alexanderplatz – ein diffuses Unbehagen zu spüren, das Althergebrachte derart gefleddert dastehen zu sehen. Unbeeindruckt davon bleibt die Ramme, die auch noch am Ende dieser Passage die Schienenstränge in den Boden schlägt: „Rumm rumm ratscht die Ramme nieder, ich schlage alles, noch eine Schiene.“ (163) Fast schon zu offensichtlich ist die symbolische Parallelführung, die Döblin hier zwischen der Verlegung der Schienen, der funktionalen und optischen Reglementierung des Stadtkörpers, und der Geschichte Biberkopfs macht. Genauso gewaltsam wie die Schienen in den Untergrund gerammt werden, wird Biberkopf das Reglement der Gesellschaft eingehämmert. Zu guter Letzt in der fragwürdigen „Erziehungsmaßnahme“, wie sie ihm in der Irrenanstalt Buch widerfährt, in der er an der Schwelle zum vollständigen geistigen und körperlichen Versagen steht, bis er die Anstalt dann als klinisch gesund verlassen kann. Nun kann er sich „einreihen“, um fortan nicht mehr länger aus dem statistischen Mittelmaß, wie es als disponibles Menschenmaterial durch die Stadt transportiert wird, herauszufallen: „Sie sind so gleichmäßig wie die, die im Autobus, in den Elektrischen sitzen. Die sitzen alle in verschiedenen Haltungen da und machen so das außen angeschriebene Gewicht des Wagens schwerer. Was in ihnen vorgeht, wer kann das ermitteln, ein ungeheures Kapital.“ (182)
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Döblin setzt den Nahverkehr folglich als ein Mittel ein, um Verfasstheiten seines Protagonisten genauso zum Ausdruck zu bringen wie die Verfasstheiten der modernen Stadt und der modernen Gesellschaft als ganzer. Zugleich dient der Verkehrskomplex wie auch die an ihn angegliederten Umbaumaßnahmen dazu, auf künftige Entwicklungsstufen von Biberkopf vorauszuweisen. Der Abriss und das Provisorium werden dabei nicht nur zum Sinnbild der Moderne, sie prägen auch Döblins Erzählstil, der auf epische Geschlossenheit und geistigen Überbau verzichtet – oder das zumindest suggeriert, und stattdessen mit den flüchtigen Partikeln des urbanen Raums und ihrer probeweisen und kontigenten Montierung arbeitet.
Teil drei
I. Kulturanalyse und Imageproduktion
In den Darstellungen zu der kulturgeschichtlichen Bedeutung des öffentlichen Nahverkehrs sollte deutlich geworden sein, wie maßgeblich der Einfluss des öffentlichen Verkehrssystems darauf gewesen ist, dass sich der urbane Raum und die urbane Sozialität der Moderne haben herausbilden können. Handelt es sich hierbei um Einflüsse, die sich als organisatorische Medialität von Infrastrukturen zusammenfassen lassen, dann sollen im Folgenden diejenigen Wirkungen der nahverkehrstechnischen Stadterschließung untersucht werden, die in den konzeptuellen Überlegungen zu einer Theorie der Infrastruktur als ihre imaginäre Medialität bezeichnet worden sind. Während die organisatorische Medialität die strukturellen und materiellen Voraussetzungen dafür bereitstellt, dass der Raum und mit ihm die Formen seiner Wahrnehmung sich verändern und dass die soziale Vernetzung und mit ihr der gesamte soziale Apparat neu konfiguriert werden, bezeichnet die imaginäre Medialität die Entstehung neuer Bildfelder und Assoziationspotentiale durch die Einführung neuer Infrastrukturen, die durch das Moment der Vernetzung infrastruktureller Ensembles die imaginäre Wirkung einzelner Apparate erheblich übertrifft. Hingewiesen wurde mit Blick auf die bildstiftenden Wirkungen von Infrastrukturen bereits auf zwei wesentliche Aspekte. Zum einen zeichnen sich die von Infrastrukturen bedingten Imaginationen durch ambivalente Konnotationen aus, wobei die negative Variante zunächst ganz klar die dominierende ist. Zum zweiten steht die imaginäre Medialität infrastruktureller Neuerungen immer auch in Zusammenhang mit ihren Wirkungen auf der organisatorischen Ebene. Was in den kommenden Abschnitten gezeigt werden soll, ist nun Folgendes: Wenn durch die Verbreitung des öffentlichen Nahverkehrs bestimmte Bild- und Assoziationsfelder entstehen, dann stehen diese wiederum in einer Wechselwirkung mit bestimmten Diskursen und Diskursfeldern dieser Zeit. Das heißt, der Nahverkehr bietet auf der einen Seite Anschlussmöglichkeiten – also Beschreibungsmodelle – für bestimmte Diskurse. Auf der anderen Seite aber soll gezeigt werden, dass Infrastrukturen ein Potential zur Produktion von Bildfeldern bereitstellen, das über-
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haupt erst die Entstehung, zumindest aber die Verstärkung bestimmter Diskurse bedingt. Eine infrastrukturelle Neuerung wie der innerstädtische Massentransport wird dergestalt zu einem Medium, das formenbildend auf zeitgenössische Diskursformationen einwirkt. Wenn die Rede von einem Wechselverhältnis von Infrastruktur und Diskursproduktion war, dann bedeutet das, dass die Diskurse, die vermittels des infrastrukturell bedingten Bildreservoirs entstanden bzw. verschärft worden sind, natürlich wiederum Einfluss darauf haben, wie die Infrastruktur in der Folge wahrgenommen wird – und damit dann natürlich Einfluss darauf haben, welche imaginäre Wirkung künftig von dieser Infrastruktur ausgehen wird. Wenn man um die imaginäre Medialität von Infrastrukturen weiß, dann erscheint insbesondere der technikkritische Diskurs, der im Zuge von Industrialisierung, Elektrifizierung und Urbanisierung noch einmal eine ganz neue Vehemenz gewinnt, in einem vollständig veränderten Licht. Nicht nur wird deutlich, dass es eben gerade die bildstiftende Wirkung von Infrastrukturen ist, die ganz erheblichen Einfluss auf Herausbildung und Ausformung dieses Diskurses hat, was bedeutet, dass sich der technikkritische Diskurs nicht aus einer „reinen“, möglichst objektiven Analyse der Wirklichkeit ergeben hat, sondern dass er durch bestimmte assoziative Anknüpfungspotentiale in seinen Urteilen beeinflusst ist. Denn zu unterscheiden ist nicht immer mit letzter Sicherheit, ob ein Autor selbst der imaginären Wirkung unterliegt oder ob er diese gezielt als rhetorisches Mittel aufnimmt. Für die Einschätzung technikkritischer Perspektiven bedeutet das aber noch etwas anderes: Denn widerlegt wird mit der These von der imaginären Medialität von Infrastrukturen gleichzeitig auch, was in der kursorischen Geschichte der Technikkritik als traditionell wiederkehrendes Argument identifiziert worden ist: dass Technik – und Infrastrukturen damit umso mehr – keine produktiven kulturellen Potentiale innewohnen, dass sie sogar vielmehr destruktiv auf kulturelle Entwicklungen einwirken. Da nun aber Infrastruktur kraft ihrer imaginären Potentiale nicht nur für die Sprache, sondern auch für die Diskurse selbst zur medialen Grundlage wird, wird man zweifelsohne deren produktive kulturelle und formengebende Wirkung anerkennen müssen. Ein zeitgenössischer Sprachtheoretiker, der nicht nur immer wieder die aktuellen Wechselwirkungen von materialen Konfigurationen der Wirklichkeit und Spracheentwicklungen betont hat, sondern dem selbst sein allzu nah an den Formen der Wirklichkeit orientierter „Zeitungs- und Börsenjargon“ 1 als nicht wissenschaftsadäquat vorgeworfen worden ist, ist Fritz Mauthner. Dass Mauthner selbst dabei aller-
1
Lessing, Theodor: „Rezension von Fritz Mauthners ‚Beiträgen zu einer Kritik der Sprache‘ 1901-1902“, in: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur und Kunst 18, Bd. 3, S. 410-419, hier S. 418.
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dings in seinen Beiträgen zu einer Kritik der Sprache,2 die erstmals 1901/1902 erscheinen, diese Entwicklung in typisch zivilisationsskeptischer Manier als Kompetenzverlust von Sprache und Sprachvermögen einstuft, mag wenig überraschen. Ebenso wenig mag überraschen, dass Mauthners bildreiche Argumentationen der beste Beweis dafür sind, wie eng seine Urteile an das von ihm verwendete Bildmaterial gebunden sind, denn unübersehbar ist die Kohärenz von zeitgenössischer Umwelt und Mauthners Sprache selbst. So kommt Mauthner zu der vernichtenden Einschätzung, dass mit dem zeitgenössischen Zustand der Sprache Verständigung nicht möglich, der sprachliche Austausch nicht nur „unfruchtbar“, sondern sogar „niederträchtig“ sei. Nicht zuletzt deshalb gelangt Mauthner zu diesem Urteil, weil er für die Beschreibung der Verfassung der Sprache das mediale Korsett von Leitungs- und Kanalmetaphern benutzt. Von Leitungs- und Kanalmetaphern allerdings – das kommt erschwerend hinzu – die Teil einer durch und durch maroden Infrastruktur sind. Gleich zu Beginn des ersten Bands der Beiträge heißt es über den desolaten Zustand der Sprache: „In ihren verrosteten Röhren fließt durcheinander Licht und Gift, Wasser und Seuche und spritzt umsonst überall aus den Fugen, mitten unter den Menschen; die ganze Gesellschaft ist nichts als eine ungeheure Gratiswasserkunst für dieses Gemengsel, jeder einzelne ist ein Wasserspeier, und von Mund zu Mund speit sich der trübe Quell entgegen und vermischt sich trächtig und ansteckend, aber unfruchtbar und niederträchtig […].“3
Ob der Zustand der Sprache um die Jahrhundertwende tatsächlich so alarmierend gewesen ist, sei dahingestellt. Genauso wenig soll diskutiert werden, ob das Funktionssystem Stadt zu dieser Zeit derart desolat gewesen ist. Viel wichtiger ist stattdessen in diesem Zusammenhang, dass Mauthner zu seinen Diagnosen über den Verfall der Sprache kommt, indem er in Bildern denkt und argumentiert, die aus infrastrukturellen Organisationsmodi entnommen sind. Er führt damit gleich in doppelter Hinsicht das Prinzip der imaginären Medialität von Infrastrukturen vor. Einmal durch sein Urteil selbst: „Die Sprache sei geworden wie eine große Stadt“, heißt es noch deutlicher ein paar Zeilen weiter oben: „Kammer an Kammer, Fenster an Fenster, Wohnung an Wohnung, Haus an Haus, Straße an Straße, Viertel an Viertel, und alles ist ineinander geschachtelt, miteinander verbunden, durcheinander geschmiert, durch Röhren und Gräben […].“4 Der Funktionszusammenhang Stadt, so Mauthner, ist zur medialen Grundlage für eine
2
Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. I-III.
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Ebd., Bd. I. S. 27.
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Veränderung des Funktionszusammenhangs Sprache geworden, der sich den Formen und Strukturen des urbanen Systems angeglichen hat. Darüber hinaus aber liefert Mauthner auch durch die Bildwahl seiner Argumentation selbst – und vermutlich sogar unbewusst – den Nachweis über die imaginäre Medialität von Infrastrukturen. Indem er in Infrastrukturbildern argumentiert und seine Diagnosen über den Zustand der Sprache vermittels dieser Bilder zu bekräftigen versucht, führt er vor, dass es sich bei seiner Beurteilung der Sprache nicht mit aller Sicherheit um einen objektiven Befund handelt, sondern dass die assoziativen Potentiale der Infrastruktur und die Möglichkeit der strukturellen Analogisierung beider Phänomene die Schlussfolgerung über die zeitgenössische Sprache in wesentlichen Teilen vorgibt. Mauthner bleibt nun aber nicht bei seiner Erkenntnis der Einflüsse der Strukturen der materialen Wirklichkeit auf die Sprachentwicklung stehen. Er liefert auch eine Erklärung dafür, wie es zu diesem Einfluss kommt. Mauthner zufolge ist die imaginäre Medialität von Infrastrukturen ganz wesentlich gekoppelt an die Konditionierungsanforderungen, die im großstädtischen Alltag von ihnen ausgehen. Was in den kulturgeschichtlichen Darstellungen über den öffentlichen Nahverkehr unter dem Stichwort der psychotechnischen Konditionierung als Faktor organisatorischer Medialität dargestellt worden ist, das wird in den Überlegungen Mauthners zum wesentlichen Auslöser für die imaginäre mediale Wirkung, die von Infrastruktureinrichtungen abstrahlt. Mauthner selbst gibt als Veranschaulichung für sein Konzept der imaginären Medialität von Infrastrukturen – natürlich ohne dieses Vokabular zu verwenden – das Beispiel der Konditionierung des Großstädters als Verkehrsteilnehmer, dessen Aufmerksamkeit sich nach dem Streckenplan der Straßenbahn ausrichtet: „Ich stehe in der Großstadt an einer Straßenecke, um auf meine Straßenbahn zu warten. Hier umschwirren mein Ohr vergebens die Millionen einander kreuzender Schallwellen, von denen ich ihrer Schwäche wegen nichts wahrnehme. Aber auch von den Schallwellen, die bei Nacht durch ihre Stärke mich verletzten würden, umtoben mich gleichzeitig tausende. Hunderte von Menschen gehen an mir vorüber, und ich würde jeden einzelnen Schritt hören, wenn es Nacht wäre. Dutzende von Wagen würden mich mit ihrem widerwärtigen Gerassel martern. Ich aber vernehme das Gesamtgeräusch der Großstadt gar nicht oder doch nur wie das Summen eines Bienenschwarms. Ich sehe von dem Gesamtbilde der Großstadt, in welchem von meinem Standpunkte aus tausend Maler tausend verschiedene Motive erblicken können, nichts, was nicht zufällig meine Aufmerksamkeit erregt. Ich sehe aber auf mehr als hundert Schritte weit plötzlich das farbige, eingeübte Zeichen meiner Straßenbahn. Ist die Behauptung wirklich zu kühn, daß die Ordnung, welche der Menschengeist in die Wirklichkeit hineinverlegt, nichts
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Anderes sei als diese Aufmerksamkeit meiner Sinne auf das Farbzeichen meiner Straßenbahn.“5
Mauthners Frage am Ende seiner Ausführungen, das deutet schon das fehlende Fragezeichen an, ist eine rhetorische. Was er anhand der Ausrichtung der Wahrnehmung an den Bedingungen des Verkehrssystems beschreibt, ist die Konfiguration des modernen Denkens durch das Medium Infrastruktur. So kann Christine Kaiser Mauthners Ausführungen wie folgt auf den Punkt bringen: „Die Bedingungen der großstädtischen Lebenswelt steuern die Orientierung des Individuums. Diese wiederum prägt die Konzeptualisierung von Sprache und Kommunikation: Mauthners Kritik an der Kommunikationsuntauglichkeit des Mediums Sprache erscheint also gewissermaßen durch die Großstadterfahrung erst bedingt.“6
Ergänzend wäre noch hinzuzufügen: Qua Sprache und Kommunikation wiederum werden bestimmte urbane Bildpotentiale in aktuelle Diskurse eingebunden, so dass die materialen Strukturen der Großstadt wiederum mit bestimmten Konnotationen und Images belegt werden. Es handelt sich dabei um einen wechselseitigen Prozess, der, was seine gegenseitigen Bedingtheiten angeht, letztlich nicht aufzuschlüsseln sein wird. Wenn nun im Folgenden die medialen Wirkungen des Nahverkehrs untersucht werden sollen, dann werden diese sich zunächst und am augenscheinlichsten in der Entstehung und Etablierung bestimmter Bild- und Metaphernfelder äußern. Um nun dem Wechselverhältnis von Infrastruktur und Diskursformationen gerecht zu werden, das als Wesen der medialen Wirkungszusammenhänge bestimmt worden ist, muss letztlich dreierlei in den Blick genommen werden: Zum einen die Darstellung der imaginären Implikationen, die die Einführung des neuen Verkehrssystems mit sich bringt. Damit ist dann zweitens verbunden die Identifizierung der Diskurse, die an diesen Bildern ihre Argumentationsstruktur ausrichten oder sogar erst entwickeln. Das bedeutet dann auch darauf zu schauen, ob bestimmte Diskurse die materialen Strukturen der Wirklichkeit als imaginäre Vehikel benutzen, um ihre Diskurshoheit zu stärken und damit dann natürlich wiederum gleichzeitig auch das Image dieser materialen Strukturen nachhaltig zu beeinflussen.
5
Ebd., Bd. III, S. 588.
6
Kaiser, Christine: „‚Die Sprache ist geworden wie eine große Stadt.‘ Fritz Mauthners metaphorisches Sprechen im Zeichen der Großstadt und des modernen Verkehrs“, in: Henne, Helmut/Kaiser, Christine (Hg.): Fritz Mauthner – Sprache, Literatur, Kritik. Festakt und Symposium zu seinem 150. Geburtstag, S. 140.
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Nur durch dieses Prinzip der Imagebildung und Imageverstärkung ist zu erklären, warum so verschiedene Bild- und Diskursfelder an ein und demselben Phänomen eröffnet und festgemacht werden können. Interessant ist dabei natürlich, wie dieses Phänomen – der öffentliche Nahverkehr – beschaffen sein muss, damit er sich für solch eine Anbindung von Images eignet. Nicht zuletzt ist auch in diesem Fall die These vom zyklischen Verlauf von Infrastrukturen nicht zu vergessen, die darauf schließen lässt, dass auch die Bildwirkung von Infrastrukturen in einer Abhängigkeit zum Faktor Zeit steht.
II. Der Nahverkehr als Medium einer kritischen Modernewahrnehmung
1. S IEGFRIED K RACAUER : D IE U NTERFÜHRUNG In den methodischen Vorüberlegungen zu dieser Untersuchung wurde auf die Arbeiten Siegfried Kracauers hingewiesen, der mit dem Prinzip der Analyse von materialen Oberflächenstrukturen einer der wichtigsten Vordenker für ein erweitertes Verständnis von Kultur ist. Kracauer nimmt das Konzept seines Lehrers Georg Simmel auf, demzufolge „sich von jedem Punkt an der Oberfläche des Daseins, so sehr er nur in und aus dieser erwachsen scheint, ein Senkblei in die Tiefe der Seelen schicken läßt,“ mit der Folge, „daß alle banalsten Äußerlichkeiten schließlich durch Richtungslinien mit den letzten Entscheidungen über Sinn und Stil des Lebens verbunden sind.“1 Auch Kracauers Arbeiten sind folglich grundiert von der Überzeugung, dass in den Figurationen der materialen Wirklichkeiten die Realisierung dessen zu erkennen ist, was den geistig-physischen Gehalt einer Zeit ausmacht. Was Kracauer und Simmel in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als kulturanalytisches Verfahren etablieren, kommt dabei dem nahe, was in dieser Arbeit als die medialen Wirkungen von Infrastrukturen bezeichnet wird. Was sowohl Kracauer als auch Simmel allerdings weitgehend unreflektiert lassen, ist die Tatsache, dass auch sie selbst in diesen medialen Wirkungszusammenhang eingebunden sind. Das heißt, dass durch die imaginären Konnotationen, die mit bestimmten Wirklichkeitsstrukturen verbunden sind, ihre Analysen zwangsläufig in bestimmter Art und Weise präfiguriert sind. Darüber hinaus bedeutet es, dass sie in bestimmten Strukturen der Wirklichkeit ein geeignetes Bildreservoir finden, um ihre Analysen daran anknüpfen zu können. Das wiederum bedeutet, dass sie auf diese Weise selbst
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Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Gesamtausgabe, Bd. 7, S. 120.
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an einem Image mitformen, das mit bestimmten „Oberflächenerscheinungen“ verbunden ist. In den Erläuterungen zu Kracauers Prinzip der Analyse von gesellschaftlichen Oberflächenstrukturen im Eingangskapitel dieser Untersuchung ist eine Passage aus seinem programmatischen Aufsatz Das Ornament der Masse zitiert. Es soll an dieser Stelle nochmals in voller Länge wiedergegeben werden, weil es zumindest einen Hinweis darauf enthalten mag, dass Kracauer das Wechselverhältnis von Imageund Diskursproduktion – auch wenn er es nicht explizit reflektiert – sehr wohl bewusst gewesen ist: „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenerscheinungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst. Diese sind als der Ausdruck von Zeittendenzen kein bündiges Zeugnis für die Gesamtverfassung der Zeit. Jene gewähren ihrer Unbewußtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden. An seine Erkenntnis ist umgekehrt ihre Bedeutung geknüpft. Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig.“2
Nicht nur, erklärt Kracauer, sei die mentale Verfasstheit einer Gesellschaft aus ihren Oberflächenerscheinungen abzulesen. Umgekehrt gilt genauso, dass der „Grundgehalt des Bestehenden“ – das, was hier die Diskursfelder einer Zeit genannt werden – an die Bedeutung dieser Oberflächenstrukturen – das, was hier als ihr Image bezeichnet wird – geknüpft ist. Pointierter noch findet man diese Einsicht in einem der wohl bekanntesten Sätze Kracauers. „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion“, heißt er und findet sich in den einleitenden Passagen zu Kracauers Studie über die Angestellten.3 Zunächst enthält dieser Satz einen Hinweis auf das Gemachte, Konstruierte, künstlich Zusammengesetzte dessen, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, und verweist damit auf die Notwendigkeit der Erkenntnis bestimmter Formen und Formierungen der materialen Wirklichkeit – an denen man dann wiederum Formierungen der gesellschaftlichen Verfasstheit ablesen kann. Die Passage geht aber, als Anweisung zur Deutung von Oberflächenstrukturen, noch weiter: „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der
2
Kracauer, Siegfried: „Das Ornament der Masse“, in: Schriften, 5.2, S. 57.
3
Ders.: „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“, in: Schriften, Bd. 1, S. 216.
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Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird.“4
In dieser Anleitung steckt also noch mehr. Wenn Kracauer von einer Zusammenstiftung des Mosaiks durch den Beobachter – und zwar aufgrund der Erkenntnis des Gehalts der einzelnen Beobachtungen – spricht, gewinnt der Satz, dass die Wirklichkeit eine Konstruktion sei, eine weitere Bedeutungsebene hinzu: Er bedeutet dann, dass das, was wir als Wirklichkeit wahrzunehmen meinen, ein Konstrukt ist, das vom Beobachtenden nicht nur zusammengesetzt ist, sondern dem eine gewisse Form des Vorwissens, und das heißt: der Bewertung immer schon mitgegeben ist. Was Kracauer hier als kulturanalytische Methode der materialen Wirklichkeit erläutert, bestätigt mithin das Prinzip der Inframedialität. Auf der einen Seite sind es die materialen Strukturen, die bestimmte Bilder und Diskurse evozieren. Auf der anderen Seite sind es diese Diskurse und Bilder, die in den materialen Strukturen eine ideale Anschlussmöglichkeit finden und auf diese Weise deren imaginäre Wirkung verstärken. Wenn nun anhand eines Feuilletons von Kracauer dargestellt werden soll, wie die Beschreibung von Oberflächen in eine Kulturanalyse überführt wird, indem der Modus der Beschreibung sich in einen der Imagination und Konnotation transformiert, dann geht es darum, das grundsätzliche Prinzip der imaginären Medialität zu verdeutlichen und gleichzeitig damit natürlich auch zu zeigen, wie Infrastrukturen auf diese Weise mit bestimmten Images belegt werden. Die Unterführung5 erscheint im März 1932 in der Frankfurter Zeitung. Gegenstand ist eine jener Eisenkonstruktionen, die in den Bereich der ortsfesten Anlagen von infrastrukturellen Systemen gehören: ein Knotenpunkt im infrastrukturellen Netz. In diesem Fall: die Gleisunterführung beim S-Bahnhof Charlottenburg. In einer sehr klaren, dreiteiligen Dramaturgie führt Kracauer sein Prinzip der Analyse von Oberflächen vor. „Dicht beim Bahnhof Charlottenburg“, beginnt Kracauer seinen Text, „zieht sich unter den Gleisen eine schnurgerade Straße hin, die ich oft passiere, weil an ihr jenseits des Bahndammes der Bahnhofseingang liegt.“ Zunächst einmal ist es eine örtliche Orientierung, die Kracauer dem Leser gibt: eine Straße unter den Gleisen beim Bahnhof Charlottenburg. Hinzu kommt die Information, dass er diese Straße regelmäßig benutze, um zum Eingang des Bahnhofs zu gelangen. Zwei Hinweise auf die moderne Stadt- und Verkehrsentwicklung finden sich bereits in diesem ersten Satz: Einmal ist es die Selbstverständlichkeit, mit der Kra-
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Ebd.
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Kracauer, Siegfried: „Die Unterführung“, in: Schriften, Bd. 5.3.: Aufsätze 1932-1965, S. 40ff. im Folgenden aufgrund der Kürze des Textes wiederum ohne Seitenzahl zitiert.
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cauer sich, ohne es explizit machen zu müssen, zum urbanen Verkehrsteilnehmer erklärt: Er passiert diese Straße oft, weil sie zum Eingang des Bahnhofs führt.6 Zum anderen weist die Formulierung der „schnurgerade(n) Straße“ auf das Prinzip urbaner Umgestaltung traditioneller Baustrukturen, das Andreas Bernard als symptomatisch für die Moderne kennzeichnet: das Schlagen von geometrischen Breschen und Schneisen und die dadurch erfolgende Ordnung der zuvor heterogenen Ordnung von Straßen und Gassen. 7 Schon im zweiten Satz und angesichts der Intensität seines Urteils fast in einer Art Überrumpelungsstrategie konfrontiert Kracauer den Leser mit dem Unbehagen, das ihn beim Benutzen der Straße befällt: „Ich gestehe“, schreibt er, „daß ich diese Unterführung nie ohne ein Gefühl des Grauens durchmesse.“ Was Kracauer hier macht, ist Folgendes: Abgesehen von dem Hinweis auf ihre „schnurgerade“ Anlage, hat er noch keinerlei Beschreibung des Oberflächenphänomens Unterführung gegeben. Trotzdem bestimmt er ihre imaginäre Konnotation schon an dieser Stelle mit großer Entschiedenheit: Sie ruft Grauen hervor. Und nicht nur das: Sie scheint ihre rationalisierte Anlage sofort auf den Benutzer zu übertragen, der sie nicht etwa schlendernd durchquert, sondern sie durchmisst. „Es könnte von ihrer Konstruktion herrühren, aber ich glaube nicht einmal, daß sie allein das Grauen verursacht“, schreibt Kracuaer weiter. Aber was sich als Unsicherheit über die Ursache des Unbehagens ausgibt, das vermeintlich nicht allein der Konstruktion der Unterführung zuzuschreiben sei, ist reine Rhetorik. Denn tatsächlich wird die imaginäre Wirkung der Unterführung hier nur nachdrücklich bestätigt. Noch einmal wird die Formulierung über das Grauen wiederholt, um dann in der folgenden Passage eine genauere Beschreibung der Unterführung zu geben, bei der dann natürlich immer schon mitschwingt: Sie ruft Grauen hervor. Der Abschnitt setzt mit einer weiteren wertenden Passage ein: Sie sei „von einer finsteren Strenge […], der jede Heiterkeit fehlt“, heißt es, um dann – natürlich ebenfalls nicht wertfrei – fortzufahren: „Backsteinmauern grenzen die Unterführung ein, verrußte Mauern, die mit zwei Reihen eisernen Stützen zusammen die niedere Decke tragen. Diese Decke besteht aus zahllosen Eisenträgern, die einander in winzigen Abständen folgen und mit unendlich vielen Nietnägeln ver-
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Wie schon im Falle von Roths Passagier in Die Tücke des Vehikels soll hier – da der Fokus der Analyse auf anderen Aspekten des Textes liegt – das feuilletonistische Ich als Autor-Ich behandelt werden, ohne zu diskutieren, inwieweit es sich bei dieser personalen Form um eine rhetorische Strategie handelt.
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Vgl. Bernard, Andreas: Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne.
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sehen sind. Zwischen ihnen sitzt eine graue Betonmasse, die nicht minder massiv wirkt wie die Träger selbst.“
Zwei zunächst scheinbar ganz gegensätzliche Parameter sind es, die diese Beschreibung dominieren. Eine bedrückende Enge einerseits: Backsteinmauern grenzen die Unterführung ein, die niedrige Decke besteht aus Eisenträgern, die in winzigen Abständen aufeinander folgen. Auf der anderen Seite das Massive und gleichzeitig Unüberschaubare der Konstruktion: Eiserne Stützen tragen die Decke, die wiederum aus Eisenträgern besteht und mit Nietnägeln verschweißt ist. Dazwischen eine graue Betonmasse. Die Eisenträger sind zahllos, Nietnägel gibt es unendlich viele. Das Bild, in das Kracauer seine Beschreibung nun übergehen lässt, verstärkt den Eindruck von Bedrückung, Unendlichkeit und Unbezwingbarkeit noch: „In der Dämmerung scheint die Unterführung nicht aufhören zu wollen. Die Mauern zu beiden Seiten dehnen sich bis zum Fluchtpunkt, die eisernen Stützen, die an den Rändern der Fußgängersteige eingerahmt sind, vermehren sich und werden bedrohlich, und die Decke senkt sich immer tiefer herab.“
Dann wird es fast pathetisch: „Eine klirrende Höllenpassage, ein düsterer Zusammenhang von Backsteinen, Eisen und Beton, der für alle Zeiten gefügt ist.“ Während Kracauer im ersten Satz: „In der Dämmerung scheint die Unterführung nicht aufhören zu wollen“, noch den Modus des subjektiven Eindrucks mitformuliert, wechselt er in den folgenden Formulierungen in einen Aussagemodus, der als objektive Beobachtung darstellt, was tatsächlich Assoziation und Interpretation ist. Hier wird nicht nur einfach eine Oberflächenerscheinung beschrieben. Von Beginn an ist die „Erkenntnis ihres Gehalts“8 Teil der Beschreibung dieser Oberfläche. Die imaginäre Wirkung der Unterführung, die in der Formulierung der „klirrenden Höllenpassage“ kulminiert, entsteht natürlich einerseits durch die reale Beschaffenheit der Materialien: Beton, vor allem aber Eisen gelten zu dieser Zeit als quasi unbezwingbare Stoffe, die alles Lebendige nicht nur zeitlich überdauern, sondern die auch allen Gewalten der Natur überlegen sind. „Steel stood the test“. Das ist der Schriftzug einer Reklame amerikanischer Stahlfabrikanten, die 1924 in der Berliner Illustrierten erscheint. Das zugehörige Bild der Werbung zeigt eine unversehrte Eisenkonstruktion über einer von einem Erdbeben zerstörten Landschaft.9 Wenn die Stahlindustrie hier gezieltes Imagemarketing betreibt, dann steht das, was Kracauer
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Kracauer, Siegfried: „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“, in: Schriften, Bd. 1, S. 216.
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Berliner Illustrierte Zeitung, 13.4.1924.
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an Imagemarketing für eben dieses Produkt leistet, dem kaum nach. Die eiserne Unterführung, schreibt er, ist „für alle Zeiten gefügt“. Mit dem Unterschied allerdings, dass bei Kracauer dieses Festgefügte der Konstruktion eben jenes „Grauen“ verursacht. Kracauer gibt in diesem ersten Abschnitt mit wenigen Strichen nicht nur ein Beispiel für die imaginäre Wirkung von Infrastrukturanlagen. Er leistet durch seinen Text auch einen Beitrag, um dieses Bild zu verstärken: Die Unterführung als fest gefügte, unüberwindliche Konstruktion wird zur „klirrenden Höllenpassage“, die der Großstädter als Verkehrsteilnehmer täglich zu überwinden hat. Hat Kracauer trotz der Relaisfunktion der Unterführung im Nahverkehrsnetz bisher den Eindruck nicht nur von Unwirtlichkeit, sondern von Ausgestorbenheit entstehen lassen, dann kommt im zweiten Absatz des Textes nun plötzlich Leben und Bewegung ins Spiel. Fast erleichternd ist das Auftreten der Passanten, nachdem bisher ein nahezu unheimlicher, eben: grauenerregender Stillstand in dem Beschriebenen geherrscht hat. „Viele Menschen eilen durch diese Unterführung“, heißt es, aber das Positive der Belebung der Unterführung wird umgehend wieder zurückgenommen: „Ich sage eilen, und meine es wörtlich. Denn sei es, daß die Passanten nach Hause oder zum Zug müssen, sei es, daß ihnen das kellerartige Wegstück Unbehagen einflößt: sie blicken nicht nach rechts oder links, sie machen so rasch, als sehnten sie sich danach, wieder an die Oberfläche zu kommen.“
Zwar will Kracauer nicht mit Sicherheit entscheiden, ob die Passanten aus ganz praktischen Gründen in Eile sind, etwa weil sie einen Zug erreichen müssen oder vom Zug kommend auf dem Weg nach Hause sind. (Auch in diesem Fall allerdings wäre die Unterführung als ortsfeste Anlage des urbanen Infrastruktursystems zumindest ein Symbol für die Rationalisierung und Beschleunigung des Lebensrhythmus in der modernen Metropole.) Oder aber ob die Gründe für ihre Hast sehr viel grundsätzlicher sind: Ob sie, wie Kracauer selbst, durch ein Unbehagen getrieben werden, das von der eisernen Konstruktion hervorgerufen wird, die das Lebendige nicht nur beherrscht, sondern ihm geradezu feindlich gegenüber steht. Fast kommt der Eindruck auf, erst an der Oberfläche würden die Passanten wieder Luft holen können. Umso fataler erscheint, dass es auch noch Menschen gibt, deren Aufenthalt in der unwirtlichen Unterführung auf Dauer gestellt ist, während die Passanten an ihnen vorbei eilen, ohne einen Blick auf sie zu werfen, und damit das Gefühl der Unwirtlichkeit noch verstärken:
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„Trotz ihrer Hast, die genausowenig einladend ist wie das durch die Resonanz verstärkte Gepolter der Lastwagen, haben sich in der Unterführung verschiedene Stammgäste angesiedelt, die hier offenbar Zuflucht vor Kälte und Regen suchen.“
Diese Gestalten selbst – wie als würde die Konstruktion sie mehr und mehr an sich angleichen – sind nur noch verkümmerte Abziehbilder des Lebendigen: „Zwei eiserne Stützen nahe beim Ausgang umrahmen einen weißgekleideten Bäcker, der Salzbrezeln feilbietet, die niemand kauft. Tiefer im Innern halten sich mehrere Bettler auf, die von der Backsteinmauer, an der sie stehen und kauern, kaum noch zu unterscheiden sind. Alte, längst verwelkte Mauerblümchen, beschäftigen sie sich damit, irgendeinen Schlager zu dudeln, dem nur die Nietnägel lauschen, oder murmelnd auf eine Gabe zu warten.“
Wie ein Standbild wirkt der Bäcker, der nur noch als Staffage Brezeln anbietet, die hier unten sowieso niemand kaufen wird. Genauso wie eine vegetative Tätigkeit wie das Essen in der Unterführung nicht vorkommt, werden auch auf die Lieder der Bettler nicht mehr beachtet – allerdings sind es als Schlager auch selbst nur noch Produkte der Unterhaltungsindustrie. Während der Bäcker als Standbild in eine seiner Umgebung entsprechende Erstarrung gefallen ist, sind die Bettler, stehend oder kauernd, dudelnd und murmelnd, Ausweise der Austrocknung aller Lebendigkeit. Wieder kommt Kracauer jetzt auf das Grauen zu sprechen, das ihn beim Durchqueren der Unterführung befällt. Und wieder wendet er dieselbe rhetorische Taktik wie bei der Beschreibung der Konstruktion an. „Was in mir dieses Grauen hervorruft“, schreibt er, „ist aber auch nicht eigentlich die entsetzliche Unverbundenheit aller Personen.“ Was sich als Einschränkung ausgibt, dient nur dazu, das Entsetzliche dieser Unverbundenheit in den nächsten Sätzen noch intensiver zu beschreiben: „Ich weiß natürlich, daß sie vorhanden ist“, setzt Kracauer ein, um dann ein wahrlich deprimierendes Bild zu entwerfen: „Von den schnellen Passanten hat jeder seine Privatangelegenheiten im Kopf, die ihn daran hindern, auf die Dauerbewohner der Unterführung zu achten. Diese wiederum erblicken in den Passanten nur Käufer oder mildtätige Spender. Der weiße Bäcker scheucht die Kinder fort, die sich an seinen Brezeln vergreifen wollen. Der Zieharmonika-Bettler wärmt sich an seiner Musik. Der murmelnde Bettler verwechselt vielleicht in halbem Irrsinn die Menschen mit Steinen und Stützen. Und ein aus der Mauer gequollenes Mütterchen, das am Boden hockt, starrt mechanisch auf die vorbeiziehenden Hosenbeine, Rocksäume und Schuhe.“
Die Beziehungen zwischen den Menschen, wie Kracauer sie beschreibt, existieren in dieser Unterführung nur noch als rationalisierte oder rechnerische. Im Grunde aber sind sie gar nicht vorhanden. Das Gegenüber wird nur noch in Versatzstücken wahrgenommen: vorbeiziehende Hosenbeine, Rocksäume und Schuhe. Oder aber es
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wird sogar Teil der Konstruktion: „Der murmelnde Bettler verwechselt vielleicht in halbem Irrsinn die Menschen mit Steinen und Stützen“, was kein Wunder ist, denn das am Boden hockende Mütterchen ist gerade „aus der Mauer gequollen.“ Kracauer beobachtet in diesem zweiten Abschnitt des Textes nicht nur einen mehr oder minder zufälligen Ausschnitt aus dem großstädtischen Straßenleben, sondern dieser Ausschnitt wird für ihn zum symptomatischen Ausdruck der gesellschaftlichen Verfasstheit insgesamt, genauso wie im ersten Abschnitt die Unterführung zum Symptom für die materialen Konstruktionen der Moderne werden konnte. Im dritten Abschnitt nun wird er beide Seiten, die Konstruktion und die Menschen, zusammenführen. Der eigentliche Auslöser für das Grauen, das er in der Unterführung empfindet, sei Folgendes: „Es ist wohl der Gegensatz zwischen dem geschlossenen, unerschütterlichen Konstruktionssystem und dem zerrinnenden Durcheinander“, schreibt Kracauer diesmal ohne den rhetorischen Dreh der Einschränkung, „der das Grauen erzeugt.“ Und noch einmal rekapituliert er diesen Gegensatz: „Auf der einen Seite die Unterführung: eine vorbedachte, stabile Einheit, in der jeder Nagel, jeder Backstein an seiner Stelle sitzt und dem Ganzen hilft. Auf der anderen Seite die Menschen: auseinandergesprengte Teile und Teilchen, unzusammenhängende Splitter eines Ganzen, das nicht vorhanden ist. Sie können aus Mauern, Trägern und Stützen einen Verband schaffen, aber sie sind nicht fähig dazu, sich selber zu einer Gesellschaft zu organisieren.“
Kracauers Folgerung: „Kraß und schrecklich wird durch das vollkommene System toter Stoffe die Unvollkommenheit des lebendigen Chaos enthüllt.“ Kracauer stellt auf den ersten Blick scheinbar zwei Gegensätze gegenüber, die durch ihre Gegensätzlichkeit die Verfasstheit des jeweils anderen umso offensichtlicher erscheinen lassen. Wenn jener Konstruktion, die eben noch zur „klirrende(n) Höllenpassage“ erklärt worden ist, in diesem Vergleich nun sogar noch ein positives Moment zuerkannt wird: „eine vorbedachte, stabile Einheit, in der jeder Nagel, jeder Backstein an seiner Stelle sitzt und dem Ganzen hilft“, dann dient das allein dazu, das Herausfallen der Menschen aus ihrem ureigenen Verbund umso mehr zu betonen: „Der Bäcker steht unnütz herum, während die Eisenstützen, die ihn umrahmen, eine Funktion haben, und zum Unterschied von den Wänden, die tragen dürfen, sind die Bettler Ballast.“ Schnell wird denn klar, dass es nicht eigentlich ein Gegensatz ist, den Kracauer aufmacht. Er will stattdessen zeigen, wie das eine der Spiegel des anderen ist, wie die klirrende Höllenpassage jede soziale Interaktion auf ihrem Boden gefrieren lässt, und wie eine rationalisierte Gesellschaft Konstruktionen baut, die ihre Interaktionsstrukturen gleichzeitig abbilden und verstärken: „Unmenschlich ist aber nicht nur die Planlosigkeit, mit der die Menschen dahintreiben, sondern auch die planmäßige Konstruktion der Passage.“ Vor allem aber will er zeigen, wie das eine aus dem anderen resultiert:
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„Wie sollte es anders sein, da sie von Menschen erbaut ist? Diese Stützen sehen wie Feinde aus, diese Mauern erinnern an Zuchthäusler, und diese Deckenträger summieren sich zu einem einzigen Alpdruck. Ein System, das so undurchdrungen und verlassen ist wie das anarchische Gemisch der Passanten und Bettler.“
Die „klirrende Höllenpassage“, in der alle Lebendigkeit durch die Rationalität der Konstruktion eingefroren worden ist, wird zum Symbol für eine Gesellschaft, in der zwar äußerlich noch alles in Bewegung, in Temperatur ist, in der die Kälte aber in die Beziehungen Einzug gehalten hat. Das nicht zuletzt deshalb – dafür stehen Kracauers ausführliche Schilderungen der Unwirtlichkeit der Unterführung –, weil die Gesellschaft sich durch ihre Konstruktionen einen Boden bereitet hat, der den menschlichen Bedürfnissen von Grund auf widerspricht. Kracauer kann deshalb in seiner Kulturanalyse von Oberflächenphänomenen zu dem Fazit kommen, dass die Gesellschaft sich mit ihren eisernen Infrastrukturanlagen einen materialen Ausdruck für ihren desolaten inneren Zustand geschaffen hat. Darüber hinaus kann er zu dem Fazit kommen, dass sie sich mit diesen Konstruktionen eine Umwelt geschaffen hat, in der keine anderen als die unterkühlt, unemphatischen Beziehungen, oder besser: Nicht-Beziehungen unter den Menschen möglich sind. Das ist allerdings ganz offensichtlich kein Wissen, das Kracauer allein aus der Beobachtung der Oberfläche gewonnen hat. Sondern, wie schon in seiner Anleitung für sein kulturanalytisches Verfahren zu lesen, liegt das Wissen „allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird.“10 Indem er seine Beobachtungen der Unterführung auf Grund der „Erkenntnis ihres Gehalts“ zusammenstiftet, zeigt Kracauer sich nicht nur als Involvierter in einen imaginären Wirkungszusammenhang von Infrastrukturen. Er gehört darüber hinaus zu denjenigen, die aktiv zu dem Image dieser Oberflächenphänomene beitragen und die auf diese Weise ihre Medialität verstärken. Am Ende von Kracauers Text steht ein zaghaft utopischer Ausblick auf eine menschenfreundlichere Konstruktion, die das Medium für eine menschenfreundlichere Gesellschaft sein könnte: „Und ich denke mir manchmal wie zum Troste bessere, schönere Konstruktionen aus. Solche, deren Baumaterialien nicht nur aus Eisen und Backsteinen, sondern gewissermaßen auch aus Menschen bestünden.“ Ganz klar aber sagt noch einmal der Hinweis auf die Materialien: Mit solchen eisernen und steinernen Konstruktionen, wie sie das infrastrukturelle Korsett der modernen Stadt bilden, ist etwas Derartiges nicht möglich. Folglich werden diese Konstruktionen immer zugleich Symbol und Grund für eine innerlich fragmentari-
10 Kracauer, Siegfried: „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“, in: Schriften, Bd. 1, S. 216.
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sierte, äußerlich rationalisierte und unterkühlte Gesellschaft sein. Und die „klirrende(n) Höllenpassage(n), wie sie durch die verkehrsinfrastrukturelle Erschließung zahllos im Stadtbild geworden sind, werden diejenigen Zeichen sein, an denen man diese Gesellschaft erkennt. Selbst in dieser Andeutung einer Wendung ins Positive wird mithin die Medialität des Bestehenden noch einmal verstärkt: „Immer wieder packt mich dasselbe Grauen, wenn ich durch die Unterführung gehe.“
2. „S TAHLSCHIENEN BILDEN DIE ERKALTETE M USCHEL S TADT “ 11 Vergegenwärtigt man sich noch einmal, was sich aus den kulturgeschichtlichen Darstellungen des öffentlichen Nahverkehrs als die organisatorische Grundlage für eine Neuorganisation des sozialen Lebenszusammenhangs ergeben, und nimmt hinzu, was sich an Kracauers Text Die Unterführung gezeigt hat: dass die imaginären Wirkungen des Systems öffentlicher Nahverkehr und seiner materialen Anlagen Diskurse formieren, indem sie ein in besonderer Art konnotiertes Bild- und Assoziationsreservoir bereitstellen, und dass umgekehrt bestehende Diskurse durch ihre Anbindung an diese Bilder nicht nur größere Popularität erfahren, sondern auch in ihrer imaginären Wirkung verstärkt werden, dann eröffnet das eine neue Perspektive auf die technikkritischen Schriften, die zu Anfang des 20. Jahrhundert formuliert werden, und mit ihnen auf die Technikkritik insgesamt. Setzt man an dieser Perspektive an, dann kann man feststellen, dass die Technikkritik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts von den Entwürfen konkreter wie imaginärer Verfestigungs- und Kälteszenarien dominiert wird, die nicht selten in Prognosen einer durch eine Expansion des Technischen bedingen umfassenden Kristallisation aller Lebensreichen münden. In Kracauers Feuilleton über die Unterführung beim S-Bahnhof Charlottenburg wird die Eisenkonstruktion der Gleisunterführung zu einer „klirrende(n) Höllenpassage“, woraufhin Kracauer zu der Diagnose der Unterkühlung sämtlicher sozialer Beziehungen kommen kann. Was an Kracauer gezeigt werden konnte, das soll auf den folgenden Seiten als grundsätzliches Phänomen technikkritischer Texte dieser Zeit dargestellt werden: Dass es zum einen die an den ständig zunehmenden Schienensträngen und Brückenkonstruktionen des Nahverkehrs besonders augenfällig werdenden Stahlarchitekturen des modernen Bauens sind, die Bilder von Kälter und Kristallisation hervorrufen. Und dass zum zweiten die stählerne Schiene selbst die Vorstellung des Prozesses der Verfestigung versinnlicht: Indem der flüssige und glühend heiße
11 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 152.
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Stahl durch Abkühlung zu vermeintlich unüberwindlicher Härte gelangt. „Steel stood the test“ – an diese Formel sei noch einmal erinnert. Schienen und Nahverkehrsgleise sind es, die zum beherrschenden Merkmal in den panoramatischen Beschreibungen Berlins werden: „Ringsum über Dächer langer gelber Gebäude führen Gleise, führen auf der Erde entlang, über hohe Eisengerüste. […] Dieser Ring ist Berlin“,12 notiert der russische Emigrant Viktor Schklowski auf einem seiner zahlreichen Spaziergänge durch die Stadt. In Döblins Berlin Alexanderplatz wird die Dampframme, die immer neue Stahlschienen in den Boden stößt, zur ständigen Hintergrundsszenerie, während die bereits vorhandenen Schienen, die nackt über die unzähligen Baugruben laufen, sich wie eiserne Gürtel um das Umbruchsszenario gelegt haben. Immer wieder sind es Bilder der Verfestigung, der Abkühlung und des Umbzw. Eingeschlossenseins von Schienensträngen, die man in den literarischen Entwürfen Berlins findet. 13 Berlin ist eine „metallische“ Stadt, „hart und grau wie Gusseisen“, 14 schreibt der Italiener Pier M. Rosso di San Secondo in seinen Feuilletons aus dem verrückten Berlin. Die Stadt habe sich, schreibt der portugiesische Berlin-Besucher Aquilino Ribeiro „der Epoche des Eisens und des Zements verschrieben“ und schlussfolgert: „Daher dieses Wesen einer entsetzlich verstandesmäßigen Stadt, in der alles, Straßen, Paläste, Denkmäler, Verkehrswege, nach Kalkül und Maß ausgeführt wurde.“15 Was sich zunächst als bloße Beschreibung des urbanen Raums ausgibt, geht tatsächlich in den meisten Fällen fast übergangslos in eine Mentalitätsanalyse über. Aus den Bildern einer eisernen Stadt wird unmittelbar die Diagnose eines strengen Korsetts sozialer Formen und einer umfassenden Kristallisation des Lebens abgeleitet. So ist es in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften nicht nur die Straßenbahn selbst, die zu einem Denk- und Erzählmodell wird, sondern das Schienensys-
12 Schklowski, Viktor: „Zoo oder Briefe nicht über die Liebe“, in: Es war einmal. Zoo oder Briefe nicht über die Liebe. Autobiographische Erzählungen, S. 270. 13 In Rodenbergs Stadtbeschreibungen aus dem späten 19. Jahrhunderts ist es noch der steinerne Ring, durch den der Ausbau des Verkehrswesens die Stadt einschließen wird. Eisen ist das Material des 20. Jahrhunderts: „Auf dem trockenen Bette des weiland Königsgrabens erheben sich die Strukturen eines anderen Werkes, der Stadtbahn, welche so recht im Geist der neueren Zeit rücksichtslos fortschreitet durch unsere Straßen, zerstört, was ihr im Wege ist, und bald mit ihrem steinernen Ring uns umschlossen haben wird.“ Rodenberg, Julius: Bilder aus dem Berliner Leben, Bd.1, S. 23. 14 di San Secondo, Pier M. Rosso: „Sehnsucht nach Griechenland an der Spree“, in: Wedekind in der Klosterstraße. Feuilletons aus dem verrückten Berlin, S. 92f. 15 Ribeiro, Aquilino: Deutschland 1920. Eine Reise von Portugal nach Berlin und Mecklenburg, S. 30.
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tem des Nahverkehrs wird zur einer Objektivation der abstrakten staatlichen und sozialen Autorität und damit zum Bild nicht nur des individuellen Lebensraums, sondern auch zum Symbol der Subjektfeindlichkeit der Lebensumstände. „Stahlschienen“, heißt es, „bildeten die erkaltete Muschel Stadt.“16 Weil es eben diese Stahlschienen sind, die die Stadt bilden, geht das Bild aus der organischen Natur, das Musil benutzt und das als „Muttermuschel“ noch nach Lebendigkeit und Aufgehobenheit klingt, in einen Zustand der Leblosigkeit und Erstarrung über: „Die Muttermuschel, voll kindlicher, freudiger, zorniger Menschenbewegung. Wo jeder Tropf als Tröpfchen anfängt, das sprüht und spritzt, mit einem Explosiönchen beginnt, von den Wänden aufgefangen und abgekühlt wird, milder, unbeweglicher wird, zärtlich an der Muttermuschel hängen bleibt und schließlich zu einem Körnchen an der Wand erstarrt.“17
Der Prozess, den man bei der Herstellung und Verlegung des Schienensystems beobachten kann, wird zu einem Prozess, der auf die Wahrnehmung der Stadt als ganzer übertragen wird. Hier verbleibt diese Übertragung aber nicht nur auf einer vordergründig optischen Ebene, wie in der gerade zitierten Berlin-Beschreibung von Viktor Schklowski: „Ringsum über Dächer langer gelber Gebäude führen Gleise, führen auf der Erde entlang, über hohe Eisengerüste. […] Dieser Ring ist Berlin.“18 Wie bei Kracauer die stählerne Unterführung, die klirrende Höllenpassage, wird bei Musil die erkaltete, aus Stahlschienen bestehende Stadt zu einem Raum, der allen lebendigen Impulsen entgegensteht: „In dem erfrorenen, versteinten Körper der Stadt fühlte er ganz zu innerst sein Herz schlagen. […] dieser langsam erkaltende, lächerliche Tropfen Ich, der sein Feuer, den winzigen Glutkern nicht abgeben wollte“,19 heißt es über Musils Protagonisten Ulrich, den Mann ohne Eigenschaften, der
16 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 152. 17 Ebd., S. 153. In seiner Erzählung Das Fliegenpapier beschreibt Musil diesen Prozess einer schleichend affektiven Lähmung, dem das Subjekt in der subtil anhaltenden Konfrontation mit einer übermächtigen Rationalität schließlich erliegt, im Bild der auf dem erstarrenden Leim eines Fliegenpapiers sterbenden Fliege. Musil, Robert: „Das Fliegenpapier“, aus: Nachlass zu Lebzeiten, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 476f. 18 Schklowski, Viktor: „Zoo oder Briefe nicht über die Liebe“, in: Es war einmal. Zoo oder Briefe nicht über die Liebe. Autobiographische Erzählungen, S. 270. Auch bei Schklowski allerdings, der gezwungen ist, im Berliner Exil zu leben, lässt sich das Bild der alles umschließenden Schienengürtel aber sicher nicht auf eine reine und wertfreie Beschreibung der Stadt reduzieren. Dass es sich hierbei auch um einen mentalen Entwurf seines unfreiwilligen Aufenthaltsorts handelt, dürfte außer Frage stehen. 19 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 153.
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sich ein Jahr Urlaub vom Leben genommen hat, um diesen kleinen Tropfen Ich wieder zum Glühen zu bringen. Klarer noch als an Musils Romanprojekt lässt sich die Verbindung von inframedialer Wirkung des Nahverkehrs und zeitgenössischer Gesellschaftsanalyse an den Arbeiten Georg Simmels verdeutlichen, vor allem an jenem Text, der an den Anfang des Kapitels über die Geschichte der Technikkritik gestellt worden ist, Der Begriff und die Tragödie der Kultur. Noch einmal sei rekapituliert: Die Tragödie der modernen Kultur besteht der Gesellschaftsanalyse Georg Simmels zufolge in dem unauflösbaren Dilemma zwischen der Notwendigkeit sozialer Formen, deren Gerüst die an sich diffus unstrukturierte individuelle Subtanz zur Entäußerung bedarf, und dem unkontrollierten Anwachsen dieser objektiven Formen zu autonomen Strukturen und Apparaten, „dem Überwuchern der objektiven Kultur“, dem „das Individuum weniger und weniger gewachsen“ 20 ist. So unverzichtbar die sozialen Objektivationen einerseits sind, so feindlich stehen sie auf der anderen Seite dem Leben gegenüber. Dass diese Objektivationen vom Menschen selbst geschaffen werden, lässt den im Sinne Simmels „tragischen“ Zustand (nicht nur) der modernen Kultur umso deutlicher zutage treten. So hört sich denn Simmels Fazit auch entsprechend fatalistisch an: „[…] es ist oft“, schreibt er, „als ob die zeugende Bewegtheit der Seele an ihrem eigenen Erzeugnis stürbe.“21 Interessant – und wiederum paradigmatisch – ist an diesen Kulturanalysen Simmels nun, dass er Bilder der Verfestigung, des Gerinnens und der Unverrückbarkeit dieser Objektivationen benutzt.
20 Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Gesamtausgabe, Bd. 7, S. 129. Dass sich die Gesellschaft angesichts des Anwachsens und der Beförderung des Anwachsens dessen, was Simmel die objektive Kultur nennt, in einem zwangsläufiger Weise hybriden Teufelskreis befindet, liest man auch in dem halb ironischen, halb resignierenden Kommentar von Robert Müller: „Man muss nicht die Hände in den Schoß legen. Wenn das Sonnensystem wacklig wird, wird man längs der Ekliptik Schienen legen, das ist die Groteske unseres verdammt ehrlichen Lebenswillens. Die Hauptsache ist, daß man in ein Verhältnis zur ganzen großen Welt kommt, daß man für eine Weltanschauung fähig wird, die mit der Technik Schritt hält, […].“ Müller, Robert: „Spätlinge und Frühlinge“, in: Kritische Schriften, S. 30. 21 Simmel, Georg: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, aus: „Philosophische Kultur. Gesammelte Essais“, in: Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 391. Ganz ähnlich hört sich die Modernitätsdiagnose im Sinne der Kritischen Theorie an: So führt für Horkheimer und Adorno die Verabsolutierung der instrumentellen Vernunft – ohne die aber eben wiederum die Ausbildung eines selbstbewussten, von der Natur emanzipierten Ich gar nicht möglich wäre – zwangsläufig zu einer „Liquidation des Subjekts“. Horkheimer, Max: „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 106.
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„(E)s ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegenstellt.“22
Kracauer verwendet in seinen Beschreibungen zwar nicht so sehr das Bild des Gerinnens von etwas ehemals Flüssigem. Er arbeitet stattdessen mit dem Bild der Konstruktion. Zentral ist aber auch bei ihm die Vorstellung von einer sozialen Objektivation, die „für alle Zeiten gefügt ist“ und die dem Prinzip Lebendigkeit entgegenstehen. Das Prinzip medialer Wechselwirkung ist bei Kracauer anschaulich geworden, eben weil er gemäß seinem Prinzip der Oberflächenanalyse ganz unmittelbar auf einen Ausschnitt aus dem Systemzusammenhang Infrastruktur eingeht. Aber nicht nur deshalb, weil auch Simmel diese „Senkblei“-Methode zur Grundlage seiner kulturanalytischen Überlegungen macht, kann man auch aus seinen Texten die mediale Prägung durch eine zunehmend nach infrastrukturellen Prinzipien sich ordnenden und präsentierenden Wirklichkeit herauslesen. Selten allerdings derart unmittelbar wie aus den raumtheoretischen Überlegungen, die Simmel in der Soziologie anstellt. Hier verbindet Simmel ganz explizit das Prinzip der Rationalität mit städtebaulichen Umstrukturierungen. Wiederum ist es eine wechselseitige Bedingtheit, von der Simmel ausgeht. Auf der einen Seite schlägt sich die Verfasstheit einer Gesellschaft in der Konfiguration des Raumes nieder. Umgekehrt hat dann diese räumliche Struktur ganz wesentlichen Einfluss auf die geistigen Konstellationen eben dieser Gesellschaft. So kommt Simmel zufolge „das innerlich-soziologische Wesen des Stadtlebens in der Sprache des Raumes“23 zum Ausdruck. Ganz konkret heißt das: „Je reiner jenes sich entwickelt, als desto rationalistischer offenbart es sich – vor allem in der Verdrängung des Individuellen, Zufälligen, Winkligen, Gebogenen der Straßenanlagen durch das Schnurgerade, nach geometrischen Formen Festgelegte, Allgemein-Gesetzliche.“24
In der „Konstruiertheit“ der Stadt, in der „Streckung krummer Straßen, [der] Anlage neuer Diagonalwege, [dem] ganze[n] moderne[n] System der rechtwinkligen Symmetrie und Systematik“25 zeigt sich für Simmel der anschauliche Rationalis-
22 Simmel, Georg: „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, aus: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, in: Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 385. 23 Ders.: Soziologie, S. 713. 24 Ebd. 25 Ebd.
