Max Weber-Gesamtausgabe, Band I/7: Zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften: Schriften 1900-1907 3161537742, 9783161537745

Vor dem Hintergrund des mechanistisch-deterministischen Weltbilds des 19. Jahrhunderts wollte Max Weber den Methodenstre

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German Pages 774 [797] Year 2018

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Siglen, Zeichen, Abkürzungen
Einleitung
Schriften
Anmerk[ung] des Herausgebers [zu Marianne Weber: Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin]
Roscher und Knies und die logischen Probleme derhistorischen Nationalökonomie. (Erster Artikel.)
[Entwurf eines Textes zur Übernahme der Herausgeberschaft des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik“]
[Werbetext zum] „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“
Geleitwort [zum „Archiv für Sozialwissenschaft undSozialpolitik“]
Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis
Redaktionelle Bemerkung zu vorstehendem Aufsatz [von Gustav Cohn, Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie]
Roscher und Knies und die logischen Probleme derhistorischen Nationalökonomie. [(Zweiter und dritter Artikel.)] II. Knies und das Irrationalitätsproblem
Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik
R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung
Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung
Anhang
I. Die „Nervi“-Notizen
II. Anmerkungen der Redaktion des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (1906–1908)
Verzeichnisse und Register
Personenverzeichnis
Verzeichnis der von Max Weber zitierten Literatur
Personenregister
Sachregister
Seitenkonkordanzen
Aufbau und Editionsregeln der Max Weber-Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden
Bandfolge der Abteilung II: Briefe
Bandfolge der Abteilung III: Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften
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Max Weber-Gesamtausgabe, Band I/7: Zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften: Schriften 1900-1907
 3161537742, 9783161537745

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Max Weber Gesamtausgabe Im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Herausgegeben von

Horst Baier †, Gangolf Hübinger, M. Rainer Lepsius †, Wolfgang J. Mommsen †, Wolfgang Schluchter, Johannes Winckelmann † Abteilung I: Schriften und Reden

Band 7

J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen

Max Weber Zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften Schriften 1900–1907

Herausgegeben von

Gerhard Wagner in Zusammenarbeit mit

Claudius Härpfer, Tom Kaden, Kai Müller und Angelika Zahn

J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen

Redaktion: Ursula Bube-Wirag – Edith Hanke – Anne Munding Die Herausgeberarbeiten wurden von der Fritz Thyssen Stiftung, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Freistaat Bayern gefördert.

ISBN 978-3-16-153774-5 Leinen / eISBN 978-3-16-157751-2 unveränderte ebook-Ausgabe 2019 ISBN 978-3-16-153776-9 Halbleder Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio nal bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer-tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset-zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen gesetzt und auf alterungs beständiges Werkdruck papier gedruckt. Den Einband besorgte die Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Siglen, Zeichen, Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Schriften Anmerkung des Herausgebers zu Marianne Weber: Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. (Erster Artikel.) I. Roschers „historische Methode“ Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Entwurf eines Textes zur Übernahme der Herausgeberschaft des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik“ Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Werbetext zum „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ Zusammen mit Edgar Jaffé und Werner Sombart Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

VI

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort zum „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ Zusammen mit Edgar Jaffé und Werner Sombart Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Redaktionelle Bemerkung zu vorstehendem Aufsatz von Gustav Cohn, Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. (Zweiter und dritter Artikel.) II. Knies und das Irrationalitätsproblem Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384

R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Anhang: Fragmente zum „Nachtrag“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618

Inhaltsverzeichnis

VII

Anhang I. Die „Nervi“-Notizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 II. Anmerkungen der Redaktion des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (1906–1908) . . . . . . . . . . . 669 Verzeichnisse und Register Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 Verzeichnis der von Max Weber zitierten Literatur . . . . . . . . . . 704 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 Seitenkonkordanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 Aufbau und Editionsregeln der Max Weber-Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 Bandfolge der Abteilung II: Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 Bandfolge der Abteilung III: Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774

Vorwort

Max Webers Schriften zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften zählen zu den faszinierendsten, aber auch schwierigsten Texten der Theoriegeschichte. Ihre historisch-kritische Edition war eine ganz besondere Herausforderung, die ohne sachkundige Unterstützung nicht hätte bewältigt werden können. Für zahlreiche Anregungen danke ich Andrea Albrecht, Michael Esfeld, Sabine Frommer, Thomas Gerhards, Uwe B. Glatz, Jean-Pierre Grossein, Klaus Lichtblau, Peter-Ulrich Merz-Benz, Guy Oakes, Oliver R. Scholz, Achim Seiffarth und Hubert Treiber; für Recherchen in Archiven Dorothee Hanke und Robin Weichert; für Textverarbeitungen Christoph Günther und Laurids Melbye; für Transkriptionen Diemut Moosmann; für Sekretariatsarbeiten Susanne Stübig. Meinen Mitarbeitern Claudius Härpfer, Tom Kaden und Kai Müller sowie meiner Mitarbeiterin Angelika Zahn danke ich für ihr großartiges Engagement; Edith Hanke und Anne Munding von der Münchner Redaktion der MWG für ihre absolut professionelle Betreuung und fortwährende Ermutigung. Gangolf Hübinger, Georg Siebeck und Wolfgang Schluchter danke ich für das Vertrauen, das sie in mich gesetzt haben, ebenso M. Rainer Lepsius, den mein Dank leider nicht mehr erreicht. Wolfgang Schluchter danke ich außer­dem für die kritische Durchsicht der Texte und zahlreiche Anregungen. In die Kommentierung sind Vorarbeiten von Horst Baier eingeflossen, der das Erscheinen dieses Bandes leider nicht mehr erlebt hat. Auch ihm gilt mein Dank. Die Fritz Thyssen Stiftung, das Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Freistaat Bayern haben die Arbeit an der Edition großzügig gefördert, wofür ebenfalls gedankt sei. Es gibt zwei Personen, ohne deren jahrzehntelange Förderung ich diese Zeilen nicht hätte schreiben können. Mein besonderer Dank gilt Guy Oakes und Hubert Treiber. Frankfurt am Main, im Januar 2018

Gerhard Wagner

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

| Seitenwechsel / Zeilenwechsel > Textersetzung Max Webers 〈 〉 Von Max Weber gestrichene Textstelle |: :| Einschub Max Webers _, _ _ Auslassungszeichen Max Webers [ ] Im edierten Text: Hinzufügung des Editors […] Auslassung des Editors [?], [??] Ein oder mehrere Wörter nicht lesbar 1), 2), 3) 1a), 2b) Indices bei Anmerkungen Max Webers 1, 2, 3 Indices bei Sachanmerkungen des Editors A Sigle für die Textfassung A 1, A 2 Edierte Textvorlage bei paralleler Überlieferung A 1, A 2 Seitenzählung der Textvorlage A (1), A (2) Seitenzählung der Textvorlage durch den Editor a, b, c Indices für Varianten oder textkritische Anmerkungen a… a, b… b Beginn und Ende von Varianten oder Texteingriffen *) Index für Fußnote * Bei Zitatwiedergaben Markierung des Editors für Zeilenangaben Max Webers; im Literaturverzeichnis Markierung der Handexemplare Max Webers & und §, §§ Paragraph, Paragraphen → siehe % Prozent = gleich; bedeutet + plus; und > größer als < kleiner als 8° Oktav (Buchformat) † Sterbekreuz a. a. O. am angeführten Ort Abs. Absatz Abt. Abteilung Abh. Abhandlung AfSSp Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik altgriech. altgriechisch a. M. am Main Anm., Anmerk. Anmerkung Anm. d. R., Anm. d. Red. Anmerkung der Redaktion Aph. Aphorismus a. o. außerordentlich(er) a. Rh. am Rhein Art. Artikel

XII

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

a. S. an der Saale Aufl. Auflage Aug. August BAdW Bayerische Akademie der Wissenschaften Bd. Band bes. besonders, besonderer betr. betreffend(er) bezw. beziehungsweise Bl. Blatt BSB Bayerische Staatsbibliothek bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise ca, ca. circa Cap. Capitel cf, cf. confer Cie., Co., Comp. Compagnie das. daselbst dass. dasselbe DDP Deutsche Demokratische Partei dergl., dgl. dergleichen ders. derselbe Dez. Dezember d. Gr. der/die Große d. h. das heißt d. i. das ist; das heißt dies. dieselbe d. J. dieses Jahres Dr, Dr. Doktor Dr. jur. doctor juris Dr. med. doctor medicinae Dr. oec. publ. doctor oeconomiae publicae Dr. phil. doctor philosophiae Dr. theol. doctor theologiae dt. deutsch ebd., ebda. ebenda ed. edition eigentl. eigentlich E. J. Edgar Jaffé engl. englisch etc. et cetera ev. eventuell f., ff, ff. folgende Febr. Februar Fn. Fußnote frz. französisch

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

XIII

GARS Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie geb. geborene Gebr. Gebrüder griech. griechisch GStA PK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz HA Hauptabteilung HdStW1, HdStW2 Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hg. von Johannes Conrad, Ludwig Elster, Wilhelm Lexis und Edgar Loening, 6 Bände, 2 Supplementbände, 1. Aufl. – Jena: Gustav Fischer 1890–1897; 2. gänzlich umgearbeitete Aufl., 7 Bände, ebd. 1898–1901. hg., Hg. herausgegeben, Herausgeber Hg.-Anm. Anmerkung des Herausgebers Hr. Herr hrg. herausgegeben HS Handschrift i. B., i. Br. im Breisgau i. e. S. im engeren Sinn(e) incl. inclusive insbes. insbesondere ital. italienisch Jan. Januar Jes. Jesaja Jg. Jahrgang jun. junior K. Karton Kap. Kapitel Kgl. Königlich Korr. Korrektur lat. lateinisch litt. littera (Buchstabe) M. Max M. A. Master of Arts m. a. W. mit anderen Worten MdR Mitglied des Reichstags m. E., m. E.s meines Erachtens Mscr. Manuskript M. W. Max Weber MWG Max Weber-Gesamtausgabe (vgl. die Übersicht zu den Einzelbänden, unten S.  763–767, 773 f.) Nachf. Nachfolger NB notabene N. F. Neue Folge Nl. Nachlaß No, Nr. Numero, Nummer

XIV

Siglen, Zeichen, Abkürzungen

N. Ö. Nationalökonomie Nov. November o. ordentlicher o. J. ohne Jahr Okt. Oktober Pol. Ök. Politische Ökonomie pp. perge, perge Prof. Professor r recto (Blattvorderseite) R. Rudolf Rep. Repositium resp. respektive RStGB Reichstrafgesetzbuch russ. russisch s. siehe S. Seite scil. scilicet (das heißt) s. o. siehe oben sog., sogen. sogenannte, sogenannter Sp. Spalte SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands St. Sankt s. v. v. sit venia verbo (mit Verlaub zu sagen) s. Z. seiner Zeit TH Technische Hochschule Tl. Transliteration u. und u. a. und andere, unter anderem u. ä. und ähnliches u. dgl., u. dergl. und dergleichen USA United States of America, Vereinigte Staaten von Amerika usw., u.s.w. und so weiter v verso (Blattrückseite) v. von v. Chr. vor Christus verfl. verflucht(er) vergl. vergleiche VfSp, V.f.S.p. Verein für Sozialpolitik vgl. vergleiche Vol. Volume Weber, Marianne,   Lebensbild

Weber, Marianne, Max Weber. Ein Lebensbild, 3. Aufl. – Tübingen: J.  C.  B. Mohr (Paul Siebeck) 1984 (Nachdruck. der 1. Aufl., ebd. 1926)

Siglen, Zeichen, Abkürzungen WL Wissenschaftslehre W. S. Werner Sombart Z. Zeile z. B. zum Beispiel z. T. zum Teil

XV

Einleitung

1. Zum biographischen und wissenschaftlichen Kontext, S.  1. – 2. Zur Anordnung und Edition der Texte, S.  28.

1.  Zum biographischen und wissenschaftlichen Kontext Max Weber schrieb die Texte, die in diesem Band unter dem Titel „Zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften“ zusammengefaßt und ediert sind, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Diese Texte zeigen, daß seine Erkrankung, die ihn im Sommersemester 1898 zwang, seine Lehrtätigkeit zu unterbrechen, zwar einen wissenschaftlichen Neubeginn, aber keine wissenschaftliche Neuorientierung zur Folge hatte. Was Alexis de Tocqueville für die Französische Revolution von 1789, jenes zeitgenössische Symbol für Diskontinuität, konstatierte, gilt en miniature für Webers Krankheit und die in ihrer Folge getroffene Entscheidung, von seinem Ordinariat zurückzutreten: Der Bruch scheint gewaltig, doch die Kontinuität überwiegt, so „wie gewisse Flüsse sich unter der Erde verlieren, um ein wenig weiterhin wieder zu erscheinen, indem sie das nämliche Gewässer an neuen Ufern zeigen“.1 Nach wie vor ging es Weber um die Überwindung des Methodenstreits in der Nationalökonomie, die er – wie er es selbst formulieren sollte – als eine den Reichtum des historischen Lebens berücksichtigende, „Theorie“ genannte Form der Forschung begründen wollte.2 Weber wurde im April 1894 auf ein Ordinariat für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an die Universität Freiburg berufen, wo er vom Wintersemester 1894/95 bis zum Wintersemester 1896/97 lehrte; im Dezember 1896 erhielt er den Ruf auf ein ebensolches Ordinariat an die Universität Heidelberg, wo er ab dem Sommersemester 1897 lehrte, ab dem Wintersemester 1898/99 freilich krankheitsbedingt mehrmals beurlaubt war.3 Wie in Freiburg hielt er in Heidelberg u. a. eine Vorlesung über „Allgemeine (‚theoretische‘) Nationalökonomie“.4 Diese Vorlesung ist in doppelter Hinsicht aufschlußreich. Sie zeigt die Bedeutung, die der Methodenstreit in der Nationalökonomie als 1 Tocqueville, Alexis de, Der alte Staat und die Revolution. Deutsch von Theodor Oelckers. – Leipzig: Otto Wigand 1867 (hinfort: Tocqueville, Staat), S.  4. 2  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, unten, S.  133. 3  Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Einleitung, in: MWG III/1, S.  1–51, hier S.  8 ff. 4  Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Anhänge zur Einleitung, in: MWG III/1, S.  52–79, hier S.  5 4 ff.

2

Einleitung

wissenschaftliche Herausforderung für ihn hatte,5 und sie zeigt, daß er in diesem Zusammenhang die Logik zu Rate zog,6 was darauf schließen läßt, daß er diesen Streit auch aus einer philosophischen Perspektive betrachten wollte. Der Methodenstreit in der Nationalökonomie war eine jener zahlreichen Kontroversen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl zwischen als auch in den wissenschaftlichen Disziplinen ausgetragen wurden. Eine Leitdifferenz dieser Kontroversen war die Frage nach der Reichweite der Geltung des von Galileo Galilei und Isaac Newton begründeten Weltbilds, demzufolge die Bewegungen aller Körper durch Naturgesetze bestimmt werden, die man in den Differentialgleichungen der Mechanik zum Ausdruck bringt.7 Pierre Simon Laplace hatte dieses Weltbild 1814 im Sinne eines Determinismus konkretisiert, für den es keinen Zufall gibt, sondern alles strikt festgelegt ist. „Alle Ereignisse“, seien sie noch so geringfügig, sind eine „ebenso nothwendige Folge“ der „grossen Naturgesetze“ wie die „Umläufe der Sonne“.8 Dem „Prinzip“ des „zureichenden Grundes“ entsprechend, wonach „ein Ding nicht anfangen kann zu sein ohne Ursache, die es hervorbringt“, muß man „den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren Zustandes und andererseits als die Ursache dessen, der folgen wird, betrachten“.9 Jedes Ereignis läßt sich erklären oder voraussagen, wenn man die Gesetze über die „Kräfte, von denen die Natur belebt ist“, und die „gegenseitige Lage der Wesen, die sie zusammen setzen“, in Erfahrung bringt, denn jedes Ereignis ist durch diese Gesetze und Bedingungen vollständig bestimmt.10 1842 formulierte Julius Robert Mayer den Satz der Erhaltung der Energie, indem er „Kräfte“ als „Ursachen“ konzipierte, auf die der „Grundsatz: causa aequat effectum“ insofern „volle Anwendung“ findet, als sich ihre jeweils meßbare Größe durch alle Wandlungen hindurch erhält.11 Nun konnte Bewegung 5  Vgl. Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  8 9. 6  Vgl. ebd. 7  Vgl. Galilei, Galileo, Dialogo di Galileo Galilei Matematico Straordinario dello Studio di Pisa e Filosofo e Matematico Primario del Serenissimo Gr. Duca di Toscana, dove ne i congressi di quattro giornate si discorre sopra i due Massimi Sistemi del Mondo, Tolemaico e Copernicano, proponendo indeterminatamente le ragioni filosofiche e naturali tanto per l’una, quanto per l’altra parte. – Fiorenza: per Gio Batista Landini 1632; Newton, Isaac, The Mathematical Principles of Natural Philosophy, 2 Volumes. Translated into English by Andrew Motte. – London: Benjamin Motte 1729. 8  Laplace, Pierre Simon de, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten. Nach der 6.  Aufl. des Originals übersetzt von Norbert Schwaiger. – Leipzig: Duncker & Humblot 1886 (hinfort: Laplace, Wahrscheinlichkeiten), S.  3. 9  Ebd., S.  4. 10 Ebd. 11  Vgl. Mayer, Julius Robert, Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur, in: Annalen der Chemie und Pharmacie, Band 42, 1842, S.  2 33–240 (hinfort: Mayer, Kräfte), hier S.  2 33.

Einleitung

3

mit Licht, Wärme, Elektrizität, Magnetismus, etc. verknüpft werden, so daß sich das mechanistisch-deterministische Weltbild seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Physik durchsetzte.12 Es beeinflußte nicht nur die anderen Naturwissenschaften, sondern weckte auch in ferneren wissenschaftlichen Disziplinen ein „kausales Bedürfnis“.13 Dessen Befriedigung sollte auch zum wissenschaftlichen Leitmotiv Webers werden.14 Die Vertreter dieses Weltbilds, von denen in Deutschland der Physiologe und Physiker Hermann von Helmholtz und der Physiologe Emil Du Bois-Reymond am einflußreichsten waren,15 wußten die Sehnsucht nach einer Weltformel freilich selbst zu dämpfen. Vor allem Du Bois-Reymond verlieh seiner Überzeugung Ausdruck, daß dieser „astronomische[n] Kenntniss“16 durchaus Grenzen gezogen wären, insofern man damit weder das Wesen von Kraft und Materie noch die Entstehung geistiger Vorgänge aus materiellen Bedingungen begreifen könne.17 Damit löste er den Ignorabimus-Streit18 aus und leistete Bestrebungen Vorschub, sich von diesem Weltbild abzugrenzen. Diese Bestrebungen wurden durch Entwicklungen begünstigt, mit denen sich die Physiker Ende des 19. Jahrhunderts konfrontiert sahen. Mit seinem 12  Vgl. Stallo, Johann Bernhard, The Concepts and Theories of Modern Physics. – New York: D. Appleton 1882, S.  27: „The science of physics, in addition to the general laws of dynamics and their application to the interaction of solid, liquid and gaseous bodies, embraces the theory of those agents which were formerly designated as imponderables – light, heat, electricity, magnetism, etc.; and all these are now treated as forms of motion, as different manifestations of the same fundamental energy, and as controlled by laws which are simple corollaries from the law of its conservation.” 13  Vgl. z. B. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, Einleitung in die attische Tragoedie. – Berlin: Weidmann 1889 (hinfort: Wilamowitz-Moellendorff, Tragoedie), S.  9 6: „sehr oft ist unentwirrbar, wo die geschichtliche erinnerung auftritt, die paradigmatische construction beginnt. denn auch in der summe der geschichtlichen erinnerungen übt der mensch sein causalitätsbedürfnis, wie sie jetzt sagen, besser und antiker gesagt, seinen philosophischen sinn“. 14  Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  169 mit Anm.  8 0; Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  252, 275 f., 278–280; Weber, Kritische Studien, unten, S.  4 68. 15  Vgl. Helmholtz, Hermann, Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Abhandlung, vorgetragen in der Sitzung der physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 23sten Juli 1847. – Berlin: G. Reimer 1847; Du Bois-Reymond, Emil, Untersuchungen über thierische Elektricität. – Berlin: G. Reimer 1848. 16  Du Bois-Reymond, Emil, Ueber die Grenzen des Naturerkennens. In der zweiten allgemeinen Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Leipzig am 14. August 1872 gehaltener Vortrag, in: ders., Reden. 1. Folge: Litteratur, Philosophie, Zeitgeschichte. – Leipzig: Veit & Comp. 1886 (hinfort: Du Bois-Reymond, Grenzen), S.  105–140, hier S.  120. 17  Ebd., S.  125. 18  Vgl. Du Bois-Reymond, Emil, Die sieben Welträthsel. In der Leibniz-Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 8. Juli 1880 gehaltene Rede, in: ders., Reden, 1. Folge: Litteratur, Philosophie, Zeitgeschichte. – Leipzig: Veit & Comp. 1886 (hinfort: Du Bois-Reymond, Welträthsel), S.  3 81–417.

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Plädoyer, kausale Erklärungen durch „Beschreibungen“ zu ersetzen,19 provozierte Gustav Kirchhoff einen Methodenstreit. Unterdessen hatte man Mühe, irreversible Wärme- und Diffusionsprozesse mit dem Determinismus zu vereinbaren, denn in den Differentialgleichungen wurden die Vorgänge in der Natur als reversible Prozesse konzipiert.20 So kamen in der Physik phänomenologische,21 in der Physiologie und Psychologie vitalistische und emergentistische Positionen in Konjunktur.22 In der Philosophie etablierten sich Positionen, die in den Traditionen des Deutschen Idealismus (Kant, Hegel, Fichte) oder Historismus (Humboldt, Ranke, Droysen) die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften bestimmten.23 Viele Vertreter wissenschaftlicher Disziplinen, die es mit Geschichte und Gesellschaft zu tun hatten, empfanden es als Affront, in einer an den Naturwissenschaften orientierten, sogenannten naturalistischen Manier zu forschen. Davon zeugt in der Geschichtswissenschaft der Lamprecht-Streit 24 und in der Nationalökonomie der Methodenstreit. Der Methodenstreit in der Nationalökonomie entbrannte in den 1880er Jahren zwischen Carl Menger, dem Haupt der Grenznutzenschule, und Gustav Schmoller, dem Haupt der jüngeren Historischen Schule, um das Selbstverständnis dieser wissenschaftlichen Disziplin.25 Menger stellte sich in die Tradition der klassischen Nationalökonomie, in der man seit David Ricardo26 die Einheit sowohl von Theorie und Empirie (Geschichte) als auch von Theorie 19 Vgl. Kirchhoff, Gustav, Vorlesungen über mathematische Physik. Mechanik. – Leipzig: B. G. Teubner 1876 (hinfort: Kirchhoff, Physik), S. V. 20  Vgl. Boltzmann, Ludwig, Über die Beziehung zwischen dem Zweiten Hauptsatze der mechanischen Wärmetheorie und der Wahrscheinlichkeitsrechnung respective von den Sätzen über das Wärmegleichgewicht, in: Sitzungsberichte der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, Band 76, 1877, S.  373–435. 21 Vgl. Mach, Ernst, Die Principien der Wärmelehre. Historisch-kritisch entwickelt, 2.  Aufl. – Leipzig: J. A. Barth 1900 (hinfort: Mach, Principien 2). 22 Vgl. Driesch, Hans, Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge. Ein Beweis vitalistischen Geschehens, in: Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen, Band 8, 1899, S.  3 5–111; Reinke, Johannes, Einleitung in die theoretische Biologie. – Berlin: Gebr. Paetel 1901, S.   169 ff. („Dominanten“); Wundt, Logik II,2, S.   267 ff. („schöpferische Synthese“). 23  Vgl. Dilthey, Einleitung; Dilthey, Ideen; Windelband, Geschichte; Rickert, Grenzen. 24  Dieser Streit wurde ausgelöst durch Karl Lamprechts „Deutsche Geschichte“, die seit 1891 in 16 Bänden und zwei Ergänzungsbänden erschien. Hauptgegner Lamprechts war Georg von Below. Vgl. Below, Methode; Lamprecht, Karl, Die historische Methode des Herrn von Below. Eine Kritik. – Berlin: R. Gaertner 1899. 25 Vgl. Menger, Untersuchungen; Schmoller, Methodologie; Menger, Historismus. Vgl. dazu ausführlich Mommsen, Wolfgang J., Einleitung, in: MWG III/1, S.  1–51, hier S.  21 ff. 26  Vgl. Ricardo, David, On the Principles of Political Economy, and Taxation. – London: John Murray 1817 (hinfort: Ricardo, Principles).

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und Praxis (Politik), die das Werk von Adam Smith charakterisiert hatte, auflöste, um die Nationalökonomie in Analogie zur Physik als eine theoretische Wissenschaft zu konzipieren, die danach strebt, durch Abstraktion von der empirischen Wirklichkeit die ausnahmslos geltenden Gesetze zu erkennen, welche die wirtschaftlichen Phänomene bestimmen. Schmoller hingegen stellte sich in die Tradition der Historischen Schule, in der man seit Wilhelm Roscher27 die Nationalökonomie in Analogie zur Geschichtswissenschaft als eine historische Wissenschaft konzipierte, die danach strebt, die empirische Wirklichkeit der wirtschaftlichen Phänomene in ihrer konkreten Faktizität zu erforschen, ohne freilich auf die Erkenntnis der Gesetze, die sie bestimmen, zu verzichten. Schmoller plädierte dafür, sich zunächst auf empirische Spezialuntersuchungen zu konzentrieren, wobei ihm ebenso wichtig war, die Nationalökonomie auch in ihrer praktischen, sozialpolitischen Relevanz als eine ethische Wissenschaft zu betreiben. Mit diesem Streit der Wiener Schule Mengers mit der Berliner Schule Schmollers war Weber bestens vertraut. In seiner Einleitung zum „Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine (‚theoretische‘) Nationalökonomie“ listete er die einschlägige Literatur auf.28 Dabei führte er auch die Logik Christoph Sigwarts an,29 einen jener Versuche, „die Logik unter dem Gesichtspunkte der Methodenlehre zu gestalten, und sie dadurch in lebendige Beziehung zu den wissenschaftlichen Aufgaben der Gegenwart zu setzen“.30 Der zweite, 1893 in zweiter Auflage erschienene Band dieser Logik enthielt im §  9 9 Ausführungen zur „Erklärung im Gebiete der Geschichte“.31 Auf sie bezog sich Weber in dieser Einleitung,32 und zwar auf die Passagen, in denen Sigwart auf den Methodenstreit in der Nationalökonomie zu sprechen kam.33 Sigwart 27  Vgl. Roscher, Grundriß. 28  Vgl. Weber, Einleitung, in: ders., Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  8 9–91. 29  Vgl. ebd., S.  8 9. Paul Honigsheim zufolge sprach Weber „mit großer Verehrung von Sigwart und seiner ‚Logik‘“. Vgl. Honigsheim, Paul, Max Weber in Heidelberg, in: Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, hg. von René König und Johannes Winckelmann (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 7). – Köln, Opladen: Westdeutscher Verlag 1963, S.  161–271, hier S.  178 f. 30 Vgl. das „Vorwort zur ersten Auflage“ von 1873, in: Sigwart, Christoph, Logik, Band I: Die Lehre vom Urtheil, vom Begriff und vom Schluss, 2., durchgesehene und erweiterte Aufl. – Freiburg: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1889 (hinfort: Sigwart, Logik I), S. V-VI, hier S. V. 31 Vgl. Sigwart, Christoph, Logik, Band II: Die Methodenlehre, 2., durchgesehene und erweiterte Aufl. – Freiburg: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1893 (hinfort: Sigwart, Logik II), S.  5 99–633 (Nr.  11–24). 32  Vgl. Weber, Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  89, mit Bezug auf Sigwart, Logik II (wie oben, S.  5, Anm.  31), S.  627 f. 33  Vgl. ebd., S.  626 ff.

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nahm dabei eine vermittelnde Position ein, indem er die Berechtigung sowohl der theoretischen, Gesetze aufstellenden, als auch der historischen, Fakten sammelnden Forschung betonte. Daß Sigwarts Ausführungen mit 34 Seiten, von denen sich drei der Nationalökonomie widmeten, knapp bemessen waren, mag ein Grund dafür gewesen sein, daß sich Weber für eine umfassendere logische und philosophische Perspektive interessierte. Diese Perspektive erhoffte er sich von den Philosophen des Südwestdeutschen Neukantianismus, besonders von Heinrich Rickert, einem Schüler von Wilhelm Windelband, dem Haupt und Vordenker dieser Schule. Rickert hatte von 1885 bis 1888 an der Universität Straßburg bei Windelband studiert, wo er mit einer Dissertation „Zur Lehre von der Definition“ promoviert wurde.34 1889 ging er an die Universität Freiburg, wo er sich 1891 unter Mitwirkung von Alois Riehl, des Ordinarius für Philosophie, mit der Studie „Der Gegenstand der Erkenntnis“ habilitierte.35 In den folgenden Jahren lehrte er als Privatdozent, bis er 1894 zum außerordentlichen Professor für Philosophie ernannt wurde. In diesem Jahr wurde Windelband zum Rektor der Universität Straßburg gewählt, wo er im Mai seine Antrittsrede „Geschichte und Naturwissenschaft“ hielt, die sehr einflußreich wurde und neben Rickert auch Weber, der im selben Jahr an die Universität Freiburg berufen wurde, maßgeblich inspirierte. Windelband ging es in diesem Manifest des Südwestdeutschen Neukantianismus darum, das Verhältnis von Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft zu klären. Dabei stellte er das mechanistisch-deterministische Weltbild nicht in Frage. Wie schon Du Bois-Reymond wollte er dessen Grenzen aufzeigen, um so die Geschichtswissenschaft als gleichberechtigte Disziplin zu legitimieren. Tatsächlich war er nicht nur der Überzeugung, daß es allen Wissenschaften um kausale Erklärung gehe, sondern auch, daß alle dasselbe „logische Schema“ benutzten: „In der Causalbetrachtung nimmt jegliches Sondergeschehen die Form eines Syllogismus an“.36 Den „Obersatz“ bildet ein „Naturgesetz, bezw. eine Anzahl von gesetzlichen Notwendigkeiten“, den „Untersatz“ eine „zeitlich gegebene Bedingung oder ein Ganzes solcher Bedingungen“, den „Schlusssatz“ das „wirkliche einzelne Ereig-

34  Vgl. Rickert, Heinrich, Zur Lehre von der Definition. – Freiburg: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1888. 35  Vgl. Rickert, Heinrich, Der Gegenstand der Erkenntnis. Ein Beitrag zum Problem der philosophischen Transzendenz. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1892 (hinfort: Rickert, Gegenstand). 36  Windelband, Geschichte, S.  24. Zum Begriff „Syllogismus“ vgl. ursprünglich Aristoteles, Werke. Organon, oder Schriften zur Logik. Uebersetzt von Karl Zell, Band 2: Der ersten Analytika erste Hälfte, in: Griechische Prosaiker in neuen Uebersetzungen, hg. von G. L. F. Tafel, E. R. v. Osiander und G. Schwab, Band 155. – Stuttgart: J. B. Metzler 1836, S.  123–232.

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niss“.37 Zwar lege nun „die Causalerklärung des einzelnen Geschehens mit dessen Reduction auf allgemeine Gesetze den Gedanken nahe, dass es in letzter Instanz möglich sein müsse, aus der allgemeinen Naturgesetzmässigkeit der Dinge auch die historische Sondergestaltung des wirklichen Geschehens zu begreifen“.38 Das war für Windelband aber nicht möglich. Denn so wie der Schlußsatz „zwei Prämissen“ voraussetzt, setzt das Geschehen „zwei Arten von Ursachen“ voraus, nämlich „einerseits die zeitlose Notwendigkeit, in der sich das dauernde Wesen der Dinge ausdrückt, andrerseits die besondere Bedingung, die in einem bestimmten Zeitmomente eintritt“.39 So setzt z. B. eine „Explosion“ einerseits die „Natur der explosiblen Stoffe“, die wir als „chemisch-physikalische Gesetze“ aussprechen, voraus, und andererseits eine „einzelne Bewegung“ wie ein „Funke“ oder eine „Erschütterung“.40 Erst „beides zusammen verursacht und erklärt das Ereigniss“, aber „keines von beiden ist eine Folge des anderen; ihre Verbindung ist in ihnen selbst nicht begründet“.41 So wenig wie im Syllogismus der „Untersatz eine Folge des Obersatzes“ ist, so wenig ist bei einem Geschehen „die zu dem allgemeinen Wesen der Sache hinzutretende Bedingung aus diesem gesetzlichen Wesen selbst abzuleiten“.42 Vielmehr ist diese Bedingung „als ein selbst zeitliches Ereigniss“ auf „eine andere zeitliche Bedingung zurückzuführen, aus der sie nach gesetzlicher Notwendigkeit gefolgt ist: und so fort bis infinitum“.43 Selbst wenn sich in dieser „Causalkette der Bedingungen“ ein „Anfangsglied“ denken ließe, wäre ein solcher „Anfangszustand“ doch immer „ein Neues, was zu dem allgemeinen Wesen der Dinge hinzutritt, ohne daraus zu folgen“.44 In die „Sprache der heutigen Wissenschaft“ übersetzt, der Windelband den Zungenschlag von Laplace verlieh, läßt sich also formulieren: „aus den allgemeinen Naturgesetzen folgt der gegenwärtige Weltzustand nur unter der Voraussetzung des unmittelbar vorhergehenden, dieser wieder aus dem früheren, und so fort; niemals aber folgt ein solcher bestimmter einzelner Lagerungszustand der Atome aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen selbst“; aus „keiner ‚Weltformel’ kann die Besonderheit eines einzelnen Zeitpunktes unmittelbar entwickelt werden: es gehört dazu immer noch die Unterordnung des vorhergehenden Zustandes unter das Gesetz“.45 Da es also „kein in den allgemeinen Gesetzen begründetes Ende gibt“, hilft „alle Subsumtion unter 37  Windelband, Geschichte, S.  24. 38 Ebd. 39 Ebd. 40  Ebd., S.  24 f. 41  Ebd., S.  25. 42 Ebd. 43 Ebd. 44  Ebd., S.  25 f. 45  Ebd., S.  25.

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jene Gesetze nicht, um das einzelne in der Zeit Gegebene bis in seine letzten Gründe hinein zu zergliedern“.46 So bleibt denn auch „in allem historisch und individuell Erfahrenen ein Rest von Unbegreiflichkeit“.47 Es gibt einen „Riss“ zwischen dem Allgemeinen und Besonderen: „Das Gesetz und das Ereigniss bleiben als letzte, incommensurable Grössen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen.“48 Windelband begründete damit zwei „Erkenntnisziele“: „die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt […]. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereignisswissenschaften; jene lehren, was immer ist, diese, was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist […] in dem einen Falle nomothetisch, in dem andern idiographisch.“49 Während das Einzelne für das nomothetische, naturwissenschaftliche Denken ein „Spezialfall“ von Gesetzen ist,50 folgt das idiographische, geschichtswissenschaftliche Denken der „lebendige[n] Wertbeurteilung des Menschen“, die „an der Einzigkeit des Objekts hängt“, wobei es freilich „auf Schritt und Tritt der allgemeinen Sätze“ bedarf, denn „[j]ede Causalerklärung irgend eines geschichtlichen Vorganges setzt allgemeine Vorstellungen vom Verlauf der Dinge überhaupt voraus“.51 An sich war Windelbands Unterscheidung zwischen nomothetischer und idiographischer Wissenschaft keineswegs neu. Sie lag bereits 1883 Mengers Unterscheidung zwischen theoretischer und historischer Nationalökonomie zugrunde und läßt sich zumindest bis 1830 zu Auguste Comte zurückverfolgen.52 Für Rickert war sie gleichwohl wegweisend. Im unmittelbaren Anschluß an Windelbands Rektoratsrede machte er sie zur Grundlage einer voluminösen Monographie mit dem Titel „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen

46  Ebd., S.  25 f. 47  Ebd., S.  26. 48  Ebd., S.  2 6 f. 49  Ebd., S.  11 f. 50  Ebd., S.  16. 51  Ebd., S.  2 2 f. 52  Menger, Untersuchungen, S.  3, 7, trennte die Erkenntnis des „Generellen“, die er „theoretische“ nannte, von der des „Concreten“ bzw. „Individuellen“, die er „histo­ rische“ nannte. Tatsächlich hatte diese Unterscheidung Auguste Comte schon 1830 vollzogen: „Man muss nämlich zwei Gattungen von Wissenschaften unterscheiden; die eine ist abstrakt und allgemein und beschäftigt sich mit der Auffindung jener Gesetze, welche mehrere Klassen von Vorgängen bestimmen. Die andere ist konkret, beschreibend, auf das Besondere gerichtet; man bezeichnet sie mitunter mit dem Namen der einzelnen Naturwissenschaften, weil sie diese Gesetze auf die verschiedenen, wirklich bestehenden Dinge anwendet.“ Vgl. Comte, Auguste, Die positive Philosophie im Auszuge von Jules Rig. Uebersetzt von J. H. von Kirchmann, Band 1. – Heidelberg: G. Weiss 1883, S.  21. Vgl. dazu Weber, Objektivität, unten, S.  199.

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Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften“.53 Damit hoffte er auch, auf das nach dem Wechsel Riehls an die Universität Kiel vakant gewordene Freiburger Ordinariat für Philosophie berufen zu werden. Weber, der mit Rickert befreundet war,54 setzte sich in diesem Berufungsverfahren für ihn ein.55 Im Dezember 1895 wies er in einem Separatvotum darauf hin, daß eine bereits publizierte „Partie“ dieser Studie „schon jetzt eine derartige Bedeutung auch für den Methodenstreit in der Nationalökonomie“ habe, daß er in seinen „theoretischen Vorlesungen zu diesem originellen Gedankenkreise Stellung nehmen mußte“.56 Zudem gab er Rickert den Rat, zunächst einen „Halbband“ zu publizieren.57 So erschienen 1896 die ersten drei Kapitel, die „vor Allem den Zweck hatten, zu zeigen, dass die naturwissenschaftliche Methode in der Geschichte nicht anwendbar ist, und die als negativer Theil der Arbeit ein abgeschlossenes Ganzes bilden“.58 Um eine Brücke zum noch zu formulierenden positiven Teil zu bauen, verwies Rickert am Ende des negativen Teils noch auf einschlägige neuere Studien, so auch auf „die ungemein lehrreichen Ausführungen, die Sigwart in der zweiten Auflage seiner Methodenlehre (Logik, Bd.  II, 2.  Aufl. S.  599 ff.) über die ‚Erklärung im Gebiete der Geschichte‘ gegeben hat“,59 mithin auf jenes Werk, das Weber im „Grundriß“ zu seiner Vorlesung über „Allgemeine (‚theoretische‘) Nationalökonomie“ aufführte.60 Rickert wurde 1896 in der Tat auf das Freiburger Ordinariat für Philosophie berufen und arbeitete in den folgenden Jahren an der „zweite[n] Hälfte“61 seiner Monographie. Als er 1899 in seiner Rede „Kulturwissenschaft und 53  Vgl. Rickert, Grenzen. 54  Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S.  216. Vgl. auch Brief von Max Weber an Georg von Below vom 17. Juli 1904, MWG II/4, S.  2 35 f., hier S.  2 35. 55  Vgl. den Editorischen Bericht zum Brief von Max Weber an Friedrich Kluge vom 22. Dez. 1895, MWG II/3, S.  155–160, hier S.  155 ff. 56  Weber, Max, Separatvotum betreffend die Besetzung des philosophischen Ordinariats (7. Dezember 1895), MWG I/13, S.  5 67–576, hier S.  572. Weber bezog sich dabei auf Rickert, Heinrich, Zur Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie, Band 18, Heft 3, 1894, S.  277–319. Eine Stellungnahme „zu diesem originellen Gedankenkreise“ ist in Webers Vorlesungen über „Allgemeine (‚theoretische‘) Nationalökonomie“ (MWG III/1) nicht enthalten. Rickert wird an keiner Stelle erwähnt. 57 Vgl. Brief von Max Weber an Marianne Weber vom 3. April 1896, MWG II/3, S.  181–183, hier S.  182. 58  Rickert, Grenzen, S. IV. 59  Ebd., S.  299. 60  Vgl. Weber, Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  8 9. Im Methodenstreit war Sigwart durchaus bekannt. Für Schmoller, Methodologie, S.  244, war er „unser erster deutscher Logiker“, auf den er im Zuge seiner Bestimmung des Verhältnisses von „Theorie“ und „Beobachtung“ referierte. 61  Rickert, Grenzen, S. V.

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Naturwissenschaft“62 den positiven Teil seiner Monographie im Kern vorstellte, hatte Weber freilich schon mit seiner Krankheit zu kämpfen, nachdem er im Sommer 1898 einen Zusammenbruch erlitten hatte, der ihn mehr oder weniger arbeitsunfähig machte.63 Immer wieder vom Dienst beurlaubt, suchte er in den nächsten Jahren Heilung in Kuren und auf Reisen. Seine freundschaftliche Bindung an Rickert litt darunter nicht, zumal seine Frau, Marianne Weber, eine Dissertation bei Rickert schreiben wollte.64 Zwar scheiterte ihre Promotion am fehlenden Abitur, ihre schriftliche Arbeit stellte sie gleichwohl fertig. Sie wurde unter dem Titel „Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin“ im Juli 1900 in der von Carl Johannes Fuchs, Gerhart von Schulze-Gaevernitz und Max Weber herausgegebenen Schriftreihe „Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen“ publiziert, versehen mit einer „Anmerkung“ Webers, der darin die Selbständigkeit seiner Frau bei der Abfassung ihrer Schrift bekundete.65 Auf Reisen in Italien studierte er dann den positiven Teil von Rickerts Monographie, der Anfang 1902 publiziert worden war und die weitere Ausarbeitung von Windelbands Manifest enthielt. Rickert hatte die Unterscheidung zwischen nomothetischer und idiographischer Erkenntnis in eine Theorie der „Begriffsbildung“ gekleidet, wobei unter Begriffen nicht nur einzelne Worte, sondern auch Aussagen (Urteile) zu verstehen sind. Die nomothetische, naturwissenschaftliche Erkenntnis betrachtet die Wirklichkeit auf das Allgemeine hin und strebt letztlich danach, Begriffe zu formulieren, die Kausalgesetze zum Ausdruck bringen. Sie abstrahiert von der „vollen empirischen Wirklichkeit“, in der „jede Ursache und jede Wirkung von jeder anderen Ursache und jeder anderen Wirkung verschieden ist“.66 Dabei unterstellt sie ein „Prinzip der Aequivalenz der Ursachen“, das besagt, „dass ‚dieselbe‘ Ursache jedesmal dieselbe Wirkung hervorbringt“, sowie ein „Prinzip der Aequivalenz von Ursache und Effekt“, das besagt, „dass die Ursache niemals mehr hervorbringe, als sie selbst enthalte“,67 was im „Satz: causa aequat effectum“ seinen Ausdruck findet und das Gesetz die Form einer „Kausalgleichung“ annehmen läßt.68 Die idiographische, geschichtsbzw. kulturwissenschaftliche Erkenntnis hingegen betrachtet die Wirklichkeit 62  Vgl. Rickert, Heinrich, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Ein Vortrag. – Freiburg, Leipzig und Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1899 (hinfort: Rickert, Kulturwissenschaft). 63  Vgl. Aldenhoff-Hübinger, Rita, Einleitung, in: MWG II/3, S.  1–41, hier S.  2 3 ff. 64  Vgl. den Editorischen Bericht zu Weber, Anmerkung des Herausgebers, unten, S.  33–35. 65  Vgl. Weber, Anmerkung des Herausgebers, unten, S.  3 6. 66  Rickert, Grenzen, S.  420, 413. 67  Ebd., S.  420 f. 68 Ebd., S.   420, 422. Zum Begriff „Kausalgleichung“ vgl. Weber, Roscher und Knies 1, unten, S.  4 6 mit Anm.  31.

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auf das Besondere hin. Sie wählt durch „Beziehung auf einen allgemeinen Werth“ „historische Individuen“ aus und formuliert Begriffe, welche die „wesentliche[n]“ „Bestandtheile“ solcher Individuen zum Ausdruck bringen.69 Weil sie nicht abstrahiert, kennt sie „den Begriff der Kausalgleichung überhaupt nicht“, sondern benutzt „Kausalungleichungen“ zur Darstellung „individuelle[r] Kausalzusammenhänge“.70 Folglich ist der „Satz: kleine Ursachen – grosse Wirkungen“ zwar für die naturwissenschaftliche Begriffswelt falsch, nicht aber für den Historiker, der „sich niemals zu scheuen braucht, historisch wesentliche Wirkungen aus historisch unwesentlichen Ursachen entstehen zu lassen“.71 Rickert bettete seine Theorie der Begriffsbildung in ein System der Wissenschaften ein, das die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen als Mischformen zwischen der Mechanik einerseits und der Historik andererseits verortete, je nach Anteil ihrer naturwissenschaftlichen und geschichts- bzw. kulturwissenschaftlichen Begriffe. Eine weitere Klärung seiner Vorstellung von Kausalität schien ihm nicht erforderlich. Es würde „viel zu weit führen“, „wenn wir eine vollständige Theorie der naturwissenschaftlichen Kausalität geben wollten“.72 Eine vollständige Theorie der „historischen Kausalität“ hat er freilich ebensowenig gegeben.73 Dafür widmete er sich den „weltanschaulichen“ Implikationen seiner „logische[n] Einleitung in die historischen Wissenschaften“,74 mit denen er seine Monographie begonnen hatte und mit denen er sie beendete.75 Weber berichtete nun seiner Frau Marianne im April 1902 aus Florenz, daß er „Rickert“ lese, der „recht gut“ sei, aber auch „hie u. da Widerspruch“ hervorrufe.76 Von „der Terminologie (‚Werth‘)“ abgesehen, sei Rickert „sehr gut“.77 Zum „großen Teil“ finde er das, was er „selbst, wenn auch in logisch nicht bearbeiteter Form, gedacht habe“; gegen die „Terminologie“ habe er

69  Rickert, Grenzen, S.  3 68. 70  Ebd., S.  422, 414. 71  Ebd., S.  422. Zum Begriff „Kausalungleichung“ vgl. Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  254 f. mit Anm.  52. 72  Rickert, Grenzen, S.  420 f. 73  Ebd., S.  416. 74  So der Untertitel von Rickert, Grenzen. 75 Rickert hatte das Ziel, der „naturwissenschaftlichen“ im Sinne von „naturali­ stischen Weltanschauung“ eine „historische Weltanschauung“ entgegenzusetzen. Seine Studien zur wissenschaftlichen Erkenntnis waren ihm „Mittel“ zu diesem Zweck. Vgl. Rickert, Grenzen, S.  10. Vgl. bereits Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  10 ff. Vgl. hierzu Weber, Roscher und Knies 1, unten, S.  75 mit Anm.  51. 76  Karte von Max Weber an Marianne Weber vom 7. April 1902, MWG II/3, S.  822. 77  Karte von Max Weber an Marianne Weber vom 10. April 1902, MWG II/3, S.  825. Vgl. hierzu auch das im Winter 1902/03 formulierte, sogenannte Nervi-Fragment im Anhang, unten, S.  623–668.

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„hie u. da Bedenken“,78 womit er einmal mehr den Wertbegriff gemeint haben dürfte. Webers Lektüre fällt in die Zeit seines zweiten Gesuchs um Entlassung aus dem badischen Staatsdienst, das er aber wieder zurücknahm.79 Er blieb Mitglied der Philosophischen Fakultät und erhielt angeblich im Oktober 1902 die Einladung, einen Beitrag für eine Festschrift der Ruperto Carola zu schreiben, in der „Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert“ vorgestellt werden sollten.80 Als Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Karl Knies war ihm eine Vorstellung dieses angesehenen Nationalökonomen zugedacht. Weil Schmoller bereits ein „literarisches Porträt“81 von Knies publiziert hatte, dachte Weber offenbar an eine „problemgeschichtliche Fassung der Arbeit“,82 mit der er dann allerdings auch systematische Überlegungen verbinden sollte: So sei es „einer der Zwecke dieser Studie“, die „Brauchbarkeit der Gedanken“ des „grundlegenden Werk[s] von H. Rickert (Die Grenzen der naturwissensch[aftlichen] Begriffsbildung)“ für die „Methodenlehre unserer Disziplin zu erproben“.83 Obwohl Weber bis auf Weiteres keine Vorlesungen halten mußte, war er also weiter an der theoretischen Nationalökonomie und der Auflösung des Methodenstreits interessiert. Das „nämliche Gewässer“84 zeigte sich an neuen Ufern. Weber meinte, eine Befassung mit den „methodologischen Ansichten von Knies“ bedürfe „einer vorherigen Darlegung des methodischen Standpunktes Roschers“.85 Seine in systematischer Absicht formulierte problemgeschichtliche Fassung geriet dadurch zu einer umfassenden Auseinanderset78  Karte von Max Weber an Marianne Weber vom 11. April 1902, MWG II/3, S.  826 f., hier S.  826. 79 Vgl. Brief von Max Weber an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 26. März 1902, MWG II/3, S.  813–815. Zum ersten Gesuch vgl. Brief von Max Weber an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 7. Jan. 1900, ebd., S.  711–714. 80  Marianne Weber zufolge erhielt Weber die Einladung „ein halbes Jahr“ nach seiner Florenz-Lektüre von Rickerts „Grenzen“, die sich auf April 1902 datieren läßt. Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S.  273. 81 Schöll, Fritz, Vorrede, in: Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert. Festschrift der Universität zur Zentenarfeier ihrer Erneuerung durch Karl Friedrich, Band 1. – Heidelberg: Carl Winter 1903, S. V-XVI (hinfort: Schöll, Vorrede), hier S. XIV. Mit diesem „literarische[n] Porträt“ ist Schmollers Rezension von Knies’ Buch „Die politische Oekonomie vom geschichtlichen Standpunkte“ gemeint, die Schmoller 1883 in seinem „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich“ publiziert und 1888 in seinem Sammelwerk „Zur Litteraturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften“ unter dem Titel „Karl Knies“ zum Wiederabdruck gebracht hatte. Vgl. Schmoller, Knies1, und ders., Knies 2. 82  Schöll, Vorrede (wie oben, S.  12, Anm.  81), S.  XIV. 83  Weber, Roscher und Knies 1, unten, S.  4 9, 45. 84  Tocqueville, Staat (wie oben, S.  1, Anm.  1), S.  4. 85  Weber, Roscher und Knies 1, unten, S.  42.

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zung mit Roscher als dem wichtigsten Protagonisten der älteren Historischen Schule der Nationalökonomie, dessen geschichtsphilosophische und organologische Prämissen er kritisierte. Wegen seiner angegriffenen gesundheitlichen Konstitution wurde ihm diese Arbeit jedoch „bald zur lastenden Qual“.86 Marianne Weber sprach von einem „Seufzeraufsatz“,87 der für sie freilich den Beginn einer neuen Phase der Produktivität markierte. Weber verfaßte bis Dezember 1902 ein Manuskript, das seine Frau abtippte und ihm nach Nervi, einem Winterkurort nahe Genua, schickte,88 wo er sich auch wieder mit Rickerts „Grenzen“ beschäftigte.89 Im Februar 1903 stand fest, daß er den Termin für die Abgabe der Beiträge für die Heidelberger Festschrift nicht würde einhalten können, weswegen er seine Abhandlung Schmoller zur Publikation in dessen „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“ anbot. Die „Hälfte“ könne er „im Mai liefern u. den Rest im Laufe des Sommers“.90 Tatsächlich wurde diese „Hälfte“ erst im Sommer 1903 fertig, was hauptsächlich Webers schwankendem Gesundheitszustand geschuldet sein dürfte, der ihn im April 1903 zu einem dritten Entlassungsgesuch bewog, aufgrund dessen ihn das Ministerium, unter Verzicht auf eine Pension, krankheitshalber in den Ruhestand versetzte, ihn aber zugleich mit einer Honorarprofessur an der Philosophischen Fakultät der Ruperto Carola betraute.91 Als die besagte „Hälfte“ unter dem Titel „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen National­ ökonomie“ im Oktober 1903 in Schmollers „Jahrbuch“ erschien, war Weber freilich schon mit einem neuen Projekt beschäftigt, was ihn von der Fertigstellung der zweiten, nunmehr Knies gewidmeten Hälfte, für die er wohl auch schon in Nervi eine „Stoffeinteilung“ angefertigt hatte,92 abhielt. Im Sommer 1903 kaufte Edgar Jaffé, ein aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie stammender Privatgelehrter, der sich an der Universität Heidelberg für Nationalökonomie habilitieren wollte, von Heinrich Braun, einem Publizisten und Sozialpolitiker, der für die SPD in den Reichstag gewählt worden war, das „Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik“, um es weiterzuführen.93 Als 86  Weber, Marianne, Lebensbild, S.  273. 87  Ebd., S.  291. 88 Vgl. Karte von Max Weber an Marianne Weber vom 4. Jan. 1903, MWG II/4, S.  3 5 f., hier S.  3 5. 89 Dazu ist ein Manuskript, das sogenannte Nervi-Fragment, überliefert. Vgl. den Anhang, unten, S.  623–668, bes. S.  623–626. 90  Brief von Max Weber an Gustav Schmoller vom 20. Febr. 1903, MWG II/4, S.  4 3 f., hier S.  44. 91  Vgl. Brief von Max Weber an Franz Böhm vom 8. April 1903, MWG II/4, S.  4 5–48. 92  Vgl. Brief von Max Weber an Marianne Weber vom 3. Jan. 1903, MWG II/4, S.  3 3 f., hier S.  34. 93  Vgl. Hübinger, Gangolf und Lepsius, M. Rainer, Einleitung, in: MWG II/4, S.  1–25, hier S.  3 ff., sowie den Kommentar zur Karte von Max Weber an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, MWG II/4, S.  6 8–70.

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Mitherausgeber gewann er Weber und Werner Sombart, der eine außerordentliche Professur für Nationalökonomie an der Universität Breslau hatte und Braun nahestand.94 Um das Konzept der Zeitschrift, die unter dem neuen Namen „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erscheinen sollte, vorzustellen, formulierten die Herausgeber einen Werbeprospekt,95 für den Jaffé und Weber je einen Entwurf geschrieben hatten,96 sowie ein Geleitwort,97 das im April 1904 im ersten Heft des „Archivs“ erschien. In dieser kurzen Programmschrift erklärten die Herausgeber „die historische und theoretische Erkenntnis der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Ent­ wicklung“ zu dem „wissenschaftliche[n] Problem“, in dessen „Dienst“ sie ihre Zeitschrift stellen wollten.98 Dabei beabsichtigten sie, den seit dem Methodenstreit in der Nationalökonomie virulenten Gegensatz von historischer und theoretischer Erkenntnis in Richtung Theorie aufzulösen. Dem „Hunger nach sozialen Tatsachen“, den Braun mit dem Abdruck von Gesetzestexten und Sozialstatistiken gestillt hatte, sei „mit dem Wiedererwachen des philosophischen Interesses“ auch ein „Hunger nach sozialen Theorien“ gefolgt, den „zu befriedigen eine der künftigen Hauptaufgaben des ‚Achivs‘ bilden wird“.99 So findet sich am Ende des „Geleitworts“, sehr wahrscheinlich auf Webers Initiative hin, ein Bekenntnis zu einer „im engeren Sinn ‚Theorie‘ genannte[n] Form der Forschung“, ohne jedoch „den Reichtum des historischen Lebens in Formeln zu zwängen“.1 Zur Fundierung dieser Forschung sollten regelmäßig „erkenntniskritisch-methodologische Erörterungen über das Verhältnis zwischen den theoretischen Begriffsgebilden und der Wirklichkeit“ publiziert werden.2 Dazu wollte Weber im ersten Heft des „Archivs“ mit seiner Abhandlung „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ auch gleich den Anfang machen. Nach einer das „Geleitwort“ ergänzenden, nicht zuletzt gegen die ethische Nationalökonomie Schmollers gerichtete Präzisierung des Verhältnisses von wertfreier Sozialwissenschaft und wertender Sozialpolitik3 machte er sich an die Formulierung einer solchen im engeren Sinn 94  Auch Sombart wollte den Methodenstreit in der Nationalökonomie überwinden. Vgl. Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus, Band 1: Die Genesis des Kapitalismus. – Leipzig: Duncker & Humblot 1902 (hinfort: Sombart, Moderner Kapitalismus I), S.  X XVII ff. 95  Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, unten, S.  112–119. 96  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, unten, S.  102–111. Der Entwurf von Jaffé ist nicht überliefert. 97  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, unten, S.  120–134. 98  Ebd., S.  130. 99  Ebd., S.  133. 1 Ebd. 2 Ebd. 3  Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  145–161.

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Theorie genannten Form der Forschung, um im Methodenstreit der „zwei Nationalökonomien“4 Position zu beziehen. So nahe es dabei für ihn lag, sich mit Mengers „abstrakt“-theoretische[r] Methode“ auseinanderzusetzen,5 so klar sollte ihm nun auch werden, daß Rickerts Theorie geschichts- bzw. kulturwissenschaftlicher Erkenntnis, an die er wieder anknüpfte,6 für seine Zwecke nicht hinreichte.7 Mengers Methode erschöpfte sich nicht in der einen, generalisierenden Variante der Abstraktion, die Rickert seiner Theorie naturwissenschaftlicher Erkenntnis zugrunde gelegt hatte, sondern basierte auch auf der anderen, isolierenden Variante,8 die Rickert, ohne sie in seiner Darstellung der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung thematisiert zu haben, für die geschichtsbzw. kulturwissenschaftliche Erkenntnis ablehnte.9 Für Menger war die Abstraktion Teil seiner „Methode“, die er 1871 in seinen „Grundsätze[n]“ und 1883 in seinen „Untersuchungen“ anwandte und 1884 in einem Brief an Léon Walras nicht nur als „exakt“, sondern auch als „analytisch-synthetisch“ und „analytisch-compositiv“ bezeichnete,10 hat sie doch wirtschaftliche „Phäno4  Ebd., S.  161. 5  Vgl. ebd., S.  197–203. 6  Vgl. ebd., S.  143. Weber bezog sich auch in seinen folgenden Beiträgen zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften auf Rickert. Auch in seiner weiteren Korres­ pondenz kam er meist in freundschaftlicher Verbundenheit auf Rickert zu sprechen. Vgl. z. B. Brief von Max Weber an Franz Eulenburg vom 16. April 1905, MWG II/4, S.  4 66, in dem er Rickert als „einen unserer tüchtigsten Logiker“ bezeichnete. 7  Vgl. Brief von Max Weber an Georg von Below vom 17. Juli 1904, MWG II/4, S.  2 35 f., hier S.  2 35, in dem er darauf hinwies, daß sein Aufsatz „eigentlich nur“ eine „Anwendung“ der „Gedanken“ seines „Freundes Rickert“ enthalte – „[a]ußer dem mir allerdings wichtigsten letzten Drittel“. Tatsächlich fand er selbst den Kern dieser „Gedanken“ unzureichend, wie er Gottl mitteilen sollte: „Sie haben ganz recht mit der Bemerkung, daß Rickert das logische Wesen des ‚Werth-Beziehens‘ (obwohl er diesen Begriff entdeckt hat) nicht genügend formuliert hat.“ Vgl. Brief von Max Weber an Friedrich Gottl vom 27. März 1906, MWG II/5, S.  5 9 f., hier S.  5 9. 8  Vgl. Menger, Untersuchungen, S.  4 0 ff., 52 f. 9  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  3 92, 404 f., 409, 446, 448, 524, 526, 528. 10 Für Menger war „exakt “ synonym mit „analytisch-synthetisch“ und „analy­ tisch-compositiv“. Vgl. Brief von Carl Menger an Léon Walras vom Februar 1884, in: Correspondence of Léon Walras and Related Papers, Volume II: 1884–1897, hg. von William Jaffé. – Amsterdam: North-Holland 1963, S.  2 –6 (Letter 602) (hinfort: Menger, Brief an Walras), hier S.  4. Friedrich August von Hayek hat zum Titel des Kapitels „Die individualistische und ‚kompositive‘ Methode der Sozialwissenschaften“ seines Buches „Mißbrauch und Verfall der Vernunft“ angemerkt: „Das Wort ‚kompositiv‘ habe ich einer handschriftlichen Notiz von Carl Menger entnommen, der es in seinem persönlichen mit Notizen versehenen Exemplar von Schmollers Rezension seiner Metho­ de der Socialwissenschaften (Jahrbuch für Gesetzgebung etc. N. F. 7, 1883, 42) über das von Schmoller verwendete Wort ‚deduktiv‘ schrieb.“ Vgl. Hayek, Friedrich A. von, Mißbrauch und Verfall der Vernunft. Ein Fragment. Hg. von Viktor Vanberg. Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Abteilung B, Band 2. – Tübingen: Mohr Siebeck 2002, S.  3 6 f. Hayek zufolge wäre Menger mit der damals üblichen Bezeich-

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mene auf ihre einfachsten Elemente zurück zu führen und den Process zu erforschen, durch welchen die ersteren sich aus den letzteren gesetzmässig aufbauen“.11 Wie eine Publikation aus dem Jahr 1889 nahelegt,12 bezog sich Menger in diesem Brief auf die „Logik“ Wilhelm Wundts, die 1883, also im selben Jahr wie seine eigenen „Untersuchungen“, publiziert worden war. In Wundts „Logik“ konnte er eine Klärung dieser Konzepte finden. Für Wundt basierte „Abstraction“ auf „Analyse“.13 Eine „elementare Ana­ lyse“ besteht in der „Zerlegung einer Erscheinung in ihre Theilerscheinungen“, eine „causale Analyse“ in der „Zerlegung einer Erscheinung in ihre Bestand­ theile mit Rücksicht auf die ursächlichen Beziehungen der letzteren“.14 Die kausale Analyse zielt auf „ein willkürliches Isoliren einzelner Elemente aus den zu untersuchenden complexen Thatsachen“, um „die causalen Beziehungen der isolirt betrachteten Elemente kennen zu lernen“.15 Sie „verändert“ ihren Gegenstand, denn sie „vernachlässigt […] die Existenz gewisser Bestand­ theile“ und versucht bei den anderen „so viel als möglich die Bedingungen ihrer Coexistenz oder Aufeinanderfolge zu verändern“: „Zu der Isolation gesellt sich auf diese Weise die Variation der Elemente als das wesentlichste Hülfsmittel.“16 Die „analytische Methode“ führt damit automatisch zur „iso­ lirenden Abstraction“, die eben darin besteht, daß man aus einer „complexen Erscheinung einen bestimmten Bestandtheil oder mehrere Bestandtheile willkürlich abgetrennt denkt und für sich der Beobachtung unterzieht“.17 Neben der isolirenden gibt es die „generalisierende Abstraction“, die darin besteht, daß man hinsichtlich einer „Anzahl“ von „complexen Thatsachen“ die „von einem individuellen Fall zum anderen wechselnden Eigenschaften vernachlässigt, um gewisse der gesammten Gruppe gemeinsam zugehörige zurücknung seiner Methode als „abstrakt-deduktiv“ – im Unterschied zu Schmollers „historisch-induktiv[er]“ Methode“ – nicht einverstanden gewesen. Vgl. Hasbach, Wilhelm, Zur Geschichte des Methodenstreits in der politischen Ökonomie, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 19. Jg., 1895, S.  8 3–108, hier S.  8 3, 87. Auch Weber hat diese Bezeichnungen benutzt. Vgl. Brief von Max Weber an die Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg vom 26. Mai 1903, MWG II/4, S.  67. 11  Menger, Untersuchungen, S.  52. Vgl. sinngemäß bereits Menger, Carl, Grundsätze der Volkswirthschaftslehre. Erster, allgemeiner Theil. – Wien: Wilhelm Braumüller 1871 (hinfort: Menger, Grundsätze), S. VII. 12  Vgl. Menger, Carl, Grundzüge einer Klassifikation der Wirtschaftswissenschaften. Sonderdruck aus den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik, hg. von Johannes Conrad, N. F. Band XIX. – Jena: Gustav Fischer 1889, S.  11 f. 13  Wundt, Wilhelm, Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, Band II: Methodenlehre. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1883 (hinfort: Wundt, Logik II1), S.  10 f. 14  Ebd., S.  2 f. 15  Ebd., S.  4. 16 Ebd. 17  Ebd., S.  11.

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zubehalten“, wodurch „Gattungsbegriffe“, „abstracte Regeln oder Gesetze“ entstehen.18 Was nun die „Synthese“ betrifft, so gibt es eine „reproductive“, die in einer „einfachen Umkehrung einer vorausgegangenen Analyse“ besteht und „im Interesse einer nochmaligen Prüfung der analytischen Resultate“ durchgeführt wird, sowie eine „productive“, die „nur gewisse Resultate vorangegangener analytischer Untersuchungen“ berücksichtigt und zu „Ergebnissen“ führt, welche die Analyse „ergänzen“.19 Mit der präzisierenden Bezeichnung seiner „Methode“ als „analytisch-syn­ thetisch“ und „analytisch-compositiv“ machte Menger deutlich, daß er sich in eine Tradition stellte, die in der späten Renaissance ihren Anfang genommen hatte und das wissenschaftliche und philosophische Denken der Moderne nachhaltig prägen sollte. Mitte des 16. Jahrhunderts hatte Jacopo Zabarella, einer der wichtigsten Repräsentanten einer in Padua ansässigen Schule von Aristotelikern, in seinen Abhandlungen „De methodis“ und „De regressu“ auf Basis des Syllogismus eine Methode kausaler Erklärung entwickelt, in der er Analyse (resolutio) und Synthese (compositio) miteinander kombinierte.20 Diese Methode beeinflußte Galileo Galilei,21 der sie mathematisch ausarbeitete und zur Grundlage der neuzeitlichen Physik machte. Sie beeinflußte Philosophen wie René Descartes22 und Thomas Hobbes23 und fand ebenso Eingang in die Geisteswissenschaften24 wie in die klassische Nationalökonomie,25 in der man sich seit Ricardo an der Physik orientierte. Weber sollte diese analytisch-synthetische Methode übernehmen, was er später selbst zum Ausdruck brachte: „Schon der erste Schritt zum historischen Urteil ist also – darauf liegt hier der Nachdruck – ein Abstraktionsprozeß, der durch Analyse und gedankliche Isolierung der Bestandteile des 18 Ebd. 19  Ebd., S.  7 f. 20  Die erste Ausgabe von Zabarellas Werken erschien 1578. Vgl. Zabarellae Patavini, Jacobi, Opera logica. – Venezia: Paulus Meietus 1578. Populär wurde Zabarellae Patavini, Jacobi, Opera logica. – Coloniae: Lazari Zetzneri 1597, Sp.  133–334 (De methodis), 479–498 (De regressu). 21  Vgl. Galilei, Galileo, Tractatio de praecognitionibus et praecognitis. Tractatio de demonstratione. Translated from the Latin Autograph by William F. Edwards. With an Introduction, Notes, and Commentary by William A. Wallace. – Padova: Editrice Antenova 1988. 22  Vgl. Descartes, René [anonym], Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, & chercher la vérité dans les sciences. – Leyde: Ian Maire 1637. 23 Vgl. Hobbes, Thoma[s], Elementorum Philosophiae sectio prima de corpore. – Londini: B. Pauli 1655. 24  Vgl. Ast, Friedrich, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik. – Landshut: Jos. Thomann 1808. 25  Zu „On Syllogism” und „On Method, Analysis, and Synthesis“ vgl. Jevons, Stanley, Elementary Lessons in Logic. Deductive and Inductive. – London: Macmillan 1872, S.  126 ff., 201 ff.

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unmittelbar Gegebenen, – welches eben als ein Komplex möglicher ursächlicher Beziehungen angesehen wird, – verläuft und in eine Synthese des ‚wirklichen‘ ursächlichen Zusammenhanges ausmünden soll.“26 In einer Weise, die an Zabarella erinnert, dessen Werk ja keineswegs vergessen war,27 sprach Weber diesbezüglich auch von einem „kausale[n] Regressus“ und „kausale[n] Progressus“,28 was er mit einer entsprechenden Kausalitätstheorie konkretisieren wollte. Dabei entschied er sich für eine Theorie seines ehemaligen Freiburger Kollegen, des Physiologen Johannes von Kries,29 denn Rickert hatte ja keine vollständige Theorie historischer Kausalität formuliert, was auch sofort kritisiert worden war.30 Tatsächlich kamen Rickerts Andeutungen zur Kausalungleichung, denen zufolge für den Historiker historisch wesentliche Wirkungen aus historisch unwesentlichen Ursachen entstehen können, nicht über die Naturwissenschaften hinaus, wo man solche Prozesse, bei denen „zwischen Ursache und Wirkung gar keine quantitative Beziehung besteht, vielmehr in der Regel die Ursache der Wirkung gegenüber eine verschwindend kleine Grösse zu nennen ist“, als „Auslösungen“ bezeichnete,

26  Weber, Kritische Studien, unten, S.  4 60. 27  Vgl. Nicolai, Friedrich, Bemerkungen über den logischen Regressus, nach dem Begriffe der alten Kommentatoren des Aristoteles, in: Sammlung der deutschen Abhandlungen, welche in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vorgelesen worden in dem Jahre 1803. – Berlin: Georg Decker 1806, S.  163–180. 28  In Webers Beiträgen in diesem Band findet sich der Begriff „kausale[r] Regressus“ 33 mal, der Begriff „kausale[r] Progressus“ dreimal. Vgl. z. B. Weber, Objektivität, unten, S.  164; Weber, Kritische Studien, unten, S.  411, 465 und 478; Weber, Stammler, unten, S.  551. 29  Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  186 mit Anm.  41, 42. Diese Theorie wird auch in der Korrespondenz mit Rickert erwähnt. Vgl. Brief von Max Weber an Heinrich Rickert vom 14. Juni 1904, MWG II/4, S.  2 30 f., hier S.  2 31. Zur persönlichen Bekanntschaft Webers mit Kries vgl. Brief von Max Weber an Marianne Weber vom 8. Okt. 1895, MWG II/3, S.  154, und Weber, Marianne, Lebensbild, S.  217. 30 Vgl. Troeltsch, Ernst, Moderne Geschichtsphilosophie, in: Theologische Rundschau, 6. Jg., 1903, S.  3 –28, 57–72, 103–117, hier S.  110: „Meines Erachtens erfordert das Buch [Rickert, Grenzen] ein weiteres spezielles Werk über den Kausalitätsbegriff, wenn es wirklich überzeugend und durchdringend wirken soll. Denn es wird sehr vielen gehen wie mir, dass sie an diesem Punkte – und es ist doch ein Hauptpunkt – die Rickertschen Andeutungen nicht ganz verstehen und durchschauen.“ Daß Weber in Troeltsch wie in den anderen „Kritiker[n] der R[ickert]’schen Theorie“ einen „Kon­ fusionarius“ gesehen hätte, ist unwahrscheinlich. Vgl. Brief von Max Weber an Franz Eulenburg vom 8. Sept. 1905, MWG II/4, S.  522 f., hier S.  523. Auch 1905, nach der Publikation von Rickerts Abhandlung „Geschichtsphilosophie“, war Weber mit dessen Ausführungen zur „Causalität“ und „historischen Zurechnung“ unzufrieden. Vgl. Brief von Max Weber an Heinrich Rickert vom 2. April 1905, ebd., S.  4 45–448, hier S.  4 45 f. Kurz darauf fragte er an, ob Rickert im „Archiv“ seine „Causalitätsauffassung (das ‚individuelle Band‘) näher entwickeln“ wolle, was Rickert unterließ. Vgl. Brief von Max Weber an Heinrich Rickert vom 28. April 1905, ebd., S.  476–479, hier S.  479.