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mus, der das Wesen der Großstadt und damit der modernen Gesellschaft insgesamt ausmacht. Diese Verbindung von materialen Erscheinungen einer Gesellschaft, etwa dem verkehrstechnischen Ausbau der Stadt, mit ihren psychischen Dispositionen, einem fortschreitenden Rationalismus, macht ganz offensichtlich, dass auch Simmel in seiner Kulturanalyse nicht nur nach dem Verfahren der Oberflächenanalyse arbeitet, sondern dass er ebenfalls bestimmte Modernitätsdiskurse an verkehrstechnische Erscheinungen anbindet. Seine gesamte auf der Gegenübersetzung von Materialität und Mentalität beruhende Gegenwartsanalyse zeigt, dass er das Prinzip, das er in der materialen Wirklichkeit zu beobachten meint, auf seine kulturanalytische Prognostik insgesamt überträgt. Darüber, dass es sich bei diesem Verfahren um ein auf den imaginären und strukturellen Eigenschaften der modernen Stadterschließung basierendes Verfahren handelt, gibt Simmel in den eben zitierten Überlegungen zu einer Theorie des Raumes selbst Auskunft: „Mit diesen Verkehrsprinzipien […] wird nun das Wesen der Stadt überhaupt, im Gegensatz zum Lande, zur größten Reinheit gebracht, wie es sich von vornherein schon in der Parallelität der beiden Straßenseiten gezeigt hatte – ein anschaulicher Rationalismus, zu dem die Struktur des Landlebens gar keine Analogie besitzt.“26
3. G LETSCHER AUF DEN S TRASSEN : D AS EISKALTE I MAGE DES N AHVERKEHRS UND SEINER P ASSAGIERE Nicht nur die stabilen Architekturen des Nahverkehrs sind es, die Kältebilder produzieren und die in Kältebilder gefasst werden. Bemerkenswert ist, dass auch die beweglichen Elemente des Verkehrs, die Transportmittel selbst, auffallend häufig in Bildern des Erkaltens oder der Erstarrung gefasst werden. Das ist insofern zunächst erstaunlich, als ja die neuen Wahrnehmungsanforderungen, die der technisierte Verkehr an den Großstädter stellt, unter dem Zeichen einer gesteigerten Entropie stehen, einer Steigerung sowohl der Geschwindigkeit als auch der Anzahl der Wahrnehmungsreize unterliegen. Den politischen und sozialen Verhältnissen der Moderne aber werden in der zeitgenössischen Wahrnehmung Tendenzen einer abnehmenden Entropie unterstellt, die das Einfrieren sozialkommunikativer Impulse und damit von Leben überhaupt zur Folge haben müsste: „(D)as ist erst“, schreibt Ernst Jünger über das zwangsläufige Ende der rationalisierten und verwissenschaftlichten Gesellschaft, „der volle Zustand der Gnadenlosigkeit, der Zustand des Käl-
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tetods, in dem selbst die Verwesung, dieser letzte dunkle Hauch des Lebens, sich verloren hat.“27 Bleibt man einen Moment bei der physikalischen Definition des Entropiebegriffs, dann gewinnen die ästhetischen Kälteassoziationen, in denen entgegen der Steigerung der Reizabfolge der Verkehr dargestellt wird, einiges an Plausibilität: Wenn man die Erzeugung von Hitze – die Steigerung der Entropie – als Indiz für das nicht reibungslose und absolut effiziente Funktionieren eines Systems definiert, dann bedeutet umgekehrt die Perfektionierung dieses System eine sinkende Entropie und damit eine abnehmende Temperatur. Versteht man die öffentlichen Verkehrmittel als einen nach bestimmten Takten und auf bestimmten Routen agierenden funktionalen Zusammenhang, der nicht nur in den rationalisierten und technisierten Gesellschaftsapparat eingegliedert ist, sondern ihn stellvertretend auch repräsentiert, dann ist es nur logisch, dass die Diagnosen einer sinkenden Entropie, wie sie für die Gesellschaft insgesamt gemacht werden, auf das System Verkehr und damit auch auf den Zusammenhang der Verkehrsmittel selbst übertragen werden. In diesem Fall tritt der Aspekt der Anbindung von Bildern bzw. die Produktion von Images in den Vordergrund. Das heißt, der Nahverkehr wird mit einem Image belegt, das sich aus von außen kommenden, gesamtgesellschaftlichen Diskursen herschreibt. Im Gegensatz zu den Entwürfen vollkommener Erstarrung, wie man sie in den Beschreibungen der ortsfesten Anlagen und Schienensysteme finden kann, muss natürlich im Falle der Transportmittel selbst eine Mittelstellung zwischen Kälte- respektive Verfestigungsdarstellung und Darstellung der Bewegung gefunden werden. Robert Müller findet dieses Bild im „Rutschen und Schlafen eines Gletschers“, der sich über die Straßen New Yorks bewegt. Dieser „schollige Eisgang des Verkehrs“28 ist es, der den Betrachter fröstelnd macht. Zu einer eigenartigen, kühlen Symphonie wird der Verkehr in der expressionistischen Sprache Theodor Däublers: „Kristalle rücken an: die blanken Tramwaywagen!“ heißt es in Hesperion: „Die Fahrtkristalle wandern bernsteinbleich erlichtet, / Die Menschen scheinen Schatten blau hineingedichtet.“29 Weniger poetisch sieht es Pier M. Rosso di San Secondo. „Metallisch“ erscheint dem Berlin-Besucher nicht nur die Stadt als ganze, sondern allen voran „der mechanisch keuchende Atem des entfesselten Lebens mit den hun-
27 Jünger, Ernst: „Das Abenteuerliche Herz I“, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 78. 28 Müller, Robert: „Manhattan“, in: Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte, S. 174f. 29 Däubler, Theodor: Hesperion. Eine Symphonie, S. 33f.
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dert Stadtbahnen, Omnibussen und Trams.“30 Endgültig sachlich scheint es bei Musils Anti-Helden Ulrich zu werden, der als gelernter Ingenieur in seiner Verkehrsbeobachtung die realen Zusammenhänge von öffentlichen Transportmitteln und technischem Produktionsvorgang kurzschließt: „Er beobachtete […] die vorbeikommenden Bahnen und wartete auf eine, die ihn möglichst nahe ans Innere der Stadt zurückbringen sollte. Er sah die Menschen aus- und einsteigen, und sein technisch nicht unerfahrener Blick spielte zerstreut mit den Zusammenhängen von Schmieden und Gießen, Walzen und Nieten, von Konstruktion und Werkstattausführung, geschichtlicher Entwicklung und gegenwärtigem Stand, aus denen die Erfindung dieser rollenden Baracken bestand, deren sie sich bedienten.“31
Wenn die Transportmittel des öffentlichen Nahverkehrs in den Verfestigungs- und Kristallisationsdiskurs involviert werden, dann kann man ganz Ähnliches mit Blick auf die Benutzer des Verkehrs feststellen. Zwar hat sich in der Betrachtung des vor allem von Helmuth Plessner vertretenen neuen Individualitätskonzepts schon gezeigt, dass es auf der einen Seite neue Optionen und Freiheiten sind, die der öffentliche Nahverkehr dem Einzelnen bereitstellt, und dass es auf der anderen Seite eine spezifische Form des subjektiven Umgangs mit den veränderten Bedingungen der Öffentlichkeit ist, die sich an den Benutzern des Nahverkehrs zeigen, und die durchaus als emanzipatorische Entwicklung zu verstehen sind. Tatsächlich aber ist das Image, das auf die urbanen Verkehrsteilnehmer appliziert wird, und durch das sie zum symptomatischen Ausdruck der gesellschaftlichen Verfassung insgesamt werden können, eine Spielart dessen, was Kracauer in seiner Beschreibung über die Unterführung am Bahnhof Charlottenburg als die mangelnde Verbundenheit der Individuen untereinander beschreibt, die angesichts der lückenlosen Festgefügtheit umso deutlicher zum Ausdruck kommt. So sind es die Kategorien der Vereinzelung bei gleichzeitiger physischer Zusammendrängung sowie der Degradierung zum passiven Funktionspartikel innerhalb institutionell geregelter Handlungsvollzüge, in denen die Benutzer von Bussen und Bahnen beschrieben werden, und durch die auch ihnen jene spezifische Kälte anzuhaften scheint, die schon der sie umgebenden Technik attestiert wurde. Ganz deutlich zeigt sich im Falle der Darstellungen der Nahverkehrsnutzer wiederum, inwiefern Inframedialität auf Wechselwirkungen basiert. Ist es auf der einen Seite ein Image, das den Verkehrsteilnehmern zugeschrieben wird, dann speisen sich die ästhetischen Kälteszenarien ganz offensichtlich auch aus der konkreten Be-
30 di San Secondo, Pier M. Rosso: „Sehnsucht nach Griechenland an der Spree“, in: Wedekind in der Klosterstraße. Feuilletons aus dem verrückten Berlin, S. 92f. 31 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 866.
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obachtung des urbanen Alltags. Als Ernst Jünger an seiner Physiologie der modernen Gesellschaft, an Der Arbeiter schreibt, wohnt er im Osten Berlins. Die Aussicht von seinem Zimmer geht auf die Warschauer Brücke. Er beobachtet nicht nur fortwährend die ein- und umsteigenden Passanten der S- und U-Bahn. Auch das Panorama, das sich vor seinem Fenster bis zum Horizont erstreckt, ist bestimmt durch die Stahlkonstruktionen und Schienenstränge des Verkehrs. Kaum ein Zufall mithin, dass er resümierend über die soziale Lage in der Metropole schreibt: „So lebt der Einzelne inmitten der Millionenstädte der Zeit in einer eisigen Isolation.“32 An anderer Stelle heißt es: „Die Kälte der Beziehungen zwischen den Einzelnen, den Passanten, ist außerordentlich.“33 Die Kälte wird paradigmatisch, auch wo die räumlichen Bedingungen eigentlich auf etwas anderes hindeuten, wo physische Zusammendrängung herrscht. Nirgendwo lässt sich die Entwicklung zur Massengesellschaft so unmittelbar erfahren wie in den offensichtlich notorisch überfüllten Nahverkehrsmitteln: „Knüppeldick voll Menschen“34 sind die Elektrischen in Döblins Berlin Alexanderplatz. Für Jakob von Gunten, den Protagonisten aus Robert Walsers gleichnamigem Roman sehen „[d]ie Wagen der elektrischen Trambahn […] wie figurenvollgepropfte Schachteln aus“35. Das Drängelszenario, das Joseph Roth entwirft, wurde bereits zitiert: „Die Leute hängen an den Krawatten ihrer Reisegenossen.“36 Tucholskys lyrische Variation des Themas lautet: „Fährt in Berlin die Straßenbahn, / dann ist sie proppenvoll. / Was da mit dir, o Mensch getan / wird, das ist einfach doll. / Man rüttelt dich, / man schüttelt dich; / man drängt dich so / und engt dich so – / in einen Wagen gehen glatt / zweihundert Menschen rein.“37
32 Jünger, Ernst: „Das Abenteuerliche Herz I“, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 149. 33 Ders.: „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“, in: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 67f. Vgl. Lethen, Helmut: „Chicago und Moskau“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Gillen, Eckhart (Hg.): Die Metropole: Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, S. 206. 34 Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, S. 495. 35 Walser, Robert: Jakob von Gunten, S. 37. 36 Roth, Joseph: „Die Tücke des Vehikels“, in: Unter dem Bülowbogen. Prosa zur Zeit, S. 89. 37 Tucholsky, Kurt: „Der Humorist singt“, in: Werke, Bd. 10, S. 188f. Kein Wunder also, dass der öffentliche Nahverkehr im populären Sprachgebrauch zum Synonym für Überfüllung überhaupt wird: „Übrigens ist er voll wie ein Omnibus“, lässt Tucholsky über einen betrunkenen Journalisten spotten. Tucholsky, Kurt: „Anatol France in Pantoffeln“, in: Werke, Bd. 4, S. 29.
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Auch Bertolt Brecht schließlich erzählt über eine Fahrt mit der U-Bahn, die aufgrund der Überfüllung regelrechten Zwangscharakter annimmt: „Es war Mittag und die Bahn war vollgestopft mit Leuten. Schon am Gleisdreieck bekam ich einen Sitzplatz, d.h. ich wurde förmlich hineingedrückt. […] Ich saß da und konnte nicht mehr aufstehen.“38 Wie im Falle der den Gesetzen der Beschleunigung unterliegenden Verkehrsmittel, sollte man nach den Prinzipien der Physik auch mit Blick auf die Insassen annehmen, dass die Konzentration von Massen auf kleinstem Raum zu einer steigenden Entropie, zu Hitze- und Energieerzeugung führt. Unter dieser Perspektive würde dann die Erzeugung räumlicher Energie eine gesteigerte soziale Energie befördern. Solch ein Potential zur Erzeugung sozialer Energie ist einem früheren Massenverkehrsmittel, der Eisenbahn, durchaus attestiert worden. „Die geschichtliche Signatur der Eisenbahn besteht darin“, schreibt Walter Benjamin im PassagenWerk, „daß sie das erste […] Verkehrmittel darstellt, welches Massen formiert.“39 Gerade aber dieses Potential zur Erzeugung von sozialer Energie scheint die Zusammendrängung von Menschen in der Straßenbahn zu entbehren – und mit ihr dann natürlich auch die Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts insgesamt.40
38 Brecht, Bertolt: „Meine längste Reise“, in: Prosa, Bd. 1, S. 195. 39 Benjamin, Walter: „Das Passagenwerk“, in: Gesammelte Schriften, Bd. V/2, S. 774. In einer französischen Schrift aus dem Jahre 1863 heißt es übereinstimmend mit Benjamin: „Es ist derselbe Zug, dieselbe Kraft, die Große und Kleine, Reiche und Arme befördert; daher werden die Eisenbahnen im allgemeinen als ein unermüdlicher Lehrmeister der Gleichheit und der Brüderlichkeit wirken.“ Legrand de Saulle, in: Bulletin de la Société de Médecine pratique, Paris 1863. Und der Historiker Detlev R. Peukert beschreibt das der modernen Technik inhärente revolutionäre Potential: „Es entwickelten sich auch technische Mittel der öffentlichen Formierung. In Lastwagen konnten Anhängermassen ‚herangekarrt‘ werden, Plakat- und Flugblattdruck vervielfältigten ihre Auflagen, [...].“ Peukert, Detlev J.K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, S. 164f. 40 Ledig letzte, nun fast lächerlich anmutende Rudimente des sozialen Protest können notiert werden: „Gestern soll in der Stadt ein kommunistischer Aufzug gewesen sein, abends. Sie marschierten in geschlossenen Reihen, wild entschlossen dazu, mit roten Fahnen und Fackeln, düster lohten dieselben, und es sah sehr feierlich aus, um so mehr, als alle die Hand zur Faust geballt hatten. Wenn man aber näher herantrat, so sah man auf einem Schild, das sie trugen, diese Inschrift: WIR WOLLEN GRATIS UMSTEIGEN VOM AUTOBUS ZUR TRAM! Und wenn sie jetzt nicht ausbricht, dann ist der Sache nicht zu helfen.“ Tucholsky, Kurt: An Hedwig Müller am 24.10.1934, „Qu-Tagebuch“, in: Briefe, S. 390. Tatsächlich bleiben die vermeintlich überhöhten Tarife des öffentlichen Nahverkehrs bis in die Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre des 20.
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„Auf der Straßenbahn, welche Entwürdigung einfachsten Freiheitsrechts! Sie lassen sich pökeln, nachdem sie acht oder zehn Stunden geschuftet haben. Befördern lassen sie sich in diesen entsetzlichen Quetschkästen, und verlangen nicht Raum noch Luft.“41
Statt energetische Impulse freizusetzen, wird an den Benutzern der öffentlichen Transportmittel – gerade angesichts ihrer räumlichen Komprimierung – der Zustand umfassender Anonymisierung und interesselosen Unverbundenheit der Individuen in der Moderne, wie er Kracauer bereits erschaudernd am Gegensatz von baulicher Konstruktion und individueller Vereinzelung erschienen ist, nur umso sichtbarer. Die Beweglichkeit des Einzelnen und die Beweglichkeit untereinander sind – im konkreten wie im übertragenen Sinne – auf ein Minimum reduziert. Die Entropie ist auf einem Nullpunkt angekommen. Auch hier herrscht Frostigkeit. „In Berlin“, schreibt Joseph Roth wiederum unter Verwendung eines Kältebildes, „genügt diese Raumgemeinschaft nicht. Um jeden Berliner türmen sich Berge aus Eis. Es gibt keine kurzfristige Assimilation innerhalb der Mehrzahl. Sie zerfällt in lauter Singulare.“42 Vordergründig heiter klingt eine ähnliche Feststellung bei Tucholsky: „Sie sitzen wie die Vögel da / auf einer langen Stange. / Sie sind sich alle gar so nah / im Kampf, im Druck, im Zwange. / Doch jeder lebt auf dem eige-
Jahrhunderts Gegenstand öffentlicher Empörung. So widmet die Band Ton Steine Scherben ihr Lied Mensch Meier einem Bürger, der sich weigert, die neueste Fahrpreiserhöhung mitzumachen, und stattdessen schwarzfährt: „Nee, nee, nee, eher brennt die BVG. Ich bin hier oben noch ganz dicht. Der Spaß ist zu teuer. Von mir kriegste nüscht.“ Und Reinhard Mohr erzählt in seinem autobiographischen Essay Generation Z: „‚Warum wolltet ihr denn damals eigentlich nichts für die Fahrt mit der Straßenbahn bezahlen?‘, fragte Simone unschuldig während eines schönen Spaziergangs durch den Vordertaunus. Ich hatte gerade von dem einwöchigen Aufruhr in Frankfurt berichtet, der bei den örtlichen Veteranen der Generation Z als ‚FVV-Kampf‘ in die Annalen einging. Sie konnte nicht wissen, dass die Parole des Protests gegen die Fahrpreiserhöhungen des einstigen ‚Frankfurter Verkehrsverbundes‘ (FVV) im Mai 1974 einer strikt materialistischen Logik folgte: ‚Fahrtzeit ist Arbeitszeit! Nulltarif für alle!‘ Die plötzlich überall aufgestellten blauen Fahrkartenautomaten wurden als Teil des ausbeuterischen Systems erkannt, als weithin sichtbare Trutzburgen jener ‚strukturellen Gewalt‘ (Herbert Marcuse), gegen die es sich zu wehren galt. In einem Wort: Die Kapitalisten und ihr Staat sollten für die Anfahrt zur Maloche blechen. Punkt. Aus.“ Mohr, Reinhard: Generation Z oder Von der Zumutung, älter zu werden, S. 204. 41 Goldschmidt, Alfons: Deutschland heute, S. 30f. 42 Roth, Joseph: „Der Winter des Missvergnügens“, in: Werke, Bd. 2: Das journalistische Werk 1924-1928, S. 388.
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nen Stern; / sie sehen sich nicht an und sie haben sich nicht gern […].“43 Und Lion Feuchtwanger etwa beschreibt, wie sich die Passagiere eines U-Bahn-Waggons immer mehr den Bewegungen der Verkehrsmittel anpassen: „Aneinandergepreßt standen die Menschen, sich haltend an Strippen, den Sitzenden an die Knie gedrückt. […] Diese ganze Fuhre Mensch […] folgte mit gleichem, mechanischem Rhythmus den Bewegungen des sausenden Zuges, schwankte, schaukelte gleichmäßig, hin, her, bei starken Kurven, blinzelte mit dem gleichen Lidschlag, wenn die Bahn, im Schacht elektrisch belichtet, herauftauchte in die starke Sonne des Juniabends.“44
In Robert Müllers Camera obscura scheinen sich nicht nur ihre Bewegungen, sondern die Straßenbahnpassagiere selbst der Funktionalität der Fahrzeuge angeglichen zu haben: „Die Gesichter der Menschen waren leer wie Maschinenstücke, Walzen, Spiralen, verlorene Bestandteile, Höhlen, Lager, Rammknorpel, gebrochenes Inventar […].“45 Diese in Kommunikationslosigkeit erstarrten, vergletscherten Gesichter und Körper der Passagiere des öffentlichen Nahverkehrs werden – im Gegensatz zur grundsätzlich empfundenen Hektik des urbanen Lebens – zur Signatur stagnierender sozialer und politischer Lebendigkeit überhaupt: „Daher besitzt auch eine Großstadt bei tiefer Nacht ebenso wie eine Fahrt regungsloser, gleichsam erstarrter Menschen etwas sehr Bedrückendes.“46 Die Demokratisierung des Fahrens, die mit der Einführung der öffentlichen Verkehrsmittel erfolgt, wird also nur in den seltensten Fällen als sozialer Fortschritt gewürdigt. Zwar ist die euphorische Einsicht des Protagonisten von Robert Müllers Manhattan bei der Fahrt in der Hochbahn: „ […] in dieser Stadt sind alle Menschen gleich. Vor dem Gesetz des Verkehrs gilt kein Privilegium.“47 Viel häufiger aber findet man eine Gleichsetzung des öffentlichen Personentransports mit industriellen Produktionsvorgängen. Und so ist es nur logisch, dass den Passagieren – die, anders als die Fahrer von Automobilen, noch dazu während der Fahrt durch Passivität gekennzeichnet sind – nur mehr noch der Status entindividualisierten Frachtguts zugesprochen wird. „ […] dem Brief in der Rohrpost dürfte nicht sachlicher zumute sein“, schreibt Arthur Eloesser 1918 über die Fahrt mit der S-Bahn: „Ein Automat
43 Tucholsky, Kurt: „Fahrgäste“, in: Werke, Bd. 8, S. 187f. 44 Feuchtwanger, Lion: „Ein Waggon der Untergrundbahn“, in: Günther, Herbert (Hg.): Hier schreibt Berlin. Ein Dokument der 20er Jahre, S. 108. 45 Müller, Robert: Camera obscura, S. 94f. 46 Jünger, Ernst: „Das Abenteuerliche Herz I“, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 131. 47 Müller, Robert: „Manhattan“, in: Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte, S. 140.
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schluckt dich am Zoo und speit dich am Alexanderplatz wieder aus.“48 Auch Hans Kafkas morgendliche Szenerie des Bahnhofs Gleisdreiecks erweckt die Atmosphäre eines rationalisierten Produktionsvorgangs: „An der Ausfahrtseite kommen Menschenmassen zur Verladung und Versendung, aus einfahrenden Zügen wird eine ganze Welt auswaggoniert.“49 Entsprechend schreibt Kracauer über die Fahrt in der Untergrundbahn: „So erinnert die Art der Unterbringung in diesen Zügen eher an einen Materialtransport als an die Beförderung von Menschen, aber das Publikum weiß, daß es auch nur Menschenmaterial ist, und findet sich deshalb mit seinem gedrückten Zustand geduldig ab.“50
Allzu deutlich wird an solchen Passagen, wie auch Bildmaterial aus der industriellen Produktion in den Nahverkehrskontext übertragen wird und mit diesem zu Sozialanalysen amalgamiert. Selbst wenn den Passagieren noch Rudimente menschlichen Sozialverhaltens anhaften, dann werden sie nichtsdestotrotz, wie in der arbeitsteiligen Produktion üblich, jenseits ihrer spezifischen Identitätskriterien unter vereinheitlichende Funktionsschemata subsumiert: „Am Morgen sitzen in jedem ihrer Wagen 18 Menschen auf der rechten und 18 auf der linken Seite. Alle haben sie eine Zeitung in der Hand, eine Zigarette im Mund und etwas heißes Teewasser im Magen. 18 angeheizte Mechanismen, die sich in einer Richtung fortbewegen, bis sie an Ort und Stelle sind, wo sie acht Stunden zu arbeiten haben.“51
Der einzelne Passagier wird zum Teil einer Statistik: „Man sieht keine Menschen mehr, sondern nur noch Summen von Bäuchen, Busen, Kneifern, umwickelten oder
48 Eloesser, Arthur: „An der Stadtbahn“, in: Knobloch, Heinz (Hg.): Der Berliner zweifelt immer. Seine Stadt in Feuilletons von damals, S. 339f. 49 Kafka, Hans: „Tausendundeins Waggons. Gleisdreieck morgens“, in: Berliner Tageblatt vom 29.1.1929. 50 Kracauer, Siegfried: „Begegnungen mit hilflosen Figuren“, in: Schriften, Bd. 5.2: Aufsätze 1927-1931, S. 282. 51 Kafka, Hans: „Tausendundein Waggons. Gleisdreieck, morgens“, in: Berliner Tageblatt vom 29.1.1929. Und sollte ein Passagier tatsächlich einmal vordergründig aus dem Rahmen fallen, wie der zum Fasching verkleidete Mann, den Siegfried Kracauer in der UBahn beobachtet, dann entpuppt er sich schließlich lediglich als Vertreter einer anderen Massenindustrie der Moderne, der Zerstreuungskultur. Vgl. Kracauer, Siegfried: „Begegnungen mit hilflosen Figuren“, in: Schriften, Bd. 5.2: Aufsätze 1927 – 1931, S. 282f.
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nicht umwickelten Beinen, Summen von Nasen und Mündern.“52 Die Raumgemeinschaft im öffentlichen Verkehrsmittel erzeugt weder Energie noch eine Form emotionaler Wärme. Die Raumgemeinschaft, wie Joseph Roth schreibt, genügt nicht, weil sich um den Einzelnen Berge von Eis türmen: „Es gibt keine kurzfristige Assimilation innerhalb der Mehrzahl. Sie zerfällt in lauter Singulare.“53 Sollte wider Wahrscheinlichkeit doch jemand sich in dieser Masse als Einzelner und zugleich aufgehoben fühlen, dann wird es zumindest nachträglich zumeist als Trugschluss entlarvt. Ginster, der Protagonist von Kracauers gleichnamigem Roman, verspürt zwar ein Gefühl der Rührung in der Masse. Sein Name aber verrät anderes: Ginster ist eine Pflanze, die häufig an Bahndämmen wächst, vereinzelt und von den Vorüberfahrenden nicht beachtet. 54 „In der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel“, so die sozialphilosophische Lesart Martin Heideggers in Sein und Zeit: „ist jeder Andere wie der Andere. Dieses Miteinandersein löst das eigene Dasein völlig in der Seinsart ‚der Anderen‘ auf, so zwar, daß die anderen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit noch mehr verschwinden. In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur.“55
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Im Kapitel über die medialen Wirkungen von Infrastrukturen ist dargestellt worden, dass es vor allem der Faktor der Vernetzung ist, der ganz erheblichen Anteil an ihrer Medialität hat. Dargestellt wurde ebenfalls, dass gerade im Falle des öffentlichen Nahverkehrs diese Vernetzung durch die Schienenstränge und Oberleitungssysteme eine ganz besondere Präsenz im Alltag erhält, und dass der Netzcharakter sich bis in die Darstellungen und die Kommunizierbarkeit dieses Verkehrssystems fortsetzt: In Begriffen wie Streckennetz, Schienennetz und Netzspinne und in der graphischen Abbildungen der Fahrtrouten in letzterer. Erläutert wurde, dass die Kategorie der Vernetzung in der Verschränkung zweier Ebenen – der organisatorischen zum einen und der imaginären zum anderen – eine mediale Wirkung entfaltet, die dazu führt, dass auf der einen Seite die sozialen
52 Theunissen, Gerd H.: „Berliner U-Menschen“, in: Kölnische Zeitung, 17.5.1943, Abendblatt. 53 Roth, Joseph: „Der Winter des Missvergnügens“, in: Werke, Bd. 2: Das journalistische Werk 1924-1928, S. 388. 54 Vgl. Kracauer, Siegfried: „Ginster“, in: Schriften, Bd. 7, S. 9. 55 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, S. 126f.
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Organisationsgrundlagen des urbanen Lebens und dass auf der anderen Seite die Bild- und Diskursfelder, mit denen sich diese Veränderungen darstellen lassen, überhaupt entstehen. Hingewiesen wurde gleichfalls schon darauf, dass die spezifische Sinnlichkeit von Vernetzung und Netzwerken an eine ambivalente – und in ihrer Argumentation diese Sinnlichkeit aufgreifende – Bewertung gebunden ist. In der expressionistischen Perspektive Alfred Wolfensteins klingt die ambivalente Bewertung der infrastrukturellen Vernetzung der Stadt durch den Nahverkehr wie folgt: „Das war die Stadt der Gewalt, die menschenverschlingenden Türme besetzt mit Gesetzen […]. Seelen, aufgemauert wie Berge von Leichen, Automatenhäupter, Schienennervennetz, Ordnung über Ordnung, […].“56
Tatsächlich wird der öffentliche Nahverkehr in den zeitgenössischen Darstellungen nicht nur zum Ausdruck einer Objektivation bürokratischer und technokratischer Organisation des Alltags. Es haftet dieser Organisation im Großen und damit der Organisation des Nahverkehrs im Kleinen immer auch das Moment einer aufgezwungenen Mechanisierung des Lebens an, die nicht zu überschauen ist und die zudem quer zu den eigentlichen Bedürfnissen des Einzelnen steht. Robert Musil beschreibt diese „Ausläufer des eisernen Hebelwerks Staat, der in Knöpfen und anderen Metallteilen“ – im dem städtischen Verkehrsnetz mithin – endet, als eben jene inframediale Struktur, die zwangläufig sämtliche alltägliche Verrichtungen in ein großes Netzwerk bürokratischer Prozesse eingegliedert: „Nun hat der ständige Lebensaufenthalt in einem wohlgeordneten Staat aber durchaus etwas Gespenstisches; man kann weder auf die Straße treten, noch ein Glas Wasser trinken oder die Elektrische besteigen, ohne die ausgewogenen Hebel eines riesigen Apparats von Gesetzen und Beziehungen zu berühren, […]; man kennt die wenigsten von ihnen, die tief ins Innere greifen, während sie auf der anderen Seite sich in einem Netzwerk verlieren, dessen ganze Zusammensetzung überhaupt noch kein Mensch entwirrt hat; […].“57
Auch Ernst Jüngers gesellschaftstheoretisches Konzept der Moderne als „organische Konstruktion“ steht ganz offensichtlich mit den Erfahrungen der verkehrstechnischen Vernetzung der Stadt in Zusammenhang. Jünger zufolge wird in der Moderne die bürgerliche Gesellschaft, in der dem Individuum ein Status der Autonomie zuerkannt worden ist, abgelöst durch den zwingenden Funktionszu-
56 Wolfenstein, Alfred: „Über allen Zaubern“, in: Werke, Bd. 3: Erzählende Dichtungen, S. 74. 57 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 156.
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sammenhang, der „organischen Konstruktion“, deren Mechanismus er in die Metapher des elektrischen Schaltkreises fasst: „So ist es […] ebenso leicht, in eine Partei einzutreten oder aus ihr auszutreten, wie es schwierig ist, aus Verbandsarten auszutreten, denen man als Empfänger von elektrischem Strom angehört.“58 Im Wissen um die Unhintergehbarkeit des zentralistischen Strommonopols59 wird insbesondere das an das elektrische Oberleitungssystem angeschlossene Massentransportmittel Straßenbahn zum objektivierten Auswuchs dieser organischen Konstruktion, deren abstraktes Wirken sämtliche Organisations- und Verkehrsabläufe der modernen Gesellschaft steuert und durch das der Einzelne als Verkehrsteilnehmer nun einerseits zum Isolierten innerhalb der Masse, anderseits aber zum Eingegliederten in das reglementierte gesellschaftliche Konstrukt wird. Die Mechanismen dieser Vernetzung bleiben dem Großstädter weitgehend abstrakt, gewinnen aber gerade in der Reglementierung und Organisation des öffentlichen Verkehrs, die zunehmend über Lautsprecher und Signalanlagen funktioniert, in ihrer Entmenschlichung eine gewisse Anschaulichkeit: „Dieser Lautsprecherspaß ist ein dröhnendes Zeichen jener bei uns heimischen Organisationswut, die aus den begrenzten menschlichen Gegenden immer wieder in die unmenschlichen abirrt,“60
58 Jünger, Ernst: „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“, in: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 124. 59 Zwar lässt sich eine geplante staatliche Monopolisierung der elektrischen Energieversorgung nicht durchsetzen (vgl. König, Wolfgang/Weber, Wolfhard: Netzwerke Stahl und Strom, 1840 bis 1914, S. 78-87.), aber die Elektrifizierung wird zum Synonym für Zentralisierung schlechthin, weil sie technisch voraus nimmt – die Konzentration der Energie in den Großkraftwerken –, was strukturell auf die gesamte Gesellschaft, insbesondere auf die kapitalistischen Strukturen übergreift: „Die Transformation des liberalen Konkurrenzin den korporativen Monopolkapitalismus [...], das Ende des individuellen Unternehmertums bzw. der autarken Energieversorgung“. Schivelbusch, Wolfgang: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, S. 77. Walther Rathenau schreibt am 26.11.1907 über die neu entstandene Stromerzeugungsindustrie: „Bei der Schaffung der angewandten Elektrotechnik handelte es sich um die Entstehung eines neuen Wirtschafts-Gebietes und um eine Umgestaltung eines großen Teils aller modernen Lebensverhältnisse, die nicht vom Konsumenten ausging, sondern vom Produzenten organisiert und gewissermaßen aufgezwungen werden mußte.“ Rathenau, Walther: Briefe, Bd. I, S. 52f. 60 Kracauer, Siegfried: „Worte von der Straße“, in: Schriften, Bd. 5.2: Aufsätze 1927-1931, S. 201. Diese Automatisierung des Verkehrs, weiß die Allianz-Zeitung aus dem Jahre 1928 zu berichten, ist in Amerika noch um ein vielfaches weiter fortgeschritten: „Selbstverständlich haben alle Wagen automatischen Türverschluß, und ebenso selbstverständlich gibt es keine Fahrkarten mehr. An der Sperre ein Drehkreuz mit einem Automaten, in
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schreibt Siegfried Kracauer über die Technisierung des Abfertigungsprozesses auf dem Bahnsteig. In den frühen Jahren des Nahverkehrs ist es – anstelle der mechanischen Lautsprecher-Durchsagen und Signalanlagen – immerhin noch das uniformierte Personal, das die Regeln des Verkehrs und damit auch das Funktionieren des abstrakten Verwaltungsnetzes dahinter symbolisiert und dessen exponierte Position deshalb immer wieder hervorgehoben wird. Sicherlich ist in Alfred Wolfensteins Schilderung zweier sich bei Nacht kreuzender Buslinien und ihrer Fahrer die expressionistische Steigerung des Geschehens einzurechnen: „Aber eine scharfe Straße für sich baute krachend der Autobus hindurch“ – durch das schwarze Gewimmel der Stadt, „ganz frei tobte die Kraft des gigantischen Kastens heran und Franz sah bewundernd den kühlen Lenker vorbeiziehn – Von der anderen Seite erschien ein anderer im Donner, mit regungslosem Statuenumriß entschwand er auf seinem zitternden Sitz. So herrschten sie durch die Stadt, ihre Linie durchzog wie ein Stahltau ihr klammerndes Auge und ließ unbeirrbar im Schlucken und Speien ihres rennenden Hauses die Riesenstadt sich abrollen.“61
Trotzdem aber wird deutlich, dass es der „kühle Lenker“ ist, dem innerhalb der urbanen Phantasmagorie die letzte verbleibende Autorität und Übersicht zuerkannt wird. Ähnliches lässt sich über das Straßenbahnpersonal bei Franz Kafka nachlesen. Für Kafka, in dessen Schilderungen unauflösbar verworrener bürokratischer Großbetriebe „die Unerreichbarkeit der letzten Instanz ein für allemal dargestellt ist“, 62 wird der Straßenbahnfahrer nicht nur zur Personifizierung des souveränen Agierens in diesem System – „(I)ch aber möchte […] Kondukteur sein, um auch so fröhlich und überall teilnehmend zu werden“63 – sondern die von diesem empfangenen Freundlichkeiten gelten als sozial kostbare Auszeichnungen – wenn auch die geradezu als individuelle Erlösung aufgenommenen Hinweise des Schaffners dem Außenstehenden eher als übertriebenes Beharren auf einer dem Aufwand gegenüber geringfügigen bis überflüssigen sozialen Etikette anmuten mögen:
den man, wie auf der Straßenbahn, sein Fünfcentstück wirft, das Drehkreuz öffnet sich, [...].“ Hensel, Rudolf: „Amerika. Aus Tagebuchblättern einer Reise“, in: Sonderdruck aus der Allianz-Zeitung, S. 58. 61 Wolfenstein, Alfred: „Über allen Zaubern“, in: Werke, Bd. 3: Erzählende Dichtungen, S. 74. 62 Kracauer, Siegfried: „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“, in: Schriften, Bd. 1, S. 234. 63 Kafka, Franz: Briefe an Milena, S. 161f.
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„[…] der Kondukteur […] war auf der hinteren Plattform weit hinausgebeugt und rief mir etwas zu, […] machte aufgeregte Bewegungen mit den Armen, die mir etwas zeigen sollten, aber ich verstand es nicht und dabei fuhr die Elektrische weiter weg und seine Bemühungen wurden immer aussichtsloser – endlich verstand ich: die goldene Sicherheitsnadel an meinem Kragen hatte sich gelöst […].“64
Während es hier noch die devot angenommene Zurechtweisung in Sachen gesellschaftlicher Etikette ist, offenbart sich an anderer Stelle für eine Figur Kafkas dagegen in Zusammenhang mit einer Straßenbahnfahrt die verzweifelte Verlorenheit des Individuums im bürokratischen System: „Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht auf meine Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie. Auch nicht beiläufig könnte ich angeben, welche Ansprüche ich in irgendeiner Richtung mit Recht vorbringen könnte. Ich kann es gar nicht verteidigen, daß ich auf dieser Plattform stehe, mich an dieser Schlinge halte, von diesem Wagen mich tragen lasse, daß Leute dem Wagen ausweichen oder still gehn oder vor den Schaufenstern ruhn.“65
Spätestens in den zwanziger Jahren wird sich dieses universale Unbehagen angesichts der Vernetzung der Stadt durch das System Nahverkehr so weit gewandelt haben, dass man dem Ganzen gelassener und mit einer gewissen Ironie gegenüberstehen kann. Auch strahlt dann natürlich die Figur des Schaffners bzw. Fahrers öffentlicher Verkehrsmittel nicht mehr eine derartige Autorität aus, die sie als Stadthalter eines abstrakten Bürokratieapparats innehatte. Deshalb kann nun, im Kleinen zumindest, eine gewisse, zumindest spielerisch rebellische Haltung diesem Apparat gegenüber erprobt werden: Nicht ohne Grund wird in Fachzeitschriften über die Ausbildung des Straßenbahn- und Buspersonals
64 Ebd. Eine ähnliche – aber, wie der Verlauf der Erzählung zeigt, keine früchtetragende – Zurechtweisung, sich den Gepflogenheiten der Gesellschaft einzuordnen, erfährt zu Anfang von Erich Kästners Roman Fabian der gleichnamige Protagonist, als er, unaufmerksam den Kurfürstendamm überquerend, von einer Straßenbahn gerammt wird. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Kästners Roman bereits am Ende der zwanziger Jahre spielt und deshalb die Straßenbahn nicht nur ihr öffentliches Ansehen eingebüßt hat, sondern auch ihr Vorfahrtsrecht bald wird einbüßen müssen: „Da stieß jemand heftig gegen Fabians Stiefelabsatz. Er drehte sich mißbilligend um. Es war die Straßenbahn gewesen. Der Schaffner fluchte. / ‚Passense auf!‘ schrie ein Polizist. / Fabian zog den Hut und sagte: ‚Werde mir Mühe geben.‘“ Kästner, Erich: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, S. 13. 65 Kafka, Franz: „Der Fahrgast“, in: Sämtliche Erzählungen, S. 16.
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immer häufiger das Problem des Schwarzfahrens thematisiert: „Der natürliche Gegner des blinden Passagiers“, heißt es in der Zeitschrift für Kleinbahnen aus dem Jahr 1916 unter der Überschrift Die Fahrgeldhinterziehung auf Straßenbahnen und ihre Bekämpfung, „ist und bleibt der scharfäugige Schaffner, dem es gelingt, das Fahrgeld auch gegen den Willen des Fahrgastes beizutreiben!“66 Genauso kämpferisch – wenn auch eher unter sportlichen Gesichtspunkten – wird von Seiten einiger Passagiere diese Kraftprobe mit den „hervorstehende(n) Ausläufer(n) des eisernen Hebelwerks Staat“ angetreten. „Wissen Sie, das ist bei der Straßenbahn das Allerreizvollste, frei zu fahren“, bekundet etwa Kurt Schwitters über die genauso vergnügliche wie praktische Beschäftigung des Schwarzfahrens: „Man legt sich die paar Groschen gern zurück und kann sich dann im Sommer eine Badereise gestatten. Aber man muß es richtig anfangen. Es ist nämlich ebenso schwer, wie es reizvoll ist.“67 Und im Folgenden berichtet er sodann ausführlich über die Kniffs und Tricks seiner täglichen Kleinstguerilla. Erste Regel: Dem Schaffner immer in die Augen schauen. Oder, wahlweise, konzentriertes Zeitungslesen: „Das verschafft mir eine Atmosphäre der Abgeschlossenheit, daß kein Schaffner es wagt, mich anzureden. Der Schaffner denkt: ‚Wer so lesen kann, der hat bezahlt.‘“68 Für den Fall, dass sich wider Erwarten der Schaffner doch an das Kassieren des Fahrgeldes machen sollte, rät Schwitters dazu, möglichst nur einen Hundertmarkschein dabeizuhaben, den der Schaffner bei einem Fahrgeld von 15 Pfennig mit Sicherheit nicht wechseln kann. Alternativ respektive ergänzend empfiehlt Schwitters einige Ablenkungsmanöver: „Kommt der Schaffner, so sage ich: ‚Da draußen ist ein Pferd gestürzt.‘ Dann ist der Schaffner so verblüfft, weil es doch keine Pferde mehr gibt, daß er sucht, wo ich denn wohl das ge-
66 Röhling, K.: „Die Fahrgeldhinterziehung auf Straßenbahnen und ihre Bekämpfung“, in: Ministerium für öffentliche Arbeiten (Hg.), Zeitschrift für Kleinbahnen, XXIII. Jg., Juni 1916, S. 415. Und tatsächlich ist der Respekt des fahrscheinlosen Bürgers vor dem uniformierten Kontrolleur, wie Tucholsky ihn als symptomatisch für die deutsche Servilität beschreibt, zuweilen maßlos: „Er fühlt sich ertappt. Man sollte nicht denken, einen Erwachsenen vor sich zu haben, der vielleicht eine Frau hat, Kinder, die er erziehen soll, Angestellte, die er anschnauzt...Hier ist er ganz klein. Denn hier ist das Heiligste an einen Deutschen herangetreten: die Uniform. Und da hört der Spaß auf.“ Tucholsky, Kurt: „Der Kontrollierte“, in: Werke, Bd. 1, S. 114f. 67 Schwitters, Kurt: „Die Straßenbahn“, in: Das literarische Werk, Bd. 2: Prosa 1918-1930, S. 305. 68 Ebd.
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stürzte Pferd gesehen haben könnte. Inzwischen aber vergißt er, daß ich noch nicht bezahlt habe.“69
Sollte das nicht wirken oder aber sollte ein Kontrolleur den Wagen betreten, muss man auch schon mal zu drastischeren Ablenkungsmanövern greifen: „Kommt nun aber der Kontrolleur, und ich habe keinen Fahrschein, dann rufe ich: ‚Kurzschluß!‘ und renne wie besessen nach hinten. Dann steht natürlich alles auf, manche verlieren ihren Fahrschein, und ich erkläre draußen, ich hätte mich wohl geirrt. Indem ich nun wieder auf meinen Platz gehe, nehme ich den ersten besten verlorenen Fahrschein.“70
Aber auch wenn die ironische Brechung in der Darstellung von Regulationsszenarien und Machtverhältnissen in den zwanziger Jahren zunehmend in den Vordergrund tritt, wenn zunehmend Satire oder Karikatur zu den vorherrschenden Textformen werden, in denen diese Sujets verhandelt werden 71: Noch immer steht die Beschreibung der urbanen Nahverkehrsszenerie im Zeichen einer „sinnlosen Mechanisierung“72 des Verkehrsnetzes, in der sich die sinnlose Mechanisierung und Bürokratisierung eines Systems abbildet, dem man im Netz der „organischen Konstruktion“ der Moderne unwiderruflich anheim gegeben ist. „Gehst du zum Beispiel durch Berlin“, schreibt Kurt Tucholsky über die umfassende und omnipräsente Organisationswut moderner Verwaltungsapparate, die sich in der Verkehrsregelung allzu deutlich zeigt, „so siehst du an Hunderten von Stellen Wagen halten, ohne daß ein anderer Grund dafür vorläge, als daß vor ihnen eine rote Lampe brennt, die übrigens so aufgehängt ist, daß sie der vorderste Fahrer im geschlossenen Wagen kaum sehen kann. Ganz mechanisch wird das ge-
69 Ebd. 70 Ebd. 71 So entwirft etwa Joseph Roth in einem seiner Feuilletons ein abstruses Szenario allgemeiner Reue, in dem ehemalige Schwarzfahrer ihrer Sünde Abbitte leisten. Vgl. Roth, Joseph: „Die Tänzer Gottes und die Straßenbahn“, in: Werke, Bd. 1: Das journalistische Werk 1915-1923, S. 965-967. Und bei Kurt Tucholsky avanciert das Schwarzfahren zur – nicht unbedingt heroischen – Geste individueller Verweigerung: „Ich, Ignaz Wrobel, liebe es, den Schaffner auf dem Omnibus zu betrügen, dann fahre ich umsonst. Ich bin jähzornig: ich habe schon zweimal meinen Bademantel zerrissen, um ihn zu strafen; Krawatten zerschnitten, ein Glas auf den Boden hingefeuert.“ Tucholsky, Kurt: „Ich bin ein Mörder“, in: Werke, Bd. 6, S. 297. 72 Tucholsky, Kurt: „Der Verkehr“, in: Werke, Bd. 7, S. 306.
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macht; auf einer ‚Zentrale‘, diesem Ideal aller Organisatoren, läuft ein Apparat, und vierzehn Straßenzüge sind gesperrt, große, kleine, belebte, leere – darauf kommt es gar nicht an.“73
Die gesamte Stadt, hat es den Anschein, ist von einem Organisations- und Regulationsraster überzogen. Und dessen Leitzentrale, ein abstrakter Verwaltungsapparat, ist noch immer ähnlich unüberschaubar und festmachbar wie in Kafkas Schilderungen der bürokratischen Labyrinthartigkeit der Moderne. Joseph Roths Versuche, mit der morgendlichen Straßenbahn seinen Arbeitsplatz zu erreichen, und seine Verzweiflung über die Sinnwidrigkeit innerhalb einer bis ins Kleinste geregelten Verkehrsführung sind bereits ausführlich zu Wort gekommen: „Ich warte am Winterfeldplatz in Schöneberg auf die 162 oder auf die 62. Beide fahren Richtung Zimmerstraße. Dreiviertel vor acht stehe ich am Winterfeldplatz. Es kommen: 3, 10, 71, 82. Dann: 3, 10, 71, 82. Dann: 3, 10, 71, 82. Einviertel vor acht kommt die 162. Und hinter ihr die 62.“74
Ganz ähnlich wird für Kurt Schwitters die Linienführung der städtischen Straßenbahn zu Ausdruck und Sinnbild absurden bürokratischen Planungsverhaltens, das die Betroffenen tatenlos zur Kenntnis nehmen müssen: „Von einem Vorort aus fährt die Straßenbahn prinzipiell immer in die gleiche Gegend, wenn auch 5 verschiedene Nummern verkehren. Von uns aus, Haltestelle Döhrener Turm, fahren die 5 Linien zum Beispiel nur nach Hainholz, Vahrenwald und Limmer. Man fährt aber meistens in die Gegend Listerstraße. Besonders aber fährt keine einzige von den 5 Straßenbahnen am Bahnhof vorbei.“75
Kurt Tucholsky bringt dieses allgemeine Empfinden des Ausgeliefertsein des Großstädters an die Mechanismen zunehmender bürokratischer Vernetzung wie folgt auf den Punkt: „Der Berliner ist Sklave seines Apparats. Er ist Fahrgast […]. Mensch weniger.“76
73 Ebd. 74 Roth, Joseph: „Die Tücke des Vehikels“, in: Unter dem Bülowbogen, S. 889. 75 Schwitters, Kurt: „Straßenbahn“, in: Das literarische Werk, Bd. 2: Prosa 1918-1930, S. 305. 76 Tucholsky, Kurt: „Berlin! Berlin!“, in: Werke, Bd. 2, S. 130.
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5. V ERKEHR UND K RIEG : I MAGEPRODUKTION ALS A USDRUCK DER MENTALEN V ERFASSTHEIT DER W EIMARER R EPUBLIK „Neulich hing einer an meinem Rockknopf vom Winterfeldplatz an die ganze Potsdamer Straße entlang.“ So hat Joseph Roth in Die Tücke des Vehikels die bedrängende Enge in der morgendlichen Straßenbahn beschrieben. Sein lakonischer Kommentar: „Seither befestige ich meine Knöpfe mit Stacheldraht.“ Erläuternd fügt er hinzu: „Liegende Stücke suche ich mir am Bendlerplatz zusammen.“77 Was Joseph Roth hier wie nebenbei einfließen lässt, verweist auf eine zentrale Komponente der Mentalität der Weimarer Republik, die in den bisherigen Erläuterungen von Nahverkehrsszenarien nahezu vollständig außen vor gelassen worden ist: Die unmittelbar zurückliegende Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Die Erfahrungen des Krieges sind mindestens genauso prägnant in die Nahverkehrstexten der zwanziger Jahre eingeschrieben wie die Erfahrungen einer nachhaltig bürokratisierten Gesellschaft. Erstaunlich ist insofern auch nicht, dass auf der anderen Seite die Imagebildung des Verkehrs in diesen Jahren durch das Assoziationsreservoir und das Vokabular des Krieges beeinflusst wird. Nahverkehr und Krieg haben, unabhängig von aller metaphorischen Deutung, zunächst eine ganz praktische Verbindung. Im Ersten Weltkrieg werden Busse aus dem städtischen Verkehrsnetz für Personen- und Materialtransporte an der Front eingesetzt. 78 Den ortsfesten Anlagen des Verkehrs, insbesondere den stabil konstruierten S-Bahnbögen und U-Bahnschächten ist eine Nutzungsfunktion als Bombenschutzräumen zugedacht. 79 Und dadurch, dass während des Krieges große Teile des männlichen Personals an die Front eingezogen werden, stellt man zunehmend Frauen als Schaffnerinnen oder Fahrerinnen ein, so dass die soziale Struktur im öffentlichen Nahverkehr durch den Krieg nachhaltigen Veränderungen unterliegt. Mehr noch aber sind es die zunehmend zu verzeichnenden Beschreibungen des Nahverkehrs in Bildern des Krieges, an denen sich sehr viel deutlicher als an den realen historischen Verbindungen zeigt, dass die Erfahrungen des Krieges wesentlichen Einfluss auf die Deutung sozialer Symptome insgesamt haben. An ihnen lässt sich ablesen, in welcher Weise Verkehrsgeschehen und Kriegsgeschehen zusam-
77 Roth, Joseph: „Die Tücke des Vehikels“, in: Unter dem Bülowbogen, S. 889. Der Gebäudekomplex Bendlerblock, 1911 bis 1914 erbaut, ist in der Weimarer Republik Sitz des Reichsmarineamtes sowie des Reichswehrministeriums und der Heeresleitung. 78 Groth, Jürgen: Verkehr in Berlin von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 1: Nahverkehr, S. 24. 79 Binger, Lothar: „Stadtbahnbögen“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilmann/Gillen, Eckhart (Hg.): Exerzierfeld Moderne: Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert, S. 106f.
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mengedacht werden und sich ein Image des Verkehrs als kriegsähnliches Phänomen herausbildet. Das gilt zum einen für das Image der Passagiere. Während Siegfried Kracauer eher unterschwellig die Vorstellung des Krieges in die Zivilgesellschaft überführt, indem er die neu sich konstituierende Angestelltenschicht nicht nur als „industrielle Reservearmee“80 definiert, sondern die Beobachtung der zunehmenden äußeren Angleichung ihrer Vertreter als „Uniformierung“81 beschreibt, dann kann man grundsätzlich eine sehr viel explizitere Deutung der Verkehrsteilnehmer in Kategorien des Krieges beobachten. So stellt Ernst Jünger dem nervösen bürgerlichen Gesicht – als einer überkommenen physiognomischen Variante – das Gesicht des modernen Menschen als Antlitz des Kriegers gegenüber. 82 Dieses Gesicht indes, erklärt Jünger, zeichne sich nicht durch vordergründige Bedrohlichkeit aus, sondern trete subtiler in Erscheinung: als „neue(s) Gesicht, wie es heute in jeder illustrierten Zeitung zu finden ist“83. Eine Entwicklung, die Jünger durchaus positiv bewertet wissen will: „Mit Freuden nehme ich wahr, wie die Städte sich mit Bewaffneten zu füllen beginnen, und wie selbst das ödeste System auf kriegerische Haltung nicht mehr verzichten kann.“84 Auch in der Modernitätstheorie Georg Simmels, die sich ganz wesentlich aus der Beobachtung des urbanen Verkehrsgeschehens und seiner Teilnehmer herschreibt, ist der Umschlag der ursprünglichen Haltung individueller Distanzierung – Simmel nennt es die Blasiertheit des Großstädters – in eine nach Außen gerichtete Aggression zumindest als Möglichkeit immer schon angedeutet: „Ja, wenn ich mich nicht täusche, ist die Innenseite dieser äußeren Reserve nicht nur Gleichgültigkeit, sondern […] eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten nahen Berührung sogleich in Haß und Kampf ausschlagen würde.“85
Der abgeschlossene und beengte Raum des öffentlichen Transportmittels wird nicht mehr nur als Transportcontainer für das passive Menschenmaterial beschrieben,
80 Kracauer, Siegfried: „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“, in: Schriften, Bd. 1, S. 214. 81 Ebd., S. 224. 82 Vgl. Jünger, Ernst: „Über den Schmerz“, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 165. 83 Ebd., S. 186. 84 Ders.: „Das Abenteuerliche Herz I“, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 183f. 85 Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Gesamtausgabe, Bd. 7, S. 123.
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sondern er erfährt eine Verschärfung seiner Deutung als Schlachtfeld, auf dem ein Krieg aller gegen alle über die Verteilung individueller Handlungsfreiräume entscheidet. Der Waggon wird zum rollenden, nur vordergründig durch soziales Reglement befriedeten Kampfplatz, „wo jeden Augenblick die Bombe platzen kann, jedermann jedermanns Mörder sein wird mit ‚Erlaumm, mein Herr!‘ oder ‚Kommen Sie mir nur nich zu naaahe!‘“86 Kein Quadratzentimeter Boden wird in diesem sozialen Stellvertreterkrieg den übrigen Fahrgästen freiwillig überlassen – „Ich bin ein Stehender. Ich werde keine Rücksicht nehmen auf fremde Hühneraugen.“87 Geschweige denn ein Sitzplatz: „(W)esentlich ist, daß die Sitzenden vor Wut über die Stehenden und die Stehenden vor nicht minder niederträchtiger Wut über die Sitzenden kochen.“88 Schon ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, im Februar 1913, schildert Joachim von Bülow die Stimmung unter den Straßenbahnpassagieren als kriegsähnlichen Zustand: „Auf den Schienenbahnen besteht eine offizielle Feindschaft aller gegen alle. Jeder, der aufsteigt, wird von den im Besitz befindlichen mit wütenden Blicken gemustert; um keinen Zoll breit weicht, wer einmal sitzt, zur Seite, um einem Neuling Platz zu machen; […].“89
Auch wenn sich in diesen Beispielen natürlich der Wille zur satirischen Überzeichnung klar zu erkennen gibt, ändert das nichts an Tucholskys Beobachtung, der zufolge ursprüngliche Kriegsherrnmentalitäten auf zivile Verkehrsformen übertragen werden, so dass mithin die reale gesellschaftliche Erfahrung des Ersten Weltkrieges im Verkehrsgeschehen eine mediale Anknüpfungsbasis findet: „Getränkt vom Offiziersgeist, heimlichen Rittern gleich, jeder Zoll ein Baron, so stehen die deutschen Mannen beieinander, auf der Plattform des Omnibusses […]. Aber der Raum ist
86 Flesch, Hans: „Die Untergrundbahn lacht“, in: Berliner Tageblatt, 14.12.1928. 87 Roth, Joseph: „Der Passagier“, in: Werke, Bd. 1: Das journalistische Werk 1915-1923, S. 629. Das aggressive Moment der angestrebten Abhebung von den übrigen Fahrgästen verbunden mit der expliziten politischen Profillosigkeit macht die Figur Roths zu einer Studie des autoritären Charakters. Vgl. dazu Wirtz, Irmard: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen. Das Feuilleton der zwanziger Jahre und „Die Geschichte von der 1002. Nacht“ in historischem Kontext, S. 92. 88 Theunissen, Gerd H.: „Berliner U-Menschen“, in: Kölnische Zeitung, 17.5.1943, Abendblatt. 89 Bülow, Joachim von: „Berliner Vehikel“, in: Vossische Zeitung, 13. März 1913, Abendausgabe.