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wie etwa bei einem „Funken“, der „Knallgas“ zur Explosion bringt.31 Bezeichnenderweise hatte Windelband seine Vorstellung zweier Arten von Ursachen am Beispiel eines „Funke[ns]“ erläutert, der eine „Explosion“ mitverursacht.32 Kries, der u. a. mit Helmholtz gearbeitet hatte, bekleidete seit 1883 eine ordentliche Professur für Physiologie an der Universität Freiburg, wo er u. a. Forschungen über Farbwahrnehmung, Druckverhältnisse von Flüssigkeiten und Psychophysik durchführte.33 Probleme bei der Messung mentaler Zustände brachten ihn mit der Wahrscheinlichkeitstheorie in Kontakt. 1886 publizierte er seine Monographie „Principien der Wahrscheinlichkeits-Rechnung“, 1888 folgte seine Abhandlung „Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben“. Auf beide Studien referierte Weber. Kries war dem mechanistisch-deterministischen Weltbild verhaftet und postulierte daher, „dass jedes Ereigniss, welches thatsächlich eintritt, durch die Gesammtheit der zuvor bestehenden Verhältnisse mit Nothwendigkeit her­ beigeführt ist“.34 Laplace entsprechend, war für ihn die Erklärung oder Voraussage eines Ereignisses bzw. „Erfolgs“ eine Aufgabe, an der „zwei wesentlich verschiedene Teile“ unterschieden werden müssen: Zum einen sind „die Gesetze zu ermitteln, nach welchen die einzelnen Dinge ihre Zustände wechseln“; zum anderen müssen wir „einen Ausgangspunkt angeben, von welchem aus wir uns die Veränderungen in einer durch jene Gesetze bestimmten Weise ablaufend denken“.35 So lehrt uns die Kenntnis des „Gravitations-Gesetzes […] noch nichts über die wirklich Statt findende Bewegung der Planeten“; um sie zu verwerten, „müssen wir noch wissen, welche Massen existiren und in welchem Zustande der räumlichen Verteilung und der Bewegung sie sich irgend wann befunden haben“.36 Kries bezeichnete „diese bei-

31  Vgl. Mayer, Julius Robert, Die Toricellische Leere und über Auslösung. – Stuttgart: J. G. Cotta 1876 (hinfort: Mayer, Auslösung), S.  9 f. Zum Begriff „Auslösung“ vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  191 mit Anm.  61; Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  265 mit Anm.  90. 32  Windelband, Geschichte, S.  24 f. 33  Zu Leben und Werk vgl. Kries, Johannes von, Johannes von Kries, in: Grote, L. R. (Hg.), Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen. – Leipzig: Felix Meiner 1925, S.  125–187. 34  Kries, Möglichkeit, S.  4 [180]. Von dieser Publikation benutzte Weber einen Separatdruck, der mit dem Abdruck in der Zeitschrift text-, aber nicht seitenidentisch ist. Die Seiten werden daher durchweg doppelt nachgewiesen: der Separatdruck an erster Stelle, die Zeitschrift an zweiter Stelle in eckigen Klammern. 35  Kries, Principien, S.  8 5. 36  Ebd., S.  8 5 f.

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den Arten von Bestimmungen“ als „nomologisch“ und „ontologisch“.37 Sie entsprechen Windelbands Vorstellung zweier Arten von Ursachen.38 Kries folgte Laplace auch in der Einschätzung der Kapazität des menschlichen Geistes. Laplace hatte sich eine „Intelligenz“ vorgestellt, die alle Gesetze und alle Bedingungen in Erfahrung bringen kann. Für diese als Laplacescher Dämon bezeichnete Intelligenz würde nichts „ungewiss“ sein und „Zukunft wie Vergangenheit“ würden ihr „offen vor Augen liegen“.39 Von dieser Intelligenz sei der „menschliche Geist“ ein „schwaches Bild“, denn wie seine Entdeckung der „allgemeinen Schwere“ zeige, sei er zwar in der Lage, in Kenntnis der Gesetze zu gelangen; eine vollständige Kenntnis der Bedingungen bleibe ihm jedoch versagt.40 Wegen seiner mangelhaften Kapazität, zu einem Anfangszeitpunkt die gegenseitige Lage der Wesen, welche die Natur zusammensetzen, genau festzustellen, muß er sich mit „Wahrscheinlichkeit“ begnügen,41 die insofern Ausdruck dieses Informationsdefizits hinsichtlich der Bedingungen ist.42 Entsprechend stand für Kries fest, daß wir Menschen „Gesetze“ durchaus erkennen können,43 jedoch gelangen wir „nie (weder ex ante noch ex post) zu einer so genauen Kenntniss der Bedingungen, dass ein bestimmter Erfolg an dieselben nothwendig geknüpft erschiene; wir sind vielmehr stets auf die Einsicht beschränkt, dass die Bedingungen (so weit wir sie kennen) für einen Erfolg eine gewisse mehr oder weniger grosse Möglichkeit constituiren“.44 Wenn nun der menschliche Geist aus seiner Not eine Tugend macht und gar nicht erst versucht, die Bedingungen näher zu bestimmen, sondern sie im Vagen beläßt, dann ist es für Kries gerechtfertigt, von „objectiven oder physischen Möglichkeit[en]“ zu sprechen,45 wobei jeder Möglichkeit eine Wahrscheinlichkeit entspricht, mit der ihre Verwirklichung erwartet werden kann. Solche nur „allgemein, generell bezeichneten Bedingungen“ konstituieren für Kries einen „Spielraum“ möglichen Verhaltens, den man in „zwei Theile“ einteilen kann, nämlich einerseits in Bedingungen, die das „Eintreten“, und 37  Ebd., S.  86. 38  Vgl. Windelband, Geschichte, S.  24. Kries, Möglichkeit, S.  6 [182], orientierte sich ebenfalls am logischen Schema des Syllogismus: „Die hier von mir gegebene Darstellung der Möglichkeit geht davon aus, dass die Naturgesetze eine gesetzmässige Verknüpfung von Bedingung und Folge besagen, als möglich somit das Eintreten einer Folge unter gewissen Bedingungen, ein nach antecedens und consequens charakterisirtes Geschehen zu bezeichnen ist.“ 39  Laplace, Wahrscheinlichkeiten (wie oben, S.  2, Anm.  8), S.  4. 40 Ebd. 41  Ebd., S.  6. 42  Das erklärt, warum sich das Credo des Determinismus in einer Publikation über Wahrscheinlichkeitstheorie befindet. 43  Vgl. Kries, Principien, S.  8 6 f., 172. 44  Kries, Möglichkeit, S.  10 [186]. 45  Kries, Principien, S.  87.

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andererseits in Bedingungen, die das „Ausbleiben“ eines „Erfolges“ „bewirken würden“.46 „Unter Umständen“ sind „diese Theile ihrer Grösse nach unter einander vergleichbar“, so daß „die Beziehung des Erfolges zu den allgemeinen Bedingungen“ als eine „abstufbare und auch zahlenmässig zu bezeichnende“ erscheint, „je nachdem die Verwirklichung des Erfolges einem kleineren oder grösseren Theile des gesammten Spielraums entspricht“.47 Kries illustrierte dies an „Zufalls-Spiele[n]“.48 So gibt es beim „Würfel-Spiel“ für den menschlichen Geist „6 Möglichkeiten des Erfolges“,49 während der Laplacesche Dämon nur eine davon als Notwendigkeit kennt. Diese „6 Möglichkeiten“ ergeben sich aus den variablen Bedingungen wie den „Modi der Bewegungen“ und aus den konstanten Bedingungen wie der „geometrische[n] und physische[n] Regelmässigkeit des Würfels“, wobei die konstanten Bedingungen es mit sich bringen, „dass einem bestimmten zusammenhängenden Complex von Bewegungs-Möglichkeiten, welcher etwa den Wurf 6 ergäbe, immer andere, in jeder Beziehung nur ganz wenig verschiedene und von sehr nahe gleichem Umfange sich an die Seite stellen lassen, welche die Würfe 1, 2, 3, 4, 5 bewirkten“.50 Der ganze „Spielraum“ läßt sich also insofern in zwei Teile einteilen, als man sechs Komplexe von Bedingungen zerlegen kann in einen Komplex, der das Eintreten, und fünf Komplexe, die das Ausbleiben des Erfolges bewirken würden, und weil diese sechs Komplexe nahezu gleich sind, ergibt sich eine „Gleichheit der Wahrscheinlichkeit für jeden der Würfe 1–6“, die sich numerisch als 1/6 ausdrücken läßt.51 Den „Wahrscheinlichkeits-Angaben“, wie man sie von Zufallsspielen her kennt, bescheinigte Kries „Allgemeingiltigkeit“, denn „sie gelten für alle Fälle […] und sie gelten für Jeden, der über den Verlauf eines derartigen Falles eine Erwartung zu bilden wünscht“.52 Die „allgemeingiltige Wahrscheinlichkeit“ ist dadurch charakterisiert, dass „wir das Verhalten der Bedingungen im Einzelfalle nicht genau kennen“, dass „wir aber andererseits sicher wissen, in welchem Grössenverhältnis […] die Spielräume der Gestaltungen stehen, welche die Verwirklichung des einen oder anderen Erfolges mit sich bringen“.53 Bei Zufallsspielen ist es in der Tat „derselbe Zahlenwerth“, der „die allgemeingiltige Wahrscheinlichkeit und die Möglichkeit eines Ereignisses angiebt“,54 so z. B. der Wert 1/6 beim Wurf eines Würfels, der Wert 1/36 beim Wurf zweier Würfel, usw. 46  Kries, Möglichkeit, S.  5 [181], 7 [183]. 47  Ebd., S.  7 f. [183]. 48  Kries, Principien, S.  4 8 ff., und Kries, Möglichkeit, S. [185]. 49  Kries, Principien, S.  5 4 f. 50  Ebd., S.  55. 51 Ebd. 52  Ebd., S.  9 5; vgl. Kries, Möglichkeit, S.  12 ff. [188 ff.] 53  Kries, Möglichkeit, S.  13 [189]. 54 Ebd.

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Für Kries waren Zufallsspiele nicht nur das „Haupt-Gebiet der Wahrscheinlichkeits-Rechnung“, sondern auch „ideale Fälle“, mit deren Hilfe sich andere Bereiche der Wirklichkeit begreifen lassen.55 So wollte er klären, „ob irgend welche andere[n] Gebiete etwas Aehnliches zeigen“, ob sie sich „einem gewöhnlichen Zufalls-Spiele analog verhalte[n]“.56 Ein solches Gebiet lag in der Physik, wo das Verhalten von Gasmolekülen in einem begrenzten Raum aufgrund einer ähnlichen „Beschränktheit der überhaupt möglichen Orientirungen“ ebenfalls „nur einen ganz bestimmten Kreis von Zuständen“ durchlaufen und dadurch „eine grosse Mannigfaltigkeit von Einwirkungen immer nur die Wiederholung dieser selben Verhaltensweisen bedingen kann“.57 Durch eine Modifikation schien Kries die Analogie auch auf ein Gebiet in der Juris­ prudenz übertragbar,58 wo es, um die Schuldfrage zu klären, darum geht, einer Straftat kausal relevante Bedingungen zuzurechnen. Um diese Zurechnung vornehmen zu können, ging Kries von einem Würfel mit einem „excentrische[n]“ Schwerpunkt aus, wodurch sich für den Wurf einer bestimmten Zahl eine „Begünstigung“ oder „Tendenz“ ergibt.59 Die Übertragung in diesen Bereich sollte für Weber maßgebend werden. Kries zufolge konnte „nur der ganze Complex von Bedingungen, der einen Erfolg factisch herbeiführte, die Ursache desselben heissen“.60 Gleichwohl richtet sich in diesem Komplex „häufig die Aufmerksamkeit auf irgend eine Besonderheit der Antecedentien, einen einzelnen Vorgang, einen bestimmten Gegenstand, auch wohl eine bestimmte Eigenschaft eines solchen, und es erhebt sich die Frage, ob und in welchem ursächlichen Zusammenhange ein solches bestimmtes Moment der bedingenden Umstände zu dem Erfolge gestanden habe“.61 Die Frage, ob ein solches – mit Wundt zu sprechen – durch isolierende Abstraktion selektiertes Moment in einem ursächlichen Zusammenhang zum Erfolg gestanden habe, kann nicht durch Beobachtung beantwortet werden, sondern nur mit „einer gewissen Kenntniss der Gesetze des Geschehens“, die uns beurteilen läßt, wie das Geschehen „bei Fehlen“ oder „Modification“ des Moments verlaufen wäre: „Die Frage nach der Causalität eines bestimmten Gegenstandes ist […] gleichbedeutend mit der, was geschehen wäre, wenn in dem Complexe der Bedingungen jenes Reale (ein bestimmter Theil)

55  Kries, Principien, S.  37, 82. 56  Ebd., S.  73, 140; vgl. S.  24, 47. 57  Ebd., S.  2 62; vgl. S.  135 ff., 192 ff. 58 Vgl. auch Kries, Johannes von, Über die Begriffe der Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit und ihre Bedeutung im Strafrechte, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 9. Jg., 1889, S.  528–537. 59  Kries, Principien, S.  91 ff.; Kries, Möglichkeit, S.  27 [202]. 60  Kries, Möglichkeit, S.  2 0 [195]. 61  Ebd., S.  21 f. [197].

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gefehlt, alles Uebrige aber sich genau gleich verhalten hätte.“62 Ähnliches gilt für ein „Verhalten“: Zwar kann man z. B. „Fahrlässigkeit“ nicht „einfach fortdenken“; man kann dieses Moment jedoch durch eine „Modification“ „abgeän­ dert“ denken: „Indem wir nach der Causalität der Fahrlässigkeit fragen, wünschen wir den factisch eingetretenen Verlauf zu vergleichen mit demjenigen, der stattgefunden hätte, wenn an Stelle der Fahrlässigkeit normale Ueberlegung und Aufmerksamkeit bestanden hätte.“63 Die Frage, in welchem ursächlichen Zusammenhang ein solches Moment zum Erfolg gestanden habe, kann ebenfalls nur mit nomologischer Kenntnis beantwortet werden, die uns beurteilen läßt, ob es sich bei diesem Moment um eine „Eigenthümlichkeit des vorliegenden Falles“ handelt oder ob es „allgemein geeignet“ ist, mithin „eine Tendenz besitzt, einen Erfolg solcher Art hervorzubringen“, d. h. dessen „Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit“ steigert.64 Im ersten Fall sprach Kries von „zufälliger Verursachung und zufälligem Effecte“, im zweiten Fall von „adäquate[r] Ursache“ und „adäquate[r] Folge“.65 Wenn z. B. der Fahrgast eines „Kutscher[s]“, der betrunken fährt und den Weg verfehlt, vom Blitz erschlagen wird, dann ist die „Fahrlässigkeit“ des Kutschers nur eine zufällige Verursachung, denn der Fahrgast hätte auch bei Nüchternheit des Kutschers und auf dem richtigen Weg denselben Tod erleiden können; wenn aber der betrunkene Kutscher seine Kutsche umwirft und sein Fahrgast daran stirbt, dann ist die „Fahrlässigkeit“ eine adäquate Verursachung, denn nun ist sie „allgemein geeignet“, einen Unfall mit Todesfolge herbeizuführen.66 Für Kries läßt sich häufig behaupten, „dass ein gewisses ursächliches Moment die Möglichkeit eines Erfolges vermehre“, eine Betrachtung, für die die Wahrscheinlichkeitstheorie „den terminus technicus des begünstigenden Umstandes“ bereit halte: „Man sagt z. B., dass eine excentrische Lage des Schwerpunkts im Würfeln gewisse Würfe begünstige u. dgl. Nichts Anderes ist es, was den Ausdrücken des gewöhnlichen Lebens, dass ein Verhalten auf einen Erfolg hinwirke, ihn herbeizuführen geeignet sei oder eine Tendenz besitze, als berechtigter Sinn zu Grunde liegt.“67 In diesem Sinne ist die als adäquate Verursachung festgestellte Fahrlässigkeit ein begünstigender Umstand. Somit wird also auch die Zurechnung kausal relevanter Bedingungen von Straftaten in Analogie zu Zufallsspielen expliziert, wobei sowohl die isolierende Abstraktion (Selektion eines besonderen Moments der Bedingungen) als auch die generalisierende Abstraktion (nomologische Kenntnis) 62  Ebd., S.  2 2 f. [198 f.]. 63  Ebd., S.  2 3 [198 f.]. 64  Ebd., S.  25 f. [201]. 65  Ebd., S.  27 [202]. 66  Ebd., S.  25 ff. [201 f.]. 67  Ebd., S.  2 6 f. [202].

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und bei der Betrachtung mehrerer Momente auch die Synthese zur Anwendung gelangen. Tatsächlich wurde Kries’ Theorie in der Physik68 und in der Jurisprudenz69 rezipiert. Daß sie auch für die „Geschichtschreibung“ attraktiv sein könnte, hat Kries selbst angemerkt.70 Weber führte sie denn auch in seiner Abhandlung „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ zur Ergänzung der analytisch-synthetischen Methode Mengers ein und sollte in seinen folgenden Schriften zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften auf sie zurückkommen.71 Daß weder Menger noch Kries eine Mathematisierung ihrer Ansätze anstrebten,72 mag dazu geführt haben, daß Weber sie mit einer Begriffsbildung in Verbindung brachte, die er als „Idealtypus“ bezeichnete.73 Der Idealtypus geht auf die Säkularisierung der metaphysischen Ideenlehren der Antike in der Ästhetik der Renaissance zurück. Nunmehr war die Idee des Schönen kein übernatürliches a priori mehr, das im Geiste des Künstlers wohnt, sondern wurde von ihm selbst a posteriori hervorgebracht, und zwar durch ein „inneres Zusammenschauen der Einzelfälle“, aus denen er eine „Auswahl des Schönsten“ trifft.74 Damit verbunden war die Vorstellung, daß die vom Künstler in seiner Anschauung der Natur gewonnene Idee „die eigentlichen Absichten der ‚gesetzmäßig schaffenden‘ Natur offenbare“, daß also Subjekt und Objekt, Geist und Natur, nicht feindlich gegenüberstehen, sondern die Idee der Erfahrung „notwendig entspreche“.75 Dies führte dazu, daß „die Welt der Ideen mit einer Welt gesteigerter Wirklichkeiten identifiziert“ und der „Begriff der Idee zu dem des ‚Ideals’“ umgeformt wurden: „Damit ist die Idee ihres metaphysischen Adels entkleidet, aber eben dadurch mit der Natur in eine schöne, gleichsam selbstverständliche Über68  Vgl. Boltzmann, Ludwig, Der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie. Vortrag, gehalten in der feierlichen Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 29. Mai 1886, in: ders., Populäre Schriften. – Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1905, S.  25–50, hier S.  37; Planck, Max, Über das Gesetz der Energieverteilung im Normalspectrum, in: Annalen der Physik, 4. Jg., 1901, S.  5 53–563, hier S.  5 58. 69  Vgl. Weber, Kritische Studien, unten, S.  4 51 f. 70  Kries, Möglichkeit, S.  15 [191]. 71  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  278 f.; Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  3 37–340, 343, 353, 360, 367; Weber, Kritische Studien, unten, S.  3 89, 451 ff.; Weber, Stammler, unten, S.  5 32, 549. 72  Zu Menger vgl. explizit Menger, Brief an Walras (wie oben, S.  15, Anm.  10), S.  3 ff. 73  Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  2 03 mit Anm.  4; Weber, Roscher und Knies 2, S.  322. Dieses Konzept wird auch in der Korrespondenz mit Rickert erwähnt. Vgl. Briefe von Max Weber an Heinrich Rickert vom 14. Juni 1904, MWG II/4, S.  2 30 f., hier S.  2 30, und vom 28. April 1905, ebd., S.  476–479, hier S.  477 f. 74  Panofsky, Erwin, „IDEA“. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunst­theo­ rie. – Leipzig: B. G. Teubner 1924, S.  3 5. 75 Ebd.

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einstimmung gebracht: vom menschlichen Geiste erzeugt, aber zugleich – sehr weit entfernt von Subjektivität und Willkürlichkeit – die in den Dingen vorgebildete Gesetzlichkeit zum Ausdruck bringend […] auf dem Wege intuitiver Synthesis“.76 Über den Klassizismus vermittelt,77 wurde dieses Konzept im 19. Jahrhundert breit rezipiert,78 selbst in den Naturwissenschaften. So war es für Helmholtz, der 1871 bis 1873 in seiner Vortragsreihe „Optisches über Malerei“ die Ergebnisse seiner wahrnehmungsphysiologischen Studien auf die Kunst übertrug, selbstverständlich, daß Künstler keine „getreue Copie roher Natur“ herstellen, sondern „Störendes, Zerstreuendes, Verletzendes“ nicht berücksichtigen, d. h. vom „wilden Gestrüpp des Zufalls“ abstrahieren, um durch diese „Idealisirung“ zu einem „idealen Typus“ zu gelangen, der nicht nur ein „wunderbare[s] Wohlgefallen“ errege, sondern auch eine „bisher verborgene Gesetzmässigkeit zur vollen Anschauung“ bringe.79 In der Geschichtswissenschaft, in der man ohnehin eine Affinität zur Literatur pflegte,80 war das Konzept spätestens seit der 1837 publizierten „Historik“ von Georg Gottfried Gervinus bekannt: „So nämlich, wie der Künstler auf eine Urform des Körpers, der Dichter auf den idealen Typus eines Charakters zurückgeht, so soll der Historiker die reine Gestalt des Geschehenen erkennen lernen, um aus

76  Ebd., S.  36. 77  Ebd., S.  57 ff. 78 Vgl. ohne Anspruch auf Vollständigkeit in chronologischer Reihenfolge: Burckhardt, Jacob, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. – Basel: Schweighauser 1855 (hinfort: Burckhardt, Cicerone), S.  510; Gregorovius, Ferdinand, Der Kaiser Hadrian. Gemälde der römisch-hellenischen Welt zu seiner Zeit, 2.  Aufl. – Stuttgart: J. G. Cotta 1884, S.  4 41; Nordau, Max, Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit, 14.  Aufl. – Leipzig: B. Elischer Nachfolger (Br. Winckler) 1889, S.  127 f.; Sigwart, Logik II (wie oben, S.  5, Anm.  31), S.  241; Riegl, Alois, Die Entstehung der Barockkunst in Rom. Akademische Vorlesungen [1894–1902], hg. von Ar­ thur Burda und Max Dvorak. – Wien: Anton Schroll 1908, S.  111; Kessler, Harry Graf, Notizen über Mexiko. – Berlin: F. Fontane 1898, S.  173 f.; Key, Ellen, Ein Abend auf dem Jagdschloss, in: dies., Essays. Autorisierte Übertragung von Francis Maro. – Berlin: S. Fischer 1899, S.  2 06–344, hier S.  252; Cohn, Jonas, Allgemeine Ästhetik. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1901, S.  175 f.; Weininger, Otto, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, 10.  Aufl. – Wien: Wilhelm Braumüller 1908 [1903], S.  9, 12. 79  Helmholtz, Hermann von, Optisches über Malerei. Umarbeitung von Vorträgen, gehalten zu Berlin, Düsseldorf und Köln a. Rh. 1871–1873, in: ders., Vorträge und Reden, Band 2, 5.  Aufl. – Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1903 (hinfort: Helmholtz, Malerei), S.  9 3–135, hier S.  97 f., 134 f. 80  Noch Windelband, Geschichte, S.  16 f., war der Meinung, der „Historiker“ habe „an Demjenigen was wirklich war, eine ähnliche Aufgabe zu erfüllen, wie der Künstler an Demjenigen was in seiner Phantasie ist“; darin „wurzelt die Verwandtschaft des historischen Schaffens mit dem ästhetischen, und die der historischen Disciplinen mit den belles lettres“.

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den anhängenden Zufälligkeiten das wahrhaft Wichtige kühn und sicher herauszuheben.“81 Weber, für den „der Historiker“ mit „Begriffen arbeitet und arbeiten muß, welche regelmäßig nur in Idealtypen scharf und eindeutig bestimmbar sind“,82 führte dieses Konzept in seiner Abhandlung „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ ein, und ebenso wie auf die Theo­rie von Kries sollte er in seinen folgenden Schriften zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften darauf zurückkommen.83 Zunächst hielten ihn jedoch andere Themen wie die „protestantische Ethik“84 und seine Reise in die USA 85 davon ab, den „Rest“ seiner Abhandlung über „Roscher und Knies“ zu schreiben. Erst im März 1905, in dem er auch als Mitherausgeber des „Archivs“ einige „Redaktionelle Bemerkungen“ zum Aufsatz „Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie“ von Gustav Cohn, einem Vertreter der ethischen Nationalökonomie, publizierte,86 kam er wieder dazu, sich mit Methodologie zu beschäftigen.87 So konnte die Fortsetzung von „Roscher und Knies“ in zwei Teilen Ende 1905 und Anfang 1906 mit dem Untertitel „Knies und das Irrationalitätsproblem“ in Schmollers „Jahrbuch“ erscheinen.88 Darin ging es Weber nunmehr in der Tat um menschliches Verhalten, genauer um „Handlungen“, die vom Determinismus ja keineswegs ausgenommen waren: „Der freieste Wille kann sie nicht ohne ein bestimmendes Motiv hervorbringen“.89 Handlungen, selbst die großer Persönlichkeiten, waren für Weber nicht irrationaler als Vorgänge in der Natur, sondern im Gegenteil rationaler, weil sie deutbar bzw. verstehbar sind. Weil er bei Rickert auch keine Theorie der Deutung oder des Verstehens finden konnte, setzte er sich, sein Leitmotiv der Kausalität stets einbindend, mit den einschlägigen Theorien von Georg Simmel, Friedrich Gottl, Theodor Lipps und Benedetto Croce sowie ergänzend mit den kulturwissenschaftlichen Vorstellungen von Wilhelm Wundt und Hugo Münsterberg auseinander. Darüber trat der eigentliche Anlaß dieser Abhandlung – das Werk seines Heidelberger Vorgängers Knies – etwas in den Hintergrund. Möglicherweise 81  Gervinus, Historik, S.  3 82. 82  Weber, Objektivität, unten, S.  2 06. 83  Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  3 03, 322; Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  3 41, 343, 358 ff., 373; Weber, Kritische Studien, unten, S.  3 85, 399, 420; Weber, Stammler, unten, S.  5 38, 545, 553. 84  Vgl. Schluchter, Wolfgang, Einleitung, in: MWG I/9, S.  1–89. 85  Vgl. Hübinger und Lepsius, Einleitung, in: MWG II/4, S.  1–25, hier S.  7 ff. 86  Vgl. Weber, Cohn, unten, S.  2 35–239. 87  Vgl. Brief von Max Weber an Alfred Weber vom 8. März 1905, MWG II/4, S.  4 35 f., hier S.  436. 88 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.   240–327; Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  328–379. 89  Laplace, Wahrscheinlichkeiten (wie oben, S.  2, Anm.  8), S.  3.

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wollte Weber in einem weiteren Artikel noch einmal auf Knies zu sprechen kommen. Jedenfalls endete seine Abhandlung mit dem Hinweis: „Ein weiterer Artikel folgt.“90 1905 verfaßte Weber auch „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“, die ebenfalls Anfang 1906, nunmehr aber im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, erschienen, und zwar im Literatur-Teil dieser Zeitschrift.91 Weber nahm das 1902 publizierte Buch „Zur Theo­ rie und Methodik der Geschichte“ des Althistorikers Eduard Meyer, Ordinarius an der Universität Berlin und Verfasser einer fünfbändigen Geschichte des Altertums, zum Anlaß, sich nunmehr einmal systematisch mit kausaler Erklärung zu befassen. Dabei stellte er nicht nur die für die Geschichtswissenschaft bedeutsamen Aspekte von Kries’ Theorie vor, sondern verknüpfte sie auch mit der analytisch-synthetischen Methode, die er bei Menger vorgefunden hatte. Auch hierzu sollte ein „weiterer Aufsatz“ folgen.92 Ein solcher Aufsatz ist allerdings ebensowenig erschienen wie jener Artikel, der die Kritik an „Roscher und Knies“ abrunden sollte. Was die „Kritischen Studien“ betrifft, dürfte es dafür zwei Ursachen gegeben haben. Erstens war Webers Aufmerksamkeit durch die Russische Revolution gefesselt, der er sich publizistisch ausführlich widmete.93 Zweitens gab es offenbar konstante „Klagen“ des Leserkreises wegen „des ‚unpraktischen‘ Charakters“ des „Archivs“, die Weber „zu einem längeren Pausieren in [s]einen eignen methodologischen Arbeiten“ bewogen.94 Als 1906 die zweite Auflage des Buches „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung“ des Rechtsphilosophen Rudolf Stammler, Ordinarius an der Universität Halle an der Saale, erschien, ließ es sich Weber jedoch nicht nehmen, dazu einen „Litteratur-Aufsatz“ zu verfassen, in dem er das Verhältnis von Kausalität und Teleologie, das er bei Stammler verfälscht sah, erörterte und grundlegende Unterscheidungen zu den Begriffen Regel, Norm, Gesetz, Maxime, etc. traf, um einen für die Sozialwissenschaften angemessenen Gesetzesbegriff zu formulieren. Dieser Text mit dem Titel „R. Stammlers ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ erschien 1907 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, allerdings nicht im Literatur-Teil, sondern in der Rubrik „Abhandlungen“.95 Auch er endete mit dem Hinweis „Ein weiterer Artikel folgt.“96 Tatsächlich hat 90  Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  379. 91  Weber, Kritische Studien, unten, S.  3 80–480. 92  Ebd., S.  480. 93  Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Einleitung, in: MWG I/10, S.  1–54. 94  Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 27. Febr. 1906, MWG II/5, S.  4 0 f., hier S.  4 0; Brief von Max Weber an Friedrich Gottl vom 8. April 1906, MWG II/5, S.  6 9–72, hier S.  69. 95  Vgl. Weber, Stammler, unten, S.  4 81–571. 96  Ebd., S.  571.

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Weber diesmal einen „Nachtrag“ geschrieben, der allerdings nicht mehr zu seinen Lebzeiten publiziert wurde.97 Weber sollte sich freilich weiterhin mit Stammler beschäftigen, was nicht nur in seine Betrachtungen zum Recht einfloß,98 sondern auch in seine Begründung einer verstehenden Soziologie.99

2.  Zur Anordnung und Edition der Texte Im Folgenden werden die Texte Max Webers in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung ediert. Den Beginn macht eine kurze „Anmerk[ung] des Herausgebers“, die Weber als Mitherausgeber der Reihe „Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen“ dem Vorwort zu Marianne Webers Monographie „Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin“ anfügte, welche 1900 im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) erschien.1 Dieser Notiz folgt der erste Teil von Webers Auseinandersetzung mit der älteren deutschen Historischen Schule der Nationalökonomie, der 1903 unter dem Titel „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“ in Schmollers „Jahrbuch“ publiziert wurde.2 Entgegen der in den „Gesammelte[n] Aufsätze[n] zur Wissenschaftslehre“ von Auflage zu Auflage fortgeschriebenen editorischen Entscheidung, diesem ersten Teil die beiden restlichen Teile unmittelbar folgen zu lassen,3 werden hier die Texte eingeschoben, die zwischen der Publikation des ersten Teils und der des zweiten entstanden sind. Dies geschieht, um der Entwicklung von Webers Gedanken zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften Rechnung zu tragen und sie möglichst nachvollziehbar wiederzugeben. Auf den ersten Teil von „Roscher und Knies“ folgen daher jene Texte, die in den Kontext der Übernahme des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ gehören: Zunächst ein offenbar im September 1903 verfaßter handschriftlicher „Entwurf eines Textes zur Übernahme der Herausgeberschaft“ dieser Zeitschrift.4 Danach ein zu Werbezwecken gedruckter, auf Oktober 1903 datierter und von Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé unterzeichneter „Prospekt“.5 Sodann das ebenfalls von Sombart, Weber und Jaffé 97  Vgl. Weber, Nachtrag zu Stammler, unten, S.  572–617. 98  Vgl. Gephart, Werner, Einleitung, in: MWG I/22-3, S.  1–133, hier S.  9 ff. 99  Vgl. Weiß, Johannes, Einleitung, in: MWG I/12, S.  6 0–77; Schluchter, Wolfgang, Einleitung, in: MWG I/23, S.  3 0 ff. 1  Vgl. Weber, Anmerkung des Herausgebers, unten, S.  3 3–36. 2  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, unten, S.  37–101. 3  Diese Textsammlung ist bislang in sieben Auflagen im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) erschienen (1922, 1951, 1968, 1973, 1982, 1985, 1988). Die erste Auflage besorgte Marianne Weber, die anderen Johannes Winckelmann. 4  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, unten, S.  102–111. 5  Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, unten, S.  112–119.

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verantwortete „Geleitwort“, das im April 1904 an der Spitze des ersten von ihnen herausgegebenen Hefts des „Archivs“ erschien,6 sowie Webers Abhandlung „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, die auch in diesem Heft gedruckt wurde.7 Schließlich eine kurze „Redaktionelle Bemerkung“ zu einem Aufsatz des Nationalökonomen Gustav Cohn mit dem Titel „Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie“, der 1905 im „Archiv“ publiziert wurde.8 Wie allein schon das Konzept des Idealtypus und die Kausalitätstheorie der objektiven Möglichkeit, die Weber in „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ einführte, erkennen lassen, stellt diese Abhandlung insofern eine Vorarbeit für den zweiten und dritten Artikel von „Roscher und Knies“ dar, als beides, Konzept und Theorie, in ihnen weiter verwendet wird. Entsprechend kommen nun erst diese beiden Teile, die unter dem Titel „Knies und das Irrationalitätsproblem“ 1905 und 1906 in Schmollers „Jahrbuch“ erschienen sind, zum Abdruck.9 Ihnen folgen die 1906 publizierten „Kritische[n] Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“10 sowie Webers Kritik an „R. Stammlers ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“,11 die 1907 ebenfalls im „Archiv“ erschien. Den Schluß bildet der von Marianne Weber im Nachlaß aufgefundene „Nachtrag“12 zu dieser Kritik. Im Anhang werden die handschriftlichen Notizen, die Weber sich an der Jahreswende 1902/03 in Nervi machte,13 erstmals vollständig abgedruckt.14 Ebenso werden die Anmerkungen der Redaktion des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ der Jahre 1906 bis 1908 wiedergegeben.15 Diese umfassen den Zeitraum, in dem die drei Herausgeber Jaffé, Sombart und Weber die Redaktionsgeschäfte gemeinsam verantworteten. Die Texte wurden den Richtlinien der MWG entsprechend ediert. Enthält die Druckvorlage Ae, Oe, Ue und ss, so wird dies stillschweigend in Ä, Ö, Ü und ß geändert. Zeittypische Ausdrücke wie „Entwickelung“ oder „Wiederspiegelung“ werden auch bei uneinheitlicher Verwendung nicht textkritisch behandelt. Doppelte An- und Abführungszeichen innerhalb von Zitaten werden stillschweigend durch einfache ersetzt. Unvollständige oder fehlerhafte Literaturangaben Webers werden nicht korrigiert; die Kurztitel des Herausgebers 6  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, unten, S.  120–134. 7  Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  135–234. 8  Vgl. Weber, Cohn, unten, S.  2 35–239. 9  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  240–327; Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  328–379. 10  Vgl. Weber, Kritische Studien, unten, S.  3 80–480. 11  Vgl. Weber, Stammler, unten, S.  4 81–571. 12  Vgl. Weber, Nachtrag zu Stammler, unten, S.  572–617. 13  GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr.  31, Bd.  6, Bl.  12–27, 53–160. 14  Unten, S.  623–668. 15  Vgl. unten, S.  6 69–673.

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verweisen auf die vollständigen und korrekten bibliographischen Angaben im „Verzeichnis der von Max Weber zitierten Literatur“.16 Abweichungen der Zitat­angaben Webers von den von ihm benutzten Vorlagen werden nicht textkritisch behandelt. Der Herausgeber greift also bei Zitatwiedergaben nicht in abweichende Interpunktion und Orthographie ein und dokumentiert ebenso wenig Änderungen, solange sie sinngemäß sind. Nicht sinngemäße Änderungen werden im Erläuterungsapparat nachgewiesen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wird ebenso wie in dieser Einleitung in den Editorischen Berichten und im Erläuterungsapparat nur auf Quellen referiert, die zum Publikationsdatum der Texte Webers selbst bereits veröffentlicht und damit Weber entweder bekannt waren oder doch bekannt gewesen sein könnten. Auf andere Bände der MWG wird referiert, nicht jedoch auf Forschungsliteratur. Zur Illustration und Kommentierung wurden weitere Materialien Webers berücksichtigt. So werden Rand­notizen, die Weber in seinem Hand­exemplar von Rudolf Stammlers Buch „Wirtschaft und Recht“ machte,17 in den entsprechenden Erläuterungen wiedergegeben.18

16  Unten, S.  704–718. 17  Stammler, Wirtschaft 2, Handexemplar Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München. 18  Vgl. dazu den Editorischen Bericht zu Weber, Stammler, unten, S.  4 83, Anm.  21 und S.  486.

Schriften

Anmerk[ung] des Herausgebers [zu Marianne Weber: Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin]

Editorischer Bericht I. Zur Entstehung Marianne Webers Monographie „Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin“1 erschien im Juli 1900 in der von Carl Johannes Fuchs, Gerhart von Schulze-Gaevernitz und Max Weber herausgegebenen Schriftenreihe „Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen“.2 Marianne Weber hatte in den 1890er Jahren an den Universitäten Freiburg und Heidelberg Lehrveranstaltungen besucht und unter der Betreuung von Heinrich Rickert an einer Dissertation über Johann Gottlieb Fichte gearbeitet, mit der sie promoviert werden wollte, wozu ihr dann allerdings das Abitur als Zulassungsvoraussetzung fehlte.3 Das Resultat ihrer Arbeit publizierte sie nun als Buch. Im Vorwort4 dieser „Meinem Mann“ gewidmeten „Erstlingsschrift“ bedankte sie sich für die ihr zuteil gewordene Unterstützung: „Die erste Anregung zu dieser Arbeit verdanke ich einem mir übertragenen Referat in Paul Hensel’s ‚philosophischen Übungen‘; außerdem fühle ich mich meinen verehrten Lehrern Kuno Fischer, Alois Riehl und speziell Heinrich Rickert für die Übermittlung philosophischer Kenntnisse, namentlich für die Erschließung des deutschen Idealismus zu warmem Dank verpflichtet. Den Einfluss der Anschauungen meines Mannes wird man insbesondere in einigen Ausführungen auf S.  16 (Plato’s Staatslehre) S.  66–71, der Anmerk. auf S.  1 und S.  102 3) erkennen.“5 An diesen Schlußsatz knüpft die unten edierte Anmerkung Max Webers an. 1  Weber, Marianne, Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen, Band 4, Heft 3). – Tübingen, Freiburg i. B. und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900 (hinfort: Weber, Marianne, Fichte’s Sozialismus). 2 Zur Entstehungsgeschichte der Schriftenreihe, die vor allem jüngeren Wissenschaftlern und den Hochschullehrern der badischen Hochschulen eine Publikationsmöglichkeit bieten wollte, vgl. den Editorischen Bericht zu „Über die Schriftenreihe ‚Volkswirtschaftliche Abhandlungen‘“, in: MWG I/4, S.  674–676. 3  Vgl. den Editorischen Bericht zum Brief von Max Weber an Marianne Weber vom 7. Aug. 1898, MWG II/3, S.  542–544, hier S.  542. 4  Vgl. Weber, Marianne, Fichte’s Sozialismus (wie oben, S.  33, Anm.  1), S.  V–VI. 5  Ebd., S.  VI.

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Anmerkung des Herausgebers

Die von Marianne Weber genannten „Einfluss“-Stellen beziehen sich auf die folgenden Inhalte: Die Ausführungen auf Seite 16 enthalten einen Vergleich von „Fichte’s Wirtschaftspolitik“ mit „Plato’s Politeia“ als einer der „berühmten Staatsdichtungen der Vergangenheit“.6 Auf den Seiten 66 bis 71 geht es um „Fichte’s Postulate in ihrem Verhältnis zur historischen Wirklichkeit“.7 Die Verweise auf den von Fichte „übernommenen“ Gedanken des „Nahrungsschutzes“ sowie die Bezüge auf „Thomas von Aquino“ und die „Kanonisten“ finden sich bereits in Max Webers Vorlesungen und später auch im Aufsatz „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“.8 In der Anmerkung auf Seite 1 ist von „Marxismus“ und „Sozialismus“ und den von ihnen postulierten „Entwicklungstendenzen des Kapitalismus“ die Rede.9 Die Anmerkung 3) auf Seite 102 handelt von der „Fiktion“ der „Eigentumslosigkeit der Urgesellschaft“.10 Tatsächlich dürfte es darüber hinausgehende Anregungen Max Webers gegeben haben. In einem Brief aus Konstanz an Marianne Weber vom 7. August 1898 heißt es: „Ich freue mich sehr darauf, wen[n] Deine Arbeit fortschreitet. Aber wenn auch die Dissertation, rein Fichte’sch wird, so bin ich doch entschieden der Meinung, daß sich alsdann daran und darum ein sehr solider ökonomischer Aufbau gliedern sollte. Und auch für die philosophische Seite solltest Du die Physiokraten schon jetzt studieren. Leider bin ich selbst recht schlecht in ihnen bewandert. Lies die betr. Partien in Ingram, bei G. Cohn, ferner Oncken’s Quesnay und – namentlich Hasbach’s Philosoph[ische] Grundlagen, dann Quesnay’s ‚Tableau économique‘ selbst, – endlich, da Oldenberg (ich weiß davon gar nichts) auf Babeuf Vieles zurückführt, mußt Du auch an ihn gehen, es wird gar nicht leicht sein ihn zu beschaffen, sieh Dich nur im Handw[örter]-Buch der Staatswiss[enschaften] nach ihm um. Der Vergleich zwischen Quesnay und Fichte ist glaube ich nicht zu umgehen, beide haben in Vielem ähnliche ökonomische Vorstellungen über den Gang der Wirtschaft bei principiell ganz entgegengesetztem Gesammtuntergrund. Sage aber Rickert – den ich mit Frau herzlich grüßen lasse – nichts von diesen Plänen, sonst wird er zappelig.“11 Am 13. August 1898 spezifizierte Max Weber einige Hinweise: „Oldenberg hat den Babeuf nur mündlich im Gespräch mir gegenüber als eine Quelle Fichte’s erwähnt. Ob F[ichte] aber wirklich den B[abeuf] gelesen und gekannt hat, wird sich wohl schwer feststellen lassen 6  Ebd., S.  16. 7  Ebd., S.  66–71. 8  Ebd., S.  67 f. Vgl. z. B. Weber, Geschichte der Nationalökonomie (Vorlesung Sommersemester 1896), MWG III/1, S.  666–702, hier S.  682 f. (zu Thomas von Aquin und den Kanonisten), sowie Weber, Objektivität, unten, S.  210. 9  Weber, Marianne, Fichte’s Sozialismus (wie oben, S.  33, Anm.  1), S.  1. 10  Ebd., S.  102. 11  Brief von Max Weber an Marianne Weber vom 7. Aug.1898, MWG II/3, S.  542–544, hier S.  543 f.

Editorischer Bericht

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und scheint mir recht fraglich, trotz der Anklänge. Wichtiger ist jedenfalls die Anknüpfung an die Physiokraten, die wenigstens recht wahrscheinlich ist: die Lehre von den Volks-Klassen, vom Gelde, von der Güter-Circulation scheint mir eine solche an Quesnay und Turgot wahrscheinlich zu machen.“12 Marianne Weber kam besonders im zweiten Teil ihrer Einleitung unter dem Titel „Entstehen des Sozialismus“ auf die meisten der von Max Weber genannten Autoren zu sprechen,13 während sie die „Methode des Marxismus“ mit ausführlichem Bezug auf Rickerts Philosophie kritisierte.14

II.  Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der als „Anmerk. des Herausgebers“ in: Weber, Marianne, Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen, hg. von Carl Johannes Fuchs, Gerhar[t] von Schulze-Gävernitz, Max Weber, Band 4, Heft 3). – Tübingen, Freiburg i. B. und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, S. VI, Anmerkung 1, erschienen ist (A). Der Text ist unterzeichnet mit: M. W.

12  Brief von Max Weber an Marianne Weber vom 13. Aug. 1898, MWG II/3, S.  552– 555, hier S.  554. 13  Vgl. Weber, Marianne, Fichte’s Sozialismus (wie oben, S.  33, Anm.  1), S.  3 ff. 14  Vgl. ebd., S.  111, mit Bezug auf den ersten Teil von Rickert, Grenzen.

[A VI]

Anmerk[ung]a des Herausgebers.1 Ich glaube mich zu der Bemerkung veranlaßt, daß die Verfasserin, abgesehen von den von ihr hervorgehobenen Punkten2 und ganz vereinzelten litterarischen und terminologischen Ratschlägen meinerseits,3 ihren Weg in jeder Hinsicht selbständig hat suchen müssen und von mir nur, ebenso wie von ihren andern Lehrern,4 Kolleganregungen ganz allgemeiner Art empfangen hat.b |

a  In A geht der Anmerkungsindex 1) voran.   b  In A folgt: M. W. 1  1900 waren Carl Johannes Fuchs, Gerhart von Schulze-Gaevernitz und Max Weber Herausgeber der „Volkswirtschaftlichen Abhandlungen der Badischen Hochschulen“. Heinrich Herkner, der dem Gremium seit 1897 angehört hatte, war 1898 ausgeschieden. 2  Zur Beteiligung Max Webers an der Arbeit von Marianne Weber vgl. den Editorischen Bericht, oben, S.  33–35. 3  Vgl. ebd. 4  Vgl. ebd.

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Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (Erster Artikel.)

[I. Roschers „historische Methode“] Editorischer Bericht I.  Zur Entstehung Max Webers Abhandlung „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“ wurde in drei Teilen 1903,1 19052 und 19063 in Gustav Schmollers „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“ publiziert. In einer Vorbemerkung bezeichnete Weber diese Abhandlung als „Fragment“ und merkte an: „Es war ursprünglich für die diesjährige Heidelberger Festschrift bestimmt, wurde aber nicht rechtzeitig fertig und paßte auch seinem jetzigen Charakter nach wenig an jene Stelle.“4 Gemeint war die 1903 in zwei Bänden unter dem Titel „Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert“ publizierte „Festschrift der Universität zur Zentenarfeier ihrer Erneuerung durch Karl Friedrich“. In seiner Vorrede zu dieser Festschrift stellte der Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg, Fritz Schöll, fest: „Die Geschichte, die neben und zeitweise über der Philosophie die allgemeinste und eine für den Charakter der Hochschule mitbestimmende Wirkung hier ausgeübt hat, entbehrt ja glücklicherweise nicht des geeigneten Ausdruckes; auch die Nationalökonomie sollte einen solchen finden. Und da der hier wesentlich in Betracht kommenden wissenschaftlichen Persönlichkeit, Karl Knies, ein literarisches Porträt bereits von der Hand Gustav Schmollers gewidmet ist, erachtete Prof. Max Weber eine problemgeschichtliche Fassung der Arbeit für die einzig angemessene. In dieser Gestaltung wuchs aber die Arbeit nach der Ansicht ihres Verfassers aus dem Bereiche dieser Festschrift heraus; und da überdies äußere Zufälligkeiten ihre Fertigstellung über den festgesetzten Einlieferungstermin hinaus verzögerten, beabsichtigt er sie an anderer Stelle zu veröffentlichen.“5 1  Weber, Roscher und Knies 1, unten, S.  41–101. 2  Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  240–327. 3  Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  328–379. 4  Weber, Roscher und Knies 1, unten, S.  41. 5  Schöll, Vorrede (wie oben, S.  12, Anm.  81), S.  XIV.

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Weber war im Dezember 1896 als Nachfolger von Knies an die Heidelberger Universität berufen und im Januar 1897 zum ordentlichen Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft ernannt worden.6 Es lag also nahe, ihn um einen Beitrag über Knies zu bitten. Unbekannt ist, wer diese Bitte aussprach; möglicherweise war es Schöll, der Mitglied der Berufungskommission zur Besetzung des Lehrstuhls von Knies gewesen war.7 Wann sie ausgesprochen wurde, läßt sich einer Aussage Marianne Webers entnehmen. Demnach erhielt Weber die Einladung im Oktober 1902.8 Sie erreichte ihn bei immer noch prekärer Gesundheit, die ihn seit Sommer 1898 schwer belastet und ihn weitgehend seiner Arbeitskraft beraubt hatte. Sie führte schließlich im Oktober 1903 zu seinem Rücktritt von der Professur.9 Die von Schöll angesprochenen „äußere[n] Zufälligkeiten“, welche die Fertigstellung von Webers Beitrag verzögerten,10 dürften also auf Webers Krankheit zurückzuführen sein, wie auch Marianne Weber bestätigt.11 Weber selbst erklärte gegenüber Schmoller, dem er seine Studie dann am 20. Februar 1903 zur Publikation in dessen „Jahrbuch“ anbot, daß sie nicht „zu dem festgesetzten Termin (Ostern)“ für die Festschrift fertig werde, weil er „monatelang pausieren mußte“.12 Zudem würde sie, „so wie sie sich gestaltet hat, schlecht in eine Festschrift“ passen.13 Damit meinte er offenbar nicht nur jene „problemgeschichtliche Fassung“, von der Schöll sprach.14 Zwar liege ihr „Schwergewicht“ in „dem Versuche, die logischen Voraussetzungen, von denen Roscher u. Knies bewußt oder unbewußt ausgingen, klarzulegen“, doch enthalte sie „im wesentlichen“ auch „methodologische Untersuchungen an der Hand einiger moderner logischer Theorien“.15 Weber wollte in der Studie also nicht nur die „methodologischen Ansichten von Knies“ mittels „einer vorherigen Darlegung des methodischen Standpunktes Roschers“ dar6  Zur Berufung Webers nach Heidelberg vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief Max Webers an Adolf Hausrath vom 15. Okt. 1896, MWG II/3, S.  216 f., hier S.  216. 7  Vgl. ebd. 8  Marianne Weber zufolge erhielt Weber die Einladung „ein halbes Jahr“ nach seiner Florenz-Lektüre von Rickerts „Grenzen“, die sich auf April 1902 datieren läßt. Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S.  272 f. Vgl. die Karten Max Webers an Marianne Weber vom 7., 10. und 11. April 1902, MWG II/3, S.  822, 825, 826 f. 9  Zu seinen Entlassungsgesuchen vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief Max Webers an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 7. Jan. 1900, ebd., S.  711–714, hier S.  711 f. 10  Schöll, Vorrede (wie oben, S.  12, Anm.  81), S.  XIV. 11  Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S.  272 ff. 12 Vgl. Brief von Max Weber an Gustav Schmoller vom 20. Febr. 1903, MWG II/4, S.  43 f., hier S.  44. 13 Ebd. 14  Schöll, Vorrede (wie oben, S.  12, Anm.  81), S.  XIV. 15  Brief von Max Weber an Gustav Schmoller vom 20. Febr.1903, MWG II/4, S.  43–44, hier S.  44.

Editorischer Bericht

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stellen.16 Sie war auch systematisch angelegt. Nach eigenem Bekunden bestand „einer der Zwecke dieser Studie“ darin, die „Brauchbarkeit der Gedanken“ des „grundlegenden Werk[s] von H. Rickert (Die Grenzen der naturwissensch[aftlichen] Begriffsbildung)“ für die „Methodenlehre unserer Disziplin zu erproben“.17 Daß Weber die im Oktober 1902 eingegangene Verpflichtung aufgrund seines prekären gesundheitlichen Zustands „bald zur lastenden Qual“ wurde, hat Marianne Weber beschrieben.18 Immerhin muß er noch im selben Jahr einen Text verfaßt haben, den sie abtippen konnte. Am 30. Dezember 1902 teilte sie ihrem in Nervi, einem Winterkurort nahe Genua, weilenden Gatten mit: „Dein Roscher wird ja [ein] enorm gelehrter und komprimierter philosophischer Extrakt. Du, an der einen Seite 11 habe ich heute 11/2 Stunden abgeschrieben.“19 Am 10. Januar 1903 heißt es dann: „Dein Roscher ist jetzt abgeschrieben.“20 Dieser „Roscher“ ist möglicherweise noch nicht identisch mit dem Text, den Weber dann als ersten Teil der letztlich dreiteiligen Aufsatzfolge unter dem Titel „Roschers ‚historische Methode‘“ publizierte.21 Laut Marianne Weber war erst im „Sommer 1903“ der „erste Teil des ‚Seufzeraufsatzes‘ (Roscher und Knies) abgeschlossen“.22 Als Weber sich am 4. Januar 1903 bei seiner Frau für „die offenbar schrecklich zeitraubende Schreibarbeit an meinem ‚Roscher‘“ bedankte,23 dürfte er seine Arbeit schon weiter vorangebracht haben. Denn am 2. Januar 1903 teilte er mit: „Ich habe die letzten Tage mir den Kopf mit Lesen u. Arbeiten wieder etwas verdorben, bin aber doch auch weitergekommen u. hoffe, daß diese elende Stöpselei, die doch fast nur mit fremden Gedanken arbeitet, nun wenigstens überhaupt irgend wann fertig wird.“24 Tags darauf heißt es: „Ich hoffe wenigstens die Stoffein­ theilung für den Rest dieser verfl. Arbeit mit nach Hause zu bringen.“25 Diese Äußerung könnte sich allerdings auch auf den geplanten Teil über Knies beziehen. Aus Nervi sind Notizen überliefert, die neben einer Auseinandersetzung mit Rickert auch stichwortartige Aufzeichnungen über Knies enthalten. Diese Notizen werden im Anhang zu diesem Band abgedruckt.26 16  Weber, Roscher und Knies 1, unten, S.  42. 17  Ebd., S.  49, 45. 18  Weber, Marianne, Lebensbild, S.  273. 19  Brief von Marianne Weber an Max Weber vom 30. Dez. 1902, Bestand Max WeberSchäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 20  Brief von Marianne Weber an Max Weber vom 10. Jan. 1903, ebd. 21  Weber, Roscher und Knies 1, unten, S.  41. 22  Weber, Marianne, Lebensbild, S.  291. 23  Karte von Max Weber an Marianne Weber vom 4. Jan. 1903, MWG II/4, S.  35 f., hier S.  35. 24  Karte von Max Weber an Marianne Weber vom 2. Jan. 1903, ebd., S.  31 f., hier S.  31. 25  Brief von Max Weber an Marianne Weber vom 3. Jan. 1903, ebd., S.  33 f., hier S.  34. 26  Vgl. unten, S.  623–668.

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Daß sich die Arbeit an der Abhandlung über die Altmeister des Faches jedenfalls bis in den Sommer 1903 hinzog, läßt sich noch durch andere Quellen stützen. In Webers Brief an Schmoller vom 20. Februar 1903 ist von der „Hälfte (ca. 60. Druckseiten)“ eines Textes die Rede, für dessen Titel er „Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“ vorschlug; diese „Hälfte“ könne er „im Mai liefern u. den Rest im Laufe des Sommers“.27 Am 12. Juni 1903 schrieb er an Marianne Weber aus Scheveningen: „Wenn Dich mein Manuskript zu sehr strapaziert, so laß es doch lieber, wir kommen dann schon noch damit zu Rande.“28 Jedenfalls erfolgte dann die Publikation der Fortsetzung der Abhandlung nicht zeitnah, sondern erst 1905.

II.  Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, wie er unter dem Titel „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. (Erster Artikel.)“, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hg. von Gustav Schmoller, 27. Jg., Heft 4, 1903, S.  1–41 [S.  1181–1221], erschienen ist (A). Der zweite und dritte Artikel des Aufsatzes werden entsprechend ihres Publikationsdatums gesondert ediert.29 Die seitenweise Zählung der Fußnoten ist durch eine fortlaufende ersetzt. Fußnoten- und Seitenverweise innerhalb des Aufsatzes werden stillschweigend auf die MWG-Zählung umgestellt.

27  Brief von Max Weber an Gustav Schmoller vom 20. Febr. 1903, MWG II/4, S.  43 f., hier S.  44. 28  Brief von Max Weber an Marianne Weber vom 12. Juni 1903, ebd., S.  94 f., hier S.  95. 29  Unten, S.  240–327, und S.  328–379.

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Vorbemerkung S.  41. – I. Roschers „historische Methode“. Roschers Klassifikation der Wissenschaften S.  43. Roschers Entwickelungsbegriff und die Irrationalität der Wirklichkeit S.  52. Roschers Psychologie und sein Verhältnis zur klassischen Theorie S.  83. Die Schranke des diskursiven Erkennens und die metaphysische Kausalität der Organismen bei Roscher S.  87. Roscher und das Problem der praktischen Normen und Ideale S.  94.

Das nachstehende Fragment1) will kein literarisches Porträt unserer Altmeister1 sein. Vielmehr beschränkt es sich auf den Versuch, zu zeigen, wie gewisse elementare logisch-methodische Probleme, welche im letzten Menschenalter in der Geschichtswissenschaft und in unserer Fachdisziplin zur Erörterung standen, in den Anfängen der historischen Nationalökonomie sich geltendmachten2), und wie sich die | ersten großen Leistungen der historischen Methode mit ihnen abzufinden versucht haben. Wenn dabei vielfach wesent-

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1)  Es war ursprünglich für die diesjährige Heidelberger Festschrift2 bestimmt, wurde A [1] aber nicht rechtzeitig fertig und paßte auch seinem jetzigen Charakter nach wenig an jene Stelle.3 2)  Freilich werden wir es dabei nur mit elementaren Formen dieser Probleme zu tun haben. Dieser Umstand allein erlaubt es mir, dem die fachmäßige Beherrschung der gewaltig anschwellenden logischen Literatur4 naturgemäß nicht zu Gebote steht, mich mit ihnen hier zu beschäftigen. Ignorieren | darf auch der Fachmann der Einzelwissen- A 2 schaften jene Probleme nicht, und vor allem: so elementar sie sind, so wenig ist, wie sich auch im Rahmen dieser Studie zeigen wird, auch nur ihre Existenz allseitig erkannt. |

a  In A folgt: Von Max Weber.   1 Boenigk bezeichnet Karl Knies als „Altmeister der Volkswirtschaftswissenschaft“. Vgl. Boenigk, Otto, [ohne Titel], in: Staatswissenschaftliche Abhandlungen. Festgaben für Karl Knies zur fünfundsiebzigsten Wiederkehr seines Geburtstages, hg. von Otto Freiherrn von Boenigk. – Berlin: O. Haering 1896, S.  III–V, hier S.  III. 2  Vgl. Heidelberger Professoren. 3  Vgl. oben, S.  37–40. 4 Im 19. Jahrhundert wurden allein im deutschsprachigen Raum ca. 150 Logiken publiziert, u. a. von Rudolf Hermann Lotze, Christoph Sigwart und Wilhelm Wundt.

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lich auch deren Schwächen hervortreten, so liegt das im Wesen der Sache. Gerade sie können uns immer wieder zur Besinnung auf diejenigen allgemeinen Voraussetzungen führen, mit welchen wir an unsere wissenschaftliche Arbeit herantreten, und dies kann der alleinige Sinn solcher Untersuchungen sein, welche auf ein „künstlerisches“ Gesamtbild5 ganz geflissentlich zu Gunsten breiter Zergliederung wirklich oder scheinbar selbstverständlicher Dinge verzichten müssen. – Man pflegt heute als die Begründer der „historischen Schule“ Wilhelm Roscher, Karl Knies und Bruno Hildebrand zusammen zu nennen. Ohne nun der großen Bedeutung des zuletzt Genannten irgendwie zu nahe treten zu wollen, kann er doch für unsere Zwecke hier ausscheiden, obwohl gerade er, in gewissem Sinne sogar nur er, mit der heute als „historisch“ bezeichneten Methode wirklich gearbeitet hat. Sein in der „Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft“6 niedergelegter Relativismus verwertet in den Punkten, auf die es hier ankommt, nur Gedanken, welche schon vor ihm, teils von Roscher, teils von anderen, entwickelt waren. Hingegen kann eine Darstellung der methodologischen Ansichten von Knies einer vorherigen Darlegung des methodischen Standpunktes Roschers nicht entraten. Knies’ methodologisches Hauptwerk7 ist mindestens ebensosehr eine Auseinandersetzung mit den bis dahin erschienenen Arbeiten Roschers – dem es zugeeignet war8 – wie mit den Vertretern des bis auf Roscher bei uns die Universitäten beherrschenden Klassizismus,9 als dessen anerkanntes Haupt damals Knies’ Heidelberger Vorgänger, Rau, wirkte. 5  Schöll, Vorrede (wie oben, S.  12, Anm.  81), S.  XIV, zufolge war Knies „ein literarisches Porträt bereits von der Hand Gustav Schmollers gewidmet“ worden. Möglicherweise referiert Weber hier auf Schmoller, Knies1/2. Vgl. bereits Einleitung, oben, S.  12. 6  Hildebrand, Nationalökonomie. 7  Knies, Oekonomie1; Knies, Oekonomie2. 8  Vgl. Knies, Oekonomie1, S.  V: „Herrn Wilhelm Roscher! Ich kenne Sie nicht persönlich; auch trete ich mehreren Ansichten und Urtheilen, die Sie kundgegeben, entgegen und muß gewärtig sein, Ihre Zustimmung zu diesen Ausführungen nicht zu erlangen. Doch glaube ich mir erlauben zu dürfen, Ihnen durch die Widmung dieses Buches einen Beweis meiner großen Hochschätzung der Verdienste zu geben, die Sie Sich um die politische Oekonomie in einer Reihe von Schriften erworben haben, welche in der Geschichte dieser Wissenschaft nach meinem Ermessen für immer eine ausgezeichnete Stelle einnehmen werden. Karl Knies.“ 9  Weber zählt zur klassischen Schule der Nationalökonomie Adam Smith, David Ricardo, Thomas Robert Malthus, Nassau William Senior, Jean Baptiste Say, Frédéric

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Wir beginnen daher mit einer Darlegung der methodischen Grundanschauungen Roschers, wie sie sich in seinem Buch über „Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides“,10 seinem programmatischen „Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirtschaft“ von 184311 und seinen Aufsätzen aus den vierziger Jahren finden,12 und ziehen auch die ersten Auflagen des ersten Bandes seines erst nach dem Kniesschen Buche erschienenen „Systems der Volkswirtschaft“ (1.  Aufl. 1854, 2. 1857),13 sowie seine späteren Arbeiten insoweit | heran, als sie lediglich die konsequente Ausgestaltung desjenigen Standpunktes enthalten, mit welchem Knies sich auseinanderzusetzen beabsichtigte3).

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I.  bRoschers „historische Methode“b Roscher4) unterscheidet zweierlei Arten der wissenschaftlichen Verarbeitung der Wirklichkeit, die er als „philosophische“ und 3)  Sachlich erhebliche Änderungen finden sich übrigens in den für uns wesentlichen A 3 Hauptpunkten bis in die spätesten Bände und Auflagen des großen Roscherschen Werkes kaum.14 Es ist eine gewisse Erstarrung eingetreten. Autoren wie Comte und Spencer hat er zwar noch kennen gelernt,15 ihre Grundgedanken in ihrer Tragweite aber nicht erkannt und nicht verarbeitet. Über Erwarten dürftig für unsere Zwecke erweist sich insbesondere seine „Geschichte der Nationalökonomie“ (1874),16 da für R[oscher] durchweg das Interesse daran, was der behandelte Schriftsteller praktisch gewollt hat, im Vordergrunde steht. 4)  Die nachfolgende Analyse bietet, ihrem Zwecke entsprechend, selbstverständlich das Gegenteil eines Gesamtbildes von der Bedeutung Roschers. Für deren Würdigung

b–b  Überschrift vom Editor aus dem Inhaltsverzeichnis, oben, S.  41, hier eingefügt. Bastiat, Karl Heinrich Rau, Johann Heinrich von Thünen, Friedrich Benedikt Wilhelm von Hermann. Vgl. Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  548. 10  Roscher, Thukydides. 11  Roscher, Grundriß. 12­  Weber referiert auf Roscher, Verhältniss. 13  Roscher, System I1; Roscher System I2. Knies, Oekonomie1, war 1853 erschienen. Knies, Oekonomie2, erschien 1883. 14  Die 23.  Auflage des ersten Bandes von Roschers „System der Volkswirthschaft“ erschien 1900 und wird im Folgenden als Roscher, System I23, zitiert. 15  Zu Auguste Comte vgl. Roscher, System I23, S.  28 (§  11). Zu Herbert Spencer vgl. ebd., S.  28, 251, 533 (§§  11, 88, 177). 16  Gemeint ist: Roscher, Geschichte; der Titel lautet: „Geschichte der National-Oekonomik“.

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„historische“ bezeichnet: begriffliche Erfassung im Wege der generalisierenden Abstraktion unter Eliminierung der „Zufälligkeiten“ der Wirklichkeit einerseits, und andererseits schildernde Wiedergabe | der Wirklichkeit in ihrer vollen Realität.17 Man fühlt sich sofort an die heute vertretene Scheidung von Gesetzes- und Wirk­ lichkeitswissenschaften erinnert, wie sie am schärfsten in dem methodischen Gegensatz zwischen den exakten Naturwissenschaf-

ist auf den Aufsatz Schmollers (zuletzt gedruckt in: Zur Literaturgeschichte der Staatsund Sozialwissenschaften)18 und auf die Gedächtnisrede Büchers (abgedruckt Preuß[ische] Jahrbücher, Band 77, 1894, S.  104 ff.)19 zu verweisen. Daß beide in diesen bei Roschers Lebzeiten bezw. gleich nach seinem Tode erschienenen Aufsätzen einen für Roschers wissenschaftliche Persönlichkeit wichtigen Punkt: seine religiöse Grundanschauung, beiseite ließen, war bei der subjektivistischen Empfindungsweise unserer Generation in diesen Dingen durchaus natürlich. Eine genauere Analyse von Roschers Methode würde – wie wir sehen werden – diesen Faktor nicht vernachlässigen dürfen, und Roscher selbst war – wie die posthume Publikation seiner „Geistlichen Gedanken“20 zeigt – auch insofern durchaus „unmodern“, als er gar nicht daran dachte, bei dem öffentlichen Bekenntnis zu seinem streng traditionellen Glauben irgend eine Verlegenheit zu empfinden. Daß in der nachfolgenden Analyse Roschers mannigfache Wiederholungen und eine oft scheinbar unnötige Ausführlichkeit sich finden, hat seinen Grund in dem unabgeschlossenen und vielfach in sich widerspruchsvollen Charakter seiner Ansichten, deren einzelne Verzweigungen immer wieder an den gleichen logischen Gedanken gemessen werden müssen. Für logische Untersuchungen gibt es schlechthin nichts „Selbstverständliches“. Wir analysieren hier in eingehender Weise längst überwundene Anschauungen Roschers auf ihren logischen Charakter hin, über deren sachlichen Gehalt heute in unserer Wissenschaft wohl niemand mehr ein Wort verlieren würde. Irrtümlich aber wäre es, aus diesem Grunde anzunehmen, die logischen Schwächen, die darin stecken, wären uns heute im allgemeinen klarer, als sie es ihm wa­ ren. | 17 Vgl. Roscher, Grundriß, S.  1 (§  1): „Der Philosoph will ein System von Begriffen oder Urtheilen, möglichst abstract, d. h. möglichst entkleidet von allen Zufälligkeiten des Raumes und der Zeit; der Historiker eine Schilderung menschlicher Entwicklungen und Verhältnisse, möglichst getreu dem wirklichen Leben nachgebildet.“ Zur „generalisierenden Abstraktion“ vgl. Einleitung, oben, S.  16 f. Von der „Wirklichkeit in ihrer vollen Realität“ ist wörtlich die Rede in Dilthey, Einleitung, S.  154 („Wirklichkeit in ihrer vollen Realität“), S.  68, 103, 238 („volle Wirklichkeit“), S.  247, 503 („volle Realität“, „vollste Realität“). Menger, Untersuchungen, S. VII, 34 ff., 41 f., 44, 54 f., 59, 65 f., 68 f., 77 ff., 260, spricht von der „vollen empirischen Wirklichkeit“. In Rickert, Grenzen, S.  541, ist die Rede von der „volle[n] Wirklichkeit“ bzw. der „vollen empirischen Wirklichkeit“ (ebd., S.  420, 555). 18  Schmoller, Roscher. 19  Bücher, Roscher. 20  Roscher, Gedanken.