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eng, es kommt vor, daß es da ein Gedränge gibt, eine kleine Meinungsverschiedenheit. Böse Blicke...ein Zucken in den Augen des anderen...Und dann gehts los.“90
Ganz ähnlich schreibt er an anderer Stelle: „Nachdem die allgemeine Wehrpflicht weggefallen war, sah sich der Deutsche nach einem Ersatz um. […] Der Ersatz der allgemeinen Wehrpflicht ist die deutsche Verkehrsregelung.“91 Dahingestellt sei, ob in diesen Beschreibungen aufgrund der offensichtlichen Unangemessenheit des jeweiligen Verhaltens vordergründig dessen Lächerlichkeit entlarvt werden soll, ob es sich durchweg um eine Satire auf die bürgerliche Mentalität handelt. Was den Deutungen des Verkehrsgeschehens in Kategorien und Bildern des Krieges verbleibt, ist der Hinweis auf eine mit den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges in Wechselwirkungen stehende, grundsätzlich Gewalt bergende Atmosphäre, die jenseits aller Satire jederzeit in konkrete körperliche Bedrohung umschlagen kann: „Man will sich fortbewegen, sehen, hören. Man hatte vorher seine Kraft nur gelegentlich in Kriegen entladen, jetzt kommt es zur Technik: das ist Dauerkrieg, permanente Eroberung der Welt“,92 schreibt Alfred Döblin über den Geist des naturalistischen Zeitalters. In Paul Gurks Berlin liest man über die strukturelle Wiederkehr des Krieges in der Stadt: „Es schien, als ob der Gasstellungskampf des Krieges Umgangssitte friedvoller Stadtgenossen geworden.“ 93 Auch Arnolt Bronnen vermeint in den durch die öffentlichen Nahverkehrsmittel beförderten Massen – wiederum auf spezifisch sozialen Bewusstseinsstrukturen basierende – universale Rüstungs- und Aufmarschbewegungen erkennen zu können: „Der Deutsche, welcher kriegerisch ist mit allen Abarten des Kriegerischen, wie Ehrgeiz, herausfordernder Haltung, Händelsucht, Todesverachtung, hält den Verkehr zunächst für einen kriegerischen Zustand. Er zieht in Untergrundbahnen, in Stadtbahnwagen wie in Transportzügen zur Front. Er späht nach verdächtigen Anzeichen feindseliger Gesinnung bei jedem Passanten, um sie sofort erwidern zu können.“94
90 Tucholsky, Kurt: „Krach!“, in: Werke, Bd. 3, S. 217. „Jeder ist Schaffner und kommandiert: ‚Vorgehn‘“, beobachtet auch Joseph Roth: „Aber weil der Kommandierte auch Schaffner ist, geht er nicht vor.“ Roth, Joseph: „Betrachtungen über den Verkehr“, in: Werke, Bd. 2: Das journalistische Werk 1924-1928, S. 279 91 Tucholsky, Kurt: „Der Verkehr“, in: Werke, Bd. 7, S. 306. 92 Döblin, Alfred: „Der Geist des naturalistischen Zeitalters“, in: Aufsätze zur Literatur, S. 66. 93 Gurk, Paul: Berlin, S. 250. 94 Bronnen, Arnolt: „Moral und Verkehr“, in: Sabotage der Jugend. Kleine Arbeiten 19221934, S. 127.
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Wenn schließlich Joseph Roth die Vermutung anstellt, dass „ein Autobus, der von lauter erbitterten, Streit und Zusammenstoß suchenden Passagieren besetzt ist, auch schließlich zusammenstoßen muß“, denn: „(d)ie Stimmung im Wagen überträgt sich auf den Lenker“, 95 dann stellt er eine Verbindung her zwischen der – zum Teil parodistisch überhöhten – Entlarvung bürgerlicher Verhaltensweisen und der realen Gefahr des Todes durch den Verkehrsunfall. Durch die Kategorie des durch Technik herbeigeführten Todes erhält das Image des Verkehrs als Kriegszustand – eher als durch die zu Anfang dieses Abschnitts genannten praktischen Verbindungen – einen sehr realen Hintergrund. In der Kulturgeschichte des Nahverkehrs ist zwar dargestellt worden, dass es gerade die frühen Jahre des neuen Verkehrssystems sind, in denen die Unfälle auf den Straßen eine besondere Aufmerksamkeit hervorrufen – und deshalb auch immer wieder Gegenstand individueller Prozesse um Entschädigung werden. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg allerdings, als der öffentliche Verkehr zu einem Massenphänomen geworden ist, tritt etwas anderes in den Vordergrund: Der Unfalltod im Straßenverkehr wird nicht mehr als Besonderheit wahrgenommen, sondern die neuen technischen Anforderungen in der verkehrsinfrastrukturell erschlossenen Metropole haben zur Bedingung, dass der Tod der Verkehrsteilnehmer zumindest als Option in Kauf genommen werden muss. In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert deswegen nicht mehr der einzelne Fall, sondern er wird zum abstrakten Teil einer Statistik über Unfallopfer und Verkehrstote: „Wirklich hat sich der Verkehr zu einer Art von Moloch entwickelt, der jahraus, jahrein eine Summe von Opfern verschlingt, die nur an denen des Krieges zu messen sind. Diese Opfer fallen in einer moralisch neutralen Zone; die Art, in der sie wahrgenommen werden, ist statistischer Natur,“ 96
erklärt Ernst Jünger in Der Arbeiter. Deshalb müssen, entsprechend der außermoralisch taktischen Gewinn-Verlust-Abwägung in der Schlachtplanung des Krieges, die Verkehrsopfer als unvermeidbarer Negativfaktor eines ansonsten vorteilsträchtigen Einsatzes moderner Technik verbucht werden: „Es mag ein rohes Verhalten sein, sich damit abzufinden, aber auch die schnellen Verkehrsmittel fordern mehr Opfer als alle Tiger Indiens, und offenbar befähigt uns die rücksichtslose
95 Roth, Joseph: „Betrachtungen über den Verkehr“, in: Werke, Bd. 2: Das journalistische Werk 1924-1928, S. 279. 96 Jünger, Ernst: „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“, in: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 103.
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und fahrlässige Gesinnung, in der wir das ertragen, auf der anderen Seite zu den Erfolgen, die uns nicht abzusprechen sind.“97
Ebenso wie Jünger verbindet Musil die Sphären von Verkehr und Krieg über das Moment des scheinbar legitimierenden Einfügens des Todes in die Ordnung der Statistik. Im ersten Kapitel vom Mann ohne Eigenschaften wird das Entsetzen einer Beobachterin über ein Unfallopfer unmittelbar zum Versiegen gebracht, als ihr Begleiter das Geschehen mit dem verlängerten Bremsweg des Lastwagens begründen und in den Kontext der durchschnittlichen Verletzten- und Totenzahlen des Straßenverkehrs einordnen kann: „Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein unentschlossenens, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: ‚Diese schweren Kraftwagen haben einen zu langen Bremsweg.‘ Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. […] es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war […].“98
Ein paar Zeilen weiter unten heißt es: „Man ging fast mit dem berechtigten Eindruck davon, daß sich ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis vollzogen habe. ‚Nach amerikanischen Statistiken‘, so bemerkte der Herr, ‚werden dort jährlich durch Autos 190.000 Personen getötet und 450.000 verletzt.‘“99
Tatsächlich übersteigen die von Musil notierten Zahlen, selbst in Bezug auf den amerikanischen Verkehr, ein realistisches Maß. Sie entsprechen vielmehr den Angaben von Zahlen über die Toten und Verletzten Österreichs aus dem ersten Jahr des Ersten Weltkriegs, so dass auf diese Weise der Krieg wiederum in den Verkehr eingeschrieben wird. 100 An Musils subkutaner Verschachtelung von Krieg und Verkehr wird deshalb deutlich, dass es nicht immer darum geht, dem urbanen Verkehrsgeschehen ein bestimmtes Image zu verleihen, und dass die Bilder des Krieges auch nicht immer im Sinne einer – natürlich technikkritischen – Mentalitätsanalyse der modernen Gesell-
97
Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 245.
98
Ebd., S. 11.
99
Ebd.
100 Musil führt die Zahl von 190.000 Verkehrstoten und 450.000 Verletzten an. Im ersten Kriegsjahr fallen 189.000 österreichische Soldaten und 490.000 werden verwundet. Vgl. Honold, Alexander: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktionen in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, S. 88.
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schaft bemüht werden. An Musils Versuch der Diskursivierung von Krieg und Verkehr zeigt sich stattdessen, wie sehr der Verkehr eben auch zu einem Inframedium des Erzählens wird, durch dessen Einsatz das grundsätzlich Nicht-Erzählbare, wie der Krieg, eine Möglichkeit zur Darstellbarkeit gewinnt. Demgegenüber indes stehen Entwürfe, die ganz explizit den Verkehr als kriegerisches bzw. Kriegsszenario deuten: „Auf dem Fahrdamm kämpften erbitterte Fuhrwerke, knallten gegeneinander, zerbarsten, füllten die Luft mit springenden Splittern. […] Schwankende Autobusriesen, anzusehen wie unheimliche Urzeitbestien, rasten quer über das Schlachtfeld, zermahlten Menschen und Fuhrwerke.“101
In Ernst Jüngers Sozialdiagnosen bilden dementsprechend die anthropologischen Wahrnehmungskonstitutionen und ihre Irritationen die perspektivische Basis, in denen die Entäußerungsformen der Technik sowohl im Krieg als auch im Verkehr zu einer universalen Kategorie der Gewalt werden: „Etwas äußerst Bedrohliches besitzt der Straßenlärm, der sich immer deutlicher auf ein dunkles, heulendes U, auf den schrecklichsten aller Vokale, einzustimmen beginnt. Wie könnte es auch anders sein, da in den Signalen und Aufschreien der Verkehrsmaschinen die unmittelbare Androhung des Todes eingeschlossen ist.“102
Der von Jünger eingehend studierte französische Mystiker Léon Bloy beschreibt bereits im Jahre 1904 in seinem Tagebuch die im Akustischen gründende Verbindung von öffentlichen Verkehrsmitteln und existentieller Angst: „15. März – Paris. Meine erste Fahrt in der Untergrundbahn. Gewaltiges Werk, wie ich zugebe, und nicht ohne eine unterirdische Schönheit. Doch teuflischer Lärm, das Bewußtsein unleugbarer Gefahr, Vorgefühl drohenden Todes! –, jedes Mal, wenn man in diese Katakomben hinabsteigt. Man hat den Eindruck: Dies ist das Ende aller sprudelnden Quellen, das Ende aller sanftrauschenden Wälder, aller Morgen- und Abenddämmerung auf den Auen des Paradieses, das Ende der menschlichen Seele!“ 103
101 Timpe, Ferdinand: „Die Straße“, in: Berliner Tageblatt, 30.12.1924. 102 Jünger, Ernst: „Das abenteuerliche Herz I“, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 90. 103 Bloy, Léon: Vier Jahre Gefangenschaft in Cochon-sur-Marne. Tagebücher des Verfassers 1900-1904, S. 429. Vgl. Jüngers Kommentar zu seiner Bloy-Lektüre: Jünger, Ernst: „Strahlungen II, 23. Februar u. 5.März 1943“, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 13 und S. 17f.
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Der Faktor der akustischen Traktierung der Sinne, die die technisierten Apparate des Verkehrs ebenso erzeugen wie die Maschinen des modernen Krieges, wird deshalb nicht nur in den Sozialdiagnosen Jüngers über die Bedeutung im individualpsychologischen Nervositätsdiskurs hinaus zum Indikator soziokultureller Bedrohung. Auch Viktor Schklowski vergleicht die aus dem Untergrund auf die überirdischen Gleise schnellende U-Bahn mit dem Lärm der Geschütze auf dem Schlachtfeld: „Der Zug kommt vom Bahnhof Wittenbergplatz angerast und jault wie eine schwere Granate auf steigender Flugbahn.“104 Über den Lärm der Drehkreuze in den amerikanischen U-Bahnstationen heißt es im Sonderdruck der Allianz-Zeitung aus dem Jahr 1928: „Beim jedesmaligen Zuschlagen versetzt es den gemarterten Nerven einen wahren Keulenschlag, und das bei der endlosen Kette von Passanten ununterbrochen wie Trommelfeuer; […].“105 Obwohl also – wie in den kulturgeschichtlichen Überlegungen zur Konditionierung dargestellt – die Großstädter sich mehr und mehr an die Bedingungen des technisierten Verkehrs und seine neuen sinnlichen Anforderungen gewöhnen, bleiben die von den Maschinen des Verkehrs verursachten akustischen Reize Auslöser für eine bestimmte Erwartungsangst der Verkehrsteilnehmer, deren wesentlicher Charakter in der schockartigen Störung des Wahrnehmungsflusses besteht.106 Der
104 Schklowski, Viktor: „Zoo oder Briefe nicht über die Liebe“, in: Es war einmal. Zoo oder Briefe nicht über die Liebe. Autobiographische Erzählungen, S. 270. 105 Hensel, Rudolf: „Amerika. Aus Tagebuchblättern einer Reise“, in: Sonderdruck aus der Allianz-Zeitung, S. 60. 106 Urszene des Wahrnehmungsschreckens, in der die Darstellung der mechanischen Reihung und der Abstraktheit des auslösenden Moments ausdrücklich die Verlagerung auf den Bewusstseinsakt bedingen, ist das von Jünger beschriebene Bild des Blechsturzes: „Es gibt eine Art von sehr dünnem und großflächigen Blech, mittels dessen man an kleinen Theatern den Donner vorzutäuschen pflegt. Sehr viele solcher Bleche, noch dünner und klangfähiger, denke ich mir in regelmäßigen Abständen übereinander angebracht, gleich Blättern eines Buches, die jedoch nicht gepreßt liegen, sondern durch irgendeine Vorrichtung voneinander entfernt gehalten werden. Auf das oberste Blatt dieses gewaltigen Stoßes hebe ich dich empor, und sowie das Gewicht deines Körpers es berührt, reißt es krachend entzwei. Du stürzt, und stürzt auf das zweite Blatt, das ebenfalls, und mit heftigerem Knalle, zerbirst. Der Sturz trifft auf das dritte, vierte und fünfte Blatt und so fort, und die Steigerung der Fallgeschwindigkeit läßt die Detonationen in einer Beschleunigung aufeinander folgen, die den Eindruck eines an Tempo und Heftigkeit ununterbrochen verstärkten Trommelwirbels erweckt. Immer noch rasender werden Fall und Wirbel, in einen mächtig rollenden Donner sich verwandelnd, bis endlich ein einziger, fürchterlicher Lärm die Grenze des Bewußtseins sprengt.“ Jünger, Ernst: „Das Abenteuerliche Herz I“, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 35f.
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Verkehr wird, unter akustischen Gesichtspunkten, zu einem dem Krieg adäquaten Zirkulationsraum von Sensationen und Erregungen. 107 Im Gegensatz zu diesem unkontrollierbaren und plötzlich auftretenden Verkehrslärm wird die Organisation des Verkehrsgeschehens zunehmend abstrakter, beinahe unheimlich lautlos. Bereits als es darum ging, die umfassende und kaum sichtbare Vernetzung zu beschreiben, in dessen Mechanismen die Benutzer der öffentlichen Verkehrsmittel eingebunden sind, wurde auf die zunehmende Abstrahierung der Organisation hingewiesen. Gerade diese Abstrahierung bei gleichzeitiger Perfektionierung der Organisation des Verkehrs ist es, die immer wieder die Assoziationen militärstrategischer Planung nahe legt. Siegfried Kracauer etwa deutet die automatischen Lautsprecheranlagen auf den Bahnsteigen nicht nur als Ausdruck der gesellschaftlichen „Organisationswut“. Er geht noch einen Schritt weiter, wenn er sie als eine alle Abläufe abstrakt lenkende und die Menschen formierende Befehlsmacht beschreibt: „Eins, zwei, drei Sekunden vor der Abfahrt eines jeden Stadtbahnzuges erschallt auf größeren Stationen der Ruf ‚Zurückbleiben!‘ Er wird nicht etwa von einem sichtbaren Beamten ausgestoßen, sondern bricht geheimnisvoll aus dem Äther herein. […] Sein rauher militärischer Klang verwandelt die zerstreuten Publikumsgruppen in eine geschlossene Schützengrabenkompanie, die dem Befehl eines weit hinten im Etappenquartier befindlichen Obergenerals untersteht.“108
Ebenso wie Kracauer beobachtet Jünger an den automatisierten Funktionsreihen des modernen urbanen Verkehrs, dass der Mensch „sich unter lautlosen und unsichtbaren Kommandos zu bewegen beginnt“,109 so dass in der Summe der Bewegungen sich schließlich das Bild einer universalen, in ihrer Automatisierung unaufhaltsamen Mobilisierung entfaltet: „Es ist der Anblick einer Bewegung, die sich mit unpersönlicher Strenge vollzieht. Diese Bewegung ist drohend und uniform; sie treibt Bänder von mechanischen Massen aneinander vorbei, deren gleichmäßiges Fluten sich durch lärmende und glühende Signale reguliert.“110
107 Vgl. die ausführliche Herleitung des Schockbegriffs aus dem militärischen Hintergrund bei Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, S. 134-141. 108 Kracauer, Siegfried: „Worte von der Straße“, in: Schriften, Bd. 5.2: Aufsätze 19271931, S. 201. 109 Jünger, Ernst: „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“, in: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 142. 110 Ebd., S. 102.
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In der Wahrnehmung dieser Mobilisierungsgestalten wird aus dem distanzierten Blick des Verkehrsteilnehmers Ernst Jünger der Zeichen lesende, entmoralisierte Blick des Kriegers, der Koordinatenverschiebungen auf dem Schlachtfeld zu deuten vermag und der nun „die gefährlichen und bedrohlichen Dimensionen auch der scheinbar befriedeten Zivilisationswelt wahrnimmt“, 111 die jeden Moment in eine kriegerische überführt werden kann. 112
111 Martus, Steffen: Ernst Jünger, S. 88. 112 Diese Erkenntnis gewinnt Jünger wiederum aus dem Bild des elektrischen Schaltkreises, denn es kann „das weitverzweigte und vielfach geäderte Stromnetz des modernen Lebens durch einen einzigen Griff am Schaltbrett dem großen Stromkreis der kriegerischen Energie zugeleitet“ werden, so dass die Fahrt in der elektrischen Straßenbahn zum Sinnbild der Mobilisierung schlechthin werden kann. Jünger, Ernst: „Die Totale Mobilmachung“, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 126.
III. Zeitgenössische Entwürfe zur Erweiterung des Kulturbegriffs
Was im vorangegangenen Abschnitt unter der Überschrift „Kulturanalyse und Imageproduktion“ an den verschiedenen Variationen von Verfestigungs- und Vereisungsmodellen dargestellt worden ist, hat zweierlei gezeigt: Die infrastrukturelle Erschließung durch das Nahverkehrsnetz bedingt nicht nur grundlegende Veränderungen in den räumlichen und sozialen Konstellationen der modernen Stadt. Sie stellt gleichzeitig ein Reservoir materialer Oberflächenstrukturen bereit – das Schienen- und Oberleitungssystem, die Stahlarchitekturen der Bahnhofs- und Brückenkonstruktionen –, das die Entstehung und Anbindung bestimmter Images befördert. Gezeigt werden konnte auf diese Weise, dass und in welcher Weise die Bewertungen der Transformationsprozesse der Urbanisierung sich ganz wesentlich aus den medialen Dispositionen, wie sie der öffentliche Nahverkehr als Infrastruktur mit sich bringt, herschreiben und mit ihnen in Wechselwirkung treten. In den Blick genommen wurden dabei aber bisher ausschließlich Positionen, die Images des Nahverkehrs entwerfen, die relativ einhellig dem Argumentationsmuster folgen, das bereits als typisches Muster in der technikkritischen Tradition herausgearbeitet worden ist. Mit dem Ergebnis, dass auch die um das Phänomen Nahverkehr kreisenden Texte sich unter die These subsumieren lassen, dass die Auswirkungen der verkehrsinfrastrukturellen Erschließung des urbanen Raums grundsätzlich als einschränkender Faktor im lebensweltlichen – und das ist unter dieser Perspektive immer der „ursprüngliche“ und „natürliche“ – Zusammenhang auftreten. Als solche Gegenbewegung zur lebensweltlichen Dynamik werden sie dann natürlich auch aus dem Prozess produktiver kultureller Entwicklung ausgeklammert. Diese Sichtweise ist nicht nur einseitig, sie spannt vielmehr die Potentiale imaginärer Medialität, die dem Nahverkehr strukturell eigen sind, für ihre Zwecke ein – und lässt dabei stillschweigend unter den Tisch fallen, was in den Darstellungen, die ausdrücklich als „Kulturgeschichte des Nahverkehrs“ überschrieben sind, über die medialen Eigenschaften des Nahverkehrs für die Zusammenhänge von Stadt-
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entwicklung und Herausbildung moderner Gesellschafts- und Individualitätskonzepte dargestellt worden ist. Hinzu kommt noch etwas anderes: Indem diese Texte den Nahverkehr zum Thema ihres Erzählens werden lassen, zeugen sie bereits selbst davon, wie nachhaltig sein Einfluss auf den kulturellen Prozess, den diese Texte ja abbilden und reflektieren wollen, und wie nachhaltig sein Einfluss damit auch auf die künstlerischen Prozesse selbst ist. Im vierten Teil dieser Arbeit wird es ganz konkret um die Frage nach den Zusammenhängen von inframedialen Wirkungen des Nahverkehrs und ästhetischen Formen gehen. Um die Neukonfigurierung literarischer Produktions- und Rezeptionsbedingungen, die durch infrastrukturelle Um- und Neuorganisation des urbanen Raums bedingt werden bzw. sich nach ihrem Vorbild herausbilden. Zuvor aber sollen in diesem Abschnitt Positionen betrachtet werden, die als Versuche zu lesen sind, den Nahverkehr als produktives Element in den kulturellen Möglichkeitsraum aufzunehmen. Es handelt sich dabei, was die Betrachtung des Stadtraums betrifft, um Texte, die den Kälteszenarien in ihren – im Simmelschen Sinne – tragischen Konnotationen Bilder des Organischen entgegensetzen. Und es handelt sich dabei, was die Ebene der Großstädter selbst betrifft, um Texte, die probeweise die Veränderungen von Wahrnehmungs- und Reizanforderungen im urbanen Raum zur Grundlage neuer Individualitätskonzepte werden lassen. Bei diesen zeitgenössischen Versuchen zur Aufnahme des Technischen in die Vorstellungen von Kultur ist dreierlei zu bedenken: Zum einen, dass es sich bei diesen Lesarten genau wie bei den zuvor geschilderten wiederum um das Entwerfen von Images handelt, die genauso von der medialen Eignung des Nahverkehrs profitieren, dieser aber ebenfalls eine bestimmte Tendenz verleihen. Zum anderen wird im internen Vergleich dieser Deutungen des Nahverkehrs auffallen, dass es sich hier einerseits um, wenn man so will, ernsthafte Versuche handelt, einen Zusammenhang von kulturellen und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten und technischen Neuerungen herzustellen. Dass es aber andererseits auch solche Darstellungen gibt, die zwar dieselben Phänomene zum Thema haben, die aber als mehr oder weniger ausgeprägter satirischer Kommentar auf zeitgenössische Moden zu verstehen sind, aus den technischen Neuerungen einen Mehrwert zu schöpfen, der über die rein praktische Lebenserleichterung hinausgeht. Hierin unterscheiden sich diese Texte ganz wesentlich von denen im vorangegangenen Kapitel betrachteten Kälteund Verfestigungsszenarien. Denn die sind, auch wenn sie immer wieder satirische Färbung annehmen, immer zu verstehen als Hinweis, zumindest aber Indikator einer kulturellen Krisenerfahrung. Was sich schließlich auch noch an diesen zeitgenössischen Versuchen zur Aufnahme des Technischen in das Kulturverständnis zeigt, ist einmal mehr das zyklische Prinzip der Inframedialität. Erst dadurch, dass nach und nach eine gewisse Form der Akzeptanz der neuen Verkehrstechnik eintritt, kann sie zu einem Experimentierfeld neuer Wahrnehmungs- und Individualitätskonzepte werden.
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1. D ER VERWANDELTE B LICK AUF DIE T ECHNIK : D ER S TADTRAUM WIRD ZUR L ANDSCHAFT . D AS G LEISDREIECK Das Gleisdreieck ist ein Kreuzungspunkt dreier Hochbahntrassen zwischen Anhalter Bahnhof und dem Potsdamer Platz. Mit seinen Verzweigungen von Schienensträngen und seinen ausladenden Gleis- und Bahnhofsanlagen ist es eines der prägnantesten Zentren des urbanen Nahverkehrs und fungiert deshalb oftmals als Sinnbild der verkehrstechnischen Erschließung der Stadt insgesamt. Nachgerade der tragische Unfall, der sich hier am 26. September 1908 ereignet und der zahlreichen Menschen das Leben kostet, macht es zudem zu einer Konstruktion, mit der sich die Unbeherrschbarkeit der Technik selbst ein Mahnmal inmitten der Stadt gesetzt zu haben scheint. „Bis zu diesem Tage kam dem Gleisdreieck keine besondere Bedeutung zu“, schreibt Kisch über den Tag des Unfalls, „weder als Haltstelle noch als Umsteigestation, das Publikum kümmerte sich nicht darum, sondern nur die Ingenieure, die es erbauten, und die Beamten, die den Verkehr regelten. Es war ein sphärisches Dreieck, in dem die aus drei Richtungen kommenden Züge der U-Bahn in verschiedene Richtungen gelenkt wurden. Aber an jenem verhängnisvollen Tage stießen durch das Verschulden eines Führers, die Verspätung eines Zuges und das gleichzeitige rätselhafte Versagen einer Weiche zwei Züge zusammen, und ein Waggon stürzte in die Tiefe, in das Reich des Fernverkehrs, wobei achtzehn Personen ums Leben kamen.“1
Wenn es einen Ort in Berlin gibt, an dem sich die Veränderung des Stadtraums durch den Ausbau des Nahverkehrs in paradigmatischer Weise ablesen lässt, dann ist es dieser Schienenkreuzungspunkt. Folglich sind es auch die Veränderungen, die an den Darstellungen dieses Ortes zu beobachten sind, von denen aus sich rückschließen lässt auf die Veränderungen der Wahrnehmung, wie sie für den urbanen Raum insgesamt stattfinden. Denn wenn gerade die Komprimierung von Technik, wie sie in den Gleis- und Bahnhofsanlagen des Gleisdreiecks anschaulich wird, in den zwanziger Jahren von verschiedenen Autoren immer wieder in Bildern des Organischen beschrieben wird, dann zeigt sich daran, wie der infrastrukturellen Neuordnung des urbanen Raums sukzessive eine ganz andere Lesart eingeschrieben wird. Nicht mehr nur das stählerne Gehäuse der Moderne will man in den weitläufigen eisernen Konstruktionen der Anlage sehen, nicht mehr den immer wieder beschrienen und beschriebenen tragischen Prozess zunehmender Verfestigung. Stattdessen wird in den Beschreibungen des Gleisdreiecks als Landschaft diesem verkehrsinfrastrukturellen Knotenpunkt der Status des ursprünglich Gewachsenen
1
Kisch, Egon Erwin: „Die Untergrundbahn“, in: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 382.
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zuerkannt. Bei diesem Wandel der Darstellung des urbanen Raums hat man es nicht mit einem abrupten Umschlagen zu tun. Vielmehr muss man darin einen Prozess erkennen, der sich zu großen Teilen sogar zunächst auf einer unbewussten Ebene vollzieht. Dass es sich bei dieser Wandlung der Images vom Nahverkehr, bei der „Natürlichwerdung“ des infrastrukturell erschlossenen Raums, um einen Vorgang handelt, der sich sukzessive in seine Bildentwürfe einschreibt, kann man gerade an solchen Darstellungen ablesen, in denen sich beide Images, das der Kälte und das der beginnenden Erwärmung, finden. Hans Kafkas Feuilleton Tausendundein Waggon. Gleisdreieck morgens ist so ein Text. Im vorangegangenen Abschnitt wurde eben dieses Feuilleton als einer derjenigen Texte betrachtet, in denen der öffentliche Transport zum Sinnbild von Rationalisierung und Funktionalisierung wird und damit den Befund der dem Konzept Leben entgegenstehenden Technik stützt. Trotz dieser kritischen Perspektive auf das, was er am Gleisdreieck beobachtet, beginnt aber in Kafkas Text das Gleisdreieck, das doch eigentlich Ausdruck mechanischer Abläufe und starrer Konstruktionen sein soll, unversehens zu wuchern. Der Blick des Beobachters findet keinen festen Halt in der komplexen Verschachtelung und der Weitläufigkeit der Bahnhofsanlagen: „Aber wie vorhin auf dem Bahnhof, findest du dich hier in dem Drunter und Drüber der Anlagen nicht allsogleich zurecht. Sind das da Straßen, die sich einmal unter den Schienen, ein andermal über sie hinwegwinden? Sind das Tunnels und Brücken? Handelt es sich um eine grandiose Architektur in mehreren Etagen, die mit einer Formel alles packte, Fahrbahnen und Schienenwege in großer Zahl, Speicherbauten, Lagerplätze und sogar den Hafen am Landwehrkanal?“2
Dieser Eindruck einer Verschachtelung, die keiner Logik folgt, lässt die Konstruktion dann nicht mehr als Ergebnis und Ausdruck eines rationalisierten Konzepts erscheinen. Eher bekommt es den Anschein eines kontingent entstandenen Gefüges, das sich wie eine natürliche Umgebung langsam herausgebildet hat: „Ein einziger Wurf – und all das war da?“ Das scheint dem Beobachter kaum möglich: „Oder wuchs es organisch?“3 Die folgende Beschreibung spricht dafür: „Winkel gibt es in diesem wenig kontrollierbaren Gebiet, seltsame Hütten und Höhlen – direkte Verbrecherverstecke. Die haben sich eben so ergeben. Bäume sind gewachsen und arme
2
Kafka, Hans: „Tausendundein Waggon. Gleisdreieck morgens“, in: Berliner Tageblatt
3
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Grasflecke – so schleicht sich das Unbeabsichtigte immer noch organisch herein. Alles ist halb gewachsen und halb konstruiert; alles ist nur halb – ein romantisches Gebiet!“4
Sind es auf der einen Seite die Stahlkonstruktionen in ihrem Zusammenspiel und in der Verbindung mit der Umgebung, die vom Anorganischen ins Organische überwechseln, so ist es auf der anderen Seite der Verkehr selbst, der einen Zustand gesteigerter Entropie verursacht und damit Energie und Lebendigkeit produziert, selbst wenn er eigentlich aus unbelebten Elementen besteht: „Bahnhof, das ist eigentlich unübersehbar; helldunkel, grellbunt von Signallaternen, eisern, steinern, gläsern, anklingend und entgegenblitzend, – das rasselt, summt, hastet, stößt, stöhnt, eilt, schreit, pfeift, flackert, faucht, drängt und treibt. Weniger übersehbar groß, denn unübersehbar wirr.“5
Während Hans Kafka bisher Bahnhofsanlage und Verkehr aus der Draufsicht beschrieben hat, wechselt die Perspektive nun in einen fahrenden Waggon hinein. In der Bewegung, in der sich der ohnehin schon unsichere Beobachterstandpunkt vollends aufgelöst hat, wird der Eindruck eines Fließenden, Organischen umfassend, das zwar qua Technik evoziert worden ist, aber so gar nicht mehr an die ursprünglichen Vorstellungen von Rationalisierung und starrer Form und Taktung erinnern will: „Ein Meer von Gesichtern und Geschichten, von Menschen, über die du gleitest und die du nun behalten oder vergessen kannst, von Landschaften, die nie mehr wiederkommen, schlägt ungeheuer über dir zusammen.“6 Die unzähligen Gesichter der anderen Passagiere scheinen den Sprecher zu überfluten, der Zug gleitet durch die Landschaft, alles ist im Fluss, der sanft ist, der aber, wie das Meer, auch ungeheuer über dem Fahrenden zusammenschlagen kann. Dieses Empfinden einer ursprünglichen Naturgewalt, das sich durch das Ineinandergreifen von inkommensurabler technischer Architektur und Fahrerlebnis herstellt, lässt die Vorstellung der Stadt als rationalisierten Funktionszusammenhang verblassen und bereitet den Boden für Spekulationen: „Hier, mitten in der Stadt, hat die Stadt nun wirklich aufgehört. Was fängt nun an? Das Unbekannte? Der Traum, die Lust, das Leben?“7
4
Ebd.
5
Ebd.
6
Ebd.
7
Ebd., vgl. hierzu auch Walther Mehrings Gedicht Achtung Gleisdreieck aus dem Jahr 1921: „Untergrund / Kunterbunt / Kurve! Und / Gleis-drei-eck! / Alles flucht / Alles sucht / Drunter und / drü-ber-weg / Jedermann / Lebermann, / Biedermann: / Schieber / Allesamt / Gleichverschlampt / Gleiches Kaliber.“
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Geradezu zaghaft klingen gegen diese Emphase, auch wenn die Textbewegung dieselbe ist, die Ansätze von Kracauer, in seinem Roman Ginster das Gleisdreieck in den organischen Zusammenhang der Natur einzugliedern – während er in Die Unterführung doch die Konstruktion der Bahnhofsanlage als komplett lebensfeindlich beschreiben wird. Kracauer leitet in seinem Roman, der 1928 zunächst anonym erscheint, und an dem er seit 1925 gearbeitet hat, die Beschreibung des Gleisdreiecks noch mit dem Hinweis auf das Anorganische ein: „Er gleitet über das Gleisdreieck, schwebt oberhalb einer anorganischen Schienenlandschaft, in der Schornsteine, Werkschuppen und Rückfassaden wachsen“, verwandelt das Szenario aber dann in das einer Agrarlandschaft: „Die auf der künstlichen Ebene zerstreuten Arbeiter gleichen Bauern, die ihren Acker pflügen.“8 Auch bei Kisch verwandelt sich der Blick auf das technisch erschlossene Areal hin zum Natürlichen: „[…] die Haltestelle schwebt in der Luft. Unten sind keine Menschenhäuser, unten bewegen sich lediglich Maschinen. Unten liegt ein großes Areal von Güterbahnhöfen, ein Meer von Schienen, in der Dämmerung von kleinen Leuchttürmen beleuchtet, durchquert von Tausenden von Schiffen auf Rädern, die durch Bojen, hier Weichen oder Semaphore genannt, geregelt werden – ein Meer von Festland.“9
Viktor Auburtin schließlich vermeint, dem gigantischen eisernen Bauwerk zumindest das ästhetisch Anmutende einer natürlichen Gegend abgewinnen zu können: „Diese Landschaft mit den vielen Eisenbahnwagen und Schienen ist eine der schönsten, die ich kenne; sie ist besonders schön in den gedämpften Farben des Winters, […].“10 Der eigentlich paradigmatische Text über das Gleisdreieck, an dem die Veränderungen der medialen Wirkungen der Nahverkehrstechnik in sehr viel radikalerer Weise als bei Hans Kafka, Kisch, Kracauer oder Auburtin zum Ausdruck gelangen, stammt von Joseph Roth. Schon der Titel des 1924 im Feuilleton der Frankfurter Zeitung erscheinenden Feuilletons enthält einen Hinweis darauf, dass es Roth um eine bewusste, aktiv vorangetriebene Neukonstituierung des Verhältnisses von Mensch, Technik und Stadtraum geht: Bekenntnis zum Gleisdreieck11 hat er den Text, der in zuweilen pathetischem Ton das zugleich Natürliche und Erhabene der technischen Konstruktion preist, überschrieben.
8
Kracauer, Siegfried: „Ginster“, in: Schriften, Bd. 7, S. 28.
9
Kisch, Egon Erwin: „Die Untergrundbahn“, in: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 382.
10 Auburtin, Viktor: „Der Prophet Sacharja“, in: Pfauenfedern. Miniaturen und Feuilletons aus der Nachkriegszeit, S. 115. 11 Roth, Joseph: „Bekenntnis zum Gleisdreieck“, in: Frankfurter Zeitung vom 17.7.1924. Im Folgenden aufgrund der Kürze des Textes ohne Fußnoten und Seitenangaben zitiert.
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Überraschend unmittelbar beginnt Roth: „Ich bekenne mich zum Gleisdreieck“, lautet der erste Satz. Schon im darauffolgenden wird die eigenartige Ambivalenz vorgestellt, die Roths Beschreibungen und Preisungen des Gleisdreiecks in den folgenden Absätzen bestimmen wird: „Es ist ein Sinnbild und ein Anfangsbrennpunkt eines Lebenskreises und phantastisches Produkt einer Zukunft verheißenden Gewalt.“ Einerseits wird der stählerne Schienenkreuzungspunkt – im Gegensatz zu den Vereisungs- und Stillstandsmetaphern – ähnlich wie bei Kracauer und Auburtin, mit der Sphäre des Lebendigen in Verbindung gebracht. Mehr noch: Als „Anfangsbrennpunkt eines Lebenskreises“ wird er zur initiatorischen Kraft dieser Vitalität selbst. Wenn es aber bei Kracauer und Auburtin eine fast beschauliche Atmosphäre ist, in der sich das vermeintlich Gewachsene der GleisdreieckLandschaft präsentiert, dann ist bei Joseph Roth dieser Vitalität immer auch das Moment einer übermächtigen Kraft und eines unaufhaltsamen Fortschritts eingeschrieben, der das Wesen der Moderne ausmacht und dem durchaus zerstörerisches Potential eigen ist. Das Gleisdreieck ist nicht nur „Anfangsbrennpunkt eines Lebenskreises“, es ist zugleich „phantastisches Produkt einer Zukunft verheißenden Gewalt.“ Was in dieser Anfangssequenz in seiner Kürze noch abstrakt klingen mag, wird im nächsten Absatz anschaulicher. Zunächst wird durch Körperbilder der Eindruck des Vitalen und Organischen der Konstruktion Gleisdreieck verstärkt: „Es ist Mittelpunkt. Alle vitalen Energien des Umkreises haben hier Ursprung und Mündung zugleich, wie das Herz Ausgang und Ziel des Blutstroms ist, der durch die Adern des Körpers rauscht.“ Ganz deutlich wird an dieser Passage die mediale Wirkung, die von den Schienensträngen und ihren Verzweigungen am Gleisdreieck ausgeht. Durch ihre strukturelle Entsprechung mit dem System Körper können sie dem Organismus ähnlich erscheinen. Darin liegt auch ein weiterer Unterschied zu den Beschreibungen Kracauers und Auburtins: Roth gliedert nicht die Schienenverläufe in die umliegende Landschaft ein oder anerkennt sie als der natürlichen Umgebung angehöriges Moment. Bei Roth kommt die Medialität des Schienensystems in ihrer Bildkraft selbst zur Entfaltung. Die Schienen werden mit Adern gleichgesetzt, die Energie und Leben durch den Organismus – in diesem Fall die qua Infrastruktur funktionierende Metropole – fließen lassen. Wenn im Körper die Adern im Herz zusammenlaufen, wird der Kreuzungspunkt der Schienen, das Gleisdreieck, zu jenem Mittelpunkt, in dem alle Energie kulminiert und gleichzeitig neu generiert werden muss. Der Bahnhof wird zur Quelle des Lebendigen, von dem aus auf den Schienen die Energien durch die Stadt gepumpt werden. Zum einen sind es Bilder des organischen Körpers, mit denen Roth das anorganische Ensemble der Stadt beschreibt. Wechselweise werden die Schienen und Gleisanlagen aber auch als spezifisch moderne Formen der Landschaft charakterisiert: „Landschaft! – was enthält der Begriff? Wiese, Wald, Halm und Ähre. ‚Eiserne Landschaft‘ ist vielleicht das Wort, das den Tummelplätzen der Maschinen ge-
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recht wird.“ Solch eine eiserne Landschaft erscheint Roth aber immer wieder auch voller Anmut: „Man sehe in den klaren Nächten das Gleisdreieck, das von zehntausend Laternen durchsilberte Tal – es ist feierlich wie der gestirnte Nachthimmel: eingefangen darin, wie in der gläsernen Himmelkugel, sind Sehnsucht und Erfüllung. Es ist Etappe und Anfang, Introduktion einer schönen hörbaren Zukunftsmusik. Schienen gleiten schimmernd – langgezogene Bindestriche zwischen Land und Land. In ihren Molekülen hämmern die Klangwellen fern rollender Räder, an den Wegrändern sprießen Wächter in die Höhe, und Signale erblühen grün und leuchtend.“
Durch die Abwechslung von Anthromorphisierung und Vernatürlichung der Technik und mit ihr des Stadtraums lässt Roth das Urbane als einen organischen Raum erscheinen. Der prognostizierte Kältetod einer von der instrumentellen Vernunft überformten Gesellschaft wird durch das Bild des Organischen zurückgenommen, so dass eine neue Form des Lebendigen unter den Bedingungen der technisierten Zivilisation konstituiert werden kann. 12 Die Übertragung des eigentlich biologischen Organbegriffs in Bereiche des Technisch-Mechanischen ist keine genuine Erfindung der Moderne. Bereits Aristoteles fügt seiner Definition des Organischen mit der Bedeutungsvariante von ‚organon‘: das technische Werkzeug, einen Aspekt des Nicht-Biologischen bei. In der Nachfolge Aristoteles’ aber wird die Kennzeichnung des Organischen wieder grundsätzlich beschränkt auf einen identifizierenden Begriff des Lebendigen und damit zur abgrenzenden Größe gegenüber dem Mechanischen.13 Innerhalb der vollständig mechanisierten Welt der Moderne wird die antike Vorstellung des Organbegriffs aktualisiert, um den rationalen Strukturen eine humanverträgliche Komponente verleihen zu können und darüber hinaus den quantitativ und qualitativ
12 „Schon um 1800 verheißt die Verherrlichung des Organischen Rettung vor dem Mechanischen, kunstvolle Verstärkung des Individuums nach innen gegen äußere Zwänge, Bewahrung der Innerlichkeit vor Anonymität, Kritik der Entfremdung.“ Scherpe, Klaus, R.: „Zur Faszination des Organischen. Eine Vorbemerkung“, in: Eggert, Hartmut/Schütz, Erhard/Sprengel, Peter (Hg.): Faszination des Organischen. Konjunkturen einer Kategorie der Moderne, S. 9. 13 Vgl. Pekar, Thomas: „‚Organische Konstruktion‘. Ernst Jüngers Idee einer Symbiose von Mensch und Maschine“, in: Strack, Friedrich (Hg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, S. 100f.
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inkommensurablen Dimensionen moderner Technik eine Möglichkeit bewusstseinstechnischer Bewältigung entgegenzustellen. 14 An Roths Text kann man nun nicht nur nachvollziehen, wie dieser Übergang zum Organischen vor sich geht. Man kann auch sehen, dass es wiederum vor allem der Vernetzungscharakter ist, der die mediale Disposition des Nahverkehrs befördert, das heißt, der dazu führt, dass der Nahverkehr diese Bilder produziert und sie gleichzeitig an ihn gekoppelt werden: „In den Gleisdreiecken, Gleisvielecken“, schreibt Joseph Roth, „laufen die großen, glänzenden, eisernen Adern zusammen, schöpfen Strom und füllen sich mit Energie für den weiten Weg und die weite Welt: Aderndreiecke, Adernvielecke, Polygone, gebildet aus den Wegen des Lebens.“ Aber klar ist auch: Diese Beschreibung der Konstruktion und ihrer Funktionsweisen in Metaphern des Organischen hat nichts mit einer rückwärtsgewandten Verklärung des Jetzt zu tun, noch blendet es die realen Bedingungen des nach den Gesetzen der Rationalität arbeitenden infrastrukturellen Funktionszusammenhangs aus. Es ist vielmehr der Versuch, eine der Moderne entsprechende neue Form des Organischen zu etablieren, dem eine Verlusterfahrung indes immer schon eingeschrieben ist: „So sieht das Herz einer Welt aus“, schreibt Roth denn auch, „deren Leben Radriemenschwung und Uhrenschlag, grausamer Hebeltakt und Schrei der Sirene ist.“ Nicht nur grausam geht es zu in dieser rationalisierten Welt, deren Kraftwerk das Gleisdreieck versinnbildlicht. Vor allem übertrifft es bei weitem das, was die Natur jemals zu leisten vermag: „So sieht das Herz der Erde aus, die tausendmal schneller um ihre Achse kreist, als es Tag- und Nachtwechsel uns lehren will.“ Dieses Übertreffen der Natur macht die von Roth immer wieder betonte Erhabenheit der Technik aus: „Der Dampf entzischt geöffneten Ventilen, Hebel bewegen sich selbständig, das Wunderbare erfüllt sich dank einem mathematischen System, das verborgen bleibt.“ Das Eigentümliche dieser Kraft der Technik ist, dass ihre Wirkung irrational erscheint in ihren alles übertreffenden Ausmaßen, dass es aber gerade die Faktoren der Rationalität und der Berechnung sind, aus denen diese Wirkung erwächst. Ihre „unaufhörliche, unsterbliche Rotation“ scheint „Wahnsinn“ und ist doch „Ergebnis mathematischer Voraussicht“. Diese Gleichzeitigkeit der rationalen Mittel und einer scheinbar irrationalen Wirkung, wie sie für den technischen Apparat als einzelnen und die infrastrukturelle Erschließung des urbanen Raums insgesamt zu beobachten ist, ist eben derjenige Faktor, der Auslöser für die Faszinationsgeschichte ist, in die sich auch der ver-
14 Damit wird dann natürlich auch die Technik von ihrem spezifisch modernen Charakter freigesprochen, um sie stattdessen als überzeitliche und damit als eine mit dem Natürlichen einhergehende Kategorie zu statuieren: „Die Technik ist so alt wie das frei im Raum bewegliche Leben überhaupt.“ Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, S. 1183.
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kehrstechnische Ausbau der Stadt durch den Nahverkehr mehr und mehr verwandeln wird. Wesentlich ist dieser Entdeckung der faszinierenden Potentiale einer Technik, die nicht mehr nur als „stahlhartes Korsett“ der Moderne wahrgenommen und dargestellt wird, dass sie in den menschlichen, mithin kulturellen und sozialen Zusammenhang aufgenommen wird. Es möge zwar sein, schreibt deshalb Roth, dass die Technik und ihre „rasende Schnelligkeit sentimentalen Rückwärts-Sehern brutale Vernichtung innerlicher Kräfte und heilenden Gleichgewichts vortäuscht“, in Wirklichkeit aber weiß Roth, dass sie „lebensspendende Wärme erzeugt und den Segen der Bewegung“. Es sei daher eine Fehleinschätzung, wenn man diesen technischen Fortschritt als Rückschritt verachtet, nur weil er sich in einer Form darstellt hat, die man – getreu der traditionellen Argumente der Technikgegner – mit einer Negation vitaler Bedürfnisse verwechseln kann. Das Gegenteil ist der Fall. Mit Blick auf die Veränderung der Wahrnehmung des Nahverkehrs und mit Blick auf die Veränderungen der ihm zugeschriebenen Images lässt ich mithin feststellen, dass etwas stattfindet, das als Aufwärmung der bisher kursierenden Kälteund Verfestigungsbilder beschrieben werden kann. Einerseits wird die qua Technik initiierte Bewegung nun doch als Steigerung der Entropie und damit als Erzeugung von Wärme wahrgenommen. Über die Zusammenhänge von Bewegung, Wärmeerzeugung und eine damit verbundene Veränderung auch der geistigen Situation der Zeit kann es deshalb heißen: „So ist das Reich des neuen Lebens, dessen Gesetzte kein Zufall stört und keine Laune verändert, dessen Gang erbarmungslose Gegenwart ist, in dessen Rändern das Gehirn wirkt, nüchtern, aber nicht kalt, die Vernunft, unerbittlich, aber nicht erstarrt.“
Harro Segeberg fasst dieses Phänomen, das man bei Roth exemplarisch nachvollziehen kann, als die „anthromorphe Rückübersetzung einer zuvor radikal desanthromorphisierten Kälte-Technik“15. Dieses Prinzip ist nach Segebergs Auffassung ein typisches Merkmal der unter dem Stichwort der Neuen Sachlichkeit subsumierten Texte der 1920er Jahre. Segeberg spitzt seine These von der Auflösung der Kälteszenarien noch zu: „Je kälter der Technik-Schock, desto erhitzter der
15 Segeberg, Harro: Literatur im Medienzeitalter, S. 60. Segeberg verweist auf einen Band mit Photos von Heinrich Hauser aus dem Jahr 1930, den Erik Reger herausgegeben hat. Schwarzes Revier heißt der Band und versammelt eine Reihe von Industriephotographien. Während die Aufnahmen eine immer abstraktere Technik zeigen, weisen die begleitenden Kommentare einen auffällige Zunahme an Anthromorphisierung auf, ebd. S. 61. Neu herausgegeben und kommentiert wurde dieser Band im Jahr 2010 von Barbara Weidle.
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Grad seiner Rückschmelzung“, 16 schreibt er über die Verwandlung des erstarrten Stadtraums in ein dynamisch-organisches Gebilde. Wenn nun der infrastrukturell organisierte Stadtraum als eine Landschaft oder auch als ein Köper beschreibbar wird, dann lösen sich in ihm die Grenzen zwischen Natur und Technik auf, gehen stattdessen ineinander über. Die alten Zuschreibungen verlieren ihre Gültigkeit. Bei Joseph Roth liest sich das so: „Die Schwäche des Lebendigen, der dem erschlaffenden Fleische nachgeben muß, ist kein Beweis für seine Lebendigkeit“, und umgekehrt: „die konstante Stärke der eisernen Konstruktion, deren Materie kein Erschlaffen kennt, kein Beweis für sein Totsein.“ Vielmehr ist Roth der Überzeugung: „Es ist im Gegenteil: die höchste Form des Lebens, das Lebendige aus unnachgiebigem, keiner Laune gehorchendem, nervenlosem Stoff. Im Bereich meines Gleisdreiecks herrscht der Wille des konsequenten Gehirns, der, um des Erfolgs sicher zu sein, sich nicht in einen unzuverlässigen Leib verpflanzte, sondern in den Körper von unbedingter Sicherheit: in den Körper der Maschine.“
Dieses Organischwerden der technisierten Stadt, wie sie Roth in seinem Text darstellt, ist kein einseitiger Vorgang in dem Sinne, dass sich die Technik und der von ihr strukturierte Raum vollständig in eine Landschaft bzw. in einen Körper verwandeln würden. Vielmehr ist es so, dass die Aspekte des Eisernen, Technischen oder Konstruierten immer Bestandteil der Bilder dieser Stadtlandschaft bleiben, sogar bleiben müssen, weil das infrastrukturelle Fundament die Voraussetzung dafür ist, dass nicht die unberechenbare Laune raumgreifend wird. Das beständige Widerspiel von Technischem und Organischem, wie man es in Roths Bekenntnis zum Gleisdreieck findet, macht nicht nur das Besondere dieses Raums aus. Es zeigt auch, dass das inframediale Prinzip eines der Wechselwirkung ist, das auf der Evozierung und zugleich der Anbindung von Bildern beruht, ohne das je die materiale Struktur des Mediums vollständig in den Hintergrund treten würde. Zudem zeigt es, dass das Prinzip der Inframedialität keiner konstanten Wirkungsfrequenz unterliegt, sondern dass es im Sinne des zyklischen Verlaufs von unterschiedlichen Graden der Gewöhnung bedingt wird und sich auf diese Weise in unterschiedlichen Affektionsgraden äußert. So kann das eiserne Schienennetz, das den urbanen Raum überzieht, genauso wie die übrigen Anlagen des Nahverkehrs zunächst mit Bildern der Vereisung und Verfestigung in Zusammenhang gebracht werden, um wenige Jahre darauf Konnotationen von Organ und Landschaft hervorzurufen. Dass die Veränderung der auf inframedialen Bedingungen basierenden
16 Ebd., S. 60.
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Bilder an Gewöhnung bzw. steigende Akzeptanz gekoppelt ist, zeigt noch einmal die Schlusssequenz von Roths Bekenntnis: „Die Erde hat mehrere Umformungen durchgemacht – nach natürlichen Grenzen. Sie erlebt eine neue, nach konstruktiven, bewussten, aber nicht weniger elementaren Gesetzen. Trauer um die alten Formen, die vergehen – ähnlich dem Schmerz eines Antidiluvialwesens um das Verschwinden der prähistorischen Verhältnisse. Schüchtern und verstaubt werden die zukünftigen Gräser zwischen metallenen Schwellen blühen. Die ‚Landschaft‘ bekommt eine eiserne Maske.“
Roth beschreibt evolutionäre Umwälzungsprozesse als etwas grundsätzlich mit Verlust Einhergehendes. Gleichzeitig aber ist diesem Verlust der Neuanfang und das Ende der Trauer über den Verlust immer schon mitgegeben. Eben das gilt auch für die mit der Technisierung des Lebens sich vollziehende Umwälzung, umso mehr als es sich um eine konstruktive, bewusste Veränderung handelt. Der letzte Satz über die eiserne Maske, die sich über die Landschaft legt, erinnert an die Gesellschaftstheorie, wie Helmuth Plessner sie entworfen hat. Auch hier ist von einer Maske als derjenigen Form die Rede, die der moderne Mensch sie sich zulegen muss, um unter den Bedingungen der technisierten Metropole als Verkehrsteilnehmer unbeschadet agieren und gleichzeitig seine Individualität bewahren zu können. Gleiches gilt für den Stadtraum: Die Gräser, etwas deplatziert und schüchtern, stehen zwischen den Schienensträngen, die wie eine Maske die ursprüngliche Natur auf der einen Seite überdecken, auf der anderen Seite aber schützen und bewahren. Genau wie es als Prinzip in Plessners Gesellschaftstheorie eingeschrieben ist: dass es um ein Akzeptieren der urbanen Bedingungen geht, gilt auch für die Betrachtung des Stadtraums: Der produktive Umgang mit dem medialen Ausgangsbedingungen wird zur Voraussetzung für ihre Aufnahme in den lebensweltlichen Zusammenhang. Wenn zunehmend Bilder des infrastrukturell erschlossenen urbanen Raums als Bilder einer organischen Landschaft auftauchen, die entgegen der lebensfeindlichen Kälteszenarien mehr und mehr ein lebensweltliches Terrain bereiten zu scheinen, dann muss es die Perspektive der Beschreibenden sein, die sich gewandelt hat und die nunmehr dieselbe inframediale Basis in einem veränderten Bild- und Konnotationskontext aufgehen lässt. In Joseph Roths Text über das Gleisdreieck wird dieser Perspektivwechsel ganz vehement artikuliert. Als beständig wiederholtes Bekenntnis und wechselweise als Aufforderung, sich zum Gleisdreieck und mit ihm zu den veränderten Bedingungen der Gegenwart zu bekennen. Mehr noch: Man solle sie mitsamt ihrer Auswirkungen geradezu euphorisch befürworten. Bekennen soll man sich dabei gerade zu den Qualitäten des Gleisdreiecks – und mit ihnen dann immer zu den Qualitäten der infrastrukturellen Erschließung der Umwelt insgesamt –, die sich so in der Natur nie
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finden lassen würden. Es ist vor allem die fast ein wenig antiquiert anmutende Kategorie der Erhabenheit, die Roths Beschreibungen des Gleisdreiecks grundiert und die dafür sorgt, dass die verkehrstechnische Stahlkonstruktion nicht mehr als notwendiges, aber kulturfremdes Beiwerk der Moderne wahrgenommen, sondern zu einem wesentlichen Teil der modernen Kultur wird. Was Roth über die gewaltigen Ausmaße des Gleisdreiecks schreibt, erinnert deshalb auf den ersten Blick an das, was Siegfried Kracauer über die für die Ewigkeit gebaute und alle menschlichen Kräfte Übertreffende der Stahlkonstruktion der S-Bahn-Unterführung am Bahnhof Charlottenburg gesagt hat. Nur steht das Ganze bei Roth unter umgekehrten Vorzeichen: „Eiserne Landschaft, großartiger Tempel der Technik unter freiem Himmel, dem die kilometerhohen Schlote der Fabriken lebendigen, zeugungsträchtigen, Bewegung fördernden Rauch darbieten. Ewiger Gottesdienst der Maschinen, im weiten Umkreis dieser Landschaft aus Eisen und Stahl, deren Ende kein menschliches Auge sieht, die der graue Horizont umklammert.“
Während Kracauers Text über die Unterführung von dem Grauen grundiert ist, das ihn angesichts der Übermacht der Stahlkonstruktion erfüllt, bedeutet Roths wiederholte Aufforderung, sich zum Gleisdreieck zu bekennen, nicht nur eine Affirmation einer zunehmenden technischen Organisation des urbanen Raums. Er geht sogar so weit, die verkehrstechnische Infrastruktur als eine neue gesellschaftliche Superstruktur anzuerkennen, die es durchaus mit herkömmlichen Denk- oder Orientierungssystemen aufnehmen kann: „Deshalb ist alles Menschliche in diesem metallenen Bereich klein und schwächlich und verloren, reduziert auf die ihm angemessene Bedeutung eines bescheidenen Mittels zum stolzen Zweck – genauso wie in der abstrakten Welt der Philosophie und der Astronomie, der Welt der klaren und großen Weisheiten, da wandelt ein uniformierter Mann mitten zwischen den verwirrenden Systemen der Gleise, winzig ist der Mensch, in diesem Zusammenhang nur wichtig als Mechanismus.“
Der moderne Mensch muss sich der Logik dieser Superstruktur fügen und sich in die Abläufe des technischen Raums anpassen. Und so, wie der Technik vitale Energien zugesprochen werden, wird nun umgekehrt der Mensch zum Funktionspartikel innerhalb der technischen Abläufe. Sein ehemals für sich stehendes Repertoire an Handlungen und Gesten wird nicht nur mit den Mechanismen der technischen Apparatur gleichgesetzt: Vielmehr treten die mechanischen Zeichengebungen an die Stelle der anthropologischen Ausdrucksmöglichkeiten.
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„Seine Bedeutung ist nicht größer als die eines Hebels, seine Wirksamkeit nicht weitreichender als die einer Weiche. In dieser Welt gilt jede menschliche Ausdrucksmöglichkeit weniger als die mechanische Zeichengebung eines Instruments. Wichtiger als ein Arm ist hier ein Hebel, mehr als ein Wink ein Signal, hier nützt nicht das Auge, sondern die Laterne, kein Schrei, sondern der heulende Pfiff des geöffneten Ventils, hier ist nicht die Leidenschaft allmächtig, sondern die Vorschrift, das Gesetz.“
Wenn auch jenseits dieser technischen Abläufe das Leben in seinen gewohnten Bahnen weitergeht, dann erscheint es doch als unbedeutender Teil in dem ganzen großen Zusammenhang der technisierten Welt. Beschworen wird deshalb die Winzig- und Nichtigkeit des Menschen samt seiner Verrichtungen und Empfindungen: „Wie eine kleine Spielzeugschachtel sieht jenes Häuschen aus, das dem Wächter, dem Menschen gehört. So geringfügig ist alles, was sich darin durch ihn, mit ihm abspielt, so nebensächlich, daß er Kinder zeugt und daß sie krank werden, daß er Kartoffeln gräbt und einen Hund füttert, daß seine Frau Dielen scheuert und Wäsche trocknet. Auch die großen Trauerspiele, die in seiner Seele stattfinden, verlieren sich hier, wie die Kleinigkeiten seines Alltags. Sein Ewig-Menschliches ist hindernde Zutat zu seinem Wichtig-Beruflichen.“
Diese Reduzierung des Menschen nach Maßgabe der Technik mag noch immer sehr nach dem klingen, was man im vorangegangenen Abschnitt in kulturkritischer Perspektive über die Degradierung des Menschen zum bloßen Funktionspartikel innerhalb des infrastrukturellen Funktionskreislaufes hat lesen können. Es scheint damit auch dem sehr nahe zu kommen, was in der Geschichte der Technikkritik ganz generell über die Abschaffung des Menschen durch die Maschine behauptet wird. Roth stellt diese Diagnose in seiner Faszination für das Gleisdreieck aber nun schlichtweg auf den Kopf, indem er ihr nicht etwa widerspricht, sondern in dem er sie geradezu euphorisch bejaht. Das immer wieder geforderte Bekenntnis zum Gleisdreieck bedeutet deshalb, die Unterlegenheit des Menschen nicht etwa mit Grauen zu verzeichnen, sondern stattdessen in einer eigenartigen Mischung aus Verachtung und Faszination ein ums andere Mal zu bestätigen. Die Aderndreiecke, Adernvielecke, Polygone, schreibt Roth, „sind stärker als der Schwächling, der sie verachtet und fürchtet, sie werden ihn nicht nur überdauern: Sie werden ihn zermalmen.“ Dieses Zermalmtwerden durch die übermächtige Technik wird nachgerade zu einer Auszeichnung, der sich der Einzelne würdig erweisen muss: „Wen ihr Anblick nicht erschüttert, ergeben und stolz macht, verdient den Tod nicht, den ihm die Gottheit der Maschine bereitet.“ Was Roth als die bedingungslose Ein- bzw. Unterordnung des Menschen in den technischen Prozess beschreibt, ist nicht eigentlich ein Verlust, sondern im Gegenteil eine neue Form des Lustgewinns. Entwürfe eines Aufgehens des Individuums in der Maschinerie und in den technisierten Abläufen findet man nicht nur bei Roth.
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Es handelt sich dabei um eine genuin moderne Art der Glück verschaffenden IchAufgabe, um das Ekstase- oder Entgrenzungserlebnis, das nicht mehr in Verbindung mit der Natur, sondern in der Hingabe an die Technik – an die zweite Natur, wenn man so will – gesucht wird. Die Nahverkehrserlebnisse und -beschreibungen, die im folgenden Kapitel betrachtet werden sollen, haben mithin ihre Gemeinsamkeit darin, dass sie, um mit Harro Segebrecht zu sprechen, „auf unterschiedlich stark registrierte Kältegrade mit unterschiedlich stark erhitzten Wärmezufuhren antworten“, d.h. dass sie den Verfestigungs- und Erstarrungsszenarien ein energiegeladenes oder organischdynamisches Konterpart entgegenstellen. Und dass sie, zum zweiten, probeweise Synergieeffekte zwischen Mensch und Technik entwerfen, mit dem Ziel, entweder an der alles übertreffenden Kraft der Technik und ihrer Apparate zu partizipieren – wo ginge das unkomplizierter als in den alltäglich und allen zugänglichen, massenweise auftretenden öffentlichen Verkehrsmitteln? Oder aber mit dem Ziel, im Akt der Verschmelzung eine höhere Stufe des Bewusstseins zu erreichen. Was diese Text auch – naheliegender Weise mehr als diejenigen des vorangegangenen Abschnitts – beschäftigen wird, ist die Frage nach einer adäquaten ästhetischen Umsetzung der veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen, nicht zu vergessen der Reproduktionsbedingungen. Mithin die Frage danach, welche formalen Konsequenzen der Nahverkehr als Inframedium nach sich zieht. Joseph Roth zumindest formuliert die Überzeugung, dass ein neuer ästhetischer Ansatz hierfür noch nicht gefunden sei: „So gewaltig sind die Ausmaße des neuen Lebens. Daß die neue Kunst, die es formen soll, den Ausdruck nicht finden kann, ist selbstverständlich. Diese Realität ist noch zu groß für eine ihr gemäße Wiedergabe. Dazu reicht keine ‚getreue‘ Schilderung. Man müßte die gesteigerte und ideale Wirklichkeit dieser Welt empfinden, das platonische ‚Eidolon‘ des Gleisdreiecks. Man müßte sich mit Inbrunst zu ihrer Grausamkeit bekennen, in ihren tödlichen Wirkungen die ‚Ananke‘ sehen und viel lieber nach ihren Gesetzen untergehen wollen als nach den ‚Humanen‘ der sentimentalen Welt glücklich werden.“
2. D IE ENERGETISCHE S TADT Neben Roths Bekenntnis hat vor allem Hans Kafkas Beschreibung des Gleisdreiecks gezeigt, dass das Wahrnehmungsmodell der technisierten Metropole, wie es die Nahverkehrsinfrastruktur präfiguriert, nicht so einseitig ist, wie es die Perspektive auf den Vereisungs- und Verfestigungsdiskurs hat erscheinen lassen. War in diesen mit der Brandmarkung einer Omnipräsenz rationaler Zweckzusammenhänge und technischer Funktionalität die Prognose einer sukzessiven Erstarrung aller Ge-
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sellschaftsbereiche ausgegeben worden, so kann man nun beobachten, wie in Bildern der Zirkulation und der fließend dynamischen Bewegtheit dem Technischen die Dimensionen des Lebendigen wieder eingeschrieben werden, ohne dass sich dabei die materiale Basis für die Entstehung und Anbindung dieser Bilder selbst geändert hätte. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, noch ein letztes Mal einen Blick auf die Gesellschafts- und Großstadttheorie Georg Simmels zu werfen. Schon in dem aus dem Jahr 1911 stammenden Essay Der Begriff und die Tragödie der Kultur wird die ambivalente, aber nicht aufzulösende Gleichzeitigkeit von festen, rationalen Formen einerseits und dem Elementar-Lebendigen andererseits formuliert und als tragische Grundkonstellation der Gesellschaft bestimmt. Dieses Prinzip grundiert das Denken Simmels insgesamt. Simmel zufolge besteht die Gesellschaft aus einer „Grundform der Zweiheit […] – die erste der Träger des Allgemeinen, der Einheit, der beruhigten Gleichheit von Formen und Inhalten des Lebens, die andere die Bewegtheit, die Mannigfaltigkeit gesonderter Elemente, die unruhige Entwicklung eines individuellen Lebensinhaltes zu einem anderen erzeugend.“17
Erst in den Abhandlungen zur Großstadt allerdings wird wirklich deutlich, dass dieses tragische Grundprinzip der Kultur vielleicht so tragisch gar nicht ist. Denn hier wird klar, dass nicht nur trotz, sondern gerade durch die Verfestigungstendenzen sozialer Formen sich individuelle Freiräume eröffnen, in denen das Affektive seinen Ort findet. Die Großstadt sei für Simmel der Ort, schreibt Lothar Müller gegen eine einseitige Lesart, „an dem mit der drohenden Übermacht des Objektiven sich zugleich die historisch differenziertesten Formen der Kultivierung und ‚Aufgipfelung‘ des Individuellen herausbilden.“18 Was Simmel für das einzelne Individuum beobachtet, entspricht insofern prinzipiell dem, was als die Rückkehr des Organischen, als die Erwärmung zunächst verabsolutierter Kälteszenarien am Beispiel des Gleisdreiecks für die Veränderung der Nahverkehrs-Images festgestellt worden ist. Simmel belässt es nicht bei der Beobachtung, er liefert die Erklärung für die Bewahrung, im Grunde sogar Stärkung der affektiv-individuellen Impulse in der Großstadt als Ort perfektionierter Rationalisierung und Technisierung gleich mit: Für Simmel ist es
17 Simmel, Georg: „Die Mode“, aus: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, in: Gesamtausgabe, Bd.14, S. 187. 18 Müller, Lothar: „Die Großstadt als Ort der Moderne. Über Georg Simmel“, in: Scherpe, Klaus R. (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, S. 24.
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ein „Grundmotiv“ des Menschen, „die Eigenart und Selbständigkeit seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Leben zu bewahren.“19 Dieser „Widerstand des Subjekts, in einem gesellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden“, 20 ist der Auslöser für eine Reaktion des Individuums auf die Verhältnisse, die einerseits in einem Akzeptieren und Arrangieren mit den Bedingungen besteht, die andererseits aber auch aktiv den Impuls zu neuer Vitalitätsgewinnung freisetzt. Gerade die „Steigerung des Nervenlebens“, die im urbanen Raum der Moderne „aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“, verbraucht sehr viel mehr Energie und nimmt das Bewusstsein sehr viel mehr in Anspruch „als beharrende Eindrücke, Geringfügigkeit ihrer Differenzen, gewohnte Regelmäßigkeit“21. Wenn Simmel nun einerseits von einem „Präservativ“, einem Schutz gegen die Steigerung des Nervenlebens spricht, der sich in der typisch urbanen Haltung der „Blasiertheit“ äußere, dann erkennt er andersrum eben auch einen Zugewinn an „persönlicher Freiheit“22 in der Großstadt, gerade weil die strukturelle Basis der Gesellschaft eine gegensätzliche Tendenz anschlägt: „Denn die gegenseitige Indifferenz, die geistigen Lebensbedingungen großer Kreise, werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums nie stärker gefühlt, als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt, […].“23 Simmels Argumentation gliedert sich wie folgt: Zunächst wird das Individuum durch die objektive Kultur – in diesem Fall: die technisierte Großstadt – einer stärkeren Belastung ausgesetzt, was die Tendenz zur Überformung und Verhärtung subjektiv-affektiver Impulse zur Folge hat. Auf der anderen Seite aber stellt sich das Individuum durch die Freisetzung eines größeren Energieaufwands auf die strukturellen und technischen Bedingungen der Großstadt ein, indem es sich qua Blasiertheit ein adäquates physiologisches Reaktionsmodell zulegt. In dieser Anpassungsleistung sieht Simmel wiederum die Möglichkeit der Freisetzung neuer vitaler Energien und Impulse. Unschwer zu erkennen ist, dass diese sozialanthropologische Moderneanalyse Simmels nicht nur, wie bereits angedeutet, weitaus weniger tragisch auf einen finales Versiegen vitaler Kräfte zulaufend ist. Deutlich geworden sein sollte auch, dass Simmels Thesen genau das erklären, was als der Wandel des Nahverkehr-Images
19 Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Gesamtausgabe, Bd. 7, S. 116. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 116f. 22 Ebd., S. 124. 23 Ebd., S. 126.
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bisher exemplarisch mit Blick auf das Gleisdreieck und seine Darstellungen erläutert worden ist: Dass die neuen urbanen Techniken zunächst eine krisenhafte Reaktion hervorrufen, die sich in den Prognosen einer Verabsolutierung der objektiven Kultur äußert. Dass nach einem Prozess der Gewöhnung aber diese einseitige Perspektive abgelöst wird durch einen Blick, der nicht nur die vitalen Impulse, die von den neuen Techniken ausgehen, wahrnimmt, sondern der darüber hinaus den unbedingten Willen zeigt, ihr auch dort diese Impulse einzuschreiben, wo man sie eigentlich nicht vermutet hätte. Einer der prominentesten Diskurse dieser Zeit und gleichzeitig einer der Diskurse, der vor allem entlang der Einführung der neuen Verkehrstechniken geführt wird, ist der Diskurs über die Nervosität. „Ziemlich genau um 1880“, schreibt Joachim Radkau in der Einleitung zu seiner umfassenden Studie Das Zeitalter der Nervosität, „wurden Klagen über Nervosität, Nervenschwäche, ‚Neurasthenie‘ zum Zeichen der Zeit.“24 Bereits 1913 identifiziert der Arzt Otto Schär in seinem Buch Im Kampf um bessere Nerven und größere Leistungsfähigkeit die Neurasthenie als symptomatische Formel der Gegenwart.25 Einer der Bestseller der zeitgenössischen Ratgeberliteratur trägt das Schlagwort gleich im Titel: Wie werde ich energisch?26 Auch für die Neurasthenie-Debatte gilt offenbar – wie für die Reflexionen Simmels erläutert wurde und wie mit Blick auf die Renaturalisierung der verkehrsinfrastrukturellen Ensembles zu zeigen sein wird: Die primäre krisenhafte Reaktion, die auf die Modernisierung der Lebensumstände erfolgt, wird in einen aktiven Impuls zur Durchsetzung der vitalen Energien und Bedürfnisse umgewandelt. Daran, dass sich die neue Kraftvorstellung in so vielen gesellschaftlichen Diskursen und auf so vielen Eben gleichzeitig durchsetzen kann, wird ersichtlich, welche Karriere der Begriff der Energie durchläuft. Wurde er ursprünglich von der Physiologie auf die Physik übertragen, dann wird er in den Jahren nach 1900 wiederum von den mechanischen Wissenschaften auf die Lehre vom Leben zurückprojiziert.27 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik, der Satz von der Erhaltung der Energie,28 besagt, dass Energie zwar nicht von sich aus entstehen, wohl aber von einem Träger an einen anderen abgegeben werden kann. Übertragen auf das menschliche Muskel- und Nervenssystem bedeutet das, dass durch die Adaption fremder Ener-
24 Radkau, Joachim: „Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler“, S. 9. 25 Ebd., S. 250. 26 Ebd. 27 Vgl. ebd., S. 255. 28 Der erste Hauptsatz der Thermodynamik wird 1842 erstmals von dem Arzt Julius Robert Mayer für Lebewesen aufgestellt und schließlich von Hermann Ludwig Ferdinand Helmholtz auf die gesamte Materie übertragen, vgl. ebd., S. 251.
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giepotentiale das eigene Reservoir aufgefüllt werden kann. „Im energetischen Korrelat“, so erklärt Stefan Rieger dieses neue Denkmodell von Individualität, „findet die Moderne ihr allgemeinstes Rechenprinzip und ihren kleinsten gemeinsamen Nenner. Denkökonomie und Energieprinzip, die Entdeckung von persönlicher Energie und ein psychoenergetischer Vitalismus sind die Folge. In dieses Kalkül gerät nicht zuletzt die Individualität.“29
Als das humane Leistungsvermögen weitaus überschreitende Apparate scheinen gerade die öffentlichen Nahverkehrsmittel das Potential zu bergen, in der das individuelle Leistungsvermögen stark beanspruchenden Großstadt eine neue Art der Energiequelle bereitzustellen. So berichtet etwa der Kunsthändler Paul Westheim 1929 von dem modischen Habitus der zeitgenössischen Dandys, sich zur Auffrischung der Lebenskräfte für eine Weile an die Gedächtniskirche oder an den Potsdamer Platz, den damals verkehrsreichsten Platz Europas, zu setzen, um sich von der Geschwindigkeit und vom Lärm des Verkehrs die Nerven beruhigen zu lassen: „Wie da von allen Seiten die Verkehrsströme heranbrausen, die Elektrischen, die Autos, die hastend, nach ihrem Ziel hingepeitschten Menschen, wie sich das immerfort verknäuelt und wieder entwirrt, anschwillt und abebbt, wie das wogt und treibt und flutet und sich nie erschöpft. Für sie ist das wie eine halbe Stunde am Strand, wie Ebbe und Flut, […].“30
Nicht ganz so sehr im Stile urbaner Avantgarde, grundsätzlich aber mit einem ähnlichen Impetus nutzt – nachdem der für die Familie unheilvolle Käfer Gregor Samsa gestorben ist – das Personal von Franz Kafkas Die Verwandlung den öffentlichen Verkehr: „Dann verließen alle drei gemeinschaftlich die Wohnung, was sie schon seit Monaten nicht getan hatten, und fuhren mit der Elektrischen ins Freie vor die Stadt. Der Wagen, in dem sie allein saßen, war ganz von warmer Sonne durchschienen. Sie besprachen, bequem auf ihren Sitzen zurückgelehnt, die Aussichten für die Zukunft, […]. Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter sich als erste erhob und ihren jungen Körper dehnte.“31
29 Rieger, Stefan: „Zum Verhältnis von Mensch, Medium, Moderne“, in: Graevenitz, Gerhart von (Hg.): Konzepte der Moderne, S. 420. 30 Westheim, Paul: „Berlin, die Stadt der Künstler“, in: Günther, Herbert (Hg.): Hier schreibt Berlin. Ein Dokument der 20er Jahre, S. 149. 31 Kafka, Franz: „Die Verwandlung“, in: Sämtliche Erzählungen, S. 98f.
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Wenn das Image des Nahverkehrs, das heißt das Image seiner technischen Funktionalität und seiner Materialität, sich von den grundsätzlich lebensfeindlichen Erstarrung hin zu organisch-vitaler Energie verwandelt, dann korrespondiert diese Entwicklung unmittelbar mit dem zeitgenössischen Nerven- bzw. Nervositätsdiskurs und der allerorten lancierten Devise: „Energisch werden.“ Wiederum fungieren inframediale Basis und gesellschaftlicher Diskurs hier nach dem Prinzip der Wechselwirkung: Auf der einen Seite wird, wie Joachim Radkau ausführt, der Kraftstoffgedanke aus dem technisierten Verkehr auf die Debatte um die menschliche Psychologie und Physiologie übertragen. Andererseits bietet die Infrastruktur eine geeignete Anbindung für den sozialen Diskurs – weil er in einer bildhaften und strukturellen Äquivalenz zu Körper und Natur steht. Und durch diese Anbindung wird dann die Verwandlung seines Images vom „stählernen Gehäuse“ hin zum Blutkreislauf der Stadt forciert, eben deswegen, weil die qua Elektrizität oder aber Kraftstoff – zwei scheinbar unerschöpflichen Energieressourcen – betriebene Nahverkehrstechnik zum Objekt wird, an dessen Energie das Individuum potentiell partizipieren kann. Eben weil man hier eine neue Kraftquelle entdeckt zu haben glaubt, muss die aber natürlich auch anthropologisch kompatibel sein – insofern als eine quasinatürliche oder sogar organische imaginiert werden. Auf diese Weise kann die technische Nahverkehrsmaschinerie und mit ihr der gesamte infrastrukturelle Apparat, so lebensfeindlich er ursprünglich erfahren wurde, am Ende der zwanziger Jahre in eine literarische Metapher von technisch bedingter Kraft und Lebendigkeit verwandelt werden. 32 Wenn Joseph Roths mitunter fast metaphysisch anmutende Spekulationen über das Gleisdreieck die Verkehrsinfrastruktur zu einem universalen philosophischen Überbau machen, trifft man andernorts immer wieder auf Perspektiven, die den Nahverkehr in einem ganz konkreten Sinne als Energiespender, als Organverstärkung des Menschen verstehen. Helmuth Plessner schreibt über diese Möglichkeiten der „Realisierung der Utopie aus dem Geist der Maschine“: „[…] dann lösten sich die Apparate von den menschlichen Antrieben, wurden autonom, erwachten zu ihrer eigenen Logik, trie-
32 Auch Paul Scheerbart entwirft in seinem phantastischen Roman Lesabéndio aus dem Jahre 1913 eine Welt, in der die technischen Hilfs- und Beförderungsmittel der Bewohner nicht künstlich konstruiert, sondern natürlich gewachsen sind. Scheerbart selbst aber pflegt im richtigen Leben keine derart enge Verbindung zum technischen Apparat. So ist die Episode überliefert, dass er auf den Besuch der Berliner Futuristen-Ausstellung verzichtet, weil er die S-Bahnfahrt – vom Botanischen Garten bis zum Potsdamer Platz – als unerträglich empfunden habe. Vgl. Scheerbarts Brief an Herwarth Walden vom 28.4.1912, in: Paul Scheerbart: 70 Trillionen Weltgrüße. Eine Biographie in Briefen 1889 - 1915, S. 433.
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ben nun die Menschen an.“33 Rückblickend resümiert Carl Wege: „Das schwache Einzelwesen schließt sich mit dem Dynamo kurz und hofft auf diese Weise […] die Zumutungen der Moderne zu überstehen.“34 Wie dieser Kurzschluss mit dem Dynamo Nahverkehr funktioniert – vor allem, was er für die Veränderung seiner Darstellungen und seiner Images bedeutet, wird im folgenden Abschnitt zunächst an ausgewählten Beispielen gezeigt werden, bevor im abschließenden Teil dieses Kapitels der Blick auf einen Autor gerichtet wird: Robert Musil, an dessen Texten besonders nachvollziehbar wird, wie man Technik und geistig-physiologische Dynamisierung zusammen denken kann. Zuvor aber, eigentlich unpassend in seinem Scheitern, aber umso überzeugender in seiner Einfachheit, sei der Versuch der Kontoristen Therese Spieker aus Martin Kessels Erzählung Das Horoskop vorgestellt, vermittels Partizipation an den Energien ihrer technischen Umgebung ihr Überleben zu sichern, nachdem durch die ungute Prophezeiung eines Straßenhändlers ihr Vertrauen ins Leben nachhaltig „aus den Gleisen geraten“35 ist. Um sich angesichts dieser akuten Unsicherheit der eigenen Lebenskraft umso kompromissloser zu versichern und zugleich zusätzliche Energie zu gewinnen, macht sie es sich zur Gewohnheit, auf bereits in Bewegung gesetzte Fahrzeuge, wahlweise auf Fahrstühle oder U-Bahnen, aufzuspringen. Sie werde, so erklärt sie gegenüber ihrem Vorgesetzten ihr ungewöhnliches Verhalten, „von alldem gereizt, was maschinell in Bewegung sei, sie werde haltlos, gewissermaßen verlockt, daran zu turnen, zu beweisen, daß sie zum Dasein berechtigt sei, […] und daß schließlich dem Leben nur dann ein Wert erwachse, wenn man es als Sport mitwirkend zu genießen verstehe.“36
Die Kraft und vermeintliche Lebendigkeit der motorisierten oder elektrifizierten Verkehrsmittel wird hier zum Maßstab, an dem die Büroangestellte ihre eigene Vitalität zu messen und zu beweisen sucht. Schließlich aber scheitert sie bei dem Versuch, in eine fahrende U-Bahn einzusteigen, und kann von den Ärzten nur unter Verlust ihres linken Beins und ihres rechten Fußes am Leben erhalten werden. Auch wenn sich spätestens in den zwanziger Jahren ein Image herausbildet, das die utopischen, individualitätsverstärkenden Potentiale infrastruktureller Funktionszusammenhänge in den Vordergrund stellt, besteht die Konfrontation von Mensch und Technik nicht in einem reibungslosen Synergieeffekt. Schon in Roths Formulierung
33 Plessner, Helmuth: „Die Utopie in der Maschine“, in: Schriften, Bd. X, S. 38f. 34 Wege, Carl: „Gleisdreieck, Tank und Motor. Figuren und Denkfiguren aus der Technosphäre der Neuen Sachlichkeit“, in: DVjS 1994 (86), S. 322. 35 Kessel, Martin: „Das Horoskop“, in: Betriebsamkeit. Zwei Novellen, S. 14. 36 Ebd., S. 16.
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vom „Zermalmen“ ist deutlich geworden: die Einbuße autonomer Subjektivität, sogar der substantiellen physiologischen Unversehrtheit, muss immer einkalkuliert werden. Aber gerade das macht wiederum auch den ganz besonderen Reiz der neuen Techniken aus. Roth hat es beschrieben: Sie ist dem Menschen über alle Maßen überlegen. Das macht sie so erhaben und bewunderungswürdig. 2.1 Neujustierung des Blicks Für ein Gelingen der imaginären Transformationsleistung, für ein Gelingen mithin der Partizipation am urbanen Energiefeld ist es notwendig, das Bild einer auf ihren rein anorganischen Funktionsmechanismus reduzierten Technik um die Dimension der organischen Vitalität zu erweitern. Dass der urbane Raum und seine soziale Organisation eine solche Verlebendigung oder Renaturalisierung erfahren kann, liegt nicht zuletzt an den medialen Bedingungen der Nahverkehrsinfrastruktur, die auch in den zwanziger Jahren noch das Stadtbild und die tägliche Lebensorganisation des Großstädters dominiert. Zum einen ist es natürlich die immerwährende Bewegung, mit der die langen Reihen der Wagen und Waggons auf den Straßen einen ununterbrochenen Verkehrsstrom erzeugen und so die Assoziation eines natürlichen Fließens nahe legen. Die Metaphern des Naturhaften beschränken sich aber nicht auf die Vorgänge technischer Bewegung, auf das „Gekrabbel von Fahrzeug und Fußgänger“,37 sondern das urbane Verkehrssystem wird selbst bis hinein in seine stählernen Konstruktionen in Bildern der Landschaft und des Organischen beschrieben. Die Gleise der Straßenbahn werden in der Beobachtung Egon Erwin Kischs zu einem „Meer von Schienen“38, und Robert Müller erscheinen sie als „Arme(n) voll Ähren“39. Der Asphaltboden der Stadt mutet an wie eine „riesige Membrane“40, die immer wieder den Blick frei gibt auf eine phantastische, scheinbar submarine Unterwelt: „An der Untergrund-Zentral-Halle-Station verließ er das Automobil“, so beginnt in Müllers Camera obscura eine von zahlreichen Fahrten mit der Untergrundbahn, die den Passagier sogleich mit allen Sinnen in einen regelrechten Strudel zieht: „Ein fischmauliger Schlitz im Bürgersteig jappte nach ihm, er sprudelte drei Treppen im Zickzack abwärts, bugsierte sich mit vielen Anderen durch eine Eisenmasche am Schalter vorbei, der ihm eine Karte zuwarf, und lief einen unmäßig langen Damm entlang. Eine platt-
37 Müller, Robert: Camerao obscura, S. 92. 38 Kisch, Egon Erwin: „Die Untergrundbahn“, in: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 383. 39 Müller, Robert : Camera obscura, S. 92. 40 Ebd., S. 130.
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gedrückte niedrige Halle glitzerte von Glühbirnen in Radienaufmarsch gleich einem gewaltigen unterirdischen Seestern. Aus vielen Schlündern brachen Gleise, flogen Wände.“41
Die Wahrnehmung von Technischem und Organischem, von Festem und Beweglichem geht ständig ineinander über: „Lange Wagenbüchsen fuhren vor, waagerecht funkelnde Säulen, mehrteilig durchbrochen, rutschten sie in rasantem Tempo wie Schlitten, mit versenkten Rädern, vor den Damm. Schwärme von Menschen, wie Blasen im Wasser, setzten an, die Kiemen der fahrenden Säule, ein Drache mit Glutaugen und stumpfem Kopf, atmete Menschen aus, atmete ein.“42
Auch die materialen Konstruktionen selbst sind es – umso mehr aber natürlich in ihrem Zusammenspiel mit den Bewegungen des Verkehrs –, in denen die imaginative Nähe zur Natur liegt. Christoph Asendorf verweist in diesem Zusammenhang auf die von Hector Guimard entworfenen Eingänge der Pariser Métro: „(D)ie Glasdächer sind von filigran-floralen eisernen Adern getragen; sie schützen den Eingang zum unterirdischen Netz großstädtischer Verkehrsadern, durch das Menschenmengen wie das Blut im Körper zirkulieren. Lineare Adern suggerieren Gleichartigkeit technischkonstruktiver und organischer Vorgänge.“43
Die Dächer der Métro indes sind ein Beispiel für eine urbane Architektur, die sich ästhetisch bewusst an das Vorbild der Natur anlehnt, um auf diese Weise den Charakter des natürlich Gewachsenen in den urbanen Raum einzuschreiben. Neben dieser konzeptuellen gibt es aber eine im eigentlichen Sinne grundsätzliche mediale Wirkung, die der Nahverkehrsinfrastruktur ein natürliches Gepräge verleiht. Wiederum sind es Oberleitungs- und Schienensystem, die in ihrer Linearität und gleichzeitigen Vernetzung nicht nur in bildlicher Korrelation zu Adern und Nervensträngen stehen, sondern als energetischer Schaltkreis einen komplexen, exakt funktionierenden Organismus repräsentieren. Gerade dort, wo dieser Mechanismus einmal nicht optimal funktioniert, in der Störung oder im Unfall, liegt wiederum eine spezielle Faszination: Das Besondere, das – wie Simmel es nennt – Abenteuer. Bei Musil wird es das „aus der Reihe schlagen“ des Lastwagens aus der rechnerischen Ordnung des Verkehrs sein, das nicht nur die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zieht, sondern allererst das
41 Ebd. 42 Ebd., S. 131. 43 Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, S. 87.
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Erzählen, den Roman Der Mann ohne Eigenschaften in Gang setzt. Eben in diesem engen Beieinander von präzisem Funktionieren und adhoc auftretender Störung liegt eine Gemeinsamkeit von technisiertem Massenverkehr und physiologischem Organismus. Die Störanfälligkeit des Nervensystems ist es ja gerade, die das Wesen der Nervositätsdebatte ausmacht. In den Darstellungen zur Kulturgeschichte des Nahverkehrs wurde bereits darauf hingewiesen, dass nicht nur der Neurasthenie-Diskurs in Mode kommt, sondern dass es dazu auch modisch wird, das Nervensystem des Großstädters in Vokabeln zu beschreiben, die aus dem Bereich infrastruktureller Techniken übernommen werden: Schaltwerk der Gedanken nannte Carl Ludwig Schleich seine Studie über Neurasthenie aus dem Jahr 1916. Darin heißt es beispielsweise: Ein Neurastheniker „gleicht einer schlecht isolierten flackernden, zittrigen elektrischen Lampe, ein Hysteriker einer solchen mit Kurzschlüssen, Brandstiftungen und Explosionen“44. Auch das umgekehrte Phänomen lässt sich beobachten. Nicht nur werden das menschliche Organ- und Nervensystem mit technischen Begriffen bedacht, zunehmend werden auch die urbanen Techniken in vitalistischen Nerven- und Organbildern gefasst. Durch die „elektrischen Leitungen und Apparaturen, die als Nervenstränge der Großstadt ihr Klima der Attraktion, Intensität und des ständigen Reizes aufnehmen und ausstrahlen“, wird das elektrifizierte Verkehrsnetz zum Blutkreislauf, in dessen „Kabelgedärm“ das pulsierende Leben der Stadt zirkuliert. 45 Selbst der Berliner Stadtbaurat Martin Wagner unterlegt seine Theorien zur städtebaulichen Umstrukturierung Berlins mit biologischen Vokabeln: „Der Weltstadtplatz ist eine fast dauernd gefüllte Verkehrsschleuse, der ‚Clearing‘-Punkt eines Adernetzes von Verkehrsstraßen erster Ordnung.“46 Ist es bei Wagner die strukturelle Korrelation zum Adernetz, dann zeigt sich die universale Medialität der Netzstruktur, die nicht nur den menschlichen Körper, sondern auch die gesamte Natur in seinen Bildzusammenhang einschließt, noch deutlicher in Walter Rathenaus Stadtbeschreibung in Zur Kritik der Zeit. Ausgehend vom Bild des Spinnennetzes, das durch die vernetzte Struktur des Schienensystems bedingt wird, entwirft er die Metropolen als riesige Organismen mit einem perfekt geregelten, auf mehreren Ebenen fungierenden Ver- und Entsorgungssystem, in dem sich materielle und geistige Energieströme kreuzen:
44 Schleich, Carl Ludwig: Schaltwerk der Gedanken, S. 254. 45 Müller, Lothar: „Die Großstadt als Orte der Moderne“, in: Scherpe, Klaus R. (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, S. 16. 46 Zit. nach: Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, S. 47.
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„Im Mittelpunkt eines Spinnwebs von Schienen gelagert, schießen sie ihre versteinernden Straßenfäden über das Land. Sichtbare und unsichtbare Netze rollenden Verkehrs durchziehen und unterwühlen die Schluchten und pumpen zweimal täglich Menschenkörper von den Gliedern zum Herzen. Ein zweites, drittes und viertes Netz verteilt Feuchtigkeit, Wärme und Kraft, ein elektrisches Nervensystem trägt die Schwingungen des Geistes. Nahrungs- und Reizstoffe gleiten auf Schienen und Wasserflächen herbei, verbrauchte Materie strömt durch die Kanäle […].“47
Diese Synthese bzw. der Versuch einer Synergie zwischen Technik und Natur, beschränkt sich naturgemäß nicht auf die Sprache. Blickt man für einen Moment auf die Malerei, dann findet man in der ornamentalen Jugendstillinie die Umsetzung des Konzepts, organischen Nerv und anorganischen Leitungsdraht zu einer neuen Ästhetik des Linearen zusammenzuführen. Henry van Velde definiert die Jugendstillinie in seinem erstmals 1902 veröffentlichen Aufsatz Die Linie als machtvolles Zusammenwirken von Natur und Konstruktion: „(S)ie sind Kräfte, sind aus der Anschauung eines Kräftespiels heraus geboren, beweisen in ihren untergeordnetsten Bestandteilen den Strom nicht intermittierender Kraft und Energie.“48 In van Veldes Theorem der Kraftlinie laufen die – so unterschiedlich sie insgesamt seien mögen – ästhetischen Versuche des beginnenden Jahrhunderts zusammen, wonach es nicht nur gelte, Technik und Natur in der Kunstproduktion verschmelzen zu lassen, sondern darüber hinaus den Kräften, die das Leben des modernen Menschen bedingen, einen bildlichen Ausdruck zu verleihen. Aus der ästhetischen Vision des Dynamischen und der Bewegung wird spätestens Ende der zwanziger Jahre die Konstruktionsprämisse der „Stromlinie“, der zufolge das energetische Prinzip nahezu allen Gebrauchsgegenständen per Formgebung zugewiesen wird.49 Wenn sich im linearen Gebilde eine energetische Qualität offenbart, dann hat das für den Nahverkehrstopos zur Folge, was bereits in den organisch-lebendigen Lesarten des Verkehrsystems angelegt ist: Das Lineare, insbesondere das Lineare der elektrischen Oberleitungen, aber auch das Lineare der stählernen Form und das lineare Prinzip des Vorgangs des Gefahrenwerdens an sich, wird im literarischen Motivreservoir zum Ausdruck einer Quelle neuer Energie, der das Potential zur Konstitution vor allem geistiger Potentiale eingeschrieben werden kann. So wird das linienförmige Oberleitungssystem der strombetriebenen Straßenbahnen zum Bild der ständigen Anwesenheit eines elektromagnetischen Kraftfel-
47 Rathenau, Walther: Zur Kritik der Zeit, S. 15. 48 van de Velde, Henry: „Die Linie“, in: Curjel, Hans: Zum neuen Stil, S. 192. 49 Vgl. Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, S. 91-94.
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des, das „chaotisch durcheinanderliegende Eisenpfeilspäne regelmäßig ausrichtet“, und damit „die Möglichkeit der analogen Annahme überindividuell wirksamer ‚Energien‘“50 bietet, die das Bewusstsein des Fahrgastes formen können. Der Strom als Movens der Stadt wird auch zum Movens der menschlichen Physis und Psyche: „Alles geschieht hier durch Elektricität, diese leise, herrliche unsichtbare Kraft“, so lässt Stefan Zweig im Jahr 1935 seinen „Blick über die elektrische Stadt“ New York „in die Zukunft hinein“ schweifen: „(U)nausdenkbar der Gedanke, was aus Newyork würde, stockte für einen Augenblick diese Kraft; es wäre wie ein Herzschlag, der alle Glieder lähmte, alles stände still, alles würde dunkel und leer, denn sie ist überall und alles, die Elektricität in dieser Stadt, und ich glaube, untersuchte ein Biologe vergleichend die menschlichen Körper, er fände bei den Bewohnern Newyorks mehr Elektricität in den Nerven und Musceln, als bei den Bewohnern unserer Welt.“51
Auch bei Robert Müller wird New York zum quasi-utopischen Ort, an dem das künftige Energieprinzip bereits Einzug gehalten hat. Die technisch bedingte urbane Bewegung erscheint dem Protagonisten von Müllers Manhattan sichtbar in die Luft gezeichnet in Gestalt von Leitungskabeln der elektrischen Cars, die „wie Schläuche […], durch die das Leben fließt“,52 die Stadt überziehen. Auch die Fahrgäste mit ihren „von Energie grimassierenden Gesichtern“53 stehen unter direktem Einfluss unausgesetzter Elektrizität: „[…] die Haare knistern, sprühen vor Energie, die zwischen den Gehirnen und der Luft quillt - - -“.54 Und in Müllers Irmelin Rose scheinen die Stirnen der Passanten nahezu elektrisch „geladen von einem verschmitzten Wissen“55.
50 Lindner, Martin: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, S. 89. 51 Zweig, Stefan: „Blick über die elektrische Stadt in die Zukunft hinein“, in: Neue Rundschau, Heft I/1992, S. 113. 52 Müller, Robert: „Manhattan“, in: Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte, S. 138. 53 Ebd., S. 139. 54 Ebd., S. 140f. 55 Müller, Robert: „Irmelin Rose. Die Mythe der großen Stadt“, in: Irmelin Rose – Bolschewik und andere verstreute Texte, S. 32.
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3. V ERÄNDERUNG
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Was bisher über die Veränderungen des Stadtraums und die Veränderungen seiner Wahrnehmung diskutiert worden ist, hat jeweils den urbanen Raum als ganzen von einer panoramatischen Perspektive aus in den Blick genommen. Im Folgenden nun soll die Perspektive unmittelbar in die Fahrzeuge und Waggons des Nahverkehrs hinein verlegt werden, um zu überprüfen, welche Veränderungen sich hier gegenüber dem Empfinden des „Frachtgut“- und „Menschenmaterial“-Daseins ergeben können. Mit Blick darauf kann man zunächst feststellen, dass es nicht allein die Vorstellung elektrischer Energie ist, aus der das individuelle Bewusstsein Impulse zu empfangen scheint. Vielmehr ist es ihre Verbindung mit dem Erlebnis des beschleunigten Gefahrenwerdens und einer sich daraus ergebenden veränderten Wahrnehmung, die der üblicherweise als statisch erlebten Außenwelt neue Dynamiken und Dimensionen einschreibt, so dass die urbane Wirklichkeit nicht mehr als durchrationalisiertes, starres Konstrukt, sondern viel eher als belebter Organismus wahrgenommen wird. Ein vergleichsweise früher Text, an dem man dieses Zusammenspiel von der Vorstellung elektrischer Energie und einer Veränderung der Wahrnehmung durch Beschleunigung – die natürlich wiederum durch die Elektrizität ausgelöst wird – beobachten kann, ist das Gedicht Auf der Straßenbahn, das Gerrit Engelke, der in den weiteren Kreis des Expressionismus zu zählen ist, im Jahr 1916 veröffentlicht: „[…] Scharf vorüber an Laternen, Frauenmoden, Bild an Bild, Ladenschild, Pferdetritt, Menschenschritt – Schütternd walzt und wiegt der Wagenboden, Meine Sinne walzen, wiegen mit!: Voller Strom! Voller Strom! Der ganze Wagen mit den Menschen drinnen, Saust und summt und singt mit meinen Sinnen.“56
Auch in Anton Schnacks Gedicht In der Straßenbahn wird der urbane Raum durch das Fahrerlebnis, in dem Energievorstellungen und beschleunigte Wahrnehmung zusammentreffen, in einen veränderten Zustand versetzt: „ […] Hellgrüne Funken fallen zischend von den schwanken Drähten Licht saust vorüber... Tore...Straßen...Läden. Ich schaue lauschend durch des Wagens Scheiben
56 Engelke, Gerrit: „Auf der Straßenbahn“, in: Rhythmus des neuen Europa. Das Gesamtwerk, S. 48.
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Und fühle mich vertausendfacht und seltsam bunt, Ich sehe mich an mir vorübertreiben... Am Fenster lachen mit verzognem Mund... Und durch mein Herz, das auf den Schienen hämmert, Fetzen die Räder... In allen Lampen glüht mein Geäder.“57
Die Verwerfung und gleichzeitigen Neukonstituierung von Wahrnehmungsweisen, 58 die in den kulturgeschichtlichen Überlegungen als Aspekte visueller Konditionierung und Schockerfahrung dargestellt worden sind, können offenbar in eine spezifisch moderne Form der Lusterfahrung überführt werden, indem die Akkumulation einzelner Wahrnehmungsschocks als Möglichkeit – zumindest innerhalb eines begrenzten Zeitraums – der individuellen Befreiung von rational geordneten und unverrückbaren Gesellschaftsstrukturen und der Wiedererlangung verloren geglaubter individueller Ganzheit erfahren werden. Joachim Radkau nennt dieses komplementäre Moment der Großstadterfahrung, das das kreative Moment der stimulierenden Neuschöpfung von Erlebnissen in sich trägt, die „euphorische Seite der Nervosität“59 . „Er erhält plötzlich einen Stoß“, heißt es über Perez, den lange namenlosen Protagonisten aus Robert Müllers Manhattan, der in der New Yorker Hochbahn die Brooklyn-Bridge überquert, „ein erlösender Schock schirrt seine Nerven an, eine Depesche gleitet mit fühlbarem Schauern durch sein System hin und präsentiert ihm ein Wohlgefühl in starken Gedanken. Seine Bewußtheit ersteigt die schwindelnde Höhe von zehn Stockwerken, soviel ihrer die Brücke von dem Pflaster der Uferstraßen trennen. Er begreift alles: Sich, die Brücke, die Stadt, die Welt, die Menschen.“60
57 Schnack, Anton: „In der Straßenbahn“, in: Werke in zwei Bänden, Bd. 1, S. 101. Sowohl Schnack als auch Engelke wenden das expressionistische Prinzip der rhythmischakkumulierenden Reihung an, das zugunsten der Möglichkeit des Ausdrucks von Geschwindigkeit und Sinnesüberflutung auf grammatikalische Vollständigkeit verzichtet. 58 Die Plötzlichkeit, mit der tradierte Sehweisen abgelöst werden, offenbart sich beispielhaft in Joseph Roths Erzählung Der Herr mit dem Monokel, in der durch die schockartige Konfrontation mit dem neuen Verkehrsmittel das Relikt des bereits überholt konventionellen Blicks, das Monokel, am Boden zerspringt. 59 Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, S. 78. 60 Müller, Robert: „Manhattan“, in: Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte, S. 140.
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Die Auflösung stabiler optischer Systeme, wie sie durch die fremd gesteuerte Fahrt durch die Stadt ebenso hervorgerufen wird wie durch das neuartige zeitgenössische Medium des Films wird fortan als technischer Möglichkeitsrahmen verstanden, innerhalb dessen das Individuum bisher nicht gekannte Stufen der intelligiblen und sinnlichen Erkenntnis erreichen kann.61 Diese Annahme eines die Wahrnehmungsweise des Subjekts bis in die tieferen Schichten des Bewusstseins hinein transformierenden Massenverkehrsmittels hat ihren Ursprung in der Sphäre des auf erkenntnistheoretischen Methoden basierenden kritischen Denkens. Über das Moment des Optischen und die von ihm abhängigen jeweiligen Verfasstheiten des als vermeintlich wirklich Wahrgenommenen kann aus dieser Perspektive darauf geschlossen werden, dass die eine, als absolut postulierte, vernünftige Realität, wie sie sich insbesondere durch die stählerne Architektur der Moderne in verstärktem Maße zu manifestieren scheint, lediglich eine durchaus anzuzweifelnde, historisch bedingte Konstruktion ist.62
61 Im Moment der Auflösung tradierter Strukturen offenbart sich auch die Verwandtschaft des revolutionierten Wahrnehmungssystems zu den um die Jahrhundertwende sich konstituierenden sprachkritischen Theorien, die mit der Offenlegung des willkürlich Zufälligen eines Begriffsystems, das man bis dahin als notwendig auf die Realität rekurrierenden Sprachmodus verstanden hat, dieses der Zerstörung anheim geben, um fortan den aktiven und kreativ ungebundenen Umgang mit dem verfügbaren Sprachmaterial zu fordern. Vgl. dazu insbesondere Nietzsche, Friedrich: „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. III/2, S. 367-384 und Hofmannsthal, Hugo von: „Ein Brief“, in: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. XXXI, S. 45-55. 62 Dementsprechend wird Musils Protagonist Ulrich eingeführt als erkenntniskritischer Benutzer eines optischen Instruments, als Beobachter „hinter einem Fenster“, der versucht, die vorbeiziehenden Verkehrsströme mittels einer Taschenuhr zu zählen und zu messen, und sie auf diese Weise in eine Ordnung zu fügen, die es ihm erlaubt, ihnen als erkennendes Subjekt gegenüberzutreten. Das als unsinnig erkannte, prompt abgebrochene Experiment lässt die Assoziation zur Kant-Krise Kleists wach werden, jener für den Dichter erschütternden Einsicht, dass der Mensch niemals Gewissheit über die Existenz der Dinge an sich haben könne, da seine Anschauung allein von der Beschaffenheit seiner Erkenntnisorgane abhinge. Vgl. Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge am 22. März 1801, in: Kleist, Heinrich von: Briefe und Werke in vier Bänden, Bd. IV: Briefe von und an Kleist, 13.März 1793 bis 21. November 1811, S. 196ff. Diesem fundamentalen Zweifel, dem Kleist im Bild der grünen Gläser Ausdruck verleiht, die die Menschen, ohne sich ihrer bewusst zu sein, vor Augen haben, findet sich wieder in der visuellen Perspektive Ulrichs, in seinem Blick durch Fenster und „zartgrünen Filter der Gartenluft“. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 12.
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Die These von der Konstruiertheit der Wirklichkeit, die als Voraussetzung für eine Theorie der Inframedialität die vorliegenden Reflexionen über die medialen Wirkungen des Nahverkehrs grundiert, hat ihren Ausgang in den Transformationen des urbanen Raumes und seiner Wahrnehmung genommen. Dass das Erleben der Zeit nie vollkommen von dem des Raums zu lösen ist, haben schon Kracauers Verbindungen von der Charlottenburger S-Bahn-Unterführung zu den Vorstellungen des Ewigen und Festgefügten gezeigt. Ganz ähnlich ist für alle im vorangehenden Abschnitt untersuchten Texte charakteristisch gewesen, dass in ihnen ein Zeitverständnis zum Ausdruck kam, das entweder wie im Falle Kracauers eine Vorstellung von ins Künftige gerichteter Dauer mit dem Moment der Unveränderlichkeit verbunden hat. Oder aber, das im Gegensatz zur diachronen Ebene das Moment der Unveränderlichkeit und Unflexibilität auf der synchronen Ebene angesiedelt und auf diese Weise an einem Bild der modernen Stadt mitgearbeitet hat, die durch ein streng rationalisiertes Zeitkorsett normiert ist. Hatte erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts der steigende Eisenbahnverkehr in seiner Notwendigkeit der Koordination von Fahrzeiten und -plänen mit der Einführung einer allgemein geltenden Globalzeit zur Standardisierung und Präzisierung von bis dahin regional variierenden zeitlichen Arrangements geführt,63 scheint sich in den Städten des frühen 20. Jahrhunderts nun durch die strenge Optimierung von Arbeitsabläufen und -zeiten und durch die Ausweitung der Komplexität des innerstädtischen Nahverkehrs dieses Zeitraster nachhaltig zu verdichten, so dass allgemeine Abläufe sich genauso wie individuelle Handlungsvollzüge dieser Struktur nahezu vollständig unterzuordnen haben. „Die heftigsten Kollisionen zwischen Mensch und Technik, die sich in Europa ereignen“, beobachtet Gerd H. Theunissen, „geschehen in der Berliner U-Bahn. Das fängt schon bei den Fahrplänen an; sie sind fast bis auf die Sekunde durchgearbeitet und werden auch sekundengenau in die Tat umgesetzt.“64 Georg Simmel widmet in seiner Abhandlung Philosophie des Geldes, in der er sich ganz grundsätzlich mit dem Moment der Berechenbarkeit des modernen Lebens auseinandersetzt, auch dem Phänomen der Zeit einige Aufmerksamkeit: „Die Bestimmung der abstrakten Zeit durch die Uhren wie die des abstrakten Wertes durch das Geld geben ein Schema feinster und sicherster Einteilungen und Messungen, das, die In-
63 Vgl. u. a. Blaise, Clark: Die Zähmung der Zeit. Sir Sandford Fleming und die Erfindung der Weltzeit; Rötzer, Florian: Die Telepolis. Urbanität im digitalen Zeitalter, S. 62. 64 Theunissen, Gerd H.: „Berliner U-Menschen“, in: Kölnische Zeitung, 17.5.1943, Abendblatt.
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halte des Lebens in sich aufnehmend, diesen wenigstens für die praktisch-äußerliche Behandlung eine sonst unerreichbare Durchsichtigkeit und Berechenbarkeit verleiht.“65
Man könnte fast sagen: Ganz wie es sich für sein essayistisch flexibles Denken gehört, findet man bei Simmel auch, was die neuen Formen und Formationen der Zeit und der Zeitwahrnehmung betrifft, Versuche, allzu finale Aussagen wieder aufzuheben. Simmel macht das gerade auch mit Blick auf die öffentlichen Verkehrsmittel, deren Fahrplantaktung doch nicht unwesentlich zum Bild eines zeitlich gerasterten urbanen Raums beigetragen hat. So notiert er einen Traum seines Vaters, der die Möglichkeit individuellen Zeiterlebens, das den Einzelnen von den äußeren Normierungen der Stadt enthebt, ins Bild setzt: „Ich habe geträumt, die synthetische Zeit sei erfunden worden. Zunächst konnte man sie nur minutenweise produzieren, grade wie man ja künstliche Diamanten auch in ganz kleinen Kriställchen darstellen kann. Wenn man nun z.B. zur Untergrundbahn kommt, und der Zug will gerade abfahren, dann zieht man sein Zeitzeug heraus und reißt ein Zeitholz an. Man gewinnt eine Minute und kann den Zug noch erreichen.“66
Geht es in dieser spielerischen Variante der Emanzipierung von vorgegebenen zeitlichen Richtwerten um eine quasi lebenspraktische und an die moderne Produktvorstellung angelehnte Variante der individuellen Ressourcenvergrößerung und Erweiterung der Möglichkeitsräume, dann kann man feststellen, dass es gerade der konkrete Vorgang des Fahrens mit den Nahverkehrsmitteln ist, der die Genese neuen individuellen Zeiterlebens ermöglicht. Im Gegensatz zu der Diagnose von der umfassenden Bindung an ein überindividuelles Zeitkorsett werden die öffentlichen Verkehrsmittel, in denen der Passagier, von allen Verpflichtungen zur Aufmerksamkeit und Konzentration entbunden, durch die Stadt transportiert wird, zu dem Ort, an dem jenseits aller verabsolutierten zeitlichen Maßstäbe das Individuum in der abschweifenden Reflexion respektive Kontemplation ein unabhängiges individuelles Zeitempfinden herausbilden kann.67
65 Simmel, Georg: „Philosophie des Geldes“, in: Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 615. 66 Diesen Traum seines Vaters Georg notiert der Sohn Hans Simmel in seinen Lebenserinnerungen, veröffentlicht in: Böhringer, Hannes/Gründer, Karlfried (Hg.): Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, S. 259f. 67 Wenn auch im Zusammenhang mit der Entstehung der Eisenbahn von der Revolutionierung des zeitlichen Empfindens gesprochen wird, dann handelt es sich hierbei um den Aspekt des Nicht-Kompensatorischen der Möglichkeit der Überwindung von Entfernungen in einer bisher nicht gekannten Geschwindigkeit, die auch als Rede vom Verschwinden des Raums gehandelt wird.
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Dieser Ausstieg aus den festen Bahnen der zeitlichen Taktung kann dabei auf einer eher unterbewussten Ebene im wörtlichen Sinne „erfahren“ werden. Er kann aber auch als gewollter experimenteller Akt, der das Fahrzeug zum individuellen Labor werden lässt, vollzogen werden. ‚Eigenzeit‘ ließe sich dieses Phänomen nennen, und wie schon im Falle des Neurastheniediskurses kann man beobachten, dass es erneut eine Wechselwirkung von Physik und Physiologie ist, die an dieser Genese des subjektiven Zeitempfindens beteiligt ist. Und wiederum kann man feststellen, dass es die medialen Bedingungen der Nahverkehrstechnik sind, die diese Wechselwirkung begünstigen. Es ist die Neuformulierung der Physik, die Albert Einstein an der Schwelle zum 20. Jahrhundert vornimmt, in denen die Vorstellung des individuellen Erlebens einer von der objektiven Zeit abgekoppelten Zeitlichkeit ihre diskursive Basis findet und die mit der konkreten Alltagserfahrung als Passagier im Nahverkehrsnetz seine anschauliche Ergänzung erhält. 1905 veröffentlicht Einstein die Spezielle Relativitätstheorie, in der er nachweist, dass in einem System, das sich mit konstanter Geschwindigkeit fortbewegt, die Zeit einer Verlangsamung zu unterliegen scheint. In der Allgemeinen Relativitätstheorie im Jahr 1916 erweitert er diese Formel noch: Da alle Materie im Universum ein Gravitationsfeld erzeuge und da Schwerkraft gleich Beschleunigung sei, habe jeder bewegte Körper seine eigene Zeit.68 Einstein löst mit seinen relativen Zeit- und Raumbegriffen das von Newton begründete mechanische Weltbild ab, das Raum und Zeit zu konstanten Rahmenbedingungen der Physik erklärt hatte: „Die absolute, wahre und mathematische Zeit fließt vermöge ihrer Natur ohne Beziehung auf einen anderen Vorgang gleichförmig ab“, so Newton: „Der absolute Raum ist unvergänglich und bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen anderen Gegenstand stets gleich und unbeweglich.“ Was als spirituell-mystisch zu klassifizierender Versuch des Ausstiegs aus den technischen Strukturen der Moderne erscheint, lässt sich zu einem guten Teil gerade aus der Basis wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse motivieren. „Der Gedanke, scharf wie eine Säge, hat einen Querschnitt durch die Zeit gemacht. Einen Moment lang hält die Zeit mitten im Sprunge inne. Das Gehirn ist schneller als die Zeit, die Zeit, die stille zu stehen scheint. Man erhält einen Frontalanblick der großen Heerstraße der Entwicklung.“69
68 Newton, Isaac: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, S. 25. Zur Relativitätstheorie Einsteins vgl. u.a. Charpa, Ulrich/Grunwald, Armin: Albert Einstein, S. 25-43. 69 Müller, Robert: „Manhattan“, in: Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte, S. 141f.
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So beschreibt Robert Müller das Gefühl gesteigerter Zeitlichkeit, zu dem sich das Bewusstsein seines Protagonisten Perez während der Fahrt in der New Yorker Hochbahn aufschwingt.70 Auf Simmels Begriff des Abenteuers wurde in Zusammenhang mit dem Phänomen der Störung bereits hingewiesen. Hier zeigt sich, dass sich die Störung nicht nur auf den technischen Defekt bezieht, sondern auch im positiv-produktiven Sinne als eine Art kreativer Impuls, der die konventionellen Denkbahnen unterbricht, verstanden werden kann. Seine enge Kopplung an den Zeitbegriff wird deutlich, wenn Simmel das Abenteuer als eine augenblickshafte Bewusstwerdung eines individuellen Zeiterlebens fasst, als einen Bruch mit der Flachheit der verdinglichten Existenz des modernen Menschen und die rauschähnliche Erhebung über diese: „Seine Atmosphäre ist […] unbedingte Gegenwärtigkeit, das Aufschnellen des Lebensprozesses zu einem Punkt, der weder Vergangenheit noch Zukunft hat und deshalb das Leben mit einer Intensität in sich sammelt, der gegenüber der Stoff des Vorgangs oft relativ gleichgültig wird.“71
Als ein „Fremdkörper in unserer Existenz, der dennoch mit dem Zentrum irgendwie verbunden ist“,72 stellt das Abenteuer als momentaner Ausbruch aus dem sozialhistorischen Kontinuum zugleich eine Form des Innerhalb eben dieser Gesellschaft dar, der aber keine dauerhaft gültige inhaltliche Festschreibung im Sinne tradierter Glaubensgehalte mehr besitzen kann, sondern sich allein in der strukturellen Beschaffenheit des Erlebnisses definiert. Diese Empfindung eines emphatischen Gegenwartsbewusstseins, das auf der sich eröffnenden Möglichkeit der Trennung einer subjektiven von der objektiven Zeitdimension gründet, offenbart erneut den Imagewandel, den das Medium Nah-
70 Theodor Däubler lässt das den öffentlichen Verkehrsmitteln verwandte Karussell zum Ort einer fremd anmutenden, individuellen Zeiterfahrung werden: „[...] mein Raumgefühl ist wie weggeblendet, dafür drängt sich die Wahrnehmung der Dauer sehr nervös auf.“ Däubler, Theodor: Mit silberner Sichel, S. 52. 71 Simmel, Georg: „Das Abenteuer“, aus: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, in: Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 181. Martin Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von den „Ekstasen der Zeitlichkeit“, die das Vergehen einer anscheinend homogenen Zeit durchbrechen können. Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, S. 329, S. 423 und S. 425. Die Entdeckung des realen Charakters erlebter Zeitlichkeit geht zurück auf Henri Bergson, der unter dem Begriff der durée das intuitive Erfassen der Zeit von ihrem äußeren, in der abstrakten Uhrzeit sich veranschaulichten Ablauf differenziert. 72 Simmel, Georg: „Das Abenteuer“, aus: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, in: Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 169
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verkehr und mit ihm der moderne Großstädter unterliegen: der technisierte Verkehr einerseits als materiale Versinnlichung des „stählernern Gehäuses“ der modernen Welt, anderseits als künstlich generierter, beinahe utopischer Möglichkeitsraum. Das Individuum wiederum zum einen als den rationalen Koordinaten unterworfenes Glied einer anonymen Masse, andererseits aber genauso als souverän über seine Erlebnis- und Denkstrukturen verfügendes Subjekt.