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ten auf der einen undc der politischen Geschichte auf der anderen Seite zu Tage tritt5). Auf der einen Seite Wissenschaften mit dem Bestreben, durch ein System möglichst unbedingt allgemeingültiger Begriffe und 5)  Dieser im weiteren Verlauf unserer Erörterung noch oft zu berührende Gegen- A 4 satz ist in einem gewissen Maße, obgleich mit teilweise unzutreffenden Folgerungen, schon von Menger – wie noch zu erwähnen sein wird21 – in seiner Tragweite für die Methodenlehre der Nationalökonomie erkannt worden. Die exakte logische Formu­ lierung ist, nach den Ansätzen, die sich bei Dilthey (Einleitung in die Geisteswissenschaften)22 und Simmel (Probleme der Geschichtsphilosophie)23 fanden, in wichtigen Punkten zuerst in Windelbands Rektoratsrede (Naturwissenschaft und Geschichts­ wissenschaft)24 kurz skizziert, dann aber in dem grundlegenden Werk von H[einrich] Rickert (Die Grenzen der naturwissensch[aftlichen] Begriffsbildung)25 umfassend entwickelt worden. Auf ganz anderen Wegen nähert sich, beeinflußt von Wundt, Dilthey, Münsterberg und Mach, gelegentlich auch von Rickert (Band I),26 im wesentlichen aber durchaus selbständig, den Problemen der Begriffsbildung in der Nationalökonomie die Arbeit von Gottl („Die Herrschaft des Wortes“),27 welche jetzt freilich, soweit sie Methodenlehre treibt, in manchen – jedoch keineswegs in den ihr wesentlichsten – Punkten durch die inzwischen erschienene zweite Hälfte des Rickertschen Werkes überholt ist. Rickert ist die Arbeit offenbar unbekannt geblieben, ebenso Eduard Meyer, dessen Ausführungen („Zur Theorie und Methodik der Geschichte.“ Halle 1902)28 sich mit denjenigend Gottls vielfach berühren. Der Grund liegt wohl in der fast bis zur Unverständlichkeit sublimierten Sprache Gottls, der – eine Konsequenz seines psychologistischen erkenntnistheoretischen Standpunkts – die hergebrachte begrifflich gebundene und dadurch für ihn „denaturierte“ Terminologie geradezu ängstlich meidet und gewissermaßen in Ideogrammen den Inhalt des unmittelbaren „Erlebens“ zu reproduzieren strebt. So sehr manche Ausführungen, darunter auch prinzipielle Thesen der Arbeit, Widerspruch erregen müssen, und so wenig ein wirklicher Abschluß erreicht wird, so sehr ist die in ihrer Eigenart feine und geistvolle Beleuchtung des Problems zu beachten, auf welche auch hier mehrfach zurückzukommen sein wird.29 |

c  In A folgt nochmals: und  d A: derjenigen   21  Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  199. 22  Dilthey, Einleitung, S.  5 ff. 23  Simmel, Geschichtsphilosophie1, S.  43. 24  Gemeint ist: Windelband, Geschichte, S.  12; der Titel lautet „Geschichte und Naturwissenschaft“. 25  Rickert, Grenzen, S.  257, 263, 301, 369, 480, unterscheidet zwischen Begriffs- und Wirklichkeitswissenschaften, wobei er Begriffswissenschaften auch als Natur- oder Gesetzeswissenschaften bezeichnet und Wirklichkeitswissenschaften als historische Wissenschaften. 26 Rickert publizierte die ersten drei Kapitel seines Buches 1896. Das komplette Buch erschien 1902. Vgl. Rickert, Grenzen, S.  IV f. 27 Im Vorwort [unpaginiert] von Gottl, Herrschaft, ist ebenfalls von Knies als „Alt­ meister“ die Rede. Vgl. oben, S.  41. 28  Meyer, Theorie. 29  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  313–327.

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Gesetze die extensiv und intensiv unendliche Mannigfaltigkeit zu ordnen.30 Ihr logisches Ideal – wie es am vollkommensten die reine Mechanik erreicht – zwingt sie, um ihren Begriffen die notwendig erstrebte Bestimmtheit des Inhalts geben zu können, die vor­ stellungsmäßig uns gegebenen „Dinge“ und Vorgänge in stets fortschreitendem Maße der individuellen „Zufälligkeiten“ des Anschaulichen zu entkleiden. Der nie ruhende logische Zwang zur systematisierenden Unterordnung der so gewonnenen Allgemeinbegriffe unter andere, noch allgemeinere, | in Verbindung mit dem Streben nach Strenge und Eindeutigkeit, drängt sie zur möglichsten Reduktion der qualitativen Differenzierung der Wirklichkeit auf exakt meßbare Quantitäten. Wollen sie endlich über die bloße Klassifikation der Erscheinungen grundsätzlich hinausgehen, so müssen ihre Begriffe potentielle Urteile von genereller Gültigkeit in sich enthalten, und sollen diese absolut streng und von mathematischer Evidenz sein, so müssen sie in Kausalgleichungen31 darstellbar sein. Das alles bedeutet aber zunehmende Entfernung von der ausnahmslos und überall nur konkret, individuell und in qualitativer Besonderung gegebenen und vorstellbaren empirischen Wirklichkeit, in letzter Konsequenz bis zur Schaffung von absolut qualitätslos, daher absolut unwirklich, gedachten Trägern rein quantitativ differenzierter Bewegungsvorgänge, deren Gesetze sich in Kausalgleichungen ausdrücken lassen. Ihr spezifisches logisches Mittel ist die Verwendung von Begriffen mit stets größerem Umfang und

30  Weber folgt Rickert, Grenzen, S.  31 ff., 226 ff. 31  Vgl. ebd., S.  422, 514, 553, 555 f. Rickert übernimmt diesen Begriff von Wundt. Vgl. Rickert, Heinrich, Psychophysische Causalität und psychophysischer Parallelismus, in: Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage 28. März 1900. – Tübingen, Freiburg i. Br. und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, S.  59–87 (hinfort: Rickert, Causalität), S.  64, 75, 82 ff., mit Bezug auf Wundt, Wilhelm, Ueber psychische Causalität und das Princip des psychophysischen Parallelismus, in: Philosophische Studien, Band 10, 1894, S.  1–124 (hinfort: Wundt, Causalität), hier S.  9 ff., 13. Ausgehend vom Leibnizschen Satz „causa aequat effectum“ sieht Wundt einen Erkenntnisgewinn darin, Naturgesetze in Kausalgleichungen zu formulieren. Betrachtet man z. B. die Geschwindigkeit v eines Körpers als Wirkung, dann findet man ihre vollständige Ursache in der Kraft K, die während der Zeit t auf die Masse M dieses Körpers einwirkt, was sich in der Kausalgleichung K/M · t = v darstellen läßt. Zum Begriff der Kausalungleichung vgl. Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  254 f. mit Anm.  52.

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deshalb stets kleinerem Inhalt, ihr spezifisches logisches Produkt sind Relationsbegriffe32 von genereller Geltung (Gesetze). Ihr Arbeitsgebiet ist überall da gegeben, wo das für uns Wesentliche (Wissenswerte) der Erscheinungen mit dem, was an ihnen gat­ tungsmäßig ist, zusammenfällt, wo also unser wissenschaftliches Interesse an dem empirisch allein gegebenen Einzelfall erlischt, sobald es gelungen ist, ihn einem Gattungsbegriff als Exemplar unterzuordnen. – Auf der anderen Seite Wissenschaften,33 welche sich diejenige Aufgabe stellen, die nach der logischen Natur jener gesetzeswissenschaftlichen Betrachtungsweise durch sie notwendig ungelöst bleiben muß: Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer ausnahmslos und überall vorhandenen qualitativ-charakteristischen Besonderung und Einmaligkeit: das heißt aber – bei der prinzipiellen Unmöglichkeit der erschöpfenden Wiedergabe irgend eines noch so begrenzten Teils der Wirklichkeit in seiner (stets mindestens intensiv) unendlichen Differenziertheit gegen alle übrigen – Erkenntnis derjenigen Bestandteile der Wirklichkeit, die für uns in ihrer individuellen Eigenart und um deren willen die wesentlichen sind. Ihr logisches Ideal: das Wesentliche in der analysierten individuellen Erscheinung vom „Zufälligen“ (d. h. hier: Bedeutungslosen) zu sondern und anschaulich zum Bewußtsein zu bringen, und das Bedürfnis zur Einordnung des einzelnen in einen universellen Zusammenhang unmittelbar anschaulich-verständlicher, konkreter | „Ursachen“ und „Wirkungen“ zwingt sie zu stets verfeinerter Herausarbeitung von Begriffen, welche der überall individuellen Realität der Wirklichkeit durch Auslese und Zusammenschluß sol­ cher Merkmale, die wir als „charakteristisch“ beurteilen, sich fortgesetzt annähern.

32 Zur Unterscheidung von Ding- und Relationsbegriffen vgl. Rickert, Grenzen, S.  75 ff. 33  Weber folgt Rickert, Grenzen, S.  305 ff.

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Ihr spezifisches6) logisches Mittel ist daher die Bildung von Re­lationsbegriffen7) mit stets größerem Inhalt 8) und deshalb stets kleinerem Umfang9); ihre spezifischen10) Produkte sind, soweit sie überhaupt den Charakter von Begriffen haben, individuelle Ding­ begriffe11) von universeller (wir pflegen zu sagen „historischer“) Bedeutung. Ihr Arbeitsgebiet ist gegeben, wo das Wesentliche, d. h. das für uns Wissenswerte an den Erscheinungen, nicht mit der Einordnung in einen Gattungsbegriff erschöpft ist, die konkrete Wirklichkeit als solche uns interessiert. So sicher es nun ist, daß außer der reinen Mechanik einerseits, gewissen Teilen der Geschichtswissenschaft andererseits, keine der empirisch vorhandenen „Wissenschaften“, deren Arbeitsteilung ja | auf ganz anderen, oft „zufälligen“ Momenten beruht, nur unter dem einen oder nur unter dem anderen Zweckgesichtspunkt ihre 6)  Wohlgemerkt: nicht ihr ausschließlich oder auch nur überwiegend verwendetes Mittel, sondern dasjenige, welches sie von den exakten Naturwissenschaften unter­ scheidet. 7)  Begriffen, welche die konkrete historische Erscheinung einem konkreten und individuellen, aber möglichst universellen Zusammenhang einordnen.34 8)  Indem mit fortschreitender Erkenntnis der Zusammenhang, dem die Erscheinungen eingeordnet werden, in stets zunehmendem Maße in seinen charakteristischen Zügen erkannt wird. 9)  Indem mit zunehmender Erkenntnis des Charakteristischen der Erscheinung ihr individueller Charakter notwendig zunimmt. 10)  Wie Anmerkung 6.35 11)  In dem – für den gewöhnlichen Sprachgebrauch ungewöhnlichen – Sinn des Wortes, welcher den Gegensatz gegen naturalistische Relationsbegriffe bezeichnet und z. B. das „Charakter“-Bild einer konkreten „Persönlichkeit“ einschließt. – Der Terminus „Begriff“, heute so umstritten wie je, ist hier wie weiterhin für jedes durch logische Bearbeitung einer anschaulichen Mannigfaltigkeit zum Zweck der Erkenntnis des We­ sentlichen entstehende, wenn auch noch so individuelle Gedankengebilde gebraucht. Der historische „Begriff“ Bismarck z. B. enthält von der anschaulich gegebenen Persönlichkeit, die diesen Namen trug, die für unsere Erkenntnis wesentlichen Züge, hineingestellt als einerseits bewirkt, andererseits wirkend in den gesellschaftlich-historischen Zusammenhang. Ob auf die prinzipielle Frage, welches jene Züge sind, die Methodik eine Antwort bereit halten kann, ob es also ein allgemeines methodisches Prinzip gibt, nach welchem sie aus der Fülle der wissenschaftlich gleichgültigen herausgelesen werden, bleibt vorerst dahingestellt. (S[iehe] dagegen z. B. E[duard] Meyer a. a. O.)36 |

34  Vgl. oben, S.  47, Anm.  32. 35  Oben, Fn.  6. 36  Meyer, Theorie.

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Begriffe bilden kann – es wird davon noch zu reden sein37 –, so sicher ist doch, daß jener Unterschied in der Art der Begriffsbildung an sich ein grundsätzlicher ist, und daß jede Klassifikation der Wissenschaften unter methodischen Gesichtspunkten ihn berücksichtigen muß12). Da nun Roscher seine eigene Methode als „historisch“38 bezeichnet, müßte offenbar der Nationalökonomie bei ihm ausschließlich die Aufgabe zufallen, nach Art der Geschichtswissenschaft und mit den gleichen Mitteln wie diese die volle Wirklichkeit des Wirtschaftslebens anschaulich zu reproduzieren, im Gegensatz zu dem Streben der klassischen Schule,39 das gesetzlich gleichmäßige Walten einfacher Kräfte in der Mannigfaltigkeit des Geschehens aufzudecken. In der Tat findet sich bei Roscher gelegentlich die allgemein gehaltene Bemerkung, die Nationalökonomie habe „die Verschie­ denheit der Dinge mit demselben Interesse zu studieren wie die Ähnlichkeiten“.40 Mit Befremden wird man daher S.  150 des „Grundrisses“41 die Bemerkung lesen, daß die Aufgaben der „historischen“ Nationalökonomie vor Roscher besonders durch Adam Smith, Malthus und Rau gefördert worden seien, und (das[elbst] S.  V) die beiden letzteren als diejenigen Forscher bezeichnet finden, denen der Verfasser sich besonders nahestehend fühle. Nicht minder erstaunlich muß es berühren, wenn S.  2 die Arbeit des Naturforschers und des Historikers als einander ähnlich, S.  4 die Politik (deren Teil die „Staatswirtschaftslehre“42 ist) als die Lehre von den Entwickelungsgesetzen des Staates bezeichnet wird, wenn weiterhin Roscher – wie bekannt 12)  Ich glaube , vorstehend mich ziemlich sinngetreu an die wesentlichen Gesichts- A 7 [] punkte der früher zitierten Arbeit Rickerts43 angeschlossen zu haben, soweit sie für uns von Belang sind. Es ist einer der Zwecke dieser Studie, die Brauchbarkeit der Gedanken dieses Autors für die Methodenlehre unserer Disziplin zu erproben. Ich zitiere ihn daher nicht bei jeder einzelnen Gelegenheit erneut, wo dies an sich zu geschehen hätte.

37  Unten, S.  61 ff. 38  Vgl. Roscher, Grundriß, S.  1 f. (§  1). 39  Vgl. oben, S.  42 f. mit Anm.  9. 40  Vgl. Roscher, System I2, S.  42 (§  26). 41  Vgl. Roscher, Grundriß, S, 150. 42  Roscher, ebd., S.  4, spricht von „Staatswirthschaft“. 43  Rickert, Grenzen; zitiert oben, S.  45, Fn.  5.

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– geflissentlich immer wieder von „Naturgesetzen“ der Wirtschaft spricht,44 und wenn endlich S. IV geradezu die Erkenntnis des Gesetzmäßigen in der Masse der Erscheinungen als die Erkenntnis des Wesentlichen bezeichnet13) und als einzig denkbare | Aufgabe aller Wissenschaft vorausgesetzt wird14). Da nun wirkliche „Naturgesetze“ des Geschehens nur auf der Grundlage begrifflicher Abstraktionen unter Eliminierung des „historisch Zufälligen“ formuliert werden könnten,45 so müßte danach der letzte Zweck der nationalökonomischen Betrachtung die Bildung eines Systems von Gattungs- und Gesetzes-Begriffen und zwar von logisch möglichst

13) Die praktische Wirkung einer derartigen Identifikation, wenn mit ihr einmal Ernst gemacht wird, auf die Art der historischen Darstellung kann man sich wohl am A 8 leichtesten an Lamprechts Deutscher Geschichte, 1. Ergänzungsband, | verdeutlichen, wo gewisse Eintagsfliegen der deutschen Literatur als „entwickelungsgeschichtlich wichtig“ bezeichnet werden,46 weil ohne ihre – aus diesem Grunde theoretisch wertvolle – Existenz der angeblich gesetzlich gleichmäßige Ablauf der verschiedenen „Impressionismen“47 etc. in der Sozialpsyche nicht so konstruiert werden könnte, wie es der Theorie entspricht, und wo andererseits Persönlichkeiten, die wie Klinger, Böcklin u. a. der Theorie lästig sind, gewissermaßen als Mörtel in die Fugen zwischen die Konstruktionsteile geschoben werden: sie sind dem Gattungsbegriff „Übergangsidealisten“48 eingeordnet – und wo auch die Bedeutung von R[ichard] Wagners Lebenswerk „steht und fällt“ – nicht etwa mit dem, was es uns bedeutet, sondern mit der Frage, ob es in einer bestimmten theoretisch postulierten „Entwickelungs“-Linie liegt. 49 14)  Jene oben erwähnte Bemerkung50 dagegen hat Roscher wenigstens in die prinzipiellene Erörterungen seines „Systems“ nicht aufgenommen, woraus allein schon hervorgeht, daß es sich dabei und bei gelegentlichen ähnlichen Äußerungen nicht um Aufstellung eines klaren methodischen Prinzips handelte.

e A: prinzipielle   44  Vgl. Roscher, System I2, S.  21 f. (§  13), und Roscher, System I23, S.  37 (§  13). Für Roscher ist ein „Naturgesetz“ eine „Regelmäßigkeit“, die „nicht auf menschlicher Absicht beruhet“, z. B., „daß sich in großen Ländern die (gewiß meist freiwilligen) Heirathen und Verbrechen in ihrer Vertheilung auf die verschiedenen Altersklassen weit regelmäßiger von Jahr zu Jahr wiederholen, als die (gewiß meist unfreiwilligen) Todesfälle“. 45  Möglicherweise referiert Weber auf das Kapitel „Zufall und Gesetz“ in Windelband, Zufall, S.  26 ff. 46  Lamprecht, Geschichte E1, S.  261, mit Bezug auf Richard Dehmel. 47  Lamprecht benutzt den Begriff Impressionismus im Singular, versehen mit Adjektiven wie physiologisch, psychologisch, neurologisch, idealistisch usw. Dehmels Werk wird als „psychologischer Impressionismus“ bezeichnet. Vgl. ebd. 48  Ebd., S.  142 f., 150 ff., 167 ff. Zum Begriff „Übergangsgeschöpf“ vgl. ebd., S.  148. 49  Ebd., S.  14; mit Anstreichungen im Handexemplar Max Webers, Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München. 50  Oben, S.  49 f.

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vollkommenen, das heißt möglichst aller individuellen „Zufälligkei­ ten“ entkleideten, also möglichst abstrakten Begriffen sein, obwohl doch Roscher gerade diesen Zweck prinzipiell abgelehnt zu haben schien.51 Allein, es schien eben nur so. Die Kritik Roschers richtete sich in Wahrheit nicht gegen die logische Form der klassischen Lehre, sondern gegen zwei ganz andere Punkte, nämlich 1. gegen die Deduktion von absolut geltenden praktischen Normen aus abstrakt-begrifflichen Obersätzen – dies ist es, was er „philosophische“ Methode nennt –,52 2. gegen das bisher geltende Prinzip der Stoffauswahl der Nationalökonomie. Roscher zweifelt prinzipiell nicht daran, daß der Zusammenhang der wirtschaftlichen Erscheinungen nur als ein System von Gesetzen begriffen werden könne und solle15). „Kausalität“ und „Gesetzlichkeit“ ist ihm identisch, erstere besteht nur in Form der letzteren16). Es soll aber – darauf 15)  Ganz in Übereinstimmung mit Rau fordert er, daß „unsere Lehren, Naturgesetze u. s. w. immer so gehalten sein müssen, daß sie von den neueintretenden Veränderungen der Kameraldisziplin nicht gesprengt werden“. (S[iehe] Rau in seinem Archiv 1835, S.  37. Roscher daselbst 1845, S.  158.)53 16) Die gleiche Anschauung – wennschon mit einigen Vorbehalten bezüglich der psychologischen Motivation – z. B. bei Schmoller in der Rezension des Kniesschen Werkes (in seinem Jahrbuch 1883,54 abgedruckt in „Zur Literatur der | Staats- und So- A 9 zialwissenschaften“ S.  203 ff., vergl. insbes. S.  209)55 und bei Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft, Vorrede zur ersten Auflage: „Sämtliche Vorträge beherrscht eine einheitliche Auffassung vom gesetzmäßigen Verlaufe der wirtschaftsgeschichtlichen Ent­ wicke­lung.“56 Da die Anwendung des Terminus „Gesetz“ auf eine einmalige Entwickelung auffällig wäre, so kann nur entweder gemeint sein: daß der gesetzlich bestimmte Ablauf der Entwickelung sich – wie Roscher dies annimmt – überall da in den wissen-

51 Für Roscher, System I23, S.  64 f. (§  22), sind Abstraktionen ein „unentbehrliches Stadium in den Vorarbeiten des Nationalökonomen“, von dem man „nicht bloß im Uebergange zur Praxis, sondern schon in der fertigen Theorie erst wieder zurückkommen muß auf die unendliche Mannichfaltigkeit des wirklichen Lebens“. In §  22 von Roscher, System I2, findet sich diese Passage noch nicht. 52 Für Roscher, Grundriß, S.  1 f. (§  1), strebt diese Methode nach einer Lehre des „Idealstaates“. In Roscher, System I2, S.  38 (§  23), wird die philosophische Methode „idealistische Methode“ genannt; sie führt zu „Idealschriften“ mit Angaben, wie „die Volkswirthschaft (der Staat, das Recht etc.) sein solle“. 53  Roscher, Ideen, S.  159. Die Übereinstimmung mit Rau besteht in der Verwendung des Gesetzesbegriffs. Vgl. Rau, Nutzen, S.  4: „Naturgesetze des Güterverkehrs“, S.  6: „Gesammtheit der volkswirthschaftlichen Gesetze“, S.  37: „Gesetze des Verkehrs“. 54  Schmoller, Knies1. 55  Für Schmoller, Knies2, S.  209, sind die „psychologischen Gesetze der Motivation andere, als die Naturgesetze der äußeren Welt“, aber „der Satz der Kausalität gilt in seiner unerbittlichen Notwendigkeit für beide Gebiete gleichmäßig“. 56  Bücher, Entstehung, S.  VI.

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kommt es Roscher an – die | wissenschaftliche Arbeit das Walten der Gesetze nicht nur im Nebeneinander, sondern ebenso im Nacheinander der Erscheinungen aufsuchen, neben dem gesetzlichen Zusammenhang der Gegenwartserscheinungen auch und vor allem die Entwickelungsgesetze des geschichtlichen Ablaufs der Erscheinungen feststellen. Es entsteht nun bei diesem Standpunkte Roschers die Frage: Wie denkt er sich das prinzipielle Verhältnis zwischen Gesetz und Wirklichkeit im Ablauf der Geschichte? Ist es sicher, daß derjenige Teil der Wirklichkeit, den Roscher in sein Netz von Gesetzen einfangen will, derart in das zu bildende Begriffsystem eingehen kann, daß das letztere wirklich das für unsere Erkenntnis Wesentliche der Erscheinungen enthält? Und wie müßten, wenn das der Fall sein soll, diese Begriffe in logischer Hinsicht beschaffen sein? Hat Roscher diese logischen Probleme als solche erkannt? – Roschers methodisches Vorbild war die Arbeitsweise der deutschen historischen Juristenschule57 auf deren Methode er sich, als der seinigen analog, ausdrücklich beruft.58 In Wahrheit handelt es schaftlich wesentlichen, von B[ücher] behandelten Punkten wiederhole, wo eine Entwickelung überhaupt stattfinde, – oder (wahrscheinlicher) es ist, wie so oft, „gesetzliche“ und „kausale“ Bedingtheit identifiziert, weil wir von „Kausalgesetz“ zu sprechen pflegen.59 |

57  Dieser von Friedrich Carl von Savigny und Karl Friedrich Eichhorn begründeten Schule geht es um das historische Verständnis konkreter Rechte, die sie als Produkte des jeweiligen Volksgeistes betrachtet. Vgl. Savigny, Friedrich Carl von, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 3.  Aufl. – Heidelberg: J. C. B. Mohr 1840; Eichhorn, Karl Friedrich, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, 3 Bände, 3. Ausgabe. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1821–1823. 58  Roscher, Grundriß, S. V: „Man sieht, diese [historische] Methode will für die Staatswirthschaft etwas Ähnliches erreichen, was die Savigny-Eichhornsche Methode für die Jurisprudenz erreicht hat.“ 59  In der Philosophie wird die Annahme, daß alles Geschehen seine Ursache hat, weithin als Kausalgesetz bezeichnet. Dagegen bezeichnet Rickert, Grenzen, S.  412 f., diese Annahme als „Kausalprinzip“, um Verwechslungen mit dem Begriff „Naturgesetz“ zu vermeiden; der „Begriff der Kausalität“ darf nicht mit dem des „Naturgesetzes“ identifiziert werden, denn es gibt noch eine andere, grundlegendere Form von Kausalität, nämlich den „historische[n] Kausalzusammenhang“. Rickert, ebd., S.  31 ff., 336 ff., geht davon aus, daß die empirische Wirklichkeit als unmittelbar erfahrene Sinnenwelt aus anschaulichen einzelnen Dingen und Vorgängen besteht, die sich alle unterscheiden. Daher ist für ihn, ebd., S.  413 f., 420, auch „jede Ursache und jede Wirkung von jeder anderen Ursache und jeder anderen Wirkung verschieden“; solche „individuelle[n] Kausalzusammenhänge“ sind die Basis aller Kausalbetrachtung: Be-

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sich jedoch – wie im wesentlichen schon Menger erkannt hat60 – um eine charakteristische Umdeutung dieser Methode. Savigny und seiner Schule kam es in ihrem Kampfe gegen den gesetzgeberischen Nationalismus der Aufklärungszeit auf den Nachweis des prinzipiell irrationalen, aus allgemeinen Maximen nicht deduzierbaren Charakters des in einer Volksgemeinschaft entstandenen und geltenden Rechtes an; indem sie dessen untrennbaren Zusammenhang mit allen übrigen Seiten des Volkslebens betonten, hypostasierten sie, um den notwendig individuellen Charakter jedes wahrhaft volkstümlichen Rechts verständlich zu machen, den Begriff des – notwendig irrational-individuellen – „Volksgeistes“ als des Schöpfers von Recht, Sprache und den übrigen Kulturgütern der Völker.61 Dieser Begriff | „Volksgeist“ selbst wird dabei17) nicht als ein provisorisches Behältnis, ein Hülfsbegriff zur vorläufigen Bezeichnung einer noch nicht logisch bearbeiteten Vielheit anschaulicher Einzelerscheinungen,62 sondern als ein einheitliches reales Wesen metaphysischen Charakters behandelt und nicht als Resultante unzähliger Kultureinwirkungen, sondern umgekehrt als der Realgrund63 aller einzelnen Kulturäußerungen des Volks angesehen, welche aus ihm emanieren.

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17)  Keineswegs überall und bei allen Vertretern der historischen Juristenschule, wohl A 10 aber bei ihren Nachfolgern auf dem Gebiete der Nationalökonomie.

trachtet man sie auf ihre Besonderheit hin, spricht man von „historische[r]“ Kausalität; betrachtet man sie auf ihre Allgemeinheit hin, mithin darauf, „was ihnen mit anderen Kausalzusammenhängen gemeinsam ist“, um ein „Kausalgesetz“ zu formulieren, spricht man von „naturwissenschaftliche[r] Kausalität“. Beide Formen von Kausalität sind Ausprägungen jenes Kausalprinzips. 60  Nach Menger, Untersuchungen, S.  222, besteht für Savigny und Eichhorn die Aufgabe ihrer Forschung keineswegs in „der Vergleichung der Rechtsentwickelung aller Völker“, um „Entwickelungsgesetze des Rechtes zusammenzustellen“; was sie interessiere, sei „das historische Verständnis concreter Rechte“. 61  Für Savigny, Friedrich Carl von, System des heutigen Römischen Rechts, Band 1. – Berlin: Veit & Comp. 1840, S.  14, ist es „der in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende und wirkende Volksgeist, der das positive Recht erzeugt“. 62  Vgl. in diesem Sinne Rickert, Grenzen, S.  584: „Der ‚Geist‘ eines Volkes ist uns die Kultur eines Volkes.“ 63  Vgl. Crusius, Christian August, Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß. – Leipzig: J. F. Gleditsch 1747, S.  255: „Ein Grund ist I) entweder ein Realgrund (Principium effendi vel fiendi), wodurch eine Sache ausserhalb unseren Gedanken ganz, oder gewisser massen, hervorgebracht, oder möglich gemacht wird. Oder er ist ein Idealgrund oder Erkenntnisgrund (Principium cognoscendi), durch welchen die Erkenntniß von einer Sache in dem Verstande mit Ueberzeugung hervorge-

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Roscher stand durchaus innerhalb dieses in seiner Entstehung in letzter Linie auf gewisse Gedankengänge Fichtes64 zurückgehenden Vorstellungskreises; auch er glaubte, wie wir sehen werden,65 an die metaphysische Einheitlichkeit des „Volkscharakters“18) und sah in dem „Volk“ dasjenige Individuum19), welches wie die all18)  Siehe die Ausführungen über das Verhältnis von Volkscharakter und geographischen Verhältnissen §  37 des Systems, welche in fast naiver Art die Stellung des „Volksgeistes“ als eines primären „Urelements“ gegen die Möglichkeit „materialistischer“ Deutung zu halten suchen.66 19)  Dabei haben zweifellos die Gedankengänge der Herbartschen Psychologie über das Verhältnis zwischen Individuum und Gesamtheit mitgewirkt; wie weit im einzelnen, ist schwer zu sagen und hier nicht interessant. Roscher zitiert Herbart gelegentlich (§§  16, 22).67 Die Lazarus-Steinthalsche „Völkerpsychologie“ ist dagegen bekanntlich jüngeren Datums.68

bracht wird, und wiefern etwas also betrachtet wird.“ Zum Unterschied von „Seynsgrund“ und „Erkenntnißgrund“ vgl. Schopenhauer, Arthur, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Eine philosophische Abhandlung, in: ders., Sämmtliche Werke, hg. von Julius Frauenstädt, Band 1: Schriften zur Erkenntnißlehre, 2.  Aufl. – Leipzig: F. A. Brockhaus 1891 (hinfort: Schopenhauer, Satz vom Grunde), S.  22, 130 ff. 64  In Fichtes Werk ist der Begriff „Volksgeist“ nicht belegt. Allerdings gibt es ähnliche Formulierungen, z. B. von einem „Geist“ als „durcheinander verwachsene Einheit, in der kein Glied irgend eines anderen Gliedes Schicksal für ein ihm fremdes Schicksal hält“. Vgl. Fichte, Johann Gottlieb, Reden an die deutsche Nation, 1806, in: ders., Sämmtliche Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band 7, Abt.  3: Populärphilosophische Schriften, Band 2: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte. – Berlin: Veit & Comp. 1846, S.  257–499, hier S.  267. Vgl. auch Lassalle, Ferdinand, Die Philosophie Fichte’s und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes. Festrede, gehalten bei der am 19. Mai 1862 von der Philosophischen Gesellschaft und dem Wissenschaftlichen Kunst-Verein in dem Arnim’schen Saale veranstalteten Fichtefeier. – Berlin: Jansen 1862. 65  Unten, S.  75 f. 66 Unter „materialistisch“ versteht Roscher, System I2, S.  58 ff. (§  37), den Versuch von „Franzosen“ wie Jean Bodin, Charles Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu, Pierre-Jean-Georges Cabanis etc., den „Einfluß der Natur auf die Menschen“ nachzuweisen. Er selbst möchte „nicht allzu materialistisch“ sein, denn „jedes Volk ist in einer gewissen Periode seines Lebens gewandert“ und „eine höhere Hand“ hat ein jedes „in solche äußere Umstände versetzt, wie sie der Entfaltung aller seiner Anlagen am günstigsten sind“. Der Begriff „Volksgeist“ fällt in einer Anmerkung: „Selbst die Sprache, dieser allgemeinste und doch zugleich genaueste Ausdruck des Volksgeistes, bietet einen sehr analogen Gegensatz dar zwischen Gebirgs- und Küstenlandschaften“. 67  Roscher, System I2, S.  26 (§  16) und S.  36 f. (§  22). 68  Von Johann Friedrich Herbart, Wilhelm von Humboldt u. a. ausgehend, entwickelten Moritz Lazarus und Heymann Steinthal ihre Völkerpsychologie als Wissenschaft, die das Wesen und Tun des Volksgeistes in der gesetzmäßigen inneren Tätigkeit der Individuen psychologisch erkennen sollte. Besonderes Augenmerk galt der Sprache.

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mähliche Entwickelung der Staatsform und des Rechts so die der Wirtschaft an sich erlebt als einen Teil seines nach Analogie der Lebensentwickelung des Menschen gedachten Lebensprozesses. „Die Volkswirtschaft entsteht mit dem Volke. Sie ist ein natürliches Produkt der Anlagen und Triebe, welche den Menschen zum Menschen machen20).“ Der Begriff „Volk“ selbst wird dabei nicht weiter erörtert. Daß er nicht als abstrakter, inhaltsarmer Gattungsbegriff gedacht werden soll, scheint sich schon daraus zu ergeben, daß Roscher gelegentlich (§   12 Anm.   2) der Verdienste Fichtes und Adam Müllers gegenüber der „atomistischen“ Auffassung der Nation als eines „Haufens von Individuen“ gedenkt.69 Er ist (§  13) zu vorsichtig, den Begriff „Organismus“ ohne Vorbehalt als eine Erklärung des Wesens des „Volkes“ oder der „Volkswirtschaft“ anzusehen, betont vielmehr, daß er jenen Begriff nur als „den kürzesten gemeinsamen Ausdruck vieler Probleme“ verwenden wolle;70 allein das eine geht aus diesen Äußerungen jedenfalls hervor, daß ihm die rein rationalistische Betrachtung des „Volks“ als der jeweiligen Gesamtheit der politisch | geeinten Staatsbürger nicht genügt. An Stelle dieses durch Abstraktion gewonnenen Gattungsbegriffs trat ihm vielmehr die anschauliche Totalität eines als Kulturträger bedeutungsvollen Gesamtwesens entgegen. Die logische Bearbeitung dieser unendlich mannigfaltigen Totalitäten müßte nun, um historische, nicht durch Abstraktion entleerte Begriffe zu bilden, aus ihnen die für den konkreten Zusammenhang, der jeweils zur Erörterung steht, bedeutungsvollen Bestandteile herausheben. Roscher war sich des prinzipiellen Wesens dieser Aufgabe wohl bewußt: ihm ist das logische Wesen der historischen Begriffsbildung keineswegs fremd gewesen. Er weiß, daß eine Auslese aus der Mannigfaltigkeit des anschaulich 20)

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Vgl. Lazarus, Moritz, Ueber den Begriff und die Möglichkeit einer Völkerpsychologie, in: Deutsches Museum, Jg. 1, 1851, S.  112–126. Der erste, auf 1860 datierte Band der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft erschien ab 1859. Roscher, System I23, S.  35 (§  12), bezieht sich auf Lazarus, Moritz, Ueber das Verhältniß des Einzelnen zur Gesammtheit, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Band 2, 1862, S.  393–453. 69  Roscher, System I2, S.  19 (§  12; in dieser Auflage fälschlicherweise als §  13 bezeichnet). 70  Ebd., S.  20 (§  13). 71  Ebd., S.  22 (§  14).

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Gegebenen in der Richtung nicht des Gattungsmäßigen, sondern des „historisch“ Wesentlichen ihre Voraussetzung ist21). Aber hier tritt nun die „organische“ Gesellschaftstheorie22) mit ihren unvermeidlichen biologischen Analogien dazwischen und erzeugt bei ihm – wie bei so vielen modernen „Soziologen“72 – die Vorstellung, daß beides notwendig identisch sei, und also das Wiederkehrende in der Geschichte als solches das allein Bedeutungsvolle sein könne23). Roscher ist daher der Meinung, mit der anschaulichen Mannigfaltigkeit der „Völker“ ohne weitere Aufhellung des Be­griffes „Volk“ so umgehen zu können wie die Biologen mit der anschaulichen Mannigfaltigkeit etwa der „Elefanten“ eines A 11

21)  S[iehe] die Ausführungen über den Begriff „Dänemark“ auf S.  19 seines „Thukydides“.73 22)  Roscher zitiert, wie schon gesagt, speziell Adam Müller als denjenigen, der sich um die Auffassung von Staat und Volkswirtschaft als „neben und über den einzelnen und selbst den Generationen stehenden Ganzen“ verdient gemacht hat (System §  13, Anm.  2).74 S[iehe] aber andererseits die Vorbehalte System §  28, Anm.  1.75 23)  So schon im „Thukydides“ S.  21 trotz aller Vorbehalte auf S. XI und XII in der Vorrede und S.  20 u. 188.76

72  Gemeint ist möglicherweise Schäffle, A[lbert Eberhard Friedrich], Bau und Leben des Socialen Körpers, Band 1: Allgemeine Sociologie; Band 2: Specielle Sociologie, 2.  Aufl. – Tübingen: H. Laupp 1896. 73 Vgl. Roscher, Thukydides, S.  19: „Es ist ein großer Unterschied zwischen dem Denken eines Begriffes als solchen und dem Denken seines Inhaltes. Wenn etwa Dahlmann neben einem Jungdeutschen steht, und Beide denken den Begriff Dänemark, oder, wenn man lieber will, Danismus: wie unendlich Vieles wird dabei Dahlmann durch den Kopf gehen, wie unendlich Weniges dem jungen Deutschen! Und Beide, kann man doch sagen, haben vollständig Alles gedacht, was in Dänemark ist, gewesen ist oder künftig noch sein wird.“ Vgl. dazu Dahlmann, Friedrich Christoph, Geschichte von Dännemark, 3 Bände. – Hamburg: Friedrich Perthes 1840, 1841, 1843. Als Junges Deutschland hat man eine literarische Bewegung des Vormärz bezeichnet. 74  Weber bezieht sich hier nicht auf §  13, sondern auf §  12, der in der 2.  Aufl. fälschlicherweise als §  13 bezeichnet wird. 75  Roscher, System I2, S.  43 f. (§  28), stellt der „Selbstüberhebung“, die in der Verhöhnung niederer Kulturstufen bestehe, die „entgegengesetzte Ueberhebung“ Adam Müllers gegenüber, der die gegenwärtige Kulturstufe als „bloßen Zwischenzustand“ bezeichne, d. h. als „Uebergang der natürlichen, aber bewußtlosen ökonomischen Weisheit der Väter durch den Vorwitz der Kinder zu der verständigen Anerkennung jener Weisheit von Seiten der Enkel“. 76  Für Roscher, Thukydides, S.  21 f. und XI f., stellte Thukydides dar, was „zu allen Zeiten, unter allen Völkern und in allen Herzen wiederkehrt“.

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be­stimm­ten Typus24). Die „Völker“ sind zwar – meint er – in der Wirklichkeit untereinander ebenso verschieden wie die menschlichen Individuen, – aber wie diese Verschiedenheit die Anatomen und Physiologen77 nicht hindert, von den individuellen Differenzen bei ihrer Beobachtung zu abstrahieren, so verbietet die individuelle Eigenart der Nationen dem Geschichtstheoretiker nicht, sie als Exemplare ihrer Gattung zu behandeln und in ihrer Entwickelung unter|einander zu vergleichen, um Parallelismen derselben zu finden, die – so meint Roscher78 – durch stetige Vervollkommnung der Beobachtung schließlich zum logischen Range von „Naturgesetzen“ erhoben werden können, welche für die Gattung „Volk“ gelten. – Nun liegt es auf der Hand, daß ein Komplex von auf diesem Wege etwa gefundenen Regelmäßigkeiten, so erheblich ihr provisorischer heuristischer Wert im einzelnen Falle sein kann, nimmermehr als endgültiges Erkenntnisziel irgend einer Wissenschaft – sei sie „Natur“- oder „Geistes“-Wissenschaft, „Gesetzes“- oder „Geschichts“-Wissenschaft25) – in Betracht kommen könnte. Es

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24)  Auch Knies war, wie wir sehen werden,79 der Ansicht, daß das, was man unter einem „Volk“ verstehe, unmittelbar anschaulich-evident sei und der begrifflichen Analyse nicht bedürfe. | 25)  Die erstere Einteilung der Wissenschaften wird bekanntlich von Dilthey, die letz- A 12 tere von Windelband und Rickert in den Dienst der Aufhellung der logischen Eigenart der Geschichte gestellt.80 Daß die Art, wie uns psychische Objekte „gegeben“ sind, keinen spezifischen, für die Art der Begriffsbildung wesentlichen Unterschied gegenüber den Naturwissenschaften begründen könne, ist eine Grundthese Rickerts; 81 – daß der Gegensatz der inneren „Erlebungen“ zu den „äußeren“ Erscheinungen kein bloß „logischer“, sondern ein „ontologischer“ sei, ist (nach Dilthey)82 der Ausgangspunkt Gottls a. a. O.83 Der in dieser Studie weiterhin zu Grunde gelegte Standpunkt nähert sich dem Rickertschen insofern, als dieser meines Erachtens ganz mit Recht davon ausgeht, daß die „psychischen“ bezw. „geistigen“ Tatbestände – wie immer man diese vieldeutigen Termini abgrenzen möge – prinzipiell der Erfassung in Gattungsbegriffen

77  In Roscher, System I2, S.  42 (§  26), ist die Rede von der „Anatomie und Physiologie der Volkswirthschaft“. 78  Roscher benutzt den Begriff „Parallele“, wenn er Analogien herstellt oder Vergleiche anstellt; vgl. z. B. Roscher, Grundriß, S.  IV, und Roscher, System I2, S.  58 (§  37). 79  Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  373 f. 80  Vgl. Dilthey, Einleitung; Windelband, Geschichte; Rickert, Grenzen. 81  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  147 ff. 82  Vgl. Dilthey, Einleitung, S.  10 f. 83  Gottl, Herrschaft, S.  70.

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würde ihr, wenn | wir einmal annehmen, es sei die Auffindung

und Gesetzen durchaus ebenso zugänglich sind wie die „tote“ Natur. Denn der geringe erreichbare Grad der Strenge und der Mangel der Quantifizierbarkeit ist nichts den auf „psychische“ oder „geistige“ Objekte bezüglichen Begriffen und Gesetzen Spezifisches. Die Frage ist vielmehr nur, ob die eventuell aufzufindenden generell geltenden Formeln für das Verständnis derjenigen Bestandteile der Kulturwirklichkeit, auf die es uns ankommt, irgend welchen erheblichen Erkenntniswert haben.– Weiter ist daran festzuhalten, daß der „urwüchsige Allzusammenhang“,84 wie er in der inneren Erfahrung erlebt wird und (nach Gottls Ansicht) die Anwendung der naturalistischen Kausalbetrachtung und des naturalistischen Abstraktionsverfahrens ausschließt – in Wahrheit nur: für die Erkenntnis des uns Wesentlichen häufig unfruchtbar macht –, sich auch auf dem Boden der toten Natur (nicht nur bei biologischen Objekten, denen Gottl eine Ausnahmestellung einräumt) dann sofort einstellen würde, wenn wir einen Naturvorgang in voller konkreter Realität zu erfassen suchen würden. Daß wir dies in den exakten Naturwissenschaften nicht tun, folgt nicht aus der sachlichen Natur des ihnen Gegebenen, sondern aus der logischen Eigenart ihres Erkenntnisziels.   Andererseits bleibt auch bei grundsätzlicher Annahme des Rickertschen Standpunkts zweifellos und von Rickert selbst natürlich nicht bestritten, daß der methodische Gegensatz, auf den er seine Betrachtungen zuspitzt, nicht der einzige und für manche Wissenschaften nicht einmal der wesentliche ist. Mag man insbesondere seine These, daß die Objekte der „äußeren“ und „inneren“ Erfahrung uns grundsätzlich in A 13 gleicher Art „gegeben“ seien, annehmen, so bleibt doch, | gegenüber der von Rickert stark betonten „prinzipiellen Unzugänglichkeit fremden Seelenlebens“,85 bestehen, daß der Ablauf menschlichen Handelns und menschlicher Äußerungen jeder Art einer sinnvollen Deutung zugänglich ist, welche für andere Objekte nur auf dem Boden der Metaphysik ein Analogon finden würde, und durch welche u. a. jene eigentümliche, oft – auch von Roscher86 – hervorgehobene Verwandtschaft des logischen Charakters gewisser ökonomischer Erkenntnisse mit der Mathematik begründet wird, die ihre gewichtigen, wenn schon oft (z. B. von Gottl)87 überschätzten Konsequenzen hat. Die Möglichkeit dieses Schrittes über das „Gegebene“ hinaus, den jene Deutung darstellt, ist dasjenige Spezifikum, welches trotz Rickerts Bedenken es rechtfertigt, diejenigen Wissenschaften, die solche Deutungen methodisch verwenden, als eine Sondergruppe (Geisteswissenschaften) zusammenzufassen. In den Irrtum, für sie eine der Rolle der Mathematik entsprechende Grundlage in einer erst noch zu schaffenden systematischen Wissenschaft der Sozialpsychologie für nötig zu halten, braucht man, wie später zu erörtern sein wird, deshalb noch nicht zu verfallen.

84  In Gottl, Herrschaft, S.  128, ist die Rede von einem „Allzusammenhang“. 85  Rickert, Grenzen, S.  187. 86  Vgl. z. B. Roscher, System I2, S.  36 (§  22): „Der allgemeine Theil der Nationalökonomik hat unverkennbar manche Aehnlichkeiten mit der Mathematik. Er wimmelt, sowie diese, von Abstractionen.“ 87 Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  219, über das „wortfreie Denken“ der Mathematik im „Glanzbereiche des ‚in sich gekehrten Handelns‘“.

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massen­hafter „empirischer“ Gesetze88 im geschichtlichen Ablauf gelungen, vor allem jede Form der kausalen Durchsichtigkeit89 noch abgehen, und die wissenschaftliche Bearbeitung, die nun erst zu beginnen hätte, und für die jene Parallelismen nur das Material bilden würden, müßte sich dann vor allem über die erstrebte Art der Erkenntnis entscheiden. Entweder würde exakte Erkenntnis im naturwissenschaftlichen Sinn gesucht. Dann müßte die logische 88  In seinen Kritiken an Knies und Stammler unterscheidet Weber zwischen Naturgesetzen und empirischen Gesetzen. Naturgesetze sind ausnahmslos geltende generelle Aussagen über kausale Verknüpfungen. Empirische Gesetze sind ebenfalls ausnahmslos geltende generelle Aussagen über Relationen von Erscheinungen, aber die zugrunde liegenden Kausalverknüpfungen sind (noch) nicht aufgeklärt. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  360, und ders., Stammler, unten, S.  530. Weber gibt keine Quellen an. Es ist wahrscheinlich, daß er sich an Sigwart orientiert, in dessen Logik der §  96 („Gesetze, welche nicht Causalgesetze sind“) mit „Sog. empirische Gesetze“ überschrieben ist: „sie drücken nur Beziehungen der Abhängigkeit einer Veränderung von bestimmten Bedingungen aus, geben aber an sich noch keinen Aufschluss über die darin wirksame Ursache“. Vgl. Sigwart, Logik II (wie oben, S.  5, Anm.  31), S.  501. Auf Sigwarts Logik (mit Bezug auf Sigwart, Logik II, S.  627 f.) hat Weber bereits in seinen Vorlesungen über Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  89, verwiesen, wo sich (ebd., S.  95) auch ein Verweis auf eine andere mögliche Quelle findet, nämlich: Neumann, Friedrich Julius, Naturgesetz und Wirtschaftsgesetz, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Jg. 48, 1892, S.  405–475, hier S.  408 f. Neumann bestimmt die durch „Strenge“ bzw. „Ausnahmslosigkeit“ charakterisierten „Naturgesetze“ als „kausale Gesetze“, d. h. als „Ausdruck für eine gleichmässige Wiederkehr solcher Vorgänge, die als Glieder ursächlicher Zu­ sammenhänge erkannt worden sind“, während „empirische Gesetze“ „nur thatsäch­ lich obwaltende Zusammenhänge zum Ausdruck bringen“, also „Regeln“ sind, bei denen „‚der mühsame Aufbau von Ursache und Wirkung‘ bisher nicht gelang“. So waren Keplers Gesetze empirische Gesetze, bis es Newton gelang, sie aus einem kausalen Gesetz – dem der Gravitation – abzuleiten. Als mögliche Quelle kommt auch Sombart in Betracht, der empirische Gesetze als „soi-disant ‚Gesetze‘“ bezeichnet und als „die bloße Feststellung einer regelmäßigen Wiederkehr von Erscheinungen ohne die Erkenntnis der sie bewirkenden Ursachen“ bestimmt. Vgl. Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.  14, Anm.  94), S. XVII. Für Menger, Untersuchungen, S.  25, gibt es hingegen Gesetze von unterschiedlicher „Strenge“: Bei „Naturgesetze[n]“ sind „Ausnahmen“ „geradezu ausgeschlossen“, während „empirische Gesetze“ „allerdings Ausnahmen aufweisen“. 89  Möglicherweise referiert Weber auf Schopenhauer oder Dilthey. Für Schopenhauer gibt es keine „vollkommene Durchsichtigkeit“ in Sachen Kausalität, weil die im „Ding an sich“ wirkenden Kräfte „qualitates occultae“ bleiben. Vgl. Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 1: Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält, in: ders., Sämmtliche Werke, hg. von Julius Frauenstädt, Band 2, 2.  Aufl. – Leipzig: F. A. Brockhaus 1891, S.  144 f. Dilthey erachtet Kausalität weder im Sinne eines „inneren Bandes […] des Naturlaufs“ noch im Sinne „apriorische[r] Formen der Intelligenz“ für „gänzlich durchsichtig“: Der Begriff Kausalität habe „einen dunklen Kern einer nicht in sinnliche oder Verstandeselemente auflösbaren Thatsächlichkeit“. Vgl. Dilthey, Einleitung, S.  509 f.

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Bearbeitung sich auf zunehmende Eliminierung des noch verbliebenen Individuellen und zunehmende Unterordnung der gefundenen „Gesetze“ unter noch allgemeinere als deren – unter relativ individuellen Voraussetzungen Platz greifender – Spezialfall, damit aber auf zunehmende Entleerung der zu bildenden Allgemeinbegriffe und zunehmende Entfernung von der empirisch-verständlichen Wirklichkeit richten, – das logische Ideal würde ein System absolut allgemeingültiger Formeln bilden, welche das Gemeinsame alles historischen Geschehens abstrakt darstellen würden. Die historische Wirklichkeit, auch ihre für uns noch so bedeutsamen „welthistorischen“ Vorgänge und Kulturerscheinungen, würde selbstverständlich aus diesen Formeln niemals deduziert werden können26). Die kausale „Erklärung“ würde lediglich in der | Bildung allgemeinerer Relationsbegriffe bestehen, mit dem Bestreben, möglichst alle Kulturerscheinungen auf reine Quantitätskategorien irgend welcher Art, z. B. „Intensitäts“-Verhältnisse möglichst weniger, möglichst einfacher psychischer „Faktoren“, zu reduzieren. Die Frage, ob eine erhöhte empirische „Verständlichkeit“ des Ablaufs der uns umgebenden Wirklichkeit in ihrem konkreten kausalen Zusammenhang erzielt würde, wäre dabei notwendigerweise methodisch gleichgültig. Würde dagegen geistiges Verständnis90 jener uns umgebenden Wirklichkeit in ihrem notwendig individuell bedingten Gewordensein und ihrem notwendig individuellen Zusammenhang

26)  Das wäre nicht nur faktisch, sondern nach dem logischen Wesen „gesetzlicher“ Erkenntnis prinzipiell unmöglich, da die Bildung von „Gesetzen“ – Relationsbegriffen von genereller Geltung – mit Entleerung des Begriffsinhalts durch Abstraktion identisch ist. Das Postulat der „Deduktion“ des Inhalts der Wirklichkeit aus Allgemeinbegriffen wäre, wie später noch an einem Beispiel zu erörtern sein wird,91 selbst als in der Unendlichkeit liegendes Ideal gedacht sinnlos. Hier hat meines Erachtens auch A 14 Schmoller in seiner Entgegnung gegen Menger | (Jahrbuch 1883, S.  979)92 in dem Satze: „Alle vollendete Wissenschaft ist deduktiv, weil, sobald man die Elemente vollständig beherrscht, auch das komplizierteste nur Kombination der Elemente sein kann,“ Konzessionen gemacht, die nicht einmal auf dem eigensten Anwendungsgebiete der exakten Gesetzesbegriffe gelten. Wir kommen darauf später zurück.93

90  Möglicherweise referiert Weber auf Menger, Untersuchungen, S.  14. Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  198 mit Anm.  85. 91  Unten, S.  80 ff. 92  Schmoller, Methodologie, S.  979. 93  Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  176 ff., 226.

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erstrebt, dann müßte die notwendige Bearbeitung jener Parallelismen unter den alleinigen Zweckgesichtspunkt gestellt werden, die charakteristische Bedeutung einzelner konkreter Kulturelemente in ihren konkreten, der „inneren Erfahrung“27) verständlichen Ursachen und Wirkungen bewußt werden zu lassen. Die Parallelismen selbst könnten dann lediglich Mittel sein zum Zweck des Vergleichs mehrerer historischer Erscheinungen miteinander in ihrer vollen Individualität zur Entwickelung dessen, was an einer jeden einzelnen von ihnen das Charakteristische ist. Sie wären ein Umweg von der unübersehbaren und deshalb ungenügend verständlichen individuellen Mannigfaltigkeit des anschaulich Gegebenen zu einem nicht minder individuellen, aber infolge der Heraushebung der für uns bedeutsamen Elemente übersehbaren und deshalb ver­ ständlichen Bilde derselben. Sie wären mit anderen Worten eins von vielen möglichen Mitteln zur Bildung individueller Begriffe. Ob und wann die Parallelismen aber ein geeignetes Mittel zu diesem Zweck sein könnten, wäre durchaus problematisch und nur für den einzelnen Fall zu entscheiden. Denn dafür, daß gerade das Bedeutsame und in den konkreten Zusammenhängen Wesentliche in dem gattungsmäßig in den Parallelismen Erfaßbaren enthalten wäre, ist natürlich a priori nicht die geringste Wahrscheinlichkeit gegeben. Würde dies verkannt, dann könnten die Parallelismen zu den ärgsten Verirrungen der Forschung Anlaß geben und haben dies tatsächlich nur zu oft getan. | Und vollends davon, daß als letzter Zweck der Begriffsbildung die Unterordnung der mit Hülfe der Parallelismen zu gewinnenden Begriffe und Gesetze unter solche von immer generellerem Geltungsbereich (und also immer abstrakterem Inhalt) zu denken sei, könnte dann selbstverständlich keine Rede sein. Eine dritte Möglichkeit neben den beiden besprochenen: entweder Auslese des Gattungsmäßigen als des Erkenntniswerten und Unterordnung desselben unter generell geltende abstrakte For­ meln, oder: Auslese des individuell Bedeutsamen und Einordnung 27) 

Wenn wir diesen Ausdruck hier vorerst ohne nähere Deutung acceptieren.94 |

94  Dilthey, Einleitung, S.  XVII, zufolge besitzen wir die „Realität […] nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Thatsachen des Bewußtseins“; deren Analyse sei das „Zentrum der Geisteswissenschaften“.

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in universale – aber individuelle – Zusammenhänge28), gäbe es für die Erscheinungen der historischen Kulturentwickelung offenbar dann, wenn man sich auf den Boden der Hegelschen Begriffslehre stellte und den „hiatus irrationalis“95 zwischen Begriff und Wirklichkeit zu überwinden suchte durch „Allgemein“-Begriffe, welche als metaphysische Realitäten die Einzeldinge und -vorgängef als ihre Verwirklichungsfälle umfassen und aus sich hervorgehen lassen. Bei dieser „emanatistischen“96 Auffassung des Wesens und der Geltung der „höchsten“ Begriffe ist es dann logisch zulässig, das A 15

28)  Über die so einfachen und doch so oft verkannten Unterschiede der Bedeutungen von „allgemein“ voneinander, mit denen wir immer wieder zu tun haben, ist grundlegend der Aufsatz von Rickert, Les quatre modes de l’universel en histoire, in der Revue de synthèse historique 1901.97

f A: -Vorgänge   95  Für Lask, Fichte, S.  169 f., hielt Fichte in Abgrenzung von Hegels Einheit von Begriff und Wirklichkeit mit Kant an der Unerkennbarkeit der Wirklichkeit an sich fest. Die Wirklichkeit könne „in ihrer Unberechenbarkeit nur abgewartet und hingenommen werden“: „Dieses plötzliche Abreißen aller Fäden der Spekulation bei der Tatsache der brutalen Wirklichkeit nennt Fichte den absoluten, durch keine Reflexion auszufüllenden, sondern eben das Letzte, Unerreichbare des Wissens selbst ausmachenden ‚hiatus‘“. Zwar mag man sich die Wirklichkeit „als ‚Produzieren‘ durch das Ich denken“, aber laut Fichte bloß „als Produzieren eines Objekts, ‚über dessen Entstehung keine Rechenschaft abgelegt werden kann, wo es demnach in der Mitte zwischen Projektion und Projektum finster und leer ist, wie ich [Fichte] es ein wenig scholastisch, aber, denk ich, sehr bezeichnend ausdrückte, die proiectio per hiatum irrationalem‘“. Vgl. unten, S.  90. 96  Für Lask, Fichte, S.  25 f., 60, ist Hegels Logik emanatistisch. Der sich dialektisch bewegende Begriff nähert sich der Wirklichkeit an und wird „seine eigene Selbstverwirklichung in der ‚Erscheinung‘“. Er entläßt „den besonderen Verwirklichungsfall sozusagen aus seiner überreichen Fülle“. Die Wirklichkeit wird gedacht als Ausfluß, als Emanation der überwirklichen Begriffe. 97  Rickert, Quatre modes. Vgl. auch Rickert, Grenzen, S.  528 ff. Rickert unterscheidet vier Arten des Allgemeinen in der Geschichte: Erstens sind die Elemente aller wissenschaftlichen Begriffe allgemein, aber nur die Naturwissenschaften bilden aus ihnen allgemeine Begriffe, während die historischen Wissenschaften sie zu Begriffen mit individuellem Inhalt zusammenschließen. Zweitens stellen die historischen Wissenschaften ein Individuum mit Rücksicht auf einen allgemeinen Wert dar, aber diese Wertbeziehung macht den Inhalt des Begriffs nicht allgemein, sondern die allgemeine Bedeutung des historischen Objekts haftet an seiner Individualität. Drittens betrachten die historischen Wissenschaften ein Individuum nie isoliert, sondern in einem allgemeinen Zusammenhang, der aber kein Begriff mit allgemeinem Inhalt, sondern selbst eine individuelle Wirklichkeit ist. Eine solche Einordnung eines Individuums als Teil eines Ganzen darf nicht mit seiner Unterordnung als Exemplar unter einen allgemeinen Begriff verwechselt werden. Viertens können die historischen Wissenschaften eine Gruppe von Individuen so zusammenfassen, daß jedes Individuum als gleich

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Verhältnis der Begriffe zur Wirklichkeit einerseits streng rational zu denken, d. h. derart, daß die Wirklichkeit aus den Allgemeinbegriffen absteigend deduzierbar ist, und damit andererseits zugleich durchaus anschaulich zu erfassen, d. h. derart, daß die Wirklichkeit beim Aufsteigen zu den Begriffen von ihrem anschaulichen Gehalt nichts verliert. Inhalt und Umfang der Begriffe verhalten sich dann in ihrer Größe nicht zueinander entgegengesetzt, sondern decken sich, da das „Einzelne“ nicht nur Exemplar der Gattung, sondern auch Teil des Ganzen ist, welches der Begriff repräsentiert. Der „allgemeinste“ Begriff, aus dem alles deduzierbar sein müßte, würde dann zugleich der inhaltsreichste sein. Zugänglich aber wäre eine begriffliche Erkenntnis dieser Art, von der uns unser analytisch-diskursives Erkennen98 fortgesetzt entfernt, indem es die Wirklichkeit durch Abstraktion ihrer vollen Realität entkleidet, nur einem Erkennen, welches analog (aber nicht gleichartig) dem mathematischen29) sein | müßte30). Und metaphysische Vorausset­ zung des Wahrheitsgehalts dieser Erkenntnis wäre, daß die Begriffsinhalte als metaphysische Realitäten hinter der Wirklichkeit stehen

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29) Vgl. darüber und überhaupt über diese Probleme die vorzügliche Arbeit eines sehr begabten Schülers von Rickert: E[mil] Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte,g S.  39 ff., 51 f., 64. | 30)  Wir lassen hier die für die Nationalökonomie zentralen logischen Probleme, zu A 16 welchen die besondere Art von anschaulicher Evidenz führt, der die Deutung menschlicher Motivation zugänglich ist, und mit denen neuestens Gottl a. a. O. sich befaßt,99 zunächst noch absichtlich beiseite. Wir können dies, da Roscher diesen Gesichtspunkt in keiner Weise verwertet hat. Nach ihm nähern wir uns der Erkenntnis der Zusammenhänge menschlichen Handelns diskursiv und von außen her, ganz ebenso wie der Erkenntnis des Naturzusammenhangs. Über die „Selbstbeobachtung“ als Erkenntnisquelle vgl. die kurze Bemerkung Gesch[ichte] d[er] Nationalökonomie S.  1036. Da-

g A: Geschichte.   bedeutsam gilt. Dadurch bilden sie zwar einen allgemeinen Begriff, wenden aber keine naturwissenschaftliche Methode an, denn ein solcher relativ historischer Begriff hat nicht den Zweck, die allgemeine Natur der ihm untergeordneten Objekte zum Ausdruck zu bringen, sondern sein Inhalt soll die historische Individualität einer Gruppe von Objekten darstellen, die alle durch dieselben Züge historisch wesentlich werden. 98  Zu „analytisch“ vgl. Einleitung, oben, S.  16. Zu „diskursiv“ vgl. Rickert, Grenzen, S.  687, für den „alles menschliche Erkennen diskursiv sein“ muß, was bedeutet, „dass es eine bestimmte Zeitstrecke ausfüllt und nur durch eine Reihe von Veränderungen hindurch das Erkenntnisziel zu erreichen vermag“. 99  Gottl, Herrschaft, S.  77 f., spricht davon, daß wir „im Wahrnehmen fremden Handelns“ unser Ich „in die fremde Menschenhülle […] verlegen“ und damit das „erlebte Geschehen […] in seinen strebigen Zusammenhängen“ durchschauen.

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und diese in ähnlicher Art notwendig aus ihnen hervorgeht, wie die mathematischen Lehrsätze auseinander „folgen“. – Was nun Roscher anlangt, so war ihm das Problem, um welches es sich handelt, keineswegs unbekannt. Sein Verhältnis zu Hegel 31) war durch den Einfluß seiner Lehrer Ranke, Gervinus und Ritter32) bestimmt.1 Er formuliert in seinem „Thukydides“ seinen Widerspruch gegen die Methode der „Philosophen“33) dahin, daß „zwischen dem Denken eines Begriffs als solchen und dem Denken seines Inhalts“ ein „großer Unterschied“ sei,2 – wenn der „höhere“ Begriff des Philosophen „Ursache“ des niederen, d. h. seines Gedachtwerdens im Begriffssysteme selbst die oft zitierte Stelle über die relativ geringe Tragweite des Unterschiedes von „Induktion“ und „Deduktion“, welch letztere mit der Selbstbeobachtung identifiziert wird, ohne daß Roscher den sich daraus ergebenden logischen Problemen hier oder sonst weiter nachginge.3 31)  Roschers ausführliche Stellungnahme zu Hegel in der Geschichte der Nationalökonomie S.  925 ff. ist für uns belanglos, da er fast nur die Beurteilung konkreter praktischer Fragen durch Hegel kritisiert. Bemerkenswert ist nur der Respekt, mit welchem er die „dreistufige Entwickelung vom abstrakt Allgemeinen durch das Besondere zum konkret Allgemeinen“h behandelt, welche „eines der tiefsten historischen Entwickelungsgesetze berühre“, – ohne nähere Erläuterung. 32)  Auch B[arthold] G[eorg] Niebuhr, dem er in der Gesch[ichte] d[er] Nationalökonomie S.  916 f. ein schönes Denkmal setzt, rechnet er selbst dazu.4 33)  Thukydides S.  19. Er nennt Hegel, den er weiterhin gelegentlich zitiert (S.  24, 31, 34, 69), an dieser Stelle nicht. h A: Allgemeine“   1  Roscher studierte ab 1835 in Göttingen bei Friedrich Christoph Dahlmann, Georg Gottfried Gervinus und Karl Otfried Müller. Nach seiner Promotion 1838 ging er nach Berlin und hörte bei August Boeckh, Barthold Georg Niebuhr, Leopold von Ranke und Heinrich Ritter. 1840 habilitierte er sich in Göttingen. Sein Werk über Thukydides widmete er Ranke und Ritter. 2  Vgl. Roscher, Thukydides, S.  19. 3  Für Roscher, Geschichte, S.  1036, ermöglicht es bei der Induktion die „nachschöpferische Phantasie des Bearbeiters“, „daß er sich in die Seele derjenigen Menschen versetzen kann, deren Thun oder Leiden er schildern und beurtheilen will“; aber auch die „deductive Erklärung wirthschaftlicher Dinge beruhet in Wahrheit auf Beobachtung, nämlich auf Selbstbeobachtung des Erklärenden, der, bewußt oder unbewußt, immer fragen muß: Wenn ich dieselbe Thatsache erlebte oder vollzöge, was würde ich dabei gedacht, gewollt und empfunden haben? Wer gar nicht fähig ist, sich in die Seele Anderer zu versetzen, der wird die meisten wirthschaftlichen Vorgänge falsch erklären.“ 4  Für Roscher, ebd., S.  916 f., war Niebuhr eine „eigentliche Gelehrtennatur“, die mit ihrer „ebenso breiten Quellenkenntniß wie scharfen Quellenkritik“ jene „historische Phantasie“ verband, „welche aus Bruchstücken das lebendige Ganze wieder herstellt“.

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sei, so könne der Historiker dies auf die reale Welt nicht übertragen, denn jede „philosophische“ Erklärung sei Definition, jede historische aber Schilderung34). Die philosophische Wahrheit und Notwendigkeit stehe der dichterischen gleich, sie | habe ihre Geltung „im luftleeren Raum“35), sie müsse ebenso notwendig verlieren, wenn sie in die Sphäre des Geschichtlichen hinabsteige, wie die Geschichte, wenn sie philosophische Begriffsentwickelungen in sich aufnehmen wolle: konkrete historische Institutionen und Ereignisse können keinen Teil eines Begriffsystems ausmachen36). Nicht ein oberster Begriff, sondern eine „Gesamtanschauung“ ist es, welche die Werke der Historiker – und der Dichter – zusammenhält37). Diese „Gesamtidee“ ist aber nicht adäquat in eine Formel oder einen definierten Begriff zu fassen. Die Geschichte will wie die Poesie das volle Leben erfassen38), das Aufsuchen von Analogien ist Mittel zu diesem Zweck, und zwar ein Werkzeug, „mit dem sich der Ungeschicktere leicht verletzen kann“ und welches „auch dem Geschickten niemals große Dienste leisten“ wird39).5 – Gleichviel wie man die Formulierung dieser Sätze im einzelnen

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  Thuk[ydides] S.  28. |   Das[elbst] S.  24 f., bes. S.  27.6 A 17 36)  Das[elbst] S.  29. 37)  Das[elbst] S.  22. Der Unterschied zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Wahrheit findet sich S.  27 und S.  35 entwickelt. 38)  Das[elbst] S.  35. 39)  Vorrede S.  XII. 34) 35)

5  Vgl. im Zusammenhang und korrekt: „Der Leser wird bemerken, daß meine Arbeit an historischen Parallelen, s[o] g[enannten] Analogien, reich ist. Mit Analogien wird in unserer Zeit viel Mißbrauch getrieben. Mancher Schriftsteller hat sie als ein Bequemlichkeitsmittel angesehen, um der ernsteren Arbeit überhoben zu sein. Statt ihrem Leser die Wahrheit selbst gleichsam zu schenken, pflegen Viele ihn nur rund umherzuführen, damit er sie von verschiedenen Seiten betasten könne. Aber ein Werkzeug, mit dem sich der Ungeschickte nicht verletzen kann, wird auch dem Geschickten niemals große Dienste leisten. Und nur als Werkzeug darf die Analogie gebraucht werden, nicht als Selbstzweck. Sie leitet uns an, durch Vergleichung mit möglichst viel ähnlichen Gegenständen die vorliegende Materie vielseitiger und gründlicher kennen zu lernen.“ Vgl. Roscher, Thukydides, S.  XI f. Zu den Folgen dieses Fehlzitats vgl. unten, S.  68, Fn.  48. 6  Während Roscher, Thukydides, S.  26 f., zufolge im gewöhnlichen Leben ein Urteil wahr ist, wenn es „mit der Wirklichkeit congruiert“, ist die Wahrheit für den Philosophen bzw. den Dichter gebunden an eine „Übereinstimmung mit den logischen Denk- oder den ästhetischen Empfindungsgesetzen“; daher könne man sagen, die Wissenschaft „errichtet ihr Gebäude auf ebener Erde, die Dichtung unter den Wolken und Sternen des Himmels, die Philosophie im luftleeren Raume“.

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beurteilt, – es scheint danach zunächst, daß Roscher das Wesen der geschichtlichen Irrationalität zutreffend erkannt habe. Allein schon manche Äußerungen in derselben Schrift Roschers zeigen, daß ihm ihre Tragweite trotzdem nicht zum Bewußtsein gekommen ist. Denn alle diese Ausführungen wollen nur die Hegelsche Dia­ lektik40) ablehnen und die Geschichte auf den ihr mit den Natur­ wissenschaften gemeinsamen Boden der Erfahrung stellen. Einen Gegensatz in der Begriffsbildung aber zwischen der exakten Naturwissenschaft einerseits und der Geschichte andererseits ­ kennt Roscher nicht. Sie verhalten sich nach ihm zueinander wie Plastik und Poesie in Lessings Laokoon41): die Unterschiede, welche bestehen, ergeben sich aus dem Stoffe, den sie bearbeiten, nicht aus dem logischen Wesen der Erkenntnis, die sie erstreben. Und mit der „Philosophie“ – in Roschers Sinn des Wortes – teilt die Geschichte | die „Seligkeit“, das „scheinbar Regellose nach allge­ meinen Grundsätzen anzuordnen“42). Da die Geschichte43) die Aufhellung der kausalen Bedingtheit der Kulturerscheinungen (im weitesten Sinn des Wortes) bezweckt, so können diese „Grundsätze“ nur solche der kausalen Verknüpfung sein. Und hier findet sich nun bei Roscher der eigentümliche Satz44), daß es Gepflogenheit der Wissenschaft – und zwar jeder

40) Eine eingehendere Auseinandersetzung mit derjenigen Form der Hegelschen Dialektik, welche das „Kapital“ von Marx repräsentiert,7 hat Roscher nie unternommen. Seine Ausführungen gegen Marx in der Gesch[ichte] d[er] Nationalökonomie S.  1221 u. 1222 (eine Seite!) sind von erschreckender Dürftigkeit und zeigen, daß ihm damals (1874) jede Reminiscenz an die Bedeutung Hegels abhanden gekommen war.8 41)  So Thuk[ydides] S.  10.9 | 42)  Thuk[ydides] S.  35. A 18 43) S[iehe]i Thuk[ydides] S.  58.10 44)  Thuk[ydides] S.  188.11

i A: s.   7  Vgl. Marx, Kapital. 8  Vgl. Roscher, Geschichte, S.  1021 f.; Paginierungsfehler in Roscher-Ausgabe. 9  Vgl. Roscher, Thukydides, S.  9 f. Lessing, Laokoon, S.  162 f., zufolge läßt sich in einer Plastik nur ein bestimmter Moment eines Handlungsablaufs erfassen, so daß bei der Darstellung von Schmerzen die Figuren in diesem Ausdruck verharren müssen, was dem Schönheitsideal widerspricht. Die Poesie hingegen kann den ganzen Handlungsablauf darstellen und den Schmerz in ästhetischer Weise schildern. 10  Roscher, Thukydides, S.  38 (nicht: S.  58). 11  Ebd., S.  187.

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Wissenschaft – sei, bei kausaler Verknüpfung mehrerer Objekte „das Wichtiger-Scheinende die Ursache des minder Wichtigen zu nennen“. Der Satz, dessen emanatistische Provenienz ihm an der Stirn geschrieben steht, wird nur verständlich, wenn man unterstellt, daß Roscher mit dem Ausdruck „wichtiger“ einerseits dasselbe gemeint hat, was Hegel unter „allgemein“ verstand, andererseits aber das gattungsmäßig-„allgemeine“ davon nicht schied. Daß dies in der Tat der Fall ist, wird sich uns im weitern Verlauf der Betrachtung von Roschers Methode immer wieder zeigen. Roscher identifizierte die Begriffe: gattungsmäßig allgemein (generell) und: inhaltlich umfassend miteinander. Außerdem aber schied er auch nicht zwischen der mit dem universellen Zusammenhang identifizierten generellen Geltung der Begriffe und der universellen Bedeutung des Begriffenen: das „Gesetzmäßige“ ist, wie wir sahen,12 das „Wesentliche“ der Erscheinung45). Und es versteht sich ihm endlich – wie so vielen noch heute – von selbst, daß, weil man die generellen Begriffe durch Abstraktion von der Wirklichkeit aufsteigend gebildet habe, so auch umgekehrt die Wirklichkeit aus diesen generellen Begriffen – deren richtige Bildung vorausgesetzt – absteigend wieder müsse deduziert werden können. Er bezieht sich in seinem „System“ gelegentlich46) ausdrücklich auf die Analogie der Mathematik und die Möglichkeit, gewisse Theoreme der Nationalökonomie in mathematische Formeln zu kleiden, und fürchtet lediglich, daß die Formeln infolge des Reichtums der Wirklichkeit zu „verwickelt“ werden könnten, um | praktisch brauchbar zu sein. Einen Gegensatz begrifflicher und anschaulicher Erkenntnis kennt er nicht, die mathematischen Formeln hält 45)  Selbst für die künstlerische Produktion ist ihm das allein interessierende „Hauptsächlichste“ (das[,] was der Künstler von der Erscheinung erfassen will und soll) dasjenige, welches „zu allen Zeiten, unter allen Völkern und in allen Herzen wiederkehrt“ (Thukydides S.  21 mit Exemplifikation auf Hermann und Dorothea und die Reden im Thukydides).13 46)  §  22 des Systems, Band I.14 |

12  Oben, S.  52. 13  Gemeint ist Goethes Epos „Hermann und Dorothea“ von 1797. Thukydides läßt in Reden und Gegenreden politische Akteure zu Wort kommen. Vgl. Roscher, Thuky­ dides, S.  144 ff. 14  Roscher, System I2, S.  36 (§  22).

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er für Abstraktionen nach Art der Gattungsbegriffe. Alle Begriffe sind ihm vorstellungsmäßige Abbilder der Wirklichkeit47), die „Gesetze“ aber objektive Normen, denen gegenüber sich die „Natur“ in einem ähnlichen Verhältnis befindet, wie das „Volk“ gegenüber den staatlichen Gesetzen.15 Die ganze Art seiner Begriffsbildung zeigt, daß er von dem Hegelschen Standpunkt zwar prinzipiell geschieden bleibt, trotzdem aber mit metaphysischen Vorstellungen arbeitet, welche sich nur dem Hegelschen Emanatismus konsequent einfügen lassen würden. Die Methode der Parallelismenbildung ist ihm zwar die spezifische Form des Fortschritts kausal-geschichtlicher Erkenntnis48): sie führt aber nie zum Ende, und deshalb kann nie wirklich die ganze Wirklichkeit aus den so gewonnenen Begriffen deduziert werden, – wie es nach Roschers Meinung der Fall wäre, wenn wir bis zu den letzten und höchsten „Gesetzen“ alles Geschehens aufgestiegen wären: es fehlt dem geschichtlichen Geschehen, wie wir es erkennen, die Notwendig­ keit 49), es bleibt notwendig ein „unerklärter“ Hintergrund, und zwar ist es eben dieser, der allein den Zusammenhang des Ganzen herstellt50), offenbar: weil aus ihm die Wirklichkeit emaniert. Aber ihn denkend zu erfassen und zu formulieren – eben das, was Hegel A 19

 Vgl. dazu unter anderen die Ausführungen von Rickert, Grenzen, S.  245 f.16   „Jedes historische Urteil beruht auf unzähligen Analogien,“ meint er Thukydides S.  20, – ein Satz, der in dieser Form jenem Irrtum verwandt ist, der das Studium einer – erst zu schaffenden! – Psychologie als Voraussetzung exakter historischer Forschung ansieht[,] und bei den sehr energischen Worten gegen den Mißbrauch von historischen Analogien S.  XI der Vorrede besonders auffällt.17 49)  Vgl. Roscher, Thukydides S.  195. 50)  §  13 Note 4 des „Systems“ Bandj I. | 47) 48)

j A: bei   15  Die Vorstellung von Naturgesetzen als präskriptiven Regeln hat ihre Wurzel im Alten Testament (Psalm 104, 6–9; Hiob 28, 25–27 und 38, 8–11) und findet sich in der neuzeitlichen Astronomie und Philosophie z. B. bei Georg Joachim Rheticus und René Descartes. In Rickert, Grenzen, S.  130, klingt sie ebenfalls an: „Die Einsicht in die ‚Nothwendigkeit‘ eines Vorganges kann bei ihr [der Naturwissenschaft] immer nur in der Kenntnis der Gesetze bestehen, die ihn beherrschen.“ Vgl. auch Lask, Fichte, S.  169: „Die einzelne Wirklichkeit befolgt Gesetze, aber sie folgt – nämlich für unser Begreifen – nicht aus ihnen“. Vgl. Weber, Stammler, unten, S.  503. 16  Wie an vielen anderen Stellen wendet sich Rickert auch hier gegen die Auffassung, „dass das Erkennen die Aufgabe habe, die Wirklichkeit abzubilden“. 17  Tatsächlich hat Roscher, Thukydides, S.  XIf., auch den Nutzen von Analogien hervorgehoben, was Weber nicht erfaßt hat. Vgl. oben, S.  65 mit Anm.  5.

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wollte – ist uns nicht gegeben. Ob man diesen Hintergrund „Lebens­ kraft oder Gattungstypus oder Gedanken Gottes“ nenne – man beachte die eigentümliche Mischung modern-biologischer mit platonisierender und scholastischer Terminologie – das, meint Roscher, sei gleichgültig.18 Aufgabe der Forschung sei es, ihn „immer weiter zurückzuschieben“. Also die Hegelschen Allgemeinbegriffe sind als metaphysische Realitäten vorhanden, aber wir vermögen sie, eben dieses ihres Charakters wegen, nicht denkend zu erfassen. | Fragen wir uns, wo denn für Roscher das prinzipielle Hindernis lag, die Hegelsche Form der Überwindung der im diskursiven Erkennen liegenden Schranke zu akzeptieren, obwohl er doch im Prinzip das Verhältnis zwischen Begriff und Wirklichkeit ähnlich denkt, so ist wohl in erster Linie sein religiöser Standpunkt in Betracht zu ziehen. Für ihn sind eben in der Tat die letzten und höchsten – im Hegelschen Sinn: „allgemeinsten“ – Gesetze des Geschehens „Gedanken Gottes“, die Naturgesetze seine Verfügungen51), und sein Agnostizismus in Bezug auf die Rationalität der Wirklichkeit ruht auf dem religiösen Gedanken der Begrenztheit des endlichen, menschlichen, im Gegensatz zum unendlichen göttlichen Geist, trotz der qualitativen Verwandtschaft beider. Philosophische Spekulationen – meint er (Thukydides S.  37) ganz charakteristisch – sind Produkte ihres Zeitalters; ihre „Ideen“ sind unsere Geschöpfe; wir aber bedürfen, wie Jacobi sagt, „einer Wahrheit, deren Geschöpf wir sind“.19 Alle in der Geschichte wirksamen Triebfedern, führt er ebenda S.  188 aus, gehören in eine der drei Kategorien: „menschliche Handlungen, materielle Verhältnisse,

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51) Roschers Stellung zum Wunder ist reserviert und vermittelnd (vgl. Geistliche Ge- A 20 danken S.  10, 15 u. öfter).20 Wie Ranke,21 so hat auch er das konkrete Geschehen lediglich aus natürlichen Motiven zu erklären gesucht. Wo Gott in die Geschichte hineinragen würde, hätte auch für ihn unser Erkennen ein Ende. |

18  Vgl. Roscher, System I2, S.  22 (§  13 Anm.  4). In Roscher, System I23, S.  37 (§  13 Anm.  3) ist der „Volksgeist“ hinzugefügt: „Lebenskraft, Gattungstypus, Volksgeist oder Gedanken Gottes“. 19  Vgl. Jacobi, Friedrich Heinrich, Vorbericht, in: Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke, Band 4. Erste Abtheilung. – Leipzig: Gerhard Fischer 1819, S.  VI–LIV, hier S.  XIII: „Ich bedurfte einer Wahrheit, die nicht mein Geschöpf, sondern deren Geschöpf ich wäre.“ Jacobi wird erwähnt in Roscher, Thukydides, S.  38. 20  Roscher, Gedanken, S.  15, 30, 37. 21  Vgl. Weber, Kritische Studien, unten, S.  397 mit Anm.  53.

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übermenschliche Ratschlüsse“. Nur wenn er die letzteren zu durchschauen vermöchte, könnte der Historiker wirklich von Notwendig­ keit sprechen, denn die (begriffliche) Freiheit des Willens gestattet die Anwendung dieser Kategorie für die empirische Forschung nur da, wo Zwang durch die „reale Überlegenheit eines fremden Willens“ eintritt.22 Die Geschichte zerlegt aber nach Roscher wie nach Thukydides und Ranke alles in menschliche, irdische, verständliche Motive, die aus dem Charakter des Handelnden folgen: sie denkt nicht daran, „Gott in der Geschichte“ finden zu wollen; und auf die Frage, was denn danach der τύχη23 des Thukydides (und der göttlichen Vorsehung Roschers) noch zu tun bleibe, antwortet Roscher (das[elbst] S.  195) mit dem Hinweis auf die prästabilierende Schöpfung der Persönlichkeiten durch Gott: die metaphysische Einheit der „Persönlichkeit“, der wir später bei Knies wieder begegnen werden und deren Emanation ihr Handeln ist, ruht bei Roscher auf seinem Vorsehungsglauben. Die Schranken des diskursiven Erkennens erschienen ihm | danach als natürlich, weil aus dem begrifflichen Wesen der Endlichkeit folgendk und gottgewollt; man kann sagen, neben der Nüchternheit des gewissenhaften Forschers hat sein religiöser Glaube ihn – ähnlich wie schon seinen Lehrer Ranke – gegen Hegels panlogistisches Bedürfnis,24 welches den persönlichen Gott im traditionellen Sinn in einer für ihn bedenklichen Weise verflüchtigte, immunisiert52). Wenn der Vergleich erlaubt ist, 52) Im ganzen verläßt also Roscher nicht den Boden der von ihm allerdings nicht korrekt gehandhabten und ihm wohl auch nicht gründlich bekannten Kantischen analytischen Logik. Er zitiert von Kant wesentlich nur: Die Anthropologie (§  11 Anm.  6 des

k A: folgernd   22  Für Roscher, Thukydides, S.  195, wird der Historiker nur da von „Nothwendigkeit“ reden dürfen, „wo es sich um einen Zwang handelt durch die reale Überlegenheit eines fremden Willens“; auch wenn „Alles in menschliche Triebfedern zerlegt“ werde, bleibe „doch immer noch eine Frage übrig: Wer hat denn diese Persönlichkeit so und nicht anders geschaffen?“ 23  Griech.: Glück. 24  Den Begriff Panlogismus hat Kuno Fischer zur Charakterisierung der Philosophie Hegels geprägt. Aus der „Allgegenwart der Logik in den Wissenschaften“ folge nur, „daß Alles logisch, d. h. vernünftig, aber nicht, daß Alles Logik, d. h. abstrakte Vernunft sey“; der „Panlogismus“ behaupte nur die „Allgegenwart der Vernunft in Natur und Geschichte“, aber nicht, „daß Alles in reinen Begriffen und deshalb alle Wissenschaft in reiner Logik bestehe“. Vgl. Fischer, Kuno, Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre. Lehrbuch für akademische Vorlesungen. – Stuttgart: C. P. Scheitlin 1852, S.  37.

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so darf man sich die Rolle, welche der Glaube an Gott im wissenschaftlichen Betrieb Rankes und Roschers gespielt hat, vielleicht durch die Analogie der Rolle des Monarchen im streng parlamentarischen Staat verdeutlichen: der gewaltigen politischen KräfteÖkonomie, welche hier dadurch entsteht, daß die höchste Stelle im Staat, wennschon durch einen persönlich auf die konkreten Staatsgeschäfte ganz einflußlosen Inhaber, besetzt ist und so die vorhandenen Kräfte von der Bahn des reinen Machtkampfes um die Herrschaft im Staat (mindestens relativ) ab- und positiver Arbeit im Dienste des Staats zugeleitet werden, – entspricht es dort, daß metaphysische Probleme, welche auf dem Boden der empirischen Geschichte nicht lösbar sind, von vornherein ausgeschaltet, dem religiösen Glauben überlassen werden und so die Unbefangenheit der historischen Arbeit gegenüber der Spekulation gewahrt bleibt. Daß Roscher die Nabelschnur, die seine Geschichtsauffassung mit der „Ideenlehre“25 (im metaphysischen Sinn) verband, nicht soweit durchschnitten hat wie Ranke, erklärt sich aus der überwältigenden Macht der Hegelschen Gedankenwelt, welcher sich auch die Gegner – wie Gervinus – nur langsam und nur in Form der allmählich verblassenden Humboldtschen Ideenlehre53) zu entziehen ver­ Systems, Band I)26 und die metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre und der Tugendlehre.27 Der Abschnitt über Kant in der Geschichte der Nationalökonomie S.  635 f.,28 der ihn lediglich als Vertreter des „Subjektivismus“ recht oberflächlich erledigt, zeigt die tiefe Antipathie Roschers – des Historikers sowohl wie des religiösen Menschen – gegen alle nur formale Wahrheit. 53)  Roscher zitiert Humboldts auch neuerdings viel erörterte29 Studie in den Ab-

25  Eine auf Platon zurückgehende Theorie, derzufolge empirische Vorkommnisse von Eigenschaften Abbilder überempirischer Urbilder im Sinne abstrakter, an sich bestehender Eigenschaften sind. Vgl. Platon, Parmenides. Uebersetzt und erläutert von J. H. v. Kirchmann. – Leipzig: Dürr 1882, 128c–135b. Vgl. auch Windelband, Wilhelm, Platon. – Stuttgart: Fr. Frommans (E. Hauff) 1900, S.  65 ff. 26  Roscher, System I2, S.  18 (§  11 Anm.  6), zitiert: Kant, Anthropologie, §  86 „Von dem höchsten moralisch-physischen Gut“, S.  239–245. 27 Roscher, System I2, S.  152 (§  87 Anm.  1), zitiert: Kant, Metaphysik der Sitten, S.  72 ff. (= §  13 der „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“, ebd., S.  1 ff.); „Die metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre“, ebd., S.  215 ff. 28  Gemeint ist: Roscher, Geschichte, S.  635 f. 29  Vgl. Fester, Richard, Humboldt’s und Ranke’s Ideenlehre, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 6. Jg., 1891, S.  235–256; Goldfriedrich, Johann, Die historische Ideenlehre in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Geisteswissenschaften, vornehmlich der Geschichtswissenschaft und ihrer Methoden im 18. und 19. Jahrhundert. – Berlin: R. Gaertner 1902, S.  107 ff.

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mochten:30 es beherrschte ihn offenbar die Besorgnis, bei Aufgabe jedes | objektiven Prinzips der Gliederung des gewaltigen ihm zuströmenden historischen Stoffes entweder in diesem letzteren zu versinken oder zu subjektiv-willkürlichen „Auffassungen“ greifen zu müssen54). Endlich wirkte, wie schon hervorgehoben,31 das bestechende Vorbild der historischen Juristenschule.

handlungen der Berliner Akademie von 182032 Thukydides S.  44, ebenda und oft die Gervinussche Historik.33 (Über das allmähliche Verschwinden des metaphysischen Charakters der „Idee“ bei Gervinus vergl. u. a. die Jenenser Dissertation von Dippe, 1892.)34 | 54) Siehe die Bekämpfung des Droysenschen Standpunktes zur „Unparteilichkeits“A 22 Frage, Thukydides S.  230/1, aus der wohl sein Lehrer Ranke mitspricht.35 – Auch der formale Charakter der gleich zu besprechenden Roscherschen Geschichtsepochen erklärt sich zum Teil wohl mit aus seinem „Objektivitäts“-Streben.36 Er fand keine ande-

30  Hegel entwickelt 1812–1816 die platonische Ideenlehre zu einer Theorie der „absoluten Idee“ als „Einheit des Begriffs und der Objektivität“. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Werke, Band 5: Wissenschaft der Logik. Zweiter Theil. Die subjective Logik, oder: Die Lehre vom Begriff, hg. von D. Leopold von Henning. – Berlin: Duncker & Humblot 1835, S.  231, 317. Humboldt, Geschichtschreiber, S.  314, 318, kritisiert 1820 die „teleologische Geschichte“ der Philosophie und meint, daß „Ideen aus der Fülle der Begebenheiten selbst hervorgehen“; andererseits spricht er von „Ideen, die, ihrer Natur nach, außer dem Kreise der Endlichkeit liegen, aber die Weltgeschichte in allen ihren Theilen durchwalten und beherrschen“. Humboldt folgend sprach 1837 Gervinus, Historik, S.  382, von „historischen Ideen“, welche die Geschichte „durchdringen und gestalten“ und „an denen sich die Vorsehung gleichsam offenbart“. 1854 kritisiert Ranke die Hegelsche Ansicht, daß „bloß die Idee ein selbständiges Leben“ hätte, „alle Menschen aber wären bloße Schatten oder Schemen, welche sich mit der Idee erfüllten“. Er selbst wollte unter „den sogenannten leitenden Ideen in der Geschichte“ nichts anderes verstehen, „als daß sie die herrschenden Tendenzen in jedem Jahrhunderte sind“. Vgl. Ranke, Leopold von, Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maximilian II. von Bayern im Herbst 1854 zu Berchtesgaden gehalten, hg. von Albrecht Dove. – Leipzig: Duncker & Humblot 1888 (hinfort: Ranke, Epochen), S.  6 f. 31  Oben, S.  52 f. 32  Humboldt, Geschichtschreiber. 33  Roscher, Thukydides, S.  42, 44, 48 ff. 34  Dippe, Untersuchungen, S.  31 ff. 35  Die Seiten 230 f. in Roscher, Thukydides, sind die beiden ersten Seiten des dreiseitigen §  1 „Gemeine Unparteilichkeit“, in dem sich Roscher auseinandersetzt mit Droysen, Gustav, Des Aristophanes Werke, 3 Theile. – Berlin: Veit & Comp. 1835, 1837, 1838. Ranke pochte durchweg auf „Objectivität“, die er als „Unparteilichkeit“ bestimmte. Vgl. z. B. Ranke, Leopold von, Die deutschen Mächte und der Fürstenbund. Deutsche Geschichte von 1780 bis 1790. Zweite Ausgabe (ders., Sämmtliche Werke, Bände 31/32). – Leipzig: Duncker & Humblot 1875, S. VIII. 36  Vgl. Roscher, System I2, S.  44 (§  28) zur „historische[n] Objectivität“.

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Verfolgen wir nun, wie sich Roschers erkenntnistheoretischer Standpunkt – so weit man von einem solchen sprechen kann – in seiner Behandlung des Problems der „geschichtlichen Entwickelungsgesetze“ äußert, deren Feststellung er ja, wie wir sahen, als Ziel der Geschichte denkt. Die Behandlung der „Völker“ als Gattungswesen setzt natürlich voraus, daß die Entwickelung jedes Volkes sich als ein typischer, geschlossener Kreislauf nach Art der Entwickelung der einzelnen Lebewesen auffassen läßt. Dies ist nun nach Roschers Ansicht mindestens für alle diejenigen Völker, welche eine Kulturentwic­ kelung aufzuweisen haben, in der Tat der Fall55) und zeigt sich in der Tatsache des Aufsteigens, Alterns und Untergangs der Kulturnationen –, nach Roscher ein Prozeß, der trotz scheinbar verschiedener Formen so ausnahmslos bei allen Nationen sich einstellt, wie bei den physischen Individuen. Als einl Teil dieses Lebensprozesses der Völker sind die wirtschaftlichen Erscheinungen „physiologisch“ zu begreifen.37 Die Völker sind für Roscher – wie re (nach seiner Meinung) unanfechtbare Basis als die einfache Tatsache des „Alt“Werdensm der Völker. – 55)  Roscher war aus diesem Grunde bekanntlich der Ansicht, daß das Studium der Kulturentwickelung der Völker des klassischen Altertums, deren Lebenslauf ja abgeschlossen vor uns liegt, uns in besonders weitgehendem Maße Aufschluß über den Gang unserer eigenen Entwickelung zu geben vermöge.38 – Ein gewisses Maß von Beeinflussung durch derartige Gedankengänge Roschers verraten noch einige frühere Äußerungen Eduard Meyers,39 der dagegen jetzt, wohl namentlich unter dem Eindruck der Wege, auf die Lamprecht geraten ist, sich im wesentlichen auf den schon von Knies, wie wir sehen werden,40 vertretenen Standpunkt stellt.41

l A: einen  m A: „Alt“-Wertes   37  Roscher, ebd., S.  41 (§  26), spricht von einer „historisch-physiologische[n] Methode“. 38  Roscher, Grundriß, S.  IV: „Wo sich also in der neuen Volkswirthschaft eine Richtung, der alten ähnlich, nachweisen ließe, da hätten wir für die Beurtheilung derselben in dieser Parallele einen unschätzbaren Leitfaden.“ 39  Vgl. Meyer, Eduard, Die wirtschaftliche Entwickelung des Altertums. Ein Vortrag, gehalten auf der dritten Versammlung Deutscher Historiker in Frankfurt a. M. am 20. April 1895. – Jena: Gustav Fischer 1895, S.  696. Meyer hatte über einen „Gegenstand möglichst universeller Art“ vortragen wollen, „bei dem die Bedeutung klar hervortreten könnte, die auch für unsere Gegenwart noch eine richtige Erkenntnis besitzt“. 40  Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  373 ff. 41 Zur Kritik an Lamprecht vgl. Meyer, Theorie, S.  7 ff. Zu Knies äußert sich Meyer nicht.

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Hintze56) es ganz zutreffend ausdrückt – „biologische Gattungswesen“. Vor dem Forum der Wissenschaft ist mithin – Roscher hat das auch ausdrücklich ausgesprochen42 – die Lebensentwickelung der Völker | prinzipiell immer die gleiche, und trotz des Anscheins des Gegenteils ereignet sich in Wahrheit „nichts Neues“ unter der Sonne57), sondern immer nur das Alte mit „zufälligen“ und des  In einem später noch zu zitierenden Aufsatz in diesem Jahrb[uch] 1897.43 |  Wenn moderne Historiker (v. Below, Histor[ische] Zeitschr[ift] 81 n[1898]n S.  245) von den „lähmenden Gedanken der gesetzlichen Entwickelung“ sprechen und der Geschichte die Aufgabe zuweisen, uns von dem „niederdrückenden und abstumpfenden Gefühle, das die von der Naturforschung vorgetragene Lehre unserer Abhängigkeit von allgemeinen Gesetzen bei uns hervorbringen will“ zu befreien44 – so lag ein solches Bedürfnis für Roscher nicht vor. Die Entwickelung der Menschheit gilt ihm als zeitlich endlich im Sinn der religiösen Vorstellung vom jüngsten Tage, und daß den Völkern von Gott ihr Lebensweg in bestimmten Bahnen und Altersstufen vorgezeichnet ist, kann die Arbeitspflicht und Arbeitsfreudigkeit des Staatsmanns ebensowenig beeinträchtigen, wie das Bewußtsein, altern und sterben zu müssen, den einzelnen lähmt.   Übrigens spricht die Erfahrung gegen die Bemerkung v. Belows, der – sonst ein scharfer und überaus erfolgreicher Kritiker aprioristischer Konstruktionen – hier wohl einmal seinerseits zu „konstruktiv“ verfährt. Die radikalsten Neuerer standen unter dem Eindruck und Einfluß der Kalvinistischen Prädestinationslehre,45 des „l’homme machine“46 und des marxistischen Katastrophenglaubens.47 Wir kommen auf diesen Punkt noch mehrfach zurück. 56)

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n–n  [  ] in A.   42  Anders, als Weber es darstellt, warnt Roscher, System I2, S.  524 (§  265; in dieser Auflage als §  266 bezeichnet), „vor der unpassenden Anwendung von Analogien, vor der trägen, fatalistischen Uebertreibung des Satzes: nichts Neues unter der Sonne! Es ist beinah Mode geworden, unsere Gegenwart mit dem sinkenden Zeitalter der griechischen und römischen Republiken zu vergleichen. Schreckliche Parallele! wobei man aber die größten und zweifellosesten Unterschiede um kleinerer, jedenfalls zweifelhafter Aehnlichkeiten willen übersieht.“ 43  Gemeint ist: Hintze, Roscher, S.  18 f. [784 f.], erschienen im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft. Dazu unten, S.  83, Fn.  73. 44  Vgl. Below, Methode, S.  245, mit Bezug auf Windelband, Geschichte, S.  21. 45  Für Calvin hat Gott alle Menschen zu ewigem Heil oder ewiger Verdammnis vorherbestimmt. Sein Heilsschicksal ist dem Menschen nicht bekannt und von ihm nicht beeinflußbar. Vgl. Calvin, Jean, Joh. Calvins christliche Glaubenslehre. Nach der ältesten Ausgabe vom Jahre 1536 zum erstenmal ins Deutsche übersetzt von Bernhard Spiess. – Wiesbaden: Limbarth 1887. 46 Im Sinne der neuzeitlichen Naturwissenschaften hat La Mettrie 1748 den Menschen als mechanischen Funktionszusammenhang konzipiert, der nicht nur den Körper, sondern auch die Seele einbegreift. Vgl. La Mettrie, Julien Offray de, Der Mensch eine Maschine. Übersetzt, erläutert und mit einer Einleitung über den Materialismus versehen von Adolf Ritter. – Leipzig: Koschny 1875. 47  Annahme, daß die im Kapitalismus angelegte Entwicklung schließlich zu seinem Zusammenbruch führen werde. Vgl. Bernstein, Eduard, Der Kampf der Sozialdemo-

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halb wissenschaftlich gleichgültigen Zutaten: eine offenbar spezifisch naturwissenschaftliche58) Betrachtungsweise.48 Dieser typische Lebensgang aller Kulturvölker muß natürlich in typischen Kulturstufen zum Ausdruck kommen. Diese Konsequenz wird von Roscher in der Tat schon im „Thukydides“ (Kap.  IV) durchgeführt.49 Nach dem „Hauptgrundsatz aller historischen Kunst, daß man in jedem Werke die ganze Menschheit wiederfinden müsse“,50 ist es die Aufgabe des Historikers – Roscher denkt an der betreffenden Stelle zunächst an den Literaturhistoriker –, die Gesamtliteratur des Altertums mit derjenigen der romanischen und germanischen Völker zum Zwecke der Ermittelung der Entwickelungsgesetze aller Literaturen überhaupt zu vergleichen. Diese Vergleichung ergibt aber, wenn sie weiterhin auf die Entwickelung der Kunst und Wissenschaft, der Weltanschauung51 und des gesellschaftlichen Lebens ausgedehnt wird, die Aufeinanderfolge von in sich wesensgleichen Stufen auf allen Kulturgebieten. Roscher erinnert gelegentlich daran, daß man selbst in den Weinen 58)  „Naturwissenschaftlich“ soll hier wie im folgenden stets im Sinn von „gesetzeswissenschaftlich“ verstanden sein, also die exakte Methode der Naturwissenschaften bezeichnen. |

kratie und die Revolution der Gesellschaft. 2: Die Zusammenbruchs-Theorie und die Kolonialpolitik, in: Die neue Zeit, Band 1, Heft 18, 1898, S.  548–557. Vgl. auch Kautsky, Karl, Bernstein und das Sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik. – Stuttgart: J. H. W. Dietz Nachf. 1899, S.  42 ff. 48  Für Rickert, Causalität (wie oben, S.  46, Anm.  31), S.  82 f., reduziert die Mechanik die anschauliche Körperwelt auf einen Komplex von Atomkomplexen, deren einzige Veränderung in der Bewegung ihrer unveränderlichen Teile besteht. In dieser „Welt des reinen Mechanismus“ entsteht „niemals etwas Neues“, denn: „Die Atome sind ewig dieselben, und lediglich die potentielle oder aktuelle Bewegung geht von dem einen ihrer Complexe auf den andern über.“ Vgl. auch Rickert, Grenzen, S.  75 ff., 232 ff., 507. 49 Vgl. Roscher, Thukydides, S.  48 ff., zu den Entwicklungsstufen der historischen Kunst. 50  Vgl. ebd., S.  52. 51 Eine Definition findet sich in Rickert, Heinrich, Naturwissenschaftliche Weltanschauung? [1.  Teil], in: Der Lotse, 1.  Jg., 1901, S.  813–820, hier S.  813 f.: „Wenn man von Weltanschauung spricht, so hat man aber wohl nicht nur die Frage nach den richtigen Vorstellungen von der Welt im Auge, sondern auch die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach der Richtschnur für unser Thun. Dabei aber kommt es immer auf einen Wertmaßstab an, und wenn wir nach ihm suchen, um unser Leben danach zu gestalten, so stellen wir uns eine prinzipiell andere Aufgabe, als wenn wir nur wissen wollen, was die Welt ist […]. In dem einen Falle ist das Sein, in dem andern das Sollen unser Objekt.“

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der verschiedenen Länder den Volkscharakter habe schmecken wollen.52 Die metaphysische Volksseele, welche sich darin äußert, wird einerseits als etwas Konstantes, sich selbst gleich Bleibendes vorgestellt, | aus welchem die sämtlichen „Charaktereigenschaften“ des konkreten Volkes emanieren59), weil sie eben ganz ebenso wie die Seele des Individuums direkte Schöpfung Gottes ist. Andererseits gilt sie als nach Analogie der menschlichen Lebensalter einem in allen wesentlichen Punkten bei allen Völkern und auf allen einzelnen Gebieten gleichen Entwickelungsprozeß unterstehend. Typische, konventionelle und individualistische Epochen lösen sich in Poesie, Philosophie und Geschichtschreibung, ja in Kunst und Wissenschaft überhaupt in festbestimmtem Kreislauf ab, der stets in dem unvermeidlichen „Verfall“ endet. Roscher führt dies an Beispielen aus der antiken, mittelalterlichen und modernen Literatur bis in das 18. Jahrhundert hinein durch60) und interpretiert seine Theorie, daß die Geschichte deshalb Lehrmeisterin sein könne, weil die Zukunft „nach menschlicher Weise der Vergangenheit ähnlich wiederzukehren“ pflege, in recht charakteristischer Weise in die bekannte Äußerung des Thukydides über den Zweck seines Werkes (I, 22) hinein.53 Seine eigene Ansicht vom Wert der geschichtlichen Erkenntnis61): – Befreiung von Menschenvergötterung und Menschenhaß durch Erkenntnis des „Dauerhaf­ ten“ in der Flucht des Ephemeren – zeigt eine leicht spinozisti59) Siehe die charakteristische Stelle §  37 des „Systems“ Band I54 und die weiterhin zitierten Stellen im Thukydides. 60)  Thuk[ydides] S.  58, 59, 62, 63.55 61)  Thuk[ydides] S.  43.

52  Vgl. Roscher, System I2, S.  58 f. (§  37). 53  Für Roscher, Thukydides, S.  180, ist die handschriftliche Fassung von Thukydides zweideutig, da die Setzung des Kommas entscheidend für eine angemessene Übersetzung des Satzes sei. Üblicherweise werde übersetzt: „Denen werde sein Buch Genüge thun, welche die Vergangenheit klar erkennen, für die Zukunft aber nützliche Lehren daraus ziehen wollen.“ Bei anderer Kommasetzung würde die Übersetzung lauten: „Denen werde sein Buch Genüge thun, welche Vergangenheit und Zukunft klar durchschauen wollen“, „denn“ – so ergänzt Roscher – „die Zukunft pflege nach menschlicher Weise der Vergangenheit ähnlich wiederzukehren“. 54  Vgl. Roscher, System I2, S.  58 ff. (§  37). 55  Vgl. bereits Roscher, Thukydides, S.  48 ff.

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sche56 Färbung, und einzelne Äußerungen klingen beinahe fatalistisch62). Auf das Gebiet, welches uns hier interessiert, übertrug Roscher diese Theorie63) in dem Aufsatz über die Nationalökonomie und das klassische Altertum (1849).57 | 62)  So der Schluß des ganzen Werkes (S.  502): „So haben von jeher die Lieblingspläne sinkender Zeiten, statt der Freiheit und Glückseligkeit, die sie verhießen, nur gesteigerte Knechtschaft und Drangsal zur Folge gehabt.“58 63)  In der Gegenwart arbeitet unter den Historikern vornehmlich Lamprecht mit derartigen biologischen Analogien und Begriffen. Auch hier wird die Nation als eine „sozialpsychische“ Einheit hypostasiert, welche an sich eine Entwickelung von – wie Lamprecht (Jahrb[uch] f[ür] Nationalökonomie 69, 119) ausdrücklich sagt – „biologischem Charakter“, das soll heißen eine in „typischen“, „regulären“ Entwickelungsstufen, nach bestimmten Gesetzen verlaufende Entwickelung, erlebt.59 Diese Entwickelung stellt sich dar als „beständiges Wachstum der psychischen Energie“ der Nation (Deutsche Zeitschrift f[ür] Geschichtswiss[enschaft] N. F. I, 109 f.): Aufgabe der Wissenschaft ist es, an Völkern mit „abgeschlossener Entwickelung“ – wiederum eine Roschersche Vorstellung – diese bei jedem „normal entwickelten“ Volke wiederkehrenden typischen Kulturepochen in ihrem notwendigen Hervorgehen auseinander zu beobachten und „kausal (?) zu erklären“.60 Lamprechts | „Diapasons“ (!)61 sind in den A 25 im Text wiedergegebenen Ausführungen im 4. Kapitel des Thukydides ganz ebenso vorweggenommen wie dessen stark dilettantische kunsthistorische Konstruktionen, und wenn man von dem „Animismus“ und „Symbolismus“ auf der einen, dem „Subjektivismus“ auf der anderen Seite absieht, selbst die Kategorien, nach denen die Epochen geschieden werden.62 Das logische Mittel, welches L[amprecht] anwendet: Hypostasierung der „Nation“ oals eineso kollektiven Trägers derjenigen psychischen Vorgänge,

o–o A: des einen   56  Polemische Bezeichnung eines auf Baruch de Spinoza zurückgeführten Pantheismus. 57  Roscher, Verhältniss. 58  Roscher, Thukydides, S.  502. 59  Lamprecht, Herder, S.  199 (nicht: S.  119). 60  Lamprecht, Kulturgeschichte, S.  132 f. 61 Diapason (griech.: durch alle Töne), ursprünglich Name der Oktave. Für Lamprecht, ebd., S.  127, ist ein Diapason die „allgemeine psychische Disposition“ einer bestimmten Zeit, „von der aus die Kunst gepflegt und getrieben“ wird. 62  Lamprecht, ebd., S.  130, periodisiert die deutsche Geschichte in die Zeitalter des „Symbolismus“, „Typismus“, „Konventionalismus“, „Individualismus“ und „Subjektivismus“. Roscher, Thukydides, S.  49 ff., spricht von verschiedenen „Entwicklungsstufen der historischen Kunst“: Zunächst gibt es das Epos, in dem Geschichtsschreibung und Dichtkunst noch weitgehend vereint sind. Hier entstehen die Annalen und die Chronik als erste Stufe der kunstmäßigen Geschichte. Darauf folgt das Memoire, in dem sich der Autor selbst in den Mittelpunkt der Handlung stellt und die Motive der Handlungen zu deuten versucht. Am Ende der Entwicklung steht das eigentliche historische Kunstwerk. Eine gleichlaufende Entwicklung konstatiert Roscher auch für Poesie und Philosophie. Vgl. eine ähnliche Gliederung in Gervinus, Historik.

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Die Wirtschaft kann sich der allgemeinen Erscheinung der typischen Stufenfolge natürlich nicht entziehen. Roscher unterscheidet als typische Wirtschaftsstufen drei, je nachdem in der Güterproduktion von den drei typischen Faktoren derselben die „Natur“ oder die „Arbeit“ oder das „Kapital“ vorherrscht, und glaubt, daß „bei jedem vollständig entwickelten Volke“ drei dementsprechende Perioden sich nachweisen lassen müssen.63 Unserer heutigen am Marxismus orientierten Betrachtungsweise würde es nun ganz selbstverständlich sein, die Lebensentwickelung des Volkes als durch diese typischen Wirtschaftsstufen bedingt anzusehen und die Tödlichkeit der Kulturentwickelung für die Völker – diese These Roschers einmal als bewiesen vorausgesetzt – etwa als Folge gewisser mit der Herrschaft des „Kapitals“ unvermeidlich verknüpfter Folgen für das staatliche und persönliche Leben aufzuzeigen. Roscher hat an diese Möglichkeit so wenig gedacht, daß er jene Theorie von den typischen Wirtschaftsstufen64) in seinem „Systeme“ bei den grundlegenden Erörterungen lediglich als ein mögliches Klassifikationsprinzip erwähnt (§  78), ohne welche nach ihm die „Sozialpsychologie“ erörtern soll, ist das gleiche wie bei allen „organischen“ Theorien.64 Auch die Bezugnahme auf das „Gesetz der großen Zahl“65 zur Erhärtung der „Gesetzlichkeit“ in der Bewegung der sozialen Gesamterscheinungen trotz der empirischen „Freiheit“ des „Einzelnen“ kehrt bei ihm, wenn schon verhüllt, wieder.66   Der Unterschied zwischen Roscher und ihm beruht nur auf der nüchternen Gewissenhaftigkeit Roschers, der nie an die Möglichkeit geglaubt hat, das Wesen des einheitlichen Kosmos in einem oder einigen abstrakten Begriffen auch formulieren zu können, und der in seiner Praxis sein Schema zwar innerhalb gewisser Grenzen zur Stoffgliederung und Veranschaulichung benutzte, nie aber dessen Erhärtung zum Ziel seiner wissenschaftlichen Arbeit gemacht und diese dadurch ihrer Unbefangenheit beraubt hätte. Siehe die oben S.  65 f. wiedergegebenen Ausführungen in Roschers „Thukydides“. 64)  Enthalten in Roschers „Ansichten der Volksw[irthschaft] vom gesch[ichtlichen] Standpunkt“, Bd.  I, in dem Aufsatz über das Verhältnis der Nationalökonomie zum klassischen Altertum. Der Aufsatz ist, wie gesagt, 1849 entstanden.67 |

63  Roscher, Verhältniss, S.  123; Roscher, Grundriß, S.  6 f. 64  Lamprecht, Kulturgeschichte, S.  109, spricht vom „psychischen Gesamtorganismus“. 65  Vgl. unten, S.  93 mit Anm.  35. 66  Lamprecht, Kulturgeschichte, S.  133 f. 67  Roscher, Verhältniss.

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sie weiterhin der Betrachtung zu Grunde zu legen.68 Vielmehr ist er der Meinung, daß | das Problem des zu Grunde liegenden Lebensprozesses selbst, also die Frage nach dem Grunde des Alterns und Sterbens der Völker[,] ebensowenig lösbar sei, wie sich ein naturgesetzlicher Grund für die – trotzdem nicht bezweifelte – ausnahmslose Notwendigkeit des Todes beim Menschen angeben lasse.69 Der Tod folgt für Roscher aus dem „Wesen“ des Endlichen65), sein empirisch ausnahmsloser Eintritt ist eine Tatsache, welche wohl einer metaphysischen Deutung, aber keiner exakten kausalen Erklärung zugänglich ist66) – mit Du Bois-Reymond zu sprechen: ein „Welträtsel“.70

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65) S[iehe] die höchst charakteristischen Bemerkungen am Schluß des §  264 und in A 26 den Noten dazu.71 Der logische Charakter der stark religiös gefärbten Argumentation ist ersichtlich emanatistisch, aber wie vorsichtig weicht Roscher in der Formulierung der direkten Berufung auf Gottes Ordnung aus! 66)  R[oscher] begnügt sich daher auch bei der Schilderung des „Sterbens“ der Völker mit ziemlich vagen Bemerkungen (§  264), wobei die „unvermeidliche Abnutzung aller Ideale“ und die „Erschlaffung im Genuß“ eine Rolle spielen.72 In der Geschichte der Nationalökonomie (S.  922) wird in Anlehnung an Äußerungen Niebuhrs das Schwinden des Mittelstandes auf bestimmten Kulturstufen als „Hauptform des Alterns

68  In Roscher, System I2, S.  132 ff. (§  78), ist von typischen Wirtschaftsstufen als einem möglichen Klassifikationsprinzip nicht die Rede. Wahrscheinlich bezieht sich Weber nicht auf §  78, sondern auf S.  78 (§  46). Nach der Darstellung der drei „Productivkräfte“ „Natur“ (§§   31–37, S.   47–60), „Arbeit“ (§§   38–41, S.   60–68) und „Kapital“ (§§  42–45, S.  68–78) weist Roscher auf das „Zusammenwirken der drei Factoren“ (§  46, S.  78) hin und schlägt diese als mögliches Klassifikationsprinzip vor: „Von diesem Gesichtspunkte aus kann die Geschichte fast jeder völlig entwickelten Volkswirth­ schaft in drei große Perioden getheilt werden.“ (§  47, S.  79). Vgl. dasselbe schwächer in Roscher, System I23, S.  131 (§  47). 69  Vgl. Roscher, System I2, S.  539 f. (§  264). Die Notwendigkeit des Todes beim Menschen wird als Beispiel für ein empirisches Gesetz angeführt. Vgl. oben, S.  59 mit Anm.  88, und Weber, Stammler, unten, S.  530. 70  Für Emil Du Bois-Reymond sind Welträtsel Probleme des Naturerkennens, für die gilt: „Ignorabismus“: 1) das Wesen von Materie und Kraft, 2) der Ursprung der Bewegung, 3) die Entstehung des Lebens, 4) die anscheinend absichtsvoll zweckmäßige Einrichtung der Natur, 5) die Entstehung der Sinnesempfindung, 6) das vernünftige Denken und der Ursprung der Sprache, 7) die Willensfreiheit. Vgl. Du Bois-Reymond, Welträthsel (wie oben, S.  3, Anm.  18), S.  391 ff. 71  Roscher, System I2, S.  540 (§  264): „Dabei wiederholt es sich in der Regel, daß dieselben Richtungen, welche das Volksleben zu seinem Höhepunkte führen, es in ihrem weitern Fortwirken auch wieder hinabstürzen. Keine menschliche Richtung, die doch fast immer mit Sünde behaftet, die jedenfalls endlicher Natur ist, verträgt ihre äußersten Consequenzen. Bei allem irdischen Dasein pflegt der Entstehungsgrund schon die Keime des künftigen Unterganges zu enthalten.“ 72  Vgl. ebd., S.  539 f. (§  264).

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Das logische Problem, wie nun zwischen diesem zu Grunde gelegten biologischen Entwickelungsschema und der in Parallelismenbildung sich bewegenden, vom Einzelnen ausgehenden empirischen Forschung eine feste Beziehung herzustellen sei, hätte nun Roscher naturgemäß, auch wenn sein geschichtsphilosophischer Standpunkt ein anderer gewesen wäre, schwerlich lösen können. Die logische Natur des Satzes vom notwendigen Altern und Sterben der Völker ist eben eine | andere als die eines auf Abstraktion ruhenden Bewegungsgesetzes oder eines anschaulich evidenten mathematischen Axioms. Abstrakt vollzogen – soweit dies überhaupt möglich67) wäre –, würde jener Satz ja gänzlich inhaltsleer sein und könnte Roscher eben die Dienste nicht leisten, welche er von ihm erwartet. Denn die Zurückführung auf die Altersstufen der Völker soll ja doch offenbar nach seiner Absicht nicht eine Subsumtion der wirtschaftlichen Vorgänge unter einen generellen

hochkultivierter Völker“ hingestellt.73 Mit dem modernen geschichtsphilosophischen Kulturpessimismus, wie er wissenschaftlich u. a. von Vierkandt vertreten wird,74 hat R[oscher]s Standpunkt infolge seines religiös bedingten Optimismus innerlich nichts Verwandtes. – Seine Ansicht von der „Notwendigkeit“ des „Verfallens“ für jeden „Organismus“ und deshalb auch das „Volksleben“ hielt Roscher auch in den späteren Auflagen (Anm. zu §  16) ausdrücklich als einen Punkt, in dem er von Schmoller abweichen müsse, aufrecht.75 – Roscher geht soweit, es (Thukydides S.  469) unter Berufung auf Aristoteles’ Politik V, 7, 16 als eins der „tiefsten Entwickelungsgesetze“ zu bezeichnen, daß dieselben „Kräfte“, welche ein Volk auf den Gipfel seiner Kulturentwickelung heben, im weiteren Fortwirken es davon auch wieder herabstürzen, und gelangt so in seinem „System“ (§  264 Anm.  7) zu dem Satz: „Große Herrscher, denen man nachrühmt, daß sie durch ihre Konsequenz die Welt erobert, würden mit derselben Konsequenz, fünfzig Jahre länger fortgesetzt, ganz gewiß (!) die Welt wieder verloren haben.“76 Es handelt sich hier um halb platonische, halb Hegelsche Formen der Konstruktion, aber in religiöser Wendung: die „Idee“ des Endlichen, welche die Notwendigkeit jenes Ablaufs enthält, ist Gottes feste Ordnung. | 67) Möglich wäre es bezüglich des „Sterbens“ der Völker nur bei Identifikation des A 27 Begriffs „Volk“ mit der gattungsmäßig erfaßten politischen Organisation der Staaten, also bei rationalistischer Entleerung des Begriffes „Volk“. Aus dem „Altern“ würde dabei vollends lediglich die inhaltsleere Vorstellung des Ablaufs eines erheblichen Zeitraums.

73  Vgl. Roscher, Geschichte, S.  922 f., mit Bezug auf Niebuhr, Barthold Georg, Nachgelassene Schriften nichtphilologischen Inhalts. – Hamburg: Friedrich Perthes 1842, S.  449. 74  Vgl. Vierkandt, Alfred, Naturvölker und Kulturvölker. Ein Beitrag zur Socialpsychologie. – Leipzig: Duncker & Humblot 1896. 75  Vgl. Roscher, System I23, S.  44 f. (§  16 Anm.  7). 76  Vgl. Roscher, System, I2, S.  541 (§  264 Anm.  7).

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Begriff als Spezialfall, sondern ein kausales Eingliedern ihres Ablaufs in einen universellen Zusammenhang von Geschehnissen68) als deren Bestandteil bedeuten. Der Begriff des „Alterns“ und „Sterbens“ der Völker müßte mithin und selbstverständlich als der inhaltlich umfassendere Begriff gedacht werden, das „Altern“ und „Sterben“ als ein Vorgang von unendlicher Komplexität, dessen nicht nur empirische Regelmäßigkeit – sondern gesetzliche Notwendigkeit (wie Roscher sie annimmt) sich axiomatisch nur einem intuitiven Erkennen enthüllen würde. Für die Beziehungen des Gesamtvorgangs zu den wirtschaftlichen Teilvorgängen wären für die wissenschaftliche Betrachtung zwei Möglichkeiten gegeben: Entweder man behandelt die Erklärung des (nach Roschers Ansicht) stets sich wiederholenden komplexen Vorgangs aus gewissen, stets sich wiederholenden Einzelvorgängen als Zweck, dem man sich auf dem Wege des Nachweises der gesetzlichen Notwendigkeit in der Aufeinanderfolge und dem Zusammenhang der Teilvorgänge zu nähern sucht: – der Gesamtvorgang, den der umfassendere Begriff bezeichnet, wird alsdann zur Resultante aus den einzelnen Teilvorgängen; – das hat Roscher nicht versucht, da er vielmehr den Gesamtvorgang (Altern und Sterben) als den Grund ansah69). Wir werden noch sehen, daß er entsprechend seiner Stellung | zum diskursiven Erkennen70) die umgekehrte Betrachtungsweise auch in der Nationalökonomie für nicht nur faktisch, sondern prinzipiell unmöglich hielt. Oder man stellt sich auf den Standpunkt des Emanatismus und konstruiert die empirische Wirklichkeit als Ausfluß von „Ideen“, aus denen die Einzelvorgänge begrifflich als notwendig ableitbar sein und deren oberste sich in dem komplexen Gesamtvorgang anschaulich erkennbar

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68)  Roscher hat freilich diesen prinzipiellen logischen Gegensatz gar nicht bemerkt. Er identifiziert §  22 Anm.  3 in charakteristischer Weise begriffliche Abstraktion und Zerlegung eines Zusammenhangs in seine Komponenten. Die Trennung der Muskeln und Knochen durch den Anatomen ist ihm eine Analogie der Abstraktion.77 69)  Wir erinnern uns hier an das, was er im „Thukydides“ über das Prinzip der Kausalität gesagt hatte: das „Wichtigere“ muß als Realgrund angesehen werden, aus dem die Einzelerscheinungen emanieren. S[iehe] o[ben] S.  66 f. | 70) S[iehe] o[ben] S.  67 ff. A 28

77  Vgl. ebd., S.  37 (§  22 Anm.  3). Weber hat hier offenbar die generalisierende Abstraktion im Blick. Zum Zusammenhang von Abstraktion und Analyse vgl. Einleitung, oben, S.  16.

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manifestieren müßte. Das aber hat Roscher ebenfalls (wie wir sahen) nicht getan, einmal weil er den Inhalt einer solchen „Idee“, die ihm göttliche Idee hätte sein müssen, als jenseits der Grenzen unseres Erkennens liegend ansah, und dann weil ihn die Gewissenhaftigkeit des historischen Forschers vor dem Glauben an die Deduzierbarkeit der Wirklichkeit aus Begriffen bewahrte. Aber freilich bleibt so sein methodischer Standpunkt gegenüber dem von ihm vertretenen Grundgedanken der geschichtlichen Entwickelungsgesetze widerspruchsvoll71). Seine umfassende historische Bildung äußert sich zwar in der Herbeischaffung und geistvollen Deutung eines gewaltigen Materials geschichtlicher Tatsachen, aber – das hat schon Knies scharf hervorgehoben78 – von einer konsequent durchgeführten Methode kann selbst für die von Roscher so stark in ihrer Bedeutung betontenp Betrachtung des historischen Nacheinander der volkswirtschaftlichen Institutionen nicht gesprochen werden. Ganz entsprechend verhält sich Roscher in seinen Schriften über die Entwickelung der politischen Organisationsformen72). Durch historische Parallelismen nähert er sich einer (vermeintlichen) Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge der Staatsformen, die nach ihm den Charakter einer bei allen Kulturvölkern anzutreffenden Entwickelung besitzt, indem die Ausnahmen, welche sich finden, durchweg derart erklärt werden können, daß sie die Geltung der 71)  Bücher (a. a. O.) bedauert, daß Roscher sein Periodisierungsprinzip nicht „dem Begriffsinhalt der eigenen Wissenschaft entnommen“ habe.79 Es stand eben für Roscher (und ebenso für Knies, wie unten zu zeigen sein wird)80 keineswegs fest und versteht sich ja auch an sich durchaus nicht von selbst, daß dies überhaupt möglich bezw. in welchem Maße es methodisch fruchtbar ist. 72) Zusammengefaßt als „Politik. Geschichte und Naturlehre der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie“.81 |

p A: betonte   78  Knies weist darauf hin, „daß Hr. Roscher die echten Grundsätze jener Methode in fast überall durchaus befriedigender Weise zur Anwendung bringt, während die theoretische Ausführung und Begründung manche Mängel erkennen läßt“. Vgl. Knies, Roscher, S.  86 f. 79  Vgl. Bücher, Roscher, S.  113 f. Vgl. oben, S.  78 mit Anm.  63. 80  Bezug ist möglicherweise Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  270 f. 81  Vgl. Roscher, Politik; der Untertitel lautet „Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie“.

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Regel nicht aufheben, sondern bestätigen.82 Der Versuch, die (angeblich) typischen politischen Entwickelungsstufen in den Zusammenhang der Gesamtkultur der | einzelnen Völker zu stellen und empirisch zu erklären, wird nicht gemacht. Sie sind eben Alterstufen, welche das Gattungswesen „Volk“ in seinem Lebensprozeß an sich erlebt73), – wie aber der Vorgang dieses „Erlebens“ eigentlich zu stande kommt, wird trotz Beibringung eines gewaltigen Tatsachenmaterials nicht zu erklären versucht – wie wir wissen, weil es eben nach Roschers Meinung nicht erklärbar ist. – In noch markanterer Weise tritt das gleiche hervor bei Roschers Analyse des Nebeneinander der wirtschaftlichen Vorgänge und ihres „statischen“ Zusammenhangs untereinander – der Aufgabe, auf welche sich die Doktrin bisher im wesentlichen beschränkt hatte. Auch hier zeigen sich die Konsequenzen von Roschers „organischer“ Auffassung sogleich bei der Erörterung des Begriffs der „Volkswirtschaft“. Es versteht sich, daß sie ihm kein bloßes Aggregat von Einzelwirtschaften ist, so wenig wie ihr Analogon, der menschliche Körper, „ein bloßes Gewühl chemischer Wirkungen“83 sei. – Vor wie nach ihm bildet nun das sachliche wie methodische Grundproblem der Nationalökonomie die Frage: Wie haben wir die Entstehung und den Fortbestand nicht auf kollektivem Wege zweckvoll geschaffener und doch – für unsere Auffassung – zweckvoll funktionierender Institutionen des Wirtschaftslebens zu erklären? – ganz ebenso wie das Problem der „Erklärung“ der „Zweckmäßigkeit“ der Organisation die Biologie beherrscht.84 Für das Nebeneinander der wirtschaftlichen Erscheinungen heißt das also: in welcher begrifflichen Form ist das Verhältnis der Einzelwirtschaften zu dem Zusammenhang, in den sie verflochten sind,

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73) S[iehe] die zutreffenden Bemerkungen von Hintze über Roschers politische Ent- A 29 wickelungstheorien in diesem Jahrbuch 1897, S.  767 ff.85

82  Vgl. ebd., S.  12 f. (§  3), zur „Regel“ dieser Aufeinanderfolge und zu den „Ausnahmen“. 83  Vgl. Roscher, System I2, S.  19 (§  12; in dieser Auflage fälschlicherweise als §  13 bezeichnet). 84  Dies ist für Du Bois-Reymond das vierte Welträtsel. Vgl. oben, S.  79 mit Anm.  70. Weber kommt später auf die Theorie der Dominanten zu sprechen, die eine Antwort auf dieses Rätsel geben sollte. Vgl. unten, S.  92 f. mit Anm.  31. 85  Vgl. Hintze, Roscher, S.  18 f. [784 f.], im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft.

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wissenschaftlich zu konstruiren? Hierauf ist nach der Ansicht Roschers ebenso wie nach derjenigen seiner Vorgänger und meisten Nachfolger nur auf Grund bestimmter Annahmen über die psychologischen Wurzeln des Handelns der Einzelnen eine Antwort zu geben74). Dabei wiederholen sich nun die Widersprüche in Roschers methodischem Verhalten, die wir oben in seiner Geschichtsphilosophie hervortreten sahen. Da Roscher die Vorgänge des Lebens geschichtlich, das heißt in ihrer vollen Realität, betrachten zu wollen ankündigt,86 so sollte man voraussetzen, er werde, wie dies später, seit Knies, seitens der historischen Nationalökonomie im Gegensatz zu den Klassikern87 | geschah, die konstante Einwirkung nicht ökonomischer Faktoren auch auf das wirtschaftliche Handeln des Menschen: die kausale Heteronomie der menschlichen Wirtschaft, in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellen. Da aber Roscher an der Formulierung von Gesetzen der Wirtschaft als der wissenschaftlichen Grundaufgabe festhält, so hätte alsdann auch hier wieder das Problem entstehen müssen, wie einerseits die isolierende Abstraktion88 gegenüber der Realität des Lebens aufgegeben, andererseits doch die Möglichkeit gesetzlichbegrifflicher Erkenntnis gewahrt werden sollte. Was Roscher anlangt, so hat er jene Schwierigkeit gar nicht empfunden, und zwar hob ihn darüber die überaus einfache Psychologie hinweg, von der er in Anlehnung an die mit dem Begriff des „Triebes“ arbeitende Aufklärungs-Psychologie ausging.89 Für Roscher ist der Mensch durchweg, auch auf dem Boden des wirtschaftlichen Lebens, beherrscht einerseits von dem Streben nach den Gütern dieser Welt, dem Eigennutz, daneben aber von einem umfassenden anderen Grundtriebe: der „Liebe Gottes“, 74)

  Inwieweit diese Ansicht methodisch zutrifft, fragen wir an dieser Stelle nicht. |

86  Vgl. Roscher, System I², S.  25 (§§  16): „Wie jedes Leben, so ist auch das Volksleben ein Ganzes, dessen verschiedenartige Aeußerungen im Innersten zusammenhängen. Wer daher eine Seite desselben wissenschaftlich verstehen will, der muß alle Seiten kennen.“ 87  Vgl. oben, S.  42 f. mit Anm.  9. 88  Vgl. Einleitung, oben, S.  16. 89  Vgl. z. B. Herbart, Johann Friedrich, Lehrbuch zur Psychologie, 2.  Aufl. – Königsberg: August Wilhelm Unzer 1834, S.  86 ff., der die „Triebe“ den „unteren Begehrungsvermögen“ zurechnet.

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welche „die Ideen der Billigkeit, des Rechtes, des Wohlwollens, der Vollkommenheit und inneren Freiheit umfaßt und bei niemandem völlig fehlt“.90 Was das Verhältnis der beiden Triebe zueinander anlangt, so findet sich bei Roscher zunächst ein Ansatz zu einer rein „utilitarischen“ Ableitung der sozialen Triebe direkt aus dem wohlverstandenen Eigeninteresse75). Allein dem wird nicht weiter nachgegangen, vielmehr ist es, entsprechend Roschers religiösen Anschauungen, der höhere, göttliche Trieb, welcher den irdischen Eigennutz, dessen Widerpart er ist und sein muß, im Zaum hält76), indem er sich mit ihm in den mannig|faltigsten Mischungsverhältnissen durchdringt und so die verschiedenen Abstufungen des Gemeinsinns erzeugt, auf denen das Familien-, Gemeinde-, Volks- und Menschheitsleben beruht. Je enger die sozialen Kreise, auf welche sich der Gemeinsinn bezieht, desto näher steht er dem Eigennutz; je weiter sie sind, desto mehr nähert er sich dem Trachten nach dem Gottesreiche. Die verschiedenen sozialen Triebe des Menschen sind also als Äußerungsfor-

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75)  §  11: „Selbst der bloß rechnende Verstand muß erkennen, daß unzählige Anstal- A 30 ten . . . für jeden einzelnen . . . notwendig sind, ohne Gemeinsinn aber ganz unmöglich bleiben, weil kein einzelner die dafür nötigen Opfer übernehmen könnte.“91 – Ganz ähnlich Gesch[ichte] d[er] Nationalökonomie S.  1034, wo die für die Pseudo-Ethik, welcher der Historismus zu verfallen droht, recht charakteristische Bemerkung eingeschlossen ist: „Der verständige Eigennutz trifft in seinen Forderungen immer näher mit denen des Gewissens zusammen, je größer der Kreis ist, um dessen Nutzen es sich handelt, und je weiter dabei in die Zukunft geblickt wird.“92 76)  Roscher zitiert hierzu (§  11 Nr.  6) die Ausführungen Kants in dessen Anthropologie über die Beschränkung der Neigung zum Wohlleben durch die Tugend.93 Später ist ihm der „Gemeinsinn“ Emanation einer objektiven sozialen | Macht geworden, – er A 31 betont in den späteren Auflagen, daß er unter Gemeinsinn wesentlich dasselbe verstehe, was Schmoller „Sitte“ nenne.94 Hiergegen wandte sich, wie wir sehen werden,95 Knies in der zweiten Auflage seines Hauptwerkes.

90  Vgl. Roscher, System I2, S.  16 f. (§  11). Roscher referiert hier ohne Nachweis auf Herbarts fünf praktische oder ursprüngliche Ideen. Vgl. Herbart, Johann Friedrich, Allgemeine Practische Philosophie. – Göttingen: Justus Friedrich Danckwerts 1808, S.  77 ff. 91  Vgl. Roscher, System I2, S.  17 (§  11). 92  Vgl. Roscher, Geschichte, S.  1034. 93  Roscher, System I2, S.  18 (§  11 Anm.  6). 94  Roscher, System I23, S.  31 (§  11 Anm.  10). 95  Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  369 ff.

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men eines religiösen Grundtriebes in dessen Vermischung mit dem Eigeninteresse aufgefaßt. Man sollte nun bei dieser Anschauungsweise Roschers erwarten, daß er rein empirisch die Entstehung der einzelnen Vorgänge und Institutionen aus der Wirksamkeit jener beiden Triebe, deren Mischungsverhältnis im einzelnen Fall festzustellen wäre, zu erklären versuchen würde77). Roschers Verhalten ist aber ein anderes. Es konnte auch ihm nicht entgehen, daß auf den spezifischen Gebieten des modernen Wirtschaftslebens, im Verkehr der Börsen, Banken, im modernen Großhandel, in den kapitalistisch entwickelten Gebieten der Gütererzeugung, das wirkliche Leben von irgend welcher Gebrochenheit des „wirtschaftlichen Eigennutzes“ durch andere „Triebe“ schlechterdings nichts zeigte[.] Demgemäß hat Roscher den gesamten auf den Eigennutz aufgebauten Begriffs- und Gesetzesapparat der klassischen Nationalökonomie ohne allen Vorbehalt übernommen. Die bisherige deutsche Theorie hatte nun – so insbesondere Hermann[,]96 auch Rau – der Alleinherrschaft des Eigennutzes im privaten Wirtschaftsleben78) die | Herrschaft des Gemeinsinns im öffentlichen Leben an die Seite gestellt79), wobei einerseits die Aufteilung des gesamten

77)  Das Problem bestand für die klassische Theorie deshalb nicht, weil sie von der Annahme ausging, daß auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens nur ein konstantes und einfaches Motiv wissenschaftlich in Betracht zu ziehen sei: der „Eigennutz“, welcher sich auf dem Boden der Verkehrswirtschaft in dem Streben nach dem Maximum privatwirtschaftlichen Gewinns äußere. Für sie bedeutete die ausschließliche Berücksichtigung dieses Triebes keineswegs eine Abstraktion.97 78)  Bekanntlich ist auch dieses Prinzip selbst von Rau nicht konsequent durchgeführt worden. Rau begnügte sich damit, das vorwaltende Wirken des Eigennutzes als eines „unwiderstehlichen Naturtriebes“ als das Normale zu Grunde zu legen, dem gegenüber andere „übersinnliche“ und „erhabene“ Motive jedenfalls nicht als Grundlage für die Aufstellung von „Gesetzen“ in Betracht kommen könnten, – weil sie irrational sind. Daß aber die Aufstellung von Gesetzen der einzig mögliche wissenschaftliche Zweck sei, verstand sich von selbst.98 | 79) Für die „prähistorische“ nationalökonomische Theorie war eben der Mensch A 32 nicht das abstrakte Wirtschaftssubjekt der heutigen Theorie, sondern auch für die Na-

96 Vgl. Hermann, Friedrich Benedikt Wilhelm von, Staatswirthschaftliche Untersuchungen über Vermögen, Wirthschaft, Productivität der Arbeit, Kapital, Preis, Gewinn, Einkommen und Verbrauch. – München: Anton Weber 1832. 97  Tatsächlich stellt diese „ausschließliche Berücksichtigung dieses Triebes“ eine auf Analyse basierende isolierende Abstraktion dar. Vgl. Einleitung, oben, S.  16. 98  Rau, Lehrbuch, S.  10 f.

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Wirkungskreises des Menschen in Privatwirtschaft und öffentliche Tätigkeit80) und andererseits die Identifikation von Sein und Sollen81) das charakteristische Merkmal der „klassischen“ Auffassungsweise war. Roscher hingegen lehnt diese Auffassung ab, weil, wie er im plötzlichen Fallenlassen seiner Psychologie bemerkt, Eigennutz und Gemeinsinn „weder koordinierte noch gar erschöpfende Gegensätze“ seien.99 Vielmehr trägt er seinerseits noch eine dritte Auffassung über die Beziehungen des Eigennutzes zum sozialen Zusammenleben vor, indem er82) bemerkt: „Er (der Eigennutz) wird . . . . zum irdisch verständlichen Mittel für einen ewig idealen Zweck verklärt“. Man fühlt sich dabei zunächst sofort auf den Boden der optimistischen „Eigennutz“-Theorien des 18. Jahrhunderts gestellt83). Wenn aber Mandevilles Bienenfabel in ihrer Weise das Problem des Verhältnisses zwischen Privat- und Gemein-Interessen in der Formel „private vices public benefits“ zugleich stellte und beanttionalökonomie der abstrakte Staatsbürger der rationalistischen Staatslehre, wie dies charakteristisch bei Rau (Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, §  4) hervortritt: „Der Staat besteht . . . aus einer Anzahl von Menschen, welche in gesetzlicher Ordnung beisammen leben. Sie heißen Staatsbürger, sofern sie . . . gewisse Rechte genießen; ihre Gesamtheit ist das Volk, die Nation im staatswissenschaftlichen Sinne des Wortes.“1 Davon verschieden ist nach Rau der Begriff: Volk „im historisch-genealogischen Sinne in Bezug auf Abstammung und Absonderung.“2 (Vgl. dazu Knies 1. Auflage S.  28.)3 80)  Eine eingehendere Untersuchung würde ergeben, daß diese Scheidung auf ganz bestimmte puritanische Vorstellungen zurückgeht, die für die „Genesis des kapitalistischen Geistes“4 von sehr großer Bedeutung gewesen sind. 81)  Diese Identifikation bezog sich bei A[dam] Smith – im Gegensatz zu Mandeville und Helvetius – bekanntlich nicht auf die Herrschaft des Eigennutzes im Privatleben. 82)  qA. a. O.q 5 83)  Eigentümliche Anklänge an diese finden sich vielleicht schon in Mammons Rede an die gefallenen Engel in Miltons Verlorenem Paradiese,6 wie denn die ganze Ansicht eine Art Umstülpung puritanischer Denkweise ist. | q–q A: a. a. O.   99  Roscher, System I2, S.  19 (§  11). 1 Gemeint ist: Rau, Lehrbuch, S.  4 f.; der erste Band des Lehrbuchs ist betitelt: „Grundsätze der Volkswirthschaftslehre“. 2  Ebd., S.  5 Anm.  a). 3  Knies, Oekonomie1, S.  28. 4 Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.  14, Anm.  94), S.  378 ff. (Zweites Buch, Dritter Abschnitt: „Die Genesis des kapitalistischen Geistes.“). 5  Roscher, System I2, S.  17 (§  11). 6  Milton, Paradies, S.  45 ff. (2. Gesang, Vers 689 ff.).

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wortete,7 und wenn auch manche der Späteren bewußt oder unbewußt der Ansicht zuneigten, der wirtschaftliche Eigennutz sei kraft providentieller Fügung8 jene Kraft, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft“,9 so bestand dabei die Vorstellung, daß der Eigennutz direkt, und so wie er eben ist, ungebrochen, in den Dienst | der je nach dem Sprachgebrauch „göttlichen“ oder „natürlichen“ Kulturziele der Menschheit gestellt sei. Roscher hingegen weist (Anm.  6 §  12 des Systems, Band I) auch jene Auffassung Mandevilles und der Aufklärungsperiode ausdrücklich ab,10 und zwar liegt der Grund hierfür teils auf religiösem Gebiet84), teils aber – und damit gelangen wir wieder zum letzten Grunde all’ dieser Widersprüche – in den erkenntnis-theo84) Roscher lehnt (Geistl[iche] Gedanken S.   33) die Zumutung, in der Geschichte und den äußeren Vorgängen des Menschenlebens etwas einer Theodizee Ähnliches sehen zu sollen, ebenso wie die Schillersche Formel von der „Weltgeschichte“ als dem „Weltgericht“, mit einer einfachen Klarheit ab, die manchem modernen Evolutionisten zu wünschen wäre.11 Sein religiöser Glaube machte ihm überhaupt das Leitmotiv des „Fortschritts“, dem bekanntlich auch Ranke – ebensosehr als nüchterner Forscher wie als religiöse Natur – innerlich kühl gegenüberstand,12 entbehrlich: Der „Fortschritts“Gedanke stellt sich eben erst dann als notwendig ein, wenn das Bedürfnis entsteht, dem religiös entleerten Ablauf des Menschheitsschicksals einen diesseitigen und dennoch objektiven „Sinn“ zu verleihen. |

7  Die Formel entspricht dem Untertitel von Mandeville, Fable. 8 Smith begründet dasselbe mit dem Wirken einer „unsichtbaren Hand“, die er in Zusammenhang mit der „Vorsehung“ bringt. Vgl. Smith, Adam, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Complete in One Volume. – Edinburgh: Thomas Nelson 1845 (hinfort: Smith, Inquiry), S.  184; Smith, Adam, The Theory of Moral Sentiments; or an Essay towards an Analysis of the Principles by which Men naturally judge concerning the Conduct and Character, first of their Neighbours, and afterwards of themselves. – London: Henry G. Bohn 1853, S.  264 f. 9  Vgl. Goethe, Faust I, S.  54. 10  Roscher, System I2, S.  18 f. (§  11 Anm.  6); hier Irrtum wegen falscher Bezeichnung des §  12 als §  13 auf S.  19. 11  Roscher, Gedanken, S.  33, bezieht sich auf den Satz von Schiller: „Die Weltge­ schichte ist das Weltgericht“, der sich in Vers 85 des Gedichts „Resignation“ findet. Vgl. Schiller, Friedrich, Gedichte. Erster Theil. Vollständige mit Nachträgen vermehrte Ausgabe. Mit Grosh. Badisch gnäd. Privilegio. – Carlsruhe: im Bureau der deutschen Classiker 1818, S.  183–186, Zitat: S.  186. 12  Ranke, Epochen (wie oben, S.  72, Anm.  30), S.  15, hielt die Vorstellungen, „daß ein allgemein leitender Wille die Entwickelung des Menschengeschlechtes von einem Punkt nach dem anderen förderte, – oder, daß in der Menschheit gleichsam ein Zug der geistigen Natur liege, welcher die Dinge mit Notwendigkeit nach einem bestimmten Ziele hintreibt“, „weder für philosophisch haltbar, noch für historisch nachweisbar“.