4. U NTERGRÜNDIGE E RFAHRUNGEN :
DIE
U-B AHN
Gerade die unterirdischen, das ordnende System der Stadt unterfahrenden Züge der U-Bahn, in denen der natürliche Rhythmus von Tag und Nacht durch einen Wechsel von ewiger Dunkelheit und artifiziell erleuchteten Stationen abgelöst wird, sind es, in denen sich der Großstädter von der strengen zeitlichen Ordnung des Verkehrs und der Rationalisierung des urbanen Lebens überhaupt zu lösen vermag: „[…] der Berliner hat, wie er es selbst in den roten und gelben Wagen bekundet, nur auf der Oberfläche Sinn für die Uhrenregelung“, schreibt Theunissen, „unter der Erde entpuppt er sich als ein reines, wenn auch sehr eigenartiges Naturwesen, unter Entladung der grausamsten und liebenswürdigsten Instinkte. Die Panzer und Koketterien der Zeit fallen von ihm ab. Unter der Erde ist er ganz Natur.“73
Das Eindringen der Technik in die unbekannten und eigentlich nicht zugänglichen Tiefen der Stadt lässt eine Art urbaner Mythologie entstehen. Die Stadt wird zu einem „Leibraum“, in dem jenseits der funktionalisierten und mechanisierten Lebensorganisation – aber gerade auf dem Boden einer perfektionierten Technik – das Individuum Erlebnisqualitäten wiedererlangen kann, die sich in mystisch-religiösen Formeln niederschlagen. „Kann jemand vom Anblick einer Untergrundbahn fast religiös erschüttert sein?“ fragt Alfred Kerr und gibt die Antwort sogleich selbst: „Es ist unabwendbar.“74 In dieselbe Richtung weist der Kommentar Döblins: „Es ist freilich heute schon ein Unfug, eine Säule von Phidias anhimmeln zu lassen und die Untergrundbahn ein bloßes Verkehrsmittel zu nennen.“75
73 Theunissen, Gerd H.: „Berliner U-Menschen“, in: Kölnische Zeitung, 17.5.1943, Abendblatt. 74 Kerr, Alfred: Newyork und London. Stätten des Geschicks. Zwanzig Kapitel nach dem Weltkrieg, S. 23. 75 Döblin, Alfred: „Der Geist des naturalistischen Zeitalters“, in: Aufsätze zur Literatur, S. 67.
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Die Faszination für die U-Bahn und ihr unterirdisches Gleissystem begleitet bereits die Phase ihres Baus, der als spektakulärer, zuweilen ans phantastische grenzender Umgestaltungsprozess wahrgenommen wird. In der Wochenzeitung Die Woche kann man im Jahr 1900 einen Bericht über die Arbeiten an der Pariser Metro lesen, in der sich die Perspektive des teilhabenden Beobachters sukzessive in die einer mystisch-mythologischen Imagination verwandelt, wenn der Autor auch seine kommentierende Position nie ganz aufgibt. Reflektierend, fast kühl setzt der Text ein: „Man staunt zunächst“, heißt es, „auf welche Weise eine so große Arbeitswelt in diese Versenkung gerät.“ Schon in der Reihung des folgendes Satzes schleicht sich fast unmerklich das Moment des Phantastischen und Inkommensurablen in die Beobachtung ein: „Eine ungeheure Anzahl Transportwagen auf interimistischen Schienen, ein ganzer Rennstahl von Pferden in dauernder Bewegung, Ameisenhaufen von Arbeitern, pfeifend, singend, Absinth trinkend.“ Und wenn sich die nächste Passage wieder der konkreten Beobachtung annähert – „Tausende elektrische Glühlampen, die von Zeit zu Zeit, wie um zu necken, ihre Leuchtkraft versagen – das Mühlrad steht still – nur der wißbegierige Beschauer mit seinem brennenden Wachsstock forscht tappend weiter im Labyrinth.“ – dann wird dadurch die Wirkung der folgenden Beschreibung verstärkt, die in einem mystischen und sagenhaften Bild kulminiert, durch das einmal nur das Medium dieser Imaginationen hindurch scheint: die Technik in Gestalt einer U-Bahnstation: „Immer schwärzer wird’s – hier hätte auch der Held Siegfrieds das Fürchten gelernt – in dieser Danteschen Höllennacht! Da – wie ein Blitz – erscheint Frau Elektra, die launenhafte wieder – es glitzert wie ein dichtbesäter Sternenhimmel, es sprüht wie Kristallregen: ein Bahnhof ist’s. Das Riesengewölbe mit Porzellan und Glasmosaik ausgelegt, eine scenische Metamorphose, die an’s Märchenhafte grenzt.“76
Nicht nur Faszination, sondern immer auch das Gefühl, eine eigentlich verbotene Grenzverletzung zu vollziehen, ist mit dem U-Bahn-Bau verbunden. Die Dantesche Höllennacht verweist darauf: Das Unterirdische war bisher den Toten vorbehalten. Das Empfinden, Zeuge eines zuweilen gewalttätigen Aktes zu sein, setzt sich bis zum Ende der zwanziger Jahre fort, als im Zuge der Optimierung nahverkehrstechnischer Abläufe vor allem der wichtigste Verkehrsknotenpunkt der Stadt noch einmal einen kompletten Umbau erlebt: „Was ist der Alexanderplatz in Berlin“, schreibt Walter Benjamin noch 1931 über die neuerlichen baulichen Umstrukturierungen der Stadt und gibt die Antwort sogleich selbst:
76 „Le Metropolitain“, in: Die Woche, 1900.
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„Das ist die Stelle, wo seit zwei Jahren die gewaltsamsten Veränderungen vorgehen, Bagger und Rammen ununterbrochen in Tätigkeit sind, der Boden von ihren Stößen, von den Kolonnen der Autobusse und U-Bahnen zittert, tiefer als sonst wo die Eingeweide der Großstadt […] sich aufgetan haben.“ 77
Was im Durcheinander der Bauphase und in der zwischenzeitlichen Verwandlung des Stadtraums in eine „alpine Landschaft“ nicht in den Blick rückt, was aber während des U-Bahnbetriebs seine eigentliche Faszinationskraft ausmachen wird, ist die scheinbare Vervollkommnung seiner technischen Funktionalität, die aber gerade einhergeht mit dem zunehmenden Verschwinden eben dieses technischen Aufwands für das Auge des Passagiers. Egon Erwin Kisch beschreibt das Prinzip U-Bahn folgendermaßen: „Oben auf der Straße ist kein Platz mehr für die Menschen. Noch weniger für jagende Wagen, für elektrisch angetriebene Züge. Und so fahren sie unter der Erde durch einen einzigen Tunnel, der die ganze Stadt unterhöhlt, sie fahren (ohne durch im Wege stehende Häuser, in entgegengesetzter Richtung rasende Automobile, den Weg kreuzende Wagen, spielende Kinder, sich liebende Hunde, unvernünftig ausweichende Frauen, die Hände hebende Verkehrspolizisten, durch Fußgänger, Geländer, Omnibusse und Feuerwehrmänner, Verkehrsvorschriften und andere Verkehrshindernisse aufgehalten zu werden), sie fahren, mag geschehen, was da will, immer weiter, geradenwegs und im gleichen Abstand. Ihre Parole lautet: Überspringe nicht, übersteige nicht, sondern krieche unten durch!“78
Sind die Fahrten in Straßenbahn und Bus grundsätzlich von den Stockungen und Kollisionen eines stetig zunehmenden Verkehrsaufkommens begleitet, dann wird die U-Bahn zum Symbol der reibungslosen, störungsfreien Perfektion der Nahverkehrsinfrastruktur, deren oberirdischer Teil zum maßgeblichen Auslöser jener nervösen Reizungen erklärt wird, wie sie als typisch für den modernen Großstädter gelten. Die Fahrt in der U-Bahn gibt zu solchen neurasthenischen Beschwerden – und nicht zuletzt zu der Angst vor dem Unfall – keinen Anlass. Zwangsläufig muss folglich die Jagd über der U-Bahn scheitern. Ein junger Schaffner versucht in diesem Feuilleton Alfred Wolfensteins aus dem Jahr 1932 – weil er das Aufspringen auf die von ihm begleitete U-Bahn verpasst hat – mit dem Auto die nächste Station zu erreichen, vor der U-Bahn. Die Jagd wird zu einem tödlichen Unterfangen. Denn der Weg, den die U-Bahn unbehindert und widerstandslos zurücklegen kann, ist auf der Straße den normalen Hemmungen des Verkehrs, der Menge der übrigen Fahrzeugen und Fußgänger und den Ampelschaltungen aus-
77 Benjamin, Walter: „Krisis des Romans“, in: Gesammelte Schriften, Bd. III, S. 233f. 78 Kisch, Egon Erwin: „Die Untergrundbahn“, in: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 383.
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gesetzt. Der Schaffner fährt schließlich „mit größter Geschwindigkeit gegen eine Plakatsäule“ und wird „sterbend in den Trümmern des zusammengebrochenen Wagens“79 gefunden, während unter der Erde die U-Bahn ungerührt mit aller Regelmäßigkeit ihren Fahrplan erfüllt. Eine Fahrt mit der Untergrundbahn verläuft, wie etwa Martin Kessel sie in seinem Roman Herrn Brechers Fiasko beschreibt, nach der Ordnung einer nachgerade sanften Regelmäßigkeit: „Die Stationen gleiten vorüber, willig, den sie wollen nicht stören“, 80 heißt es. In einer anderen Passage Kessels tritt wiederum der Aspekt des Organischen und Naturalen, das der Regelmäßigkeit der Bewegung immer auch inne ist, in den Vordergrund: „Zunächst, da sie Spätdienst hatte, vormittags gegen zehn, hatte Mucki in der Untergrundbahn gesessen, und auch hier rollte der Boden. Wieder das Flutende des Verkehrs zu spüren, die Bewegung unter den Menschen, das Schlagen der Türen, das still Entgleitende der Stationen, es verfehlte nicht seiner großen rhythmischen Wirkung.“81
Verstärkt wird dieser Eindruck einer harmonischen Gleichmäßigkeit nicht zuletzt durch die einheitliche, funktionale architektonische Konzeption der U-Bahnstationen. Kracauer merkt hierzu, indes wenig affiziert an: „Die Bahnhöfe sind technisch und zweckmäßig wie moderne Spitäler, mit einfachen Eisenstützen, blank gekachelten Wänden, schmuckloser Beschriftung und allen möglichen Lichtsignalen. Eine gute Organisation, praktisch und völlig hygienisch.“82 Verglichen mir dem überirdischen Nahverkehrssystem zeichnet sich die U-Bahn durch eine Unverhältnismäßigkeit von technischem Leistungsvermögen, das sich mit einer geradezu natürlichen Grazie äußert, und dem Unsichtbarwerden des zugrunde liegenden technischen Energieaufwands selbst aus. Gerade hierin mag der Grund dafür liegen, dass die U-Bahn zu einem Medium wird, dem mehr als allen anderen Nahverkehrsmitteln ein Image eingeschrieben wird, das den Gedanken des Kraft- und Energietransfers in bisweilen irrationale Höhen treibt. Norbert Bolz begründet den Zusammenhang von technischer Perfektionierung und Faszinationskraft in eben diesem Unsichtbarwerden des technischen Leistungsaufwands, wie er für die U-Bahn wesentlich ist: „Die Hypnose durch die nackte Maschinerie entsteht
79 Wolfenstein, Alfred: „Jagd über der U-Bahn“, in: Vossische Zeitung vom 18.5.1932. 80 Kessel, Martin: Herrn Brechers Fiasko, S. 343. 81 Ebd., S. 386. 82 Kracauer, Siegfried: „Proletarische Schnellbahn“, in: Schriften, Bd. 5.2, Aufsätze 19271931, S. 179.
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dadurch, daß sich der Geist der Perfektion, der sich in den Formen der technischen Ordnung ablagert, den in ihnen befangenen Menschen gerade entzieht.“83 Allen voran die immer wieder umkreiste Suggestion der eigenen Schwerelosigkeit in den vollkommenen Abläufen des technischen Transport ist deshalb nicht nur ein Gegenbild zu dem Bild der Deklassierung zum entindividualisierten Frachtgut, sondern dessen bewusste Umwandlung in ein Subjektivität stiftendes Gefühl physischer und psychischer Ganzheitlichkeit: Sie empfinde nicht nur die Schmiegsamkeit dieser Kurve, heißt es in der bereits zitierten U-Bahn-Fahrt in Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko, „diesmal schwebte sie gleichsam mitsamt ihren Angelegenheiten, sie schwebte, und die schräge Neigung des Waggons, das Gehobensein einerseits, die Senkung gegenüber, teilte sich ihrem ganzen Gleichgewichtsgefühl mit“ 84. Dass und wie dieses Erlebnis in der Moderne typischerweise als Hingabe an die „zweite Natur“ Technik entworfen wird, haben Joseph Roths empathischen Beschreibungen des „Zermalmtwerdens“ des Einzelnen durch die überirdischen Kräfte des Gleisdreiecks bereits mit einer kaum vergleichbaren Intensität ins Bild gesetzt. Grundsätzlich gilt hier die Formel, die Hartmut Böhme mit Blick auf Musils Mann ohne Eigenschaften aufstellt: „[…] die als Entfremdung erlittene Depersonalisation wird zu mystischer Entpersönlichung umorganisiert.“85 Wenn schon die Waggons der überirdisch fahrenden Straßenbahn, zumindest vorübergehend, als geschlossene Systeme den Raum für die Erprobung neuer Wahrnehmungs- und Denkweisen bereitstellen, dann wird dieser Effekt in der U-Bahn natürlich gerade dadurch verstärkt, dass das Denkbild des geschlossenen Systems durch das nur partiell mit Ausgängen versehene, dem Tageslicht entzogene Tunnelsystem noch einmal potenziert wird. Nicht zuletzt deshalb, weil die bildliche Äquivalentsetzung von organischem Nerven- oder Adernnetz mit dem Verkehrsnetz in diesem Tunnelsystem den Passagier noch eindeutiger innerhalb des Energiestroms selbst verortet. Mithin bietet sich „für fünfundzwanzig, fünfzehn und zehn Pfennig, je nach Länge der Fahrtstrecke, […] außer der technisch reibunglosen Beförderung noch jedem Fahrgast die Gelegenheit zur ausgiebigen Morgen-, Mittagund Abendgymnastik der – na, sagen wir: der Seele.“86
83 Bolz, Norbert: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, S. 166. 84 Kessel, Martin: Herrn Brechers Fiasko, S. 341. 85 Böhme, Hartmut: Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, S. 348. 86 Theunissen, Gerd H.: „Berliner U-Menschen“, in: Kölnische Zeitung, 17.5.1943, Abendblatt.
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Das besondere dieser Gymnastik ist, dass in der Untergrundbahn nicht nur die Körper der Passagiere „jener Schwungkraft folgend“87 in Bewegung gesetzt werden. Aufgrund der weitgehenden Abschirmung von den üblicherweise dominierenden Reizen der Stadt – „Die Stadt jagt dir über dem Kopf davon“, schreibt Kisch über die U-Bahn-Fahrt, „du siehst nichts von ihrer Hast, kein Schaufenster lockt dich, kein Beamter ruft dich, nichts hält dich auf.“88 – kann umso mehr der Eindruck entstehen, dass die Reflexions- und Bewusstseinsprozesse sich dem Rhythmus der Fahrt anpassen. „Allmählich entsteht bei den Fahrgästen eine gewisse Narkose“, erklärt Joachim von Bülow über das Zusammenwirken von Fahrtbewegungen und Physis und Psyche der Beförderten: „Sie wackeln taktmäßig, wie der Wagen ruckt, mit den Köpfen, und nachdem sie alle Plakate, Ver- und Gebote gelesen haben und auswendig wissen, fangen sie an einzunicken und verwundern sich über Anschriften wie ‚Das Stehen und Herumknien von Kindern auf Bänken ist verboten‘ nur noch traumhaft […].“89
Bei Robert Müller ist ebenfalls von der narkotischen Wirkung der Fahrt die Rede: „Die Röhre krümmt sich, der Train legt sich schief, die Mauern sind berührbar nah. Die Schienenkupierung trommelt fein rhythmisch an den Wagenboden; Sohlen, Gesäß und Rückenmark befinden sich in wohliger Lähmung, in die staubige dicke narkotische Atmosphäre züngelt Parfüm aus dem vereinzelten Quell von Frauenkleidern und Sacktüchern, Pressung und Entzug, wie in einer urlangen Saugpumpe, ziehen weich an der Tastempfindung […].“90
Relativ zeitgleich ist es der Fahrstuhl – in seiner räumlichen und optischen Abgeschlossenheit ein der U-Bahn strukturell verwandter Beförderungsapparat – in dem das Potential der Genese ganz ähnlicher Zustände einer sich der intelligiblen Regulation weitestgehend entziehenden Transformation des Denkvermögens gesehen wird. Viktor Schklowski beschreibt in diesem Zusammenhang, wie „die Gedanken eine Spur hinter der Bewegung zurückbleiben, wie es das Herz im abwärtsfahrenden Fahrstuhl tut.“91 Die Kontoristin Therese Spieker aus Martin Kessels Erzählung Das Horoskop, die bereits als Beispiel für den Versuch des Vitalitätsgewinns durch die Partizipation an der technischen Energie vorgestellt worden ist, hat neben den
87 Kessel, Martin: Herrn Brechers Fiasko, S. 341. 88 Kisch, Egon Erwin: „Die Untergrundbahn“, in: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 383. 89 Bülow, Joachim von: „Berliner Vehikel“, in: Vossische Zeitung, 13.2.1913. 90 Müller, Robert: Camera obscura, S. 183. 91 Schklowski, Viktor: „Zoo oder Briefe nicht über die Liebe“, in: Es war einmal. Zoo oder Briefe nicht über die Liebe. Autobiographische Erzählungen, S. 264f.
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U-Bahnen auch Fahrstühle zu den Objekten erkoren, auf die sie in letzter Sekunde aufzuspringen versucht.92 Wiederum ist einer der New York-Texte von Robert Müller – wie schon Manhattan als Imaginationen der Stadt als universaler Energieraum – der elaborierteste Entwurf eines scheinbar unendlichen Transits, der für den Protagonisten zu einem von allen zeitlichen und räumlichen Koordinaten entkoppelten Entgrenzungserlebnis wird. Das Gefühl, „oft ganze Tage unter der Stadt dahin(zufahren)“93 setzt bei dem Detektiv James Steward aus Müllers Kriminalutopie Camera obscura bisher ungekannte psychische Qualitäten frei: „die Untergrundbahn! Unterschwellig entspricht sie einer intensiveren Bewusstseinsstufe. Steward dachte wie er wollte.“94 Seine Wahrnehmung erfolgt nicht mehr in den üblichen geordneten Strukturen. Sie beginnt, in gleitenden, sich überlagernden und ineinander verschränkenden Sensationen abzulaufen, die sich wie übereinander geblendete Filmstreifen als Prismata vor Stewards Augen entfalten: Der U-Bahn-Tunnel „zerbrach die Blickflucht“, 95 „die Sinneseindrücke gingen über, unterschoben ein anderes Bild“96. Hans Blumenberg erklärt dieses Phänomen einer inkommensurablen Sensationsakkumulation, wie Müller sie seinen Helden als phantasmatische Bewusstseinsreise durch das labyrinthische U-Bahn-System erleben lässt, als die „Erfahrung jedes Großstadtbewohners, daß man gerade an den Orten minimalen Realitätsbezugs einer maximalen Reizüberflutung ausgesetzt ist“97. Die Gegenstände erscheinen dem Passagier im unterirdischen Transport raumund zeitlos, „wie im Traum placiert, ineinander, auseinanderfaltbar, wie Fächer, simultan“98. Ein letzter Rest von Strukturierung entsteht zunächst zwar noch durch das Umsteigen von einem Verkehrsmittel zum anderen: Steward wechselnd zwischen U-Bahn, Fahrstuhl und Rollband. Schließlich steigern sich die Beschreibungen seines technisch evozierten Rausches aber bis zu einer Erfahrung der Auflösung der gewohnten Körper- und Raumkategorien:
92 Geradezu eine mythologische Dimension nimmt der riesige Fahrstuhl in Fritz Langs Filmklassiker Metropolis an. Hier befördert er Massen von Arbeitern an ihre unterirdische Arbeitsstätte, in der sie sich gleich Verurteilten zu ewigen Höllenqualen den übermächtigen Maschinen zu beugen haben. 93 Müller, Robert: Camera Obscura, S. 186. 94 Ebd., S. 131. 95 Ebd., S. 54. 96 Ebd., S. 183. 97 Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge, S. 76ff. 98 Müller, Robert: Camera obscura, S. 125.
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„[…] Stewards Finger und Gliedmaßen selbst flossen von ihm weg, er empfand sich duftiger und sein Körpergewicht in ein labiles Gefüge überführt. Der ganze Raum veränderte seine Substanz, das rote Licht durchdrang seine Geometrie und weichte sie auf. Jede Geste war schlüpfrig, er bebte von einer Energie, die in sie wirkend eintauchte, gleich einer gallertartigen Masse […].“99
Fast wird die Fahrt im Untergrund zu einem religiös anmutenden Zustand vollständiger Dezentrierung von Ich und Umwelt: „Die Materie war daran, durch übermütige Schnelligkeit, durch geniale Bewegung, durch die üppige Möglichkeit der sparsamen Ausrundung der letzten Potenz von Sinnlichem und ihrer Art Geist zu werden. Das war der Standpunkt eines okzidentalen Akrobaten- und VarietéPrestdigitateurs. Die Schwerkraft muß aber elevatorisch aufgelöst werden und mit ihr die Materie wieder gesetzt werden, Triumph.“100
Sehr deutlich wird hier zum wiederholten Mal, wie die mediale Bedeutung der Verkehrstechnik nicht zuletzt über das sprachliche Moment erzeugt wird: Die Rede von der Überwindung der physikalischen Gesetze der Schwerkraft durch den Elevator, den Fahrstuhl, oder aber wie in Manhattan durch den elevated railway, die Hochbahn, schlägt die direkte Verbindung zur zeremoniellen Handlung christlicher Liturgie, der Elevation.101 Die Zusammenhänge von verkehrstechnischer Medialität und Sprache lassen sich natürlich auch gerade an Müllers teilweise fließenden, teilweise verschachtelten, immer aber überbordenden Satzkonstruktionen erkennen: Wenn Steward im Erlebnis eines ortlosgewordenen Bewusstseins zwischen den Räumen genauso wie zwischen den verschiedenen mentalen Zuständen hin- und herzufluktuieren vermeint, dann wird die U-Bahn, die ihn durch die Untergründe der Stadt transportiert, zur Metapher des stream of consciousness. Als genuin moderner Schreibform bildet der Bewusstseinsstrom, in der jenseits tradierter Begriffssysteme und grammatikalischer Konstrukte das Erlebnis moderner Individualität zum Ausdruck gebracht werden soll, den unreduzierten Ablauf synchroner sinnlicher und affektiver Attraktionen ab.
99
Ebd.
100 Ebd., S. 186. 101 Vgl. dazu: Köster, Thomas: Bilderschrift der Großstadt. Studien zum Werk Robert Müllers, S. 203.
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5. E XKURS . M EDIALITÄT KONTRA I MAGEPRODUKTION : D IE M OSKAUER M ETRO In den vorangegangenen Abschnitten sind die medialen Potentiale der unterirdischen Nahverkehrsinfrastruktur unter der Perspektive eines Glücksversprechens beschrieben worden, das eine vollkommenere Stufe der Individualität an die Partizipation am technischen Apparat koppelt. Diese Sinnkonstitution qua radikaler Subjektzentrierung ist ein Ideal, das unerkennbar in den Zusammenhang westlicher Entwürfe von Kultur, Zivilisation und Individualität einzuordnen ist. Blickt man hingegen auf die medialen Wirkungen, die von der nahezu zeitgleich gebauten Moskauer Metro ausgehen, dann kann man etwas komplett anderes finden. Die unter Stalin konzipierte und baulich umgesetzte Untergrundbahn wird nicht nur als machtvolle Demonstration staatlicher Kraftpotentiale, als Ausdruck technischwirtschaftlicher Kompetenzen wahrgenommen und dargestellt. Sie wird auch zum Sinnbild eines überindividuellen, kollektiven Glücksversprechens – des Kommunismus. Mit Blick auf das Russland der 1930er Jahre kann man – das veranschaulicht nicht nur der Titel des Aufsatzes U-Bahn als U-topie von Boris Groys102 – noch einmal exemplarisch und in einer Art komprimierten Form nachvollziehen, wie der mediale Kontext einer infrastrukturellen Einrichtung sich konstituiert. Durch die monumentale Architektur der Moskauer Metro, die einer palastartigen Stadt unter der Stadt gleichkommt, wird sie zu einer materialisierten Ideologie, die den Verkehrsteilnehmern täglich das Angekommensein im Himmelreich Kommunismus vor Augen führt.103 In Moskau bleibt es aber nicht bei dieser medialen Wirkung der Verkehrsarchitektur. Vielmehr wird bereits der Bau der Metro von einer staatlich organisierten Kampagne begleitet, die gezielt ein bestimmtes Image der Metro produzieren und etablieren soll. In einer groß angelegten Zusammenarbeit von Arbeitern und
102 Groys, Boris: „U-Bahn als U-topie“, in: Kursbuch 112. Städte bauen. 103 Die Assoziation des Himmels war durchaus im Sinne der Zeit: In den Jahren vor dem Metrobau haben sowjetische Künstler verschiedene Projekte entworfen, in denen „die Stadt Moskau im kosmischen Raum“ errichtet werden soll. Neben der gemäßigteren Variante der gläsernen Wohnungen, die durch ständige Bewegung den Anschein des von der Erdverbundenheit Gelösten erhalten sollten, plant beispielsweise Kasimir Malewitsch den Bau einzelner frei im Raum beweglicher „Planiten“, die jeder Bewohner mit einem eigenen Raumschiff erreichen konnte. El Lissitzky konzipierte Moskau als Stadt auf riesigen Säulen. Auch zwischen diesen Gebäuden hätte man jeweils mit einer Art Flugzeug verkehren müssen. Vgl. Groys, Boris: „U-Bahn als U-topie“, in: Kursbuch 112. Städte bauen, S. 2ff.
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Schriftstellern soll ein mehrbändiges Werk über die Metro entstehen, das nicht nur Gorkis Idee einer genuin proletarischen Geschichtsschreibung umsetzen soll, sondern vor allem dem grundsätzlichen Vorsatz folgt, „den Schriftsteller zum Ingenieur der Seele“ werden zu lassen, und das durch eine spezifische, freilich programmatische Art und Weise der literarischen Bearbeitung dafür instrumentalisiert wird, die aus staatlicher Sicht wünschenswerten Wahrnehmungsweisen sozialer technischer Konstrukte und Neuerungen durchzusetzen. Istorija moskovskogo metro, die Geschichte der Moskauer Metro nennt sich das Projekt, das mit dem Bau der unterirdischen Verkehrsanlage beginnt. Zwar wird es schon im Jahr 1935, ohne dass die ursprünglich auf drei Bände angelegte Veröffentlichung abgeschlossen ist, eingestellt. Nichtsdestotrotz ist der umfangreiche Materialkorpus, den die Historikerin Nancy Aris in ihrer Arbeit Die Metro als Schriftwerk aufbereitet und ausgewertet hat, eine ideale Veranschaulichung dessen, wie nicht nur breitenwirksam ein Image des neuen Verkehrsmittels produziert wird. Es lässt sich daran auch ablesen, wie gleichzeitig mit dem Image der Verkehrstechnik eine bestimmte Ideologie transportiert und implementiert werden soll. Was in den 1930er Jahren in der Sowjetunion betrieben wird, kann man als – natürlich radikalere, weil verordnete – Variation dessen verstehen, was für die inframedialen Zusammenhänge von Literatur und Nahverkehr bisher herausgearbeitet worden ist: Dass sich nicht nur die medialen Bedingungen des Verkehrs in die Inhalte und Formen der Texte einschreiben, sondern dass immer auch die Texte selbst als Katalysatoren wirken, die bestimmte Vorstellungs- oder Wahrnehmungsweisen des Verkehrssystems in seinen funktionalen und materialen Ausformungen forcieren oder auch initiieren können. Die Texte können dabei im Sinne einer Gewöhnung wirken. Genauso können sie als Attraktionsverstärker fungieren. Gemeinsam ist diesen Wirkungen, dass sie mit der Wertung, die den entworfenen Bildern jeweils inhärent ist, eine bestimmte Position innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses einnehmen: Was sich hier natürlich deutlich in den Kontext kommunistischer Propaganda einordnen lässt, kann man aber auch schon mit Blick auf die literarischen Darstellungen und die daran gekoppelten Wahrnehmungen des Nahverkehrs feststellen. So lassen sich die zahlreichen Erstarrungs- und Vereisungsmetaphern, die auf die materialen und funktionalen Zusammenhänge des Nahverkehrs appliziert werden, nicht nur in einen technikkritischen Diskurs einordnen. In ihnen äußert sich auch ein grundsätzliches Missbehagen an den politischen und sozialen Verhältnissen, die mit der Wende zum 20. Jahrhundert nicht nur zunehmend an Komplexität gewinnen, sondern vor allem mit verwaltungstechnischem und bürokratischem Aufwand einhergehen, der in seinen Mechanismen immer weniger durchschaubar wird. Der Plan für das Projekt Istorija moskovskogo metro wird mehrfach modifiziert. Das ursprüngliche Vorhaben etwa, den ersten Band des Werkes als Anthologie bekannter Schriftsteller erscheinen zu lassen, wird verworfen. Stattdessen konzentriert
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man sich auf drei andere Textgruppen: Eigenhändig von den Metroarbeitern verfasste Originaltexte, stenographierte Befragungen und auf der Grundlage dieses Rohmaterials von vertragsgebundenen Autoren verfassten Texte.104 Dass all diese Texte einer staatlich gesteuerten Kontrolle und Bearbeitung unterliegen, macht die Besonderheit der Herausbildung des zeitgenössischen Bildkomplexes Moskauer Metro aus. Genauso wie die Tatsache, dass die Texte nicht innerhalb eines mehr oder weniger kontigenten Rahmens entstehen, sondern dass die Textproduktion selbst nach den Prinzipien sozialistisch ideologischer Planung erfolgt. Aris zitiert in diesem Zusammenhang ein Dokument, das detaillierte Anweisungen für die Animations- und Organisationsarbeit eines so genannten „Postens“ enthält: „Ungefährer Plan für die Arbeit eines Postens 1. Wirf in der Parteiorganisation, im Kosmopol, im Komitee des Schachtes und des Streckenabschnitts die Frage über die Aufgaben und Methoden der Schaffung der ‚Geschichte der Metro‘ auf und sichere dir die volle Unterstützung der Angesprochenen. 2. Informiere mit ausgesuchten Genossen und Parteiorganisatoren usw. alle Schichtkollektive und merke dir all diejenigen vor, die Interesse haben, praktisch an der Geschichte der Metro mitzuarbeiten. […] 4. Organisiere einen breiten Abend zur Geschichte der Metro, zu dem du Schriftsteller einlädst. […] 6. Veranlasse, dass zwischen den Posten und einzelnen Genossen die Methode des sozialistischen Wettbewerbs um die ordentliche Führung der Tagebücher, um den Besuch von Versammlungen und Abenden der Geschichte der Metro, um das Lesen von Literatur genutzt wird. 7. Sorge dafür, dass die Arbeit des Postens in aller Breite publik gemacht wird: drucke Plakate, richte eine Ecke zur Geschichte der Metro ein, fertige eine Wandzeitung an und stelle eine spezielle Bibliothek zusammen. 8. Versammle alle zehn Tage diejenigen um dich, die an der Geschichte der Metro arbeiten, um ihre Arbeiten zu kontrollieren, um die Tagebücher vorzulesen und zu diskutieren. 9. Schicke diejenigen, die eine zusätzliche Beratung brauchen in die Hauptredaktion der Geschichte der Metro. […].“105
104 Aris, Nancy: Die Metro als Schriftwerk. Geschichtsproduktion und industrielles Schreiben im Stalinismus, S. 26. In ihrer dichten Quellenanalyse kann man die einzelnen Stufen und Veränderungen des Projekts nachlesen, die im Detail für diesen Zusammenhang nicht wesentlich sind.
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Vermittels solcher und ähnlicher Richtlinien wird versucht, die mediale Basis der Texte im Vorhinein möglichst genau zu definieren, so dass die Tendenz der Darstellungen weitestgehend festgelegt ist. Hinzu kommt die umfassende redaktionelle Bearbeitung der Texte wie auch der Notate, die aus den Gesprächen mit den Metroarbeitern erstellt worden sind. Aris stellt in ihrer Untersuchung in exemplarischen Einzelanalysen die Notate der Befragungen der Metroarbeiter den Erzählungen gegenüber, die im Redaktionsprozess aus diesen Interviews entstanden sind. Deutlich wird dabei immer wieder, dass redaktionelle Arbeit vor allem darin bestand, die Texte über den Metrobau zu Modellerzählungen von Übergangs- bzw. Initiationsriten zu machen, in denen sich im Kleinen vollzieht, was für die Gesellschaft als ganzer gelten soll: die Kollektivierung und damit einhergehende Erhebung des Einzelnen. 106 Am Beispiel der Bearbeitungen der Befragungen einer jungen Arbeiterin zeigt Aris, wie durch auf den ersten Blick scheinbar unspektakuläre Eingriffe der Text in seinen Extremen radikalisiert wird, so dass man es schließlich mit einer Erzählung zu tun hat, in der das sinnlose, unfähige Subjekt durch die Teilnahme am Bau der Metro ein Aufgehobensein im sozialistischen Kollektiv erfährt, das mit der Veredlung des Einzelnen einhergeht. Hier zunächst das unveränderte Notat der Befragung – dem natürlich schon (man denke an die Instruktion der Arbeiter durch die Posten) eine unübersehbare Tendenz eigen ist: „Im Jahre 1928 bin ich ins Werk „Roter Recke“ gekommen, wo man mich in den Komsomol hineingezogen hat. Aber ich ging ungern in den Komsomol, weil ich dachte, dass ich nicht in der Lage bin, dort zu sein, weil ich politisch nicht gebildet war. Man hat mich in den Komsomol aufgenommen und mir sofort gesellschaftliche Arbeit gegeben. 1933, im Urlaub, hab ich in der ‚Komsomol’ka‘ gelesen, dass gerade die Anwerbung der 10000 Komsomolzen zur Metrobaustelle läuft. Ich konnte kaum das Ende des Urlaubs abwarten, um ins Komitee zu gehen und dort um die Erlaubnis zu bitten, bei der Metro anzufangen.“107
Nach der Bearbeitung liest sich diese Passage folgendermaßen: „[…] danach kam ich ins Werk ‚Roter Recke‘. Dort begann man, mich in den Komsomol hinein zu ziehen. Aber ich hatte Angst: ich bin nicht in der Lage, dort zu sein. Politisch bin ich eine vollkommen dumme Gans und überhaupt bin ich zu nichts fähig. Aber man hat mich
105 Dokument 3, GARF, f. 7952, op. 7, d. 219, I.5, 5ob., in: Aris, Nancy: Die Metro als Schriftwerk. Geschichtsproduktion und industrielles Schreiben im Stalinismus, S. 315. 106 Ebd., S. 224. 107 d. 312, I.134f., in: Ebd., S. 224f.
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überredet. Ich wollte sehr gern Komsomolzin werden. Es war schwer für mich, zu nichts zu gebrauchen zu sein und das ganze Leben lang ein bedauernswerter Nichtsnutz zu bleiben. Ich entschloss mich und trat in den Komsomol ein. Dort gab man mir verschiedene Verpflichtungen. Zuerst leichte. Ich kam mit ihnen klar. Dann begannen sie, mir ernsthaftere Arbeit zu übertragen. Und auch hier habe ich nicht versagt. Immer weiter, immer mehr – und ich wurde Zellensekretär. Aber dennoch schien es mir so, dass ich für die echte, große Sache unfähig bin. Und während des Urlaubs las ich in der ‚Komsomol’skaja Prada‘, dass gerade die Anwerbung von 10000 Komsomolzen zur Metrobaustelle läuft. Da ist es, dachte ich, die echte, große Sache. Ich konnte das Ende des Urlaubs kaum abwarten.“108
Allein diese kurze Passage mag zeigen, dass in der Bearbeitung das Motiv der Wandlung des Einzelnen durch den Metrobau – der Weg vom Nichtsnutz zum Teilhaber an der echten, großen Sache – sehr viel mehr als im Original akzentuiert worden ist. Die wiederholten Selbstzweifel werden genauso wie die Formulierung des „Sich-Unfähig-Fühlens“ durch die Redaktion eingefügt, so dass das initiatorische Moment durch die Metro nachgerade wunderähnliche Züge erhält. Eingefügt wird ebenfalls allererst die Rede von der Metro als der „echten, großen Sache“ – durch die sie zum Sinnbild des Kommunismus wird. Wie Aris herausgearbeitet hat, werden auch die folgenden Abschnitte der Erzählung durch die Wiederholung der Unfähigkeitsmetapher bestimmt. Hinzu kommt das Einfügen „zwei[er] zentrale[r] Mythologeme des Metrodiskurses“109. Zum einen das Mythologem, „dass sich die Sowjetunion gegen die feindliche internationale Staatengemeinschaft durchzusetzen hat und der Metrobau eine Möglichkeit ist, Überlegenheit zu demonstrieren.“ Zum anderen wird in der Erzählung „die Vorstellung von der besten Metro der Welt, die das Transportmittel ideologisch und ästhetisch überhöhte, aufgegriffen.“ Die junge Arbeiterin Zanegina ist „Teil des Wir, das entgegen der ausländischen Erwartungen die beste Metro der Welt baut.“110 Was man in Aris’ Studie in seiner ganzen Komplexität nachlesen kann, was aber auch schon an diesem kurzen Beispieltext deutlich geworden sein sollte, ist das Verfahren, durch das Texten ein Mythos bzw. einer Verkehrsinfrastruktur ein Image eingeschrieben wird. Sieht man sich allerdings die Vorstellungen und Bilder an, die neben diesen offiziell lancierten noch kursieren, dann wird auch klar: Die – ob nun bewusst oder unbewusst betriebene – Produktion von Images ist nur die eine Seite. Denn das unterirdische Verkehrssystem wird aufgrund seiner medialen Dispositionierung immer auch selbst einen Pool von Bildern und Vorstellungen
108 Ebd., S. 225. 109 Ebd., S. 227. 110 Ebd.
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hervorbringen, der sich nicht für einen ideologischen Diskurs instrumentalisieren lässt. So dauert es nicht lange, bis in Russland die urbane Mythe von einem unterirdischen Kreml umgeht, der zufolge sich hinter den offiziellen Tunneln der Metro ein geheimes Netz von Verbindungen befindet. Ähnlich wie in den dreißiger Jahren von der nationalsozialistischen Propaganda in Deutschland lanciert, entstehen in Russland ebenfalls jene Verschwörungstheorien, denen zufolge es sich bei der Metro um ein heimliches Bauwerk eines dämonisierten Judentums handelt. Die Unterminierung der Metropolen gilt als der erste Schritt zur kommenden jüdischen Weltherrschaft. 111 Die unterirdische Infrastruktur ist insofern auch in Russland nicht reines Glücksversprechen. Auch hier wird sie zu einem Träger von Ambivalenzen.
6. „S EINESGLEICHEN GESCHIEHT ODER WARUM ERFINDET MAN NICHT G ESCHICHTE ?“ D AS N AHVERKEHRSPARADIGMA IN R OBERT M USILS D ER M ANN OHNE E IGENSCHAFTEN In diesem dritten Teil der Untersuchung, beginnend mit Kracauers Feuilleton Die Unterführung bis hin zu den Texten über die Moskauer Metro, ist herausgearbeitet worden, wie der Nahverkehr einerseits bewusst als Medium der Kulturanalyse eingesetzt wird, indem aus seinen funktionellen und materialen Ausformungen auf die gesamtgesellschaftliche und -kulturelle Verfassung zurück geschlossen wird. Deutlich geworden ist, dass dieses Verfahren überwiegend im Modus einer Kritik operiert, die sich an die traditionellen Argumente einer Technikkritik anschließt, die das Technisch-Funktionale grundsätzlich aus dem Prozess der Kultur ausgeschlossen haben will. Zum anderen wurden zeitgenössische Versuche zur Öffnung dieses engen Kulturbegriffs beobachtet. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Nahverkehrsinfrastruktur nicht nur als notwendigen Teil innerhalb der gesellschaftlichen Konstellation der Moderne akzeptieren, sondern dass sie die technischen Neuerungen als ein kulturelles Potential zu nutzen versuchen, das für das Individuum auf psychischer wie auf physischer Ebene Entwicklungspotentiale bzw. momentane Erlebnisqualitäten mit sich bringt. Gemeinsam ist diesen auf intentionaler Ebene konträren Positionen zweierlei. Zum einen kann man sie selbst als Bestätigungen für die mediale Strahlkraft des Nahverkehrs lesen. Auch diejenigen Texte, die sich in den Dienst einer kritischen Gegenwartsanalyse stellen, beweisen durch die literarische Bearbeitung des Verkehrs selbst, dass er Eingang in den kulturellen, sogar ästhetischen Zusammenhang
111 Vgl. Groys, Boris: „U-Bahn als U-topie“, in: Kursbuch 112. Städte bauen, S. 8f. und Roskothen, Johannes: Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne, S. 188.
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gefunden hat. Gemeinsam ist den Texten zudem noch etwas anderes: Jeder von ihnen ist Teil eines Prozesses der Imagebildung, der auf die weitere Ausprägung der medialen Wirkung des Nahverkehrs und seiner Mechanismen Einfluss nimmt. Das kann gleichermaßen unbewusst oder aber intendiert geschehen. Die extremste Variante einer solchen bewussten Imagebildung durch Textproduktion ist die im vorangegangenen Abschnitt vorgestellte staatlich organisierte Geschichtsschreibung, die den Bau der Moskauer Metro flankiert. Ein Autor, in dessen Texten all jene der hier notierten Aspekte des inframedialen Wirkungszusammenhangs zu finden sind, ist Robert Musil. Ihm soll deshalb auf den folgenden Seiten gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt werden, nicht zuletzt auch deshalb, weil man die formalen Reflexionen, die sich bei Musil an die inhaltliche Auseinandersetzung anschließen, als Übergang zum vierten und abschließenden Teil dieser Untersuchung lesen kann. Die Affinität und gleichzeitige Ambivalenz einem weiten Kulturbegriff gegenüber, der das Technische und das Geistige zusammen denken will, ist Musil schon qua Biographie mitgegeben. Musils Vater ist Maschinenbauingenieur und Professor an der Technischen Hochschule Brünn. Musil selbst studiert nach einer technischnaturwissenschaftlichen Kadettenlaufbahn in der österreichisch-ungarischen Armee ebendort Maschinenbau, absolviert 1901 sein Examen als Ingenieur und ist daraufhin zwei Jahre lang als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Laboratorium der Technischen Hochschule Stuttgart angestellt. Dass ihm die in ihrem empirischen Horizont beschränkte naturwissenschaftliche Perspektive letztendlich zu kurz greift, zeigt das Studium der Philosophie, Experimentalpsychologie und Mathematik, das er im Anschluss an die Anfänge seiner wissenschaftlich-technischen Laufbahn an der Humboldt-Universität zu Berlin aufnimmt. Musil promoviert – in einem eher mühseligen Verfahren 112 – über den Sinnespsychologen und Philosophen Ernst Mach mit einer Studie über die erkenntnistheoretische Grundlage der Physik. Von Mach, der stets dafür plädierte, die Trennung zwischen dem traditionellen humanistischen Kulturbegriff und den Naturwissenschaften aufzuheben, stammt ein – ob seiner etwas bemühten literarischen Veranschaulichung natürlich etwas naiv anmutendes – Zitat, das sich wie ein ästhetischinhaltliches Programm auch über diejenigen Texte setzen ließe, die Musil in den folgenden Jahren vorlegen wird: Mach äußert die Überzeugung, „daß beide Wissenschaften nur Stücke derselben Wissenschaft sind, die an verschiedenen Enden begonnen haben. Wenn auch beide Enden noch als Montecchi und Capuletti sich geberden, wenn sogar deren Diener aufeinander loshauen, so glaube ich, sie tun nur so spröde.
112 Vgl. Corino. Karl: Robert Musil, S. 309ff.
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Hier ist doch ein Romeo und dort eine Julie, welche hoffentlich mit minder tragischem Ausgang die beiden Häuser vereinigen werden.“113
Bei Musil heißt es dementsprechend mit Blick auf die literarische Produktion: „Die Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild kann der Literatur nicht erspart bleiben“, und weiter: „(E)in gut Teil ihrer heutigen Gegenstandslosigkeit geht darauf zurück, daß sie sich dabei verspätet hat.“114 Ohne Zweifel ist Musil ein Autor, der so konsequent wie kaum ein anderer dieses Programm eines erweiterten Kulturbegriffs umzusetzen versucht hat. Allen voran in seinem Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften, in dem die Wirkung des Nahverkehrs als Medium einer kritischen Kulturanalyse und zugleich als Katalysator einer Erhebung des Einzelnen über die engen Grenzen, die durch diese Kultur abgesteckt sind, von konstitutiver Bedeutung ist. Das vielfach beschriebene Mitund Gegeneinander von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn, das Musil in seinem Roman entwirft, findet im Nahverkehr ein ebenso konkretes wie theoretisches Denkmodell, an dem dieser Dualismus durchgespielt werden kann. Musils Verhältnis zur Technik wird dabei nie in eines der rückhaltlosen Affirmation umschlagen. Vielmehr ist es ein Prozess der probeweisen Aneignung und Auslotung der Potentiale der urbanen Techniken, mit dem Ziel, aus den Bedingungen der Zeit einen Mehrwert ziehen zu können, der ihren vordergründigen Wirkungen dem ersten Anschein nach zu widersprechen scheint. 115 Musils Darstellungen der Wirkungen der technisch-infrastrukturellen Erschließung des urbanen Lebens, wie man sie im Mann ohne Eigenschaften findet, fügen sich zunächst einmal in die Bildzusammenhänge ein, die im dritten Kapitel dieser Arbeit als Variationen eines aus der Kolonisierung der Lebenswelt unwiderruflich hervorgehendes Erstarrungsszenarios dargestellt worden sind. Die „soziale Zwangsvorstellung“ einer „überamerikanischen Stadt“116, wie Musil es nennt, schildert er relativ zu Anfang seines Romans in aller Ausführlichkeit:
113 Mach, Ernst: Populär-Wissenschaftliche Vorlesungen, S. 98. 114 Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 1183. 115 Der Mann ohne Eigenschaften ist einer der wenigen in dieser Untersuchung behandelten Texte, der nicht ausdrücklich in Berlin angesiedelt ist. Das „durchgestrichene Wien“ allerdings, das den Hintergrund von Musils Roman bildet, ist von konkreten Örtlichkeiten so weit abstrahiert, dass es als urbaner Raum austauschbar ist. Hinzu kommt, dass Musil große Teile des Romans in Berlin geschrieben oder zumindest konzipiert hat, so dass sein Einfluss sicher als ähnlich erheblich veranschlagt werden kann. 116 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 31 Karl Corino weißt darauf hin, dass Musils Inspiration für seine Schilderung der „überamerikanischen Stadt“ aus Fritz Langs Film Metropolis stammt, der 1927 zwar zu einem Misserfolg in den Kinos wird,
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„Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstadt durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andere; […].“117
So wie die infrastrukturelle Organisation auf das gesamte Handeln übergreift, wird sie auch unwiderruflich seine Form bestimmen: „(M)an springt an einem Knotenpunkt von einem Bewegungsapparat zum anderen, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hingerissen, spricht hastig in Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus miteinander ein paar Worte.“118
Was in Anlehnung an Giedion die „Herrschaft der Mechanisierung“119 genannt worden ist, wird auch bei Musil als das umfassende Diktat der infrastrukturellen Einrichtungen herausgestellt – mithin die Überformung des Lebens, das sich zunehmend dem Charakter der Technik angleichen muss: „Fragen und Antworten klingen ineinander wie Maschinenglieder, jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, und wieder anderswo stehen Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet. Spannung und Abspannung, Tätigkeit und Liebe werden zeitlich genau voneinander getrennt und nach gründlicher Laboratoriumserfahrung ausgewogen.“120
Dieses Panoptikum sozialer Zwänge und das Objektwerden des Einzelnen innerhalb der technisch geregelten Mechanismen fasst Musil in der darauf folgenden Passage aufschlussreicher Weise im Bild der beweglichen Wände, die den modernern Menschen umschließen und in denen er, zur Passivität gezwungen, einem ständigen Transport übergeben ist: „Die Sache hat uns in der Hand. Man fährt Tag und Nacht in ihr […] und das Unheimliche ist bloß, daß die Wände fahren, ohne daß man es merkt […].“121
der aber in seinen futuristischen Stadtentwürfen ganz offensichtlich einigen Eindruck auf Musil macht. 117 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 31. 118 Ebd. 119 Giedion, Siegfried: Die Herrschaft der Mechanisierung. 120 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 31. 121 Ebd., S. 32.
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Unheimlich ist an diesem „Zug der Zeit“122 aber nicht die Tatsache des Fahrens bzw. Gefahrenwerdens allein. Wesentlich ist vor allem, dass die Wände „ihre Schienen vorauswerfen, wie lange, tastend gekrümmte Fäden, ohne daß man selbst weiß wohin.“ Die tastend gekrümmten Fäden stellen umgehend die assoziative Verbindung zum Spinnennetz her, zu einer Vorstellung von Vernetzung, in der sich das Umfassende der infrastrukturellen Organisation der Umwelt ausdrückt, dem der Einzelne angepasst wird und dessen Omnipräsenz er sich nicht entziehen kann. Ganz im Sinne dieser umfassend vernetzten „überamerikanischen Stadt“ und ganz im Sinne vom Zug der Zeit, der seine Schienen voraus wirft, wird Musils atypischer Held Ulrich seine Fahrten in der Straßenbahn als konkreten Ausdruck einer grundsätzlichen sozialen Zweckrationalität erleben, die der Fahrende auf reflexiver Ebene zugleich in einem größeren geschichtstheoretischen Zusammenhang überführt. „Aktiven Passivismus“ nennt Ulrich, der sich nach verschiedenen, aus mangelnder Befriedigung abgebrochenen Karriereanläufen für ein Jahr der Philosophie des expliziten Nichtstuns verschrieben hat, sein neues Lebenskonzept. Eine Straßenbahn, die ihn von einem Besuch außerhalb zurück in die Stadt fahren soll, wird zum geeigneten Rahmen, dieses Konzept zu reflektieren. „Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte?“123 ist die Passage überschrieben und impliziert in dieser Verschmelzung zweier offensichtlicher Antinomien eben jenen ambivalenten Charakter, den bereits die Formulierung des aktiven Passivismus birgt. Dieses Verständnis von Geschichte, das vermittels der Straßenbahnfahrt diskursiviert und veranschaulicht wird, ist bedingt durch zwei dualistische Impulse. Der Möglichkeit der kreativ-souveränen Konstitution geschichtsträchtigen Geschehens durch das Subjekt – dem Erfinden von Geschichte – zum einen. Dem gegenüber steht die lähmende Erfahrung des Seinesgleichen, die Einsicht mithin in eine nur vorgebliche geschichtliche Entwicklung, die sich tatsächlich aber als nicht mehr als eine Geschehnisspirale der in nietzscheanischer Tradition stehenden ewigen Wiederkehr des Immergleichen, als ein in seiner Bedeutungsgenerierung stagnierender Prozess des Identischen offenbart. Die Fahrt mit der Straßenbahn wird für Ulrich zunächst einmal zum sinnlichen Erlebnis dieser passiven Dispositionierung des Individuums im historischen Gefüge. Die Stahlkonstruktion des im Gleissystem geführten Waggons wird zur konkreten Veranschaulichung der geronnenen Verbindung einer „Welt aus Eigenschaften ohne Mann“,124 jenem überpersönlichen Systemzusammenhang universaler Zweckrationalität: „Die leuchtende, schaukelnde Schachtel, in der er fuhr, kam ihm wie
122 Ebd. 123 Ebd. 124 Ebd., S. 150.
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eine Maschine vor, in der einige hundert Kilogramm Menschen hin und her geschüttelt wurden, um Zukunft aus ihnen zu machen.“125 Innerhalb des quasitechnischen Verarbeitungsprozesses Geschichte scheinen die Menschen reduziert zu werden auf ihre Funktion als Rohstofflieferanten für die in normierten Bahnen ablaufende Produktion von Zeitaltern. Dieses „Der Geschichte zum Stoff Dienen“ verdeutlicht sich Ulrich nie so klar wie in dem Moment, in dem er sich von der Straßenbahn durch die Stadt transportieren lässt, als „planlos ergebene(s), eigentlich menschenunwürdiges Mitmachen der Jahrhunderte; […].“126 Wenn die Straßenbahnfahrt zum Indikator eines gesellschaftlichen Grundverhältnisses wird, in dem die auf ihren vermeintlichen Warencharakter zurückgeworfenen Menschen zu Materiallieferanten der Geschichtsschreibungsmaschinerie werden, dann etabliert sich – nahezu zeitgleich mit dem Nahverkehr – ein anderes Medium, das in ganz ähnlicher Weise eine ursprüngliche Kontingenz mit einem Prozess der Rationalisierung und Nivellierung unterlegt. Die Rede ist vom Informationsverarbeitungssystem Zeitung, das die inkommensurablen Geschehnisgehalte in stereotype Formeln bannt, „die den fließend vielgestaltigen Aspekten des Lebens unangemessen erscheinen.“127 Angesichts dieser medialen Kohärenz von Infrastruktur- und Pressenetz ist es kein Zufall, dass die Straßenbahn zu dem Ort wird, an dem – jenseits der fast schon ikonographischen Bedeutung, die der Zeitung lesende Passagier im öffentlichen Verkehr zu dieser Zeit bald innehat – immer wieder Schlagzeilen oder aber die zahlreichen Werbeinserate in den Blick geraten. Die Straßenbahnfahrt, auf der Ulrich sein Konzept des „aktiven Passivismus“ mit seinem Geschichtsverständnis zu-
125 Ebd., S. 360. Alfred Döblin offenbart sich die Fahrt in den öffentlichen Verkehrsmitteln ebenfalls als Bild einer Geschichte, die nur mehr noch als Beförderung statistisch katalogisierter Humansegmente gelten kann: „Sie sind so gleichmäßig wie die, die im Autobus, in den Elektrischen sitzen. Die sitzen alle in verschiedenen Haltungen da und machen so das außen angeschriebene Gewicht des Wagens schwerer. [...] da fahren sie nun mit ihrem Gewicht von einem Zentner bis zwei Zentner, in ihren Kleidern, mit Taschen, Paketen, Schüsseln, Hüten, künstlichen Gebissen, Bruchbändern über den Alexanderplatz [...]. Sie lesen Zeitungen verschiedener Richtungen, bewahren vermittels ihres Ohrenlabyrinths das Gleichgewicht, nehmen Sauerstoff auf, dösen sich an, haben Schmerzen, haben keine Schmerzen, denken, denken nicht, sind glücklich, sind unglücklich, sind weder glücklich noch unglücklich.“ Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, S. 182f. 126 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 360. 127 Schütz, Erhard: „‚Du brauchst bloß in die Zeitung hineinzusehen‘. Der große Roman im ‚feuilletonistischen Zeitalter‘: Robert Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ im Kontext“, in: Zeitschrift für Germanistik, 2/1997, S. 281.