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retischen Konsequenzen seiner „organischen“ Auffassung. Roscher hat zwar kein Bedenken getragen, für diejenigen Erscheinungen, welche, wie Grundrente, Zins, Lohn, sich als massenhaft wiederkehrende Einzelvorgänge und unmittelbare Relationen der Privatwirtschaften untereinander darstellen, die Ableitung aus dem Ineinandergreifen des vom Eigennutz gelenkten privatwirtschaftlichen Handelns zu verwenden; allein er lehnte es ab, sie auch auf diejenigen sozialen Institutionenr anzuwenden, welche in dieser Betrachtung nicht erschöpfend aufgehen und uns als „organische“ Gebilde – „Zwecksysteme“, mit Dilthey zu sprechen13 – entgegentreten. Und zwar entziehen sich dieser Betrachtungsweise nach seiner Meinung nicht nur die auf Gemeinsinn ruhenden Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens, wie Staat und Recht, sondern auch der Kosmos der rein wirtschaftlichen Beziehungen ist als Ganzes einer solchen, ja überhaupt einer rein kausalen Erklärung unzugänglich, und zwar, weil sich „Ursache und Wirkung nicht voneinander scheiden“ lassen.14 Wie Roscher erläuternd hinzufügt, meint er damit, daß auf dem Gebiete sozialen Geschehens jede Wirkung ihrerseits im umgekehrten Verhältnis wieder Ursache sei oder doch sein könne, und daß alle einzelnen Erscheinungen „im Verhältnis von wechselseitiger Bedingtheit zueinander“ stehen.15 Jede kausale Erklärung dreht sich (nach Roscher) daher in einem Kreise | herum85), aus dem ein Ausweg nur zu finden ist, wenn man

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85) Ähnliche Ausführungen hatte Roscher schon im „Thukydides“ gemacht (S.  201), A 34 wo er die ganz allgemeine Behauptung aufstellt, daß jede gelungene historische Erklärung sich im Kreise herumdrehe[,] und diese Eigentümlichkeit des diskursiven Erkennens aus der Koordination der realen Objekte, mit denen es die Erfahrungswissenschaften zu tun haben, gegenüber der Subordination der Begriffe in der (Hegelschen) Philosophie entwickelte.16 – Der Gegensatz zwischen Geschichte und (toter) Natur fehlt jedoch dort noch und ist auch hier von Roscher wenig klar entwickelt. Er beruft sich darauf, daß z. B. der Wind sich rein als Ursache der Drehung der Mühlenflügel auffassen ließe, ohne daß gleichzeitig eine umgekehrte Kausalbeziehung (Mühlenflügel als Ursache des Windes?) bestehe.17 Die Unbrauchbarkeit eines so unpräzis formulierten Beispiels liegt auf der Hand. Es liegt in unklarer Weise etwas Ähnliches zu Grunde,

r A: Institutionen,   13  Dilthey, Einleitung, S.  448. 14  Roscher, System I2, S.  21 (§  13). 15  Ebd., S.  17 (§  11) und 21 f. (§  13 und §  13, Anm.  3). 16  Roscher, Thukydides, S.  200 f. 17  Roscher, System I2, S.  21 (§  13).

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ein organisches Leben des Gesamtkosmos annimmt, dessen Äußerungen die Einzelvorgänge sind.18 Unsere Analyse steht wieder vor jenem, uns schon früher begegneten, „unerklärbaren Hintergrund“ der Einzelerscheinungen, und ihre wissenschaftliche Aufgabe kann, wie wir sahen, nur darin bestehen, jenen Hintergrund immer weiter „zurückzuschieben“.19 Man sieht auch hier: es ist nicht, oder doch nicht unmittelbar der „hiatus irrationalis“20 zwischen der stets nur konkret und individuell gegebenen Wirklichkeit und den durch Abstraktion vom Individuellen entstehenden allgemeinen Begriffen und Gesetzen, was Roscher jene prinzipielle Schranke des volkswirtschaftlichen Erkennens aufstellen läßt. Denn daran, daß die konkrete Realität des Wirtschaftslebens begrifflicher Erfassung in Form von Gesetzen prinzipiell zugänglich sei, zweifelt er nicht im | mindesten. Freilich seien „unzählige“ Naturgesetze21 – aber doch eben Gesetze – zu ihrer Erschöpfung erforderlich. Nicht die Irrationalität der Wirklichkeit, welche sich gegen die Einordnung unter „Gesetze“ sträubt, sondern die „organische“ Einheitlichkeit der geschichtlichsozialen Zusammenhänge erscheint ihm als das Objekt, dessen wie die nach dem Vorgang Diltheys (Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1894, 2, S.  1313 unten u. öfter)22 und anderer auch von Gottl a. a. O. vertretene Anschauung von dem grundsätzlichen, „nicht nur logischen, sondern ontologischen“ Gegensatz des er­ lebten „Allzusammenhanges“ der (menschlich-)psychischen Objekte des Erkennens gegenüber der „zerfällend“ erklärbaren toten Natur,23 – wobei aber von Gottl für die Objekte der Biologie die Notwendigkeit der Übernahme anthropomorpher Begriffe als durch die Natur des Objektes gegebene Besonderheit eingeräumt wird, während Roscher umgekehrt biologische Begriffe auf das Sozialleben zu übertragen glaubt. Es führte hier zu weit und steht mir nicht zu, jene Anschauung eingehend zu kritisieren, daher sei nur bemerkt, daß „Wechselwirkung“ und „Allzusammenhang“ in genau dem gleichen Sinn und ganz genau dem gleichen Grade wie auf dem Gebiet des inneren Erlebens uns auf dem Gebiet der toten Natur (diesen Gegensatz als solchen einmal hingenommen) entgegentreten, sobald wir eine individuelle Erscheinung in ihrer vol­ len konkreten intensiven Unendlichkeit zu erkennen uns bestreben, und daß eine genauere Besinnung uns den „anthropomorphen“ Einschlag in allen Sphären der Naturbetrachtung zeigt. |

18 Ebd. 19  Ebd., S.  22 (§  13 Anm.  3). 20  Vgl. oben, S.  62 mit Anm.  95. 21  Roscher, System I2, S.  21 (§  13). 22  Dilthey, Ideen, S.1313, beansprucht, die Methoden der Geisteswissenschaften „ihrem Object entsprechend selbständig zu bestimmen“. 23  Gottl, Herrschaft, S.  70, 77 f., 128.

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kausale Erklärung und Analyse er nicht nur für schwieriger hält, als diejenige natürlicher Organismen86), | sondern welches prinzi-

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86) Das ist das charakteristische Merkmal des erkenntnistheoretischen Standpunkts A 35 derjenigen „organischen“ Gesellschaftsauffassung, welche den Hegelschen Standpunkt ablehnt. – Daß in Wahrheit, da wir auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaften in der glücklichen Lage seien, in das Innere der „kleinsten Teile“, aus denen die Gesellschaft sich zusammensetzt und welche alle Fäden ihrer Beziehungen durchlaufen müssen, hineinzublicken, die Sache umgekehrt liege, hat schon Menger24 und nachher viele andere eingewendet. –   Es ist bezeichnend, daß Gierke, der in seiner Berliner Rektoratsrede über „das Wesen der menschlichen Verbände“ (1902)25 noch einmal eine Lanze für die „organische Staatslehre“ gebrochen hat, erkenntnistheoretisch auf dem gleichen Standpunkt wie Roscher steht. Er hält das Wesen seiner Gesamtpersönlichkeit für ein „Geheimnis“, welches nach seiner Ansicht offenbar wissenschaftlich nicht etwa nur vorläufig, sondern definitiv und notwendig „unentschleiert“ bleiben muß (S.  23), d. h. also lediglich einer metaphysischen Deutung (durch „Phantasie“ und „Glaube“, wie G[ierke] sagt) zugänglich ist. Daß Gierke – dessen Ausführungen sich wohl wesentlich gegen Jellineks m. E. abschließende Kritik26 richten – an der „überindividuellen Lebenseinheit“ der Gemeinschaften festhält, ist verständlich: die Idee hat ihm (und damit der Wissenschaft) heuristisch die allerbedeutendsten Dienste geleistet, – allein wenn G[ierke] den Inhalt einer sittlichen Idee oder (S.  22 a. a. O.) sogar den Inhalt patriotischer Empfindungen als Entität (s. v. v.!) vor sich sehen muß, um an die Macht und Bedeutung jener Gefühle glauben zu können,27 so ist das doch befremdlich, und wenn er umgekehrt aus der sittlichen Bedeutung jener Gefühle auf die reale Existenz seiner Gemeinschaftspersönlichkeit schließt, also Gefühlsinhalte hypostasiert,28 so würden dagegen die Einwendungen, die Hegel gegen Schleiermacher erhob,29 mit weit unzweifelhafterem

24  Vgl. Menger, Untersuchungen, S.  139 ff. („Drittes Buch: Das organische Verständnis der Socialerscheinungen“). 25  Gierke, Verbände. 26  Vgl. Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre. Das Recht des modernen Staates, Band 1. – Berlin: O. Häring 1900 (hinfort: Jellinek, Staatslehre), S.  135, 141 ff., wo Theorien des Staats als „natürlicher“ bzw. „geistig-sittlicher Organismus“ diskutiert werden. In Gierke, Verbände, findet sich kein direkter Hinweis auf Jellinek. Ab S.  15 ff. referiert er die Einwände gegen die organische Staatslehre, auf S.  20 spricht er von „sozialen Lebenseinheiten“ im Unterschied zum Menschen als „individueller Lebenseinheit“. 27  Gierke, Verbände, S.  22, beschreibt, wie sich ihm „der Gemeinschaftsgeist mit elementarer Kraft in fast sinnenfälliger Gestalt“ am 15. Juli 1870, dem Tag der Mobilmachung des Norddeutschen Bundesheeres, offenbart habe. 28  Für Gierke, ebd., S.  32, hat das Postulat, die Gemeinschaft mehr als sich selbst zu lieben, nur dann Sinn, wenn sie „ein Höheres und Werthvolleres als die Summe der Individuen ist, wenn das Gemeinwesen mehr als ein Mittel für die Zwecke der Einzelnen bedeutet und wenn nicht für leere Namen lebt und stirbt, wer für die Ehre und das Wohl, für die Freiheit und das Recht seines Volkes und Staates wirkt und kämpft“. 29 Hegel kritisierte, daß das Gefühl zur Grundlage des Glaubens erhoben wurde, denn Gefühle seien beliebig, womit der Glaube zur willkürlichen Sophisterei verkomme: „Gründet sich die Religion im Menschen nur auf ein Gefühl, so hat solches richtig keine weitere Bestimmung, als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu seyn, und so wäre

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piell unerklärt bleiben muß. Nicht, daß die Einzelerscheinungen nicht in die allgemeinen Begriffe eingehen, und zwar notwendig um so weniger, je allgemeiner die Begriffe sind, sondern daß die universellen Zusammenhänge und die zuständlichen Gebilde zufolge ihrer Dignität als „Organismen“ nicht von den Einzelerscheinungen aus kausal erklärbar seien, stellt für ihn die Grenze des rationalen Erkennens dar. Daß aber eine kausale Erklärung der Totalitäten von den Einzelerscheinungen aus (nicht nur faktisch, sondern) prinzipiell unmöglich sei, ist ihm ein Dogma, welches zu erweisen er gar nicht unternimmt. Zwar stehen ihm jene zuständlichen Gebilde und Zusammenhänge deshalb keineswegs außerhalb jeder kausalen Bedingtheit. Aber sie fügen sich einem (metaphysischen87)) Kausalzusammenhang höherer Ordnung, den Recht in Kraft treten. Weder 1) der Kosmoss der eine Gemeinschaft beherrschendent Normen, noch 2) die (zuständlich betrachtete) Gesamtheit der durch jene Normen beherrschten Beziehungen der zugehörigen Individuen, noch 3) die Beeinflussung des (als Komplex von Vorgängen betrachteten) Handelns der Individuen unter dem Einfluß jener Normen und Beziehungen, stellen ein Gesamtwesen im Gierkeschen Sinne dar oder sind irgendwie metaphysischen Charakters, und doch sind sie alle drei etwas an­ deres als eine „bloße Summierung von individuellen Kräften“, – wie übrigens doch schon die rechtlich normierte Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer mit ihren Konsequenzen etwas anderes ist als die einfache Summe der Interessen der beiden Einzelpersonen, und dennoch durchaus nichts Mystisches an sich trägt. – Hinter jenem Kosmos von Normen und Beziehungen steht aber ebenfalls kein geheimnisvolles LebeA 36 wesen, sondern eine das Wollen und Fühlen der Men|schen beherrschende sittliche Idee, und es ist schwer zu glauben, daß ein Idealist wie Gierke ernstlich das Kämpfen für Ideen als ein Kämpfen für „leere Worte“ ansehen könnte.30 87)  Man wird an die „Dominanten“ der modernen Reinkeschen biologischen Theorien erinnert.31 Reinke hat diese freilich schließlich des metaphysischen Charakters,

s A: Kosmos,  t A: beherrschende   der Hund der beste Christ, denn er trägt dieses am stärksten in sich und lebt vornehmlich in diesem Gefühle. Auch Erlösungsgefühle hat der Hund, wenn seinem Hunger durch einen Knochen Befriedigung wird.“ Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorrede zu Hinrichs’ Religionsphilosophie, in: ders., Werke, Band 17: Vermischte Schriften, Band 2, hg. von D. Friedrich Förster und D. Ludwig Boumann. – Berlin: Duncker & Humblot 1835, S.  277–304, hier S.  295. 30  In Gierke, Verbände, S.  35, findet sich die Formulierung „leere Namen“. 31  Als Vertreter des Vitalismus geht Johannes Reinke davon aus, daß es Kräfte – Dominanten – gibt, die selbst nicht aus Energie bestehen und daher auch nicht dem Satz der Energieerhaltung unterworfen sind, gleichwohl jedoch die physikalischen und chemischen Energien des Organismus gemäß einer von Gott eingerichteten Zweckmäßigkeit der Natur lenken. Vgl. Reinke, Johannes, Einleitung in die theoretische Biologie. – Berlin: Gebr. Paetel 1901, S.  169 ff.

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unser Erkennen nur in seinen Äußerungen gelegentlich greifen, nicht aber in seinem Wesen durchschauen kann – wiederum (nach Roschers Ansicht) nach Analogie des natürlichen Lebensprozesses. Roscher32 glaubt zwar nicht, daß die Volkswirtschaft im gleichen Maße wie ein natürlicher Organismus „natürlich gebunden“ sei, allein er findet die (metaphysische) Gesetzlichkeit auch jener „höheren“ Erscheinungen des Wirtschaftslebens sich äußernd in dem sogenannten „Gesetz der großen Zahl“ in der Statistik, welches erkennen lasse, wie die scheinbare Willkür der konkreten Einzelfälle sich, sobald man auf das Ganze des Zusammenhangs sehe, in „wunderbaren Harmonien“ ausgleiche88). | der ihnen begrifflich anhaften muß, wenn sie als Realgrund der Zweckmäßigkeit der Organismen gelten sollen, wieder entkleidet, und sie aus einer forma formans in eine forma formata33 zurückgedeutet, – damit aber auch grade Das wieder preisgegeben, was sie für eine spekulative Betrachtung des Kosmos leisten konnten, ohne für die empirische Einzelforschung etwas zu gewinnen. S[iehe] die Auseinandersetzung zwischen ihm und Drews im letzten Jahrgang der Preuß[ischen] Jahrbücher.34 88)  Es bedarf kaum des Hinweises, daß von dieser Verwendung des Gesetzes der großen Zahl, so mißbräuchlich sie ist,35 bis zu Quetelets „homme moyen“ ein weiter Weg ist.36 Immerhin lehnt Roscher (§  18 Nr.  2 des Systems, Band I) Quetelets Methode

32  Vgl. Roscher, System I2, S.  35 f. (§  13). 33 Diese Formulierung findet sich bei Coleridge, der Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Naturphilosophie nahestand und den Vitalismus inspirierte. Vgl. Coleridge, Samuel Taylor, The Friend: A Series of Essays to Aid the Formation of Fixed Principles in Politics, Morals and Religion, Vol. 3, 3rd. ed. – London: William Pickering 1837, S.  135: „The word nature has been used in two senses, actively and passively; energetic, or forma formans, and material, or forma formata. In the first […] it signifies the inward principle of whatever is requisite for the reality of a thing, as existent: while the essence or essential property, signifies the inner principle of all that appertains to the possibility of a thing. […] In the second or material sense of the word nature, we mean by it the sum total of all things, as far as they are objects of our senses, and consequently of possible experience“. 34  Vgl. Drews, Reinke. Vgl. dazu Reinke, Johannes, Zur Dominantentheorie. Entgegnung, in: Preußische Jahrbücher, Band 116, 1902, S.  502–507. 35  Zur gebräuchlichen Verwendung dieses Gesetzes vgl. Kries, Principien, S.  89: „Es ist bekannt, dass, wenn in einem einzelnen Falle einer bestimmten Art ein bestimmter Verlauf mit der Wahrscheinlichkeit 1–n zu erwarten ist, alsdann immer mit grösster Sicherheit anzunehmen ist, dass bei einer sehr grossen Anzahl derartiger Fälle annähernd der nte Teil aller den betreffenden Verlauf aufweisen werde. Dies pflegt man als das Gesetz der grossen Zahlen zu bezeichnen, indem man die Aufmerksamkeit darauf zu lenken wünscht, dass trotz der Unbestimmtheit der Erwartungen in jedem Einzelfalle doch mit Bezug auf sehr viele ein gewisses Resultat mit fast absoluter Sicherheit vermutet werden darf.“ Vgl. auch Windelband, Zufall, S.  35. 36  Quetelet zufolge stellt „der mittlere Mensch einer jeden Epoche […] den Typus der Entwicklung der Menschheit für diese Epoche dar“; er ist „immer das Ergebnis der

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Nicht eine methodisch-logische Grenze der Erfassung der Wirklichkeit in Gattungsbegriffen und abstrakten Gesetzen, sondern das Hereinragen der für unser Erkennen transzendenten Mächte in die Wirklichkeit findet also Roscher in dem Gegensatz des sozialen Kosmos gegenüber den theoretisch analysierbaren Einzelvorgängen. Wir stehen hier wieder, wie schon oben, an der Grenze des Emanatismus. Sein Wirklichkeitssinn lehnt es ab, den Gedanken, daß die „organischen“ Bestandteile jenes Kosmos Emanationen von „Ideen“ seien, für eine Erklärung auszugeben. Den Gedanken selbst aber weist er nicht zurück. – Roschers Kreislauftheorie einerseits, die von ihm verwendete Kategorie des „Gemeinsinns“ andererseits erklärenu endlich auch seinen prinzipiellen Standpunkt89) zur Frage der wissenschaftlichen Behandlung der Wirtschaftspolitik90). Zunächst muß die Folge des untrennbaren Zusammenhangs der Wirtschaft mit dem gesamten Kulturleben die Heteronomie des wirtschaftspolitischen Zweck-

nicht eigentlich prinzipiell ab.37 Er führt aus, daß die Statistik „nur solche Tatsachen als ihr wahres Eigentum betrachten“v dürfe, die sich auf „bekannte Entwickelungsgesetze“ zurückführen lassen. Die Sammlung anderer (unverstandener) Zahlenreihen habe A 37 die Bedeutung „des unvollendeten Experi|mentes“.38 Der Glaube an die Herrschaft der „Gesetze“ kreuzt sich hier mit dem gesunden Sinn des empirischen Forschers, der die Wirklichkeit verstehen, nicht sie in Formeln verflüchtigen will. 89)  Nur die prinzipielle Seite der Frage geht uns an. Ein Versuch, R[oscher]s wirtschaftspolitische Ansichten systematisch zu analysieren, liegt hier fern. 90)  Roscher gliedert, wie er selbst hervorhebt, in seinem Hauptwerke die Fragen der Wirtschaftspolitik den betreffenden Abschnitten der Theorie ein.39

u A: erklärt  v A: betrachten   betreffenden zeitlichen und örtlichen Verhältnisse“ und „seine Fähigkeiten entwickeln sich in einem richtigen Gleichgewicht, in einer vollkommenen Harmonie, die von Übertreibungen und Mängeln jeder Art gleich entfernt“ ist, „so dass man ihn unter den jeweiligen Verhältnissen als den Typus alles Schönen und Guten betrachten“ muß. Vgl. Quetelet, Adolphe, Ueber den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, oder Versuch einer Physik der Gesellschaft. Deutsche Ausgabe, im Einverständniss mit dem Herrn Verfasser besorgt und mit Anmerkungen versehen von V. A. von Riecke. – Stuttgart: E. Schweizerbart 1838, S.  575. Vgl. zu Quetelet bereits Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  94, 347 f., 350, 358 f. 37  Roscher, System I2, S.  29 f. (§  18). 38  Ebd., S.  29 (§  18). 39 Roscher, ebd., S.   27 (§   17), spricht nicht von Wirtschaftspolitik, sondern von „Staatswirthschaft“ als der „ökonomische[n] Gesetzgebung und obrigkeitliche[n] Leitung der Privatwirthschaften“.

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strebens sein. Die „Förderung des Nationalreichtums“40 – diesen Begriff zu verwerfen hat sich Roscher nicht entschlossen – kann nicht der selbstverständliche und einzige Zweck der Wirtschaftspolitik, die Staatswirtschaft keine bloße „Chrematistik“41 sein91). Die Erkenntnis des historischen Wandels der Wirtschaftserscheinungen schließt ferner aus, daß die Wissenschaft andere als relative Normen aufstellt –, je nach der Entwickelungsstufe des betreffenden Volkes92). Allein hiermit hat | der Relativismus Roschers seine Grenzen erreicht: Er geht nirgends so weit, den Werturteilen, welche die Grundlage der wirtschaftspolitischen Maximen sind, nur subjektive Bedeutung zuzugestehen93) und damit die wissenschaft-

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91)  Konsequent ist sich freilich Roscher auch in dieser Anschauung nicht geblieben. Rein materiell-wirtschaftliche Werturteile der verschiedensten Art durchziehen auch die rein theoretischen Teile des Roscherschen Werkes, angefangen von dem in §  1 aufgestellten, durchaus sozialistisch anmutenden „Ideal“: „daß alle Menschen nur löbliche Bedürfnisse fühlten, aber die löblichen auch vollständig, und alle Befriedigungsmittel derselben auch klar einsähen und frei besäßen“,42 bis zu den Erörterungen über den Produktionsbegriff (§  63 ff.)43 und zur Aufstellung des „Bevölkerungsideals“ §  253: „Ihren Höhepunkt erreicht die volkswirtschaftliche Entwickelung da, wo die größte Menschenzahl gleichzeitig die vollste Befriedigung ihrer Bedürfnisse findet.“44 92)  §  25: „Das Gängelband des Kindes, die Krücke des Greises würden für den Mann eben nur die ärgsten Fesseln sein.“45 Es gibt „ebensoviele Ideale | . . . . wie Volkseigen- A 38 tümlichkeiten“, außerdem wird „mit jeder Veränderung der Völker und ihrer Bedürfnisse auch das für sie passende Wirtschaftsideal ein anderes“ (ebendas[elbst]).46 93)  Auch auf dem Boden der Ethik des täglichen Lebens kennt er keine subjektiven Grenzen der ethischen Gebote. Vergl. den Protest gegen die „Zuckerbäckermoral“ für den Genius, mit besonderem Bezug auf Goethe, Geistl[iche] Gedanken, S.  82.47 Über Faust eine höchst kleinbürgerlich anmutende Auslassung, das[elbst] S.  76.48

40  Im Sinne von Smith, Inquiry (wie oben, S.  88, Anm.  8). 41  Roscher, Grundriß, S. IV, definiert die Chrematistik als „eine Kunst, reich zu werden“. 42  Roscher, System I2, S.  2 (§  1). 43  Ebd., S.  106 ff. (§§  63 ff.). 44  Ebd., S.  508 (§  253). 45  Ebd., S.  41 (§  25). 46 Ebd. 47  Roscher, Gedanken, S.  82: „Wer das Sündliche in Goethes Leben und Poesie tadelt, muß von übertriebenen Verehrern des Dichters wohl den Vorwurf hören, daß er auf dem Standpunkte hausbackener Moral stehe. Giebt es denn auch eine Zuckerbäcker-Moral?“ 48  Roscher, ebd., S.  76, meint, Goethe fehle „das tiefe Verständniß von Sünde, Gewissen, Gerechtigkeit, Gnade, welches wir an Shakespeare bewundern. Wie oberflächlich er hierüber denkt, zeigt sogar sein Hauptwerk: dessen Held, nachdem er ohne wahre Leidenschaft eine ehrenhafte Familie aufs Schrecklichste zu Grunde gerichtet hat, seine Gewissensbisse einfach durch einen erquickenden Schlummer los wird!

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lich eindeutige Auffindung von Normen überhaupt abzuweisen. Wenn Roscher seinen methodischen Standpunkt dahin zusammenfaßt, daß er auf die Ausarbeitung allgemeiner Ideale grundsätzlich verzichte,49 und „nicht wie ein Wegweiser, sondern wie eine Landkarte“ orientieren wolle,50 so heißt das nicht, daß er demjenigen, welcher auf der Suche nach „Richtung weisenden Idealen“ sich an die Wissenschaft wendet, antwortet: „Werde, der du bist“.51 Er ist vielmehr, wenigstens theoretisch, von dem Vorhandensein objekti­ ver Grundlagen für die Aufstellung von Normen nicht nur für jede konkrete Situation, sondern darüber hinaus auch je für die einzelnen, typischen Entwickelungsstufen der Volkswirtschaft überzeugt94). Die Wirtschaftspolitik ist eine Therapeutik des Wirtschaftslebens95) – und eine solche ist natürlich nur möglich, wenn ein je nach dem Entwickelungsgrade individuell verschiedener, immer aber als solcher objektiv erkennbarer Normalzustand der Gesundheit feststellbar ist, dessen Herstellung und Sicherung gegen Störungen dann das selbstverständliche Ziel des Wirtschaftspolitikers 94)  Siehe den Vergleich der notwendig individuellen Wirtschaftsideale der Völker mit dem ebenso notwendig individuellen (aber doch objektiv bestimmbaren) Kleider­ maß für Individuen §  25,52 vor allem aber die Erörterungen in §  27, wo Roscher bis zu der völlig utopistischen Ansicht gelangt, daß alle Parteigegensätze nur auf ungenügender Einsicht in den wahren Stand der Entwickelung zurückzuführen seien.53 95)  Ganz ebenso faßte Ranke (Sämtl[iche] Werke Bd.   24 S.  290 f.) die Aufgabe der „Staatsökonomie“ auf.54 |

Auch im Alter begeht er noch die ärgsten Ungerechtigkeiten, und fährt doch zuletzt, ohne irgend welche Reue und Buße, gen Himmel.“ 49  Roscher, System I2, S.  41 (§  26). 50  Nicht belegt. 51  Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“) (Nietzsche’s Werke, 1. Abtheilung, Band 5). – Leipzig: C. G. Naumann 1899 (hinfort: Nietzsche, Wissenschaft), hier S.  205 (Aph. 270): „Was sagt dein Gewissen? – ‚Du sollst der werden, der du bist.‘“ 52  Roscher, System I2, S.  41 (§  25). 53  Ebd., S.  43 (§  27): „Sind die Naturgesetze der Volkswirthschaft erst hinreichend erkannt und anerkannt, so bedürfte es im einzelnen Falle nur noch einer genauen und zuverlässigen Statistik der relevanten Thatsachen, um alle Parteizwiste über Fragen der volkswirthschaftlichen Politik, wenigstens insofern sie auf entgegengesetzter Ansicht beruhen, zu versöhnen.“ 54  Ranke, Verwandtschaft, S.  290: „auch die menschliche Gesellschaft hat gleichsam ihren eigenen Leib; die Staatsöconomie zeigt, wie die Glieder des Staates miteinander verwachsen sind, legt uns ihre Arterien und Adern vor Augen, die Orte, wo Odem und Blut sich befinden und lehrt, wie die gesunde Beschaffenheit des Staatskörpers bewahrt, die ungesunde geheilt oder ihr vorgebeugt werde“.

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ganz ebenso bilden muß, wie das Entsprechende für die Tätigkeit des Arztes am physischen Organismus der Fall ist.55 Ob nun eine solche Annahme vom Standpunkte einer rein diesseitig orientierten Lebensauffassung aus überhaupt ohne Selbsttäuschung möglich wäre, bleibt hier vorerst dahingestellt: für Roscher war sie prinzipiell gegeben durch seine geschichtsphilosophische Auf|fassung des typischen Ganges der Völkerschicksale in Verbindung mit seinem religiösen Glauben, welcher für ihn die sonst unvermeidlichen fatalistischen Konsequenzen seiner Theorie ausschloß. Zwar wissen wir nach Roscher weder, in welchem Stadium der, von ihm als ein im Sinn des Christentums endlicher Prozeß gedachten, Gesamtmenschheitsentwickelung, noch in welchem Stadium der Entwickelung unserer, ja auch dem Absterben bestimmten, nationalen Kultur wir uns befinden.56 Aber daß wir es nicht wissen, gereicht nach Roscher uns – in diesem Fall: der Tätigkeit des Politikers – ebenso zum Vorteil, wie die Verborgenheit der Todesstunde dem physischen Menschen,57 und hindert ihn nicht zu glauben, daß das Gewissen und der gesunde Menschenverstand dem Kollektivindividuum die ihm jeweils von Gott gestellten Aufgaben ebenso enthüllen könne wie dem einzelnen. Immerhin versteht sich, daß bei einem derartigen Gesamtstandpunkt für die wirtschaftspolitische Arbeit es naturgemäß nur enge Grenzen gibt: Regelmäßig dringen nach Roscher – kraft des naturgesetzlichen Charakters der wirtschaftlichen Entwickelung – die „wirklichen Bedürfnisse“ eines Volkes auch im Leben von selbst durch96) –, die gegenteilige Annahme widerstreitet dem Glauben an die göttliche 96)

 Roscher ist hierin, wie man sieht, mit den Klassikern58 völlig einig. |

55  Roscher, System I2, S.  23 (§  15): „Ist die Volkswirthschaft ein Organismus, so werden auch ihre Störungen manche Ähnlichkeit mit Krankheiten besitzen. Wir können deßhalb von den bewährten Methoden der Medicin, dieser ältern Schwester unserer Wissenschaft, gar Manches zu lernen hoffen.“ 56  Ebd., S.  541 f. (§  266). 57  Ebd., S.  539 f. (Anm.  1 auf S.  540) (§  264); Roscher, Gedanken, S.  101. 58  Vgl. oben, S.  42 f. mit Anm.  9.

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Vorsehung.59 Ein, wenn auch relativistisches, so doch in irgend einem Sinn geschlossenes System wirtschaftspolitischer Postulate ist, da die Endlichkeit unseres diskursiven Erkennens uns die Erfassung der Gesamtheit der „Entwickelungsgesetze“ versagt, etwas vielleicht schon prinzipiell Unmögliches, sicherlich aber tatsächlich ebensowenig erschöpfend zu entwickeln, wie auf dem Gebiet der politischen Arbeit, was Roscher gelegentlich (§   25) 60 auch ausdrücklich ausspricht. So sind denn die zahlreichen wirtschaftspolitischen Äußerungen Roschers zwar der Ausdruck seiner milden, maßvollen, vermittelnden Persönlichkeit, in keiner Weise aber der Ausdruck klarer, konsequent durchgeführter Ideale. Wirklich ernste und dauernde Konflikte zwischen dem Schicksalszuge der Geschichte und den Lebensaufgaben, welche Gott dem einzelnen wie den Völkern stellt, sind eben unmöglich, und die Aufgabe, sich seine letzten Ideale autonom zu stecken, tritt an den einzelnen garnicht heran. Roscher konnte daher auf seinem relativistischen Standpunkt verharren, ohne ethischer Evolutionist zu werden. Er hat den Evolutionismus in seiner | naturalistischen Form auch ausdrücklich abgelehnt97) – daß der historische Entwickelungsgedanke eine ganz 97) In einer Auseinandersetzung mit Kautz’ Geschichte der Nationalökonomie61 sagt Roscher in den späteren Auflagen seines Werkes (§  26 Nr.  2): „Wenn Kautz neben der Geschichte noch die ‚sittlich praktische Menschenvernunft‘ mit ihren Idealen als Quelle der Nationalökonomie aufführt, damit die Wissenschaft kein bloßes Abbild, sondern Vorbild des wirtschaftlichen Völkerlebens werde: so kann ich dies mir gegenüber für keinen wirklichen Gegensatz halten. Abgesehen davon, daß nur die sittlichpraktische Menschenvernunft Geschichte versteht, bilden die Ideale jeder Periode eines der wichtigsten Elemente ihrer Geschichte. Namentlich pflegt sich das Zeitbedürfnis in ihnen am schärfsten auszusprechen. Der geschichtliche Nationalökonom als solcher ist gewiß nicht abgeneigt oder ungeeignet, Reformpläne zu machen. Nur wird er sie schwerlich dadurch empfehlen, daß sie absolut besser seien als das Bestehende, son-

59  Roscher, System I², S.  38 f. (§  24): „Nun werden aber die wirklichen Bedürfnisse eines Volkes auf die Dauer regelmäßig auch im Leben durchdringen. Wir müssen wenigstens mißtrauisch sein, wenn wir hören, daß ganze Völker durch ‚Pfaffen, Rabulisten, Tyrannen‘ in eine ‚unnatürliche‘ Richtung hineingezwängt worden. Wie sollte das auch, selbst abgesehen von aller menschlichen Freiheit, aller göttlichen Vorsehung, wie sollte es nur möglich sein? Die angeblichen Zwingherren sind doch in der Regel Bestandtheile des Volkes selbst; alle ihre Hülfsmittel wurzeln doch in der Regel nur im Volke selbst: es müßten Archimedes sein, die außerhalb ihrer Welt stünden!“ 60  Ebd., S.  40 f. (§  25). 61  Gemeint ist: Kautz, Theorie I, S.  313 ff.

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ähnliche Entleerung des normativen Charakters der sittlichen Gebote enthalten könne, mußte ihm verborgen bleiben, da er dagegen gesichert war. Fassen wir zusammen, so sehen wir, daß Roschers „historische Methode“ ein, rein logisch betrachtet, durchaus widerspruchsvolles Gebilde darstellt. Versuche, die gesamte Realität der historisch dern er wird nachweisen, daß ein Bedürfnis vorhanden ist, welches durch sie wahrscheinlich am wirksamsten befriedigt werden möchte.“62 –   Die erste der unterstrichenen Stellen ist eine in ihrer Art klassische Antwort auf die heute noch viel umstrittene und auch hier später zu berührende Frage der „Voraussetzungslosigkeit“63 der Geschichtsordnung. Die zweite enthält, wenn schon verhüllt, die spezifisch „entwickelungsgeschichtliche“ Vermischung von Werdendem, Seinsollendem und Sittlichem, die wir ebenfalls noch erörtern werden. Aus einer Methode wird der historische Entwickelungsgedanke hier zu einer Normen offenbarenden Weltanschauung, und das enthält die prinzipiell gleichen Bedenken wie der analoge Vorgang, den wir mit den naturwissenschaftlichen Entwickelungsgedanken noch heute sich vollziehen sehen. Dahin gehört z. B. der naive Rat mancher Evolutionisten an die Religion, „neue Verbindungen einzugehen“:64 als ob sie über ihre Hand verfügen könnte wie eine unglücklich verheiratet gewesene Frau. Roscher hat, auch wo nicht der ihm aus religiösen Gründen widerwärtige Darwinismus in Frage kam, den ethischen Evolutionismus zu gunsten seiner im religiösen Sinne idealistischen Psychologie abgewiesen: Geistl[iche] Gedanken, S.  75: „Wer bloß nach unten blickt auf das Emporsteigen aus der Materie, der wird auch die Sünde, zumal die kultivierte Sünde, mit großer Gemütsruhe als eine noch nicht erreichte Vollkommenheit ansehen, während sie doch in Wahrheit das absolut Böse, dem innersten Kern unserer Natur Feindliche, ja Tödliche ist.“   Nicht minder, wie wir schon sahen, den Gedanken der Theodizee, was sein freilich in diesem Punkt wohl kaum noch kirchlich korrekter Glaube an die Fortsetzung der Entwickelung des einzelnen nach dem Tode (Geistl[iche] Gedanken, S.  33 – cf. die fast kindlich-naive Stelle S.  7/8) ihm religiös möglich machte.65 |

62  Roscher, System I23, S.  79 f. (§  29 Anm.  5). 63  Unten, S.  100 mit Anm.  67. 64  Möglicherweise Bezug auf Schäffle, Albert E[berhard] Fr[iedrich], Bau und Leben des sozialen Körpers, Band 4: Specieller Theil, zweite Hälfte: Die geistigen Erscheinungen der Gesellschaft, die sociale Ausbildung der Vernunft und der Sprache, das Staatsleben, die heutigen Civilisationskreise. Neue zum Theil umgearbeitete Ausgabe. – Tübingen: H. Laupp 1881, S.  173: „Müssen wir doch zugeben, daß selbst da, wo die Stifter und Bewahrer der Religion erobernd und gewaltthätig vorgegangen sind, aus den Weltbränden die sie entzündeten, neue Verbindungen, dauernder Verkehr, höhere Völkererziehung, edlerer Glauben hervorgegangen sind, ohne daß es in der Absicht der streiterregenden Fanatiker lag!“ 65  Roscher, Gedanken, S.  33: „Für den Christen freilich ist es […] gewiß, daß sich unmittelbar an den irdischen Tod eine Fortsetzung der göttlichen Erziehungsarbeit anschließt“; ebd., S.  7 f.: „Sobald die Seele nach den etwaigen Stürmen des Todeskampfes aus ihrer Betäubung oder dem vielleicht regelmäßig zunächst eintretenden Schlafe erwacht, wird sie mit tiefer Beschämung, vielleicht mit heimlicher Freude gewahr werden: Also lebe ich doch noch!“

100 A 41

Roscher und Knies (Erster Artikel)

ge|gebenen Erscheinungen zu umklammern, kontrastieren mit dem Streben nach Auflösung derselben in „Naturgesetze“. Bei dem Versuch, die Allgemeinheit der Begriffe und die Universalität des Zusammenhanges miteinander zu identifizieren, gerät Roscher auf der Bahn der „organischen“ Auffassungsweise bis an die Grenze des Emanatismus Hegelscher Art, den zu akzeptieren sein religiöser Standpunkt ihn hindert. Bei Betrachtung der Einzelerscheinungen wird alsdann jene organische Betrachtungsweise wieder teilweise beiseite gelassen, zu gunsten eines Nebeneinander von begrifflicher Systematisierung nach Art der Klassiker,66 mit empirisch-statistischer Erläuterung bald der realen Geltung, bald der nur relativen Bedeutung der so gefundenen Sätze. Nur in der Darstellung der wirtschaftspolitischen Systeme behält die organischkonstruktive Eingliederung der Erscheinungen in die Altersstufen der Völker die Oberhand. – Für die Gewinnung wirtschaftspolitischer Werturteile führt sein historisch orientierter Relativismus zu wesentlich negativen Resultaten insofern, als die objektiven Normen, deren Bestehen fortwährend vorausgesetzt wird, nicht im Zusammenhang entwickelt oder auch nur formuliert werden. Roscher bildet zu Hegel weniger einen Gegensatz als eine Rück­ bildung: Die Hegelsche Metaphysik und die Herrschaft der Spekulation über die Geschichte ist bei ihm verschwunden, ihre glänzenden metaphysischen Konstruktionen sind ersetzt durch eine ziemlich primitive Form schlichter religiöser Gläubigkeit. Dabei machen wir aber die Beobachtung, daß damit Hand in Hand immerhin ein Gesundungsprozeß, man kann geradezu sagen: ein Fortschritt in der Unbefangenheit oder, wie man es jetzt ungeschickt nennt, „Voraussetzungslosigkeit“ der wissenschaftlichen Arbeit geht.67 Wenn es Roscher nicht gelang, seinen Weg von 66  Vgl. oben, S.  42 f. mit Anm.  9. 67  Möglicherweise Anspielung auf den „Fall Spahn“. Als Folge auf die Berufung des Katholiken Martin Spahn am 17. Oktober 1901 auf den fortan konfessionell gebundenen Lehrstuhl für Mittelalterliche und Neuere Geschichte an die Universität Straßburg – gegen den Willen der Fakultät veranlaßt durch Friedrich Althoff – traten protestantische Professoren für die Autonomie der Universität und die akademische Freiheit ein. Öffentlichkeitswirksam trat Theodor Mommsen für eine „voraussetzungslose Forschung“ ein (vgl. Mommsen, Theodor, Universitätsunterricht und Konfession, in: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr.  530 vom 15. Nov. 1901, S.  1) und bezeichnete die „Voraussetzungslosigkeit“ als „ideale[s] Ziel“ (Mommsen, Universitätsunterricht und Konfession, in: ebd., Jg. 54, Nr.  546 vom 24. Nov. 1901, S.  1). Eine Einmi-

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I.  Roschers „historische Methode“

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Hegel fort bis zu Ende zu verfolgen, so ist daran im wesentlichen der Umstand schuld, daß er das logische Problem der Beziehungen zwischen Begriff und Begriffenem nicht so in seiner methodischen Tragweite erkannt hatte, wie Hegel.w |

w  In A folgt: (Ein zweiter Aufsatz folgt.)68   schung Webers ist nicht belegt. Am 18. April 1902 teilt er seiner Gattin aus Vercelli mit, daß „Spahn“ Thema eines Gesprächs mit dem befreundeten katholischen Priester Pietro Pisani gewesen sei. Vgl. Brief von Max Weber an Marianne Weber vom 18. April 1902, MWG II/3, S.  840–842, hier S.  841. 68  Unten, S.  240–327, 328–379.

[Entwurf eines Textes zur Übernahme der Herausgeberschaft des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik“]

Editorischer Bericht I.  Zur Entstehung Im Sommer 1903 erwarb Edgar Jaffé von Heinrich Braun das „Archiv für so­ziale Gesetzgebung und Statistik“. Als Mitherausgeber der in „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ umbenannten Zeitschrift, die im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) erscheinen sollte, gewann er Werner Sombart und Max Weber.1 Im Zusammenhang mit dieser Übernahme ist ein undatiertes Manuskript ohne Titel überliefert, das Max Weber seiner Frau Marianne Weber diktierte und dann handschriftlich korrigierte.2 Die Entstehung dieses Manuskripts, welches das angestrebte Profil der Zeitschrift zum Thema hat, liegt im Dunkeln. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß es im Rahmen einer von Jaffé initiierten Werbemaßnahme entstand, für die ein Prospekt gedruckt werden sollte. Marianne Weber berichtete ihrem Mann am 27. August 1903 von Jaffés Vorhaben, einen „kleinen Prospekt“ auf der vom 14. bis 16. September 1903 in Hamburg stattfindenden Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik zu verteilen; diesen Prospekt hätte Jaffé „schon entworfen u. zur Begutachtung zunächst an Sombart gesandt“.3 Darauf antwortete Weber am 29. August 1903: „Daß Jaffé einen Prospekt bei VfSP verteilen will, ist mir an sich nicht sehr sympathisch, es sieht doch sehr Colportage-artig aus u. ist Braun gegenüber unvorsichtig, so lange von diesem Chikanen drohen, – wir haben uns dann öffentlich festgelegt. –“4 Am 31. August 1903 teilte Jaffé Siebeck mit: „Über den Prospect hoffe ich in wenigen Tagen berichten zu können.“5 Am 10. September 1903 ergänzte er: „Vor 10 Tagen bereits hatte ich den Entwurf des Vorprospects an Prof. Sombart zur Begutachtung nach Salzburg gesandt. 1  Zu den Einzelheiten dieser Übernahme vgl. Hübinger, Gangolf und Lepsius, M. Rainer, Einleitung, in: MWG II/4, S.  1–25, hier S.  3–7, sowie die Editorische Vorbemerkung zum Brief von Max Weber an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, ebd., S.  68–70. 2  Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, unten, S.  105–111. 3  Brief von Marianne Weber an Max Weber, undat. [27. Aug. 1903], in: Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 4  Karte von Max Weber an Marianne Weber vom 29. Aug. 1903, MWG II/4, S.  139. 5  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 31. Aug. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 146.

Editorischer Bericht

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Bis jetzt ist aber noch keine Antwort eingelaufen und auch Prof. Weber meint, daß die Verteilung in Hamburg vielleicht von einigen der Herren falsch aufgefaßt werden könnte, so müssen wir wohl die Herausgabe des Prospects noch bis nach der Tagung des V.f.S.p. verschieben.“6 Darauf antwortete Siebeck am 12. September 1903: „Was den Prospekt anbelangt, so ist es vielleicht besser, die Herren bekommen ihn erst, wann sie nach Hause zurückgekehrt sind. In Hamburg sind sie ja doch allerlei Abhaltungen und Ablenkungen unterworfen.“7 In den nächsten Tagen waren Jaffé und Weber in dieser Sache tätig. Am 21. September 1903 teilte Jaffé Siebeck mit: „Was den Prospect anlangt, so haben wir zwei ausgearbeitet: Einen kurzen, der aus meiner Feder stammt und der sich für den, dem letzten Hefte des 18.  Bandes beizulegenden buchhändlerischen Prospect eignen dürfte und einen ausführlichen von Prof. Weber, der am besten an die Spitze des ersten Heftes des 19.  Bandes – also ein Text – passen würde. Sobald ich die Entwürfe von Prof. Sombart zurückerhalte, werde ich Sie Ihnen zur Begutachtung senden.“8 Die beiden in diesem Schreiben genannten „Entwürfe“ von Jaffé und Weber sind nicht überliefert. Überliefert ist das im Folgenden edierte Manuskript Webers, bei dem es sich um eine erste Version zu dem in Jaffés Schreiben erwähnten längeren „Entwurf“ für einen Werbetext handeln dürfte. Zusätzlich überliefert ist ein auf Oktober 1903 datierter und von Sombart, Weber und Jaffé unterzeichneter gedruckter Werbetext für einen Prospekt.9 Da dieser und das unten edierte handschriftliche Manuskript formale und inhaltliche Ähnlichkeiten aufweisen, ist es wahrscheinlich, daß das Manuskript und der auf ihm basierende „Entwurf“ Webers in die Formulierung des von allen drei Herausgebern unterzeichneten Prospekttextes eingeflossen ist. Der Prospekt scheint nun seinerseits den Herausgebern als Vorlage bei der Formulierung ihres „Geleitworts“ gedient zu haben, das an der „Spitze“10 des ersten Heftes des 19.  Bandes des „Archivs“ erschienen ist.11 Auch in Webers eigenem Beitrag zu diesem Heft, „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, finden sich nahezu wortgleiche Formulierungen.12 6  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 10. Sept. 1903, ebd. Sombart beteiligte sich zwischen dem 7. und 12. September 1903 mit einem sechsstündigen Beitrag „Ueber den Geist im Wirtschaftsleben“ an einem Ferienkurs, den der Wiener Verein für wissenschaftliche Ferienkurse in Salzburg veranstaltete. Vgl. Ferienkurse in Salzburg, in: Heidelberger Zeitung, Jg. 45, Nr.  172 vom 27. Juli 1903, 2. Blatt, S.  2. 7  Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 12. Sept. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 146. 8  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 21. Sept. 1903, ebd. 9  Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, unten, S.  112–119. 10  Die Formulierung „an die Spitze“ in Jaffés Brief vom 21. September 1903, vgl. dazu oben S.  103 mit Anm.  8. 11  [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, unten, S.  120–134. 12  Weber, Objektivität, unten, S.  135–234.

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Entwurf zur Übernahme des Archivs

II.  Zur Überlieferung und Edition Dem Abdruck liegt ein vierseitiges Manuskript zugrunde, das sich im Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat Bayerische Staatsbibliothek München, Ana 446 (A, A1, A2), befindet und dort als „Entwurf eines Textes zur Übernahme des ‚Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik‘“ verzeichnet ist. Das Manuskript ist undatiert, ohne Überschrift und besteht aus zwei Bögen des Papiers „J. P. Sonntag Emmendingen Normal 3b“.13 Die erste Seite eines Bogens ist jeweils von der Hand Max Webers mit „1)“ und „2)“ paginiert. Der Grundtext (A) ist offenbar von Max Weber diktiert und von der Hand Marianne Webers mit schwarzer Tinte auf der rechten Blattseite geschrieben,14 dazu war der erste Bogen hälftig, der zweite zu Zweidritteln vertikal geknickt. Anschließend wurde dieser Grundtext von Max Weber in zwei Durchgängen überarbeitet. Die zeitlich frühere Überarbeitung erfolgte mit schwarzer Tinte (A1), die spätere mit einem lilafarbenen Bleistift (A2). Der Gesamttext ist von Max Weber autorisiert. Ediert wird der Text letzter Bearbeitung (A2), die Abweichungen zur ersten Überarbeitung A1 und der Grundfassung A werden im textkritischen Apparat ausgewiesen. Die Edition übernimmt die Originalpaginierung als A, A1, A2 1 bzw. 2 und ergänzt die Zählung der zweiten Bogenseiten als A, A1, A2 (1a) bzw. (2a). Die von der Bayerischen Staatsbibliothek verwendete Bezeichnung des Manuskripts wird als Überschrift übernommen, aber als nicht-autoreigen in eckige Klammern gestellt.

13 Dieses Papier hat Weber u. a. auch zur Abfassung seiner Rechtssoziologie benutzt; vgl. den Editorischen Gesamtbericht in MWG I/22-3, S.  135–172, hier S.  146. 14  Marianne Weber unterstützte ihren Mann während seiner Rekonvaleszenz 1902/03 bei Schreibarbeiten.

[Entwurf eines Textes zur Übernahme der Herausgeberschaft des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik“] aDas

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A[rchiv] f[ür] S[oziale] G[esetzgebung] u. St[atistik] ist, da der bish[erige] verdiente Begründer u Herausg[eber] d[urch] Eintritt in die polit[ische] Arbeit1 gehindert ist, die Red[daktion] mitzuführen[,] in die Red[aktion] der unterzeichnendenb Herausg[eber]2 u. in den Verlag der aufgez[eigten] Buchh[andlung]3 übergegangen[.]a Die Zeitschrift4 wird in ihrer äußeren cAusstattung und ihrem Preisec5 ebenso wie din ihrem eInhalt unde allgemeinen inneren Charakter keinef Veränderung gerleidend.h Ihre bish[erigen] bewährten Mitarbeiter bleibeni ihr erhaltenj,6 u. die Gewinnung neuer hervorragender Kräfte ist gelungenk[.]7 Sie bleibt unabhängig von jeder a–a  Fehlt in A.   b  Unsichere Lesung.   c–c A: Erscheinung  d–d Hervorhebung fehlt in A.   e–e  Fehlt in A.   f A: keinerlei ; in A1 folgt: 〈[??]〉  g–g  (S.  106)  A: erleiden. Sie beabsichtigt, wie bisher, der objectiven, von keiner Parteimeinung abhängigen, wissenschaftlichen Erkenntniß im weitesten Sinne dieses Wortes zu dienen. A1: erleiden; die Aufgaben die sie sich stellt, bleiben die alten, während allerdings die Mittel, deren sie sich bedient, in einzelnen Punkten gegen bisher eine Erweiterung u. Vertiefung erfahren sollen[.] Sie beabsichtigt, wie bisher, der objectiven, von keiner Parteimeinung abhängigen, wissenschaftlichen Erkenntniß der sozialen Entwicklung und Zustände im weitesten Sinne dieses Wortes zu dienen. Es ist gelungen den Kreis der bisherigen Mitarbeiter der Zeitschrift ihr zu erhalten und zahlreiche neue hinzuzugewinnen.    h A2: erleiden;    i A2: werden > bleiben    j In A folgt: bleiben   k A2: angebahnt > gelungen   1 Heinrich Braun wurde im Juni 1903 für die sozialdemokratische Partei in den Reichstag gewählt. 2  Gemeint sind Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber. 3  Gemeint ist der Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Die Übernahme des „Archivs“ durch diesen Verlag hat Weber vorgeschlagen. Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief von Max Weber an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, MWG II/4, S.  68–70. 4  Das Braunsche „Archiv“ wurde ab 1897, im Untertitel als „Zeitschrift“ bezeichnet. 5  Ein Band des Braunschen „Archivs“ kostete 16 Mark. Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, unten, S.  118. 6  Tatsächlich sollte von denjenigen, die im Braunschen „Archiv“ häufiger publiziert hatten, neben Sombart nur Ferdinand Tönnies dabei bleiben. Andere, wie Heinrich Herkner, publizierten nur noch gelegentlich. 7  Wer zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Texts damit gemeint ist, wissen wir nicht. Jaffé teilte Siebeck am 23. August 1903 mit, „eine Anzahl von Artikeln für das Archiv bei jüngeren Gelehrten“ angeregt zu haben. Am 21. September 1903 ist in seinem Brief

A, A1, A2 1

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Entwurf zur Übernahme des Archivs

Parteimeinung u., da der methodische Standpunkt ihrer Herausgeber keineswegs schlechthin identisch ist, auch unabhängig von jeder wissensch[aftlichen] Schulmeinung.g l Ihre Herausgeber und Mitarbeiter werden sich bewußt bleiben, daß die unbefangene mwissen­ schaftliche Arbeitm niemals sich anmaßen darf,n Werturteile8 ound Idealeo 9 – seien diese ethischer oder politischer oder welcher Art immer – aus sich pheraus zu erzeugenp, sondern lediglichq: sie zu rermöglichen durch sunbestechliche Klarlegung der Thatsachens in

g(S.  105)–g A: erleiden. […] dienen. A1: erleiden; […] hinzuzugewinnen.  l A2: 〈Ihre〉  m–m  A, A1: Wissenschaft  n Komma fehlt in A, A1.  o–o Fehlt in A, A1.  p–p A: hervorzubringen ; A1: heraus zu produzieren  q A: nur  r–r (S.  107)  A: ermöglichen. Es ist gelungen den Kreis der bisherigen Mitarbeiter sich zu erhalten und zahlreiche neue hinzuzugewinnen, da die Arbeitsgebiete und der methodische Standpunkt ihrer Herausgeber unter sich keineswegs identisch sind, so ist jede einseitige Vertretung von Schulmeinungen auch künftig ausgeschlossen. In inhaltlicher Beziehung  s–s A1: unbestechlich wahrhafte Klarlegung der Thatsachen   an den Verlag von einer „Liste über bereits gewonnene neue Mitarbeiter“ die Rede, die aber nicht überliefert ist. Vgl. Briefe von Edgar Jaffé an Paul Siebeck und Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 23. Aug. bzw. 21. Sept. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 146. 8  Vgl. bereits Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  95, 100, und ders., Objektivität, unten, S.  142, 144 ff., 214. Sombart, Werner, Socialwissenschaftliche Zeitschriften, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung (München) vom 30. Jan. 1897, S.  1–3 (hinfort: Sombart, Zeitschriften), hier S.  3, spricht von „Urtheile[n] über Werth oder Unwerth“; Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.  14, Anm.  94), S.  X, plädiert für eine „Indifferenz gegenüber allen Werten, die nicht Erkenntniswerte sind“, mithin für eine Reinigung des „Urteilvermögen[s] von den häßlichen Beimischungen politischer oder was weiß ich welcher anderen unwissenschaftlichen Interessiertheit“. 9 Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  2 spricht von „Ideale[n] der Politik“. Möglicherweise referiert Weber (auch) auf Sombart, Werner, Ideale der Sozialpolitik, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Band 10, 1897, S.  1–48 (hinfort: Sombart, Ideale), hier S.  12, wo sich ein differenzierter Standpunkt zum Verhältnis von Wissenschaft und Ideal findet: „die Wissenschaft kann das Ideal in seiner Notwendigkeit oder in seiner Freiheit betrachten. Sie kann es entweder als kausal bedingt in seiner Entstehung nur erklären: genetische Betrachtungsweise; oder sie kann es in seinem Werte und seiner Bedeutung abschätzen, beurteilen: kritische Betrachtungsweise.“ Sombart hatte Weber diesen Text zugesandt. Vgl. Brief von Max Weber an Werner Sombart vom 8. Febr. 1897, MWG II/3, S.  287–289. Weber führte diesen Titel in seinem Vorlesungs-Grundriß auf, unter der Überschrift „Entwicklung und Analyse der ökonomischen und sozialen Ideale“, neben seiner Freiburger Antrittsrede „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ (1895) und Rudolf Stammlers „Wirtschaft und Recht“ (1896). Vgl. Weber, Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  117.

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ihren ursächlichen Zusammenhängen und tlogische Analyseu vder üblichen sowohl als der möglichenv Maßstäbe der Beurteilung[.] – Inhaltlichtr willw die Zeitschrift auch ferner xder sozialwissenschaftlichen Erkenntnisx y10 | zzu diesem Zweck zuverlässigez und vollständige Information abieten über 1) die Lage und Entwicklung der bsozialen Zuständeba (im weitesten Sinnc dieses Worts),11 2)d der sozialpolitischen Gesetzgebung eund Verwaltunge12 und 3)f der Sozialwissenschaft in alleng Kulturländernh. iIm Anschluß an den bisherigen Inhalt der Zeitschrift u. unter teilweiser Erweiterung u. Vertiefung desselben wird im Einzelnen Folgendes beabsichtigt:i j t–t A1: „innere“ Kritik der möglichen 〈einzelnen〉 Werthmaßstäbe 〈durch〉 mittelst Aufzeigung ihrer praktischen Consequenzen. Da der methodische Standpunkt ihrer Herausgeber aber unter sich keineswegs durchweg identisch ist, so ist jeder einseitigen Vertretung von Schulmeinungen auch künftig vorgebeugt. In inhaltlicher Beziehung  u A2: Kritik > Analyse  v–v A2: der möglichen und thatsächlich eingetretenen sowohl als der möglichen > der möglichen und der üblichen > der möglichen und > der üblichen sowohl als der möglichen  r(S.  106)–r A: ermöglichen. […] Beziehung  w  A, A1: wird  x–x  Fehlt in A, A1.  y A2: 〈im weitesten Sinn des Worts dienen〉  z–z  A, A1: das Hauptgewicht auf schnelle  a–a A: über den Gang der sozialen Entwicklung ; A1: über 1) den Gang der sozialen Entwicklung  b–b A2: staatlich-gesellschaftlichen Zustände > ungleichen Zustände > sozialen Zustände 〈und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis〉  c A: Sinne  d  Fehlt in A.   e–e  Fehlt in A, A1.  f  Fehlt in A.   g  A, A1: den  h  In A, A1 folgt: legen  i–i  A: Keine Hinderung, sondern eine Erweiterung und Vertiefung der Mittel, mit denen dieses Ziel erstrebt wird, erscheint geboten. Im einzelnen wird folgendes beabsichtigt: ; A1: Keine Hinderung, sondern eine Erweiterung und Vertiefung der Mittel, mit denen dieses Ziel erstrebt wird, erscheint geboten. Im einzelnen wird im Anschluß an den bisherigen Inhalt der Zeitschrift folgendes beabsichtigt: Beide Fassungen in A2 nicht gestrichen, aber inhaltlich durch A2 ersetzt.   j  In A2 folgt: 〈folgende〉   10  Als Titel für Webers Beitrag zum ersten Heft des „Archivs“ unter neuer Herausgeberschaft wird zunächst genannt: „Zur Objectivität der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis“. Vgl. Brief von Edgar Jaffé an Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 8. Febr. 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183. Nach dem Erscheinen des Beitrags unter dem Titel „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ sollte Weber selbst von seiner „Abhandlung ‚Objektivität sozialwiss[enschaftlicher] Erkenntnis‘“ sprechen. Vgl. Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 5. April 1905, MWG II/4, S.  449–453, hier S.  450. 11 Der Untertitel des Braunschen „Archivs“ lautete: „Vierteljahresschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder“. 12  Vgl. den Titel von Schmollers „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“, in dem Weber gleichzeitig seine Kritik an Roscher publizierte. Weber orientierte sich hinsichtlich des Layouts und der Änderung des Titels des „Archivs“ an Schmollers Jahrbuch. Vgl. Briefe von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 15. Okt. und 12. Dez. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 146.

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Abdruck wissenschaftlicher Originalabhandlungenk

lGemäß

A, A1, A2 2

ihrem überlieferten Charakter, aber auch aus zwingenden Gründen wissensch[aftlicher] Arbeitsteilung wird die Zeitschr[ift] in diesem Teil ihres Inhalts, wie bisher sich eine wohlerwogene Selbstbeschränkung auferlegenm.l Sie wird, wie bisher, auf die Aufnahme von Aufsätzen aus dem Gebiete der descriptiven Wirtschaftskunde, der Wirtschaftsgeschichte im engeren Sinn und der deskriptiven Statistik nverzichten und ebenson die oErörterung dero technisch-juristischen Probleme der Staats- und Verwaltungslehre, diep finanz|technischen Fragenq undr die Erörterung der rein ökonomisch-technischen Problemes der Markt- und Preisbildung andren Organen überlassen. Ihr eigenstest Arbeitsgebiet werden wie bisher im wesentlichen solcheu Probleme vsein, welche zusammenhängen mit derv Struktur des wmenschl[ichen] Gemeinschaftslebens u. seiner historisch gegebenen Organisationen, die in ihrer natürl[ichen]13 u. geschichtl[ichen] Bedingtheit u. in ihren Folgen für die Klassenlage14 der einzelnen Bevölkerungsschichten, für die k–k  A: I. Die Zeitschrift wird sich, wie bisher an der wissenschaftlichen Arbeit beteiligen durch Aufnahme streng wissenschaftlicher Originalabhandlungen. A1: I Selbständige > I Abdruck wissenschaftlicher Originalabhandlungen  l–l A: Sie muß in diesem Teil ihrer Thätigkeit im Anschluß an ihre ganze Vergangenheit sich eine Selbstbeschrän­ kung in bezug auf den Umfang des Gebiets, welches sie behandelt, auferlegen. A1: Die Zeitschrift wird in diesem Teil ihrer Thätigkeit entsprechend dem Charakter, 〈schon〉 den ihre [in A1 folgt: ihrer] Vergangenheit 〈auch〉 ihr gegeben hat, aber auch aus zwingenden Gründen wissenschaftlicher Arbeitsteilung sich auch künftig eine wohlerwogene Selbstbeschränkung in bezug auf den Umfang des Gebiets, welches sie behandelt, auferlegen.  m A2: auferlegen müssen > auferlegen  n–n A: verzichten. Sie muß   o–o Fehlt in A, A1.  p In A, A1 folgt: rein  q A2: 〈der Staatswirtschaftslehre〉   r  In A, A1 folgt: ebenso  s A: Fragen,  t  Fehlt in A.   u  A, A1: die  v–v A: der allgemeinen ; A1: der allgemeinen sozialen  w–w (S.  109)  A: menschlichen Gesellschaftslebens, soweit diese ökonomisch bedingt sind, zu bilden haben. Zur Erarbeitung dieser Probleme wird es allerdings ; A1: Soziallebens in ihren Ursachen und Folgen für die Klassenlage der einzelnen Bevölkerungsgruppen und für die Culturentwicklung, zu bilden haben. Zur Erarbeitung dieser Probleme wird es aber allerdings   13  Zu „Naturbedingungen der Wirtschaft“ vgl. Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  311 ff. 14  Der Begriff geht zurück auf Engels, Friedrich, Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft. Philosophie, Politische Ökonomie, Sozialismus, 3., durchgesehene und vermehrte Aufl. – Stuttgart: J. H. W. Dietz 1894 (hinfort: Engels, Anti-Dühring), S.  89, 154, 177. Auf dieses Werk verwiesen hat Weber bereits im Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  107.

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Culturentwicklung u. f[ür] die xProbleme der Gesetzgebungx u. Verwaltung zu erforschen sie auch künftig als ihre Hauptaufgabe ansehen wird[.] Es wird nach dem heutigen Stand der Wissenschaft zu diesem Zweckw einey Erweiterung und Vertiefung des bisherigenz Aufgabenkreises der Zeitschrift ain der Richtunga auf die philosophischen Grenzgebiete bder Sozialwissenschaften, insbesondere der Rechtsphilosophie, der allgemeinen Soziallehre des Staatsb15 und der heute meistc unter dem Namen derd „Gesellschaftswissenschaft“16 zusammengefaßten[,] eunter sich sehr verschiedenene Disciplinen, funentbehrlich sein. Dief gsozial-ökonomischen Erscheinungeng hkönnen nur soh in den allgemeinen Kulturzusammenhang,17 in welchen sie gehören, igestellt werdeni. jDie wissensch[aftliche] Lage der Gegenwart fordert ferner in stets steigendem Maß zur Selbstbesinnung der Forschung auf die sachlichek Brauchbarkeit und logische Struktur der Begriffel, mit denen auf diesen Gebieten gearbeitet wird, u. es muß daher die x–x A2: Gesetzgebung > gesetzgeberischen Probleme > Probleme der Gesetzgebung   w(S.  108)–w A: menschlichen […] allerdings; A1: Soziallebens […] allerdings   y A2: einer  z  Fehlt in A, A1.  a–a  Fehlt in A; A1: in der Richtung auch  b–b A: unsrer Disciplin hin bedürfen. Einerseits muß die Behandlung der allgemeinen Staatslehre (allgemeinen Soziallehre des Staates) ; A1: der Sozialwissenschaften hin bedürfen. Zunächst muß selbstverständlich die Behandlung der allgemeinen Soziologie des Staats   c  Fehlt in A.   d  Fehlt in A.   e–e  Fehlt in A, A1.  f–f A: insoweit mit herangezogen werden, als dies erforderlich ist, wie die; A1: herangezogen werden und die ; A2: unentbehrlich sein, 〈u. 〈[??]〉 und Die  g–g  A: Erscheinungen des ökonomisch-so­ zialen Lebens  h–h  Fehlt in A, A1; A2: müssen > können nur so  i–i  A, A1, A2: zu stellen  j–j (S.  110)  A: Sodann aber wird die Zeitschrift genötigt sein, sich der Pflege der Methodik der Sozialwissenschaften in stark erhöhtem Maße zuzuwenden und zu diesem Zweck die ; A1: Da ferner mit die brennendsten Probleme der Sozialwissenschaften heute auf dem Gebiet der Methodik liegen und in der Frage nach der sachlichen Brauchbarkeit und logischen Struktur der allgemeinen Begriffe gipfelten, 〈die dies in unser〉 mit denen wir auf diesen Gebieten arbeiten, so muß  k A2: sachlichen  l  In A2 folgt: gipfelten   15  Weber referiert wahrscheinlich auf Jellinek, Staatslehre (wie oben, S.  91, Fn.  86, Anm.  26), S.  10: „Der Staat ist einmal gesellschaftliches Gebilde, sodann rechtliche Institution. Dementsprechend zerfällt die Staatslehre in die sociale Staatslehre und in die Staatsrechtslehre. Die allgemeine Staatslehre insbesondere hat demnach zwei Abteilungen: die allgemeine Sociallehre des Staates und die allgemeine Staatsrechts­ lehre.“ Zur allgemeinen Sociallehre des Staates vgl. ebd., S.  115 ff. (Zweites Buch), zur allgemeinen Staatsrechtslehre vgl. ebd., S.  345 ff. (Drittes Buch). 16  Vgl. Gothein, Eberhard, Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft, in: HdStW1, Band 3, 1892, S.  838–844. 17  Dieser Begriff findet sich in Weber, Objektivität, unten, S.  164. Rickert, Grenzen, S.  392 ff., hat von einem „historische[n] Zusammenhang“ gesprochen.

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A, A1, A2 2(a)

Entwurf zur Übernahme des Archivs

Methodik, insbesondere diej Kritik der Begriffsbildung auf dem | Gebiete unsrer mund der benachbartenm Disciplinen nherangezogen werden.n oII

Berichtep über den Gang der sozialen Gesetzgebung und Chroniken über die sozialpolitische Lage in allen Culturländern

Es solleno q1) wieq bisher alle rpraktisch oder prinzipiell besonders wichtigen[,] in das Gebiet der „Sozialpolitik“ direkt eingreifendenr sGe­ setze und Verordnungens des In- und Auslands,t regelmäßigu unter wörtlicher Wiedergabe ihrer wesentlichen Bestimmungen, von berufenen Fachmännern kommentiert und nach Anlaß, Zweck und praktischer Bedeutung erläutert werden, 2)v aber wird beabsichtigt[,] durch regelmäßige sozialpolitische Chronikenw18 die Entwicklung der xsozialen Zustände u. der sozialpolit[ischen]x Gesetzgebung der Kulturstaaten in den Zusammenhang einerseits mit ihrery inneren zmateriellen u. geistigenz Kulturentwicklung, andrerseits mit ihrera allgemeinen Politikb zu stellen. cEs werden für die Haupt-Culturländer sowohl Spezialberichte über einzelne sozialpolitisch besonders wichtige Organisationend: j(S.  109)–j A: Sodann […] die; A1: Da […] muß   m–m Fehlt in A.   n–n A: in vielfachster Weise in den Bereich ihrer Aufgaben zu ziehen. Sie wird dazu der Mitarbeit philosophischer Fachmänner nicht entraten können. A1: in den Bereich 〈unsrer〉 der 〈dieser〉 Zeitschrift gezogen werden. Sie wird dazu der Mitarbeit philosophischer Fachmänner nicht entraten können.  o–o A: II. Die Zeitschrift beabsichtigt, wie bisher, eingehende u, vollständige Informationen über den Gang der sozialpolitischen Gesetzgebung und die allgemeine sozialpolitische Lage zu den einzelnen Kulturländern zu bieten. Zu diesem Zweck werden:  p A1: Berichte Informatio > Berichte  q–q A: Wie  r–r A: eingehenden erheblichen ; A1: praktisch oder prinzipiell besonders wichtigen  s–s  Hervorhebung fehlt in A.   t  In A folgt: die in das Gebiet der So­ zialpolitik direkt eingreifen, in A1 folgt: die in das Gebiet der Sozialpolitik direkt 〈soweit sie〉 eingreifen,  u  Fehlt in A.   v  Ziffer fehlt in A.   w A: Inform > Chroni­ ken  x–x A: sozialpolitischen ; A1: sozialen  y A: der  z–z A: ökonomischen und der ; A1: ökonomischen Lage und der ; A2: materiellen u. geistigen der  a A: der  b  In A folgt: der betreffenden Länder  c–c (S.  111)  Fehlt in A, A1.  d A2: Spezial > Organisationsformen > Organisationen   18  Im „Archiv“ finden sich solche Chroniken, zumeist von Emil Lederer verfaßt, erst ab 1910.

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Entwurf zur Übernahme des Archivs

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----- wie sozialpolit[ische] Generalberichte über den GesamtZus[ammen]hang der sozialen u. sozialpolit[ischen] Lagee erscheinen[.]c fDie Gewinnung ggeeigneter Kräfteg für diese Aufgaben ist teils gelungen, teils in die Wege geleitet[,] so daß voraussichtlich noch im Lauf desh Jahres 1904i mit dieser Berichterstattung wird begonnen werden können[.]f 19 |

e  In A2 folgt: 〈und der allgemeinen Politik〉  c (S.  110)–c  Fehlt in A, A1.  f–f Fehlt in A.   g–g A1: hervorragender Fachmänner  h  In A1 folgt: ersten > kommenden   i  Fehlt in A, A1.   19  Möglicherweise denkt Weber diesbezüglich an Victor Graetz und Ignaz Jastrow, um deren Mitarbeit er sich auf der Hamburger Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik im September 1903 bemüht hat. Vgl. Brief von Max Weber an Edgar Jaffé vom 18. Sept. 1903, MWG II/4, S.  150 f.

[Werbetext zum] „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ [zusammen mit Edgar Jaffé und Werner Sombart]

Editorischer Bericht I.  Zur Entstehung Im Zusammenhang der Übernahme des „Archiv[s] für soziale Gesetzgebung und Statistik“ durch Edgar Jaffé, der dann die Zeitschrift gemeinsam mit Werner Sombart und Max Weber ab April 1904 als „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ fortführte,1 ist ein von Sombart, Weber und Jaffé gemeinsam unterzeichneter Werbetext als gedruckter Prospekt des Verlages J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom Oktober 1903 überliefert. Wie aus dem Briefwechsel zwischen Jaffé und dem Verleger Paul Siebeck vom 21. und 23. September 1903 hervorgeht, lagen ursprünglich zwei Entwürfe unterschiedlichen Formats und Inhalts von Jaffé und Weber vor.2 – Ein entsprechender Entwurf von Sombart ist jedoch nicht überliefert. – In einem Brief Jaffés an Siebeck vom 3. Oktober 1903 ist von einem Prospektentwurf die Rede: „Einliegend behändige ich Ihnen den Prospectentwurf mit der Bitte mir so bald als möglich 3 Correcturabzüge zugehen lassen zu wollen. Es ist dringend erwünscht den Prospect schon jetzt fertig zu stellen, damit wir die Werbearbeit mit Hilfe desselben kräftig in Angriff nehmen können, speziell zur Versendung an die neu zu gewinnenden Mitarbeiter bedürfen wir denselben dringend“.3 Jaffé spezifizierte sodann die Auflagenhöhe und die Adressatenkreise: „Von dem Prospect werden wir ca 300 Exemplare zur Versendung an Mitarbeiter & Bekannte brauchen, ca. 700 werden dem letzten Hefte beizulegen sein, außerdem sollte jeder Dozent der Volkswirtschaft an Universität, Techn[ischer] Hochschule, Handelshochschule etc. ein Exemplar erhalten 1  Zu den Einzelheiten dieser Übernahme vgl. Hübinger, Gangolf und Lepsius, M. Rainer, Einleitung, in: MWG II/4, S.  1–25, hier S.  3–7, sowie die Editorische Vorbemerkung zum Brief Max Webers an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, in: MWG II/4, S.  68–70. 2  Vgl. den Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 21. Sept. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 146, sowie den Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 23. Sept. 1903, ebd. 3  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 3. Okt. 1903, ebd. Dieser „Prospectentwurf“ ist nicht überliefert.

Editorischer Bericht

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(auch in Oesterreich, Schweiz etc.), ebenso die Statistischen Ämter, Bürgermeisterämter, Bibliotheken etc. abgesehen von dem was Sie für die Sortimenter brauchen.“4 Jaffés Brief vom 8. Oktober 1903 an Paul Siebeck klärt die Urheberschaft des Prospekts hinsichtlich des Verlagseinflusses. Er schreibt: „In Angelegenheit des Prospects behändige [ich] Ihnen anbei die Korrectur zu der ich mir die folgenden Bemerkungen gestatten möchte: Wir hatten absichtlich das gesandte Manuscript von unserem Standpunkte als Herausgeber aus verfaßt und gedacht, daß Sie Ihrerseits hinzufügen würden was Sie als Verleger noch für wünschenswert erachteten. Vielleicht ist es aber das wichtigere wenn der Prospect so wie er jetzt steht gedruckt wird und dann von uns als Werbemittel für Mitarbeiter in dieser Form verwendet wird. Daß dann aber zur Beifügung den […] Abonnenten des letzten Heftes, sowie zu Reklamezwecken für die Sortimenter etc. noch ein Blatt hinzugefügt wird in dem Sie auf das neue Unternehmen hinweisen, zum Abonnement auffordern, Bestellschein beifügen etc.“5 Siebeck antwortete am 12. Oktober 1903, daß er inhaltlich keine Änderungen vorgenommen habe, da er davon ausgegangen sei, daß der Prospekt „zunächst lediglich für die Zwecke der Herren Herausgeber, als Werbemittel für Mitarbeiter etc. bestimmt“ sei und die „zur allgemeinen Verteilung bestimmten Prospekte“ dann das „Nähere“ enthalten würden.6 Über die Verteilung der Autorenschaft zwischen den drei neuen „Archiv“-Herausgebern enthält die Verlagskorrespondenz keine Informationen.7 Im Oktober 1903 ist der Prospekt in einer Auflagenhöhe von 500 Exemplaren erschienen.8

II.  Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Dem Abdruck liegt ein dreiseitiger, gedruckter Werbetext für einen Prospekt des Verlages J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) „1903, Nr.  162“ zugrunde, der unter der Überschrift „Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik, Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ steht und unter dem Datum „Oktober 1903“ von Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé unterzeichnet ist. Er ist als Anlage zu einem späteren Brief des Verlages J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) an Edgar Jaffé, datiert auf 21. September 1906, in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 4 Ebd. 5  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 8. Okt. 1903, ebd. 6  Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 12. Okt. 1903, ebd. 7  Die Kommentierung zum hier edierten Text weist auf Parallelformulierungen zu Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  102–111, hin. 8  Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 15. Okt. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 146.

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Werbetext zum Archiv

(Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 216 (A), überliefert. Der Brief enthält keinen Bezug auf den Werbetext, so daß die Ablage wohl zufällig erfolgt ist. Der Werbetext trägt die Kopfzeile „Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen und Leipzig“. Eine Fußzeile auf der ersten Seite lautet: „1903. Nr.  162.“ Auf der ersten Seite finden sich Zusätze von dritter Hand – links oben: „nur als Papierprobe“, links unten: „Warburg-Pap[ier]“, rechts oben: „Warburg-Pap[ier]“ und „Jaffé“ – sowie ein diagonaler Querstrich, der sich über das ganze Blatt zieht. Der Text ist von „Werner Sombart – Max Weber – Edgar Jaffé“ gemeinsam unterzeichnet, so daß er von Max Weber autorisiert ist. Da keine originale Paginierung vorhanden ist, fügt der Herausgeber die Seitenzählung A (1) etc. ein.

[Werbetext zum] Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Sozialwissenschaft und Sozialpolitik

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Begründet von Heinrich Braun. Herausgegeben von Professor Werner Sombart in Breslau[,] Professor Max Weber in Heidelberg und Dr. Edgar Jaffé in Heidelberg. Das Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, welches auf eine erfolgreiche 16jährige Wirksamkeit zurückblicken kann,1 wird nach Abschluß des im Erscheinen begriffenen 18.  Bandes aus der Redaktion seines Begründers2 in die Hände der unterzeichnendena Herausgeber3 und zugleich in den Verlag von J.  C.  B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen übergehen. Die Veränderung in der Schriftleitung wird keinerlei Änderung in dem allgemeinen Charakter, welcher dem Archiv seit seiner Entstehung eigentümlich war, mit sich bringen. Förderung der prakti­ schen, sozialpolitischen Arbeit mit den Mitteln der Wissenschaft, das heißt: durch streng unbefangene, an keine Partei- oder Schulmeinung gebundene Analyse der Thatsachen4 einerseits, der Gesetzgebung5 in ihren Motiven und praktischen Konsequenzen andererseits, wird auch künftig die Aufgabe des Archivs sein. | Wir wollen diesem Zweck, im Anschluß an die bisherige Gliederung des Archivs, dienen: 1) durch Veröffentlichung größerer Original-Abhandlungen;6 2) durch Abdruck7 und eingehende fachmännische8 Analyse der das Gebiet der Sozialpolitik berührenden Gesetze und Erlasse des

a A: unterzeichneten   1  Das erste Heft erschien 1888. 2  Gemeint ist Heinrich Braun. 3  Gemeint sind Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber. 4  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  106, Zeile 8: „Klarlegung der Thatsachen“. 5  Vgl. ebd., oben, S.  107, Zeile  7: „Gesetzgebung“. 6  Vgl. ebd., oben, S.  108, Zeile  1: „Originalabhandlungen“. 7  Vgl. ebd.: „Abdruck“. 8 Vgl. ebd., oben, S.  110, Zeilen  10–11: „von berufenen Fachmännern“. Vgl. dazu auch ebd., oben, S.  105 f. mit Anm.  6 und 7.

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In- und Auslandes,9 verbunden mit regelmäßiger,10 zusammenfas­ sender Berichterstattung11 über die sozialen Bewegungen12 und die Fortschritte der sozialpolitischen Gesetzgebung13 der wichtigsten Kulturländer;14 3) durch eingehende Besprechung aller bedeutenden Neuerscheinungen und ebenfalls regelmäßige, zusammenfassende, littera­ turkritische Berichterstattung über die einzelnen Gebiete der inund ausländischen Fachlitteratur und der Litteratur der Nachbardisciplinen.15 Das Archiv soll auch in Zukunft nicht ein Sammelpunkt für Abhandlungen aus allen, zum Teil recht heterogenen, Gebieten der „Volkswirtschaftslehre“ werden;16 es will vielmehr, indem es sich auf die Behandlung der sozialen Probleme17 – allerdings im weitesten Sinn des Wortes – beschränkt, versuchen, für dies Gebiet etwas Abgeschlossenes und Eigenes zu bieten.

9  Vgl. ebd., oben, S.  110, Zeilen  8–9: „in das Gebiet der ‚Sozialpolitik‘ direkt eingreifenden Gesetze und Verordnungen des In- und Auslands“. 10  Vgl. ebd., Zeile  9: „regelmäßig“. 11 Vgl. ebd., oben, S.  111, Zeile  6: „Berichterstattung“. Vgl. auch den Kommentar zum Brief von Max Weber an Edgar Jaffé vom 18. Sept. 1903, MWG II/4, S.  150 f., hier S.  150. 12  In Sombart, Ideale (wie oben, S.  106, Anm.  9), und in Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.  14, Anm.  94), ist häufig und in verschiedener Konnotation von „Bewegungen“ die Rede, aber nicht explizit von „sozialen Bewegungen“. Vgl. aber Sombart, Werner, Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert. Nebst einem Anhang: Chronik der sozialen Bewegung von 1750 bis 1896. – Jena: Gustav Fischer 1896. 13  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  107, Zeile  7: „der sozialpolitischen Gesetzgebung“. 14 Vgl. ebd., oben, S.  110, Zeile  19: „Haupt-Culturländer“, S.  107, Zeile  8: „in allen Kulturländern“, und S.  110, Zeile  5: „in allen Culturländern“. Vgl. auch Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.  14, Anm.  94), S.  232, 490, 548, 573, 587, und Weber, Objektivität, unten, S.  165. 15  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  110, Zeile  2: „der benachbarten Disciplinen“. 16  Vgl. sinngemäß mit Beispielen ebd., oben, S.  108. 17  Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  2, und Sombart, Ideale (wie oben, S.  106, Anm.  9), S.  17 f., spricht von „socialen“ bzw. „sozialen Problemen“.

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Ergiebt sich die Notwendigkeit einer derartigen Selbstbeschränkung18 aus zwingenden Gründen der Arbeitsteilung,19 so muß eben deshalb das Archiv es andrerseits als seine Aufgabe betrachten, den Gefahren, die diese, wie jede, Spezialisierung20 mit sich bringt, entgegenzuwirken durch eine entschiedenere Betonung des Zusam­ menhanges unseres gesamten Wissens. Hierzu wird einerseits eine Vertiefung21 in der Art der Behandlung unserer Probleme nach der Seite ihrer prinzipiellen philosophischen und methodologischen Grundlagen hin unentbehrlich sein, soll anders unsere Arbeit nicht schließlich in ein Aufspeichern ungeordneten Materials und unzusammenhängender Einzelgedanken ausmünden.22 Diesem Zweck wird die verstärkte Behandlung prinzipieller und methodischer Fra­ gen in unseren Aufsätzen dienen. Andererseits werden wir genötigt sein, den Zusammenhang mit den Nachbargebieten unserer Disciplin durch kritische Auseinandersetzung mit ihren für uns wichtigen Ergebnissen zu wahren. Dieser Aufgabe wird die Ausgestaltung unserer Litteraturberichte und Kritiken dienen, in denen wir nicht | nur das gesamte Gebiet der Sozialwissenschaften, sondern auch deren Grenzgebiete23 sowohl nach der theoretischen Seite hin (Allgemeine Wissenschaftslehre24 und Erkenntniskritik,25 Rechts-

18  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  108, Zeilen  4–5: „eine wohlerwogene Selbstbeschränkung“. 19  Vgl. ebd., Zeilen  2–3: „aus zwingenden Gründen wissensch[aftlicher] Arbeitsteilung“. 20 Von „Specialisirung“ in der Wissenschaft ist die Rede in Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  1. 21 Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  107, Zeile  10, und S.  109, Zeile  4: „Vertiefung“. 22  Vgl. Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  3. 23 Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  109, Zeilen  5–6: „die philosophischen Grenzgebiete der Sozialwissenschaften“. 24  Rickert, Grenzen, S.  15, 31, betreibt Philosophie bzw. Logik als „Wissenschaftslehre“. Diese Bezeichnung gebraucht er häufig. 25  Im Neukantianismus wird „Erkenntnistheorie“ im Kantschen Sinne als „Kritik“ betrieben. Vgl. Windelband, Wilhelm, Was ist Philosophie? (Über Begriff und Geschichte der Philosophie), in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie. – Freiburg i. B. und Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1884, S.  1–53 (hinfort: Windelband, Philosophie), hier S.  24 ff. Vgl. in diesem Sinne auch Rickert, Gegenstand (wie oben, S.  6, Anm.  35).

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philosophie, allgemeine Staatslehre,26 Sozialpsychologie,27 Sozialanthropologie28 und soziale Ethik)29 wie nach der praktischen (soziale Hygiene u. a.)30 derart mitbehandeln werden, daß unseren Lesern eine fortlaufende Orientierung über die für uns wichtigen Fortschritte auf diesen Gebieten ermöglicht wird. Wir hoffen, so unsere Zeitschrift im wahren Sinne des Wortes zu einem „Archiv“ für das Gebiet der sozialen Probleme auszugestalten, in welchem der Fachgelehrte ebenso wie der Praktiker und der Studierende alles vereinigt findet, was in den Bereich dieser Aufgabe fällt. Zu den bisherigen hervorragenden Mitarbeitern, welche das Archiv, ohne Rücksicht auf politische Stellung, in allen Kreisen, die sich mit diesen Problemen beschäftigen, gefunden hat, werden eine größere Zahl von Fachmännern des In- und Auslandes31 neu hinzutreten, die zum Teil bereits die Behandlung ganzer Teilgebiete dauernd fest übernommen haben. An Stelle der bisherigen zwanglosen Reihenfolge der Hefte beabsichtigen wir zunächst alle 3 Monate, späterhin entsprechend der Vermehrung des Inhaltes eventuell alle 2 Monate ein Doppelheft im gewohnten Umfange von ca. 14 Druckbogen zur Ausgabe zu bringen; drei Doppelhefte bilden einen Band. Der Preis des Bandes (16 Mark), dessen Umfang und Ausstattung bleiben unverändert.

26  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  109, Zeilen  6–8: „insbesondere der Rechtsphilosophie, der allgemeinen Soziallehre des Staats“. Vgl. auch ebd., Anm.  15. 27  Vgl. Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.  14, Anm.  94), S.  XXI, sowie Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  58, 78, und Weber, Objektivität, unten, S.  201. 28  Zu „Anthropologie“ und „Rasse“ vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  169 ff. Vgl. auch den Abschnitt „Biologische und anthropologische Grundlagen der Gesellschaft“ in Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  345 ff. 29  Damit setzt sich Sombart, Ideale (wie oben, S.  106, Anm.  9), eingehend auseinander. 30  Am 17. November 1903 teilte Jaffé seinem Verleger mit: „Professor Sommerfeld der bekannte Gewerbe-Hygieniker in Berlin hat sich bereit erklärt die Berichterstattung für soziale Medizin + Hygiene für das Archiv zu übernehmen.“ Vgl. den Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 17. Nov. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 146. 31  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  110, Zeilen 9 und 11.

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Alle für die Redaktion bestimmten Manuskripte und sonstigen Sendungen bitten wir nach Heidelberg zu Händen von Dr. Edgar Jaffé zu adressieren, Recensionsexemplare dagegen an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Leipzig, Querstraße 21 zu dirigieren.32 5

Breslau und Heidelberg, im Oktober 1903. Werner Sombart – Max Weber – Edgar Jaffé.

32  Diese Formulierung findet sich in einem Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 27. Okt. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 146.

Geleitwort [zum „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“] [zusammen mit Edgar Jaffé und Werner Sombart]

Editorischer Bericht I.  Zur Entstehung Im April 1904 erschien das erste Heft des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ als erstes Heft von Band 19 (der Neuen Folge 1. Band) des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik“ im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) unter der Herausgeberschaft von Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber.1 Diesem Heft war außerhalb der regulären Seitenzählung ein „Geleitwort“ vorangestellt, das mit „Die Herausgeber“ unterzeichnet ist.2 Ein Manuskript zu diesem „Geleitwort“ ist nicht überliefert. Überliefert sind hingegen ein undatiertes, von Weber verfaßtes Manuskript ohne Titel3 sowie ein gedruckter, auf Oktober 1903 datierter, von Sombart, Weber und Jaffé unterzeichneter Werbetext für einen Prospekt.4 Beide Texte haben das angestrebte Profil des neuen „Archivs“ zum Thema. Wie formale und inhaltliche Übereinstimmungen mit dem „Geleitwort“ nahelegen, haben sie als Vorlagen für dessen Formulierung gedient. Im Briefwechsel zwischen Jaffé und Siebeck ist von dem oben genannten und einem weiteren Prospekt noch einige Male die Rede. Am 26. November 1903 kam Jaffé auf die Heftplanung zu sprechen: „Herr Professor Sombart wünscht im I. Heft des Archivs in seinem einleitenden Artikel eine Übersicht der zur Zeit bestehenden socialwissenschaftlichen Bibliographie zu geben“.5 Tatsächlich wurde in diesem Heft ein Beitrag Sombarts mit dem Titel „Der bibliographische und literatur-kritische Apparat der Sozialwissenschaften“

1  Zu den Einzelheiten dieser Übernahme vgl. Hübinger, Gangolf und Lepsius, M. Rainer, Einleitung, in: MWG II/4, S.  1–25, hier S.  3–7, sowie die Editorische Vorbemerkung zum Brief von Max Weber an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, in: MWG II/4, S.  68–70. 2  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, unten, S.  125–134. 3  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  102–111. 4  Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  112–119. 5  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 26. Nov. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 146.

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publiziert.6 Dieser Beitrag erschien allerdings nicht als einleitender Artikel, sondern in der Rubrik „Literatur-Übersichten“. Am 12. Dezember 1903 kam Jaffé auf den einleitenden Artikel zurück: „Prof. Sombart bereitet für das erste Heft eine Einleitung vor in der er das Wirkungsfeld des Archivs gegenüber den anderen Zeitschriften abgrenzen will“.7 Sombarts „Einleitung“ war ebenfalls Thema der Korrespondenz zwischen Jaffé und Weber. Weber, der sich seit September 1903 auch mit der Einwerbung von Beiträgen, der Klärung von Rechtsfragen und der Bestimmung von Layout und Papier in die Arbeit am „Archiv“ eingebracht hatte,8 schrieb Jaffé am 6. Januar 1904: „Die Frage der ‚Tendenz‘ des Archivs sollte m. E. aus den einleitenden Worten fortblei­ ben. Es läßt sich kurz etwas Adäquates darüber nicht sagen u. mein ganzer langer Artikel handelt ja davon.“9 Hiermit ist der wenig später so betitelte „Objektivitäts“-Aufsatz gemeint.10 In Jaffés Brief an den Verlag vom 1. Februar 1904 fällt nun erstmals der Name „Geleitwort“: „als ‚Geschäftspapiere‘ sende ich Ihnen heute eingeschrieben folgende weitere Manuscripte: Eberstadt (Schluss seiner Abhandlung), ferner Sombart, Tönnies und das ‚Geleitwort‘. Es steht dann nur ein kurzer Artikel von Sombart aus und ein langer von Prof. Weber, letzteren möchte ich, wenn es Ihnen recht ist, direct an Lippert schicken, um Zeit zu sparen.“11 R. Wille, ein Verlagsmitarbeiter, bestätigte am 2. Februar 1904 den Empfang „der Manuscripte Eberstadt (Schluss), Sombart, Tönnies, Geleitwort“, die er „an Lippert & Co. weitergeleitet“ habe.12 Am 9. Februar 1904 6  Sombart, Werner, Der bibliographische und literatur-kritische Apparat der Sozialwissenschaften, in: AfSSp, Band 19, Heft 1,1904, S.  224–250 (hinfort: Sombart, Apparat). 7  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 12. Dez. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 146. 8  Vgl. Briefe von Max Weber an Edgar Jaffé vom 18. Sept., 12. Okt., 1. und 15. Dez. 1903, MWG II/4, S.  150 f., 167, 188 f.; an Lujo Brentano vom 4. und 10. Okt.  1903, ebd., S.  157–159, 162–164; an Ignaz Jastrow vom 4. und 10. Okt. 1903, ebd., S.  160 f., 165 f.; an Paul Siebeck vom 21. Okt. 1903, ebd., S.  179 f.; und an Stephan Bauer vom 9. Nov. 1903, ebd., S.  183. Vgl. auch Briefe von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 15., 20. Okt., 8. Nov., 1., 12. und 23. Dez. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 146; Briefe von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 19. und 24. Dez. 1903, ebd.; sowie Briefe von Paul Siebeck an Max Weber vom 23. Okt. und 3. Nov. 1903, ebd. 9  Brief von Max Weber an Edgar Jaffé vom 6. Jan. 1904, MWG II/4, S.  195. 10  Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  142 und 159, mit Bezug auf „Tendenz“. Die Mitteilung des Titels „Zur Objectivität der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis“ erfolgte am 8. Februar 1904 durch Jaffé an den Verlag, vgl. dazu den Editorischen Bericht zu Weber, Objektivität, unten, S.  136 mit Anm.  13. 11  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 1. Febr.1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K.  183. Mit Lippert ist die G. Plätz’sche Buchdruckerei Lippert & Co. in Naumburg gemeint. 12  Brief von R. Wille an Edgar Jaffé vom 2. Febr. 1904, ebd.

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sandte Jaffé „das letzte M. S. an Lippert“, nämlich: „Sombart: ‚Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozialwissenschaften.‘“13 Am 12. Februar 1904 informierte er über die Reihenfolge der Texte: „1. Geleitwort, 2. Weber, 3. Sombart (Systematik der Wirtschaftskrisen), 4. Tönnies, 5. Bernstein, 6. Bonn (jedoch nur bis Seite 33), 7. Eberstadt, 8. Sombart (Der bibliographische Apparat), 9. Brentano“.14 Offenbar war inzwischen aus der von Jaffé so genannten „Einleitung“ Sombarts das „Geleitwort“ der Herausgeber geworden. Einem Schreiben Jaffés vom 19. Februar 1904 ist dann zu entnehmen, daß er das „Imprimatur“ für das „Geleitwort“ erteilt und die Druckerei instruiert habe, es „mit separater, römischer Paginirung auf einen Extra halben Bogen als Versuch zu drucken“.15 Ferner sei die Reihenfolge der Artikel geändert worden, derart, daß „der Artikel von Sombart an die erste Stelle hinter das Geleitwort tritt und Weber darauf folgt“.16 Dafür gebe es „innere Gründe“, die sehr wahrscheinlich mit einem Streit zwischen Sombart und Weber um den ersten Platz nach dem „Geleitwort“ zu tun haben.17 Am 20. Februar 1904 teilte Jaffé die definitive Reihenfolge der Artikel des ersten Hefts mit: „1) Geleitwort 2) Sombart – Wirtschaftskrisen 3) Weber[,] Rest unverändert[,] Weber + Sombart haben also die Plätze gewechselt.“18 Am 22. Februar 1904 übersandte Jaffé „die druckfertige Revision des Geleitworts“.19 Am 23. Februar 1904 schrieb er dem Verlag: „Ferner möchte ich sehr gern in dem Ihnen gestern gesandten Text des Geleitwortes auf Seite 5 einen Satz streichen; falls dies noch möglich ist, bitte ich Sie die Streichung entsprechend der beiliegenden Vorlage zu bewirken.“20 Diese Vorlage ist nicht überliefert. Um welchen „Satz“ es sich handelt, wissen wir nicht. Jedenfalls betraf Jaffés Bitte offensichtlich nicht den Schlußsatz des „Geleitworts“, der durch den Tausch der Beiträge von Weber und Sombart eigentlich obso-

13  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 9. Febr. 1904, ebd. 14  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 12. Febr. 1904, ebd. 15  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 19. Febr. 1904, ebd.; dort heißt es weiterhin: „Dies ist getan worden, weil das erste Heft sowieso schon den vorgeschriebenen Umfang überschreitet und so wenigstens diese 7 Seiten gewonnen werden. Die aus diesem Verfahren erwachsenen Extrakosten bin ich bereit zu tragen.“ 16  Ebd. Vgl. auch die beiden Briefe von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 20. Febr. 1904, ebd. 17  Vgl. den Editorischen Bericht zu Weber, Objektivität, unten, S.  137 ff. 18  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 20. Febr. 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183. 19  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 22. Febr. 1904, ebd. 20  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 23. Febr. 1904, ebd. Jaffé fügte auch noch hinzu: „Separatabzüge des Geleitworts sind nicht in Auftrag gegeben und sind auch nicht erforderlich.“

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let geworden war. Denn dieser findet sich auf S. VII und blieb auch trotz des Tausches zwischen Weber und Sombart unverändert stehen.21 Anfang April 1904 wurde das erste Heft von Band 19 des „Archivs“ ausgeliefert, dessen „Umfang“ Weber nicht zuletzt wegen der Länge seines eigenen Beitrags problematisierte, wobei er jedoch „das Papier vortrefflich und sehr schön“ fand.22 Hinsichtlich der Urheberschaft des „Geleitworts“ sind von Jaffé keine Aussagen überliefert. Zwar sprach Weber von „meinem Einführungsartikel“; aber damit ist seine Abhandlung „Objektivität sozialwiss[enschaftlicher] Erkenntnis“ gemeint.23 Webers Wortwahl ist dennoch aufschlußreich. Erstens hatte Braun 1888 zum ersten Heft seines „Archiv[s] für soziale Gesetzgebung und Statistik“ einen Beitrag des Herausgebers mit dem Titel „Zur Einführung“ formuliert.24 Zweitens reklamierte Sombart für das „Geleitwort“ just dieselbe Bezeichnung, als er Jahre später gegenüber Brauns Witwe Julie Braun-Vogel­ stein feststellte: „Was mein Urteil über die Gründung des ‚Archivs‘ und die Herausgebertätigkeit H[einrich] Br[auns] anbelangt, so finden Sie es niedergelegt in dem Einführungsaufsatze, mit dem ich die ‚Neue Folge‘ eingeleitet habe (Band XIX der ganzen Reihe). Der Aufsatz ist von mir verfaßt und von Max Weber nur in unwesentlichen Punkten ergänzt.“25 Damit ist offensichtlich das „Geleitwort“ gemeint. Tatsächlich weist allein schon der Titel „Geleitwort“ auf eine Federführung durch Sombart hin, denn mit einem „Geleitwort“ hatte er bereits 1902 seine zweibändige Studie „Der moderne Kapitalismus“ eröffnet.26 Hinzu kommt, daß entgegen Webers Wunsch, die „Frage der ‚Tendenz‘ des Archivs“27 im „Geleitwort“ wegzulassen, diese dennoch auftaucht, wenn auch in subtiler Weise. Einerseits referiert der dreimal fallende Begriff „Tendenz“ auf das Braunsche „Archiv“; andererseits sollen die „Überzeugungen“ oder „Einsichten“, aus denen sich diese „Tendenz“ ergibt, „auch den neuen Herausgebern des ‚Archivs‘“ als „Grundanschauungen“ „gemeinsam“ sein.28 Sombarts Behauptung, daß Weber den Aufsatz „nur in unwesentlichen Punkten ergänzt“ habe, trifft allerdings ebensowenig zu wie Marianne Webers 21  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, unten, S.  134. 22  Brief von Max Weber an Paul Siebeck vom 12. April 1904, MWG II/4, S.  212 f., hier S.  212, Fn.  1. 23  Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 5. April 1905, ebd., S.  449–453, hier S.  450. 24  Vgl. Braun, Heinrich, Zur Einführung, in: Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik, Band 1, 1888, S.  1–6 (hinfort: Braun, Einführung). 25  Brief von Werner Sombart an Julie Braun-Vogelstein vom 5. April 1927, Leo Baeck Institute, New York, Julie Braun-Vogelstein Collection, Part 1, Box 2, Folder 17. 26 Vgl. Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.  14, Anm.  94), S.  IX–XXXIV („Geleitwort“). 27  Karte von Max Weber an Edgar Jaffé vom 6. Jan.1904, MWG II/4, S.  195. 28  [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, unten, S.  128 f.

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Behauptung, das Geleitwort sei von Weber entworfen worden.29 Dabei zitierte Marianne Weber wörtlich einen Satz aus dem Geleitwort, der die „allgemeine Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung“ und die enge Zusammenarbeit mit den Nachbardisziplinen betrifft.30 Tatsächlich enthält das Geleitwort Begriffe und Formulierungen, die sich sowohl Sombart als auch Weber zurechnen lassen. Zwischen beiden gab es auch ein hohes Maß an gemeinsamen Überzeugungen, ohne die eine gemeinsame Herausgeberschaft des „Archivs“ kaum möglich gewesen wäre.31

II.  Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter dem Titel „Geleitwort“ im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, hg. von Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé, Band 19, Heft 1, 1904, S.  I*–VII*, im April 1904 erschienen ist (A). Der Text ist mit „Die Herausgeber“ unterzeichnet und somit von Max Weber autorisiert. Die Seitenzählung wird – unter Weglassung der Asterisken – als A I etc. wiedergegeben. Ein Wiederabdruck des Textes erfolgte in einem Prospekt des Verlages J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Auf dem Titelblatt steht „Geleitwort“ mit der Fußzeile „1906. Nr.  121“. Der Text des „Geleitworts“ ist neu gesetzt, wovon eine Komprimierung auf sechs Seiten, Kursivierungen und typographische Abweichungen (z. B. „ss“ statt „ß“) zeugen. Im letzten Satz wurde an den Passus „Und indem wir die neue Folge des ‚Archivs‘ mit einem Aufsatz eines der Herausgeber eröffnen, der in ausführlicher Weise diese Probleme behandelt“, die Anmerkung: „Max Weber, Die ‚Objectivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, (Band XIX).“ hinzugefügt. Dieser Wiederabdruck bleibt hier unberücksichtigt. Dem Text des „Geleitworts“ folgt dort eine halbseitige redaktionelle Notiz, die Inhaltsangaben der seither erschienenen Bände des „Archivs“ sowie einen Ausblick auf das nächste Heft enthält.

29  Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S.  290. Möglicherweise führte Marianne Weber das „Geleitwort“ unmittelbar auf das Manuskript zurück, das ihr Weber diktiert hatte. Vgl. Editorischer Bericht zu Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  102, 104. 30  [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, unten, S.  130. 31  Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  142, Fn.  1.

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Als das „Archiv“ vor nunmehr einem halben Menschenalter ins Leben trat,1 übte es, besonders auf uns Jüngere,2 eine außerordentliche Anziehungskraft aus. Daß diese Empfindung tatsächlich in weiten Kreisen geteilt wurde, zeigte der Erfolg des „Archivs“, das sich – obwohl von einem „Außenseiter“3 herausgegeben und neben alte und bewährte Zeitschriften unseres Faches tretend,4 – doch binnen kurzem eine angesehene wissenschaftliche Stellung und einen immerhin beachtenswerten Einfluß auf das praktische sozialpolitische Streben zu erobern vermochte. Wie kam das? Wenn wir diese Frage mit dem Hinweis auf das Herausgebertalent des Begründers der Zeitschrift beantworten wollten, so wäre damit eine befriedigende Erklärung noch nicht gegeben. Denn so zweifellos dieses Talent war,5 so konnte es sich doch nur darin äußern, daß es die Eigenart des „Archivs“ bestimmte. Und es drängt sich uns die andere Frage auf: worin diese Eigenart bestand? Will man ihr gerecht werden, so wird man vor allem feststellen müssen, daß es in gewisser Hinsicht einen neuen Typus in der sozi1  Vgl. Braun, Heinrich, Abschiedswort, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Band 18, 1903, S.  V f. (hinfort: Braun, Abschiedswort), hier S.  V: „Als ich vor mehr als einem halben Menschenalter das Archiv ins Leben rief […]“. Das erste Heft war 1888 publiziert worden. 2  Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  3, hatte 1897 das „Archiv“ als Organ „der ‚jüngeren‘ Socialpolitiker bürgerlicher wie proletarischer Observanz“ charakterisiert; es dürfe sich „mit Stolz als der Sammelpunkt der ‚Jungen‘ bezeichnen und erscheint damit auf der Höhe der Zeit. Wer in seinen Spalten den Ton angibt, sind die Leute mit der Devise: ‚Ja, also!‘, die damit entschieden einen Schritt über die ältere Generation der ‚kathedersocialistischen‘ Socialpolitiker, die Männer des ‚Ja, aber!‘, hinausgethan haben.“ 3  Nachdem seine Versuche, sich zunächst in Halle, dann in Jena zu habilitieren, aus religiösen und politischen Gründen gescheitert waren, verzichtete Heinrich Braun auf eine wissenschaftliche Laufbahn. Das „Archiv“ gab er ohne universitäre Anbindung heraus. Zu Brauns Leben und Werk vgl. Braun-Vogelstein, Julie, Ein Menschenleben. Heinrich Braun und sein Schicksal. – Tübingen: Rainer Wunderlich 1932; Braun-Vogelstein, Julie, Heinrich Braun. Ein Leben für den Sozialismus. – Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1967. 4  1888 wurden der 50. und 51.  Band (N. F. Band 16 und 17) der „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“ und der 12.  Band von Gustav Schmollers „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“ publiziert. 5  Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  2, schildert Braun als „Redactionsgenie“.

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alwissenschaftlichen Zeitschriftenliteratur geschaffen hat oder zu schaffen wenigstens beabsichtigte. Das „Archiv“ wurde als eine „Spezialzeitschrift“6 gegründet: Die „Spezialität“, die es pflegen sollte, war die „Arbeiterfrage“7 im weitesten Verstande. Die „Arbeiterfrage“ hatten nun auch vorher schon zahlreiche Zeitschriften in Deutschland und im Auslande gepflegt, aber der Schritt, den das „Archiv“ über seine Vorgänger hinaustat, war der, daß es die mit dem Namen der „Arbeiterfrage“ bezeichneten Probleme in einen allgemeinsten Zusammenhang stellte, daß es die „Arbeiterfrage“ in ihrer Kulturbedeutung8 erfaßte, als den | äußerlich am deutlichsten wahrnehmbaren Ausdruck eines viel größeren Erscheinungskomplexes:9 des grundstürzenden Umgestaltungsprozesses, den unser Wirtschaftsleben und damit unser Kulturdasein10 überhaupt durch das Vordringen des Kapitalismus erlebten. Den aus dieser weltgeschichtlichen Tatsache sich ergebenden praktischen Problemen die Dienste der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, sollte die Aufgabe der neuen Zeitschrift bilden. Damit aber war im wesentlichen die Eigenart des „Archivs“ bestimmt. Die neue Zeitschrift wurde eine „Spezialzeitschrift“ nicht dem Stoffe nach (wie etwa das „Finanzarchiv“),11 sondern dem Gesichts-

6  Für Braun, Einführung (wie oben, S.  123, Anm.  24), S.  2, folgt das Braunsche „Archiv“ dem „Prinzip der Spezialisierung, das wie es auf jedem anderen Felde sich bewährt, auch auf dem Gebiet der staatswissenschaftlichen Zeitschriften-Litteratur seine Berechtigung besitzt“. Vgl. auch Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  1. Weber spricht in seinem „Entwurf“ von „zwingenden Gründen wissensch[aftlicher] Arbeitsteilung“. Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  108, Zeilen 2–3, sowie Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  117, Zeile  2. 7  Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  2, spricht im Kontext der „socialen Frage“ von der „Lohnarbeiterfrage“ als dem „Specialarbeitsfeld“ des „Archivs“. 8  Dieser Begriff findet sich in Windelband, Philosophie (wie oben, S.  117, Anm.  25), S.  19, Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  45 f., 55, und häufig in Weber, Objektivität, unten, S.  152, 162, 164, 166, 169, 181 ff., 189, 191, 201, 205 ff. 213, 219, 233. 9 Dieser Begriff findet sich in: Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.  14, Anm.  94), S.  XXV, XXXIII und 135. 10  Dieser Begriff findet sich in Sombart, Ideale (wie oben, S.  106, Anm.  9), S.  37. 11  Das seit 1884 erscheinende „Finanz-Archiv“ war als „Zeitschrift für das Gesamte Finanzwesen“ eine „ausschliesslich dem Finanzwesen gewidmete Zeitschrift“. Vgl. Schanz, Georg, Vorwort des Herausgebers, in: Finanz-Archiv, Jg. 1, 1884, S.  III–VI, hier S.  III.

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punkte nach. Als ihr Arbeitsgebiet ergab sich die Behandlung aller Phänomene des wirtschaftlichen und gesamt-gesellschaftlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt der Revolutionierung durch den Kapitalismus, wobei naturgemäß die Wirkungen der sich vollziehenden Neugestaltungen auf die Lage der arbeitenden Klassen und die Rückwirkungen, die von diesen selbst oder von der Gesetzgebung ausgingen, in erster Linie Berücksichtigung finden mußten. Wenn die neue Zeitschrift das vieldeutige und oft mißbrauchte Wort „sozial“ im Wappen führte, so geschah dies angesichts der eigenartigen Problemstellung ganz zu recht, vorausgesetzt, daß man das Wort „sozial“ in dem scharf umgrenzten Sinne gebraucht, der allein die Gewähr der Eindeutigkeit und Präzision enthält. In diesem Sinne bedeutet auch dies Wort nicht sowohl die Abgrenzung eines bestimmten Kreises von Phänomenen, als vielmehr den Gesichtspunkt, unter dem die Erscheinungen des wirtschaftlichen, wie die des übrigen gesellschaftlichen Lebens betrachtet werden: das ist die Ausrichtung aller ökonomischen Einzelphänomene auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem, also ihre Betrachtung unter dem Gesichtspunkte der historischen Bedingtheit; das ist die Aufdeckung der ursächlichen Zusammenhänge zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und allen übrigen gesellschaftlichen Erscheinungen: beides unter bewußter Beschränkung auf die Gegenwart, das heißt die durch das Vordringen des Kapitalismus gekennzeichnete Geschichtsepoche. Die eigenartige Problemstellung des „Archivs“ brachte andere Eigenarten von selbst mit sich. Offenbar mußte die Zeitschrift, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen wollte, ohne alle Rücksicht auf nationale Schranken den Kapitalismus überall dort aufsuchen, wo er sich fand. Von Anfang an wurden deshalb sämtliche Länder | mit kapitalistischer Entwicklung in die Beobachtung einbezogen. Diese systematische Ausdehnung auf ein räumlich möglichst weites Gebiet verlieh dem „Archiv“, in stärkerem Maße als anderen Organen dieses Faches, einen „internationalen“ Charakter. Die sachliche Internationalität wurde aus praktischen Gründen von selbst zu einer persönlichen Internationalität.12 Der Mitarbeiter12  Der Untertitel des Braunschen „Archivs“ lautete „Vierteljahresschrift“ bzw. ab 1897 „Zeitschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder“. Der Untertitel wurde ergänzt durch: „In Verbindung mit einer Reihe namhafter Fachmänner des

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kreis umfaßte von den ersten Heften an die gesamte Kulturwelt, teilweise sogar unter auffälliger Bevorzugung des Auslandes. Weil aber der wissenschaftliche Charakter der Zeitschrift von vornherein betont wurde13 (mag sein, daß daneben die Person des Begründers von starkem Einfluß war), so rekrutierten sich die Mitarbeiter von Anfang an nicht nur aus aller Herren Länder, sondern auch aus aller Parteien Lager. Das „Archiv“ war nicht nur international, sondern auch die erste wirklich „interfraktionelle“14 Zeitschrift unseres Faches. – Das „Archiv“ hatte nun als eines seiner vornehmsten Arbeitsgebiete von Anfang an, neben der rein wissenschaftlichen Erkenntnis der Tatsachen, sich die kritische Verfolgung des Ganges der Gesetzgebung zur Aufgabe gemacht.15 In diese praktisch-kritische Arbeit aber spielen unvermeidlich Werturteile16 hinein, es wird neben der Sozialwissenschaft wenigstens dem Ergebnis nach auch Sozialpoli­ tik getrieben, und es entsteht die Frage: Hatte das „Archiv“ bei dieser „praktischen“ Kritik auch eine bestimmte „Tendenz“,17 d. h. vertraten die maßgebenden Mitarbeiter einen bestimmten „sozialpolitischen“ Standpunkt? vereinigte sie, abgesehen von ihren gemein­ samen wissenschaftlichen Interessen, auch ein gewisses Maß übereinstimmender Ideale oder doch grundsätzlicher Gesichtspunkte, aus denen praktische Maximen ableitbar waren? In- und Auslandes“. Vgl. auch Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  2: „Die Internationalität der ‚socialen Frage‘ hat keine andere Zeitschrift so glücklich zum Ausdruck gebracht, wie das ‚Archiv‘“. 13 Braun, Einführung (wie oben, S.  123, Anm.  24), S.  5, wollte „unabhängiger Forschung“ einen Ort geben, „die voraussetzungslos an ihr Objekt herantritt und nur einen einzigen Zweck verfolgt: die wissenschaftliche Wahrheit“. In Braun, Abschiedswort (wie oben, S.  125, Anm.  2), S.  V f., wiederholte er, daß es ihm darum ging, „eine streng wissenschaftliche Haltung gleichermaßen gegen die Einflüsse der Regierungen, der politischen Parteien und akademischen Richtungen zu sichern.“ Dem entspricht die Haltung der neuen Herausgeber, sich jeder Schul- und Parteimeinung zu enthalten. So auch formuliert in Webers „Entwurf“ sowie in Sombarts, Webers und Jaffés „Prospekt“. Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  105, Zeile 14, S.  106, Zeilen 1–3, und Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  115, Zeilen 17–18. 14  Die Formulierung „interfraktionell“ findet sich in Sombart, Werner, Dennoch! Aus Theorie und Geschichte der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung. – Jena: Gustav Fischer 1900, S.  114. 15  Die Rubrik „Gesetzgebung“ nahm in den 18 Bänden unter Brauns Herausgeberschaft etwas mehr als ein Fünftel des Umfangs ein. 16  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  106 mit Anm.  8. 17  Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  2.

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Das war in der Tat der Fall, und in gewissem Sinn beruhte gerade auf diesem einheitlichen Charakter der Erfolg der Zeitschrift.18 Deshalb nämlich, weil diese praktische „Tendenz“ in den entscheidenden Punkten nichts anderes als das Resultat bestimmter Ein­ sichten in die historische sozialpolitische Situation war, mit der gerechnet werden mußte. Sie war, mit anderen Worten, begründet in gemeinsamen theoretischen Anschauungen über die tatsächlichen Voraussetzungen, von denen bei jedem Versuch praktischer sozialpolitischer Arbeit, bei der nun einmal unabänderlich gegebenen historischen Lage, ausgegangen werden müsse. Sie beruhte also auf Überzeugungen, die von persönlichen Wünschen ganz und gar unabhängig waren. Diese Einsichten, aus denen | sich die „Tendenz“ der Zeitschrift ergab, betrafen vornehmlich folgende Punkte: 1. daß der Kapitalismus ein nicht mehr aus der Welt zu schaffendes, also schlechthin hinzunehmendes Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung sei, hinter das zurück, zu den patriarchalen Grundlagen der alten Gesellschaft, heute kein Weg mehr führt. 2. daß daher die alten Formen der gesellschaftlichen Ordnungen, die jenen patriarchalen Grundlagen entsprochen hatten, ob wir es nun wünschen oder nicht, neuen Platz machen werden, die den veränderten Bedingungen des Wirtschaftslebens sich anzupassen vermögen. Daraus ergab sich insbesondere, daß die Eingliederung des Proletariats, nachdem dies als Klasse durch den Kapitalismus einmal geschaffen und zum Bewußtsein seiner historischen Eigenart gelangt war, in die Kulturgemeinschaft der modernen Staaten als neues selbständiges Element, ein unabweisliches Problem aller staatlichen Politik geworden sei; 3. daß die gesellschaftliche Neugestaltung, soweit sie die Form gesetzgeberischer Eingriffe annehmen will, nur das Ergebnis einer schrittweisen, „organischen“ Umbildung historisch überkommener Zustände und Einrichtungen sein könne, bei der die Mithilfe der wissenschaftlichen Erkenntnis der historisch gegebenen Lage nicht zu entbehren sei. Diese Grundanschauungen sind auch den neuen Herausgebern des „Archivs“ gemeinsam. Wenn dies hier ausdrücklich ausgesprochen wird, so bedeutet das natürlich nicht etwa, daß diese Ansichten in den Spalten unserer Zeitschrift außerhalb oder oberhalb der 18  Vgl. ebd., S.  2 f.

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Kritik stehen werden. Sondern es besagt lediglich, daß wir bei der praktischen Kritik, welche in der Zeitschrift neben der wissenschaftlichen Arbeit zur Aussprache gelangt, durch jene Einsichten geleitet sind, und daß wir uns mit den bisherigen Mitarbeitern des „Archivs“ darin einig wissen. Soweit im „Archiv“ überhaupt Sozialpolitik getrieben wird, wird dies auch künftig „Realpolitik“19 auf dem Boden des nun einmal unabänderlich Gegebenen sein. Die neuen Herausgeber sind nun aber der Überzeugung, daß die heutige Lage, gegenüber der Art[,] wie das „Archiv“ in den ersten Jahren seines Bestehens seiner Aufgabe gerecht zu werden suchte, eine Änderung in doppelter Hinsicht erfordert, und beabsichtigen, dieser veränderten Situation bei der Gestaltung der Zeitschrift Rechnung zu tragen.20 | Zunächst muß heute das Arbeitsgebiet des „Archivs“, was bisher nur tastend und von Fall zu Fall geschah, grundsätzlich erweitert werden. Unsere Zeitschrift wird heute die historische und theoretische Erkenntnis21 der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung22 als dasjenige wissenschaftliche Problem ansehen müssen, in dessen Dienst sie steht. Und gerade weil 19  Der Begriff geht zurück auf Rochau, August Ludwig von, Grundsätze der Realpolitik angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands. – Stuttgart: Karl Göpel 1853. Realpolitik galt als Devise Otto von Bismarcks. 20  Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  3, hatte 1897 darauf hingewiesen, daß das Braunsche „Archiv“ nach „zwei Richtungen“ hin „einer Reform bedürftig“ sei: „Zunächst muß es dafür sorgen, noch mehr als bisher ‚Vollständigkeit‘ zu erreichen; wirklich ein ‚Archiv‘ für die ‚sociale Frage‘ zu werden, in der alles gesetzliche und thatsächliche Material zur Beurtheilung der socialen Probleme der Gegenwart sich aufgestapelt findet. Sodann müssen die Zielpunkte socialer Politik mit mehr Eifer als bisher auch theoretisch klar gestellt werden: die ‚principiellen‘ Erörterungen müssen mehr, als es geschehen ist, gepflegt werden.“ Auf die Behandlung „prinzi­ pieller“ Grundlagen und Fragen kommen auch Sombart, Weber und Jaffé in ihrem „Prospekt“ zu sprechen. Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  117, Zeilen 8–13. 21  Sombart will den „Gegensatz“ von „Empirie und Theorie“, der seit dem Methodenstreit in der Nationalökonomie diskutiert wurde, mit „historisch-theoretischen Betrachtungen“ überwinden. Vgl. Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.   14, Anm.  94), S. X,  XXIX, XXXII. Auch für Weber ist die „theoretische und historische Betrachtungsform noch immer durch eine scheinbar unüberbrückbare Kluft getrennt“; das Wort „Sozialwissenschaft“ soll „die geschichtliche und theoretische Beschäftigung mit den gleichen Problemen umfassen, deren praktische Lösung Gegenstand der ‚Sozialpolitik‘ im weitesten Sinne dieses Wortes ist“. Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  161 und 166. 22  Zum Begriff „Kulturbedeutung“ vgl. oben, S.  126 mit Anm.  8.

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sie selbst von einem durchaus spezifischen Gesichtspunkt ausgeht und ausgehen muß: dem der ökonomischen Bedingtheit der Kulturerscheinungen, kann sie nicht umhin, sich in engem Kontakt mit den Nachbardisziplinen[,] der allgemeinen Staatslehre, der Rechtsphilosophie, der Sozialethik, mit den sozial-psychologischen und den gewöhnlich unter dem Namen Soziologie zusammengefaßten Untersuchungen zu halten.23 Wir werden die wissenschaftliche Bewegung auf diesen Gebieten namentlich in unseren systematischen Literaturübersichten eingehend verfolgen. Wir werden besondere Aufmerksamkeit denjenigen Problemen zuwenden müssen, die gewöhnlich als sozialanthropologische bezeichnet werden, den Fragen also nach der Rückwirkung der ökonomischen Verhältnisse auf die Gestaltung der Rassenauslese einerseits,24 nach der Beeinflussung des ökonomischen Daseinskampfes und der ökonomischen Institutionen durch ererbte physische und psychische Qualitäten andererseits.25 Dazu, daß der dilettantische Charakter, den die Behandlung dieser Grenzfragen zwischen Biologie und Sozialwissenschaft bisher an sich trug,26 in Zukunft überwunden werde, möchten auch wir unseren Teil beitragen. Die zweite Änderung betrifft eine Verschiebung in der Form der Behandlung. Als das „Archiv“ begründet wurde, schwebte dem Herausgeber als wichtigste Aufgabe, die es zu erfüllen haben sollte, die Materialsammlung vor.27 Und dem lag zweifellos ein für jene Zeit durch-

23  Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  116 f. 24  Vgl. ebd., oben, S.  118 mit Anm.  28. 25  Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  163. 26  Von Dilettantismus sprechen Sombart und Weber. Vgl. Sombart, Ideale (wie oben, S.   106, Anm.   9), S.   24, und Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.   14, Anm.  94), S.  166, 380. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  77, und Weber, Objektivität, unten, S.  168 und 170 mit Bezug auf die „Rassenbiologie“. 27  Für Braun, Einführung (wie oben, S.  123, Anm.  24), S.  4, lassen die „teilweise rohe Gestalt“ des Datenmaterials, die „Verschiedenheit der methodischen Gesichtspunkte, nach denen eine Bearbeitung stattfand“, die „vielfach tendenziöse Färbung, die ihm beigemischt wurde“, sowie „der in den meisten Fällen augenblicklichen Verwaltungszwecken angepasste Charakter der Erhebungen“ eine „unter einheitlichen wissenschaftlichen Gesichtspunkten unternommene Bearbeitung dieses Materials ebenso wünschenswert erscheinen, wie die gleichzeitige Sammlung desselben in einem zentralen Organ, da die Zerstreutheit desselben über alle Länder und in zahllosen Publikationen eine Uebersicht fast zur Unmöglichkeit macht.“

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aus richtiger Gedanke zugrunde: es müsse ein Organ geschaffen werden, das die zerstreuten sozialstatistischen Daten, ebenso wie die sich immer mehr häufenden sozialen Gesetze sammelte und in übersichtlicher Anordnung veröffentlichte. Das war für Wissenschaft und Praxis damals das erste und dringendste Bedürfnis, denn ein derartiges Sammelorgan fehlte. Aber unsere Zeit schreitet rasch weiter. Seit der Begründung des „Archivs“ im Jahre 1888 sind fast ein Dutzend Zeitschriften ins Leben getreten, deren ausschließliche Funktion jene Materialsammlung ist. Vor allem haben die Regierungen fast aller Kulturländer amtliche Organe zur Veröffentlichung | sozialstatistischer Tatsachen geschaffen: England die Labour Gazette (seit 1893), Frankreich das Bulletin de l’office du Travail (seit 1894), Belgien die Revue du Travail (seit 1896), Österreich die Soziale Rundschau (seit 1900), Deutschland das Reichsarbeitsblatt (seit 1903). Daneben besitzen die meisten Länder private Sammlungen: Deutschland die Soziale Praxis (seit 1892),28 den Arbeitsmarkt (seit 1897), Frankreich die „Questions pratiques de legislation ouvrière“ (seit 1900) usw. Und für eine fast lückenlose Veröffentlichung des gesetzgeberischen Materials sorgen das Bulletin der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (seit 1902),29 das Annuaire de la Legislation du Travail (publié par l’Office du Travail de Belgique, seit 1897) und wiederum andere. Damit ist die Situation vollständig verändert. Auf der einen Seite entfällt das Bedürfnis, neben jenen mit reichen Mitteln ausgestatteten und vorzüglich arbeitenden Blättern, eine wissenschaftliche Zeitschrift wie das „Archiv“ in den Dienst der reinen Stoffsammlung zu stellen. Wir werden – was übrigens schon bisher in zunehmendem Maße geschehen ist – die sozialstatistischen Berichte einschränken und den wörtlichen Abdruck der Gesetzestexte, die bisher einen breiten Raum einnahmen, zugunsten eingehender kritischer Referate über Sinn und Bedeutung der Gesetze und ganz besonders der Gesetzes-Entwürfe, vielfach verkürzen können. Auf

28  Seit 1892 erschien ein „Sozialpolitisches Centralblatt“, das 1895 bei fortlaufender Zählung der Jahrgänge umbenannt wurde in „Soziale Praxis. Zentralblatt für Sozialpolitik. Organ des Verbandes Deutscher Gewerbegerichte“. 29  Die „Schriften der internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeitsschutz“ erschienen seit 1901.

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der anderen Seite ist eine wichtige Aufgabe neu erwachsen: den ins Grenzenlose anwachsenden und in den genannten Sammelorganen aufgespeicherten Stoff durch wissenschaftliche Synthese gleichsam zu beseelen.30 Dem Hunger nach sozialen Tatsachen, der noch vor einem halben Menschenalter die Besten erfüllte, ist, mit dem Wiedererwachen des philosophischen Interesses überhaupt, auch ein Hunger nach sozialen Theorien gefolgt, den nach Kräften zu befriedigen eine der künftigen Hauptaufgaben des „Archivs“ bilden wird. Wir werden sowohl die Erörterung sozialer Probleme unter philosophischen Gesichtspunkten im wesentlich verstärkten Maße zu berücksichtigen haben, wie die im engeren Sinn „Theorie“ genannte Form der Forschung auf unserem Spezialgebiet: die Bildung klarer Begriffe.31 Denn soweit wir von der Meinung entfernt sind, daß es gelte, den Reichtum des historischen Lebens in Formeln zu zwängen, so entschieden sind wir davon überzeugt, daß nur klare eindeutige Begriffe, einer Forschung, welche die spezifische Bedeutung sozialer Kulturerscheinungen ergründen will, die Wege ebnen. | Kein Organ aber würde heute die soziale Theorie in einer den Anforderungen strenger Wissenschaftlichkeit entsprechenden Weise pflegen können, das sich nicht durch erkenntniskritischmethodologische32 Erörterungen über das Verhältnis zwischen den theoretischen Begriffsgebilden und der Wirklichkeit auch grund­ sätzliche Klarheit schafft.33 Wir werden daher die wissenschaftliche Arbeit der Erkenntniskritik34 und Methodenlehre ständig verfol-

30  Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  117, Zeilen 5–6. 31  Zur Bildung „klarer Begriffe“ vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  181 und 206 f. 32  In Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  117, Zeilen 8, 20, wird die Befassung mit „Erkenntniskritik“ und „methodologischen“ Grundlagen und Fragen in Aussicht gestellt. 33  Das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit ist Kernthema in Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  37–101, und in Weber, Objektivität, unten, S.  135–234. 34 Zur Erkenntniskritik vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.   117 mit Anm.  25. Als Jaffé vom Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) ein Rezensionsexemplar von „Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, 2. Auflage“ erhielt, antwortete er: „Da wir in Zukunft besonders auch die Erkenntnistheorie berücksichtigen werden, so sind philosophische Schriften, wie die von Rickert von grösster Bedeutung für uns.“ Vgl. Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 20. Febr. 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck),

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gen. Und indem wir die Neue Folge des „Archivs“ mit einem Aufsatz eines der Herausgeber eröffnen, der in ausführlicher Weise diese Probleme behandelt,35 wollen wir unsere Absicht bekunden, uns an diesen prinzipiellen Erörterungen auch unsererseits dauernd zu beteiligen. Die Herausgeber. |

K. 183, und das vorangegangene Schreiben von R. Wille und R. Pflug an Edgar Jaffé vom 19. Febr. 1904, ebd. 35  Vgl. Weber, Objektivität, unten, S.  135–234. An dieser Stelle wurde im identischen Prospekt von 1906 die Referenz auf diesen Text eingefügt. Vgl. oben, S.  124.

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Editorischer Bericht I.  Zur Entstehung Max Webers Abhandlung „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“1 erschien im April 1904 im ersten Heft von Band 19 (der neuen Folge 1.  Band) des von Edgar Jaffé, Werner Sombart und ihm selbst herausgegebenen „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Die Entstehung von Webers Abhandlung hängt mit der Übernahme der Zeitschrift durch die neuen Herausgeber zusammen.2 Im Herbst 1903 und Winter 1903/04 waren drei kleinere Texte, die über das angestrebte Profil des neuen „Archivs“ informierten, entstanden: zwei Texte zu Werbezwecken3 und das an die Spitze des ersten Heftes gestellte „Geleitwort“.4 In allen drei Texten findet sich der Hinweis, daß in der Zeitschrift auch philosophische und methodologische Fragen erörtert werden sollten. Das „Geleitwort“ schloß sogar mit dieser Mitteilung, um die Brücke zu Webers Abhandlung zu schlagen, die unmittelbar folgen sollte: „Wir werden daher die wissenschaftliche Arbeit der Erkenntniskritik und Methodenlehre ständig verfolgen. Und indem wir die Neue Folge des ‚Archivs‘ mit einem Aufsatz eines der Herausgeber eröffnen, der in ausführlicher Weise diese Probleme behandelt, wollen wir unsere Absicht bekunden, uns an diesen prinzipiellen Erörterungen auch unsererseits dauernd zu beteiligen.“5 Das erste Heft der Neuen Folge des „Archivs“ wurde im Herbst 1903 konzipiert. Jaffé stand laut Verlagsvertrag die letzte Entscheidung über die inhalt-

1  Weber, Objektivität, unten, S.  142–234. 2  Zu den Einzelheiten dieser Übernahme vgl. Hübinger, Gangolf und Lepsius, M. Rainer, Einleitung, in: MWG II/4, S.  1–25, hier S.  3–7, sowie die Editorische Vorbemerkung zum Brief von Max Weber an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, in: MWG II/4, S.  68. 3  Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  102–111, und Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  112–119. 4  [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  120–134. 5  Ebd., oben, S.  134. Im Nachdruck des Geleitworts 1906 findet sich sogar der explizite Hinweis auf Weber, Objektivität, vgl. dazu den Editorischen Bericht zum Geleitwort, oben, S.  124.

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liche Zusammensetzung der Hefte zu,6 und er führte dementsprechend die Korrespondenz mit Verlag und Druckerei. Im Januar 1904 trafen die ersten Manuskripte ein. Am 6. Januar 1904 schrieb Weber mit Bezug auf das „Geleitwort“, für das Sombart federführend war, an Jaffé: „Die Frage der ‚Tendenz‘ des Archivs sollte m. E. aus den einleitenden Worten fortbleiben. Es läßt sich kurz etwas Adäquates darüber nicht sagen u. mein ganzer langer Artikel handelt ja davon.“7 Dies ist die erste Erwähnung des hier edierten Aufsatzes. Am 11. Januar 1904 teilte Jaffé Paul Siebeck mit: „bis Ende Januar sind alle Beiträge für das erste Heft sicher herein + ich hoffe, daß dasselbe am 15. März herauskommen wird“.8 Am 23. Januar 1904 schickte er „einige Manuscripte zur gefl. Weitergabe an die Druckerei“, weitere sollten „in den nächsten Tagen folgen“,9 was am 28. Januar 1904 geschah.10 Über Webers Abhandlung heißt es am 1. Februar 1904 in einem Schreiben Jaffés an Siebeck, daß Jaffé „weitere Manuscripte“ schicken werde und dann nur noch ein „kurzer Artikel von Sombart“ und ein „langer von Prof. Weber“ ausstünden, wobei er den „letzteren“ direkt an die Druckerei schicken wolle, „um Zeit zu sparen“.11 Auf Anfrage eines Verlagsmitarbeiters12 nannte Jaffé am 8. Februar 1904 erstmalig den Titel von Webers Beitrag: „Zur Objectivität der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis“ und gab an, daß er „ca. 3  1/2 Bogen erfordern“ werde.13 Am 12. Februar 1904 informierte Jaffé über „die endgültige Reihenfolge der Abhandlungen für das erste Heft“: „1. Geleitwort, 2. Weber, 3. Sombart (Systematik der Wirtschaftskrisen), 4. Tönnies, 5. Bernstein, 6. Bonn (jedoch nur bis Seite 33), 7. Eberstadt, 8. Sombart (Der bibliographische Apparat), 9. Brentano“ und berechnete den „Umfang des ersten Heftes“ auf „15 Bogen“.14 Am 19. Februar 1904 teilte Jaffé dem Verlag mit, die „Revision des Weber’schen Artikels erforderte so zahlreiche Aenderungen“, daß er die Druckerei mit einer „Superrevision“ beauftragt habe.15 Außerdem habe er die Druckerei darüber informiert, „daß aus inneren Gründen ev. eine Verschiebung in so fern eintre-

6  Vgl. Verlagsvertrag zwischen J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) und Edgar Jaffé über den Verlag des „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ vom 23. August 1903, MWG II/4, S.  617–620, hier S.  617 (§  2). 7  Karte von Max Weber an Edgar Jaffé vom 6. Jan. 1904, MWG II/4, S.  195. 8  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 11. Jan. 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183. 9  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 23. Jan. 1904, ebd. 10  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 28. Jan. 1904, ebd. 11  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 1. Febr.1904, ebd. Bei diesem kurzen Artikel von Sombart handelt es sich um Sombart, Apparat (wie oben, S.  121, Anm.  6). 12  Brief von R. Wille an Edgar Jaffé vom 2. Febr. 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183. 13  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 8. Febr. 1904, ebd. 14  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 12. Febr. 1904, ebd. 15  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 19. Febr. 1904, ebd.

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ten werde, dass der Artikel von Sombart an die erste Stelle hinter das Geleitwort tritt und Weber darauf fol[g]t“.16 Einen Tag später teilte er die „definitiv[e]“ Reihenfolge mit: „1) Geleitwort 2) Sombart – Wirtschaftskrisen 3) Weber[,] Rest unverändert[,] Weber + Sombart haben also die Plätze gewechselt.“17 Am 22. Februar 1904 übersandte Jaffé dem Verlag einen neuen, zusätzlich eingeworbenen Beitrag.18 Grund für diese Maßnahme waren offenbar von Siebeck beabsichtigte Reklamepläne, für die in Jaffés Augen das erste Heft „nicht so gut geeignet“ schien, „weil etwas viel theoretischer Stoff und nicht genug aus der Praxis der Gesetzgebung da war“; er habe sich daher bemüht, diesem „Uebelstande“ abzuhelfen und es sei ihm gelungen, „von dem Vorstand des internationalen Arbeitsamtes, Professor Bauer eine Abhandlung über das so aktuelle Thema der Einführung des Zehnstunden Tages zu erhalten“.19 Jaffé war bewußt, daß das erste Heft dadurch „überlang“ werden würde, „aber erstens ist das Geleitwort ja nicht zu rechnen, da ich [d]ie Kosten desselben aus meiner Tasche trage und dann werde ich dafür sorgen, dass die beiden nächsten Hefte nur je 13 Bogen enthalten, sodass der ganze Band den vereinbarten Umfang nicht überschreite“.20 Über die „inneren Gründe“,21 die zur Änderung der Reihenfolge der Texte Webers und Sombarts führten, gibt ein Brief Marianne Webers an ihre Schwiegermutter Helene Weber vom 29. Februar 1904 Auskunft: „Nächstens erscheint das erste Archivheft nachdem noch allerlei Schwierigkeiten, die Sombarts Eitelkeit bereitete, glücklich beigelegt sind. Max hat einen sehr guten logischen Aufsatz geschrieben, der eigentlich das Heft eröffnen sollte – da er aber einen Bogen länger war als ein Aufsatz von Sombart u. diesem überhaupt nicht ganz zusagte, wollte er ihn nur zur Hälfte in dieses erste Heft haben, da er sich sonst durch Max ‚sachlich-persönlich erdrückt fühle‘! Das gab dann noch einen kleinen Krawall, denn M’s Artikel wäre durch die Teilung ganz um seine Wirkung gebracht – nun ist Sombart’s Aufsatz an die erste und M.’s an die 2. Stelle gerückt u. nach verschiedenen ellenlangen Briefen ist allseitiger Frieden wiedereingekehrt.“22 Diese Briefe sind nicht überliefert. Die überlieferte Korrespondenz läßt jedoch einige Zusammenhänge erkennen. Wie einer Karte Webers an Jaffé vom 23. Februar 1904 zu entnehmen ist, war Weber zu diesem Zeitpunkt mit der Teilung seiner Abhandlung einverstanden: „Jedenfalls sind 16 Bogen gegen 13 später zu viel u. ich bin grade dabei, Sombart zu schreiben, daß ich gegen die Teilung nichts einwende. Ich 16 Ebd. 17  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 20. 18  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 22. 19 Ebd. 20 Ebd. 21  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 19. 22 Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 29. Febr. Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446.

Febr. 1904, ebd. Febr. 1904, ebd. Febr. 1904, ebd. 1904, Bestand Max

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will mich von ihm ‚nicht lumpen lassen‘.“23 Auf einer Karte vom selben Tag merkte er an, wo er diese Teilung vollzogen haben möchte: „Gleichzeitig die Superrevision. Ich habe S.  38 die Stelle der Teilung mit einem Bleistiftstrich bezeichnet. Bitte entschuldigen Sie der Druckerei gegenüber die langen Correkturen auf S.  1 und 15. Der Rest des Aufsatzes kann ja gleich jetzt für Heft 2 abgesetzt werden.“24 Tatsächlich war bereits am 19. Februar 1904 klar, daß das erste Heft den „vorgeschriebenen Umfang“ überschreiten würde.25 Dies war nicht nur auf die nachträgliche Aufnahme des Beitrags von Bauer zurückzuführen. Zwar war absehbar gewesen, daß Weber einen „ausführliche[n]“26 bzw. „lange[n]“27 Beitrag liefern würde. Als Jaffé am 8. und 12. Februar 1904 dessen Umfang mit „ca. 3  1/2 Bogen“ von „15 Bogen“ angab,28 war die Unverhältnismäßigkeit gegenüber den anderen Beiträgen augenfällig geworden, die sich am Ende als noch gravierender erwies. Webers Text wurde doppelt so lang wie der längste der anderen acht Texte, der aufgrund seines Umfangs in der Tat geteilt worden war.29 Von den 271 Seiten des Gesamtumfangs der Abhandlungen gingen 66 Seiten auf Webers Konto, was 24,35  % ausmachte. Bei 16 Seiten pro Bogen waren das 4  1/8 Bogen von insgesamt 17 Bogen. Spätestens mit der nachträglichen Aufnahme des Beitrags von Bauer mußte der Umfang von Webers Beitrag als nicht mehr tragbar erschienen sein. Daß Sombart auch die Änderung der Reihenfolge der Texte initiierte, dürfte nicht nur von seiner „Eitelkeit“30 herrühren, sondern auch von seiner Verpflichtung gegenüber Heinrich Braun, dem Begründer des „Archivs“. Diesen hatte er als „Redactionsgenie“ bezeichnet, weil er über die Gabe des „Redigiren[s]“ verfügte: „Ein schneidiger Redacteur muß vor allem den Muth haben, unter Umständen jede Arbeit, die er für schlecht oder für zu lang, oder für unzeitgemäß erachtet, und rührte sie von seinem berühmtesten Mitarbei23  Karte von Max Weber an Edgar Jaffé vom 23. Febr. 1904, MWG II/4, S.  196. Mit „13 später“ sind die Bogen für die folgenden Hefte des „Archivs“ gemeint. 24  Karte von Max Weber an Edgar Jaffé vom 23. Febr. 1904, MWG II/4, S.  197. 25  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 19. Febr. 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183. 26  [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  134. 27  Brief von Max Weber an Edgar Jaffé vom 6. Jan. 1904, MWG II/4, S.  195. Vgl. auch den Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 1. Febr. 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183. 28  Briefe von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 8. und vom 12. Febr. 1904, ebd. 29  Dieser zweitlängste Beitrag mit 33 Seiten stammte von Moritz Julius Bonn. Vgl. zur Teilung dieses Beitrags Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 12. Febr. 1904, ebd. Der zweite und dritte Teil erschienen in: AfSSp, Band 20, Heft 3, 1905, S.  554–609. 30 Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 29. Febr. 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446.