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sammen denkt, wird begleitet durch eine regelrechte Akkumulation von Schlagzeilen: „War eigentlich Balkankrieg oder nicht? Irgendeine Intervention fand wohl statt; […]. Der Höhenflugrekord war wieder gebrochen; […]. Ein Negerboxer hatte den weißen Champion geschlagen und die Weltmeisterschaft erobert; Johnson hieß er. Der Präsident von Frankreich fuhr nach Rußland; man sprach von der Gefährdung des Weltfriedens. Ein neuentdeckter Tenor verdient in Südamerika Summen, die selbst in Nordamerika noch nie dagewesen waren. Ein fürchterliches Erdbeben hatte Japan heimgesucht; […].“128
Die Reduzierung von Weltgeschehen auf Schlagzeilen, wie sie Ulrich während der Straßenbahnfahrt bewusst wird, offenbart einen grundlegenden Verlust an Identifizierbarkeit, dem die Ereignisse unterliegen. 129 So scheinen sie sich entweder in Abstraktheit und Unsagbarkeit der Betrachtung zu widersetzen. Oder aber sie werden durch die rationalisierte und standardisierte Form der begrifflichen Sprache und namentlich durch die sie auf ihren vermeintlich faktischen Gehalt beschränkenden Zeitungsinformationen ihrer qualitativen Besonderheiten beraubt.130 Ebenso eintö-
128 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 359. 129 „Welche sonderbare Angelegenheit ist doch die Geschichte!“ heißt es über diese Identifizierbarkeit der Ereignisse: „Es ließ sich mit Sicherheit von dem und jenem Geschehen behaupten, daß es seinen Platz in ihr inzwischen schon gefunden hatte oder bestimmt noch finden werde; aber ob dieses Geschehnis überhaupt stattgefunden hatte, das war nicht sicher. Denn zum Stattfinden gehört doch auch, daß etwas in einem bestimmten Jahr und nicht in einem anderen oder gar nicht stattfindet; und es gehört dazu, daß es selbst stattfindet und nicht am Ende bloß etwas ähnliches oder seinesgleichen.“ Ebd., S. 359f. 130 Die Einsicht in die Deklassierung der Zeitungsmeldung zu einem Konsumgut, das seine identitätsstiftenden Qualitätskriterien eingebüßt hat, vermittelt auch die Eingangspassage von Erich Kästners Roman Fabian: „Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes. Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr zusammen. Das Zeug schmeckte nach Zucker.“ Kästner, Erich: Fabian. Die Geschichte eines
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nig und konstant, wie der Wechsel der Signale, die als abstraktes Organisationssystem den Verkehr regeln, ist der Wechsel der Ereignisse, wie er durch die hintereinander geschalteten Zeitungsmeldungen transportiert wird. Die Individualität des Geschehens – des Geschehens im Straßenverkehr und des Geschehens, wie es durch die Zeitung vermittelt wird –, so scheint es, wird durch die Geschwindigkeit der technisierten Zirkulation in einem nivellierenden Datenstrom aufgelöst. 131 Damit ergeht es dem einzelnen Ereignis ebenso wie dem Individuum, das als Teil der technischen Zirkulation der Moderne zu einer statistischen Größe innerhalb der Masse heruntergerechnet wird. Eine Einsicht, die Ulrich in dem Moment mit aller Deutlichkeit vor Augen tritt, als er, am Rand der Straße stehend, die vorbeifahrenden Straßenbahnen beobachtet und sich Gedanken über das Verhältnis von Außenfassade der Waggons und den geistigen Ideengehalten ihrer Konstrukteure macht: „Er sah die Menschen aus- und einsteigen, und sein technisch nicht unerfahrener Blick spielte zerstreut mit den Zusammenhängen von Schmieden und Gießen, geschichtlicher Entwicklung und gegenwärtigem Stand, aus denen die Erfindung dieser rollenden Baracken bestand, deren sie sich bedienten. ‚Zum Schluß kommt dann eine Abordnung der Straßenbahnverwaltung in die Waggonfabrik und entscheidet über die Holzverschalung, den Anstrich, die Polsterung, die Anbringung der Arm- und Handstützen, der Aschenbecher und ähnliches‘, dachte er nebenbei, ‚und gerade diese Kleinigkeiten machen es aus, und der Schwung, mit dem sie über das Trittbrett hineinklettern können, macht für zehntausende Menschen das aus, was sie behalten, das einzige, was für sie von allem Genie übrig bleibt und von ihnen erlebt wird.‘“132
Entsprechend zweckdienlich und genormt wie die Sitzverschalungen, Arm- und Handstützenanbringungen nebst der weiteren Konstruktionsdetails wirken auch die übrigen Fahrgäste der Straßenbahn als – anders als der Müßigfahrer Ulrich – voll-
Moralisten, S. 11 (Hervorhebungen von W.P.). Nicht die katastrophischen Zeitungsmeldungen vermögen eine Reaktion Fabians hervorzurufen, sondern lediglich der gezuckerte Kaffee. 131 Hier trifft sich, was für Wirkungen von Nahverkehr- und Pressenetz gilt, einmal mehr mit der Modernitätstheorie Georg Simmels, der zufolge die ubiquitäre Herrschaft des Geldes sämtliche Entäußerungen der Moderne mit dem Warencharakter belegt. Das umfassende Diktat des Warencharakters bedingt, dass alle qualitativen Identitätskriterien der modernen Welt nur mehr unter dem Aspekt des Wertes betrachtet werden können. Wesentlich ist der Moderne, so Simmel, die „Reduktion auf den Mittelwert des Geldes, die sich die spezifischen Werte des Lebens gefallen lassen müssen“. Simmel, Georg: „Philosophie des Geldes“, in: Gesamtausgabe, Bd. 6, hier S. 332. 132 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 869.
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ständig in den arbeitsteiligen und bürokratisierten Produktionsprozess eingegliederte Subjekte. Angesichts dieser Parameter nimmt es nicht wunder, dass Ulrich die Straßenbahn zunächst als einen sozialen Ort erlebt, in dem es umso unmöglicher scheint, in schöpferisch-essayistischer Reflexion aus den rationalen Denkstrukturen der Gegenwart auszubrechen: „[…] einige Leute fuhren mit ihm der Stadt zu, und er schämte sich ein wenig vor diesen Menschen solcher Gedanken. […] Denn ein Gedanke, der nicht einen praktischen Zweck hat, ist wohl eine nicht sehr anständige heimliche Beschäftigung, […].“133 Nur logisch, dass Ulrichs Konterpart Walter das feste Ordnungsgefüge, das die Straßenbahn vermittelt, im Gegenteil geradezu als eine heilsame Versicherung der Beherrschbarkeit der eigenen Affekte einerseits und eines intakten gesellschaftlichen Rahmens andererseits erlebt. Nach einer Auseinandersetzung mit Clarisse verlässt Walter in dem Gefühl das Haus, einer affektiven Unzurechnungsfähigkeit anheim zu fallen: „Aber schon in der Elektrischen sah das Leben ganz gewöhnlich aus; […].“ Alles andere „waren höchstens ganz flüchtige Tagesschatten auf dem hellen Ordnungszustand der Fahrt mit festem Preis, Haltestellen und warnenden Glockenzeichen, dem sich Walter, nun wieder ruhiger atmend, verwandt fühlte.“134 Die Straßenbahn, eben jene „leuchtende, schaukelnde Schachtel, […] in der einige hundert Kilogramm Menschen hin und her geschüttelt wurden, um Zukunft aus ihnen zu machen“135 ist ein Ort, in dem die für Musils Roman zentrale Erfahrung von Eigenschaftslosigkeit umfassend wird. Das wird von Ulrich zunächst einmal als Mangel erlebt, als fatalistischer Ausdruck des „Mitmachen der Jahrhunderte“, das im Vorgang des Transports und in der materialen Beschaffenheit des Straßenbahnwaggons selbst Gestalt annimmt. Aber gerade in einer Textpassage, in der wiederum Verkehrs- und Pressenetz zusammenkommen, zeigt sich, dass aus der Kombination dieser beiden Motoren einer vermeintlich umfassenden Nivellerierung auch ganz anderes entstehen kann. Während einer Straßenbahnfahrt, die Ulrich mit der einem strikten naturwissenschaftlichen Weltbild verpflichteten Astronomin und ehemaligen Kollegin Dr. Strastil unternimmt – was sich nicht zuletzt in ihrem unsinnlichen Äußeren spiegelt –, schaut Ulrich einem Mitfahrenden über die Schulter und in dessen Lektüre: „(U)nd er las in großen Lettern als Überschrift eines Inserats: ‚die Zeit stellt Fragen, die Zeit gibt Antwort‘.“136 Trotz dieser Referenzlosigkeit – oder auch Eigenschaftslosigkeit – der Zeitungsformeln aber fungieren sie, ebenso wie die Straßenbahnfahrt selbst, als mediale Ba-
133 Ebd., S. 358. 134 Ebd., S. 615f. 135 Ebd., S. 360. 136 Ebd., S. 866.
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sis für Ulrichs Reflexionsprozess: „[…] es mochte sich darunter die Empfehlung einer neuen Schuheinlage befinden oder die eines Vortrags, das kann man heute nicht mehr unterscheiden, aber seine Gedanken sprangen plötzlich in das Geleise, das er brauchte.“137 Diese andere Seite von Musils Technikverständnis zeigt sich unter anderem dann, wenn im Mann ohne Eigenschaften wiederholt ein ganzes Panorama technischer Potentiale entfaltet und emphatisch als individuelle wie universale, quasireligiöse Vollendung gefeiert wird: „Wenn es die Verwirklichung von Urträumen ist, fliegen zu können und mit den Fischen zu reisen, sich unter den Leibern von Bergriesen durchzubohren, mit göttlichen Geschwindigkeiten Botschaften zu senden, das Unsichtbare und Ferne zu sehen und sprechen zu hören, Tote sprechen zu hören, sich in wunderbaren Genesungsschlaf versenken zu lassen, mit lebenden Augen erblicken zu können, wie man zwanzig Jahre nach seinem Tode aussehen wird, in flimmernden Nächten tausend Dinge über und unter dieser Welt zu wissen, die früher niemand gewusst hat, wenn Licht, Wärme, Kraft, Genuß, Bequemlichkeit Urträume der Menschheit sind, – dann ist die heutige Forschung nicht nur Wissenschaft, sondern ein Zauber, eine Zeremonie von höchster Herzens- und Hirnkraft, vor der Gott eine Falte seines Mantels nach der anderen öffnet, eine Religion, deren Dogmatik von der harten, mutigen, beweglichen, messerkühlen und -scharfen Denklehre der Mathematik durchdrungen und getragen wird.“138
Man kann es fast schon ein dialektisches Prinzip nennen, nach dem Musil zunächst die technisch-infrastrukturell erschlossene Stadt als soziales Zwangsszenario beschreibt und sich damit in die Reihe derjenigen stellt, die unter der als KälteParadigma gefassten Perspektive die grundsätzlich lebensfeindliche Dimension der Technik zum Thema ihrer Texte werden lassen. Nach diesem dialektischen Prinzip aber schreibt er dem Technischen gleichzeitig ein utopisches, quasi erlösendes Potential ein. Dieser dialektische Blick grundiert Musils Roman, so dass er im Kern um die Möglichkeit einer Synthese von Geist und Technik kreist, durch die dem Einzelnen aus dem mediokren Zustand des „Seinesgleichen geschieht“ der Schritt auf eine höhere Bewusstseinsstufe gelingen kann. „(I)ch sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!“,139 erklärt Ulrich seiner Schwester Agathe. An anderer Stelle heißt es: „(W)olle man nicht bloß im Traum fliegen, dann müsse man es auf Metallflügeln lernen.“ Vor allem deswegen, um nicht – wie Ika-
137 Ebd. 138 Ebd., S. 39. 139 Ebd., S. 751.
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ros – nach dem Aufstieg unweigerlich abzustürzen. Eingedenk mystischer Dezentrierung, wie sie im Mann ohne Eigenschaften an Clarisse und an dem Frauenmörder Moosbrugger vorgeführt wird, entwickelt Ulrich mit der Verbindung von Mystik und Mathematik, von Geist und Technik, ein Konzept, das geistige Entgrenzungs- und Erhebungszustände in einen Rahmen rationaler Kontrollierbarkeit bannt. Als zeitlich begrenztes Experiment wird der Ausstieg aus den tradierten Denk- und Wahrnehmungsstrukturen damit zu einem Unternehmen, das die grundsätzliche Kohärenz des Subjekts bewahren kann. Diese experimentelle Synthese von Geist und Technik findet in den verschiedenen Straßenbahnfahrten von Musils Protagonisten ihr Erlebnis- und Beschreibungsmodell. Konnte einerseits in der Fahrt mit der Straßenbahn die Erfahrung des „Seinesgleichen geschieht“ für Ulrich konkret werden, dann kann das Verkehrsmittel eben auch zu dem Ort werden, in dem gerade aus dieser extremen Form der Passivität neue Denk- und Erlebnisformen generiert werden. So wie Ulrich im Großen ein Jahr „Urlaub vom Leben“ nimmt, bereitet im Kleinen die Fahrt mit der Straßenbahn die Basis für eine zumindest temporäre Umsetzung des Austritts aus den gewohnten Denk- und Erlebnismustern. Wie dieser Austritt aus den zweckrationalen Zusammenhängen vollzogen und damit das utopische Moment der Technik entfaltet werden kann, soll im Folgenden diskutiert werden. Wenn Ulrich sein philosophisches Lebenskonzepts des „aktiven Passivismus“ als das „Warten eines Gefangenen auf die Gelegenheit des Ausbruchs“140 beschreibt, dann findet sich im Medium des Verkehrs die Umsetzung dieses Prinzips nicht etwa im Verlassen des Straßenbahnwagens wieder, um „den Rest des Weges zu Fuß“141 zurückzulegen, auch wenn Ulrich auf diese Weise einen Teil seiner Fahrten abrupt beendet. Liest man die Formulierung des „Ausbruchs“ im Gesamtzusammenhang des Romans, kommt man nicht umhin, den Beginn des Ersten Weltkrieges, auf den die Gesellschaft Kakaniens unaufhaltsam zusteuert, mit der Rede vom Ausbruch zu verbinden. Auf das Verkehrsszenario übertragen könnte mithin der Unfall dasjenige Moment sein, durch den der Einzelne aus dem technisch geregelten Funktionskreislauf des Immergleichen in eine nicht gekannte physiologische und psychologische Disposition überführt wird – durch eine eigenartige Verschränkung des Wissens um eine latente Todesnähe mit der Empfindung einer Art Auserwähltheit desjenigen, dem in den Massen technisch-rationaler Verkehrsabläufe das Ungeplante, Irreguläre widerfährt. Wirft man einen Blick auf Musils Erzählung Die Amsel, die 1936 veröffentlicht wird, dann scheint sich diese Deutung zu bestätigen. Die als Fliegerfeil-Episode
140 Ebd., S. 356. 141 Ebd., S. 360.
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bekannt gewordene Passage dieser Erzählung beschreibt eine Korrelation von technischer Statistik und Zufall (mit tödlichen Folgen), die dem Einzelnen als Teilnehmer eines Massenkrieges das, zweifellos ambivalente, Moment des Besonderen zuteil werden lässt. Über den Soldaten, der auf die Angriffe feindlicher Flugzeuge wartet, die aus der Höhe spitze Eisenstäbe, die „Fliegerpfeile“ abwerfen, die einen Menschen von Kopf bis zu den Füßen durchbohren können, wenn sie auch äußerst selten treffen, heißt es: „Es ist, als ob die Angst vor dem Ende, die offenbar immer wie ein Stein auf dem Menschen liegt, weggewälzt worden wäre, und nun blüht in der unbestimmten Nähe des Todes eine sonderbare innere Freiheit. […] Nicht wie eine schreckende Ahnung, sondern wie ein nie erwartetes Glück.“142
Als anschwellende, quasi-religiöse Erlösungsvorstellung beschreibt Musil die Augenblicke vor dem zerstörerischen Einbruch des Technischen: „[…] alles, was ich empfand, war in die Zukunft gerichtet; und ich muss einfach sagen, ich war sicher, in der nächsten Minute Gottes Nähe in der Nähe meines Körpers zu fühlen.“143 Dass der Glaube an diese Kräfte genauso wie der Glaube an eine vermeintliche Auserwähltheit trügerisch ist, zeigen allerdings schon die ersten Seiten von Musils Roman. Die Regelmäßigkeit der Verkehrsströme, in die Musil sein Anfangspanorama münden lässt, wird durch das Unwahrscheinliche, Querschlagende unterbrochen – in diesem Fall nicht von einer Straßenbahn, sondern von einem Lastwagen, der einen Passanten überfährt: Etwas war „aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Borsteinschwelle, gestrandet dastand.“144 Für das betroffene Individuum bedeutet dieser Zufall in der Statistik, das Durchbrechen der technischen Ordnung aber keine Auserwähltheit im eigentlichen Sinne, wie in der Fliegerpfeilepisode beschrieben, sondern ganz schlicht und profan den Tod. Der Technik kommt hier allenfalls noch die Aufgabe zu, diesen Tod zu erklären und auf diese Weise in einen rationalen Zusammenhang einzubetten: „Der Herr sagte nach einigem Schweigen […]: ‚Diese schweren Kraftwagen […] haben einen zu langen Bremsweg.‘ Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert […]; es genügte ihr, daß da-
142 Musil, Robert: „Die Amsel“, in: Nachlass zu Lebzeiten, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 555f. 143 Ebd. 144 Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 10.
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mit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging.“145
Klar wird schon auf diesen ersten Seiten des Romans, dass die Kombination von Technik, Unfall und Individuum nicht den ersehnten anderen Zustand erzeugen kann. Nicht ohne Grund – und nicht ohne die Musilsche Ironie, nach der man das Ganze natürlich auch andersherum lesen kann, heißt dieses erste Kapitel vom Mann ohne Eigenschaften ja auch: „Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht.“ Auf ästhetischer Ebene allerdings fungiert der Unfall durchaus sinnstiftend, indem er das Geschehen überhaupt in Gang setzt, indem er als das irritierende, unerwartete Moment den reibungslosen Ablauf des immergleichen Verkehrsgeschehens unterbricht und eine Besonderheit, einen Augenblick des Irrationalen innerhalb der rationalen Vollzüge herstellt, die das Erzählen anregt oder aber sogar allererst zwischen sie kommen lässt. – Und deshalb geht aus dem Unfall natürlich sehr wohl etwas hervor: der Roman. Mit Blick auf das Individuum aber sei noch einmal resümiert: Als individueller Ausbruch aus dem „Seinesgleichen“ im und durch das Medium Nahverkehr ist nicht das Verlassen des Wagens zu verstehen, das zu Fuß gehen, das vielmehr als ein Abbruch des Experiments des „anderen Zustands“ gelesen werden muss. Das „Warten des Gefangenen auf den Ausbruch“, Ulrichs Bild für seine Vorstellung des „aktiven Passivismus“, ist aber eben auch nicht der Unfall. Vielmehr muss zwischen diesen beiden Polen, zwischen Aussteigen und Unfall, das Moment liegen, vermittels dessen die Technik eine erkenntnissteigernde und bewusstseinserweiterte Wirkung entfalten kann. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, dass es bei Musil nicht die unmittelbare Körperlichkeit ist, um die es beim Unfall geht. Wesentlich für die Wechselwirkung von Technik und Mensch ist vielmehr das Moment der Wahrnehmung bzw. das Moment der Auflösung ihrer tradierten Strukturen. Relativ zu Anfang des Romans steht die – für die Moderne typische – erkenntniskritische Krise, die sich als Krise der Wahrnehmung äußert: Musils Protagonist Ulrich wird als Beobachter „hinter einem Fenster“ eingeführt, der versucht, die vorbeiziehenden Verkehrsströme vermittels einer Taschenuhr zu zählen und zu messen, mit der Absicht, ihre vermeintliche Sinnhaftigkeit extrapolieren zu können. Schnell allerdings erkennt Ulrich, dass sein Unternehmen zu nichts führt und bricht das Ganze ab. Das Experiment ist als bewusste Anlehnung an die bekannte Kant-Krise Kleists formuliert, jener vom Dichter als erschütternd formulierten Einsicht, wonach der Mensch niemals Gewissheit über die Existenz der Dinge an sich haben könne, da seine Anschauung allein von der Beschaffenheit seiner Erkenntnisorgane abhin-
145 Ebd., S. 11.
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ge.146 Diesem fundamentalen Zweifel, dem Kleist im Bild der grünen Gläser Ausdruck verleiht, die die Menschen – ohne sich ihrer bewusst zu sein – vor Augen haben, findet sich in der Perspektive Ulrichs wieder, in seinem Blick durch Fenster und „zartgrünen Filter der Gartenluft“147. Im Gegensatz zu seinem gut ein Jahrhundert älteren Vorläufer reagiert Ulrich nicht mit Erschütterung auf diesen Verlust der Position der souveränen Beobachters. Im Gegenteil. Er nimmt es an dieser Stelle nicht nur lachend zur Kenntnis, sondern wird die Überforderung bzw. Irritation des Sehens während seinen Fahrten mit der Straßenbahn sogar in experimenteller Absicht erproben. „Er rückte sich zurecht und betrachtete sein Gesicht in der seinem Sitz gegenüber befindlichen Glasscheibe, um sich abzulenken. Aber da schwebte nun sein Kopf in dem flüssigen Glas nach einer Weile wunderbar eindringlich zwischen Innen und Außen und verlangte nach irgendeiner Ergänzung.“148
Das Zusammenwirken des optischen Geräts – in diesem Falle des einfachen Wagenfensters, das unterschiedliche Realitätsschichten übereinander blendet – und des durch die Geschwindigkeit des technisierten Apparats hervorgerufenen Wechsels der wahrgenommenen Bildmomente bedingt die Auflösung tradierter Realitätsstrukturen, indem sich nicht nur die Relativität des Beobachterstandpunkts offenbart, sondern auch die als fest angenommenen Ich-Grenzen in der flüchtig-fragilen Spiegelung durch das Wagenfenster ihre Durchlässigkeit preisgeben und damit neue Individualitätspotentiale aufblitzen lassen.149 Ulrichs Schwester Agathe beschreibt diese Art des abrupten Aufbrechens gewohnter Wahrnehmungsmuster als das Zerreißen eines Papiers, auf dem die vermeintliche Realität abgebildet scheint, und Ulrich führt ihren Gedanken fort: „Ja. Das heißt: irgendeine gewohnheitsmäßige Verwebung in uns zerreißt.“150 Unschwer lässt sich das Bild des zerreißenden Papiers auf die Wahrnehmungskonstellation
146
Vgl. Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge am 22. März 1801, in: Kleist, Heinrich von: Briefe und Werke in vier Bänden, Bd. IV: Briefe von und an Kleist, 13. März 1793 bis 21. November 1811, S. 196ff.
147 Musil., Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 12. 148 Ebd., S. 359. 149 Musil ist nicht der Einzige, der diese Möglichkeiten von Optik und Dynamik erkennt: „Ich schaue lauschend durch des Wagens Scheiben“, beschreibt Anton Schnack die ichdissoziierende Wirkung der Straßenbahnfenster, „(u)nd fühle mich vertausendfacht und seltsam bunt, / Ich sehe mich an mir vorübertreiben[...].“ Schnack, Anton: „In der Straßenbahn“, in: Werke in zwei Bänden, Bd. 1, S. 101. 150 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 762.
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während der Straßenbahnfahrt übertragen: als pausenlose Kette zerreißender Papiere. Dieses Bild wiederum legt eine Verbindung des Nahverkehrs mit einer anderen technischen Neuerung der Moderne nah: mit dem Medium Film, der ebenso wie der öffentliche Nahverkehr eine Technik nicht nur für die Masse ist, sondern auch eine Technik, die das Verhältnis der Masse zur Realität nachhaltig verändert hat. Auf diese Verbindung soll nicht zuletzt deshalb an dieser Stelle eingegangen werden, weil gerade Musil in seinen theoretischen Reflexionen immer wieder den Film als eine mediale Technik diskutiert, die wie der technisierte Verkehr dazu in der Lage sein könnte, das Individuum auf eine andere Bewusstseinsstufe, eben in den berühmten „anderen Zustand“ zu versetzen. Nicht nur in seiner zeitlichen Entwicklung ist das Medium Film eng an die Entstehungsphasen der technisierten Nahverkehrsmittel geknüpft. Seine Wirkungen werden auch immer wieder mit denen des Verkehrs, zunächst auf der strukturellen Ebene, gleichgesetzt. So schreibt Walter Benjamin über das Verhältnis von Film und urbanem Raum: „Erst dem Film eröffnen sich optische Zufahrtsstraßen in das Wesen der Stadt […].“151 Nicht überraschend ist deshalb, dass ein Großteil der frühen Filme die technisierten Massenfortbewegungsmittel ganz explizit zum Gegenstand macht, um auf diese Weise die rezeptionsästhetische Korrelation von Verkehr und Film nur umso deutlicher herauszustellen – und natürlich nicht zuletzt, um seine den Anforderungen der erhöhten Zirkulationsgeschwindigkeit adäquate Verfasstheit unter Beweis zu stellen.152 Wie sehr es den Filmemachern und -theoretikern in den ersten Jahren um Fragen der Rezeption bzw. der Veränderung der Wahrnehmung durch das neue Medium geht, zeigt sehr anschaulich die 1924 von László Moholy-Nagy entworfene Filmskizze Dynamik der Großstadt.153 MoholyNagys Skizze besteht aus abstrakten horizontalen und vertikalen Linien, mit denen die Bewegung der sich kreuzenden Verkehrsströme an einem Zentral- bzw. Knotenpunkt des urbanen Verkehrs nachgebildet sind, und die sich von den Tiefen der U-Bahnschächte bis über den Funkturm hinweg erstrecken.154 Moholy-Nagy bestimmt damit als das Eigentliche der filmischen Darstellung nicht dessen abbilden-
151 Benjamin, Walter: „Berliner Chronik“, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 470. 152 Vgl. Smuda, Manfred: „Die Wahrnehmung der Großstadt als ästhetisches Problem des Erzählens. Narrativität im Futurismus und im modernen Roman“, in: Ders. (Hg.): Die Großstadt als „Text“, S. 144. 153 Moholy-Nagy, László: Von Material zu Architektur. 154 Vgl. Scherpe, Klaus R.: „Nonstop nach Nowhere City? Wandlungen der Symbolisierung, Wahrnehmung und Semiotik der Stadt in der Literatur der Moderne“, in: Ders. (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, S. 141.
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de Funktion, sondern die rezeptionsästhetische Notwendigkeit der Organisation und Lenkung respektive Ab- und Umlenkung von Wahrnehmung. Auch Walter Ruttmanns Film Berlin: Die Sinfonie der Großstadt aus dem Jahr 1927, der in Bildern von technisierten Verkehrs- und Warenströmen das fluktuierend Dynamische der großstädtischen Zirkulation einfängt, hat sein wesentliches Moment in der Steigerung der Rezeptionsanforderungen, indem er nicht nur die Formen technischer Bewegung zeigt, sondern diese über ihre tatsächliche Eigengeschwindigkeit hinaus durch die filmischen Verfahren von Schnitt und Montage für den Betrachter noch zu beschleunigen vermag. Das technische Vermögen der Beschleunigung segmentierter Phasenbilder im Film, der Einsatz von Groß- und Detailaufnahme, Zeitlupen- und Zeitraffereffekten konfrontiert das Individuum mit einer Aufeinanderfolge diskontinuierlicher Sensationen, die den vom modernen Straßenverkehr verursachten Sinnesreizungen nahe-, wenn nicht gleichkommen – und möglicherweise, wie in der Sinfonie der Großstadt, eine wechselseitige Potenzierung zulassen. Eben an den Medien Verkehr und Film macht Walter Benjamin die geschichtlich bedingte Neuorganisation von Wahrnehmungsstrukturen einer Gesellschaft fest: „Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparats – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr […] erlebt.“155 Genau diese Konditionierung der menschlichen Wahrnehmung durch den Apparat, wie der Teilnehmer des Straßenverkehrs und der Zuschauer des Films ihr als einer vordergründig als Rationalisierung des sinnlichen Vermögens zu fassenden Erscheinung unterliegen, aber kann – im radikalen Gegensatz zu der Vorstellung einer umfassenden funktionalen Überformung der Realität – die Freilegung einer Tiefenstruktur der Wirklichkeit evozieren, die als Wesentliches des Daseins unter den natürlichen Bedingungen der Wahrnehmung in dieser Weise nicht erfahrbar wäre – mithin die Durchbrechung des Seinesgleichen durch das Aufbrechen von Ordnung und die Umleitung technischer Potentiale auf die Erzeugung eines erlebnissteigernden Moments. So lotet Musil, dessen nicht enden wollender Roman Der Mann ohne Eigenschaften ein immerwährender Um- und Erschreibungsversuch des „anderen Zustands“ ist, jenes dem Menschen verloren gegangenen Zustands leiblicher und sinnlicher Absolutheit, nicht nur auf den Straßenbahnfahrten die Möglichkeiten der Ichund Weltwahrnehmung aus. An anderer Stelle formuliert er auch die Hoffnung, das, was über das System der Sprache nicht möglich ist, in den Bildern des Films aufscheinen zu lassen:
155 Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Gesammelte Schriften, Bd. I/2, S. 503, vgl. ebd., S. 478.
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„Dieser Zustand ist es, in dem das Bild jedes Gegenstandes nicht zum praktischen Ziel, sondern zu einem wortlosen Erlebnis wird, und die Beschreibung vom symbolischen Gesicht der Dinge und ihrem Erwachen in der Stille des Bilds […] gehört zweifellos in diesen Umkreis. Es ist ungemein interessant, auf dem Terrain des Films […] schon die flüchtige Spur dieser Erlebnisse entdeckt zu sehen.“156
Die Technik, wie sie in den beiden modernen Massenmedien Nahverkehr und Film zur Wirkung kommt, ist für Musil notwendigerweise ambivalent. Genauso wie die Stadt aus „Gebahntem und Ungebahntem“ besteht, wird die Technik zur Kontrolle und gleichzeitig zum Ermöglicher. Mit Blick auf den Film schreibt der MusilBiograph Karl Corino deshalb, er sei Entzauberung und Verzauberung zugleich.157 Dass es aus dieser Ambivalenz keinen Ausweg gibt, mag der Grund für das gespaltene Verhältnis sein, das Musils Protagonist Ulrich zur urbanisierten Welt hat: Denn er ist nicht nur als moderner Verkehrsteilnehmer in der Straßenbahn unterwegs. Immer wieder nutzt er auch das fast schon antiquierte Fortbewegungsmittel Kutsche, wo er vorzugsweise mit Diotima eine – vermeintlich auch überholte – Form der Geistigkeit in die Gegenwart zu transferieren versucht. Dass darüber hinaus die späteren Teile des Romans auf einer Art vorzivilisatorischen Insel angesiedelt sind, wo Musil seinen Protagonisten neue Möglichkeiten der Liebe ausprobieren lässt, zeigt allemal, dass das Ausloten der Technik und ihrer Potentiale im Stadium des Versuchs stecken geblieben ist. Der andere Zustand ist eben nicht an der nächsten Haltestelle zu erreichen. Und auch nicht durch den Erwerb eines Monatstickets, wie der Held von Musils Erzählung Der Riese Agoag schmerzvoll erfahren muss. 6.1 Der Riese Agoag Im Mann ohne Eigenschaften setzt Musil den öffentlichen Nahverkehr nahezu ausschließlich da als Medium des Erzählens ein, wo es darum geht, auf einer subjektzentrierten und auf einen geistigen Zusammenhang konzentrierten Basis die Potentiale neuartiger Energiefreisetzung zu durchdenken. Dass sich zu gleicher Zeit auch Diskurse herausbilden, in denen über entsprechende Möglichkeiten der Technik auf einer praktisch-physiologischen Ebene nachgedacht wird, ist im Abschnitt über die zeitgenössischen Energiedebatten dargestellt worden. Kaum verwunderlich mithin, dass auch Musil diesen Aspekt der physiologischen Energieübertragung durch die neuen Techniken zum Thema macht. In seinem
156 Musil, Robert: „Ansätze zu einer neuen Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“, in: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 1144f. 157 Corino, Karl: Robert Musil, S. 1048.
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großen Roman tut er dies indes eher am Rande. Immerhin nähert er sich hier dem Verkehr über die Feststellung einer vermeintlich enormen Energieproduktion, die im nur auf den ersten Blick unbedeutenden Verkehrsgeschehen stattfindet. Dem modernen Verkehrsteilnehmer werden unter dieser Perspektive wenn nicht ungeheuerliche Kräfte, so zumindest doch ein erheblicher Kraftaufwand attestiert: „Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und all die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu erhalten, es käme vermutlich – so hatte er gedacht und spielend das Unmögliche zu berechnen versucht – eine Größe heraus, mit der verglichen die Kraft, die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man könnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut.“158
Während Musil die Straßenbahnfahrten seines Protagonisten ganz offenbar mit der ernsthaften Absicht geschrieben hat, eine mögliche Genese von Geist und Technik durchzuspielen, dann ist mit Blick auf die Zusammenhänge von Technik und physiologischer Kraft die ironisch-distanzierende Perspektive Musils kaum zu übersehen. Gerade die militärisch-heroische Dimension, wie insbesondere Ernst Jünger sie dem Nahverkehrszusammenhang in seinen Texten unterlegt, fordert Musils ironischen Kommentar. Die Erzählung Der Riese Agoag, die 1936 ebenfalls in dem Band Nachlass zu Lebzeiten erscheint, wird zur äußerst unterhaltsamen Variante dieses Kommentars und fungiert zugleich selbst als Bestätigung dieses inframedialen Effekts, indem die Vorstellung der Aneignung bzw. Übertragung von Energie durch ein paar zusätzliche Drehungen ins Absurde gewendet werden. Obwohl zuvor angemerkt wird, es brauche „durchaus nicht viel Einbildung dazu, sondern bloß logisches Denken.“ Dieser logische Gedankengang geht wie folgt: „(W)enn es richtig ist, was man sagt, daß Kleider Leute machen, weshalb sollte das nicht auch ein Omnibus können?“ Jenes fragt sich der Protagonist aus Musils Erzählung und kommt leichterdings zu dem logischen Schluss: „Man hat seine ungeheuerliche Kraft an oder um, wie ein anderer einen Panzer anlegt oder ein Gewähr umhängt; und wenn sich die ritterliche Heldenschaft mit einem schützenden Panzer vereinen läßt, weshalb dann nicht auch mit einem Omnibus?“159
158 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 12. 159 Musil, Robert: „Der Riese Agoag“, aus: Nachlass zu Lebzeiten, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 532.
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Der dieser Idee verfällt, ist ein schwächlicher Mann, der nach einer Reihe äußerst zweifelhafter körperlicher Ertüchtigungsversuche schließlich auf die rettende Idee verfällt, wie die eigene Mickrigkeit zumindest phasenweise in ein übermenschliches Machtpotential transformiert werden kann: vermittels regelmäßiger Fahrten – „Sein Traum war ein umfassendes Streckenabonnement.“ – im städtischen Omnibus. 160 Anlass für diese zumindest mittelfristige Konsolidierung des Mannes durch den Omnibus ist ein Unfall: Nachdem Musils namenloser161 Protagonist beobachtet hat, „wie ein riesenhafter Omnibus einen athletisch gebauten jungen Mann überfuhr“, dieser – in den Augen des Protagonisten – Idealtypus kraftvoller Männlichkeit „sozusagen vom Dasein abgeschält (wird) wie ein Span oder eine Apfelschale“,162 steht für den dünnarmigen Zeugen des Unfalls außer Frage, dass er im Körper dieses motorisierten Riesen nicht nur selber unverletzlich sein wird – wie Jünger dies über die Gestalt des Autofahrers schreibt, der „in rollenden Fahrzeugen eingeschlossen ist“, die „ihm den Anschein größerer Unverletzbarkeit“163 geben –, sondern dass er, mehr noch, mittels der Organverstärkung durch das stählerne Vehikel selbst zu demjenigen werden kann, „vor dem alle Sportsleute zur Seite springen mußten“164. Ein Gefühl der individuellen Größe, fast schon einer körperlichen wie auch geistigen Erhabenheit, scheint für die läppische Summe von fünfzehn Pfennigen plötzlich zu jeder Zeit zu haben, wenn während der Fahrten die Trennung zwischen Bus und Passagier – im Folgenden allein durch eine grammatikalische Unschärfe verbialer Qualitäten erreicht – sich aufzuheben scheint: „Unser Held also saß auf dem Verdeck und war so groß, daß er alles Gefühl für die Zwerge verlor, die auf der Straße wimmelten. Unvorstellbar wurde, was sie miteinander zu besprechen hatten. Er freute sich, wenn sie aufgeschreckt hopsten.“ Seine Vorstellung wird dabei zusehends kriegerischer gefärbt: „Er schoß, wenn sie die Fahrbahn überquerten, auf sie los wie ein großer Köter auf Spatzen. Er sah auf die Dächer der schmucken Privatwagen, die ihn früher immer durch ihre Vor-
160 Carl Wege beschreibt dieses Prinzip als „Integration leistungsschwacher Humanpotentiale in ein selbständig operierendes Maschinen- und Waffensystem“. „Wege, Carl: Gleisdreieck, Tank und Motor. Figuren und Denkfiguren aus der Technosphäre der Neuen Sachlichkeit“, in: DVjS 1994 (86), S. 319. 161 Nur eine Dame aus seinem Bekanntenkreis, so wird vermerkt, nennt ihn „mein Eichhörnchen“. Musil, Robert: „Der Riese Agoag“, aus: Nachlass zu Lebzeiten, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 531. 162 Ebd., S. 532. 163 Jünger, Ernst: „Über den Schmerz“, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 175. 164 Musil, Robert: „Der Riese Agoag“, aus: Nachlass zu Lebzeiten, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 532.
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nehmheit eingeschüchtert hatten, jetzt, im Bewußtsein der eigenen Zerstörungskraft, ungefähr so herab, wie ein Mensch, mit einem Messer in der Hand, auf die lieben Hühner in einem Geflügelhof blickt.“165
Nicht die literarischen und essayistischen Bearbeitungen des Verkehrs, wie man sie bei Ernst Jünger findet, zeichnen sich durch die militärische Komponente aus, die Musil hier persifliert. Aber es ist vor allem Jüngers Vorstellung der organischen Konstruktion, der er den Einzelnen im öffentlichen Verkehrssystem unausweichlich anheim fallen sieht, die Musil aufnimmt, wenn er seinen Helden über eine durch den Transport zustande gekommenen Identitätsverschreibung an den „Apparat der Macht“166 reflektieren lässt. Dass diese Organverstärkung durch den Apparat genauso trügerisch wie unfreiwillig komisch ist, weiß der Leser von Anbeginn des Experiments an. Für Musils busfahrenden Helden wird sie spätestens zur Gewissheit, als sich innerhalb seines Denk- und Imaginationsmodells Risse auftun, fatalerweise ausgerechnet in dem Moment, als er einer weiblichen Begleiterin seine neue Männlichkeit zu präsentieren gedenkt. Plötzlich nämlich ist da „in dem Riesenleib ein winziger Parasit mit dicken Schnurrbartspitzen, der lächelte seine Freundin einigemal frech an, und sie lächelte kaum merklich zurück; […].“167 Die bis dato sicher geglaubte Macht fällt in sich zusammen, als in das System von Innen her Bewegung kommt: „Unser Held kochte vor Wut; er hätte sich gerne auf den Nebenbuhler gestürzt, aber so klein dieser neben dem Riesen Agoag ausgesehen hätte, so groß und breit erschien er darin.“168 In Folge dieser Ereignisse habe der ehemals passionierte, nunmehr partiell desillusionierte Busfahrer seine Fahrten ein wenig eingeschränkt, lässt Musil seine Leser abschließend wissen.
165 Ebd. 166 Ebd. 167 Ebd., S. 533. 168 Ebd.
Teil vier
I. Kleine Form
1. D AS E NDE
DES
E RZÄHLENS
„Übrigens reizt mich immer die Straßenbahn zum Philosophieren. Ich habe auf diese Weise denn auch 10 Lebensweisheiten der Straßenbahn geschrieben. Sie lauten: 1) Manche Leute fahren bloß im Anhängewagen des Lebens. 2) Aber da darf geraucht werden. 3) Damen rauchen sehr gern, aber sie fahren nie im Anhängewagen des Lebens. 4) Damen rauchen meist zu Hause, nicht in der Straßenbahn. 5) Es ist den Damen peinlich, den kalten Rauch der Herren einatmen zu müssen, die sie nicht lieben. 6) Herren lieben zu Hause und rauchen unterwegs, auch im Anhängewagen der Straßenbahn. 7) Man ruht sich beim Rauchen von seiner Arbeit aus, wenn man welche hat. 8) Die Anhängewagen des Lebens sind nicht so fein wie die Triebwagen. 9) Die Damen sitzen ebenso gern im Triebwagen des Lebens wie Herren im Anhängewagen. 10) An der Endstation halten gleichzeitig die Anhängewagen und die Triebwagen des Lebens, und alle müssen aussteigen.“1
Bisher ist die mediale Wirkung des Nahverkehrs daraufhin untersucht worden, welche Bildpotentiale zur Analyse der Kultur der Gegenwart durch die neue Verkehrsinfrastruktur bereitgestellt werden. Zugleich ist dargestellt worden, welche Images der Nahverkehr in seiner strukturellen Eigenschaft als Inframedium produziert bzw. welche Images und Vorstellungen an den Nahverkehr gekoppelt werden. Vor allem die Inhaltsebene war es mithin, auf die sich die Betrachtung der Texte konzentriert hat. In diesem vierten Teil der Untersuchung soll der Blick nun auf die formale Ebene der Textproduktion gelenkt werden. Die Frage dabei ist, welche Verände-
1
Schwitters, Kurt: „Straßenbahn“, in: Das literarische Werk, Bd. 2: Prosa 1918-1930, S. 304f.
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rung von Formen, Formaten und Schreibweisen sich feststellen lassen und wie diese mit den Entwicklungen der neuen Verkehrstechniken in Zusammenhang stehen oder zumindest von den Produzenten und Rezipienten mit diesen in Verbindung gesetzt werden. Es ist die Formel vom „Ende der Metaphysik“, die als große Überschrift über den philosophischen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen steht, die das Denken mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nimmt. Dass es indes im einzelnen vergleichsweise kleine Verschiebungen in der Wirklichkeit sind, die diesen grundsätzlichen Paradigmenwechsel bedingen, zeigt die Rolle, die den neuen Verkehrstechniken in diesem Prozess zukommt bzw. eingeschrieben wird. Wenn Kurt Schwitters in seinen zehn philosophischen Aperçus die Straßenbahn als gänzlich unspektakulären Gegenstand der Alltagswelt entnimmt, um scheinbar übergangslos von Aussagen über die grundsätzliche Verfasstheit des Lebens hin zu den Geflogenheiten des öffentlichen Nahverkehrs und wieder zurück zu den Universalien des Lebens zu springen – das Abstrakte aus dem Konkreten herleitend und umgekehrt –, dann zeigt sich in seinem Text in exemplarischer Weise unter inhaltlichen, zugleich aber auch unter formalen Gesichtspunkten das, was die mediale Wirkung des Nahverkehrs ausmacht. Schwitters Verknüpfen vordergründig nicht zusammenhängender Sujets mag man als Fingerübung schriftstellerischer Virtuosität verstehen, als Wortspiel, als Witz – und liegt damit gar nicht so falsch. Der Witz als poetologische Kategorie gilt seit der Romantik als ein erkenntnistheoretisches literarisches Verfahren, das „durch das kombinatorische des Gedankens“2 Ähnlichkeiten zu erzeugen und das eigentlich Fremde sinnstiftend zusammenzudenken in der Lage ist. Als geistiger Mittler vermag es mithin assoziative Verbindungen zu schlagen zwischen so getrennten Bereichen wie der städtischen Straßenbahn und den Bestimmungen des individuellen Lebens, um dabei Erkenntnisse gleichermaßen für beide Sphären generieren zu können. Eine solche Methode der wechselseitigen Überführung alltäglicher in kulturtheoretische, aber auch in ästhetische Wahrnehmungsmuster ist Ausdruck eines radikalen Bruchs mit den etablierten Verfahren der Erkenntnisgewinnung, in der die Resultate allen Denkens per Deduktion aus einem übergeordneten Denk- und Wissenssystem abgeleitet werden konnten. Ist der Rückgriff aufs Alltägliche also einerseits Ausdruck dieses Bruchs, so sind die neuen Konfigurationen des Alltags selbst allererst auch der Anlass für eben jenen Bruch mit tradierten Denkformen. Wenn im Folgenden zunächst dieser Bruch als kulturelles Symptom dargestellt werden soll, um im Anschluss daran die ästhetische-formalen Konsequenzen dieser
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Schlegel, Friedrich: „Athenäums-Fragment 220“, in: Werke in zwei Bänden, Bd. 1, S. 216.
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Entwicklung aufzuzeigen, dann ist es einmal mehr der Mann ohne Eigenschaften, an dem sich dies in idealer Weise veranschaulichen lässt. Zieht Musil doch auch immer wieder dort die Straßenbahn heran, wo es zu zeigen gilt, dass die traditionellen Denk- und Ordnungsvorstellungen im urbanisierten Raum kein Bezugssystem mehr finden. Überdeutlich fast geschieht das in der folgenden Passage: Ulrich, der soeben über die Vergleichbarkeit eines van Goghschen Ölbilds mit einem Öldruck nachgedacht hat, „stellte sich vor, der große Kirchenphilosoph Thomas von Aquino, gestorben 1274, nachdem er die Gedanken seiner Zeit unsäglich mühevoll in beste Ordnung gebracht hatte, wäre damit noch gründlicher in die Tiefe gegangen und soeben erst fertig geworden; nun trat er, durch besondere Gabe jung geblieben, mit vielen Folianten unter dem Arm aus seiner rundbogigen Haustür, und eine Elektrische sauste ihm an der Nase vorbei. Das verständnislose Staunen des Doctor universalis, wie die Vergangenheit den berühmten Thomas genannt hatte, belustigte ihn.“3
Genauso wie Ulrich zuvor die Unsinnigkeit seines eigenen Versuch, aus dem Verkehrgeschehen durch Messungen und Zählungen einen tieferen Sinn zu extrapolieren, vergleichsweise amüsiert zur Kenntnis genommen hat, nimmt er gelassen hin, dass in der umfassend technifizierten und elektrisierten Welt der Moderne, wie sie stellvertretend durch die vorbeifahrende Straßenbahn dargstellt wird, universale, auf der Annahme einer an sich seienden metaphysischen Ordnung der Welt beruhende Wahrheitskonzepte, wie die traditionelle Philosophie sie abzustecken versuchte, ihre Gültigkeit verlieren. Gleiches gilt für ein vermeintliches System übergeordneter und immerwährend gültiger Moralvorstellungen. Auch dafür wird die Straßenbahn zum erzählerischen Medium. Nur für einen Moment ist Musils Protagonist Ulrich während einer Fahrt mit der Elektrischen der Versuchung erlegen, über die Überzeitlichkeit von Wertvorstellungen zu spekulieren. Aber unvermittelt, wie um den Gedanken zu unterbrechen, „hielten die mit Reißschiene und Zirkel geschaffenen Linien der rollenden Örtlichkeit, die ihn umschloß, an einer Stelle, wo sein Auge, aus dem Leib des Verkehrsmittels kommend und an seiner Einrichtung unwillkürlich noch teilhabend,“4 auf eine barocke Statue fällt. Deren altertümlich leidenschaftliche Gebärde steht nun aber in so offensichtlichem Widerspruch zur modernen Funktionalität der Straßenbahn, dass Ulrich den sich in ihm gerade formulierenden Gedanken einer von den Epochenumbrüchen unberührten moralischen und erkenntnistheoretischen Ein-
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Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 59.
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Ebd., S. 872.
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deutigkeit umgehend verwirft: „Hätte sich die Kopflosigkeit des Lebens durch irgendetwas deutlicher zeigen können, […]?“5 Im Angesicht der modernen Technik, angesichts der Erkenntnisse der Physik – nicht zuletzt durch die immaterielle Kraft des Stroms – scheinen die Welterklärungssysteme, wie etwa ein Thomas von Aquin sie begründete, in denen Gott oder eine andere Ordnungsfunktion als primum movens, als Prinzip des zureichenden Grundes, zum eigentlichen Verursacher allen Geschehens erhoben wird, defizitär. Dieses „Ende der Metaphysik“, wie es mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts für die großen Denksysteme eingeläutet wird, lässt eine Mentalität grundsätzlicher Unsicherheit spürbar werden, als wäre mit den Richtwerten, nach denen man alles Handeln und Wissen auszurichten gewusst hatte, die reale und alltägliche Ordnung der Welt selbst verloren gegangen. Deshalb liest man mit Blick auf die technisierte und industrialisierte Metropolenkultur immer wieder Variationen des einen, ganz grundsätzlichen Befunds, dass nämlich „(v)on Überwölbungen […] nichts zu erwarten (ist), außer, daß sie einstürzen.“6 So formuliert es Helmuth Plessner. Ludwig Klages schreibt in diesem Sinne sehr konkret – nichtsdestotrotz mit pathetischer Geste – die Großstädte „mit ihren Bahnkörpern, Fabriken, Gasometern, senkrechten Wohnstraßen, Drähten […] zerreißen das Lied der Erde mit einer heillosen Dissonanz, die das Melos überhaupt erschlägt (wie etwa jeden Naturlaut der Lärm der Autohupen).“7 Gerade durch das äußerliche Zusammengedrängtsein der Menschen, durch die körperliche Erfahrung der Masse, wird der urbane Raum zu dem Ort, an dem sich auf geistiger Ebene das im offensichtlichen Gegensatz zu dieser räumlichen Gemeinschaft stehende Bewusstsein eines mangelnden kollektiven Überbaus besonders eindringlich zu offenbaren scheint. In den Bildern der Eisberge, die sich um jeden Berliner türmen 8 und der daraus folgenden „eisigen Isolation“9 des Einzelnen ist dieser Gegensatz zwischen physischer und psychischer Entropie bereits dargestellt worden. Kracauer, dessen Schilderung der Unterführung beim S-BahnhofCharlottenburg diesen sozialen Befund ins Bild gesetzt hat, bringt das Ganze in seinem Essay Die Wartenden noch einmal auf den Punkt, wenn er von einem „Fluch der Vereinzelung“ spricht, von dem die Menschen in der Moderne getroffen seien:
5
Ebd.
6
Plessner, Helmuth: „Macht und menschliche Natur“, in: Schriften, Bd. V, S. 147.
7
Klages, Ludwig: Der Geist als Widersacher der Seele, S. 1224 u. 1228.
8
Roth, Joseph: „Der Winter des Missvergnügens“, in: Werke, Bd. 2: Das journalistische Werk 1924-1928, S. 388.
9
Jünger, Ernst: „Das Abenteuerliche Herz I“, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 149.
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„Die Tradition hat ihre Macht über sie verloren, Gemeinschaft ist von Anbeginn nicht Wirklichkeit, sondern nur noch Begriff, sie stehen außerhalb von Form und Gesetz, als abgesplitterte Partikelchen im verrinnenden Zeitstrom sich irgendwie behauptend.“10
Georg Simmel, bei dem Kracauer studierte hatte, kommt zu derselben Diagnose: „Der außerordentliche Ernst der jetzigen Situation ist,“ schreibt er über die mentale Verfasstheit der modernen Gesellschaft, „daß nicht dieses oder jenes Dogma, sondern der transzendente Glaubensinhalt als solcher prinzipiell mit dem Illusionscharakter geschlagen ist; […].“11 Die bekannteste und prägnanteste Formulierung dieses Zustands hat Georg Lukács in der Theorie des Romans12 geprägt: die Rede ist von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ der modernen Gesellschaft. Was von Lukács mit Blick auf die großen Systeme und Ordnungen des Denkens gesagt wird, steht – das mag Musils Passage über eine mögliche Konfrontation von Thomas von Aquin mit einer Straßenbahn pointiert gezeigt haben – eben in unmittelbarem Zusammenhang mit den Veränderungen, mit denen der Einzelne in der alltägliche Routine konfrontiert ist. Walter Benjamin spricht davon, dass der Mensch in der umfassend technisierten und sich beständig fortentwickelnden Moderne das Vermögen verliere, die Wirklichkeit in Form einer Erfahrung in ein Verhältnis zu sich setzen. Das mangelnde ideelle Obdach, das Lukács als Bild geprägt hat, findet man auch bei ihm, und noch expliziter wird es in Zusammenhang mit dem technisch-infrastrukturellen Wandel gestellt: „Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“13
Dieser Mangel sowohl an Mitteln adäquater Wahrnehmung und Verarbeitung der äußeren Welt und der Mangel an geistigen Maximen, die sinnstiftend auf diese Wirklichkeit einwirken könnten, mündet Benjamin zufolge in einer Krise der Ästhetik: Zu einer Auflösung einer bisher als sicher geglaubten Form der Mitteilbar-
10 Kracauer, Siegfried: „Die Wartenden“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5.1: Aufsätze und Abhandlungen 1915-1926, S. 161. 11 Simmel, Georg: „Das Problem der religiösen Lage“, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, in: Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 369. 12 Lukács, Georg: Theorie des Romans, S. 52. 13 Benjamin, Walter: „Der Erzähler“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II/2, S. 439.
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keit, die Benjamin das Ende des Erzählens nennt.14 Fehlende Wirklichkeitserfahrung bzw. deren Veränderung einerseits, Ideengehalte und Ästhetik einer Zeit andererseits stehen folglich in einem untrennbaren Wechselverhältnis. Auch Lukács kommt ja interessanter Weise in seiner Theorie des Romans, ebenfalls in einer Reflexion über Formen und Möglichkeiten literarischer Ästhetik, zu seiner Formel der „transzendentalen Obdachlosigkeit“, die sich ja wiederum eines Bildes bedient, das aus dem urbanen Sozialzusammenhang entnommen ist und Stadt und Mentalität in strukturelle Äquivalenz setzt. So gilt, was für die tradierten Denk- und Moralsysteme gilt, ebenso für den ästhetischen Zusammenhang. Die Geschlossenheit des Romans – so wie das systematische Konstrukt in der Philosophie – sind Formen, mit der die alle Lebensbereiche erfassenden Veränderungen des Lebensraums durch Urbanisierung und Technisierung nicht mehr angemessen dargestellt werden können. Robert Müller lässt in der Technik des Romans dieses Defizit des klassischen Formats konkret werden: „(D)ie Nervosität, besser, die Nervigkeit des modernen Menschen empfindet jenen älteren Roman als undicht, unelementar, kahl, verlogen, so wie uns die abgeräumten vegetationslosen Stadtpläne auf älteren Stichen oder ersten Photographien anmuten. Es fehlen Schienen und Hochspannung, Verkehr, Litfaßsäulen, Komplikation, Millionität.“15
Was dem aus der Tradition des 19. Jahrhunderts kommenden Schriftsteller mithin fehlt, sind Ausdrucksmöglichkeiten, die seinem Zeitalter entsprechen. Sehr bildhaft schreibt Musil über diesen Mangel adäquater Ausdrucksmöglichkeiten: „Das ist eine verteufelte Lage für ein Zeitalter, das keine Zeit hat und sich bestimmt glaubt, der Welt eine neue Geschwindigkeit zu geben; die Schnelligkeitsäpfel hängen ihm in den Mund, und es gelingt ihm nicht, den Mund zu öffnen.“16 Wenn die Revolution tradierter Bewusstseins- und Wahrnehmungsprinzipien im urbanen Raum eine grundlegende Erschütterung der fest geglaubten Konstanten der Narrativität zur Folge hat, dann kann man das primär als kulturellen Befund über das Zeitalters selbst lesen, wie der Literaturkritiker Hans Reiser, der Mitte der zwanziger Jahre anlässlich eines Essays über die Hymnen von Johannes R. Becher
14 Vgl. ebd. Ebenso heißt es in der bekannten Formulierung Rilkes: „Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein. Ich habe nie jemanden erzählen hören.“ Rilke, Rainer Maria: „Die Aufzeichungen des Malte Laurids Brigge“, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 844. 15 Müller, Robert: „Technik des Romans“, in: Kritische Schriften, Bd. 3, S. 91. 16 Musil, Robert: „Geschwindigkeit ist eine Hexerei“, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 684.
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über die Zusammenhänge von technischem Fortschritt, Metropolenkultur und den Möglichkeiten des Romanschreibens nachdenkt: „Wenn aber, die Formen, d.h. alle Formen, die wir wissen und kennen, heute Lüge sind, weil die Zeit als Kulturepoche keine Form hat und keine hervorbringt, außer der Eisenkonstruktion, der Maschine und allen technischen Errungenschaften? Wenn sie, wie in der materiellen Außenseite, auch seelisch, kulturell, künstlerisch die Formlosigkeit, die Zerrissenheit, das Mischmasch, die gottverlassene Aussichtlosigkeit ist, die es je gegeben hat?“17
Die Antwort, die Reiser darauf gibt, ist zunächst einmal nicht viel mehr, als dass sich Abdrücke dieses kulturellen Szenarios zwangsläufig in die zeitgenössische Literaturproduktion einschreiben müssen: „Daß ein Verwundeter unserer Zeit da seine verzweifelten Schreie ausstößt, wer will das leugnen. Wem das nicht gefällt, der kann ja Mörike lesen.“18 Man muss das Ganze aber nicht vornehmlich als gesamtkulturellen Befund, sondern als ein spezielles Problem der ästhetisch-literarischen Produktion bzw. seiner Produzenten verstehen. Damit wird es dann zu einem Phänomen, das die Frage nach den formalen und inhaltlichen Voraussetzungen des Schreibens stellt. Fragen nach der Veränderung von Rezeptionshaltung sind darin genauso eingeschlossen, wie die Frage nach dem Wandel der dichterischen Selbstund Fremdwahrnehmung. Um solche Fragen soll es im Folgenden gehen. Wenige Jahre zuvor sind es zunächst der vermeintliche Geniestatus und mit ihm die entsprechende Aufmerksamkeitsbekundung, die dem Dichter abhanden kommen. Baudelaire hat diese Veränderung im Bild vom Verlust der Aureole im großstädtischen Gewühl gefasst: „Eben überquerte ich eilig den Boulevard, und wie ich in diesem bewegten Chaos […] eine verkehrte Bewegung mache, löst sich die Aureole von meinem Haupt und fällt in den Schlamm des Asphalts. Ich hatte den Mut nicht, sie aufzuheben. Ich habe mir gesagt, daß es minder empfindlich ist, seine Insignien zu verlieren als sich die Knochen brechen zu lassen. Und schließlich, habe ich mir gesagt, zu irgend etwas ist Unglück immer gut. Ich kann mich jetzt inkognito bewegen, schlechte Handlungen begehen und mich gemein machen wie ein gewöhnlicher Sterblicher.“19
Nun, wo nicht mehr so viel gelaufen, sondern in der Regel gefahren wird, ist es nicht mehr nur der Dichter als Person, der zur Disposition steht, sondern die Mög-
17 Reiser, Hans: „Becher, Johannes, R.: Hymnen“; in: Die schöne Literatur 26 (1.1.1925). 18 Ebd. 19 Charles Baudelaire nach Benjamin, Walter: „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: Gesammelte Schriften, Bd. I/2, S. 651.
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lichkeiten und Bedingungen der Literaturrezeption selbst. Eine verbreitete Feststellung ist, dass im Tumultarischen des großstädtischen Verkehrs und durch die von ihm hervorgerufenen Erregungen die Entfaltung von komplexeren Gedankengängen und damit auch die konzentrierte Rezeption immer wieder verhindert werden. So eine Klage kann natürlich auch in Theodor Lessings Schrift gegen Lärm nicht fehlen: „Der Lärm nun“, heißt es bei Lessing, „ist das primitivste und plumpeste, zugleich aber das allgemeinste und verbreiteste Mittel der Bewusstseinssteuerung.“20 Wie diese Bewusstseinssteuerung funktioniert, beschreibt er ganz konkret: „Nun rasselt ein elektrischer Wagen vorüber. […] Quer über unser schmerzendes Haupt, quer durch unsere besten Gedanken. Das Heraufholen und Verfolgen objektiver Werte wird zur Tortur. In jede geistige, jede theoretische Schöpfung bricht lärmender Pöbel ein […]. Alle seelische Kraft wird zur Überwindungen dieser ewigen Spannungen verbraucht.“21
Ebenso wie die Produktionsbedingungen scheinen den zeitgenössischen Kritikern die Voraussetzungen der Rezeption von geistigen Zusammenhängen den Irritationen der modernen Technik ausgeliefert zu sein. „Das moderne Leben ist insofern besonders unästhetisch“, schreibt Historiker Karl Lamprecht, „als es zu beständigen Störungen der geistigen Konzentration führt […].“22 Aus der Perspektive des Dichters erzählt Kurt Tucholsky über die Aufnahmefähigkeit der zeitgenössischen Herren Zuhörer: Sie „morden […] dir deine schönsten Geschichten – weil ein Auto kommt, weil eine Straßenbahn vorüber klingelt, […].“23 Verlustbilanzierung ist die eine Seite. Konsolidierung bzw. Fruchtbarmachung die andere. Das ist als dialektisches und zugleich produktives Prinzip des literarischen Umgangs mit der Moderne und ihrer technischen Erschließung auf inhaltlicher Ebene schon als Prinzip herausgearbeitet worden. Es gilt natürlich gleichermaßen für die formale Ebene. Wendet man die Liste der durch den modernen Technifizierungsprozess verursachten Verlusterklärungen – diese auf den ersten Blick umfassende Ent-Aureolisierung – ins Positive, kann man die Preisgabe literarischer Dignität als Befreiung von traditionellen Schreibweisen und Flexibilisierung des bestehenden Formenkanons lesen. Sie eröffnet damit die Möglichkeit zur Konstituierung eines neuen Formenarsenals, das den Erscheinungen der Zeit gerecht werden und aus den unter der traditionellen Perspektive als substanzlos verurteilten
20 Lessing, Theodor: Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens, S. 11. 21 Ebd., S. 14f. 22 Lamprecht, Karl: Deutsche Geschichte, Ergänzungsband I: Tonkunst, bildende Kunst, Dichtung, Weltanschauung, S. 182. 23 Tucholsky, Kurt: „Die Herren Zuhörer“, in: Werke, Bd. 8, S. 191.
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Entäußerungen der modernen Welt neue Bedeutungsgehalte zu erschließen versuchen kann. Ganz in diesem Sinne stellt Alfred Döblin entgegen der allgemeinen Tendenz zur Verurteilung der neuen technischen Verfahren in Verkehr und Wirtschaft die ihnen innewohnenden neuen erkenntnistheoretischen Impulse heraus: „Scheinbar pausiert jetzt das Geistige. Aber hinterrücks treibt die Technik, dieser Sproß des naturalistischen Impulses, das Geistige weiter, kämpft gegen das Alte, ohne es anzurühren. Die Erzeugnisse der Technik […] haben enorme geistige Konsequenzen.“24 Der inframediale Wirkungszusammenhang zeigt sich auf der Ebene von Textproduktion mithin als ein poetologischer Paradigmenwechsel. Dass dieser Paradigmenwechsel sich zum einen darin äußert, dass die „große Erzählung“ durch den Bezug aufs Kleine, auf die materialen Oberflächenstrukturen der Gesellschaft, abgelöst wird, mag an den Darstellungen, die sich mit dem Motivraum Nahverkehr und seinen medialen Wirkungen und damit zusammenhängenden Imageproduktionen auseinandergesetzt haben, deutlich geworden sein. Dass und wie es aber eben auch die Form der Texte ist, die sich in Abhängigkeit von der inframedialen Basis verändert, soll im Folgenden dargestellt werden. Essayismus, Feuilleton und Kleine Form sind die Stichworte, denen nicht nur im engen literarischen Rahmen, sondern in der gesamten ästhetisch-philosophischen Reflexion und Produktion des frühen 20. Jahrhunderts maßgebliche Bedeutung zukommt. Schon um 1900 prognostiziert Paul Dehn in der populären Zeitung Die Gartenlaube diese Entwicklung – nicht ohne den ausdrücklichen Zusammenhang von ästhetischer und verkehrstechnischer Entwicklung festzustellen und ihn noch dazu umgehend durch die eigene Bildsprache zu verifizieren: „Der gesellschaftliche Verkehr wird hurtiger, knapper. Man unterhält sich am liebsten in rascher Wechselrede mit kurzen Geschichten, man schreibt nicht mehr lange Briefe, man bevorzugt Postkarten, man liest immer weniger Bücher und immer mehr Zeitungen. Was man an Masse gewinnt, geht an Tiefe verloren. Quantitativ und technisch haben wir große Fortschritte gemacht, nicht aber in gleichem Maße qualitativ und geistig. Wenn die Verkehrsmittel die Beine der Gesellschaft sind, dann haben sie sich unverhältnismäßig entwickelt.“25
Die Feststellung von der Unverhältnismäßigkeit der Entwicklung ist natürlich unabhängig von ihrem kulturkritischen Impetus vor allem ein Indiz dafür, dass schon
24 Döblin, Alfred: „Der Geist des naturalistischen Zeitalters“, in: Aufsätze zur Literatur, S. 70. 25 Dehn, Paul: „Das Jahrhundert des Verkehrs“, in: Die Gartenlaube, Halbheft 8, 1900, S. 246.
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zu einem Zeitpunkt, als der große Umbau des urbanen Raums noch in den Anfängen steckt, die Eindrücklichkeit dieser Entwicklung und ihre Strahlkraft auf andere Bereiche der Gesellschaft im Bewusstsein der zeitgenössischen Beobachter ist.
2. R OBERT W ALSER : T RAMFAHRT Auch wenn Robert Walser immer wieder Weltflucht, zumindest -abgewandtheit unterstellt wird, zeugen doch Texte wie etwa das noch nicht einmal 2.000 Zeichen umfassende Feuilleton Tramfahrt aus dem Jahr 1921 von Walsers Verankerung in der Wirklichkeit. Es gibt wenige Texte, an denen der Einfluss der Welt, in diesem Fall des Inframediums Nahverkehr sich mit einer vergleichbaren Klarheit ablesen lässt. Das gilt für die Inhaltsebene zum einen. Entscheidender noch ist aber die Wirkung des Nahverkehrs auf die formale Struktur des Textes. Nicht nur wird durch das Motiv der Straßenbahn der Anstoß des Erzählens gegeben. Es werden darüber hinaus die aus der Erfahrung des Verkehrsbenutzers übernommenen Rahmenbedingungen – Beginn und Ende genauso wie Tempo und Wahrnehmungsbedingungen während der Beförderung – zum Medium der formalen Textorganisation. „Zu Fuß bin ich ein Landsknecht, Reisläufer“, setzt der Text in der für Walser typischen subtil kokettierenden Tiefstapelei ein. Aber schon im zweiten Satz ist davon nichts mehr zu spüren – dank der Straßenbahn. „(S)teig’ ich in ein Tram, so bin ich einer, der zu leben weiß, ein Mensch von Bildung, ein Großstädter und fühle mich elegant, habe was Amtliches, Gediegenes.“ Mit dem Einsteigen in die Straßenbahn nimmt nicht nur der Erzähler eine andere Haltung an: „Ich grüße jemand sehr höflich, der auf der Straße geht. Wer fährt, hat allen Grund, freundlich zu sein.“ Sondern auch der Text nimmt an Fahrt auf: „Hei, wie das saust, das fliegt ja förmlich.“ Genauso, wie die Straßenbahn ihre Fahrt beschleunigt, ändert sich das Erzähltempo. Die Aufmerksamkeit des Erzählers wechselt abrupt zwischen Innenraum der Straßenbahn – „Beständig steigen Personen aus und ein.“ – und durchquerter Stadt hin und her und wird mit einer raschen Folge von Beobachtungen konfrontiert: „Die Stadt erscheint mir vom Tram aus wie neu. Was sich da nicht alles bewegt: leichtfüßige Mädchen, Beamte, Studenten, Handwerker, Kaufleute. Plakate kleben an Mauern; Marktfrauen legen Melonen, Tomaten, Erdäpfel, Rüben, Kabis zum Verkauf aus. Über eine Brücke geht’s: durch Straßen rasselt’s.“
Die Kürze, die Walsers Text insgesamt ausmacht, findet sich auch in den einzelnen Sätzen. Der schnelle Wechsel der Eindrücke, wie ihn die Fahrt bedingt, führt dazu,
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dass diese nicht mehr erzählerisch ausformuliert werden können. Stattdessen ist es das Prinzip der Aufzählung, das dominiert. Das Denken, einmal durch die Fahrt in Gang gesetzt, reiht aber nicht nur Beobachtungen aneinander. Die Beobachtungen stellen auch den Anlass bereit, um immer wieder für kurze Momente abzuschweifen: „Einst sah ich in einem Tramwagen eine Frau, deren feinbeschuhte Füße einem Paar Täubchen glichen; es war abends spät, sie kam aus dem Theater.“ So unmittelbar und in sich sprunghaft diese kurze Reflexion einsetzt, so unmittelbar endet sie, weil wieder der äußere Eindruck in den Vordergrund tritt: „Wintersonne scheint. Etliche halten ihre Hände in den Hosentaschen. Wartet, bis es kälter wird. Die Vorsichtsmaßregel ist zu früh.“ Ging der Blick gerade noch durchs Wagenfenster nach draußen, dann wird sogleich und übergangslos die Aufmerksamkeit des Erzählers wieder ins Innere des Wagens gelenkt und mit einer Erinnerung verquickt: „Eine Dame im Pelz steigt ein wie die Sacher-Masochsche ‚Venus‘, die ich mit nicht geringem Entzücken einst in einem Stübchen las, von wo aus ich Sterne und Frauen andichtete, was mich eine herrliche Beschäftigung dünkte.“ Bevor noch diese Reflexionen über die Veränderung der Stadtwahrnehmung, die konkrete Beobachtung der Mitfahrenden und Passanten, die Erinnerung an verschiedene Damenbekanntschaften genauso wie an eine zurückliegende Lektüre in einen Zusammenhang gesetzt werden, ist die Straßenbahnfahrt – und mit ihr beinahe auch schon der Text – an ihrem vorläufigen Ende angekommen: „Wir sind am Bahnhof angelangt; hier steig ich um. Nummer 8 trägt mich weiter.“ Es folgt nach dem Hinweis auf das Aus- und Umsteigen noch eine kurze gedankliche Schlusskapriole, als würde der Wagen, kurz von dem endgültigen Halten, noch ein kleines Stück weiter ruckeln: „Einmal riet mir einer, ich möchte Straßenbahner sein, da könnt’ ich täglich Frauen aufs artigste behilflich sein. Ich lächle; das tut auch mein Aufsatz.“ – Bringt er hier zunächst selbst die Metaebene, die Reflexion der eigenen Textproduktion, ins Gespräch, dann ist fast absurd und seltsam angehängt der Gedanke, der dem Erzähler jetzt noch zuzufliegen scheint: „Hoch aus seinem Wohnsitz herab lächelt Gott mit Himmelsbläue und liebem, warmem Licht auf uns Erdenwesen, geht uns in unveränderter Gelassenheit mit bestem Beispiel voran, ist immer gütig.“ Genauso unvermittelt, wie sie mit dem Einsteigen begonnen hat, bricht die Gedankenreihung des Erzählers nun schlussendlich ab: Er verlässt die Bahn, die nicht nur ihn, sondern auch sein Denken in Bewegung gehalten hat. Das Ende der Fahrt wird hier gleichbedeutend mit dem Ende des Textes: „Ich greife weit aus, daß ich vom Tram zu so Erhabenem schweife“, fasst der Erzähler noch mal sein literarischen Prinzip zusammen, „find’ es aber ganz natürlich, bin
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nun an meinem Bestimmungsort und springe ab, und damit ist dieser Essay fertig; der erste ist’s nicht, wahrscheinlich auch nicht der letzte.“26 Die verkehrtechnischen Bedingungen der Straßenbahnfahrt präfigurieren neben der inhaltlichen auch die formale Organisation des Textes. Das gilt für den Text als ganzen, und genauso gilt es für die Struktur und Verknüpfung der einzelnen Sätze. Und genauso, wie der Erzähler in diesem Fall auf die Straßenbahn auf- und wieder abspringt und damit seinen Text in Gang setzt und zu einem Ende bringt, kann er beliebig viele weitere Fahrten im örtlichen Streckennetz unternehmen – und beliebig viele weitere Gedankenfahrten anschließen und zu kleinen Texten werden lassen.
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Das Brockhaus’ Konversationslexikon, wie es 1908 in vierzehnter Auflage erscheint, verzeichnet unter dem Stichwort „Straßenbahn“ eine Definition, die man nicht nur als eine sozialtechnische, sondern nachgerade auch als eine ästhetische Anweisung lesen kann: „Die Straßenbahnen haben den Zweck, die billigste und beste Fahrgelegenheit von einem Punkt zu einem andern in volkreichen Städten und deren Vororten zu gewähren. Der Straßenbahnverkehr ist demgemäß lokaler Natur und auf verhältnismäßig kurze Entfernungen beschränkt. […] Der Betrieb erfolgt so, daß einzelne Wagen oder kurze Züge von Wagen in kurzen Zeitabständen befördert werden.“27
So die leicht gekürzte Variante des Lexikon-Artikels. Als würde er sich unmittelbar darauf beziehen, schreibt Alfred Polgar in seinem programmatischen Vorwort zu seiner Textsammlung Orchester von oben, in dem er sich mit der Frage nach der Angemessenheit und literarischen Wertigkeit neuer Textformate wie der kleinen Form auseinandersetzt: „Ich halte episodische Kürze für durchaus angemessen der Rolle, die heute der Schriftstellerei zukommt […] – kürzeste Linie von Punkt zu Punkt heißt das Gebot der fliehenden Stunde.“28 Die Nahverkehrsinfrastruktur, als neue Form der Alltagsbewältigung und Stadtraumorganisation, wird zum – bewussten oder unbewussten – Muster einer Denk-
26 Walser, Robert: „Tramfahrt“, in: Wenn Schwache sich für stark halten. Prosa aus der Berner Zeit 1921-1925, S. 25. 27 Brockhaus’ Konversationslexikon, vierzehnte vollständig neubearbeitete Auflage von 1908, Bd. 15, S. 415. 28 Polgar, Alfred: Orchester von oben, S. 11ff.
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und Wahrnehmungsweise, die gerade in der neuen Haltung eines modernen Autors, der sich seiner Aureole entledigt und sich den urbanen Bedingungen angepasst hat, ihren offensichtlichsten Ausdruck findet. Wie man im Alltag auf Straßenbahn und Bus auf- und wieder abspringen kann, sich ein kurzes Stück fahren lässt, dann in ein anderes Transportmittel steigt, um die Richtung zu ändern, so wird der Schriftsteller sich im urbanen Zentrum ständiger Erregungen und Sensationen nun auch des geistigen Mediums bedienen: Er springt auf einen Gedanken auf, verfolgt ihn eine kurze Zeit, wechselt vielleicht abrupt die Richtung, betrachtet den Gedanken von einer anderen Seite und lässt ihn schließlich ruhen. Für diese ganze, spielerische Reflexion braucht der moderne Autor nicht mehr als ein paar Druckseiten, um am besten sogleich eine zweite Gedankenfahrt anschließen zu können. Der moderne Autor muss nicht mehr die Konstruktion eines komplexen Systemzusammenhangs beherrschen, sondern entscheidend ist die flexible, virtuos assoziationsreiche Lenkung des geistigen Vehikels, um auf kürzestem Wege zumindest das Aufflackern ephemerer Erkenntnisgehalte – als einzig noch möglicher Form der Erkenntnis überhaupt – zu realisieren. Hier zeigt sich noch einmal der ganz grundsätzliche Wechsel der Erzählerposition, der mit dem 20. Jahrhundert eintritt. Hat man es bisher üblicherweise mit der Figur eines Erzählers zu tun, der einen souveränen Blick über das Geschehen hat, dann begibt sich – genauso wie der Autor ins urbane Gewühl – der Erzähler in das Geschehen hinein. So ist er, um im Bild des Nahverkehrs zu bleiben, nicht der, der das System der Linien als Ordnungsmuster im Kopf hat, sondern er sitzt in einem Waggon auf einer Linie und lässt sich damit durch die Stadt transportieren. Seine Beobachterperspektive ist auf diese Weise nicht nur eine von unten kommende. Er entlässt auch das Zustande- und Zusammenkommen des Erzählten weitestgehend aus seinem Entscheidungsspielraum – oder gibt das zumindest vor – und übergibt sich dem Verkehrmittel, das die Beobachtungsperspektive des Erzählers durch die Stadt lenkt, ohne dass dieser diesen Verlauf selbst steuern könnte. Peter Utz beschreibt diesen Wandel der Erzählposition in der Metapher des Labyrinths. Der Erzähler und mit ihm der Autor begebe sich in der Moderne in das Labyrinth und damit in eine Position relativer Orientierungslosigkeit, anstatt wie bisher von oben zu schauen und damit die Ordnung dessen zu erkennen, was unübersichtlich wird, sobald man sich mit ihm auf Augenhöhe befindet: „Der Blick von oben erfasst das Labyrinth als architektonischen Raum, auf dem Weg unten erlebt man es hingegen in seiner Zeitlichkeit.“29 Die traditionelle Form labyrinthischer Erzählweise bestimmt Utz im weitesten Sinne als Entwicklungsroman. Dem labyrinthischen Gang des Helden sei hier der Text als initiatorischer Weg hin zu einem Ziel gegenübergestellt. Das Erzählprinzip der Moderne funktioniere nun ge-
29 Utz, Peter: Tanz auf den Rändern. Robert Walers „Jetztzeitstil“, S. 370.
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rade andersherum: „Es nimmt nicht nur die Position des allwissenden Erzählers über dem Labyrinth zurück und gibt damit den Anspruch auf ordnenden Überblick preis. Gleichzeitig wird damit auch die initiatorische, d.h. identitätsstiftende Zielgerichtetheit des Weges aufgegeben.“30 Dass das Bild vom Labyrinth seine moderne Entsprechung im Netzplan des Nahverkehrs findet, ist unschwer zu übersehen. Und so kann das Nahverkehrsnetz ähnlich wie die Labyrinth-Metapher auf der einen Seite eine Ordnung stiftende Funktion einnehmen, genauso aber kann es – wenn man sich als Passagier innerhalb dieses Systems bewegt – zum Auslöser von Orientierungslosigkeit oder zumindest von Passivität, was den realen wie den erzählerischen Streckenverlauf angeht, werden. Gerade in einer solchen Disposition des Subjekts werden die technischen Rahmenbedingungen umso ausgeprägter zur medialen Grundlage der Textgenese. Für die formale Ebene bedeutet das mithin, dass die Parameter der Fahrt den Text strukturieren und organisieren. Walser hat dieses neue Erzählprinzip in seiner Tramfahrt mit aller Virtuosität vorgeführt. Auch Schwitters bringt seine Thesen über die Straßenbahn nicht nur zu einer extremen Kürze, zur kleinen Form mithin. Das gedankliche Auf- und Abspringen wird hier mit solcher Konsequenz zum Prinzip des Schreibens gemacht – und dabei immer auch als Prinzip herausgestellt, dass die Grenzen zwischen den Realitäten der Fahrt und den innertextlichen Sprachspielen, die das epische Verfahren ersetzen, kaum noch auszumachen sind und strukturell dem Abschweifen und Wechsel der Aufmerksamkeit entsprechen, wie sie bei Walser im Detail nachvollzogen worden sind. Eines der bekanntesten Beispiele für die Verkürzung von Texten und die Reduzierung komplexer Zusammenhänge in Abhängigkeit von ihren inframedialen Bedingungen ist das Gedicht In a station of the metro von Ezra Pound. Auch wenn es nicht aus der deutschsprachigen Literatur stammt, ist ein Blick auf seinen Entstehungsprozess aufschlussreich. Pound, der zu den regelmäßigen Nutzern der Pariser Métro gehört, schreibt 1913 ein 30-zeiliges Gedicht, in dem er jene Augenblicke zu beschreiben versucht, in denen sich aus der anonymen Masse der Verkehrsteilnehmer plötzlich die Einzigartigkeit einzelner Gesichter entfaltet. Nach einem halben Jahr kürzt Pound sein Gedicht zunächst um die Hälfte. Am Ende der Bearbeitung, wiederum ein Jahr später, ist die endgültige Form erreicht: „The apparition of these faces in the crowd; / Petals on a wet, black bough.“31
30 Ebd. 31 Pound, Ezra: „In a station of the metro“: in: Axelrod, Steven Gould: The new anthology of American Poetry, Bd. 1: Traditions und Revolutions. Beginnings to 1900.
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Das wesentliche ästhetische Prinzip dieser im englischen Sprachraum sich formierenden „Imaginistischen Lyrik“, zu deren Vertretern Pound zählt, besteht darin, die visualistischen Qualitäten im Gegensatz zum Klanglichen, vor allem aber im Gegensatz zur Komplexität der Darstellung in den Vordergrund zu stellen und damit den Erlebnisformen im urbanen Raum anzupassen.32 Die ausführliche Schilderung des Umsteigens in der Metro wird in eine Form verwandelt, die der Erfahrung, wie sie von den Bedingungen des Verkehrs vorgegeben wird, entspricht: der Flüchtigkeit des Blicks und des Erkennens. In Walsers Tramfahrt ist die inframediale Wirkung des Verkehrs auf die Form deshalb noch ausgeprägter, weil nicht nur eine spezifische Kürze auf sie zurückgeht, sondern ganz deutlich ist hier geworden, wie die Straßenbahnfahrt den Aufbau und die Struktur eines Textes konfiguriert. Auch Schwitters Thesen über die Straßenbahn enden ja mit einer Reflexion über die Endhaltestelle, die nicht nur das Ende des Textes bedeutet, sondern zugleich die „Endhaltstelle“ des Lebens selbst ins Spiel bringt. Schon in Joseph Roths Feuilleton Die Tücke des Vehikels haben Anfang und Ende einer Straßenbahnfahrt den erzählerischen und formalen Rahmen des Textes vorgegeben, mit dem Unterschied nur, dass die der Fahrt vorausgehende und fast schon wie selbstverständlich zur Nahverkehrsszenerie gehörende Phase des Wartens auf die richtige Linie einen erheblichen Teil des Textes ausmacht. Dass Texte, die sich auf diese Weise den Bedingungen des technifizierten und urbanisierten Raums anpassen bzw. sie zum Medium ihrer ästhetischen Produktion machen, sich dem Vorwurf der leichten Konsumierbarkeit und der Kompatibilität aussetzen, ist wenig überraschend. Nicht zu übersehen ist, dass Walser, genauso wie Roth und Schwitters und mit ihnen viele mehr, diese Reaktion geradezu provozieren, indem sie mit betont lässiger Geste das Gemachte, Beliebige, Kurzweilige und Kurzlebige ihrer Texte ausstellen und sich damit ganz bewusst der tradierten Vorstellung einer überzeitlichen Bedeutung von literarischen Inhalten und Ästhetiken verweigern. Dass sie nichtsdestotrotz damit eine Darstellungsweise gefunden zu haben glauben, die einen adäquaten Umgang mit den Verhältnissen der Zeit darstellt, zeigt sich noch einmal bei Alfred Polgar, der sich in Orchester von oben mit den jüngsten Reaktionen seiner Kritiker auseinandersetzt: „Als Stunden, meistens hieß es ‚Stündchen‘, in die mein Buch tauge, wurden angegeben: das Stündchen nach dem Mittagessen. Das nach dem Abendessen. Das in der Straßenbahn.“ Polgars lakonischer und nicht unironischer, dabei aber durchaus programmatischer Kommentar:
32 Vgl. hierzu: Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, S. 135ff.
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„Aber ich möchte für die kleine Form, hätte ich nur hierzu das nötige Pathos, mit großen Worten eintreten: denn ich glaube, daß sie der Spannung und dem Bedürfnis der Zeit gemäß ist, gemäßer jedenfalls, als, wie eine flache Analogie vermuten mag, geschriebene Wolkenkratzer es sind.“33
Diese bewusste Abgrenzung von geschlossenen Erzähl- und Gedankensystemen und deren Ersetzung durch den Aspekt des Konstruktiv-Schöpferischen des Reflexionsvorgangs, wie sie gleichermaßen von kleiner Form, Feuilleton und Essay betrieben werden, findet sich nicht nur in der literarischen Produktion des frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch in zeitgenössischen Arbeiten aus Philosophie oder Soziologie. Hier ist es wiederum Georg Simmel, der eine dem fragmentarischen Charakter der Wirklichkeitserfahrung bewusst Rechnung tragende philosophische Methode etabliert. Simmels Studien der modernen urbanen Gesellschaft gründen auf der Überzeugung einer kontextuellen Vervielfältigung der Wirklichkeit, der die Standpunktunabhängigkeit des Sehens und die damit verbundene Einsicht entspricht, dass jede Totalität in einzelne, gegeneinander nicht privilegierbare Perspektiven zerfällt. Der Essay bildet damit als formales Prinzip eine Wirklichkeit ab, deren Seinsgehalte nur noch momentanen, hypothetischen Charakter haben. Eine ganz ähnliche Entwicklung, auf die an dieser Stelle zumindest kurz hingewiesen werden soll, ist in der zeitgenössischen bildenden Kunst zu beobachten, wo die Auflösung des festen Beobachterstandpunkts zum grundlegenden Stilprinzip wird. So stellt der Kubismus seine Objekte nicht mehr aus der stabilen Position der Zentralperspektive dar, sondern verschiedene, den Gegenstand umkreisende Ansichten werden in ihren gegenseitigen Überlagerungen abgebildet.34 Entsprechend tritt der sich ausdrücklich den Innovationen der technischen Entwicklungen verschreibende Futurismus für ein Programm ein, demzufolge die Geschwindigkeit des modernen Lebens nur durch bildinterne Relationen von Gegenstandsansichten, die sich durchdringen, ästhetisch erfahrbar zu machen ist.35
33 Polgar, Alfred: Orchester von oben, S. 10f. 34 Vgl. Hofmann, Werner: Grundlagen der modernen Kunst. Eine Einführung in ihre symbolischen Formen, S. 279-291, insbesondere S. 282. 35 Bereits 1877 hat Eadweard Muybridge in seinen Phasenbildern komplexe Bewegungsabläufe in einzelne Ansichten zerlegt, um die verschiedenen Komponenten des Vorgangs detaillierter darstellen zu können. Anders aber als die Futuristen und Kubisten bildet Muybridge die einzelnen Bewegungsintervalle in diachroner Aufeinanderfolge ab. Vgl. Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, S. 10.
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Wird mithin im narrativen Verfahren die lineare Erzähllogik zugunsten einer Reihung variabler Darstellungsversuche aufgegeben, so wird in der Malerei die Akkumulation elastischer Perspektiven stilprägend. Gemeinsam ist diesen Entwicklungen in den verschiedenen Disziplinen, dass den zentralen Anstoß für die theoretische Konstituierung neuer Formate und Darstellungsweisen immer wieder die urbane Erfahrung ist. So heißt es im Manifest zur futuristischen Malerei: „Die sechzehn Personen, die ihr in einer fahrenden Straßenbahn um euch habt, sind eine, zehn, vier, drei; sie stehen still und sie bewegen sich; sie kommen und gehen, sie prallen […] auf die Straße zurück, dann setzen sie sich wieder hin, beharrliche Symbole der universellen Vibration. […] die vorüberfahrende Straßenbahn (dringt) in die Häuser ein( ), die sich ihrerseits auf die Straßenbahn stürzen und sich mit ihr verquicken.“36
Der revolutionäre Gestus eines radikal veränderten Wirklichkeitspostulats, wie er in den Schriften des Futurismus zu finden ist, geht gerade da mit dem essayistischen Verfahren aus Philosophie und Literatur einher, wo es darum geht, das Darzustellende unter Aussparung der argumentativen Entwicklung seiner Thesen in der finalen und trotzdem variablen Essenz eines Erkenntnisprozesses zu komprimieren.37 Die Verarbeitung spezifisch moderner, aus dem Erlebnis der beschleunigten Verkehrsmittel stammender Wahrnehmungsdispositionen, die hierbei zum Tragen kommt, offenbart sich bereits in der Maltechnik der Futuristen, die anstelle des statisch-punktuellen Auftragens der Farbe eine dynamische Strichtechnik anwenden, die der Wahrnehmungsweise der Außenwelt aus der vorbeifahrenden Bewegung heraus entspricht. Nimmt man noch einmal das Werk Musils in den Blick, der einer der herausragenden zeitgenössischen Vertreter des essayistischen Verfahrens ist, kann man feststellen, dass es nicht nur die – innerhalb seines Werkkomplexes ohnehin weniger Raum einnehmenden – ästhetischen oder gesellschaftstheoretischen Reflexionen sind, die essayistisch angelegt sind. Bemerkenswert ist, dass das essayistische Prinzip eben-
36 Boccioni, Umberto/Carrà, Carlo D./Russolo, Luigi/Balla, Giacomo/Severeni, Gino: „Die futuristische Malerei – Technisches Manifest“, in: Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Futurismus. Geschichte. Ästhetik. Dokumente, S. 308. 37 Ähnlich ist das sprachphilosophische Verfahren Wittgensteins konzipiert, der seinen Leser auffordert, „sozusagen die Leiter weg(zu)werfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist“, mithin den Gang der Überlegungen zugunsten der letztgültigen Aussagen zu ignorieren. Wittgenstein, Ludwig: „Tractatus logico-philosophicus“, 6.54, in: Werkausgabe, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen, S. 85.
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falls Musils erzählerischem Großwerk Der Mann ohne Eigenschaften zugrunde liegt und auf diese Weise zur Grundlage einer spezifisch modernen Form des Romans wird, der in seiner herkömmlichen Variante als „große Form“ gemeinsam mit den „großen Erzählungen“ verabschiedet worden ist. Wenn die dezidiert kleine Form des Essays auch zur Grundlage eines umfangreicheren Werks werden kann, dann liegt das an seiner Eigenschaft zur Vernetzung. Der Essay ist sowohl in inhaltlicher wie in formaler Hinsicht kein in sich geschlossenes und abgeschlossenes Ganzes. Vielmehr ermöglicht die dynamische Varianz, die dem essayistischen Denken eigen ist, eine Verknüpfung und Verschaltung der einzelnen Texte untereinander, ganz so, wie die einzelnen Transportmittel und Linien des Nahverkehrs eine dynamisch-elastische Struktur darstellen: als Infrastruktur, die nicht als geschlossenes System, sondern immer nur als Möglichkeit eines Systems firmiert, die sich zeitweise realisiert. Musil beschreibt die essayistische Methode, ähnlich der Fahrt, in der wechselnde Bilder und Eindrücke am Betrachter vorbeiziehen, als ein reflexives Gleiten und Gleitenlassen von einem Aspekt zum nächsten, um auf diese Weise „ein unendliches System von Zusammenhängen (zu entdecken), in dem es unabhängige Bedeutungen, wie sie das gewöhnliche Leben in einer ersten groben Annäherung den Handlungen und Eigenschaften zuschreibt, überhaupt nicht mehr gab; das scheinbar Feste wurde darin zum durchlässigen Vorwand für viele andere Bedeutungen, das Geschehende zum Symbol von etwas, das vielleicht nicht geschah, aber hindurch gefühlt wurde, […].“38
Mithin zeichnet sich der essayistische Roman durch die Ablösung der narrativen Linearität und deren Ersetzung durch eine synchrone Flächigkeit des Erzählprinzips aus, das weniger durch Charaktere und deren Handlungen als durch das Nebeneinander der Reflexionseinheiten bestimmt ist. Ulrich wird in seinem Postulat der essayistischen Lebensweise, die sich nicht nur durch die Verweigerung der Annnahme einer letztgültigen Gegenwart auszeichnet, sondern darüber hinaus das individuelle Reservoir charakterlicher Dispositionen zugunsten der potentiellen und zeitlich begrenzten Aneignung von Eigenschaften ablehnt, zur Verkörperung dieses neuen epischen Prinzips. Genauso wie die Figuren Robert Müllers, die nicht mehr Charaktere im eigentlichen Sinne sind, sondern als intellektuelle Ideenträger fungieren, als personifizierte Anlässe des essayistischen Gedankenexperiments.39Als Nomaden der Metropole wechseln Müllers
38 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 251. 39 Das „Buch soll Ideen haben, die spazieren gehen“ heißt es in Tropen, in vermutlich bewusster Anlehnung an Montaignes Essais, deren spielerische Anlage im Bild der flanie-
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Figuren ihre Ansichten und Kleider ebenso wie ihre Physiognomien und Identitäten und werden von der modernen Technik – von einem Verkehrsmittel zum nächsten Beförderungsgerät umsteigend – durch das pulsierende Leben der Stadt geschleust: „An der Untergrund-Zentral-Halle-Station verließ er das Automobil. […] Steward verschwand in einer mittelmäßig erhellten Zelle, die mit ihm durch eine Röhre toste. […] Die Untergrundbahn! […] Im Hotel Manison leierte Steward, am Rollteppich aufwärts gleitend, da ihm der Paternoster zu langsam betete, sich längs einer lax hängenden Samtgirlande empor […]. Gerade passierte ein Lastenaufzug, von oben herabgesenkt, das Stockwerk. […] da sprang Steward darauf und schmolz hinab in die Kellerräume.“40
Wurde dieses Dauertransitorium schon als Auslöser neuartiger körperlich-geistiger Subjektzustände als wesentlich beschrieben, dann kommt ihnen in formaler Hinsicht gerade deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil der momentane – zeitweise auch nur imaginierte – Aufenthalt der transitorischen Charaktere im Verkehrsmittel zu derjenigen stabilen Größe wird, die die in Ideengehalte aufgelösten Figuren Müllers sowie die fluktuierenden Eindrücke der Stadt wenigstens für kurze Zeit in einen erzählbaren Rahmen bannt, auch wenn auf der Ebene der Figuren sich gerade diese Trennschärfe auflöst. Diese Qualität der vorübergehenden Verfestigung des flüchtig Fluiden teilen die Fortbewegungsmittel des Personennahverkehrs wiederum mit einem anderen Transportmittel, auf dessen strukturelle Verwandtschaft zur Verkehrsinfrastruktur im Abschnitt über die Straßenbahnfahrten in Musils Mann ohne Eigenschaften hingewiesen worden ist: den Zeitungen, die – in vorgefertigten Formeln zwar – in der Lage sind, die Unübersichtlichkeit des Geschehens in eine Form der Mitteilbarkeit zu bringen, wenngleich sie „den fließend vielgestaltigen Aspekten des Lebens unangemessen erscheinen“41.
4. T RANSPORT - UND I NFORMATIONSNETZ : N AHVERKEHR UND P RESSE Ähnlich flächendeckend wie von der Nahverkehrsinfrastruktur wird die moderne Metropole nach der Jahrhundertwende von einer anderen Infrastruktur überzogen:
renden Gedanken zu fassen ist. Müller, Robert: Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs, S. 238. 40 Ders.: Camera obscura, S. 130-132. 41 Schütz, Erhard: „‚Du brauchst bloß in die Zeitung hineinzusehen‘. Der große Roman im ‚feuilletonistischen Zeitalter‘: Robert Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ im Kontext“, in: Zeitschrift für Germanistik, 2/1997, S. 281.
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vom Pressenetz, das ebenso unverhältnismäßig schnell expandiert wie die Verkehrsmittel. Allein 26% der gesamten deutschen Zeitungsproduktion sind dabei in Berlin ansässig, das deshalb schnell den Beinamen „Zeitungsstadt“ erhält. „Von den 147 Berliner Zeitungen erschienen 93 sechsmal oder öfter in der Woche; 18 erschienen wöchentlich zwei- bis fünfmal; 29 erschienen wöchentlich einmal.“42 Nicht nur über die Faktoren von Masse und Erscheinungsdichte ähneln sich die beiden Infrastrukturen. Gleichermaßen stehen sie auch beide in einem medialen Zusammenhang, der neue Formen von Geschwindigkeit in den urbanen Raum hineinbringt: „Wie das Kommunikations- und Transportwesen insgesamt ein Beschleunigungsmittel ist, […] ist die Presse – die als Werbeträger der Zirkulationszeitverkürzung dient – als Zeichenträger ein mentaler Beschleuniger, der zu einem radikalen Wandel im Zeiterleben, zur Erhöhung der sozialen Umschlagsgeschwindigkeit beiträgt.“43
Anhand der Anfangspassage von Berlin Alexanderplatz ist dargestellt worden, wie Döblin vermittels seines erzählerischen Prinzips der Montage seinen Großstadtneuling, den gerade aus dem Gefängnis entlassenen Biberkopf, die Rückkehr in den urbanen Raum nicht nur als Fahrt mit der Elektrischen, sondern vor allem auch als ein Geschwirr von Zeitungsnamen erleben lässt: „[…] die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg […]. Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backen schwirrte es. ‚Zwölf-Uhr-Mittagszeitung‘, ‚BZ‘, ‚Die neue Illustrierte‘, ‚Die Funkstunde neu‘, […].“44 Technischen Innovationen im Zeitungswesen wie Telegraphie, Rotationspresse und Autotypie ermöglichen, den Zeitraum zwischen dem eigentlichen Ereignis und dessen Erscheinen als gedruckte, durch Bilder ergänzte Meldung auf ein absolutes
42 Lethen, Helmut: „Chigaco und Moskau. Berlins moderne Kultur der 20er Jahre zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Gillen, Eckhart (Hg.): Die Metropole: Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, S. 210. Weiterhin listet Lethen auf: „Es gibt zwei fremdsprachige Zeitungen, eine russische und eine polnische. Die auflagenstärksten Zeitschriften und Zeitungen sind: Berliner Illustrierte 1 950 000 (Okt. 1929); Berliner Morgenpost 623 000 (1930); BZ am Mittag 202 000 (1929); Vossische Zeitung 81 000 (1931); Tempo 145 000; Blatt der Hausfrau 551 000 (1931); Grüne Post 1 250 000 (1931).“ 43 Lindner, Rolf: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung des Reporters, S. 22. 44 Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, S. 13.
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Minimum zu verkürzen. 45 Die Tendenz zum möglichst zeitnahen Anschluss an die Wirklichkeit und zur Beschleunigung des Erscheinens der Zeitungen steigert sich dabei streckenweise zu einem kurios anmutenden Selbstüberholungsprozess: „Die Zeitung ‚Der Montag‘ aus dem Hugenbergkonzern erscheint nicht montags, sondern bereits am Sonntagabend, die ‚Nachtausgabe‘ erscheint natürlich am Nachmittag. Das ‚12Uhr-Blatt‘ mit dem ausführlicheren Sport- und Theater-Teil, das in Konkurrenz zur ‚BZ am Mittag‘ steht, erscheint nicht um 12, sondern gegen 11, ein wenig später um halb zehn und schließlich um 8 Uhr früh, […], während das ‚Acht-Uhr-Abendblatt‘ schon um 5 Uhr nachmittags zu kaufen ist.“46
Joseph Roth ironisiert diese Tendenz zur permanenten Steigerung von Produktionsund Distributionsgeschwindigkeiten auf dem Pressesektor in einem für die Münchner Neuesten Nachrichten verfassten Porträt über den hauptstädtischen Kurfürstendamm, gar als eine mediale Triebkraft, die natürliche Gefüge der Tageszeiten selbst aus dem Tritt zu bringen scheint: „Die Zeitungen sind schneller als die Zeit, nicht einmal das Tempo, das sie selbst erfunden haben, kann ihnen nachkommen. Atemlos rennt der Nachmittag dem Spätabendblatt nach und der Abend dem Morgenblatt vom Morgen. Die Mitternacht sieht sich bereits mit Schrecken vom morgigen Nachmittag überholt und hofft inbrünstig auf einen Streik der Setzer, um sich einmal in Ruhe wie eine Mitternacht betragen zu dürfen.“47
Wenn die Tageszeitung der „zeichenhafte( ), diskursive( ) Spiegel“48 des urbanen Raums wird, dann geschieht dies mithin nicht nur in ihrer Eigenschaft als Vermittler inhaltlicher Informationen. Vielmehr ist es gleichsam die Medialität von Strukturen und Formen, der entscheidende Bedeutung zukommt. Nach der Jahrhundertwende verändern sich nicht nur die Erscheinungsdichte und die Erscheinungsgeschwindigkeit der Zeitung. Auch ihr Layout wird grundsätzlich verändert und den modernen Rezeptionsgewohnheiten angepasst. Wesentliches Gestaltungskrite-
45 Vgl. hierzu ausführlich: Stöber, Rudolf: Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar, S. 113-125. 46 Lethen, Helmut: „Chigaco und Moskau. Berlins moderne Kultur der 20er Jahre zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise“, in: Boberg, Jochen/Fichter, Tilman/Gillen, Eckhart (Hg.): Die Metropole: Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, S. 211. 47 Roth, Joseph: „Der Kurfürstendamm“, in: Münchner Neueste Nachrichten, 29.9.1929. 48 Köster, Thomas: Bilderschrift der Großstadt. Studien zum Werk Robert Müllers, S. 54.
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rium ist dabei die Ausrichtung der Typographie danach, was in den unruhigen Fahrten der öffentlichen Verkehrsmittel entziffert werden kann.49 Kurt Tucholsky, der selbst, zuweilen unter Pseudonym50 für verschiedene Zeitungen schreibt, kommentiert diese Entwicklung: „Kein Zeitungsmann zerbricht sich den Kopf so über die Gewinnung neuer wichtiger Nachrichten wie über die Textierung des alten herkömmlichen Materials.“51 Und an anderer Stelle: „Der Verfasser der Schlagzeile, der Anordner von Fettdruck weiß, was er tut. Der Leser weiß selten, was er liest und verwechselt das Arrangement mit der Schwere der Ereignisse. Das soll er auch.“52 Ganz ähnlich der Tenor bei Joseph Roth: „Ich sehe die Typographie zur Weltanschauung entwickelt. Das Wichtige und das minder Wichtige und das Unwichtige sind nur wichtig, minder wichtig, unwichtig erscheinende Angelegenheiten. Nur aus ihrem Bild lesen wir den Wert ab, nicht aus ihrem Wesen. Das Ereignis der Woche ist dasjenige, das durch Druck, Geste, ausholende Armbewegung zum Ereignis der Woche genannt wurde.“53
Wertfreier lässt sich, wovon Tucholsky und Roth sprechen, so zusammenfassen: Die einzelnen Texte und Meldungen werden übersichtlicher angeordnet, die wichtigen herausgestellt. Durch fettgedruckte Überschriften, Zusammenfassungen des Kerngehalts zu Anfang der Artikel und strukturierende Zwischentitel wird die Zeitung leichter konsumierbar und passt sich der diagnostizierten allgemeinen Tendenz zur Dekonzentration an, indem dem flüchtigen und abschweifenden Lesen, dem schnellen Umsteigen von einem Artikel zum nächsten als genuin moderner Rezeptionshaltung entsprochen wird. 54 Gleichzeitig funktioniert die Zeitung damit natürlich auch als eine Form des Trainings, das den Großstädter auf die veränderten Wahrnehmungsverhältnisse einstellt. Genauso wie der Nahverkehr seinen Benut-
49 Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, S. 48. 50 Ignaz Wrobel und Theobald Tiger sind die bekanntesten. 51 Tucholsky, Kurt: „Der neue Zeitungsstil“, in: Werke, Bd. 3, S. 528. 52 Ders.: „Presse und Realität“, in: Werke, Bd. 3, S. 65. 53 Roth, Joseph: „Spaziergang“, in: Berliner Börsen-Courier, 24.5.1921, Gesammelte Werke, Bd. I, S. 564ff. 54 Vgl. hierzu Theurer, Werner: „Zeitungsstadt“, in: Hickethier, Kurt (Hg.): Mythos Berlin. Zur Wahrnehmungsgeschichte einer industriellen Metropole, S. 168. Wolfgang Schivelbusch beschreibt, dass die spezifische Lektüre der Eisenbahnpassagiere zunächst noch das Buch gewesen, mit zunehmender Tendenz zur Zerstreuung aber die Zeitung zum verbreitetsten Lesestoff geworden sei. Vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, S. 63-66.
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zern ein schnelles Wahrnehmungs- und Reaktionsvermögen abverlangt und damit an der Herausbildung eines modernen Verkehrsteilnehmers mitarbeitet, konditioniert die Zeitung den Typus des modernen Lesers, der in der Lage ist, Informationen schnell aufzunehmen, zwischen neben- und übereinander platzierten Texten hin- und herzuwechseln und das alles zumeist, während eine überfüllte U-Bahn oder ein schwankender Bus ihn durch die Stadt transportiert. Nicht zuletzt durch diese Synchronisierung mit den Bedingungen des Verkehrs und durch die Wechselwirkungen zwischen Presse und Verkehr wird das permanente, nachgerade habitualisierte Lesen von Tageszeitungen innerhalb des Bild- und Darstellungskomplexes Nahverkehr zu einem zentralen Topos mit ikonographischem Stellenwert. Als Automatismus und Ritual wird das Zeitungslesen in Robert Müllers Manhattan beschrieben: „Die von der Arbeit erschöpften Bewegungen dienen mit letzter Zähigkeit dazu, die unhandliche Zeitung innerhalb der unbequemen Menge in rücksichtslos zerknitterter Form und mit genierlichster Haltung dem Blicke erreichbar zu machen.“55 Auch in Lion Feuchtwangers kurzer Erzählung Ein Waggon der Untergrundbahn scheint die Fahrt – und damit auch Feuchtwangers Text selbst – geradezu zwangsläufig mit der Lektüre von Zeitungsmeldungen einherzugehen: „Viele lasen die kaum eine Stunde alten Spätabendzeitungen mit ihren Bildern und ihren heftig die Neugier stachelnden Schlagzeilen. ‚Attentat auf den Abgeordneten Geyer‘ hieß die Schlagzeile des einen Blattes. Die andere Zeitung hingegen, diese Mitteilung in unscheinbaren Lettern auf der zweiten Seite bringend, behielt die Schlagzeile ihrer ersten Seite ‚Großen Unterschleifen revolutionärer Beamten‘ vor. […] Dies also lasen die meisten Fahrgäste des Waggons 419 der Berliner Hoch- und Untergrundbahn am 28. Juni abends. […] Zwei junge Menschen, die, die Köpfe gegeneinandergeneigt, zusammen aus einem Zeitungsblatt die Nachricht gelesen hatten, sahen sich an, finster angerührt, schwiegen, die Gesichter fast verstört. […] ‚Immer mit ihrer faden Politik‘, dachte ein Mann mit einer Maske starrer Männlichkeit, einen riesigen Ring am Finger, und blätterte weiter zu dem Bericht über die gestrige Premiere, in der ein Fachkollege gespielt hatte. […] ‚Zeiten sind das!‘ jammerte eine aufgeregte Dame, die die Nachricht, einem andern Fahrgast über die Schulter lugend, erspäht hatte.“
Aber das ganze Panorama von Figuren, das Feuchtwanger in seinem Text in ihrer Eigenschaft als Zeitungsleser vorstellt, geht genauso wie die vermeintliche Brisanz der Zeitungsmeldungen mit dem Aussteigen aus der U-Bahn in Anonymität auf und fällt damit dem Vergessen anheim:
55 Müller, Robert: „Manhattan“, in: Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte, S. 138f.
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„An jeder Station stiegen Leute aus, gingen rasch dem Ausgang zu, zum Abendessen, zu einem Mädchen, einem Freund, ins Kino. Schon auf den Stufen hinauf in den Tag hatten sie den Zeitungsbericht vergessen, und das heftige Geschrei der Zeitungsverkäufer ‚Attentat auf den Abgeordneten Geyer‘ klang als etwas Abgelebtes, Langweiliges in die Ohren der Eiligen.“56
Nahezu endlos ließen sich Textbeispiele über die Korrelation von Zeitungslektüre und Fahrt im öffentlichen Nahverkehr anfügen. Wenn nun das Zeitungswesen nicht nur das neue Lektüreformat der Großstadt wird, sondern sich durch die Entwicklung neuer Produktions- und Layouttechniken dem universalen technischen Fortschritt der Moderne anpasst bzw. selbst wesentlicher Faktor innerhalb dieser Entwicklung wird, dann ist es naheliegend, dass die Zeitung und insbesondere das Feuilleton zu demjenigen Lektüre- bzw. Textformat werden, dem eben aufgrund dieser Einbindung in allgemeine Technisierungs- und Modernisierungstendenzen wesentlicher Anteil an der krisenhaften Erfahrung der erzähltheoretischen Umbruchssituation an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zugeschrieben werden. Die bekannteste Formel für diese Krisenerfahrung ist zweifelsohne Benjamins These vom Ende des Erzählens. Er leitet sie – neben der grundsätzlichen Diagnose einer Inkommensurabilität des Technischen – aus der inflationären Verbreitung des Geschehens durch das Medium der ständig mit neuem Informationsgehalt bestückten Zeitungen ab: „Wenn die Kunst des Erzählens selten geworden ist, so hat die Verbreitung der Information einen entscheidenden Anteil an diesem Sachverhalt. Jeder Morgen unterrichtet uns über Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm. Das kommt, weil uns keine Begebenheit mehr erreicht, die nicht mit Erklärungen schon durchsetzt wäre.“57
Der Tatbestand des rationalen Erklärens rückt, so Benjamin, die Zeitung fern aller Möglichkeit der geistigen Kreativität: „Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet. Das Rascheln im Blätterwalde vertreibt ihn.“58 Benja-
56 Feuchtwanger, Lion: „Ein Waggon der Untergrundbahn“, in: Günther, Herbert (Hg.): Hier schreibt Berlin. Ein Dokument der 20er Jahre, S. 108. 57 Benjamin, Walter: „Der Erzähler“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II/2, S. 444f. Die Absicht der Presse, so Benjamin, „besteht darin, die Ereignisse gegen den Bereich abzudichten, in dem sie die Erfahrung des Lesers betreffen könnten“. Benjamin, Walter: „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: Gesammelte Schriften, Bd. I/2, S. 610. 58 Benjamin, Walter: „Der Erzähler“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II/2, S. 446.
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min leitet also seine These vom Ende des Erzählens aus der Feststellung einer Dominanz des Rationalen ab, worunter er das technisierte Medium Zeitung ebenso verstanden wissen will wie den technisierten Verkehr. 59 Unbeachtet bleibt dabei, dass für den Bereich „unter dem Strich“, der in der Zeitung die Binnendifferenzierung zwischen Nachricht und Feuilleton markiert, speziellere Regeln gelten. Wenn es der Nachrichtenteil der Zeitung ist, der qua Informationsvermittlung ein Ordnungs- und Orientierungssystem bereitstellt und auf diese Weise als Faktor einer allgemeinen Tendenz zur Rationalisierung gesehen werden kann, dann zeichnet sich das Feuilleton im Gegensatz dazu durch bewusste Brüche und Dissoziationen dieser Orientierungsdiskurse aus. Die inhaltliche und formale Besonderheit von Texten unter dem Strich ist, dass sie die medialen Bedingungen des urbanen Raums aufnehmen und abbilden, in formaler wie inhaltlicher Hinsicht, dabei gleichzeitig bewusst dessen Konterkarierung zelebrieren – um damit natürlich wiederum nur an seinem Image mitzuarbeiten. Dass Benjamin allerdings mit seinen Vorbehalten gegen das Pressewesen keineswegs allein dasteht, zeigen die unzähligen Äußerungen die sich im Namen der Literatur gegen die inhaltliche und stilistische Beliebigkeit des Feuilletons wenden. Kraus’ Formel vom „auf der Glatze Locken drehen“60 ist eine der bekanntesten und schon zum Bonmot gewordene Kritik einer vermeintlichen inhaltlichen Substanzlosigkeit bei stilistisch-formaler Elastizität, im besten Falle noch Virtuosität, die dem Feuilleton von seinen Kritikern unterstellt wird, die darin seine Vergänglichkeit, die sich der Flüchtigkeit seiner Beobachtungen anpasst, gleich mit eingeschlossen wissen wollen. Für Adolf Grabowsky ist das Feuilleton nichts als eine „Zusammenstoppelung […] von Arabesken und Ornamenten“. Schon Nietzsche nennt Feuilletonisten die plaudernden „Hofnarren der Kultur“61. Die Reihe ließe sich beliebig ergänzen. Nicht zuletzt kann man solcherart Ablehnung auch als eine Reaktion auf eine Prognose verstehen, die Hermann Bahr schon 1890 formuliert hat: Dass die Entdeckung und Anerkennung des Feuilletons als Kunstgattung quasinatürlich die Auflösung
59 Dass Benjamins These vom Ende des Erzählens allerdings womöglich gar nicht so zeitspezifisch und -analytisch gemeint war, wie sie gelesen wird, zeigt allerdings, dass Benjamin in seinem Essay über das Erzählen auch den Roman bereits als eine Verfallserscheinung, der eigentlich ursprünglichen Form des Epos, verstanden wissen will. 60 Kraus, Karl: Heine und die Folgen, S. 20. 61 Nietzsche, Friedrich: „Menschliches, Allzumenschliches“, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 165.
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aller anderen Künste nach sich ziehen und die „feuilletonistische Anschauung“ als einzig adäquate Vermittlung der „modernen Wahrheit“ installieren würde. 62 Verschiedentlich ist aber darauf hingewiesen worden, dass es sich hierbei – neben der zeitungsinternen Differenzierung zwischen Nachrichtenteil und Feuilleton – vor allem um letzte Abgrenzungsdiskurse handelt, die sich zumeist in der rhetorischen Geste erschöpften. Im Gegenteil ist gerade in jüngeren Arbeiten das Feuilleton als Experimentierfeld neuer erzählerischer Formen und Schreibweisen gewürdigt worden, denen sich auch diejenigen gern bedienten, die in ihren Verlautbarungen als seine Verächter auftraten. Kaum einer der zeitgenössischen Autoren, der nicht neben seiner eigenen literarischen Tätigkeit auch Texte für das Feuilleton geschrieben hat. – Nicht ohne natürlich, wie etwa Robert Walser, die Mühen dieses Broterwerbs immer wieder herauszustellen: „Wenn ich Zeitschriftenlieferant werden sollte, lieber ginge ich ‚unter die Soldaten‘“,63 schreibt er 1907 an Christian Morgenstern, bei dem es sich indes, daran ist diese Äußerung zu messen, um seinen Lektor handelt. Allenthalben liest man Kommentare wie diesen: „Meine Artikelschreiben kommt mir wie eine Tretmühle vor.“64 Eine Tretmühle allerdings, aus der umso beachtlichere Texte hervorgegangen sind.
5. D ICHTERSTAFETTE
AUF DEM
A UTOBUS
Peter Utz weist auf eine spezielle Funktion hin, die dem Feuilleton innerhalb der Zeitung zukommt. Leseranbindung qua Lokalfeuilleton 65 nennt er diese Funktion, die darin bestehe, dass durch die Thematisierung bestimmter vertrauter Orte und Sujets die Zeitung nicht nur einen Wiedererkennungswert erhält, sondern ein Gefühl der Vertrautheit und Affiziertheit beim Leser erzeugt. Die These von der Imagebildung durch Textproduktion geht, auf das Feuilleton angewendet, noch einen Schritt weiter. Sie besagt zum einen, dass es die Texte sind, die diese Lokaltopographie allererst erzeugen. Darüber hinaus sagt sie, dass diese Lokaltopographien an die jeweiligen inframedialen Bedingungen einer Zeit gekoppelt sind. Wenn mithin das Bild von Berlin sich nicht zuletzt aus einer „Feuilletontopographie“66 zusammensetzt, die zunächst vor allem durch lokale Zentren wie den Tiergarten, das Charlottenburger Schloss oder die Friedrichstraße geprägt worden ist, dann werden mit der Etablierung des Nahverkehrs die Routen, mehr und
62 Bahr, Herrmann: Das Labyrinth der Gegenwart. 63 Walser, Robert: Gesammelte Werke, Bd. XII/2, S. 49. 64 Ders.: Aus dem Bleistiftgebiet, Bd. IV, S. 36. 65 Utz, Peter: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers „Jetztzeitstil“, S. 313. 66 Ebd.