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ter her, zurückzuweisen.“31 Für Sombart leben „Autor und Redacteur“ in einem „Zustand beständigen Kampfes mit einander. Meist erdrücken die Autoren den Redacteur und machen ihn zum einfachen Geschäftsführer ihrer eigenen Angelegenheiten; nur selten erweist sich der Redacteur als der stärkere und zwingt den Stab der Mitarbeiter in seinen Dienst, d. h. den Dienst der Zeitschrift“.32 Sombart, dem Webers Beitrag angeblich „überhaupt nicht ganz zusagte“33 und von dem er sich „sachlich-persönlich erdrückt“34 fühlte, hatte sich offenbar entschlossen, Webers Text zwar nicht zurückzuweisen, aber doch zurückzusetzen und zu teilen, zumal er eben nicht nur „einen Bogen länger“35 war als sein eigener.36 Nun stand, wie aus Jaffés Brief vom 20. Februar 1904 hervorgeht, die Verschiebung von Webers Beitrag auf den zweiten Platz schon definitiv fest,37 als Weber am 23. Februar 1904 dessen Teilung zustimmte.38 Ob Weber zu diesem Zeitpunkt von der Veränderung der Reihenfolge wußte, ist nicht nachweisbar. Es ist durchaus möglich, daß er nicht informiert war, denn auch von der dem Verlag tags zuvor mitgeteilten Entscheidung, den nachträglich eingeworbenen Beitrag von Bauer aufzunehmen,39 wußte er als Mitherausgeber offenbar nichts.40 Möglicherweise

31  Sombart, Zeitschriften (wie oben, S.  106, Anm.  8), S.  2. 32 Ebd. 33 Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 29. Febr. 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. Weber bestätigte das später. Vgl. Brief von Max Weber an Georg von Below vom 17. Juli 1904, MWG II/4, S.  235 f., hier S.  235. 34 Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 29. Febr. 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 35 Ebd. 36  Sombart, Werner, Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen, in: AfSSp, Band 19, Heft  1, 1904, S.  1–21 (hinfort: Sombart, Wirtschaftskrisen), machte 7,75 % des Gesamtumfangs der Abhandlungen aus, was weniger als ein Drittel von Webers Text darstellte. Webers Text mit seinen 4  1/8 Bogen war also um 2  13/16 Bogen länger als Sombarts Text mit seinen 1  5/16 Bogen. Nimmt man Sombart, Apparat (wie oben, S.   136, Anm.   6), seine im selben Heft veröffentlichte Literaturbesprechung hinzu, machten beide Texte mit 48 Seiten nur 17,71 % des Gesamtumfangs aus, also etwas mehr als Zweidrittel von Webers Text. 37  Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 20. Febr. 1904, Staats­ bibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183. 38  Karte von Max Weber an Edgar Jaffé vom 23. Febr. 1904, MWG II/4, S.  196: „ich bin grade dabei, Sombart zu schreiben, daß ich gegen die Teilung nichts einwende“. 39 Vgl. Brief von Edgar Jaffé an J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 22. Febr. 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183. 40  Vgl. Karte von Max Weber an Edgar Jaffé vom 23. Febr. 1904, MWG II/4, S.  196: „Der Bauer’sche Aufsatz kann doch eigentlich nur eine Sudelei sein. Dann schon lieber Arens, scheint mir. Oder taugt er doch etwas?“

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endete jener „kleine Krawall“41 damit, daß sich Weber mit Platz zwei einverstanden erklärte, sofern seine Abhandlung nicht auf zwei Hefte verteilt würde. Von Webers Beitrag ist in der weiteren überlieferten Korrespondenz dann nur noch am 29. Februar 1904 in einem Brief des Verlagsmitarbeiters an Jaffé die Rede, daß nämlich „die Weber’schen Correcturen wohl berücksichtigt“ wurden.42 Schließlich informierte Jaffé am 7. April 1904 Siebeck darüber, daß „ein Exemplar des fertigen Heftes“ eingetroffen sei: „Ich denke wir können mit Aussehen + Inhalt des Heftes zufrieden sein; die einzige Schwierigkeit wird sein, daß die nächsten Hefte so viel dünner sein müssen, um die Überfülle des ersten Heftes zu kompensieren (ca. 13 Bogen gegen 16  1/2)“.43 Weber hatte das Heft spätestens am 12. April 1904 in Händen, als er Siebeck mitteilte, daß er dessen „Papier vortrefflich und sehr schön“ fand, dessen Umfang jedoch problematisch: „Es geht einfach nicht, daß wir nach diesem I Heft ein zweites und drittes von nur je 13/17 seines Umfangs bringen. Auch müßte ich dann, um für Andre Raum zu schaffen, meine Sachen teilweise bei Schmoller publizieren. An der Dicke von Heft 1 ist in erster Linie die falsche Rechnung der Druckerei, in zweiter bin ich mit meinem langen Aufsatz daran schuld.“44 Da Jaffé für das zweite Heft „keine weiteren Opfer“ bringen könne, erbot sich Weber, die Kosten für einen „Extrabogen“ zu übernehmen, so daß das 2. Heft „doch wenigstens 14 Bogen betrüge“; ein „Absturz von 17 auf 13 Bogen würde uns direkt dem Spott preisgeben und diskreditieren, jeder Bogen mehr für Heft 2 ist hier von Werth“.45 Ab dem 2.  Band der Neuen Folge „muß dann Alles normal (je 14 Bogen) sein, der erste Band ist dann eben ein durch die Notwendigkeit programmatischer Erklärungen stärker gerathenes Wunder­ kind“.46 Siebeck antwortete ihm am nächsten Tag und schlug als „Heilmittel für die Umfangüberschreitung unseres ersten Archivbandes“ vor, selbst die Kosten für die drei überzähligen Bogen des ersten Heftes zu übernehmen: „damit hoffe ich es Ihnen zu ermöglichen, dass das ‚Archiv‘ für die Aufnahme Ihrer Arbeiten genügend Raum hat und Sie nicht zu Schmoller zu gehen brauchen“.47 Weber bedankte sich im Namen der Redaktion für diese „Morgengabe“, die ihm insofern „fast etwas penibel“ war, als er sein „Scherflein“ 41 Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 29. Febr. 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 42  Brief von R. Wille an Edgar Jaffé vom 29. Febr. 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183. 43  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 7. April 1904, ebd. 44  Brief von Max Weber an Paul Siebeck vom 12. April 1904, MWG II/4, S.  212 f., hier S.  212. 45  Ebd., S.  212 f. 46  Ebd., S.  213. 47  Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 13. April 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183.

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nunmehr nicht beitragen solle, wo er „doch etwas das ‚Karnickel‘“ war: „Aber wir nehmen Ihr Anerbieten mit Dank an, da es eine sehr ernstliche Klippe beseitigt. Von nun an soll den Autoren streng die Innehaltung Ihres BogenUmfangs zur Pflicht gemacht werden.“48

II.  Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter dem Titel „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, hg. von Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé, Band 19, Heft 1, 1904, S.  22–87, erschien (A). Divergierende Schreibungen, wie z. B. Wert/Werth (unten, S.  147 f.), werden nicht vereinheitlicht, Rechtschreib- bzw. Setzerfehler, wie z. B. „lortwährend“ statt „fortwährend“ (unten, S.  215), aber stillschweigend verbessert.

48  Brief von Max Weber an Paul Siebeck vom 15. April 1904, MWG II/4, S.  216 f., hier S.  216.

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Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis.1)a Die erste Frage, mit der bei uns eine sozialwissenschaftliche und zumal eine sozialpolitische Zeitschrift bei ihrem Erscheinen oder bei ihrem Übergang in eine neue Redaktion begrüßt zu werden | pflegt, ist: welches ihre „Tendenz“ sei.1 Auch wir können uns einer Antwort auf diese Frage nicht entziehen, und es soll an dieser Stelle darauf im Anschluß an die Bemerkungen in unserem „Geleitwort“2 in etwas prinzipiellerer Fragestellung eingegangen werden. Es bietet sich dadurch Gelegenheit, die Eigenart der in unserem 1) Wo in Abschnitt I der nachstehenden Ausführungen3 ausdrücklich im Namen der Herausgeber4 gesprochen wird oder dem Archiv5 Aufgaben gestellt werden, handelt es sich natürlich nicht um Privatansichten des Verfassers, sondern sind die betreffenden Äußerungen von den Mitherausgebern ausdrücklich gebilligt. Für Abschnitt II trifft die Verantwortung für Form und Inhalt den Verfasser allein.   Daß das Archiv niemals in den Bann einer bestimmten Schulmeinung geraten wird, dafür bürgt der Umstand, daß der Standpunkt nicht nur seiner Mitarbeiter, sondern auch seiner Herausgeber, auch in methodischer Hinsicht, keineswegs schlechthin identisch ist.6 Andererseits war natürlich eine Übereinstimmung in gewissen Grundanschauungen Voraussetzung der gemeinsamen Übernahme der Redaktion.7 Diese Übereinstimmung besteht insbesondere bezüglich der Schätzung des Wertes theoreti­ scher Erkenntnis unter „einseitigen“ Gesichtspunkten,8 sowie bezüglich der Forderung der Bildung scharfer Begriffe und der strengen Scheidung von Erfahrungswissen und Werturteil,9 wie sie hier – natürlich ohne den Anspruch, damit etwas „neues“ zu fordern – vertreten wird.

a  In A folgt: Von MAX WEBER.   1  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  128 f. mit Anm.  17 und Anm.  18. 2  Vgl. ebd., oben, S.  129 ff. 3  Unten, S.  145–161. 4  Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber. 5  Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Neue Folge des Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik. 6  Wortgleich in Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  106, Zeilen 1–3. Vgl. auch Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  115, Zeilen 17–18. 7  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  129, Zeilen 34–35. 8 Zur theoretischen Erkenntnis vgl. ebd., oben, S.  130 mit Anm.  21. Von Gesichtspunkten ist in diesem „Geleitwort“ mehrfach die Rede. 9  Zur „Bildung klarer Begriffe“ vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort oben, S.  133 mit Anm.  31. Zu Werturteilen vgl. ebd., S.  128, sowie Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  106 mit Anm.  8.

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Sinne „sozialwissenschaftlichen“ Arbeit überhaupt nach manchen Richtungen in ein Licht zu rücken, welches, wenn nicht für den Fachmann, so doch für manchen der Praxis der wissenschaftlichen Arbeit ferner stehenden Leser nützlich sein kann, obwohl oder vielmehr gerade weil es sich dabei um „Selbstverständlichkeiten“ handelt. – Ausgesprochener Zweck des „Archivs“10 war seit seinem Bestehen neben der Erweiterung unserer Erkenntnis der „gesellschaftlichen Zustände aller Länder“,11 also der Tatsachen des sozialen Lebens, auch die Schulung des Urteils über praktische Probleme desselben und damit – in demjenigen, freilich sehr bescheidenen Maße, in dem ein solches Ziel von privaten Gelehrten gefördert werden kann – die Kritik an der sozialpolitischen Arbeit der Praxis, bis hinauf zu derjenigen der gesetzgebenden Faktoren.12 Trotzdem hat nun aber das Archiv von Anfang an daran festgehalten, eine   Die vielen Breiten der Erörterung (sub II)13 und die häufige Wiederholung desselben Gedankens dient dem ausschließlichen Zweck, das bei solchen Ausführungen mögliche Maximum von Gemeinverständlichkeit zu erzielen. Diesem Interesse ist viel – hoffentlich nicht zu viel – an Präzision des Ausdrucks geopfert, und ihm zu Liebe ist auch der Versuch[,] an Stelle der Aneinanderreihung einiger methodologischer Gesichtspunkte eine systematische Untersuchung treten zu lassen, hier | ganz unterlassen wor- A 23 den. Dies hätte das Hineinziehen einer Fülle von zum Teil noch weit tiefer liegenden erkenntnistheoretischen Problemen erfordert. Es soll hier nicht Logik getrieben, sondern es sollen bekannte Ergebnisse der modernen Logik für uns nutzbar gemacht, Probleme nicht gelöst, sondern dem Laien ihre Bedeutung veranschaulicht werden. Wer die Arbeiten der modernen Logiker kennt, – ich nenne nur Windelband, Simmel, und für unsere Zwecke speziell Heinrich Rickert –, wird sofort bemerken, daß in allem Wesentlichen lediglich an sie angeknüpft ist.14 |

10  Gemeint ist das Braunsche „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“. 11 Der Untertitel des Braunschen „Archivs“ lautete: „Vierteljahresschrift“ bzw. seit 1897 „Zeitschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder“. 12  Vgl. Braun, Einführung (wie oben, S.  123, Anm.  24), S.  1: „Erforschung und Darstellung der Lage der Gesellschaft in Hinsicht ihres thatsächlichen Zustandes und Kritik der gesetzgeberischen Massnahmen zur Besserung dieser Lage in erster Linie vom Standpunkt der Thatsachen wird vornehmlich die Arbeit dieser Zeitschrift bilden.“ Vgl. auch [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  128: „Das ‚Archiv‘ hatte nun als eines seiner vornehmsten Arbeitsgebiete von Anfang an, neben der rein wissenschaftlichen Erkenntnis der Tatsachen, sich die kritische Verfolgung des Ganges der Gesetzgebung zur Aufgabe gemacht.“ 13  Unten, S.  161–234. 14  In Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  45, 62, referiert Weber auf Windelband, Geschichte; Simmel, Geschichtsphilosophie1; Rickert, Grenzen; Rickert, Quatre modes.

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ausschließlich wissenschaftliche Zeitschrift sein zu wollen, nur mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung zu arbeiten,15 – und es entsteht zunächst die Frage: wie sich jener Zweck mit der Beschränkung auf diese Mittel prinzipiell vereinigen läßt. Wenn das Archiv in seinen Spalten Maßregeln der Gesetzgebung und Verwaltung oder praktische Vorschläge zu solchen beurteilen läßt – was bedeutet das? Welches sind die Normen für diese Urteile? Welches ist die Geltung der Werturteile,16 die der Beurteilende seinerseits etwa äußert, oder welche ein Schriftsteller, der praktische Vorschläge macht, diesen zugrunde legt? In welchem Sinne befindet er sich dabei auf dem Boden wissenschaftlicher Erörterung, da doch das Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis in der „objektiven“ Geltung ihrer Ergebnisse als Wahrheit gefunden werden muß? Wir legen zunächst unseren Standpunkt zu dieser | Frage dar, um daran später die weitere zu schließen: in welchem Sinne gibt es „objektiv gültige Wahrheiten“ auf dem Boden der Wissenschaften vom Kulturleben17 überhaupt? – eine Frage, die angesichts des steten Wandels und erbitterten Kampfes18 um die scheinbar elementarsten Probleme unserer Disziplin, die Methode ihrer Arbeit, die Art der Bildung ihrer Begriffe und deren Geltung, nicht umgangen werden kann. Nicht Lösungen bieten, sondern Probleme aufzeigen, wollen wir hier, – solche Probleme nämlich, denen unsere Zeitschrift, um ihrer bisherigen und zukünftigen Aufgabe gerecht zu werden, ihreb Aufmerksamkeit wird zuwenden müssen. –

b A: ihrer   15  Für Braun, Einführung (wie oben, S.  123, Anm.  24), S.  5, sollte im „Archiv“ für „das Gebiet der sozialen Statistik und der sozialen Gesetzgebung eine Stätte freier und nach allen Seiten hin unabhängiger Forschung geschaffen werden, einer Forschung, die voraussetzungslos an ihr Objekt herantritt und nur einen einzigen Zweck verfolgt: die wissenschaftliche Wahrheit“. 16  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  128. 17  Dieser Begriff findet sich häufig in Rickert, Grenzen, S.  309, 580 f., 585 f., 596, 600, 610, 620, 633, 703 f. 18  Gemeint ist wahrscheinlich der Methodenstreit in der Nationalökonomie. Vgl. Einleitung, oben, S.  4 f.

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Wir alle wissen, daß unsere Wissenschaft, wie mit Ausnahme vielleicht der politischen Geschichte jede Wissenschaft, deren Objekt menschliche Kulturinstitutionen und Kulturvorgänge sind, geschichtlich zuerst von praktischen Gesichtspunkten ausging.19 Werturteile über bestimmte wirtschaftspolitischec Maßnahmen des Staates zu produzieren, war ihr nächster und zunächst einziger Zweck. Sie war „Technik“ etwa in dem Sinne, in welchem es auch die klinischen Disziplinen der medizinischen Wissenschaften sind.20 Es ist nun bekannt, wie diese Stellung sich allmählich veränderte, ohne daß doch eine prinzipielle Scheidung von Erkenntnis des „Seienden“ und des „Seinsollenden“ vollzogen wurde.21 Gegen diese Scheidung wirkte zunächst die Meinung, daß unabänderlich gleiche Naturgesetze, sodann die andere, daß ein eindeutiges Entwicklungsprinzip die wirtschaftlichen Vorgänge beherrsche und daß also das Seinsollende entweder – im ersten Falle – mit dem unabänderlich Seienden, oder – im zweiten Falle – mit dem unvermeidlich Werdenden zusammenfalle. Mit dem Erwachen des historischen Sinnes gewann dann in unserer Wissenschaft eine Kombination von ethischem Evolutionismus und historischem Relativismus die Herrschaft, welche versuchte, die ethischen Normen ihres formalen Charakters zu entkleiden, durch Hineinbeziehung der Gesamtheit der Kulturwerte22 in den Bereich des „Sittlichen“ dies letztere inhaltlich zu bestimmen und so die Nationalökonomie zur Dignität einer „ethischen Wissenschaft“ auf empirischer Grundc A: wirtschaftpolitische   19  Über Geschichte der Nationalökonomie hatte Weber im Sommersemester 1896 an der Universität Freiburg gelesen. Vgl. Weber, Geschichte der Nationalökonomie, MWG III/1, S.  666–702. 20 Noch für Roscher, System I2, S.  23 (§  15), kann die Nationalökonomie „von den bewährten Methoden der Medicin, dieser ältern Schwester unserer Wissenschaft, gar Manches zu lernen hoffen“. 21  Zur Unterscheidung von Sein und Sollen vgl. Rickert, Gegenstand (wie oben, S.  6, Anm.  35), S.  63 ff. Das „Archiv“ hatte von der 2.  Aufl. dieser Studie, die 1904 erschien, ein Rezensionsexemplar erhalten. Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  133 f., Anm.  34. 22 Zum Begriff des Kulturwerts vgl. Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  21, 45, 47, 49, 52, 56, 58, 64, 66 f., und häufig im vierten und fünften Kapitel von Rickert, Grenzen, S.  577 ff., 596 ff.

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lage zu erheben.23 Indem man die Gesamtheit aller möglichen Kulturideale mit dem Stempel des „Sittlichen“ versah, verflüchtigte man die spezifische Dignität der ethischen Im|perative, ohne doch für die „Objektivität“ der Geltung jener Ideale irgend etwas zu gewinnen. Indessen kann und muß eine prinzipielle Auseinandersetzung damit hier beiseite bleiben:24 wir halten uns lediglich an die Tatsache, daß noch heute die unklare Ansicht nicht geschwunden, sondern besonders den Praktikern ganz begreiflicherweise geläufig ist, daß die Nationalökonomie Werturteile aus einer spezifisch „wirtschaftlichen Weltanschauung“ heraus produziere und zu produzieren habe. – Unsere Zeitschrift als Vertreterin einer empirischen Fachdisziplin muß, wie wir gleich vorweg feststellen wollen, diese Ansicht grundsätzlich ablehnen, denn wir sind der Meinung, daß es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können. Was folgt aber aus diesem Satze? Keineswegs, daß Werturteile deshalb, weil sie in letzter Instanz auf bestimmten Idealen fußen und daher „subjektiven“ Ursprungs sind, der wissenschaftlichen Diskussion überhaupt entzogen seien. Die Praxis und der Zweck unserer Zeitschrift würde einen solchen Satz ja immer wieder desavouieren. Die Kritik macht vor den Werturteilen nicht Halt. Die Frage ist vielmehr: Was bedeutet und bezweckt wissenschaftliche Kritik von Idealen und Werturteilen?25 Sie erfordert eine etwas eingehendere Betrachtung. Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente26 sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien: 23  Vgl. Schmoller, Gustav, Die Arbeiterfrage III, in: Preußische Jahrbücher, Band 15, 1865, S.  32–63, hier S.  63: „Der wahre Fortschritt auch im ökonomischen Leben hängt von seinem Zusammenhang mit den übrigen Lebensgebieten und Zwecken, von der gesammten ethischen Cultur ab, denn kein Zweck und kein Glied kann dauernd gedeihen, wenn der übrige Organismus leidet. Das ist die ethische Grundlage der Nationalökonomie.“ 24 Zur Kritik an der ethischen Nationalökonomie vgl. Sombart, Ideale (wie oben, S.  106, Anm.  9), S.  15 ff. 25  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  106, Zeilen 5–6: „Wert­ urteile und Ideale“. 26 Menger, Untersuchungen, S.  41, spricht von den „einfachsten Elementen“. Zu Menger vgl. unten, S.  197 ff.

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„Zweck“ und „Mittel“. Wir wollen etwas in concreto entweder „um seines eigenen Wertes willen“ oder als Mittel im Dienste des in letzter Linie Gewollten. Der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich ist nun zunächst unbedingt die Frage der Geeignetheit der Mittel bei gegebenem Zwecke. Da wir (innerhalb der jeweiligen Grenzen unseres Wissens) gültig festzustellen vermögen, wel­ che Mittel zu einem vorgestellten Zwecke zu führen geeignet oder ungeeignet sind, so können wir auf diesem Wege die Chancen,27 mit bestimmten zur Verfügung stehenden Mitteln einen bestimmten Zweck überhaupt zu erreichen, abwägen und mithin indirekt die Zwecksetzung selbst, auf Grund der jeweiligen historischen Situation, als praktisch sinnvoll oder aber als nach Lage der gegebenen Verhältnisse sinnlos kritisieren. Wir können weiter, wenn die Möglichkeit der Erreichung eines vorgestellten Zweckes gegeben erscheint, (natürlich immer innerhalb der Grenzen unseres jeweiligen | Wissens) die Folgen feststellen, welche die Anwendung der erforderlichen Mittel neben der eventuellen Erreichung des beabsichtigten Zweckes, infolge des Allzusammenhanges28 alles Geschehens, haben würde. Wir bieten alsdann dem Handelnden die Möglichkeit der Abwägung dieser ungewollten gegen die gewollten Folgen seines Handelns und damit die Antwort auf die Frage: was „kostet“ die Erreichung des gewollten Zweckes in Gestalt der voraussichtlich eintretenden Verletzung anderer Werte? Da in der großen Überzahl aller Fälle jeder erstrebte Zweck in diesem Sinne etwas „kostet“ oder doch kosten kann, so kann an der Abwägung von Zweck und Folgen des Handelns gegeneinander keine Selbstbesinnung verantwortlich handelnder Menschen vorbeigehen, und sie zu ermöglichen ist eine der wesentlichsten Funktionen der tech­ nischen Kritik, welche wir bisher betrachtet haben. Jene Abwägung selbst nun aber zur Entscheidung zu bringen ist freilich nicht mehr eine mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Menschen: er wägt und wählt nach seinem eigenen Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten, um die es sich handelt. Die Wissenschaft kann ihm zu dem Bewußtsein verhelfen, daß alles Handeln, und natürlich auch, je nach den

27  Zum Begriff „Chance“ vgl. Weber, Kritische Studien, unten, S.  472 mit Anm.  41. 28  Gottl verwendet diesen Begriff häufiger. Vgl. z. B. Gottl, Herrschaft, S.  128.

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Umständen, das Nicht-Handeln, in seinen Konsequenzen eine Par­ teinahme zugunsten bestimmter Werthe bedeutet, und damit – was heute so besonders gern verkannt wird – regelmäßig gegen andere. Die Wahl zu treffen, ist seine Sache. Was wir ihm für diesen Entschluß nun noch weiter bieten können, ist: Kenntnis der Bedeutung des Gewollten selbst. Wir können ihn die Zwecke nach Zusammenhang und Bedeutung kennen lehren, die er will und zwischen denen er wählt, zunächst durch Aufzeigung und logisch zusammenhängende Entwicklung der „Ideen“,29 die dem konkreten Zweck zugrunde liegen oder liegen können. Denn es ist selbstverständlich eine der wesentlichsten Aufgaben einer jeden Wissenschaft vom menschlichen Kulturleben, diese „Ideen“, für welche teils wirklich, teils vermeintlich gekämpft worden ist und gekämpft wird, dem geistigen Verständnis zu erschließen. Das überschreitet nicht die Grenzen einer Wissenschaft, welche „denkende Ordnung der empirischen Wirklichkeit“30 erstrebt, so wenig die Mittel, die dieser Deutung geistiger Werte dienen, „Induktionen“ im gewöhnlichen Sinne des Wortes sind.31 Allerdings fällt diese Aufgabe wenigstens teilweise aus dem Rahmen der ökonomischen Fachdisziplin in ihrer üblichen arbeitsteiligen Spezialisation heraus;32 | es handelt sich um Aufgaben der

29  Weber referiert wahrscheinlich auf die historische Ideenlehre, die im 19. Jahrhundert vor allem Humboldt, Gervinus und Ranke vertreten haben. Vgl. Humboldt, Geschichtschreiber, S.  314, 318; Gervinus, Historik, S.  375, 382; Ranke, Epochen (wie oben, S.  72, Anm.  30), S.  18, sowie Lazarus, Moritz, Ueber die Ideen in der Geschichte, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, 3. Jg., 1865, S.  385– 486. Vgl. dazu bereits Weber, Roscher und Knies 1, oben S.  71 f. mit Anm.  25 und 30. 30  Als Zitat nicht belegt. Sinngemäße Formulierungen finden sich in Gervinus, Historik, S.  357 f., 366, 372, 383. Gervinus spricht vom „denkende[n] Historiker“ bzw. „Geschichtschreiber“ und trennt das spekulative Geschäft des Philosophen, dem die Dinge nach ihrer Notwendigkeit erscheinen, vom schöpferischen des Dichters, dem sie nach ihrer Möglichkeit erscheinen, und vom „ordnende[n] des Historikers“, dem sie „nach ihrer Wirklichkeit“ erscheinen. 31  Vgl. z. B. Sigwart, Logik II (wie oben, S.  5, Anm.  31), S.  401, der das „Inductionsverfahren als Methode der Gewinnung allgemeiner Sätze aus einzelnen Wahrnehmungen“ bestimmt. Weber selbst bestimmt mit Bezug auf eine Formulierung Stammlers „Induktion“ im Sinne eines „Hinausgehens über die Einzelbeobachtung“. Vgl. Weber, Stammler, unten, S.  504, mit Bezug auf Stammler, Wirtschaft2, S.  4. 32  Zur wissenschaftlichen Arbeitsteilung oder Spezialisierung der Nationalökonomie und ihrer Überwindung durch Einbeziehung von Nachbardisziplinen vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  108 f., Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  117 f., und [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  130 f.

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Sozialphilosophie. Allein die historische Macht der Ideen ist für die Entwicklung des Soziallebens eine so gewaltige gewesen und ist es noch, daß unsere Zeitschrift sich dieser Aufgabe niemals entziehen, deren Pflege vielmehr in den Kreis ihrer wichtigsten Pflichten einbeziehen wird.33 Aber die wissenschaftliche Behandlung der Werturteile möchte nun weiter die gewollten Zwecke und die ihnen zugrunde liegenden Ideale nicht nur verstehen und nacherleben lassen, sondern vor allem auch kritisch „beurteilen“ lehren. Diese Kritik freilich kann nur dialektischen Charakter haben, d. h. sie kann nur eine formallogische Beurteilung des in den geschichtlich gegebenen Werturteilen und Ideen vorliegenden Materials, eine Prüfung der Ideale an dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit des Gewollten sein. Sie kann, indem sie sich diesen Zweck setzt, dem Wollenden verhelfen zur Selbstbesinnung auf diejenigen letzten Axiome, welche dem Inhalt seines Wollens zugrunde liegen, auf die letzten Wertmaßstäbe, von denen er unbewußt ausgeht oder – um konsequent zu sein – ausgehen müßte. Diese letzten Maßstäbe, welche sich in dem konkreten Werturteile manifestieren, zum Bewußtsein zu bringen, ist nun allerdings das letzte, was sie, ohne den Boden der Spekulation zu betreten, leisten kann. Ob sich das urteilende Subjekt zu diesen letzten Maßstäben bekennen soll, ist seine persönlichste Angelegenheit und eine Frage seines Wollens und Gewissens, nicht des Erfahrungswissens. Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur was er kann und – unter Umständen – was er will. Richtig ist, daß die persönlichen Weltanschauungen auf dem Gebiet unserer Wissenschaften unausgesetzt hineinzuspielen pflegen auch in die wissenschaftliche Argumentation, sie immer wieder trüben, das Gewicht wissenschaftlicher Argumente auch auf dem Gebiet der Ermittlung einfacher kausaler Zusammenhänge von Tatsachen verschieden einschätzen lassen, je nachdem das Resultat die Chancen der persönlichen Ideale: die Möglichkeit, etwas Bestimmtes zu wollen, mindert oder steigert. Auch die Herausge33  Im nächsten Band des „Archivs“ publizierte Weber den ersten Teil seiner Protestantismus-Studie, an dessen Ende er schreibt, daß die folgenden Teile zur „Veranschaulichung der Art, in der überhaupt die ‚Ideen‘ in der Geschichte wirksam werden“, beitragen können. Vgl. Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. I. Das Problem, MWG I/9, S.  97–215, hier S.  214.

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ber und Mitarbeiter unserer Zeitschrift werden in dieser Hinsicht sicherlich „nichts Menschliches von sich fern glauben“.d 34 Aber von diesem Bekenntnis menschlicher Schwäche ist es ein weiter Weg bis zu dem Glauben an eine „ethische“ Wissenschaft der Nationalökonomie, welche aus ihrem Stoff Ideale oder durch Anwendung allgemeiner ethischer Imperative auf ihren | Stoff konkrete Normen zu produzieren hätte. – Richtig ist noch etwas Weiteres: gerade jene innersten Elemente der „Persönlichkeit“,35 die höchsten und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben, werden von uns als etwas „objektiv“ Wertvolles empfunden. Wir können sie ja nur vertreten, wenn sie uns als geltend, als aus unseren höchsten Lebenswerten fließend, sich darstellen und so, im Kampfe gegen die Widerstände des Lebens, entwickelt werden. Und sicherlich liegt die Würde der „Persönlichkeit“ darin beschlossen, daß es für sie Werte gibt, auf die sie ihr eigenes Leben bezieht, – und lägen diese Werte auch im einzelnen Falle ausschließlich innerhalb der Sphäre der eigenen Individualität: dann gilt ihr eben das „Sichausleben“36 in denjenigen ihrer Interessen, für welche sie die Geltung als Werte beansprucht, als die Idee, auf welche sie sich bezieht. Nur unter der Voraussetzung des Glaubens an Werte jedenfalls hat der Versuch Sinn, Werturteile nach außen zu vertreten. Aber: die Gel­ tung solcher Werte zu beurteilen, ist Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber nicht Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft in dem Sinne, in weld A: glauben.“   34  Vgl. Publius Terentius Afer, Der Selbstpeiniger, in: Des Publius Terentius Lustspiele, Band 5. Deutsch von Johannes Herbst. – Stuttgart: Hoffmann 1855, S.  8: „Ich bin ein Mensch; nichts Menschliches liegt meiner Theilnahme fern.“ 35  In Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  369 ff., findet sich eine eingehende Auseinandersetzung mit diesem Begriff. 36 Für Rickert, Grenzen, S.  717, gibt es einen „ethische[n] Imperativ“, demzufolge jeder Mensch ein „teleologisches In-dividuum“ werden soll, das „in dem grossen teleologischen Zusammenhange der Wirklichkeit“ seine „individuelle Bestimmung“ findet; dieser Imperativ beläßt jedem seine „Individualität“, solange sie „im Dienste der Verwirklichung allgemeiner Werthe“ steht: „Das ziel- und planlose sogenannte ‚Sichausleben‘ jedes beliebigen Stückchens individueller Wirklichkeit, das keine teleologische Einheit besitzt, ist freilich sittlich verwerflich, und für bedeutungslose individuelle Launen hat die geschichtlich orientirte individualistische Ethik keinen Platz.“

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chem sie an dieser Stelle gepflegt werden soll. Für diese Scheidung fällt nicht – wie oft geglaubt wird – entscheidend ins Gewicht die empirisch erweisliche Tatsache, daß jene letzten Ziele historisch wandelbar und streitig sind. Denn auch die Erkenntnis der sichersten Sätze unseres theoretischen – etwa des exakt naturwissenschaftlichen oder mathematischen – Wissens ist, ebenso wie die Schärfung und Verfeinerung des Gewissens, erst Produkt der Kultur. Allein wenn wir speziell an die praktischen Probleme der Wirtschafts- und Sozialpolitik (im üblichen Wortsinn) denken, so zeigt sich zwar, daß es zahlreiche, ja unzählige praktische Einzelfragen gibt, bei deren Erörterung man in allseitiger Übereinstimmung von gewissen Zwecken als selbstverständlich gegeben ausgeht – man denke etwa an Notstandskredite, an konkrete Aufgaben der sozialen Hygiene, der Armenpflege, an Maßregeln wie die Fabrikinspektionen, die Gewerbegerichte, die Arbeitsnachweise, große Teile der Arbeiterschutzgesetzgebung, – bei denen also, wenigstens scheinbar, nur nach den Mitteln zur Erreichung des Zweckes gefragt wird. Aber selbst wenn wir hier – was die Wissenschaft niemals ungestraft tun würde – den Schein der Selbstverständlichkeit für Wahrheit nehmen und die | Konflikte, in welche der Versuch der praktischen Durchführung alsbald hinein führt, für rein technische Fragen der Zweckmäßigkeit ansehen wollten, – was recht oft irrig wäre –, so müßten wir doch bemerken, daß auch dieser Schein der Selbstverständlichkeit der regulativen Wertmaßstäbe sofort verschwindet, wenn wir von den konkreten Problemen karitativ-polizeilicher Wohlfahrts- und Wirtschaftspflege aufsteigen zu den Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das Kennzeichen des sozialpolitischen Charakters eines Problems ist es ja geradezu, daß es nicht auf Grund bloß technischer Erwägungen aus feststehenden Zwecken heraus zu erledigen ist, daß um die regulativen Wertmaßstäbe selbst gestritten werden kann und muß, weil das Problem in die Region der allgemeinen Kulturfragen hineinragt. Und es wird gestritten nicht nur, wie wir heute so gerne glauben, zwischen „Klasseninteressen“,37 sondern auch zwischen Weltanschauungen, 37  Dieser Begriff findet sich z. B. in Marx, Karl, Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. – Hamburg: Otto Meißner 1885, S.  15 f., und in Marx, Karl, Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhon’s „Philosophie des Elends“. Mit Vorwort und Noten von Friedrich Engels. – Stuttgart: J. H. W. Dietz 1892, S.  162.

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– wobei die Wahrheit natürlich vollkommen bestehen bleibt, daß dafür, welche Weltanschauung der einzelne vertritt, neben manchem anderen auch und sicherlich in ganz hervorragendem Maße der Grad von Wahlverwandtschaft38 entscheidend zu werden pflegt, der sie mit seinem „Klasseninteresse“ – wenn wir diesen nur scheinbar eindeutigen Begriff hier einmal akzeptieren – verbindet. Sicher ist unter allen Umständen Eines: je „allgemeiner“ das Problem ist, um das es sich handelt, d. h. aber hier: je weittragender seine Kulturbedeutung,39 desto weniger ist es einer eindeutigen Beantwortung aus dem Material des Erfahrungswissens heraus zugänglich, desto mehr spielen die letzten höchst persönlichen Axiome des Glaubens und der Wertideen40 hinein. Es ist einfach eine Naivität, wenn auch von Fachmännern gelegentlich immer noch geglaubt wird, es gelte, für die praktische Sozialwissenschaft vor allem „ein Prinzip“ aufzustellen und wissenschaftlich als gültig zu erhärten, aus welchem alsdann die Normen für die Lösung der praktischen Einzelprobleme eindeutig deduzierbar seien.41 So sehr „prinzipielle“ Erörterungen praktischer Probleme, d. h. die Zurückführung der unreflektiert sich aufdrängenden Werturteile auf ihren Ideengehalt, in der Sozialwissenschaft vonnöten sind, und so sehr unsere Zeitschrift speziell sich gerade auch ihnen zu widmen beabsichtigt, – die Schaffung eines praktischen Generalnenners für unsere Probleme in Gestalt allgemein gültiger letzter Ideale kann sicherlich weder ihre Aufgabe noch überhaupt die irgend einer 38  Mit diesem von Joseph Black und Torbern Bergman geprägten Begriff wird eine besondere Anziehung zwischen chemischen Elementen bezeichnet, derart, daß sich ein Element aus einer bestehenden Verbindung löst, wenn sich ein bestimmtes anderes Element, das ihm affin ist, nähert, so daß eine neue Verbindung entsteht. Goethe macht diesen Mechanismus zur Grundlage eines Romans. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang, Die Wahlverwandtschaften, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Band 21, hg. von Eduard von der Hellen. – Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta Nachf. o. J. 39  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  126 mit Anm.  8. 40  Rickert spricht nicht von Wertideen, sondern nur von „Werthen“ bzw. „Kulturwerthen“. Möglicherweise bezieht sich Weber auch auf die historische Ideenlehre. Vgl. oben, S.  148 mit Anm.  29. 41  Möglicherweise referiert Weber auf Stammler, Wirtschaft1, S.  6: „Die Frage nach der obersten Gesetzmäßigkeit, unter der das soziale Leben in Abhängigkeit zu erkennen ist, mündet praktisch in die grundsätzliche Auffassung über das Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft sofort aus; und von jener ersten prinzipiellen Einsicht hängt die Ergreifung und Lösung der Aufgabe von der Weiterbildung, der Umwandlung und der Vervollkommnung unserer sozialen Ordnungen ab.“

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Erfahrungswissenschaft sein: sie wäre als solche nicht etwa nur | praktisch unlösbar, sondern in sich widersinnig. Und wie immer Grund und Art der Verbindlichkeit ethischer Imperative gedeutet werden mag, sicher ist, daß aus ihnen, als aus Normen für das konkret bedingte Handeln des Einzelnen, nicht Kulturinhalte als gesollt eindeutig deduzierbar sind, und zwar umsoweniger, je umfassender die Inhalte sind, um die es sich handelt. Nur positive Religionen, – präziser ausgedrückt: dogmatisch gebundene Sekten – vermögen dem Inhalt von Kulturwerten die Dignität unbedingt gültiger ethi­ scher Gebote zu verleihen. Außerhalb ihrer sind Kulturideale, die der einzelne verwirklichen will, und ethische Pflichten, die er erfüllen soll, von prinzipiell verschiedener Dignität. Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis42 gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen im stande sein müssen, daß „Weltanschauungen“ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen eben so heilig sind, wie uns die unseren. Nur ein optimistischer Synkretismus, wie er zuweilen das Ergebnis des entwicklungsgeschichtlichen Relativismus ist, kann sich über den gewaltigen Ernst dieser Sachlage entweder theoretisch hinwegtäuschen oder ihren Konsequenzen praktisch ausweichen. Es kann selbstverständlich subjektiv im einzelnen Falle genau ebenso pflichtgemäß für den praktischen Politiker sein, zwischen vorhandenen Gegensätzen der Meinungen zu vermitteln, als für eine von ihnen Partei zu ergreifen. Aber mit wissenschaftlicher „Objektivität“43 hat das nicht das Allermindeste zu tun. Die „mitt-

42  Genesis (1. Mose) 2,16–17. 43  Im 19. Jahrhundert galt außerhalb der Naturwissenschaften Ranke als der Protagonist wissenschaftlicher Objektivität. Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  48 f., 51, 68, kritisiert Rankes Überzeugung, „dass Objektivität in einer blossen Wiedergabe der Thatsachen ohne ein leitendes Prinzip der Auswahl“ bestehe, denn wem es gelänge, „sein Selbst auszulöschen“, für den gäbe es „keine Geschichte mehr, sondern nur ein sinnloses Gewimmel von individuellen Gestaltungen, die alle gleich bedeutungsvoll oder bedeutungslos wären“. Rickert ist nicht nur der Meinung, daß wir bei der Auswahl „von Werthen geleitet“ werden, sondern „dass Kul-

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lere Linie“ ist um kein Haarbreit mehr wissenschaftliche Wahrheit, als die extremsten Parteiideale von rechts oder links. Nirgends ist das Interesse der Wissenschaft auf die Dauer schlechter aufgehoben als da, wo man unbequeme Tatsachen und die Realitäten des Lebens in ihrer Härte nicht sehen will. Das Archiv wird die schwere Selbsttäuschung, man könne durch Synthese von mehreren oder auf der Diagonale zwischen mehreren Parteiansichten praktische Normen von wissenschaftlicher Gültigkeit gewinnen, unbedingt bekämpfen, denn sie ist, weil sie ihre eigenen Wertmaßstäbe relativistisch zu verhüllen liebt, weit gefährlicher für die Unbefangenheit44 der Forschung | als der alte naive Glaube der Parteien an die wissenschaftliche „Beweisbarkeit“ ihrer Dogmen. Die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Erkennen und Beurteilen und die Erfüllung sowohl der wissenschaftlichen Pflicht, die Wahrheit der Tatsachen zu sehen, als der praktischen, für die eigenen Ideale einzutreten, ist das, woran wir uns wieder stärker gewöhnen wollen. Es ist und bleibt – darauf kommt es für uns an – für alle Zeit ein unüberbrückbarer Unterschied, ob eine Argumentation sich an unser Gefühl und unsere Fähigkeit[,] für konkrete praktische Ziele oder für Kulturformen und Kulturinhalte uns zu begeistern[,] wendet, oder, wo einmal die Geltung ethischer Normen in Frage steht, an unser Gewissen, oder endlich an unser Vermögen und Bedürfnis, die empirische Wirklichkeit in einer Weise denkend zu ord­ nen,45 welche den Anspruch auf Geltung als Erfahrungswahrheit erhebt. Und dieser Satz bleibt richtig, trotzdem, wie sich noch zeigen wird,46 jene höchsten „Werte“ des praktischen Interesses für die Richtung, welche die ordnende Tätigkeit des Denkens auf dem

turvorgänge auch immer mehr als willkürlich gewerthet werden, denn die ‚Objektivität‘ der Geschichte ist in der That nur durch die Allgemeingültigkeit der Kulturwerthe zu erreichen, die ihre Begriffsbildung leiten“. An solche „objektive[n] Werte“, „deren Geltung die Voraussetzung […] für die Arbeit in den Kulturwissenschaften selbst bildet, glauben wir im Grunde Alle“. Rickert, Grenzen, S.  502, trennt denn auch zwischen „Werthurteile[n]“, die „jede wissenschaftliche Objektivität“ stören, und „Werthbeziehung“ als Prinzip der Auswahl, das Objektivität durch die Allgemeingültigkeit der auf die Wirklichkeit bezogenen Kulturwerte ermöglicht. 44 Zu „Unbefangenheit“ vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  106, und Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  115. Vgl. auch Braun, Abschiedswort (wie oben, S.  125, Anm.  1), S. V. 45  Vgl. oben, S.  148 mit Anm.  30. 46  Unten, S.  214 ff.

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Gebiete der Kulturwissenschaften jeweils einschlägt, von entscheidender Bedeutung sind und immer bleiben werden. Denn es ist und bleibt wahr, daß eine methodisch korrekte wissenschaftliche Beweisführung auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften, wenn sie ihren Zweck erreicht haben will, auch von einem Chinesen als richtig anerkannt werden muß oder – richtiger gesagt – daß sie dieses, vielleicht wegen Materialmangels nicht voll erreichbare, Ziel jedenfalls erstreben muß, daß ferner auch die logische Analyse eines Ideals auf seinen Gehalt und auf seine letzten Axiome hin und die Aufzeigung der aus seiner Verfolgung sich logischer und praktischer Weise ergebenden Konsequenzen, wenn sie als gelungen gelten soll, auch für ihn gültig sein muß, – während ihm für unsere ethischen Imperative das „Gehör“47 fehlen kann, und während er das Ideal selbst und die daraus fließenden konkreten Wer­ tungen ablehnen kann und sicherlich oft ablehnen wird, ohne dadurch dem wissenschaftlichen Wert jener denkenden Analyse irgend zu nahe zu treten. Sicherlich wird unsere Zeitschrift die immer und unvermeidlich sich wiederholenden Versuche, den Sinn des Kulturlebens eindeutig zu bestimmen, nicht etwa ignorieren. Im Gegenteil: sie gehören ja selbst zu den wichtigsten Erzeugnissen eben dieses Kulturlebens und unter Umständen auch zu seinen mächtigsten treibenden Kräften. Wir werden daher den Verlauf auch der in diesem Sinne „sozialphilosophischen“ Erörterungen jederzeit sorg|sam verfolgen. Ja, noch mehr: es liegt hier das Vorurteil durchaus fern, als ob Betrachtungen des Kulturlebens, die über die denkende Ordnung des empirisch Gegebenen hinausgehend die Welt metaphysisch zu deuten versuchen, etwa schon um dieses ihres Charakters willen keine Aufgabe im Dienste der Erkenntnis erfüllen könnten. Wo diese Aufgaben etwa liegen würden, ist freilich ein Problem zunächst der Erkenntnislehre, dessen Beantwortung hier für unsere Zwecke dahingestellt bleiben muß und auch kann. Denn eines halten wir für unsere Arbeit fest: eine sozialwis­ senschaftliche Zeitschrift in unserem Sinne soll, soweit sie Wissen­ schaft treibt, ein Ort sein, wo Wahrheit gesucht wird, die – um im 47  In Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, 2.  Aufl. – Leipzig: C. G. Naumann 1892, S. VI, ist die Rede von einem „räthselhafte[n] ‚kate­ gorische[n] Imperativ‘, dem ich inzwischen immer mehr Gehör und nicht nur Gehör geschenkt habe“.

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Beispiel zu bleiben – auch für den Chinesen die Geltung einer denkenden Ordnung der empirischen Wirklichkeit beansprucht. – Freilich können die Herausgeber weder sich selbst noch ihren Mitarbeitern ein für allemal verbieten, die Ideale, die sie beseelen, auch in Werturteilen zum Ausdruck zu bringen. Nur erwachsen daraus zwei wichtige Pflichten. Zunächst die: in jedem Augenblick den Lesern und sich selbst scharf zum Bewußtsein zu bringen, welches die Maßstäbe sind, an denen die Wirklichkeit gemessen und aus denen das Werturteil abgeleitet wird, anstatt, wie es nur allzu oft geschieht, durch unpräzises Ineinanderschieben von Werten verschiedenster Art sich um die Konflikte zwischen den Idealen herumzutäuschen und „jedem etwas bieten“48 zu wollen. Wird dieser Pflicht streng genügt, dann kann die praktisch urteilende Stellungnahme im rein wissenschaftlichen Interesse nicht nur unschädlich, sondern direkt nützlich, ja, geboten sein: in der wissenschaftlichen Kritik von gesetzgeberischen und anderen praktischen Vorschlägen ist die Aufklärung der Motive des Gesetzgebers49 und der Ideale des kritisierten Schriftstellers in ihrere Tragweite sehr oft gar nicht anders in anschaulich-verständliche Form zu bringen, als durch Konfrontierung der von ihnen zugrunde gelegten Wertmaßstäbe mit anderen, und dann natürlich am besten: mit den eigenen. Jede sinnvolle Wertung fremden Wollens kann nur Kritik aus einer eigenen „Weltanschauung“ heraus, Bekämpfung des fremden Ideals vom Boden eines eigenen Ideals aus sein. Soll also im einzelnen Fall das letzte Wertaxiom, welches einem praktischen Wollen zugrunde liegt, nicht nur festgestellt und wissenschaftlich analysiert, sondern in seinen Beziehungen zu anderen Wertaxiomen veranschaulicht werden, so ist eben „positive“ Kritik durch zusammenhängende Darlegung der letzteren unvermeidlich. | Es wird also in den Spalten der Zeitschrift – speziell bei der Besprechung von Gesetzen – neben der Sozialwissenschaft – der denkenden Ordnung der Tatsachen – unvermeidlich auch die Sozialpolitik – die Darlegung von Idealen – zu Worte kommen. Aber: wir denken nicht daran, derartige Auseinandersetzungen für „Wis­ e A: ihre   48  Vgl. Goethe, Faust I, S.  7: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“ 49  Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  115.

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senschaft“ auszugeben und werden uns nach besten Kräften hüten, sie damit vermischen und verwechseln zu lassen. Die Wissenschaft ist es dann nicht mehr, welche spricht, und das zweite fundamentale Gebot wissenschaftlicher Unbefangenheit ist es deshalb: in solchen Fällen, den Lesern (und – sagen wir wiederum – vor allem sich selbst!) jederzeit deutlich zu machen, daß und wo der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt zu sprechen, wo die Argumente sich an den Verstand und wo sie sich an das Gefühl wenden. Die stete Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonnements ist eine der zwar noch immer verbreitetsten, aber auch schädlichsten Eigenarten von Arbeiten unseres Faches. Gegen diese Vermischung, nicht etwa gegen das Eintreten für die eigenen Ideale richten sich die vorstehenden Ausführungen: Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche „Objektivität“ haben keinerlei innere Verwandtschaft. – Das Archiv ist, wenigstens seiner Absicht nach, niemals ein Ort gewesen und soll es auch nicht werden, an welchem Polemik gegen bestimmte politische oder sozialpolitische Parteien getrieben wird, ebensowenig eine Stelle, an der für oder gegen politische oder sozialpolitische Ideale geworben wird; dafür gibt es andere Organe. Die Eigenart der Zeitschrift hat vielmehr von Anfang an gerade darin bestanden und soll, soviel an den Herausgebern liegt, auch fernerhin darin bestehen, daß in ihr scharfe politische Gegner sich zu wissenschaftlicher Arbeit zusammenfinden.50 Sie war bisher kein „sozialistisches“ und wird künftig kein „bürgerliches“ Organ sein. Sie schließt von ihrem Mitarbeiterkreise niemand aus, der sich auf den Boden wissenschaftlicher Diskussion stellen will. Sie kann kein Tummelplatz von „Erwiderungen“, Repliken und Dupliken sein, aber sie schützt niemand, auch nicht ihre Mitarbeiter und ebensowenig ihre Herausgeber dagegen, in ihren Spalten der denkbar schärfsten sachlich-wissenschaftlichen Kritik ausgesetzt zu sein. Wer das nicht ertragen kann, oder wer auf dem Standpunkt steht, mit Leuten, die im Dienste anderer Ideale arbeiten als er selbst, 50  Vgl. Braun, Einführung (wie oben, S.  123, Anm.  24), S.  5 f.: „Jedermann, der an das Programm wissenschaftlicher Behandlung sich zu halten gewillt ist, wird, mag er welcher Richtung immer huldigen, im Kreis der Mitarbeiter des Archivs willkommen sein.“ In ihrem „Geleitwort“ bezeichnen die Herausgeber das Braunsche „Archiv“ als „interfraktionell“, weil es seine Mitarbeiter „aus aller Parteien Lager“ rekrutierte. Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  128 mit Anm.  14.

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auch im Dienste wissenschaftlicher | Erkenntnis nicht zusammenwirken zu wollen, der mag ihr fern bleiben. Nun ist aber freilich – wir wollen uns darüber nicht täuschen – mit diesem letzten Satze praktisch zurzeit leider mehr gesagt, als es auf den ersten Blick scheint. Zunächst hat, wie schon angedeutet, die Möglichkeit[,] mit politischen Gegnern sich auf neutralem Boden – geselligem oder ideellem – unbefangen zusammenzufinden, leider erfahrungsgemäß überall und zumal unter unsern deutschen Verhältnissen ihre psychologischen Schranken. An sich als ein Zeichen parteifanatischer Beschränktheit und unentwickelter politischer Kultur unbedingt bekämpfenswert, gewinnt dieses Moment für eine Zeitschrift wie die unsrige eine ganz wesentliche Verstärkung durch den Umstand, daß auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften der Anstoß zur Aufrollung wissenschaftlicher Probleme erfahrungsgemäß regelmäßig durch praktische „Fragen“ gegeben wird, so daß die bloße Anerkennung des Bestehens eines wissenschaftlichen Problems in Personalunion steht mit einem bestimmt gerichteten Wollen lebendiger Menschen. In den Spalten einer Zeitschrift, welche unter dem Einflusse des allgemeinen Interesses für ein konkretes Problem ins Leben tritt, werden sich daher als Mitarbeiter regelmäßig Menschen zusammenfinden, die ihr persönliches Interesse diesem Problem deshalb zuwenden, weil bestimmte konkrete Zustände ihnen im Widerspruch mit idealen Werten, an die sie glauben, zu stehen, jene Werte zu gefährden scheinen. Die Wahlverwandtschaft51 ähnlicher Ideale wird alsdann diesen Mitarbeiterkreis zusammenhalten und sich neu rekrutieren lassen, und dies wird der Zeitschrift wenigstens bei der Behandlung praktisch-sozialpolitischer Probleme einen bestimmten „Cha­ rakter“ aufprägen, wie er die unvermeidliche Begleiterscheinung jedes Zusammenwirkens lebendig empfindender Menschen ist, deren wertende Stellungnahme zu den Problemen auch bei der rein theoretischen Arbeit nicht immer ganz unterdrückt wird und bei der Kritik praktischer Vorschläge und Maßnahmen auch – unter den oben erörterten Voraussetzungen52 – ganz legitimerweise zum Ausdruck kommt. Das Archiv nun trat in einem Zeitpunkte ins

51  Vgl. dazu die Erläuterung oben, S.  152, Anm.  38. 52  Oben, S.  151 ff.

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Leben,53 als bestimmte praktische Probleme der „Arbeiterfrage“ im überkommenen Sinne des Wortes, im Vordergrund der sozialwissenschaftlichen Erörterungen standen.54 Diejenigen Persönlichkeiten, für welche mit den Problemen, die es behandeln wollte, die höchsten und entscheidenden Wertideen sich verknüpften, | und welche deshalb seine regelmäßigsten Mitarbeiter wurden, waren eben daher zugleich auch Vertreter einer durch jene Wertideen gleich oder doch ähnlich gefärbten Kulturauffassung.55 Jedermann weiß denn auch, daß, wenn die Zeitschrift den Gedanken, eine „Tendenz“ zu verfolgen,56 durch die ausdrückliche Beschränkung auf „wissenschaftliche“ Erörterungen und durch die ausdrückliche Einladung an „Angehörige aller politischen Lager“ bestimmt ablehnte, sie trotzdem sicherlich einen „Charakter“ im obigen Sinn besaß. Er wurde durch den Kreis ihrer regelmäßigen Mitarbeiter geschaffen. Es waren im allgemeinen Männer, denen, bei aller sonstigen Verschiedenheit der Ansichten, der Schutz der physischen Gesundheit der Arbeitermassen und die Ermöglichung steigender Anteilnahme an den materiellen und geistigen Gütern unserer Kultur für sie, als Ziel – als Mittel aber die Verbindung staatlichen Eingreifens in die materielle Interessensphäre mit freiheitlicher Fortentwicklung der bestehenden Staats- und Rechtsordnung vorschwebten, und die – welches immer ihre Ansicht über die Gestaltung der Gesellschaftsordnung in der ferneren Zukunft sein mochte – für die Gegenwart die kapitalistische Entwicklung bejahten, nicht weil sie ihnen, gegenüber den älteren Formen gesellschaftlicher Gliederung als die bessere, sondern weil sie ihnen als praktisch unvermeidlich und der Versuch grundsätzlichen Kampfes gegen sie, nicht als Förderung, sondern als Hemmung des Emporsteigens der Arbeiterklasse an das Licht der Kultur erschien. Unter den in Deutschland heute bestehenden Verhältnissen – sie bedürfen hier nicht der näheren Klarlegung – war dies und wäre es auch heute nicht zu vermeiden. Ja, es kam im tatsächlichen Erfolg der Allsei-

53  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  125 mit Anm.  1. 54  Vgl. ebd., oben, S.  126 mit Anm.  7. 55 Gemessen an der Zahl der Beiträge waren die regelmäßigsten Mitarbeiter des Braunschen „Archivs“ Werner Sombart (14), Heinrich Rauchberg (9), Fridolin Schuler (9), Ernst Lange (6) und Ernst Mischler (6). 56  Vgl. oben, S.  142 mit Anm.  1.

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tigkeit der Beteiligung an der wissenschaftlichen Diskussion direkt zugute und war für die Zeitschrift eher ein Moment der Stärke, ja – unter den gegebenen Verhältnissen – sogar vielleicht einer der Titel ihrer Existenzberechtigung. Unzweifelhaft ist es nun, daß die Entwicklung eines „Charakters“ in diesem Sinne bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift eine Gefahr für die Unbefangenheit der wissenschaftlichen Arbeit bedeuten kann und dann wirklich bedeuten müßte, wenn die Auswahl der Mitarbeiter eine planvoll einseitige würde: in diesem Falle bedeutete die Züchtung jenes „Charakters“ praktisch dasselbe wie das Bestehen einer „Tendenz“. Die Herausgeber sind sich der Verantwortung, die ihnen diese Sachlage auferlegt, durchaus bewußt. Sie beabsichtigen weder, den Charakter | des Archivs planvoll zu ändern, noch etwa[,] ihn durch geflissentliche Beschränkung des Mitarbeiterkreises auf Gelehrte mit bestimmten Parteimeinungenf künstlich zu konservieren. Sie nehmen ihn als gegeben hin und warten seine weitere „Entwicklung“ ab. Wie er sich in Zukunft gestaltet und vielleicht, infolge der unvermeidlichen Erweiterung unseres Mitarbeiterkreises, umgestaltet, das wird zunächst von der Eigenart derjenigen Persönlichkeiten abhängen, die mit der Absicht, wissenschaftlicher Arbeit zu dienen, in diesen Kreis eintreten und in den Spalten der Zeitschrift heimisch werden oder bleiben. Und es wird weiter durch die Erweiterung der Probleme bedingt sein, deren Förderung sich die Zeitschrift zum Ziel setzt. Mit dieser Bemerkung gelangen wir zu der bisher noch nicht erörterten Frage der sachlichen Abgrenzung unseres Arbeitsgebietes. Hierauf kann aber eine Antwort nicht gegeben werden, ohne auch hier die Frage nach der Natur des Zieles sozialwissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt aufzurollen. Wir haben bisher, indem wir „Werturteile“ und „Erfahrungswissen“ prinzipiell schieden,57 vorausgesetzt, daß es eine unbedingt gültige Art der Erkenntnis, d. h. der denkenden Ordnung der empirischen Wirklichkeit[,] auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften tatsächlich gebe. Diese Annahme wird jetzt insofern zum Problem, als wir erörtern müssen, was objektive „Geltung“ der Wahrheit, die wir erstreben, auf unsef A: Parteimeinungen,   57  Vgl. oben, S.  142, Fn.  1.

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rem Gebiet bedeuten kann. Daß das Problem als solches besteht und hier nicht spintisierend geschaffen wird, kann niemandemg entgehen, der den Kampf um Methode, „Grundbegriffe“ und Voraussetzungen, den steten Wechsel der „Gesichtspunkte“ und die stete Neubestimmung der „Begriffe“, die verwendet werden, beobachtet und sieht, wie theoretische und historische Betrachtungsform noch immer durch eine scheinbar unüberbrückbare Kluft getrennt sind: „zwei Nationalökonomien“, wie ein verzweifelnder Wiener Examinand seinerzeit jammernd klagte.58 Was heißt hier Objektivität? Lediglich diese Frage wollen die nachfolgenden Ausführungen erörtern.

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Die Zeitschrift hat von Anfang an die Gegenstände, mit denen sie sich befaßte, als sozial-ökonomische59 behandelt. So | wenig Sinn es nun hätte, hier Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen von Wissenschaften vorzunehmen, so müssen wir uns doch darüber summarisch ins klare setzen, was das bedeutet. Daß unsere physische Existenz ebenso wie die Befriedigung unserer idealsten Bedürfnisse überall auf die quantitative Begrenztheit und qualitative Unzulänglichkeit der dafür benötigten äußeren Mittel stößt, daß es zu ihrer Befriedigung der planvollen Vorsorge und der Arbeit, des Kampfes mit der Natur und der Vergesellschaftung60 mit Menschen bedarf, – das ist, möglichst unprä2)

 Vgl. die Anmerkung zum Titel.61 |

g A: niemanden   58  Als Zitat nicht belegt. Vgl. aber Seager, H. R., Economics at Berlin and Vienna, in: Journal of Political Economy, Band 1, 1893, S.  236–262, der 1891/92 in Berlin und 1892/93 in Wien studierte und unter Berücksichtigung des Methodenstreits über Studiengänge und Lehrkräfte informierte. 59  Möglicherweise hat Weber die Bezeichnung übernommen von Dietzel, Heinrich, Theoretische Sozialökonomik, Band 1: Einleitung. Allgemeiner Theil, Buch I. – Leipzig: C. F. Winter 1895. 60  Der Begriff war seit dem 17. Jahrhundert im Gebrauch. Simmel machte ihn zum Grundbegriff seiner Soziologie. Vgl. Simmel, Georg, Das Problem der Sociologie, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 18. Jg., 1894, S.  1301–1307. 61  Zur Einteilung dieses Artikels vgl. oben, S.  142, Fn.  1.

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zis ausgedrückt, der grundlegende Tatbestand, an den sich alle jene Erscheinungen knüpfen, die wir im weitesten Sinne als „sozialökonomische“ bezeichnen. Die Qualität eines Vorganges als „sozial-ökonomischer“ Erscheinung ist nun nicht etwas, was ihm als solchem „objektiv“ anhaftet. Sie ist vielmehr bedingt durch die Richtung unseres Erkenntnisinteresses, wie sie sich aus der spezifischen Kulturbedeutung ergibt, die wir dem betreffenden Vorgange im einzelnen Fall beilegen. Wo immer ein Vorgang des Kulturlebens in denjenigen Teilen seiner Eigenart, in welchen für uns seine spezifische Bedeutung beruht, direkt oder in noch so vermittelter Weise an jenem Tatbestand verankert ist, da enthält er oder kann er wenigstens, so weit dies der Fall, ein sozialwissenschaftliches Problem enthalten, d. h. eine Aufgabe für eine Disziplin, welche die Aufklärung der Tragweite jenes grundlegenden Tatbestandes zu ihrem Gegenstande macht.62 Wir können nun innerhalb der sozialökonomischen Probleme unterscheiden: Vorgänge und Komplexe von solchen, Normen, Institutionen usw., deren Kulturbedeutung für uns wesentlich in ihrer ökonomischen Seite beruht, die uns – wie z. B. etwa Vorgänge des Börsen- und Banklebens – zunächst wesentlich nur unter die­ sem Gesichtspunkt interessieren. Dies wird regelmäßig (aber nicht etwa ausschließlich) dann der Fall sein, wenn es sich um Institutionen handelt, welche bewußt zu ökonomischen Zwecken geschaffen wurden oder benutzt werden. Solche Objekte unseres Erkennens können wir i. e. S. „wirtschaftliche“ Vorgänge bez[iehungsweise] Institutionen nennen. Dazu treten andere, die – wie z. B. etwa Vorgänge des religiösen Lebens – uns nicht oder doch sicherlich nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer ökonomischen Bedeutung und um dieser willen interessieren, die aber unter Umständen unter diesem Gesichtspunkt Bedeutung gewinnen, weil von ihnen Wirkungen ausgehen, die uns unter ökonomischen Gesichtspunkten interessieren: | „ökonomisch relevante“ Erscheinungen. Und endlich gibt es unter den nicht in unserem Sinne „wirtschaftlichen“ Erscheinungen solche, deren ökonomische Wirkungen für uns von keinem oder doch nicht erheblichem Interesse sind: etwa die Richtung des künstlerischen Geschmacks einer Zeit, – die aber ihrerseits im Einzelfalle in gewissen bedeutsamen Seiten 62  Vgl. unten, S.  166: „konkrete Gegenwartsprobleme“.

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ihrer Eigenart durch ökonomische Motive, also z. B. in unserem Falle etwa durch die Art der sozialen Gliederung des künstlerisch interessierten Publikums[,] mehr oder minder stark mit beeinflußt sind: ökonomisch bedingte Erscheinungen.63 Jener Komplex menschlicher Beziehungen, Normen und normbestimmter Verhältnisse, denh wir „Staat“ nennen, ist beispielsweise bezüglich der staatlichen Finanzwirtschaft eine „wirtschaftliche“ Erscheinung; – insofern er gesetzgeberisch oder sonst auf das Wirtschaftsleben einwirkt (und zwar auch da, wo ganz andere als ökonomische Gesichtspunkte sein Verhalten bewußt bestimmen)[,] ist er „ökonomisch relevant“; – sofern endlich sein Verhalten und seine Eigenart auch in anderen als in seinen „wirtschaftlichen“ Beziehungen durch ökonomische Motive mitbestimmt wird, ist er „ökonomisch bedingt“. Es versteht sich nach dem Gesagten von selbst, daß einerseits der Umkreis der „wirtschaftlichen“ Erscheinungen ein flüssiger und nicht scharf abzugrenzender ist, und daß andererseits natürlich keineswegs etwa die „wirtschaftlichen“ Seiten einer Erscheinung nur „wirtschaftlich bedingt“ oder nur „wirtschaftlich wirksam“ sind, und daß eine Erscheinung überhaupt die Qualität einer „wirtschaftlichen“ nur in soweit und nur so lange behält, als unser Interesse sich der Bedeutung, die sie für den materiellen Kampf ums Dasein64 besitzt, ausschließlich zuwendet. Unsere Zeitschrift nun befaßt sich wie die sozialökonomische Wissenschaft seit Marx und Roscher nicht nur mit „wirtschaftlichen“[,] sondern auch mit „wirtschaftlich relevanten“ und „wirtschaftlich bedingten“ Erscheinungen. Der Umkreis derartiger Objekte erstreckt sich natürlich, – flüssig, wie er je nach der jeweiligen Richtung unseres Interesses ist, – offenbar durch die Gesamtheit aller Kulturvorgänge. Spezifisch ökonomische Motive – d. h. Motive, die in ihrer für uns bedeutsamen Eigenart an jenem grundh A: die   63 Zur „ökonomischen Bedingtheit der Kulturerscheinungen“ vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  131. 64  Die Formulierung geht zurück auf Darwin, Charles, Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn. Nach der zweiten Aufl. mit einer geschichtlichen Vorrede und andern Zusätzen des Verfassers für diese deutsche Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von H. G. Bronn. – Stuttgart: E. Schweizerbart 1860 (hinfort: Darwin, Entstehung), S.  65 ff.

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legenden Tatbestand verankert sind – werden überall da wirksam, wo die Befriedigung eines noch so immateriellen Bedürfnisses an die Verwendung begrenzter äußerer Mittel gebunden ist. Ihre Wucht hat deshalb überall nicht nur die Form der Befriedigung, sondern auch den Inhalt von Kulturbedürfnissen | auch der innerlichsten Art mitbestimmt und umgestaltet. Der indirekte Einflußi der unter dem Drucke „materieller“ Interessen stehenden sozialen Beziehungen, Institutionen und Gruppierungen der Menschenj erstreckt sich (oft unbewußt) auf alle Kulturgebiete ohne Ausnahme, bis in die feinsten Nuancierungen des ästhetischen und religiösen Empfindens hinein. Die Vorgänge des alltäglichen Lebens nicht minder wie die „historischen“ Ereignisse der hohen Politik, Kollektiv- und Massenerscheinungen ebenso wie „singuläre“ Handlungen von Staatsmännern oder individuelle literarische und künstlerische Leistungen sind durch sie mitbeeinflußt, – „ökonomisch bedingt“. Andererseits wirkt die Gesamtheit aller Lebenserscheinungen und Lebensbedingungen einer historisch gegebenen Kultur auf die Gestaltung der materiellen Bedürfnisse, auf die Art ihrer Befriedigung, auf die Bildung der materiellen Interessengruppen und auf die Art ihrer Machtmittel und damit auf die Art des Verlaufes der „ökonomischen Entwicklung“ ein, – wird „ökonomisch relevant“. Soweit unsere Wissenschaft wirtschaftliche Kulturerscheinungen im kausalen Regressus65 individuellen Ursachen – ökonomischen oder nicht ökonomischen Charakters – zurechnet, erstrebt sie „historische“ Erkenntnis. Soweit sie ein spezifisches Element der Kulturerscheinungen: das ökonomische, in seiner Kulturbedeutung durch die verschiedensten Kulturzusammenhänge hindurch verfolgt, erstrebt sie Geschichtsinterpretation unter einem spezifischen Gesichtspunkt und bietet ein Teilbild, eine Vorarbeit für die volle historische Kulturerkenntnis. Wenn nun auch nicht überall, wo ein Hineinspielen ökonomischer Momente als Folge oder Ursache stattfindet, ein sozial-ökonomisches Problem vorliegt – denn ein solches entsteht nur da, wo i A: Einfluß,  j A: Menschen,   65 Weber meint die Zurückführung von Wirkungen auf ihre Ursachen. Vgl. unten, S.  170, wo er von „kausale[r] Zurückführung“ spricht, und Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  263, wo von der „Form des kausalen Regressus (von der Wirkung zur Ursache)“ die Rede ist. Vgl. dazu Einleitung, oben, S.  18 mit Anm.  28.