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mehr aber auch die Verkehrsmittel selbst zu denjenigen lokalen Topographien, die das Image der Stadt ausmachen und in die Identitätsvorstellungen eingeschrieben werden. Zu diesem Image gehört das ständige Überfülltsein genauso wie das Weltstädtische des technisierten Verkehrs (und natürlich auch dessen Gegenteil) und seiner Hauptadern, die habituelle Abschottung der anderen Fahrgäste genauso wie die Möglichkeit, hier zumindest in visuellen Kontakt mit Mitfahrenden des anderen Geschlechts zu treten: mithin das ganze Spektrum dessen, was in den vorangegangenen Abschnitten in seinem Facettenreichtum, seiner Widersprüchlichkeit und seiner Entwicklung dargestellt worden ist. Im Dezember 1928 initiiert das Berliner Tageblatt ein Projekt,67 das Ausdruck dieser Lokaltopographie ist, und das zugleich im Sinne der urbanen Imagebildung auftritt. Dichterstafette auf dem Autobus nennt es sich, und die knappe Vorstellung des Projekts in der Unterzeile lautet wie folgt: „Wir haben eine Anzahl Schriftsteller gebeten, sich eine Strecke jener Omnibuslinie herauszusuchen, die ungefähr von den Linden nach Halensee führt, und die Eindrücke während dieser kurzen Fahrt zu schildern.“68 Alfred Döblin, Arnolt Bronnen, Walter von Molo, Walter Mehring, Alfred Polgar, Arnold Zweig, Oskar Loerke, Alice Berend und Leonard Frank sind die neun Schriftsteller, die sich im Auftrag des Berliner Tageblatts auf eine Reise mit den Berliner Nahverkehrsbetrieben begeben.69 Die Texte der Dichterstafette erscheinen gemeinsam am 1. Januar 1929 auf einer Doppelseite, in unorthodox aufgelockerter Anordnung unter- und nebeneinander, so dass dem zeitgenössischen Leser – der unter Umständen während seiner Lektüre sogar in einem öffentlichen Verkehrsmittel sitzt – das hin und her springende Lesen, das Umsteigen von einem Artikel zum anderen, nicht nur gestattet, sondern geradezu aufgenötigt wird. Die inhaltliche Kontextualisierung vermittels der allgemein einleitenden Zeilen der Redaktion, durch die jeder Text einen autonomen Status erhält, befördert zusätzlich dieses Prinzip des nicht-linearen Lesens als Wesen der kleinen Form. Wer allerdings Berlins Topographie nur einigermaßen kennt – und das wird für den Großteil der Leser des Berliner Tageblatts gelten – wird die einzelnen Feuilletons, die kleinen Formen, in einen großen Zusammenhang setzen können. Alexanderplatz, Unter den Linden, Friedrichstrasse, Potsdamer Platz, Lützowufer, Tau-
67 Ein vergleichbares Projekt aus dem Jahr 1932 ist „Sieben suchen den Berliner Frühling“, in: Berliner Tageblatt, 27.3.1932 (Osterbeilage), in dem sieben Autoren einen Ausflug in den Grunewald unternehmen. 68 Berliner Tageblatt, 1.1.1929. 69 Im Folgenden wird aufgrund der Kürze des Textes auf den Ausweis der Seitenzahlen der einzelnen Zitate verzichtet.
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entzienstrasse, Gedächtniskirche, Kurfürstendamm, Halensee heißen die neun Texte und markieren damit jeweils eine populäre Station bzw. einen Abschnitt der Strecke, die man zurücklegen muss, will man vom Alexanderplatz im Osten bis nach Halensee im westlichen Teil der Stadt gelangen. Trotz dieses räumlichen Kontextes, den die Texte gemeinsam formen, indem sie zumindest nominell den gesamten Streckenverlauf einer Buslinie zwischen Alexanderplatz und Halensee abbilden, sind sie durchaus unterschiedlich. Sowohl, was ihre Beobachtungs- und Erzählperspektiven, als auch was ihre speziellen Sujets angeht. So sehr die thematische und formale Kohärenz der Texte ist, so heterogen sind sie. Das führt dazu, dass nahezu das gesamte Spektrum typischer Themenkomplexe, die mit dem Topos Nahverkehr in Verbindung stehen oder sich aus diesem ergeben, in den Texten der Dichterstafette zu finden ist und damit noch einmal wie in einer Art Revue vorgeführt werden kann – oder aber, um in dem Bild zu bleiben, das in den einleitenden Passagen dieser Untersuchung über Roths Feuilleton Die Tücke des Vehikels verwendet wurde: Wie in einem Abspann. Zunächst einmal unterscheiden sich die Texte der Dichterstafette darin, ob in ihnen die Erzählperspektive tatsächlich in einen Bus verlegt wird, oder ob die Angaben der Redaktion nur als Markierungen von bestimmten Punkten innerhalb der Stadt begriffen werden. In Alfred Polgars Kurfürstendamm ist letzteres der Fall. Weder der Vorgang des Fahrens, noch der Bus selbst werden in diesem Feuilleton zum Thema. Polgar versteht die Angabe der Linienführung nicht als Aufforderung zur Benutzung derselben (auch wenn in der redaktionellen Überschrift ausdrücklich von den Eindrücken der Fahrt die Rede ist), sondern vielmehr als Festlegung von Koordinaten innerhalb des Stadtraums. Der Netzplan des öffentlichen Nahverkehrs wird dabei jenseits komplizierter Umschreibungen zum verweisenden Orientierungssystem der Stadt. Trotzdem bzw. umso mehr aber ist Polgars Feuilleton ein Text über den Verkehr. Nicht nur von einer einzelnen Fahrt erzählt er, vielmehr wird der Kurfürstendamm als ein Umschlagplatz von Verkehrs-, Waren- und Menschenströmen geschildert, in dem der einzelne Bus oder die einzelne Buslinie nur ein Teilaspekt ist, der diese Ströme mitformt: „Der Kurfürstendamm ist die blutreichste Verkehrsader im Westen Berlins“, setzt er ein, „an ihr kann man, wie sich das für eine rechte Ader schickt, den Puls der Stadt, der Stadt den Puls fühlen.“ Die organische Metaphorik, die dem Technischen-Materiellen ein vitales und naturales Gepräge gibt, zieht sich durch den gesamten Text. Es sieht so aus, „als ob streckenweise die Wogen des Häusermeers zurückgetreten wären“, schreibt Polgar und: „Der Kurfürstendamm hat sein besonderes Klima, welches den Kreislauf des Geldes beschleunigt und die Erwerbsdrüsen sowie auch die Sinnlichkeit kräftig anregt. Von den frühen Morgenstunden bis hinein in diese erfüllt ihn brausendes Geräusch der Menschen und Sa-
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chen, das von boshaften Kleinstädtern als Kriegsgeheul der Eingeborenen, von den aus Budapest oder Wien Zugereisten aber als Ruf des Lebens wahrgenommen wird.“
Der Kurfürstendamm wird bei Polgar zu einer vitalen Relaisstelle im infrastrukturellen Netz, das seine Fäden unendlich weit fort zu spinnen scheint: „Der Kurfürstendamm beginnt bei der Gedächtniskirche und hört nie auf.“ Die Tauentzienstrasse, die am Wittenbergplatz beginnt und an der Gedächtniskirche endet, wo sie sich mit dem Kurfürstendamm trifft, offenbart in der Schilderung von Alice Berend ebendiese Menschen-, Sachen- und Ereignisdichte, wie sie auch auf dem Kurfürstendamm zu herrschen scheint: „Der ‚rasende Emil‘ schleudert uns über den Wittenbergplatz in die Tauentzienstrasse. Der Boulevard von Berlin beginnt. Von überall zischen Reklamelichter an. Die Untergrundbahn schluckt ein, speit aus, Lavaströme Uebereiliger. Der Kaufpalast blendet vom Dachfirst bis zum Keller. Knäul auf Knäul Kaufwilliger stürzt sich in den Glanz der Wohlfeilheit.“
Auch hier trifft man mit der schluckenden und speienden U-Bahn, den „Lavaströme(n) Uebereiliger“ und den „Knäul(en) Kaufwilliger“ auf die organische Metaphorik, die schon Polgars Schilderungen bestimmt hat, und die dem Geschehen eine vitalistische Dynamik verleiht. Dass Berend das Geschehen allerdings im Gegensatz zu Polgar tatsächlich vom fahrenden Bus aus betrachtet, lässt aus ihrem Text eine gehetzte Aufzählung verschiedenster Eindrücke und Beobachtungen werden, die aus der Masse des Geschehens in die Aufmerksamkeit der Beobachterin fallen. Kurze Szenen oder Ausschnitte, die in ihrer Kontextlosigkeit verbleiben müssen: „[…] eine Hand droht mit Zündholzschachteln in das Vorwärtsdrängen. […] Unter dem gelb-rot-grünen Blinkfeuer der Verkehrsampel Scheibe neben Scheibe, Rad neben Rad, leuchtende Nummern, unaddierbar.“ Zugleich aber ist das scheinbar Zusammenhangslose und Unüberschaubare mit einem Wissen unterlegt, einer Form der Gewöhnung an das urbane Durcheinander, das nicht nur den souveränen Großstädter ausmacht, sondern durch das auch jene Form lokaler Topographie erzeugt wird, die als image- und identitätsstiftende Eigenschaft des Feuilletons erläutert worden ist. Berend weiß wie ihre Leser, was auf dem Boulevard passiert, weil sie schon etliche Male hier entlang gegangen und gefahren ist. Sie kann es beschreiben oder aber imaginieren, auch wenn ihre Beobachterposition im Bus das eigentlich nicht zulassen würde: „Alter Mann im benagten Pelz versucht eleganten Vorübergehenden die Frage zuzuflüstern, ob sie alte Kleidungsstücke verkaufen wollen.“ Auch die abschließende Passage von Berends Feuilleton greift einen bekannten Diskurs auf, indem die Beschwerde über die den Verkehr störende Gedächtniskirche als eine fast schon stehende Redewendung des Kudamm- bzw. Tauentzienbesuchers zitiert und damit Vertrautheit suggeriert wird:
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„Durch Lachen, Rädergetös, Lichtgeschosse schlenkern wir hindurch bis zur Gedächtniskirche. Hier gibt es unerwünschten Halt, bevor es weitergehen kann, im Kreis. Ein Herr, seine Handtasche verrät, dass er aus Frankfurt an der Oder ist, beklagt sich wütend, dass die Kirche noch steht. Er habe schon vor drei Tagen in der Zeitung gelesen, dass man vorgeschlagen hat, sie abzureißen als Verkehrshindernis.“70
Dass Berend sich gleichzeitig und wie nebenbei über die naive Provinzialität des Fahrgastes, der sich beschwert, mokiert, trägt natürlich beim Berliner Zeitungsleser nur umso mehr zu der von Utz herausgestellten Anbindung und Identifizierung qua Lokalfeuilleton bei – denn wer diesen Text liest, gehört natürlich selbstverständlich zum weltmännischen Teil der Passagiere. Alfred Döblins Feuilleton Alexanderplatz ist ähnlich wie Berends Text als eine Reihe während einer Busfahrt gemachter Beobachtungssequenzen konzipiert. Döblins Text, der seinem fast zeitgleich erscheinenden Roman nicht nur im Titel nahe kommt, setzt seine Busfahrt ästhetisch durch das Prinzip der Montage verschiedener Wirklichkeitssegmente und sprachlicher Versatzstücke um, die sowohl von außerhalb – den vorbeiziehenden Straßen und Geschäften Berlins – wie von innerhalb des Busses – wie den Beförderungsbedingungen auf der Rückseite des Fahrscheins – entnommen werden. Er wendet damit genau die literarische Methode an, die seinen Roman ausmacht: „Kraftomnibus-Haltestelle! Numero zwo. Alexanderplatz – Königstrasse – Lennéstrasse – Viktoriastrasse. Abstände 4 (6) Minuten, die mit dem Stern versehenen Linien haben Nachtverkehr. Alexanderplatz, teurer Alex, wie haben sie dir zugericht, so sehe ich dir wieder. Die Berolina haben sie dir geklaut, schön grün war’s in der Mitte, jetzt gibt’s nur Bauzäune und Löcher. Tietz steckt vier weisse Fahnen raus, das heisst Weihnachtsverkauf, oben brennt die Weltkugel, das Polizeipräsidium ist schmutzig rot; nun lass mich in die Tasche greifen, von diesem Platz muß fort ich streifen, mein Freund, kannst du nicht länger sein. Fahrschein gefällig, zwanzig Pfennig. Zerrissene, zerknitterte oder in der Erkennbarkeit der Kontrollmerk-
70 Vgl. u. a. die lakonische Feststellung Max Brechers: „‚Die Gedächtniskirche: ein Verkehrshindernis.‘“ Kessel, Martin: Herrn Brechers Fiasko, S. 338. Ähnlich fällt das Urteil Franz Hessels über die Behinderungen des Straßenverkehrs aus: „Statt dessen steht, seit dreißig Jahren immer noch wie neu, hier das Schulbeispiel einer sogenannten ‚spätromanischen Zentralanlage‘ mit Hauptturm und Nebentürmen als massives Verkehrshindernis mitten auf dem Platz, und gegenüber dem Hauptturm einerseits und dem Chor andererseits sind vom selben Architekten – wir wollen seinen Namen vergessen – noch aus Stilgefühl zwei gleichfalls romanische Häuser errichtet.“ Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin, S. 135.
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male beeinträchtigte Fahrscheine sind ungültig, Fahrschein nicht übertragbar. Gültig am Lösungstag. Auszug aus den Beförderungsbedingungen umseitig.“
Umstandslos könnte dieses Feuilleton, das nicht nur dieselbe Machart, sondern auch unmittelbar dasselbe Setting hat, in den Roman integriert werden, denn das ästhetische Verfahren, das man in der Anfangspassage des Textes findet, liegt ihm auch insgesamt zugrunde.71 Mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass hier das Montieren der „Tagewahrheiten“72, wie Döblin seine literarische Methode nennt, durch das Auftreten eines Ich unterbrochen und zu einem Ende geführt wird, das im Medium Zeitung im Gegensatz zum Roman sehr strikt vorgegeben ist: „Es geht vorwärts, der Maybachmotor arbeitet, Auszug aus den Beförderungsbedingungen umseitig, die Kurfürstenbrücke, der Marstall, der Schlossplatz. Ich werde aussteigen, ein anderer will einsteigen (edel sei der Mensch, hilfreich und gut).“ Als inframediale Konfiguration der kleinen Form wurde dieses Prinzip bereits erläutert: Die Fahrt ist zu Ende und mit ihr auch der Text. Hier indes noch mit dem zusätzlichen Hinweis, wenn man ihn als solchen verstehen mag, dass nun ein anderer einsteigen wolle. Döblin hat seinen Teilabschnitt der Dichterstafette geleistet, am Schlossplatz fängt der Boulevard Unter den Linden an, und für den zeichnet Arnolt Bronnen verantwortlich. Bevor aber Bronnens Text betrachtet wird, soll ein kleiner Sprung in der Streckenführung hin zum Lützowufer gemacht werden, über das Oskar Loerke schreibt. Gemeinsam ist den bisher vorgestellten Feuilletons von Polgar, Berend und Döblin, dass sie allesamt von den Veränderungen des urbanen Raums bzw. den Veränderungen seiner Wahrnehmung als topographisch-materialem Raum gehandelt haben. Diesen Fokus auf die topographischen Konfigurationen der Stadt setzt auch Loerke, allerdings unterscheidet sich nicht nur seine Beobachterperspektive, sondern mit ihr
71 Einschränkend muss allerdings hinzugefügt werden, dass Döblins Feuilletontext aus der Dichterstafette sich tatsächlich auf die Montierung von Wirklichkeits- und Wahrnehmungssegmenten zu beschränken scheint und dadurch ein vornehmlich additives Gepräge hat, während im Gegensatz dazu im Roman Berlin Alexanderplatz immer schon das, was Döblin „Überrealität“ nennt, durch die „zerlegten Tageswahrheiten“ hindurchschimmert und dem Montierten Sinn bzw. Verweisungscharakter verleiht. Prägnantestes Beispiel hierfür ist die Dampframme, die nicht nur die Schienen am Alexanderplatz in den Boden stößt, sondern zum Bild für die soziale Formung Biberkopfs wird. Man kann es natürlich auch andersherum lesen: Weil im Roman der urbane Raum mit der Erzählung über Franz Biberkopf in einer Wechselverhältnis gesetzt wird, werden in den Montagesequenzen die eigentlich auch nur addierten Einzelsegmente mit Symbolgehalt belegt. 72 Döblin, Alfred: „Der Bau des epischen Werks“, in: Aufsätze zur Literatur, S. 107.
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auch seine Schreibweise von denen seiner Vorgänger. Sein Erzähler widmet sich nicht so sehr dem urbanen Geschehen auf der Straße, sondern „begibt sich in ein phantastisches Jenseits, da fährt der Omnibus nicht vorüber, und er fährt nicht hinein […].“ Loerke nutzt die Busfahrt lediglich, um an einen Ort zu gelangen, dem Lützowplatz als „Garten Immergrün“, in den die Metropole noch nicht vorgedrungen ist, und in dem deshalb auch noch ein anderer Rhythmus des Erlebens und Wahrnehmens herrscht. Zwar muss man, um dort hin zu gelangen, ebenfalls zunächst die Stadt und ihren Verkehr durchqueren, diese „elektrisch geladenen Zonen, wo hinter den Schaufensterscheiben alle Kontinente heraufkriechen und die Arbeit aller unterweltlichen Bergwerke“. Aber schon die fast märchenhaft-phantastische Metaphorik dieser Passage zeugt von einer vollkommen anderen „Vorstellungslust“, mit der Loerke auf das Geschehen blickt. Diese Vorstellungslust hat sich, als urban geschulte, aber auch erst mit den ungewohnten Bedingungen arrangieren müssen: „Unterwegs im grossen lebendigen Berlin lässt sie sich nicht gern in einer Idylle absetzen.“ Noch ist sie „warm von den wimmelnden und leuchtenden StraßenEngpässen, die in diese stille Gegend münden.“ Aber bald hat sie sich dann doch der Umgebung angepasst und hernach, passend zu der kleinen idyllischen Insel inmitten der Stadt, muten Loerkes Schilderungen fast schon impressionistisch an: „Als hätte ein Chinese sie getuscht“, wirkt die Natur um ihn herum: „Nun blühen die hoch und stolz gereihten Kastanien am Kai drüben in ihrer Herrlichkeit – […]. Nun werden die krumm übers Wasser hängenden Baumknorren jener Anlage endgültig, […] und der ein paar Stämme umwickelnde Efeu rankt aus dem Blut auf.“ Der Blick des Erzählers richtet sich nicht, wie so häufig im dynamischen Verkehrsgeschehen, auf die unmittelbare Gegenwart oder sogar in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit: „(J)etzt im schweigenden Winter fällt einem das sommerliche Rauschen und der Kinderlärm ein, die den Brunnen in einen entrückenden, aus gegenwärtigem Leben gewobenen Schleier hüllen. – Vorüber.“ Melancholieumflort das Schlusswort, das nicht nur das Ende des Textes, sondern die Einsicht in die Vergänglichkeit schlechthin markiert. Eine ähnliche Erzählkonstellation liegt dem Feuilleton Halensee von Arnold Zweig zugrunde, das aus topographischer Sicht das westliche Ende der Dichterstafette markiert. So wie Oskar Loerke einen Ort in Berlin aufsucht, der sich als kleine Insel zwischen den Verkehrsströmen der Stadt gehalten hat und der den Besucher mit einem anderen Tempo empfängt, unternimmt Arnold Zweig in seinem Text eine Fahrt in die Vergangenheit Berlins. Kaum hat man den Kurfürstendamm hinter sich gelassen, sind dem Bus alle Insignien von Modernität und urbanem Tempo abhanden gekommen, behäbig, fast schon museal erscheint er: „Langsam schuckeln wir auf seinem Rücken, halb Vogelkäfig, über die mächtige, flache Brücke, unter der im Schnee die Strähnen der Gleise wie Schicksalslinien in der Komposition eines Romans schwarz ausstrahlen.“
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Auch hier bietet sich dem Erzähler ein Anblick, der nicht in das Gesamtbild Berlins zu passen scheint: „Alles hat sich geändert; Berlin ist aus allen Nähten von 1910 herausgewachsen, nur diese Ecke von der Halenseer Brücke bis zum Denkmal hat sich gehalten…achtzehn Jahre.“ Was aber bei Loerke zu einem nostalgischen Ton führt, ruft bei Zweig genau das Gegenteil hervor. Fast schon widerwillig bemerkt er: „Ich schüttele mich wie ein Hund, der einen Traum abwirft“, um dann das antiquierte Halensee so schnell wie möglich zu verlassen – und das mit einem Verkehrsmittel, das dem Erzähler der Zeit angemessen erscheint: „Ich lebe heute, 1928; es wird gut sein, einer Taxe zu winken und längs der Allee mit komischen Sphinxen durch diese unübersichtliche Kolonie zu sausen, unter der Avus durchzuschlüpfen und in einem sauberen und hellen Dörfchen zu landen, unter blauem, wolkenzerflattertem Himmel in der Sonne, die den Funkturm bescheint.“
Mit diesem Bekenntnis zur Gegenwart und seiner verkehrstechnischen Entwicklung – der ein Bus ganz offenbar nicht mehr zu entsprechen scheint – schließt Zweigs Feuilleton. Zweigs Votum für das Auto als eigentlich der Zeit adäquatem Fahrzeug macht einmal mehr die zeitliche Beschränkung der Phase anschaulich, in der die öffentlichen Nahverkehrsmittel überhaupt als technisch avanciert wahrgenommen werden. Am Ende der zwanziger Jahre ist bereits das Auto ins Zentrum des Interesses gerückt, während den städtischen Massenverkehrsmitteln, mit Ausnahme der U-Bahn, nun eher mit Etikettierungen wie Trägheit und Überholtheit versehen werden. Hatten die bisherigen Texte der Dichterstafette gemeinsam, dass in ihnen die Topographie des urbanen Raums samt ihrer Wahrnehmung und Darstellung im Mittelpunkt stand, dass die Perspektive aus dem fahrenden Bus heraus prägend war, wenn nicht sogar das Verkehrsmittel verlassen wurde, dann richtet sich in den folgenden beiden Texten der Blick vorwiegend in die Fahrzeuge hinein. Mithin sind es die Besonderheiten des Nahverkehrs als sozialer Raum, die in Walter von Molos Potsdamer Platz und Arnold Bronnens Unter den Linden in den Vordergrund treten – auch wenn Bronnens Erzähler zumindest vorgibt, immer wieder einen Blick auf die Bauten werfen zu wollen, die zu beiden Seiten des Busses vorbeiziehen. Was aber als Interesse an den historischen Gebäuden auf dem Boulevard Unter den Linden daherkommt, ist nichts anderes als das Interesse an den weiblichen Fahrgästen. Dass zunehmend mehr Frauen berufstätig und damit verstärkt in den öffentlichen Transportmitteln anzutreffen sind, verbunden mit der zumeist körperlich gedrängten Situation innerhalb der Fahrzeuge, und dass auf diese Weise mit dem städtischen Nahverkehr ein vollkommen neuer erotischer Erlebnisraum entsteht, führt Bronnens Text in einer spielerischen Variante vor.
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Kaum eingestiegen und in die obere Etage des Busses geklettert, „gerät“ der Erzähler, indes nicht ganz unfreiwillig, „zwischen zwei kleine Kontoristinnen“. Nicht eben Verwegenheit, aber immerhin doch eine gewisse optische Auflockerung hat sich der Erzähler – in diesem Fall eher unfreiwillig – wie nebenbei zugelegt, als er auf der engen und niedrigen Bustreppe seinen „steifen Hut bis zur Unkenntlichkeit eingebufft“ hat. Einigermaßen entbunden von habitueller bürgerlicher Strenge, kann er sich seinen weiblichen Sitznachbarinnen widmen, nicht ohne beflissen sein Ansinnen der Stadtbetrachtung vorzuschützen: „Links neben der Blonden sah ich die französische Botschaft, rechts neben der Braunen die Akademie; die Lage war unentschieden. Auch die schlimme Fassade des Adlon ging vorüber. Eine rote Ampel störte den Bus. An ihr vorbei sah ich im trüben Dunst den Turm des Rathauses, zart und wuchtig zugleich, als käme er von Manhattan herüber. Ein langweiliger Wald karger, dürrer Bäume erstreckte sich längs der Nase der blonden, die ein Buch las. Nur vor dem Ministerium des Innern gediehen die Bäume etwas besser. Eine kleine Koketterie mit der Braunen, erlaubten die schönen, alten Paläste des Kultusministeriums und der russischen Botschaft; beim Hotel Bristol schaute ich lieber weg.“
Eine sprachspielerische Verschneidung von Zwischengeschlechtlichem und Straßengeschehen, in dem letzteres zum Ausweichdiskurs von ersterem wird: „Das liebliche Spiel der Ampeln begann mich anzuöden; wenn man nicht selbst chauffiert, geht es fast über menschliche Kraft, im letzten grünen Moment plötzlich ausgegelbt zu werden.“ Nicht die weiblichen Fahrgäste und ihre Verführungskraft sollen hier lieblich sein, sondern das Spiel der Ampeln. Und so sind es auch nicht die Damen, die dem männlichen Mitfahrenden in seinem affektiven Schwung bremsen, sondern „ausgegelbt“ wird die Fahrt wiederum durch das regulierende Lichtsignal. Je häufiger aber der Blick des männlichen Beobachters zwischen beiden Seiten hin und her geht, desto unverhüllter offenbart sich sein Begehren. Ein Blick aus dem Fenster macht die Szene fast surreal: „Zu meinen Füßen tummelten sich Mädchen.“ Und so ist schnell ein Punkt erreicht, an dem sich das erotische Moment dieser Gedankenfahrt, fast überdeutlich, in der Sprache niederschlägt. Es wird nun geglitten, der Asphalt scheint „feucht und glitschig“. Damit nicht genug: „Es entwickelt sich eine Art von Verkehr“, stellt der nun leidlich erregte Fahrgast fest – will damit dann allerdings doch nur die aus der Friedrichstraße einbiegenden, akribisch aufgelisteten Fahrzeuge gemeint haben. Genauso wie hier die Erwartungen des Lesers enttäuscht werden, endet die Lustkurve auch je für den Erzähler. Es bleibt die Frustration: „Da ich einsah, dass ich, nachdem ich es mir mit der Blonden verscherzt hatte, auch mit der Braunen kein Glück haben würde, rutschte ich eilig zu Boden und verliess den Bus.“ Der erotische Reiz muss im Visuellen verbleiben. Das körperliche Begehren bleibt auf der Strecke, noch nicht einmal eine flüchtige Berührung kommt zustande. Nur allzu verständlich, dass mit der Hoffnung auch die
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Requisiten des Eroberungsversuchs begraben werden: „Die Reste meines Hutes übergab ich der Müllabfuhr zur Bestattung.“ Auch in Walter von Molos Potsdamer Platz wird der Omnibus zu einem sozialen Mikrokosmos, in dem zwischenmenschliche Beziehungen nicht nur verhandelt, sondern auch aus nächster Nähe beobachtet werden. Anders als zuvor bei Bronnen geht es aber bei von Molo nicht mehr um den möglichen Anfang einer Beziehung, sondern um deren Auflösung. Von Molo gibt sich als Gesprächsprotokollant, der in dialogischer Form den von ihrem Einstieg am Potsdamer Platz bis zum Verlassen des Busses an der Potsdamer Brücke andauernden Disput eines Ehepaares über die Modalitäten ihrer Trennung dokumentiert. Gerade das Namenlosbleiben der Figuren – sie werden nur knapp als „er“ und „sie“ bezeichnet – in Verbindung mit der extremen Intimität des verhandelten Themas verdeutlichen die Brisanz der öffentlichen Nahverkehrsmittel als sozialem Raum, in dem die Unausweichlichkeit körperlicher Nähe zu fremden Menschen in ihrer Unvereinbarkeit mit dem grundsätzlichen Zustand der Anonymität dem Großstädter – und eben auch dem großstädtischen Schriftsteller – ein Reservoir vollkommen neuer Verhaltensmuster abverlangt. 73 Der betont emotionslose, Objektivität vermittelnde Gestus, in dem von Molos Figuren über das Thema Liebe verhandeln, steht im Zeichen der Neuen Sachlichkeit, dem zufolge der Dichter auf die umfassend rationalisierte Welt der Moderne nur mit einer ebensolchen technisch distanzierten Sprache reagieren kann. Gerade der Figur des Reporters, die von Molo in seiner Beobachtungsposition im Bus verkörpert, ist dabei die Fähigkeit des kühlen Blicks und die Beschränkung auf das Faktische notwendig. In einer rationalisierten Welt hat sich selbstredend auch das intersubjektive Beziehungsgefüge nach den Kriterien der Rationalität auszurichten. Deshalb wird selbst und gerade da, wo es um eine gescheiterte Liebe geht, nicht über Emotionen, sondern über finanzielle Arrangements verhandelt – und selbst die sollen idealer Weise von einer dritten Instanz getroffen werden: „Ich werde es dir schriftlich geben, dass ich persönlich nichts von dir verlange. – Komm. – Wohin? – Potsdamer Brücke. Raus. Wir wollen zum Anwalt.“
73 Georg Simmel schreibt über die Notwendigkeit zum reservierten Verhalten des Großstädters: „Wenn der fortwährenden äußeren Berührung mit unzähligen Menschen so viele innere Reaktionen antworten sollten, wie in der kleinen Stadt, in der man fast jeden Begegnenden kennt und zu jedem ein positives Verhältnis hat, so würde man sich innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten.“ Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Gesamtausgabe, Bd. 7, S. 122f.
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Die Texte von Leonard Frank und Walter Mehring indes bewegen sich auf einer vorderhand reflexiv spielerischen Ebene, sowohl, was ihre Auseinandersetzung mit dem Sujet, als auch, was das Format Feuilleton selbst angeht. Das Feuilleton von Leonard Frank ist überschrieben mit „Wachtmeister Lehmann II, Verkehrsposten Ecke Kantstrasse Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Gedächtniskirche“. Und darunter liest man: „Meldung vom 15. Dezember 1928, 4 Uhr 15 Minuten nachmittags.“ Die Region unter dem Strich bzw. späterhin die Feuilleton-Seiten der Zeitung führen eine Art Zwischenexistenz, nicht fakten-, wirklichkeits- und objektivitätsverhaftet wie die Berichte aus Politik oder Wirtschaft. Aber eben, so zumindest die immer wieder apostrophierten Vorbehalte, auch nicht genuin literarisch, sowohl, was die ästhetische und inhaltliche Substantialität der Texte, als auch, was die Motivation der Schreibenden angehe, die nicht etwa aus inneren, sondern einzig aus finanziellen Notwendigkeiten beständen. Frank persifliert in seinem Text der Dichterstafette gleichermaßen beide dieser Pole, zwischen denen sich das Feuilleton gemeinhin verorten lassen muss: „Es näherte sich mir mit anscheinend grosser Eile ein älterer Herr, der sich als Schriftsteller Leonard Frank, Mitglied der Akademie der Dichtung, wohnhaft in Berlin-Charlottenburg, Bismarckstrasse 12, auswies und mir folgendes mitteilte. Die Redaktion seiner Berliner Zeitung habe ihn aufgefordert, etwas über die Gegend um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu schreiben, er habe aber leider keine Zeit, da er verreisen müsse, und er bitte mich, diese Beschreibung für ihn zu machen.“
Die Autorschaft wird nicht nur zur Disposition gestellt, vielmehr der Beliebigkeit anheimgegeben – schreiben tut hier (vermeintlich) nicht der Autor selbst, sondern ein Verkehrspolizist. Was unter seinem Namen in der Zeitung veröffentlicht wird, spielt für den Autor keine große Rolle, wohl aber das Finanzielle. Das „Mitglied der Akademie der Dichtung“, wie es heißt, um die Fallhöhe zwischen schriftstellerischer Reputation und feuilletonistischer Verkommenheit noch einmal auszustellen, habe ihn, den Wachtmeister Lehmann, eindringlich verpflichtet, „ihm das Honorar sofort nach Erscheinen der Beschreibung zugehen zu lassen, und ich möge dies nicht vergessen.“ Der Schriftsteller Frank entzieht sich, und der Wachtmeister, im Gegensatz zu ihm pflichtbewusst und dienstbeflissen – in jeder Hinsicht dem Publikum zu Diensten zu sein, lautet die Verordnung des Polizeipräsidenten – macht sich ans Werk. Das Resultat seiner Arbeit lautet wie folgt: „Drei Droschken (zweistreifig) fuhren um 4 Uhr 30 Minuten ineinander, die Kotflügel aller drei Droschken wurden beschädigt, und die drei Chauffeure stellten sofort sich gegenseitig fest, um Anklage wegen tätlicher Beleidigung erheben zu können. (Anlage 1) Gegen 5 Uhr hielten etwa dreihundertundzwanzig Autos um die Kirche und konnten nicht weiter; trotz Einschreitens gegen das übermässige Hupen der dreihundertundzwanzig Autos konnte es
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nicht verhindert werden, dass ein ohrenbetäubendes Geräusch gemacht wurde. Um 5 Uhr 10 Minuten konnte der Knäuel entwirrt werden. Um 5 Uhr 12 Minuten fuhr mich eine Limousine von hinten an, ich stellte den Insassen (Herrenfahrer, Anlage 2) fest. Um 5 Uhr 15 Minuten musste der ganze Verkehr angehalten werden, da ein Terrier sich zwischen den Wagen umhertrieb und seine Besitzerin, die von mir festgestellt wurde (Anlage 3), einen Schreikrampf bekam. Um 5 Uhr 18 Minuten liess ich zwei Löschzüge der Feuerwehr durch. 5 Uhr 20 Minuten fuhren sich zwei Lastwagen fest. Schuld trug der Radfahrer Polecke, Stralauer Strasse 6 (Anlage 4). Polecke leistete der Feststellung Widerstand und erging sich in unflätigen Beschimpfungen. 5 Uhr 30 Minuten fiel ein Wagen mit Weihnachtsbäumen um und versperrte auf eine Viertelstunde die Passage. Der Führer ist festgestellt (Anlage 5). 5 Uhr 45 Minuten wurde ich abgelöst.“
Mehr oder minder – eher minder – schwerwiegende Zwischenfälle werden vermeintlich penibel aufgereiht. Das Geschehen auf einem zentralen Platz, wie jenen um die Gedächtniskirche, wo Tauentzien und Kurfürstendamm aufeinandertreffen, erscheint, trotz der diversen Stockungen, eher provinzieller Natur: Autos kommen zum Stehen, zwei Lastwagen fahren sich fest, ein Hund treibt sich zwischen den Wagen herum, ein Wagen mit Weihnachtsbäumen fällt um. Das mutet mehr gemächlich denn weltstädtisch an. Nicht nur die Verkehrsdiskussionen und -berichte in den Zeitungen, über die sich das Feuilleton regelmäßig mokiert, werden hier imitiert. Der eigentliche selbstreflexive, fast kalauernde Tiefschlag folgt im abschließenden Satz des Feuilletons: „– Weiteres über den Platz um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auszusagen, war nicht möglich.“ Mit Blick auf das auf den zurückliegenden Seiten Unternommene ein vermeintlich fataler Befund. Natürlich aber trägt Frank durch seine Ironisierung und Persiflierung nur einmal mehr dazu bei, die literarischen und feuilletonistischen Auseinandersetzungen, Aufladungen und ästhetischen und sozialen Interpretationen des Verkehrs in ihrer Omnipräsenz herauszustellen. Wie in einer Schlussvolte, fast bis zur Albernheit vorangetrieben, wird die Imagebildung des Verkehrs sowohl auf hermeneutischer Ebene, als auch seine lokaltopographische Funktion betreffend im noch ausstehenden Feuilleton der Dichterstafette, Walter Mehrings Friedrichstraße. Hier gibt nicht wie bei Frank der Schriftsteller seinen Auftrag an einen Angestellten der Stadt ab, sondern Protagonist des Feuilletons ist ein gewisser Walter Mering (nur durch ein fehlendes „h“ mithin vom Autor unterschieden), seines Zeichens „2. Schriftführer der FahrgastInteressengemeinschaft der Autobuslinie 1“, der in einem Bus besagter Linie einen Vortrag über die „kulturhistorischen, soziopsychologischen und linguistischen Belange der Strecke Friedrichstrasse“ zu halten ansetzt – und das zunächst mit einer großen rhetorischen Schleife:
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„Indem dass wir Veteranen aller Konfessionen und Fahrtrichtungen der Linie 1 uns endlich zusammengefunden haben, wir altgediente Passagierknochen, erprobt bei Wind und Wetter, seefest bei Schlingern, Stampfen und Rollen in allen Kurven, wir, die dieses Vehikel von Kindesbeinen auf kennen, als es noch für’n Sechser mit zwei Rössern vor lief, und in der grossen Zeit, als es janich lief, und wir die Strecke zu Fusse tippelten, und in der kleinen Zeit, wie hier der Streikbrecher von der Kohlenfuhre gondelte, bis es über die Russenschaukel der Inflation sich zum tipptoppen Rasenden Roland mit aufgestocktem Oberstiebchen und Rauchsalon aufwuchs, können wir es nich länger dulden, dass wir wie jeder zugestiegene Fremdkörper der Willkühr der uniformierten Schaffner (Besetzt! Mehr nach die Mitte zu treten!) preisgegeben sind!“
Schleifen und Pirouetten dieser Art drehend, plaudert bzw. doziert der 2. Schriftführer weiter, bis er sich schließlich von seiner Empörung über die Willkür des Schaffners bis in politische Höhen gesteigert hat. Unnötig fast ist die Anmerkung, dass Mehring hier ein beständig im Alltag und der Zeitung thematisiertes Sujet heranzieht: die permanente Überfülltheit der öffentlichen Verkehrsmittel: „Meine Damen und Herren! Was heute verhandelt wurde, ist ein Völkerproblem und geht es die ganze Welt an! Die Bewohner des Aboag 1, die bisher eingeklemmt ihr Dasein fristeten, sind mit dem heutigen Tag ein politischer Faktor geworden! Wir haben uns ein Ziel gesetzt, ob es nun Halensee oder Linden heisst, wir verlangen unsere Sitze, und wenn wir sie hier nicht kriegen, gehen wir solange in den Reichstag.“
Bevor sie das allerdings tun, findet der Vortrag noch den ihm entsprechenden absurden Abschluss: „Meine Damen und Herren! Im Bewusstsein des historischen Augenblicks bitte ich Sie, wegen Platzmangel stehend, unsere Nationalhymne anzustimmen: Parallele Strassen sind Georgen-, Dorotheen-, Mittel-, Land-, Behren-, Franz-, merk auf mein Sohn: Jäger-, Tauben-, Mohren-, Kron-, Leipziger Strasse und dann noch Krausen-, Schützen-, Zimmer-, Koch-, Aber über alle Massen. Lang und schön die Friedrichstrassen!“
Man könnte diesem kleinen Lied umstandslos eine Variation des letzten Satzes aus Leonard Franks Feuilleton anfügen: Weiteres über die Gegend um die Friedrichstraße herum auszusagen, war nicht möglich. Was dann aber natürlich in seiner ironischen Verkehrung eben das Gegenteil meinen sollte.
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Joseph Roth, mit dessen hindernisreicher, derangierender und fast surrealer Straßenbahnfahrt diese Untersuchung ihren Ausgang nahm, hat als Aufgabe seines feuilletonistischen Schreibens formuliert, das Antlitz seiner Zeit zu zeichnen. Das Antlitz ihrer Zeit findet sich nicht nur in Roths Texten, sondern auch in den Feuilletons der Dichterstafette. Auch wenn sie im Falle von Frank oder Mehring, ähnlich wie bei Roth, als eine gleichsam kritische wie ironische Selbstkommentierung der Zeit und ihres räumlichen Antlitzes daherkommt.
Hinterher
A NSTELLE EINES N ACHWORTS : I M C AFÉ S ANKT O BERHOLZ MIT A LFRED D ÖBLIN Die „Brötchen à la discrétion“, die kostenlos serviert wurden, waren sicher einer der Gründe dafür, dass die Aschinger-Bierlokale schnell eine Art Kult waren. Zu ihrer Attraktivität trug aber wohl auch nicht unwesentlich bei, dass die Brüder Carl und August Aschinger, die zwischen 1892 und 1915 30 Bierlokale und daneben 15 Konditoreien in Berlin eröffneten, es verstanden, die Ableger ihres zwischenzeitlich größten Gastronomie-Betriebs in Europa an den zentralen Orten der Stadt zu platzieren: Sowohl in der Friedrich-, als auch in der Leipziger und der Potsdamer Straße fand man die beliebten Lokale mit ihren großen Stehbierhallen, genauso auch am Hackeschen Markt, am Alexanderplatz und am Rosenthaler Platz. Die „9. Bierquelle“ nannte sich die 1898 in der Rosenthaler Straße eröffnete Aschinger-Filiale. Es handelt sich dabei nicht nur um den Ort, an dem Franz Biberkopf aussteigt, nachdem er nach seiner Haftentlassung mit der Straßenbahn Nr. 41 von Tegel in die Stadt hinein gefahren ist. Es ist auch der Ort, an dem Alfred Döblin große Teile seines Romans geschrieben hat, während er durch die breiten Fensterfronten von Aschinger auf den Rosenthaler Platz blicken konnte, den urbanen Umschlagplatz, der zu einer Relaisstelle in seinem Roman werden sollte, wenngleich natürlich dem titelgebenden Alexanderplatz eine noch symbolischere Bedeutung zukommen wird. Immer wieder aber kreuzen sich auch am Rosenthaler Platz die Straßenbahnlinien und überziehen von hier aus als – trügerisches – Ordnungsmuster die Stadt. Würde Döblin heute, fast ein Jahrhundert später, wieder an diesen Ort kommen, würde er zwar weder sein Stammlokal – die Aschinger-Filialen wurden im Zweiten Weltkrieg zu 80 Prozent zerstört und die verbleibenden Gaststätten im Ostteil der Stadt in den folgenden Jahren zum Volkseigentum der DDR erklärt –, noch die beliebten kostenlosen Sättigungsbeilagen vorfinden. Sehr wohl aber noch immer eine Lokalität, die sich – wie einstmals Aschinger – über zwei Etagen zieht. Womöglich
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zunächst ähnlich verwirrt wie sein Protagonist Biberkopf, als der am Rosenthaler Platz die Straßenbahn verlässt und in das urbane Leben mehr katapultiert worden als in diesem angekommen ist, würde Döblin zur Kenntnis nehmen, dass hier nicht mehr Bier und Erbsensuppe an Stehtischen verzehrt wird, sondern dass auf den Barhockern an den Fensterfronten genauso wie an den länglichen Tischen vorwiegend Menschen diesseits der Fünfzig in Laptops blicken und tippen oder in Mobiltelefone sprechen. Es mag fast ein wenig zu anekdotisch anmuten: Würde Döblin tatsächlich beinahe ein Jahrhundert, nachdem er die Geschichte vom Franz Biberkopf geschrieben hat, an den Ort, der nicht nur Inspiration, sondern auch Schreibstätte für ihn war, zurückkehren können: Er würde sich immer noch bzw. wieder an einer zentralen Schnitt- und Schaltstelle der Metropole Berlin befinden. Zumindest an einer Schnittstelle, an der das, was heute als wesentlicher Faktor moderner Urbanität gilt, in verdichteter und symbolsicher Form anschaulich wird. Sankt Oberholz nennt sich das Café, das spätestens seit Holm Friebe und Sascha Lobo das Schlagwort von der „digitalen Bohème“1 kreiert haben auch außerhalb von Berlin als Treff- und Umschlagpunkt, als mobiles Büro all jener gilt, die ihre Arbeit jenseits von festen Bürostrukturen, über das Medium Internet verrichten können. Kostenlose Brötchen gibt es im Sankt Oberholz zwar nicht mehr. Dafür war es eines der ersten Cafés, das den kostenfreien W-LAN-Zugang zum Marketingkonzept gemacht hat. Müsste man Alfred Döblin erklären, was Berlin, was die moderne Großstadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausmacht, wäre das Sankt Oberholz zweifelsohne einer jener Wurmfortsätze, an denen sich Anknüpfungspunkte für das Erzählen finden ließen über die digitale, allumfassende Vernetzung der heutigen Gesellschaft. Wenn auf den vorangegangenen Seiten dieser Arbeit untersucht worden ist, wie die nahverkehrstechnische Vernetzung zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Metropole nicht nur als territorialen, sondern auch als sozialen Ort konstituiert, modelliert und transformiert hat, und wenn des Weiteren in den Blick genommen wurde, wie sich nicht nur die Beschreibungsmodelle der Metropole in Abhängigkeit von den Wirkungen der neuen Infrastruktur verändern, sondern genauso die Produktionsbedingungen des Schreibens wie die Bedingungen seiner Rezeption, dann wurde damit die Stadt des frühen 20. Jahrhunderts als mentaler, physischer, sozialer und kultureller Raum einmal durchschritten und vermessen. Dieses Durchschreiten und Vermessen erfolgte unter der These, dass Techniken als unabdingbarer und durchaus produktiver Teil zum kulturellen, lebensweltlichen Prozess hinzuzurechnen sind.
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Friebe, Holm/Lobo, Sascha: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung.
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Beobachtet werden konnte dabei, dass es immer ein mehrschichtiger Prozess der Wechselwirkung ist, in dem neue Techniken respektive Infrastrukturen mit den Neukonfigurationen der Gesellschaft und mit den Reflexionen dieser medialen Kopplungen von materialem Unterbau der Gesellschaft und ihren kulturellen und sozialen Ausprägungen stehen, die in dieser Arbeit vor allem aus literarischen und feuilletonistischen, darüber hinaus aber auch aus populärkulturellen und technikgeschichtlichen Zeugnissen destilliert worden sind. Dass diese Texte Analyseinstrument und Indikator sind, gleichsam aber auch Konditionierungsqualitäten haben und nicht zuletzt selbst die medialen Wirkungen der neuen Infrastrukturen verstärken, indem sie die von ihnen abstrahlenden und die auf sie applizierten Images mitproduzieren und reproduzieren, ist eine wesentliche Erkenntnis der Untersuchung über die Nahverkehrsinfrastruktur der Jahre 1870 bis 1933. Eine weitere wesentliche Erkenntnis besteht in dem, was hier der zyklische Verlauf von inframedialen Wirkungen genannt worden ist. Diesem zyklischen Verlauf zufolge geht die Implementierung von Infrastrukturen mit einer Phase gesteigerter Aufmerksamkeit und gemeinhin mit den Markierungen krisenhafter Erfahrungen einher, die dann in eine Phase der Gewöhnung und schließlich Invisibilisierung übergeht, mit der der Zyklus zu seinem Abschluss kommt. Säße man heute, im Jahr 2011, mit Alfred Döblin im Café Sankt Oberholz, könnte noch immer die Straßenbahnen, mehr aber noch den auf Tor-, Brunnen- und Rosenthalerstraße permanent dichten Automobilverkehr beobachten, und sollte dem Schriftsteller nun erklären, was die wesentliche Infrastruktur unserer Zeit ausmacht, müsste man genau dieses Durchschreiten und Durchmessen des urbanen Lebensraums vollziehen und schauen, wie die digitale Vernetzung auf diesen Raum gewirkt hat. Denn dass es sich hierbei um die wesentliche formenenbildende und verhaltenssteuernde Struktur unserer Zeit handelt, daran wird niemand ernsthaft zweifeln wollen. Dass diese Vernetzung allem voran die Produktionsbedingungen und – was Literatur und Medien angeht – die Publikationsbedingungen von Grund auf verändert hat, ist eines der meist diskutierten Phänomene der letzten Jahre. Ohne dass dieser Problemkomplex an dieser Stelle auch nur ansatzweise diskutiert werden könnte, sei doch zumindest angemerkt, dass auch dieser Wandel – wie man an den Untersuchungen über die Wirkungen des öffentlichen Nahverkehrs immer wieder feststellen konnte – kaum eine einseitige Lesart zulässt. Zwar sind die Veränderungen frappant: Die Zukunft des papierenen Buches scheint ebenso zur Disposition zu stehen wie die Zukunft der Printmedien, darüber hinaus eröffnen sich im Netz vollkommen neue Formen der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinungsbildung, die althergebrachte Berufsgruppen wie den Journalismus, wenn nicht aufzulösen, so doch zumindest aufzuweichen scheinen. Auf der anderen Seite aber lassen die neuen technischen Möglichkeiten etwa neue Verlage und Verlagskonzepte allererst rea-
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lisierbar werden. Es ist also nicht nur kulturelle Beschneidung, sondern durchaus auch kulturelle Bereicherung, die die Digitalisierung mit sich bringt, indem sie die Infrastruktur für Kreativität und deren Umsetzung bereitstellt. In diesem Zusammenhang wäre auch die Frage nach der Konstituierung des urbanen Raums durch neue infrastrukturelle Bedingungen zu diskutieren. War lange Zeit die Formel vom „global village“ und damit die Auflösung metropolitaner Räume in aller Munde, kann man im Gegensatz dazu feststellen, dass sich nach wie vor urbane Zentren bilden. Gerade wenn man potentiell überall arbeiten könne, so Friebe und Lobo, führe das nicht etwa zu einer Auflösung des Städtischen und zu territorialer Zerstreuung. Vielmehr wolle man, wenn man qua Technik die Wahl habe, genau dort arbeiten und sein, wo man „am echten Leben dort draußen teilhaben kann“2. Der neue urbane Raum, könnte man sagen, wird auf diese Weise zu einem Projekt-Raum. Genauso wäre zu untersuchen, welche Einflüsse die Digitalisierung auf die Ausbildung sozialer und individueller Lebenszusammenhänge hat. Dass die Menschen im Café Sankt Oberholz nur stumm auf ihre Maschinen blicken, würde Alfred Döblin möglicherweise feststellen, und man könnte ihm erklären, dass sie derweil in Internetforen vermeintliche Freunde akkumulieren. Jenseits der Frage, inwiefern es sich bei sozialen Netzwerken wie Facebook um eine bloße Simulation von sozialer Vernetzung handelt, wird dabei immer auch die Frage virulent werden, inwiefern es sich dabei einzig um monopolistische Unternehmungen im Sinne der Profitmaximierung handelt, die zudem fahrlässig mit privaten Daten umgehen. Gerade jener Reiz- und Persönlichkeitsschutz, wie er in den zwanziger Jahren in gesellschaftsphilosophischen Theorien entwickelt worden ist, scheint sich derzeit mehr und mehr aufzulösen, obgleich der einzelne durch die zwischengeschaltete Apparatur physische Distanz zur Gesellschaft bewahren kann. Gleichsam aber müsste man natürlich – parallel zu den Konzepten wie Reizschutz oder Maske – fragen, welche neuartigen Schutz- und Bewahrungsmechanismen unter den neuen Bedingungen ausgebildet werden können und müssen. Und natürlich wäre in diesem Zusammenhang wiederum die andere Seite zu beleuchten und zu fragen, inwiefern diese soziale Form der Vernetzung über das world wide web nicht durchaus auch Grundlage für soziale, gerade wiederum auch kreative Austauschprozesse sein kann. Schaut man sich die unzähligen Mahner an, die die kulturellen und anthropologischen Auswirkungen des Lebens in der digitalisierten Welt beschwören, dann mag man daraus ersehen, dass wir uns noch immer am Anfang eines infrastrukturellen Zyklus’ befinden, an einem Punkt mithin, an dem die Krisenszenarien dominieren.
2
Ebd., S. 155.
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Martin Korte etwa, Professor für Zelluläre Biologie, ist nicht nur davon überzeugt, dass Internetnutzung und die mit ihm verbundene Notwendigkeit des Multitasking zu Fehleranfälligkeit und Konzentrationsschwäche führt: „Die größte kognitive Bremse besteht für viele von uns heute darin, dass wir auch bei einer Tätigkeit, die wir gerade ausüben, ständig den Gedanken an andere – vor allem digital inszenierte Tätigkeiten verdrängen müssen. Diese Informationsabwehr frisst große Teile unseres Arbeitsspeichers.“3 Korte zufolge verändert die digitale Welt auch die soziale und emotionale Struktur des Menschen ganz wesentlich, weil die Transformationen und Anpassungsleistungen im „dorso-lateralen präfrontaler Cortex“, einer Kommandozentrale des Gehirns, vor sich gingen: „Die Internetnutzung hat auch einen Einfluss darauf, wie genau wir soziale Signale interpretieren können, wie empathiefähig wir sind. Denn auch, wenn wir über ein angeborenes System für Nachahmungslernen verfügen und über ein Arsenal von Spiegelneuronen, steht zu befürchten, dass dieses verkümmern könnte, wenn die Fähigkeiten nicht der frühen Kindheit im sozialen Kontext trainiert werden.“4
Der jüngst erschienene Band Blödmaschinen 5, der die vermeintlich fatalen Auswirkungen moderner Techniken, Medien und der Digitalisierung auf die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten des Menschen untersucht, trägt sein relativ einhelliges und durchgängiges Fazit bereits im Titel. Wenn Georg Seeßlen und Markus Metz dabei von der These ausgehen, dass die Gesellschaft sich in den Mechanismen der Apparate eingerichtet habe, ohne ihre Strukturen zu durchschauen, dann scheint eine, möglichst wenig affektgeladene, Untersuchung auch der jüngsten technischen Entwicklungen und Vernetzungen – im Sinne Simmels – als ein Acker, den es zu bearbeiten und umzugraben gilt. Zu fragen – und an dieser Stelle schwerlich zu beantworten – wäre schlussendlich natürlich auch, ob sich die medialen Wirkungen von vernetzter Digitalisierung überhaupt in den Kontext einer Theorie der medialen Wirkungen von Infrastrukturen stellen lassen. Zum einen deshalb, weil es sich nicht nur um eine Infrastruktur des Alltags handelt, sondern um eine solche, die alle gesellschaftlichen Bereiche und Ebenen durchdringt. Und natürlich auch deshalb, weil ihr eine wesentliche Eigenschaft, die im Zuge dieser Arbeit als grundlegend für infrastrukturelle Vernetzungen herausgearbeitet worden ist: ihr materialer Charakter und damit ihre Sinnlichkeit fehlt bzw. diese zumindest die Tendenz hat, sich der Wahrnehmung zu
3
Korte, Martin: „Was soll nur aus unseren Gehirnen werden“, in: F.A.Z., 30.4.2010.
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Ebd.
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Metz, Markus/Seeßlen, Georg: Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität.
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entziehen. Womöglich also muss man vielmehr darüber nachdenken, ob mit dem 20. Jahrhundert auch die Epoche der Infrastruktur selbst an ihr Ende gelangt ist.
Literatur
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BIS
1933
Wilder, Billy: Der Prinz von Wales geht auf Urlaub. Berliner Feuilletons, Reportagen und Kritiken der 20er Jahre, Klaus Siebenhaar (Hg.), Berlin 2000. Williams, Tennessee: A streetcar named desire, New York 1969. Wirtz, Irmgard: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen. Das Feuilleton der zwanziger Jahre und „Die Geschichte von der 1002. Nacht“ in historischen Kontext, Berlin 1997. Wittgenstein, Ludwig: „Tractatus logico-philosophicus“, in: Werkausgabe, Bd.1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1984. Wittig, Paul: Vortrag über die Untergrundbahn am 12.05.1908, Berlin 1908. Wolfenstein, Alfred: Werke, Bd. 3: Erzählende Dichtungen, Hermann Haarmann und Günter Holtz (Hg.), Mainz 1985. Ziemann, Andreas: Die Brücke zur Gesellschaft. Erkenntniskritische und topographische Implikationen der Soziologie Georg Simmels, Konstanz 2000. Zimmerli, Walther Ch.: Technologie als Kultur, Hildesheim 1997. Zobelitz, Fedor von: Chronik der Gesellschaft unter dem letzten Kaiserreich, Hamburg 1922. Zweig, Stefan: „Blick über die elektrische Stadt in die Zukunft hinein“ (1935), in: Neue Rundschau, Heft I/1992, Frankfurt am Main 1991.
Dank
Diese Arbeit wurde im Jahr 2011 von der Philosophischen Fakultät II (Fachbereich Neuere deutsche Literatur) der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Sehr herzlich danke ich dem Evangelischen Studienwerk Villigst e.V., das durch seine großzügige finanzielle Unterstützung weite Strecken der Arbeit ermöglicht hat. Darüber hinaus gilt mein Dank – neben allen anderen, denen Dank gebührt für Unterstützung und Anregung – Angela Alves, Dirk van Laak und Erhard Schütz. Ohne meine Familie hätte ich diese Arbeit nicht schreiben können, Augustina und Stephan sei sie deshalb gewidmet.
Kultur- und Medientheorie Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung Januar 2013, 168 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0
Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Mai 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9
Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung September 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5
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Kultur- und Medientheorie Marcus S. Kleiner, Holger Schulze (Hg.) SABOTAGE! Pop als dysfunktionale Internationale April 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2210-2
Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2013, ca. 190 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juni 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
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Kultur- und Medientheorie Michael Andreas, Natascha Frankenberg (Hg.) Im Netz der Eindeutigkeiten Unbestimmte Figuren und die Irritation von Identität Juni 2013, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2196-9
Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik (unter Mitarbeit von Sieglinde Borvitz, Aurora Rodonò und Sainab Sandra Omar) April 2013, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2160-0
Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten Dezember 2013, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2330-7
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Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien April 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
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Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Künstlerinszenierungen Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert April 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2215-7
Bastian Lange, Hans-Joachim Bürkner, Elke Schüssler (Hg.) Akustisches Kapital Wertschöpfung in der Musikwirtschaft März 2013, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2256-0
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Kultur- und Medientheorie Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hg.) Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften März 2013, ca. 278 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1994-2
Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft Juli 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1993-5
Ramón Reichert Die Macht der Vielen Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung April 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2127-3
Johannes Springer, Thomas Dören (Hg.) Draußen Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart April 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1639-2
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