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die Bedeutung jener Faktoren eben problematisch und nur durch die Anwendung der Methoden der sozial-ökonomischen Wissenschaft sicher feststellbar ist – so ergibt sich doch der schier unübersehbare Umkreis des Arbeitsgebietes der sozial-ökonomischen Betrachtungsweise. Unsere Zeitschrift hat nun schon bisher in wohlerwogener Selbstbeschränkung auf die Pflege einer ganzen Reihe höchst wichtiger Spezialgebiete unserer Disziplin, wie namentlich der deskriptiven Wirtschaftskunde, der Wirtschaftsgeschichte im engeren Sinne und der Statistik, im allgemeinen verzichtet. Ebenso hat sie die Erörterung der finanztechnischen Fragen und die technischökonomischen Probleme der Markt- und Preisbildung in der modernen | Tauschwirtschaft anderen Organen überlassen.66 Ihr Arbeitsgebiet waren gewisse Interessenkonstellationen und Konflikte, welche durch die führende Rolle des Verwertung suchenden Kapitals in der Wirtschaft der modernen Kulturländer67 entstanden sind, in ihrer heutigen Bedeutung und ihrem geschichtlichen Gewordensein. Sie hat sich dabei nicht auf die im engsten Sinne „soziale Frage“ genannten praktischen und entwicklungsgeschichtlichen Probleme: die Beziehungen der modernen Lohnarbeiterklasse zu der bestehenden Gesellschaftsordnung, beschränkt. Freilich mußte die wissenschaftliche Vertiefung des im Laufe der 80er Jahre bei uns sich verbreitenden Interesses gerade an dieser Spezialfragek zunächst eine ihrer wesentlichsten Aufgaben sein.68 Allein je mehr die praktische Behandlung der Arbeiterverhältnisse auch bei uns dauernder Gegenstand der gesetzgebenden Tätigkeit und der öffentlichen Erörterung geworden ist, um so mehr mußte der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit sich auf die Feststellung der universelleren Zusammenhänge, in welche diese Probleme hineingehören, verschieben und damit in die Aufgabe einer Analyse aller, durch die Eigenart der ökonomischen Grundlagen unserer Kultur geschaffenen und insofern spezifisch modernen Kulturk A: Spezialfrage,   66  Mit diesen „anderen Organen“ sind möglicherweise gemeint die „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“ (1863 ff.) und die „Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung“ (1892 ff.). 67  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  132. 68  Vgl. ebd., oben, S.  126 mit Anm.  7.

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probleme ausmünden. Die Zeitschrift hat denn auch schon sehr bald die verschiedensten, teils „ökonomisch relevanten“, teils „ökonomisch bedingten“ Lebensverhältnisse auch der übrigen großen Klassen der modernen Kulturnationen und deren Beziehungen zueinander historisch, statistisch und theoretisch zu behandeln begonnen. Wir ziehen nur die Konsequenzen dieses Verhaltens, wenn wir jetzt als eigenstes Arbeitsgebiet unserer Zeitschrift die wissenschaftliche Erforschung der allgemeinen Kulturbedeutung der sozialökonomischen Struktur des menschlichen Gemeinschafts­ lebens und seiner historischen Organisationsformen bezeichnen. – Dies und nichts anderes meinen wir, wenn wir unsere Zeitschrift „Archiv für Sozialwissenschaft“ genannt haben. Das Wort soll hier die geschichtliche und theoretische69 Beschäftigung mit den gleichen Problemen umfassen, deren praktische Lösung Gegenstand der „Sozialpolitik“ im weitesten Sinne dieses Wortes ist. Wir machen dabei von dem Rechte Gebrauch, den Ausdruck „sozial“ in seiner durch konkrete Gegenwartsprobleme bestimmten Bedeutung zu verwenden.70 Will man solche Disziplinen, welche die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachten, „Kulturwissenschaften“71 nennen, so gehört die Sozial|wissenschaft in unserem Sinne in diese Kategorie

69  Vgl. ebd., S.  130 mit Anm.  21. 70  Vgl. ebd., S.  126. 71 Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), unterscheidet zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. Dieser Unterscheidung liegt ein „materialer Gegensatz der Objekte“ insofern zugrunde, „als sich aus der Gesammtwirklichkeit eine Anzahl von Dingen und Vorgängen heraushebt, die für uns eine besondere Bedeutung besitzen, und in denen wir daher noch etwas anderes sehen als blosse Natur“; an sie haben wir „ganz andere Fragen“ zu stellen, die sich „vor Allem auf die Objekte“ beziehen, die wir „unter dem Namen Kultur zusammenfassen“ (ebd., S.  17). Weil „in allen Kulturvorgängen irgend ein vom Menschen anerkannter Werth verkörpert ist“ (ebd., S.  20), ist „Kultur“ die „Gesammtheit der allgemein gewertheten Objekte“ (ebd., S.  27). Dieser materialen, „auf die besondere Bedeutung der Kulturobjekte gestützten Ein­ theilung in Natur- und Kulturwissenschaften“ (ebd., S.  17) entspricht eine „formale“, weil „derselbe Begriff der Kultur, mit Hülfe dessen wir die beiden Gruppen von Objekten der Wissenschaften gegen einander abgrenzen konnten, zugleich auch das Prinzip der historischen Begriffsbildung bestimmt“ (ebd., S.  44). Es sind „Kulturwerthe“, die dieser Begriffsbildung das „Prinzip der Auswahl“ liefern (ebd., S.  47). Rickert, Grenzen, S.  363 ff., prägt dafür den Begriff „Werthbeziehung“ und stellt klar, daß „der Inhalt der Werthe, welche die historische Begriffsbildung leiten und zugleich bestimmen, was Objekt der Geschichte wird, durchweg dem Kulturleben entnommen ist“ (ebd., S.  309 f.).

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hinein. Wir werden bald sehen,72 welche prinzipiellen Konsequenzen das hat. Unzweifelhaft bedeutet die Heraushebung der sozialökonomi­ schen Seite des Kulturlebens eine sehr fühlbare Begrenzung unserer Themata. Man wird sagen, daß der ökonomische oder, wie man unpräzis gesagt hat, der „materialistische“73 Gesichtspunkt, von dem aus das Kulturleben hier betrachtet wird, „einseitig“ sei. Sicherlich, und diese Einseitigkeit ist beabsichtigt. Der Glaube, es sei die Aufgabe fortschreitender wissenschaftlicher Arbeit, die „Einseitigkeit“74 der ökonomischen Betrachtungsweise dadurch zu heilen, daß sie zu einer allgemeinen Sozialwissenschaft erweitert werde, krankt zunächst an dem Fehler, daß der Gesichtspunkt des „Sozialen“,75 also der Beziehung zwischen Menschen, nur dann irgend welche zur Abgrenzung wissenschaftlicher Probleme ausreichende Bestimmtheit besitzt, wenn er mit irgend einem speziellen inhaltlichen Prädikat versehen ist. Sonst umfaßte er, als Objekt einer Wissenschaft gedacht, natürlich z. B. die Philologie ebensowohl wie die Kirchengeschichte und namentlich alle jene Disziplinen, die mit dem wichtigsten konstitutiven Elemente jedes Kulturlebens: dem Staat, und mit der wichtigsten Form seiner normativen Regelung: dem Recht, sich beschäftigen. Daß die Sozialökonomik sich mit „sozialen“ Beziehungen befaßt[,] ist so wenig ein Grund, sie als notwendigen Vorläufer einer „allgemeinen Sozialwissenschaft“ zu denken, wie etwa der Umstand, daß sie sich mit Lebenserscheinungen befaßt, dazu nötigt, sie als Teil der Biologie, oder der andere, daß sie es mit Vorgängen auf einem Himmelskörper zu tun hat, dazu, sie als Teil einer künftigen vermehrten und verbesserten Astronomie anzusehen. Nicht die „sachlichen“ Zusammenhänge der „Dinge“, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Pro­

72  Unten, S.  174 ff. 73 Vgl. Engels, Anti-Dühring (wie oben, S.  108, Anm.  14), S.  286: Der „materia­listi­ sche[n] Anschauung der Geschichte“ zufolge sind „die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen […] nicht in den Köpfen der Menschen“ zu suchen, sondern „in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche“. 74 Zum Vorwurf der „Einseitigkeit“ des Materialismus vgl. z. B. Schmoller, Gustav, Volkswirtschaft, Volkswirtschaftslehre und -methode, in: HdStW2, Band 7, 1901, S.  543–580 (hinfort: Schmoller, Art. Volkswirtschaft), hier S.  553 f. 75  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  127.

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bleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue „Wissenschaft“. – Es ist nun kein Zufall, daß der Begriff des „Sozialen“, der einen ganz allgemeinen Sinn zu haben scheint, sobald man ihn auf seine Verwendung hin kontrolliert,76 stets eine durchaus besondere, spezifisch gefärbte, wenn auch meist unbestimmte, Bedeutung an sich trägt; das „allgemeine“ beruht bei ihm tatsächlich in nichts anderem als eben in seiner Unbestimmtheit. Er bietet eben, wenn man ihn in seiner „allgemeinen“ Bedeutung nimmt, keinerlei spezifische Gesichts|punkte, unter denen man die Bedeutung bestimmter Kulturelemente beleuchten könnte. Frei von dem veralteten Glauben, daß die Gesamtheit der Kulturerscheinungen sich als Produkt oder als Funktion „materieller“ Interessenkonstellationenl deduzieren lasse, glauben wir unsrerseits doch, daß die Analyse der sozialen Erscheinungen und Kultur­ vorgänge unter dem speziellen Gesichtspunkte ihrer ökonomischen Bedingtheit und Tragweite ein wissenschaftliches Prinzip von schöpferischer Fruchtbarkeit war und, bei umsichtiger Anwendung und Freiheit von dogmatischer Befangenheit, auch in aller absehbarer Zeit noch bleiben wird.77 Die sogenannte „materialistische Geschichtsauffassung“78 als „Weltanschauung“ oder als Generalnenner kausaler Erklärung der historischen Wirklichkeit ist auf das Bestimmteste abzulehnen, – die Pflege der ökonomischen Geschichtsinterpretation ist einer der wesentlichsten Zwecke unserer Zeitschrift. Das bedarf der näheren Erläuterung. Die sogenannte „materialistische Geschichtsauffassung“ in dem alten genial-primitiven Sinne etwa des kommunistischen Manifests79 beherrscht heute wohl nur noch die Köpfe von Laien und Dilettanten. Bei ihnen findet sich allerdings noch immer die eigen-

l A: Interessekonstellationen   76  Vgl. ebd. 77  Vgl. oben, S.  163 mit Anm.  63. 78  Vgl. Engels, Friedrich, Über historischen Materialismus, in: Die neue Zeit, 11. Jg., Band 1, 1893, S.  15–20, 42–51, hier S.  19 f. 79  Vgl. Marx/Engels, Manifest.

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tümliche Erscheinung verbreitet, daß ihrem Kausalbedürfnis80 bei der Erklärung einer historischen Erscheinung so lange nicht Genüge geschehen ist, als nicht irgendwie und irgendwo ökonomische Ursachen als mitspielend nachgewiesen sind (oder zu sein scheinen): ist dies aber der Fall, dann begnügen sie sich wiederum mit der fadenscheinigsten Hypothese und den allgemeinsten Redewendungen, weil nunmehr ihrem dogmatischen Bedürfnis, daß die ökonomischen „Triebkräfte“ die „eigentlichen“, einzig „wahren“, in „letzter Instanz überall Ausschlag gebenden“ seien, Genüge geschehen ist.81 Die Erscheinung ist ja nichts Einzigartiges. Es haben fast alle Wissenschaften, von der Philologie bis zur Biologie, gelegentlich den Anspruch erhoben, Produzenten nicht nur von Fachwissen, sondern auch von „Weltanschauungen“ zu sein. Und unter dem Eindruck der gewaltigen Kulturbedeutung der moder­ nen ökonomischen Umwälzungen und speziell der überragenden Tragweite der „Arbeiterfrage“ glitt der unausrottbare monistische82 Zug jedes gegen sich selbst unkritischen Erkennens naturgemäß auf diesen Weg. Der gleiche Zug kommt jetzt, wo in zunehmender Schärfe der politische und handelspolitische Kampf der Nationen untereinander um die Welt gekämpft wird,83 der Anthro-

80  Die in der Philosophie und den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts verbreiteten Begriffe Kausalbedürfnis bzw. Kausaltrieb bezeichnen ein ursprüngliches Verlangen, die Ursachen von Ereignissen in Erfahrung zu bringen. Vgl. z. B. Sigwart, Logik I (wie oben, S.  5, Anm.  30), S.  408: „Es ist das natürliche Causalitätsbedürfnis gewesen, was die Menschen trieb, die Ursachen der Ereignisse in der Macht von Dämonen oder in der Stellung der Gestirne zu suchen“. Vgl. auch Du Bois-Reymond, Grenzen (wie oben, S.  3, Anm.  16), S.  106, 111, 121; Du-Bois-Reymond, Welträthsel (wie oben, S.  3, Anm.  18), S.  385 f.; Rickert, Grenzen, S.  475; Meyer, Theorie, S.  44. 81  Engels, Anti-Dühring (wie oben, S.  108, Anm.  14), S.  12, vertritt die These, daß „die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesammte Ueberbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen, sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittes in letzter Instanz zu erklären“ ist. 82  Für Rickert, Grenzen, S.  652, ist der Monismus eine Position, „die nur ein Prinzip kennt“. Es handelt sich um eine in der Philosophie und in den Wissenschaften verbreitete Haltung, alles entweder auf eine materialistische Grundlage zurückführen oder aus einer idealistischen Wesenhaftigkeit abzuleiten. Im Anschluß an Charles Darwins Abstammungslehre sollte Ernst Haeckel 1906 den Monistenbund gründen. 83  Vgl. z. B. Schmoller, Gustav, Die Wandlungen der europäischen Handelspolitik im 19. Jahrhundert. Eine Säkularbetrachtung, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Band 24, 1900, S.  373–382.

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pologie zugute: ist doch | der Glaube weit verbreitet, daß „in letzter Linie“ alles historische Geschehen Ausfluß des Spiels angeborener „Rassenqualitäten“ gegeneinander sei.84 An die Stelle der kritiklosen bloßen Beschreibung von „Volkscharakteren“ trat die noch kritiklosere Aufstellung von eigenen „Gesellschaftstheorien“ auf „naturwissenschaftlicher“ Grundlage.85 Wir werden in unserer Zeitschrift die Entwicklung der anthropologischen Forschung, soweit sie für unsere Gesichtspunkte Bedeutung gewinnt, sorgsam verfolgen.86 Es steht zu hoffen, daß der Zustand, in welchem die kausale Zurückführung von Kulturvorgängen auf die „Rasse“ lediglich unser Nichtwissen dokumentierte, – ähnlich wie etwa die Bezugnahme auf das „Milieu“87 oder, früher, auf die „Zeitumstände“,88 – allmählich durch methodisch geschulte Arbeit überwunden wird. Wenn etwas dieser Forschung bisher geschadet hat, so ist es die Vorstellung eifriger Dilettanten, daß sie für die Erkenntnis der Kultur etwas spezifisch Anderes und Erheblicheres leisten könnte, als die Erweiterung der Möglichkeit sicherer Zurechnung89 84 Vgl. den Abschnitt „Biologische und anthropologische Grundlagen der Gesellschaft“ in: Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  345– 362, u. a. mit Bezug (S.  351) auf Ammon, Otto, Die natürliche Auslese beim Menschen. Auf Grund der Ergebnisse der anthropologischen Untersuchungen der Wehrpflichtigen in Baden und anderer Materialien dargestellt. – Jena: Gustav Fischer 1893, sowie (S.  356) auf Seeck, Otto, Geschichte des Untergangs der antiken Welt, Band 1. – Berlin: Siemenroth & Worms 1895, S.  257 ff. 85  Möglicherweise sind hier die Werke von Gumplowicz und Ratzenhofer gemeint. Vgl. z. B. Gumplowicz, Ludwig, Grundriß der Sociologie. – Wien: Manz 1885; Ratzenhofer, Gustav, Die sociologische Erkenntnis. Positive Philosophie des socialen Lebens. – Leipzig: F. A. Brockhaus 1898. 86  Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.  118, und [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  131. 87 Der Begriff „Milieu“ ist die französische Übersetzung des lateinischen Begriffs „medium“, mit dem Isaac Newton u. a. den Äther bezeichnete, der Körper umgibt und Kräfte zwischen ihnen überträgt. Man findet ihn im 19. Jahrhundert in vielen Disziplinen, um den Einfluß der Umwelt auf Lebewesen zu bezeichnen. Vgl. z. B. Taine, Hippolyte, Histoire de la Littérature Anglaise, Band 1, 2., durchgesehene und verbesserte Aufl. – Paris: Hachette 1866, S.  XXIII ff., der „la race, le milieu et le moment“ als „les trois forces primordiales“ bezeichnete. Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  204, hat den Begriff durchaus benutzt. Für Rickert, Grenzen, S.  426, ist er nur ein leeres „Schlagwort“. 88 Vgl. z. B. Herder, Johann Gottfried, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Dritter Theil. – Riga und Leipzig: Johann Friedrich Hartknoch 1790, S.  347, 370 f., der den „Charakter“ der Römer „als Folge ihrer Zeitumstände“ betrachtet und von der „großen Übermacht der Zeitumstände“ spricht. 89  Vgl. unten, S.  184 ff.

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einzelner konkreter Kulturvorgänge der historischen Wirklichkeit zu konkreten historisch gegebenen Ursachen90 durch Gewinnung exakten, unter spezifischen Gesichtspunkten erhobenen Beobachtungsmaterials. Ausschließlich soweit sie uns dies zu bieten vermögen, haben ihre Ergebnisse für uns Interesse und qualifizieren sie die „Rassenbiologie“91 als etwas mehr als ein Produkt des modernen wissenschaftlichen Gründungsfiebers. Nicht anders steht es um die Bedeutung der ökonomischen Interpretation des Geschichtlichen. Wenn nach einer Periode grenzenloser Überschätzung heute beinahe die Gefahr besteht, daß sie in ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit unterwertet werde, so ist das die Folge der beispiellosen Unkritik, mit welcher die ökonomische Deutung der Wirklichkeit als „universelle“ Methode in dem Sinne einer Deduktion aller Kulturerscheinungen – d. h. alles an ihnen für uns Wesentlichen, – als in letzter Instanz ökonomisch bedingt verwendet wurde. Heute ist die logische Form, in der sie auftritt, nicht ganz einheitlich. Wo für die rein ökonomische Erklärung sich Schwierigkeiten ergeben, stehen verschiedene Mittel zur Verfügung, um ihre Allgemeingültigkeit als entscheidendes ursächliches Moment aufrecht zu erhalten. Entweder man behandelt alles das, was in der historischen Wirklichkeit nicht aus ökonomischen Motiven deduzierbar ist, als eben deshalb wissenschaftlich bedeu­ tungslose „Zufälligkeit“.92 Oder man dehnt den Begriff des Ökonomischen bis zur Unkenntlichkeit, so daß alle mensch|lichen Interessen, welche irgend wie an äußere Mittel gebunden sind, in jenen Begriff einbezogen werden. Steht historisch fest, daß auf

90  Zu dieser „historische[n] Kausalität“ vgl. Rickert, Grenzen, S.  412 ff. 91 Seit Januar 1904 erscheint unter der Herausgeberschaft von Alfred Ploetz das „Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie einschließlich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene“, das den Untertitel trägt „Zeitschrift für die Erforschung des Wesens von Rasse und Gesellschaft und ihres gegenseitigen Verhältnisses, für die biologischen Bedingungen ihrer Erhaltung und Entwicklung, sowie für die grundlegenden Probleme der Entwicklungslehre“. Vgl. Ploetz, Alfred, Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und die davon abgeleiteten Disziplinen. Einige Worte der Einführung, in: ebd., Band 1, 1904, S.  2–26. 92  Zum Begriff „Zufall“ vgl. Rickert, Grenzen, S.  323 f., 416 ff. In seiner Kritik an Eduard Meyer referiert Weber auf Windelbands Dissertation „Die Lehren vom Zufall“ und auf die Zufalls-Spiele der Wahrscheinlichkeitstheorie. Vgl. Weber, Kritische Studien, unten, S.  389 ff. Zu der auf Johannes von Kries zurückgehenden Unterscheidung von zufälliger und adäquater Verursachung vgl. unten, S.  186 f. mit Anm.  43.

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zwei in ökonomischer Hinsicht gleiche Situationen dennoch ver­ schieden reagiert wurde, – infolge der Differenzen der politischen und religiösen, klimatischen und der zahllosen anderen nicht ökonomischen Determinanten –, dann degradiert man, um die Suprematie des Ökonomischen zu erhalten, alle diese Momente zu den historisch zufälligen „Bedingungen“, unter denen die ökonomischen Motive als „Ursachen“ wirken. Es versteht sich aber, daß alle jene für die ökonomische Betrachtung „zufälligen“ Momente ganz in demselben Sinne wie die ökonomischen je ihren eigenen Gesetzen folgen, und daß für eine Betrachtungsweise, welche ihre spezifische Bedeutung verfolgt, die jeweiligen ökonomischen „Bedingungen“ ganz in dem gleichen Sinne „historisch zufällig“ sind, wie umgekehrt. Ein beliebter Versuch, demgegenüber die überragende Bedeutung des Ökonomischen zu retten, besteht endlich darin, daß man das konstante Mit- und Aufeinanderwirken der einzelnen Elemente des Kulturlebens in eine kausale oder funktionelle Abhän­ gigkeit des einen von den anderen oder vielmehr aller übrigen von einem: dem ökonomischen, deutet. Wo eine bestimmte einzelne nicht wirtschaftliche Institution historisch auch eine bestimmte „Funktion“93 im Dienste von ökonomischen Klasseninteressen versehen hat, d. h. diesen dienstbar geworden ist, wo z. B. etwa bestimmte religiöse Institutionen als „schwarze Polizei“94 sich verwenden lassen und verwendet werden, wird dann die ganze Institution entweder als für diese Funktion geschaffen oder, – ganz metaphysisch, – als durch eine vom Ökonomischen ausgehende „Entwicklungstendenz“95 geprägt, vorgestellt.

93  Diesen Begriff hat Spencer im Anschluß an die Naturphilosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings in die Sozialwissenschaften eingeführt, wobei er die Gesellschaft in Analogie zu einem Lebewesen als differenzierten Organismus konzipiert, dessen Teile verschiedene, sich wechselseitig ergänzende Funktionen ausüben. Vgl. Spencer, Herbert, The Principles of Sociology. In Three Volumes, Vol. I. – New York: D. Appleton and Company 1897, S.  447 ff. 94  So hat man seit dem 18. Jahrhundert in Preußen protestantische Geistliche bezeichnet, die von der Kanzel Verordnungen des Landesherrn verkündeten und deren Befolgung zusammen mit der Polizei überwachten. 95  Zur Kritik dieses Begriffs vgl. Rickert, Grenzen, S.  526. Weber hat ihn allerdings selbst verwendet. Dasselbe gilt für Sombart. Vgl. Weber, Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, MWG I/4, S.  362–462; Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.  14, Anm.  94), S.  485, 554, 559, 584 f.

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Es bedarf heute für keinen Fachmann mehr der Ausführung, daß diese Deutung des Zweckes der ökonomischen Kulturanalyse der Ausfluß teils einer bestimmten geschichtlichen Konstellation, die das wissenschaftliche Interesse bestimmten ökonomisch bedingten Kulturproblemen zuwendete, teils eines rabiaten wissenschaftlichen Ressortpatriotismus war und daß sie heute mindestens veraltet ist. Die Reduktion auf ökonomische Ursachen allein ist auf kei­ nem Gebiete der Kulturerscheinungen je in irgend einem Sinn erschöpfend, auch nicht auf demjenigen der „wirtschaftlichen“ Vorgänge. Prinzipiell ist eine Bankgeschichte irgend eines Volkes, die nur die ökonomischen Motive zur Erklärung heranziehen wollte, natürlich ganz ebenso unmöglich, wie etwa eine „Erklärung“ der Sixtinischen | Madonna aus den sozial-ökonomischen Grundlagen des Kulturlebens zur Zeit ihrer Entstehung sein würde, und sie ist in keiner Weise prinzipiell erschöpfender[,] als es etwa die Ableitung des Kapitalismus aus gewissen Umgestaltungen religiöser Bewußtseinsinhalte, die bei der Genesis des kapitalistischen Geistes96 mitspielten, oder etwa irgend eines politischen Gebildes aus geographischen Bedingungen sein würden. In allen diesen Fällen ist für das Maß der Bedeutung, die wir ökonomischen Bedingungen beizumessen haben, entscheidend, welcher Klasse von Ursachen diejenigen spezifischen Elemente der betreffenden Erscheinung, denen wir im einzelnen Falle Bedeutung beilegen, auf die es uns ankommt, zuzurechnen sind. Das Recht der einseitigen Analyse der Kulturwirklichkeit unter spezifischen „Gesichtspunkten“ aber, – in unserem Falle dem ihrer ökonomischen Bedingtheit, – ergibt sich zunächst rein methodisch aus dem Umstande, daß die Einschulung des Auges auf die Beobachtung der Wirkung qualitativ gleichartiger Ursachenkategorien und die stete Verwendung des gleichen begrifflich-methodischen Apparates alle Vorteile der Arbeitsteilung bietet. Sie ist so lange nicht „willkürlich“, als der Erfolg für sie spricht, d. h. als sie Erkenntnis von Zusammenhängen liefert, welche für die kausale Zurechnung konkreter historischer Vorgänge sich wertvoll erweistm. Aber: die „Einseitigkeit“ und Unwirklichkeit der rein ökonomischen Interpretation des Geschichtlichen ist überm A: erweisen   96  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  87, Fn.  80 mit Anm.  4.

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haupt nur ein Spezialfall eines ganz allgemein für die wissenschaftliche Erkenntnis der Kulturwirklichkeit geltenden Prinzips. Dies in seinen logischen Grundlagen und in seinen allgemeinen methodischen Konsequenzen uns zu verdeutlichen ist der wesentliche Zweck der weiteren Auseinandersetzungen. Es gibt keine schlechthin „objektive“ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder, – was vielleicht etwas Engeres, für unsern Zweck aber sicher nichts wesentlich anderes bedeutet, – der „sozialen Erscheinungen“ unabhängig von speziellen und „einseitigen“ Gesichtspunkten, nach denen sie – ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt – als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden. Der Grund liegt in der Eigenart des Erkenntnisziels einer jeden sozialwissenschaftlichen Arbeit, die über eine rein formale Betrachtung der Normen – rechtlichen oder konventionellen – des sozialen Beieinanderseins hinausgehen will. | Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklich­ keitswissenschaft.97 Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits.98 Nun bietet uns das Leben, sobald wir uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, „in“ uns

97  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  44 f. mit Anm.  25. Für Rickert, Grenzen, S.  369, ist eine historische Wissenschaft eine „Wirklichkeitswissenschaft, insofern sie es mit einmaligen individuellen Wirklichkeiten als solchen zu thun hat, sie ist Wirklichkeitswissenschaft, insofern sie einen für Alle gültigen Standpunkt der blossen Betrachtung einnimmt und daher nur die durch Beziehung auf einen allgemeinen Werth bedeutungsvollen individuellen Wirklichkeiten oder die historischen In-dividuen zum Objekt der Darstellung macht“. Vgl. sinngemäß bereits Simmel, Geschichtsphilosophie1, S.  43. 98 Möglicherweise Anspielung auf Menger, Untersuchungen, S.  14: „Wir verstehen eine concrete Erscheinung in specifisch historischer Weise (durch ihre Geschichte), indem wir ihren individuellen Werdeprocess erforschen d. i. indem wir uns die concreten Verhältnisse zum Bewusstsein bringen, unter welchen sie geworden, und zwar so, wie sie ist, in ihrer besonderen Eigenart, geworden.“

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und „außer“ uns.99 Und die absolute Unendlichkeit dieser Mannigfaltigkeit bleibt intensiv durchaus ungemindert auch dann bestehen, wenn wir ein einzelnes „Objekt“ – etwa einen konkreten Tauschakt – isoliert ins Auge fassen, – sobald wir nämlich ernstlich versuchen wollen, dies „Einzelne“ erschöpfend in allen seinen individuellen Bestandteilen auch nur zu beschreiben, geschweige denn es in seiner kausalen Bedingtheit zu erfassen.1 Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er „wesentlich“ im Sinne von „wissenswert“ sein solle. Nach welchen Prinzipien aber wird dieser Teil ausgesondert? Immer wieder hat man geglaubt, das entscheidende Merkmal auch in den Kulturwissenschaften in letzter Linie in der „gesetzmäßigen“ Wiederkehr bestimmter ursächlicher Verknüpfungen finden zu können.2 Das, was die „Gesetze“, die wir in dem unübersehbar mannigfaltigen Ablauf der Erscheinungen zu erkennen vermögen, in sich enthalten, muß, – nach dieser Auffassung, – das allein wissenschaftlich „Wesentliche“ in ihnen sein: sobald wir die „Gesetzlichkeit“ einer ursächlichen Verknüpfung, sei es mit den Mitteln umfassender historischer Induktion als ausnahmslos geltend nachgewiesen, sei es für die innere Erfahrung zur unmittelbaren anschaulichen Existenz gebracht haben, ordnet sich ja jeder so gefundenen Formel jede noch so groß gedachte Zahl gleichartiger Fälle unter. Was nach dieser Heraushebung des „Gesetzmäßigen“ jeweils von der individuellen Wirklichkeit unbe99  Zu diesem neukantianischen Wirklichkeitsbegriff vgl. Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  29 f., und Rickert, Grenzen, S.  32 ff. 1  Die Unterscheidung von Beschreibung und kausaler Erklärung hat Kirchhoff, Physik (wie oben, S.  4, Anm.  19), S.  V thematisiert, für den die „Aufgabe der Mechanik“ darin besteht, „die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen zu beschreiben, und zwar vollständig und auf die einfachste Weise“; d. h. es gehe nur darum „anzugeben, wel­ ches die Erscheinungen sind, die stattfinden, nicht aber darum, ihre Ursachen zu ermitteln“. Kirchhoff hat in den Natur- und Geisteswissenschaften Gehör gefunden (Ernst Mach, Wilhelm Dilthey). Rickert, Grenzen, S.  123 ff., beharrt hingegen auf kausaler Erklärung; der Anspruch einer „vollständigen Beschreibung“ scheint ihm wegen der „intensiven und extensiven Unendlichkeit der Dinge“ ohnehin nicht durchführbar. Weber kommt 1909 auf Kirchhoffs „‚einfachste Beschreibung‘ empirischer Tatsachen“ zu sprechen. Vgl. Weber, Rezension von Adolf Weber, Die Aufgaben der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft, MWG I/12, S.  183–200, hier S.  198. 2  Möglicherweise Anspielung auf Lamprecht, Kulturgeschichte.

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griffen verbleibt, gilt entweder als wissenschaftlich noch unverarbeiteter Rückstand, der durch immer weitere Vervollkommnung des „Gesetzes“-Systems in dieses hineinzuarbeiten sei, oder aber es bleibt als „zufällig“ und eben deshalb wissenschaft|lich unwesentlich überhaupt beiseite, eben weil es nicht „gesetzlich begreifbar“ ist, also nicht zum „Typus“ des Vorgangs gehört und daher nur Gegenstand „müßiger Neugier“3 sein kann. Immer wieder taucht demgemäß – selbst bei Vertretern der historischen Schule4 – die Vorstellung auf, das Ideal, dem alle, also auch die Kulturerkenntnis[,] zustrebe und, wenn auch für eine ferne Zukunft, zustreben könne, sei ein System von Lehrsätzen, aus dem die Wirklichkeit „deduziert“ werden könnte. Ein Führer der Naturwissenschaft5 hat bekanntlich geglaubt, als das (faktisch unerreichbare) ideale Ziel einer solchen Verarbeitung der Kulturwirklichkeit eine „astrono­ mische“ Erkenntnis6 der Lebensvorgänge bezeichnen zu können.

3  Diese Formulierung hat Weber möglicherweise von Fichte übernommen. Vgl. Fichte, Johann Gottlieb, Der geschloßne Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik. – Tübingen: J. G. Cotta 1800, S.  275: „Zu reisen hat aus einem geschloßnen Handelsstaate nur der Gelehrte und der höhere Künstler: der müßigen Neugier und Zerstreuungssucht soll es nicht länger erlaubt werden, ihre Langeweile durch alle Länder herumzutragen.“ 4  Gemeint sind Roscher, Knies und Hildebrand als Vertreter der älteren Historischen Schule der Nationalökonomie. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  42. Schmoller gilt als Oberhaupt der jüngeren historischen Schule. Weber hatte sich in seiner Freiburger Antrittsvorlesung als „Jünger“ der historischen Schule bezeichnet. Vgl. Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, MWG I/4, S.  535–574, hier S.  563. 5 Du Bois-Reymond hat man als einen der „Führer und Häupter der Naturwissenschaft“ bezeichnet. Vgl. Ulrici, Hermann, [Rez.] Ueber die Gränzen des Naturerkennens. Ein Vortrag in der zweiten öffentlichen Sitzung der 45. Versammlung der Naturforscher und Aerzte gehalten von Emil du Bois-Reymond. Leipzig, Veit, 1872, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Band 63, 1873, S.  68–79, hier S.  69. 6  In seiner Rede „Die sieben Welträthsel“ verteidigt Du Bois-Reymond sein Konzept „astronomische[r] Kenntniss“. Vgl. Du Bois-Reymond, Welträthsel (wie oben, S.  3, Anm.  18), S.  385 f. Vom Erkenntnisideal des Laplaceschen Dämons ausgehend, formuliert er dieses Konzept in seiner Rede „Ueber die Grenzen des Naturerkennens“ für materielle Systeme, zu denen er noch das Gehirn, aber nicht mehr das Bewußtsein, zählt: „Ich nenne astronomische Kenntniss eines materiellen Systemes solche Kenntniss aller seiner Theile, ihrer gegenseitigen Lage und ihrer Bewegung, dass ihre Lage und Bewegung zu irgend einer vergangenen und zukünftigen Zeit mit derselben Sicherheit berechnet werden kann, wie Lage und Bewegung der Himmelskörper“, wozu man die jeweiligen Gesetze und Anfangsbedingungen kennen muß. Vgl. Du Bois-Reymond, Grenzen (wie oben, S.  3, Anm.  16), S.  120.

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Lassen wir uns, so oft diese Dinge nun auch schon erörtert sind,7 die Mühe nicht verdrießen[,] auch unsererseits hier etwas näher zuzusehen. Zunächst fällt in die Augen, daß diejenige „astronomische“ Erkenntnis[,] an welche dabei gedacht wird, keine Erkenntnis von Gesetzen ist, sondern vielmehr die „Gesetze“, mit denen sie arbeitet, als Voraussetzungen ihrer Arbeit anderen Disziplinen, wie der Mechanik, entnimmt.8 Sie selbst aber interessiert sich für die Frage: welches individuelle Ergebnis die Wirkung jener Gesetze auf eine individuell gestaltete Konstellation erzeugt,9 da diese individuellen Konstellationen für uns Bedeutung haben. Jede individuelle Konstellation, die sie uns „erklärt“ oder voraussagt, ist natürlich kausal nur erklärbar als Folge einer anderen[,] gleich individuellen[,] ihr vorhergehenden, und soweit wir zurückgreifen in den grauen Nebel der fernsten Vergangenheit – stets bleibt die Wirklichkeit, für welche die Gesetze gelten, gleich individuell, gleich wenig aus den Gesetzen deduzierbar.10 Ein kosmischer „Urzustand“, der einen nicht oder weniger individuellen Charakter an sich trüge[,] als die kosmische Wirklichkeit der Gegenwart ist, wäre natürlich ein sinnloser Gedanke: – aber spukt nicht ein Rest ähnlicher Vorstellungen auf unserm Gebiet in jenen bald naturrechtlich erschlossenen, bald durch Beobachtung an „Naturvölkern“ verifizierten Annahmen ökonomisch-sozialer „Urzustände“ ohne histo7  Vgl. z. B. Rickert, Grenzen, S.  445, 508 ff., mit Bezug auf Laplace und Du Bois-Reymond. 8  Laplace, Wahrscheinlichkeiten (wie oben, S.  2, Anm.  8), S.  4, weist auf die „Entdeckungen auf dem Gebiete der Mechanik und Geometrie“ hin, die, verbunden mit der „Entdeckung der allgemeinen Schwere“, den Menschen befähigten, durch „dieselben analytischen Ausdrücke“ die vergangenen und zukünftigen Zustände des Weltsystems zu umfassen. 9  Der Begriff „Konstellation“ entstammt der Astronomie und findet sich in Himmelskarten zur Bezeichnung der Gruppierung von Sternen. Vgl. z. B. Messer, Jacob, SternAtlas für Himmelsbeobachtungen, 2., verbesserte und ergänzte Aufl. – Leipzig und St. Petersburg: K. L. Richter 1902, S.  25, 73, 108, 121, 129, 134. Laplace hat ihn in seiner Darstellung des Weltsystems verwendet. Vgl. Laplace, Pierre-Simon, Exposition du système du monde, 2 tomes. – Paris: l’Imprimerie du Cercle-Social L’an IV de la République Française [1795/96], tome 1, S.  90: „on a partagé le ciel en divers groupes d’étoiles, nommés constellations“; vgl. ebd., S.  88 und tome 2, S.  202 f., 211, 309. In Du Bois-Reymonds Reden taucht der Begriff ebensowenig auf wie in Rickerts „Grenzen“, dafür in Meyer, Theorie, S.  28: „Die Naturwissenschaft kann berechnen und voraussehen, wie die Constellation der Planeten in einem bestimmten Moment sein wird“. 10 Weber folgt hier Windelband, Geschichte, S.  24 ff. Vgl. dazu Einleitung, oben, S.  6 ff. Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  62 f.

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rische „Zufälligkeiten“, – so des „primitiven Agrarkommunismus“,11 der sexuellen „Promiscuität“12 usw., aus denen heraus alsdann durch eine Art von Sündenfall ins Konkrete die individuelle historische Entwicklung entsteht? Ausgangspunkt des sozialwissenschaftlichen Interesses ist nun zweifellos die wirkliche, also individuelle Gestaltung13 des uns umgebenden sozialen Kulturlebens in seinem universellen, aber | deshalb natürlich nicht minder individuell gestalteten Zusammenhange und in seinem Gewordensein aus anderen, selbstverständlich wiederum individuell gearteten, sozialen Kulturzuständen heraus. Offenbar liegt hier der Sachverhalt, den wir eben an der Astronomie als einem (auch von den Logikern14 regelmäßig zum gleichen Behufe herangezogenen) Grenzfalle erläuterten, in spezifisch gesteigertem Maße vor. Während für die Astronomie die Weltkörper nur in ihren quantitativen, exakter Messung zugänglichen Beziehungen für unser Interesse in Betracht kommen, ist die qualitative Färbung der Vorgänge das, worauf es uns in der Sozialwissenschaft ankommt.15 Dazu tritt, daß es sich in den Sozialwissenschaften um die Mitwirkung geistiger Vorgänge handelt, welche nacherlebend zu „verstehen“ natürlich eine Aufgabe spezifisch anderer Art ist, als sie die Formeln der exakten Naturerkenntnis überhaupt lösen können oder wollen.16 Immerhin sind diese Unterschiede nicht an sich derart prinzipielle, wie es auf den ersten Blick scheint. Ohne Qualitäten kommen – von der reinen Mechanik abgesehen – auch die exakten Naturwissenschaften nicht aus;17 wir stoßen ferner auf unserem Spezialgebiet auf die – freilich schiefe – Meinung, daß wenigstens die für unsere Kultur fundamentale 11  Vgl. Laveleye, Emile de, Das Ureigentum. Autorisierte deutsche Ausgabe, hg. und vervollständigt von Karl Bücher. – Leipzig: F. A. Brockhaus 1879, bes. S.  4 f. 12 Vgl. Bachofen, Johann Jakob, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, 2., unveränderte Aufl. – Basel: Benno Schwabe 1897, S.  10 ff., 20 ff. (§  7 und §  8). 13  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  47. 14  Vgl. z. B. Rickert, Grenzen, S.  285, 300, 444 ff., 508. 15 Zur Unterscheidung von „quantitativ“ und „qualitativ“ vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  44 ff. 16  Mit Bezug auf Dilthey konstatiert Rickert, Grenzen, S.  540, daß sich das „nacherlebende Verstehen“ und die „Unterordnung unter ein System allgemeiner Begriffe“ ausschließen. Vgl. auch ebd., S.  388, 477. 17 Zu den „historischen Bestandteilen in den Naturwissenschaften“ vgl. Rickert, Grenzen, S.  264 ff.

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Erscheinung des geldwirtschaftlichen Verkehrs quantifizierbar und eben deshalb „gesetzlich“ erfaßbar sei;18 und endlich hängt es von der engeren oder weiteren Fassung des Begriffs „Gesetz“ ab,19 ob man auch Regelmäßigkeiten, die, weil nicht quantifizierbar, keiner zahlenmäßigen Erfassung zugänglich sind, darunter verstehen will. Was speziell die Mitwirkung „geistiger“ Motive anlangt, so schließt sie jedenfalls die Aufstellung von Regeln20 rationalen Handelns nicht aus, und vor allem ist die Ansicht noch heute nicht ganz verschwunden, daß es eben die Aufgabe der Psychologie sei, eine der Mathematik vergleichbare Rolle für die einzelnen „Geisteswissen­ schaften“ zu spielen,21 indem sie die komplizierten Erscheinungen des Soziallebens auf ihre psychischen Bedingungen und Wirkungen hin zu zergliedern, diese auf möglichst einfache psychische Faktoren zurückzuführen, letztere wieder gattungsmäßig zu klassifizieren und in ihren funktionellen Zusammenhängen zu untersuchen habe. Damit wäre dann, wenn auch keine „Mechanik“, so doch eine Art von „Chemie“ des Soziallebens in seinen psychischen Grundlagen geschaffen. Ob derartige Untersuchungen jemals wertvolle und – was davon verschieden ist – für die Kultur­ wissenschaften brauch|bare Einzelergebnisse liefern würden, können wir hier nicht entscheiden wollen. Für die Frage aber, ob das Ziel sozialökonomischer Erkenntnis in unserem Sinn: Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Kulturbedeutung und ihrem kausalen Zusammenhang durch die Aufsuchung des sich gesetzmäßig Wiederholenden erreicht werden kann, wäre dies ohne allen Belang. Gesetzt den Fall, es gelänge einmal, sei es mittels der Psychologie, 18  Über die Anschauung, „man müsse speciell diejenigen durch Ursachen erklärbaren Regelmässigkeiten als Gesetze bezeichnen, bei welchen es sich im Resultate um messbare und zählbare Quantitäten handele“, vgl. Schmoller, Art. Volkswirtschaft (wie oben, S.  167, Anm.  74), S.  575. 19  In Weber, Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  95, wird zur Klärung des „Begriff[s] des Gesetzes in der Nationalökonomie“ auf Werke von Gustav Rümelin, Gustav Schmoller, Georg Friedrich Knapp, Richmond Mayo-Smith, Friedrich Julius Neumann und Wilhelm Lexis verwiesen. 20  Vgl. Weber, Stammler, unten, S.  530 ff. 21  Für Dilthey, Ideen, S.  1363, soll die beschreibende und zergliedernde Psychologie „die Grundlage der Geisteswissenschaften werden, wie die Mathematik die der Naturwissenschaften ist“. Windelband, Geschichte, S.  23, spricht der „Psychologie“ die Funktion zu, für die Geschichtswissenschaft die „Gesetze des Seelenlebens“ zu formulieren.

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sei es auf anderem Wege, alle jemals beobachteten und weiterhin auch alle in irgend einer Zukunft denkbaren ursächlichen Verknüpfungen von Vorgängen des menschlichen Zusammenlebens auf irgend welche einfache letzte „Faktoren“ hin zu analysieren, und dann in einer ungeheuren Kasuistik von Begriffen und streng gesetzlich geltenden Regeln erschöpfend zu erfassen – was würde das Resultat für die Erkenntnis der geschichtlich gegebenen Kulturwelt, oder auch nur irgend einer Einzelerscheinung daraus, – etwa des Kapitalismus in seinem Gewordensein und seiner Kulturbedeutung, – besagen? Als Erkenntnismittel ebensoviel und ebensowenig wie etwa ein Lexikon der organischen chemischen Verbindungen für die biogenetische Erkenntnis der Tier- und Pflanzenwelt. Im einen Falle wie im andern würde eine sicherlich wichtige und nützliche Vorarbeit geleistet sein. Im einen Fall so wenig wie im andern ließe sich aber aus jenen „Gesetzen“ und „Faktoren“ die Wirklichkeit des Lebens jemals deduzieren – nicht etwa deshalb nicht, weil noch irgend welche höhere und geheimnisvolle „Kräfte“22 („Dominanten“,23 „Entelechien“24 oder wie man sie sonst genannt hat) in den Lebenserscheinungen stecken müßten – das ist eine Frage ganz für sich –[,] sondern schon einfach deswegen, weil es uns für die Erkenntnis der Wirklichkeit auf die Kon­ stellation ankommt, in der sich jene (hypothetischen!) „Faktoren“, zu einer geschichtlich für uns bedeutsamen Kulturerscheinung gruppiert, vorfinden, und weil, wenn wir nun diese individuelle Gruppierung „kausal erklären“ wollen, wir immer auf andere, ganz ebenso individuelle Gruppierungen zurückgreifen müßten, aus

22  Unter dem Einfluß der Naturphilosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings verbreitete sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in den Naturwissenschaften bei Alexander von Humboldt, Johannes Müller, Justus von Liebig u. a. die als Vitalismus bezeichnete Vorstellung von einer nicht an die Gesetze der Physik und Chemie gebundenen „Lebenskraft“. Vgl. Hüfner, Carl Gustav, Ueber die Entwicklung des Begriffs Lebenskraft und seine Stellung zur heutigen Chemie. Academische Antrittsrede. – Tübingen: Fues 1873; Bütschli, Otto, Mechanismus und Vitalismus. – Leipzig: W. Engelmann 1901. Auf den Vitalismus folgte um die Wende zum 20. Jahrhundert der NeoVitalismus von Hans Driesch, Henri Bergson u. a. 23  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  92 f., Fn.  87 mit Anm.  31. 24  Entelechie ist die Eigenschaft, sein Ziel oder seinen Zweck in sich zu haben. Für Aristoteles ist sie die Form, die sich im Stoff verwirklicht. Vgl. Aristoteles, Metaphysik. Uebersetzt von Hermann Bonitz. Aus dem Nachlass hg. von Eduard Wellmann. – Berlin: Georg Reimer 1890, S.  190 (9. Buch, Kap.  8).

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denen wir sie, natürlich unter Benutzung jener (hypothetischen!) „Gesetzes“-Begriffe „erklären“ würden.25 Jene (hypothetischen) „Gesetze“ und „Faktoren“ festzustellen, wäre für uns also jedenfalls nur die erste der mehreren Arbeiten, die zu der von uns erstrebten Erkenntnis führen würden. Die Analyse und ordnende Darstellung der jeweils historisch gegebenen, individuellen Gruppierung jener „Faktoren“ und ihres dadurch bedingten konkreten, in seiner Art bedeut|samen Zusammenwirkens und vor allemn die Verständlichmachung des Grundes und der Art dieser Bedeutsam­ keit, wäre die nächste, zwar unter Verwendung jener Vorarbeit zu lösende, aber ihr gegenüber völlig neue und selbständige Aufgabe. Die Zurückverfolgung der einzelnen, für die Gegenwart bedeutsamen, individuellen Eigentümlichkeiten dieser Gruppierungen in ihrem Gewordensein soweit in die Vergangenheit als möglich und ihre historische Erklärung aus früheren[,] wiederum individuellen Konstellationen wäre die dritte, – die Abschätzung möglicher Zukunftskonstellationen endlich eine denkbare vierte Aufgabe. Für alle diese Zwecke wäre das Vorhandensein klarer Begriffe26 und die Kenntnis jener (hypothetischen) „Gesetze“ offenbar als Erkenntnismittel – aber auch nur als solches – von großem Werte, ja sie wäre zu diesem Zwecke schlechthin unentbehrlich. Aber selbst in dieser Funktion zeigt sich an einem entscheidenden Punkte sofort die Grenze ihrer Tragweite, und mit deren Feststellung gelangen wir zu der entscheidenden Eigenart kulturwissenschaftlicher Betrachtungsweise. Wir haben als „Kulturwissenschaften“ solche Disziplinen bezeichnet, welche die Lebenserscheinungen in ihrer Kulturbedeutung zu erkennen strebten.27 Die Bedeutung der Gestaltung einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeu-

n A: allen   25 Vgl. oben, S.  177. Windelband, Geschichte, S.  23, betont, daß die „idiographischen Wissenschaften auf Schritt und Tritt der allgemeinen Sätze“ bedürfen, „welche sie in völlig korrekter Begründung nur den nomothetischen Disciplinen entlehnen können. Jede Causalerklärung irgend eines geschichtlichen Vorganges setzt allgemeine Vorstellungen vom Verlauf der Dinge überhaupt voraus; und wenn man historische Beweise auf ihre rein logische Form bringen will, so erhalten sie stets als oberste Prämissen Naturgesetze des Geschehens, insbesondere des seelischen Geschehens“. 26  Vgl. [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  133 mit Anm.  31. 27  Oben, S.  166 mit Anm.  71.

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tung kann aber aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie setzt die Beziehung der Kulturerscheinungen auf Wertideen28 voraus. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbe­ griff.29 Die empirische Wirklichkeit ist für uns „Kultur“, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden, und nur diese.30 Ein winziger Teil der jeweils betrachteten individuellen Wirklichkeit wird von unserm durch jene Wertideen bedingten Interesse gefärbt, er allein hat Bedeutung für uns, er hat sie, weil er Beziehungen aufweist, die für uns infolge ihrer Verknüpfung mit Wertideen wichtig sind; nur weil und soweit dies der Fall, ist er in seiner individuellen Eigenart für uns wissenswert. Was aber für uns Bedeutung hat, das ist natürlich durch keine „voraussetzungslose“31 Untersuchung des empirisch Gegebenen zu erschließen, sondern seine Feststellung ist Voraussetzung dafür, daß etwas Gegenstand der Untersuchung wird. Das Bedeutsame koinzidiert natürlich auch als solches mit keinem Gesetze als solchem, und zwar um so weniger, je allgemein|gültiger jenes Gesetz ist. Denn die spezifische Bedeutung, die ein Bestandteil der Wirklichkeit für uns hat, findet sich natürlich gerade nicht in denjenigen seiner Beziehungen, die er mit möglichst vielen anderen teilt.32 Die Beziehung der Wirklichkeit auf Wertideen, die ihr Bedeutung verleihen[,] undo die Heraushebung und Ordnung o A: und,   28  Vgl. oben, S.  152 mit Anm.  40. 29  Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  26 f., spricht vom „Begriff der Kultur als der Gesammtheit der allgemein gewertheten Objekte“. 30  Vgl. oben, S.  166 mit Anm.  71. 31  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  100 mit Anm.  67. 32  Windelband, Geschichte, S.  21, hatte postuliert, „dass sich alles Interesse und Beurteilen, alle Wertbestimmung des Menschen auf das Einzelne und das Einmalige bezieht“, und er hatte zu bedenken gegeben, „wie schnell sich unser Gefühl abstumpft, sobald sich sein Gegenstand vervielfältigt oder als ein Fall unter tausend gleichartigen erweist. ‚Sie ist die erste nicht‘ – heisst es an einer der grausamsten Stellen des Faust. In der Einmaligkeit, der Unvergleichlichkeit des Gegenstandes wurzeln alle unsere Wertgefühle.“ Entsprechend sollte für Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  52, „die „Bedeutung eines Kulturvorganges gerade auf der Eigenart beruhen, die ihn von andern unterscheidet, während das, was ihm mit andern gemeinsam ist, also sein naturwissenschaftliches Wesen, der historischen Kulturwissenschaft unwesentlich sein muss“.

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der dadurch gefärbten Bestandteile des Wirklichen unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung sindp ein gänzlich heterogener und disparater Gesichtspunkt gegenüber der Analyse der Wirklichkeit auf Gesetze und ihrer Ordnung in generellen Begriffen. Beide Arten der denkenden Ordnung des Wirklichen haben keinerlei notwendige logische Beziehungen zueinander. Sie können in einem Einzelfall einmal koinzidieren, aber es ist von den verhängnisvollsten Folgen, wenn dies zufällige Zusammentreffen über ihr prinzipielles Auseinanderfallen täuscht. Es kann die Kulturbedeutung einer Erscheinung, z. B. des geldwirtschaftlichen Tausches, darin bestehen, daß er als Massenerscheinung auftritt, wie dies eine fundamentale Komponente des heutigen Kulturlebens ist. Alsdann ist aber eben die historische Tatsache, daß er diese Rolle spielt, das, was in seiner Kulturbedeutung verständlich zu machen, in seiner historischen Entstehung kausal zu erklären ist. Die Untersuchung des generellen Wesens des Tausches und der Technik des Marktverkehrs ist eine – höchst wichtige und unentbehrliche! – Vorarbeit. Aber nicht nur ist damit die Frage nicht beantwortet, wie denn historisch der Tausch zu seiner heutigen fundamentalen Bedeutung gekommen ist, sondern vor allen Dingen: das, worauf es uns in letzter Linie doch ankommt: die Kulturbedeutung der Geldwirtschaft, um derentwillen wir uns für jene Schilderung der Verkehrstechnik ja allein interessieren, um derentwillen allein es heute eine Wissenschaft gibt, welche sich mit jener Technik befaßt, – sie folgt aus keinem jener „Gesetze“. Die gattungsmäßigen Merkmale des Tausches, Kaufs etc. interessieren den Juristen, – was uns angeht, ist die Aufgabe, eben jene Kulturbedeutung der historischen Tatsache, daß der Tausch heute Massenerscheinung ist, zu analysieren. Wo sie erklärt werden soll, wo wir verstehen wollen, was unsere sozialökonomische Kultur etwa von der des Altertums, in welcher der Tausch ja genau die gleichen gattungsmäßigen Qualitäten aufwies wie heute, unterscheidet, worin also die Bedeutung der „Geldwirtschaft“ liegt, da ragen logische Prinzipien durchaus heterogener Herkunft in die Untersuchung hinein: wir werden jene Begriffe, welche die | Untersuchung der gattungsmäßigen Elemente der ökonomischen Massenerscheinungen uns liefern, zwar, soweit in ihnen bedeutungsvolle Bestandteile unserer Kultur enthalten sind, p A: ist  

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als Darstellungsmittel verwenden: – nicht nur aber ist das Ziel unserer Arbeit durch die noch so genaue Darstellung jener Begriffe und Gesetze nicht erreicht, sondern die Frage, was zum Gegenstand der gattungsmäßigen Begriffsbildung gemacht werden soll, ist gar nicht „voraussetzungslos“, sondern eben im Hinblick auf die Bedeutung entschieden worden, welche bestimmte Bestandteile jener unendlichen Mannigfaltigkeit, die wir „Verkehr“ nennen, für die Kultur besitzen. Wir erstreben eben die Erkenntnis einer histo­ rischen, d. h. einer in ihrer Eigenart bedeutungsvollen, Erscheinung. Und das entscheidende dabei ist: nur durch die Voraussetzung, daß ein endlicher Teil der unendlichen Fülle der Erscheinungen allein bedeutungsvoll sei, wird der Gedanke einer Erkenntnis individuel­ ler Erscheinungen überhaupt logisch sinnvoll. Wir ständen, selbst mit der denkbar umfassendsten Kenntnis aller „Gesetze“ des Geschehens, ratlos vor der Frage: wie ist kausale Erklärung einer individuellen Tatsache überhaupt möglich, – da schon eine Beschrei­ bung selbst des kleinsten Ausschnittes der Wirklichkeit ja niemals erschöpfend denkbar ist?33 Die Zahl und Art der Ursachen, die irgend ein individuelles Ereignis bestimmt haben, ist ja stets unend­ lich,34 und es gibt keinerlei in den Dingen selbst liegendes Merkmal, einen Teil von ihnen[,] als allein in Betracht kommend, auszusondern. Ein Chaos von „Existenzialurteilen“35 über unzählige einzelne Wahrnehmungen wäre das einzige, was der Versuch eines ernstlich „voraussetzungslosen“ Erkennens der Wirklichkeit erzielen würde. Und selbst dieses Ergebnis wäre nur scheinbar möglich, denn die Wirklichkeit jeder einzelnen Wahrnehmung zeigt bei näherem Zusehen ja stets unendlich viele einzelne Bestandteile, die nie erschöpfend in Wahrnehmungsurteilen ausgesprochen werden können. In dieses Chaos bringt nur der Umstand Ordnung, daß in jedem Fall nur ein Teil der individuellen Wirklichkeit für uns Interesse und Bedeutung hat, weil nur er in Beziehung steht zu den Kulturwertideen, mit welchen wir an die Wirklichkeit herantreten. Nur bestimmte Seiten der stets unendlich mannigfaltigen Einzeler33  Vgl. oben, S.  174 f. mit Anm.  99. 34  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  477: „Wollte man […] mit dem Gedanken Ernst machen, dass für jedes historische Faktum alle Ursachen dargestellt werden müssen, von dem seine individuelle Gestaltung abhängt, so würde uns diese Aufgabe wieder in die ganze unübersehbare Mannigfaltigkeit des Weltalls hineinführen“. 35  Rickert, Grenzen, S.  327 ff.

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scheinungen: diejenigen, welchen wir eine allgemeine Kulturbedeu­ tung beimessen – sind daher wissenswert, sie allein sind Gegenstand der kausalen Erklärung. Auch diese kausale Er|klärung selbst weist dann wiederum die gleiche Erscheinung auf: ein erschöpfen­ der kausaler Regressus36 von irgend einer konkreten Erscheinung in ihrer vollen Wirklichkeit37 aus ist nicht nur praktisch unmöglich[,] sondern einfach ein Unding. Nur diejenigen Ursachen, welchen die im Einzelfalle „wesentlichen“ Bestandteile eines Geschehens zuzurechnen sind, greifen wir heraus: die Kausalfrage ist, wo es sich um die Individualität einer Erscheinung handelt, nicht eine Frage nach Gesetzen, sondern nach konkreten kausalen Zusam­ menhängen,38 nicht eine Frage, welcher Formel die Erscheinung als Exemplar unterzuordnen, sondern die Frage, welcher individuellen Konstellation sie als Ergebnis zuzurechnen ist: sie ist Zurechnungs­ frage.39 Wo immer die kausale Erklärung einer „Kulturerscheinung“ – eines „historischen Individuums“,40 wie wir im Anschluß an einen in der Methodologie unserer Disziplin schon gelegentlich gebrauchten und jetzt in der Logik in präziser Formulierung üblich werdenden Ausdruck sagen wollen – in Betracht kommt, da kann die Kenntnis von Gesetzen der Verursachung nicht Zweck, sondern nur Mittel der Untersuchung sein. Sie erleichtert und ermöglicht uns die kausale Zurechnung der in ihrer Individualität kulturbedeutsamen Bestandteile der Erscheinungen zu ihren konkreten Ursachen. Soweit, und nur soweit, als sie dies leistet, ist sie für die Erkenntnis individueller Zusammenhänge wertvoll. Und je „allgemeiner“, d. h. abstrakter, die Gesetze, desto weniger leisten sie für

36  Vgl. oben, S.  164 mit Anm.  65. 37  Zu dieser Formulierung vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  44 mit Anm.  17. 38  Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  107. 39  Der Begriff findet sich in der zeitgenössischen Jurisprudenz. Vgl. z. B. Radbruch, Verursachung, S.  2. Er stammt von Pufendorf, demzufolge „Zurechnung“ (imputatio actualis) besagt, „daß die Würckung einer willkührlichen Action demjenigen, der sie begehet, als eine ihn angehende Sache zugeschrieben werden mag“. Vgl. Pufendorf, Samuel von, Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte. – Franckfurt am Mayn: Friedrich Knochen 1711, S.  110 (Buch I, Cap. V, § III). 40  Für Rickert, Grenzen, S.  368, ist das „historische Individuum“ die „Wirklichkeit“, die „sich durch Beziehung auf einen allgemeinen Werth zu einer einzigartigen und einheitlichen Mannigfaltigkeit für Jeden zusammenschliessen muss, und die dann so, wie sie unter dem Gesichtspunkt dieser bloss theoretischen Betrachtung in wesentliche und unwesentliche Bestandtheile zerfällt, dargestellt werden kann“.

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die Bedürfnisse der kausalen Zurechnung individueller Erscheinungen und damit indirekt für das Verständnis der Bedeutung der Kulturvorgänge. Was folgt nun aus alledem? Natürlich nicht etwa, daß auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften die Erkenntnis des Generellen, die Bildung abstrakter Gattungsbegriffe, die Erkenntnis von Regelmäßigkeiten und der Versuch der Formulierung von „gesetzlichen“ Zusammenhängen keine wissenschaftliche Berechtigung hättenq. Im geraden Gegenteil: wenn die kausale Erkenntnis des Historikers Zurechnung konkreter Erfolge zu konkreten Ursachen ist, so ist eine gültige Zurechnung irgend eines individuellen Erfolges ohne die Verwendung „nomologischer“ Kenntnis – Kenntnis der Regelmäßigkeiten der kausalen Zusammenhänge – überhaupt nicht möglich.41 Ob einem einzelnen individuellen Bestandteil eines Zusammenhanges in der Wirklichkeit in concreto kausale Bedeutung für den Erfolg, um dessen kausale Erklärung es sich handelt, beizumessen ist, kann ja im | Zweifelsfalle nur durch Abschätzung der Einwirkungen, welche wir von ihm und den anderen für die Erklärung mit in Betracht kommenden Bestandteilen des gleichen Komplexes42 generell zu erwarten pflegen: welche „adäquate“ Wirkungen43 der betreffenden ursächlichen Elemente sind, bestimmt werden. Inwieweit der Historiker (im weitesten Sinne des Wortes) mit seiner aus der persönlichen Lebenserfahrung gespeisten und methodisch geschulten Phantasie44 diese Zurechnung sicher vollziehen kann und inwieweit er auf die Hilfe spezieller Wissenschaften angewiesen ist, wel-

q A: hätte   41  Weber referiert hier auf Johannes von Kries. Für Kries, Principien, S.  85 f., ist Wissen entweder „nomologisch“, d. h. Kenntnis von Gesetzen, oder „ontologisch“, d. h. Kenntnis der (Anfangs-)Bedingungen. Vgl. Einleitung, oben, S.  19 f. 42  Für Kries, Möglichkeit, S.  20 [195], kann „nur der ganze Complex von Bedingungen, der einen Erfolg factisch herbeiführte, die Ursache desselben heissen“. 43 Zur Unterscheidung von zufälliger und adäquater Verursachung vgl. Einleitung, oben, S.  23. Die Vorstellung adäquater Verursachung geht zurück auf Spinoza, Baruch de, Die Ethik. Neu übersetzt und mit einem einleitenden Vorwort versehen von Jakob Stern. – Leipzig: Philipp Reclam jun. 1887, S.  151. Vgl. auch mit Bezug auf die Jurisprudenz Radbruch, Verursachung. 44  Die deutsche Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts geht von einer Verwandtschaft von Geschichtsschreibung und schöner Literatur aus, worauf Windel-

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che sie ihm ermöglichen, das hängt vom Einzelfalle ab. Überall aber und so auch auf dem Gebiet komplizierter wirtschaftlicher Vorgänge ist die Sicherheit der Zurechnung um so größer, je gesicherter und umfassender unsere generelle Erkenntnis ist. Daß es sich dabei stets, auch bei allen sog. „wirtschaftlichen Gesetzen“ ohne Ausnahme, nicht um im engeren, exakt naturwissenschaftlichen Sinne „gesetzliche“, sondern um in Regeln ausgedrückte adäquate ursächliche Zusammenhänge, um eine hier nicht näher zu analysierende Anwendung der Kategorie der „objektiven Möglichkeit“45 handelt, tut diesem Satz nicht den mindesten Eintrag. Nur ist eben die Aufstellung solcher Regelmäßigkeiten nicht Ziel, sondern Mittel der Erkenntnis, und ob es Sinn hat, eine aus der Alltagserfahrung bekannte Regelmäßigkeit ursächlicher Verknüpfung als „Gesetz“ in eine Formel zu bringen, ist in jedem einzelnen Fall eine Zweckmäßigkeitsfrage. Für die exakte Naturwissenschaft sind die „Gesetze“ um so wichtiger und wertvoller, je allgemeingültiger sie sind, für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer konkreten Voraussetzung sind die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltsleersten, regelmäßig auch die wertlosesten. Denn je umfassender die Geltung eines Gattungsbegriffes – sein Umfang – ist, desto mehr führt er uns von der Fülle der Wirklichkeit ab, da er ja, um das Gemeinsame möglichst vieler Erscheinungen zu enthalten, möglichst abstrakt, also inhaltsarm sein muß. Die Erkenntnis des Generellen ist uns in den Kulturwissenschaften nie um ihrer selbst willen wertvoll. Was sich uns als Resultat des bisher Gesagten ergibt, ist, daß eine „objektive“ Behandlung der Kulturvorgänge in dem Sinne,

band, Geschichte, S.   16 f., hinweist. Entsprechend kommt der „Phantasie“ bzw. „Einbildungskraft“ eine wichtige Darstellungsfunktion zu. Vgl. Humboldt, Geschichtschreiber, S.  306, 310; Gervinus, Historik, S.  358 f. Für Rickert, Grenzen, S.  384, bedarf eine „Wirklichkeitswissenschaft“ der „Phantasie“, wenn ihre Darstellungen „sowohl in Folge des Materialmangels hinter dem teleologisch Nothwendigen zurück bleiben als auch in Folge des Bedürfnisses nach Anschaulichkeit darüber hinaus gehen müssen“. Zur Bedeutung der Phantasie vgl. den Brief Max Webers an Helene Weber vom 12. April 1902, MWG II/3, S.  828–831, in dem er Rom als „grundhäßliches Nest“ bezeichnet, wo er gleichwohl „lebenslang leben“ könnte: „Die historische Phantasie ist die Hauptsache, wer sie nicht hat, soll dort nicht hingehen. Das ist bei Dir doch ein Verdienst von Gervinus u. der alten Heidelberger Luft.“ (ebd., S.  830 f.). Vgl. auch unten, S.  205. 45  Vgl. Einleitung, oben, S.  19 ff.

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daß als idealer Zweck der wissenschaftlichen Arbeit die Reduktion des Empirischen auf „Gesetze“ zu gelten hätte, sinnlos ist. Sie ist dies nicht etwa, wie oft behauptet worden ist,46 deshalb[,] weil die Kulturvorgänge oder etwa die geistigen Vorgänge „objektiv“ weniger | gesetzlich abliefen, sondern weil 1) Erkenntnis von sozialen Gesetzen keine Erkenntnis des sozial Wirklichen ist, sondern nur eins von den verschiedenen Hilfsmitteln, die unser Denken zu diesem Behufe braucht, und weil 2) keine Erkenntnis von Kulturvorgängen anders denkbar ist, als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat. In welchem Sinn und in welchen Beziehungen dies der Fall ist, enthüllt uns aber kein Gesetz, denn das entscheidet sich nach den Wertideen, unter denen wir die „Kultur“ jeweils im einzelnen Falle betrachten. „Kultur“ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.47 Sie ist es für den Menschen auch dann, wenn er einer konkreten Kultur als Todfeind sich entgegenstellt und „Rückkehr zur Natur“48 verlangt. Denn auch zu dieser Stellungnahme kann er nur gelangen, indem er die konkrete Kultur auf seine Wertideen bezieht und „zu leicht“ befindet.49 Dieser rein logisch-formale Tatbestand ist gemeint, wenn hier von der logisch notwendigen Verankerung aller historischen Individuen an „Wertideen“ gesprochen wird. Transzendentale Voraussetzung jeder Kul­ turwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine „Kultur“ wertvoll finden, sondern daß wir

46  Vgl. z. B. Stieve, Maximilian, S.  41, für den die Annahme notwendiger gesetzlicher Abläufe in der Geschichte „durch die Thatsache der menschlichen Willensthätigkeit ausgeschlossen“ ist. Vgl. auch Rümelin, Gustav, Ueber Gesetze der Geschichte [1878], in: ders., Reden und Aufsätze. Neue Folge. – Freiburg und Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1881, S.  118–146, bes. S.  119 f. 47  Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  17. Für Rickert existiert „Kultur“ insofern, als „sich aus der Gesammtwirklichkeit eine Anzahl von Dingen und Vorgängen heraushebt, die für uns eine besondere Bedeutung besitzen“. 48  Vgl. Feuerbach, Ludwig, Kritik der Hegel’schen Philosophie, in: ders., Sämmtliche Werke, Band 2: Philosophische Kritiken und Grundsätze. – Leipzig: Otto Wigand 1846, S.  185–232, hier S.  231: „Die Rückkehr zur Natur ist allein die Quelle des Heils.“ 49  Das biblische Buch Daniel 5,27: „Tekel, das ist: man hat dich in einer Waage gewogen und zu leicht gefunden.“

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Kulturmenschen50 sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen51 und ihr einen Sinn zu verleihen. Welches immer dieser Sinn sein mag, er wird dazu führen, daß wir im Leben bestimmte Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus beurteilen, zu ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung nehmen. Welches immer der Inhalt dieser Stellungnahme sei, – diese Erscheinungen haben für uns Kulturbedeutung, auf dieser Bedeutung beruht allein ihr wissenschaftliches Interesse. Wenn also hier im Anschluß an den Sprachgebrauch moderner Logiker von der Bedingtheit der Kulturerkenntnis durch Wertideen gesprochen wird,52 so ist das hoffentlich Mißverständnissen so grober Art, wie der Meinung, Kulturbedeu­ tung solle nur wertvollen Erscheinungen zugesprochen werden, nicht ausgesetzt. Eine Kulturerscheinung ist die Prostitution so gut wie die Religion oder das Geld, alle drei deshalb und nur deshalb und nur soweit, als ihre Existenz und die Form, die sie historisch annehmen, unsere Kulturinteressen direkt oder indirekt berühren, als sie unseren | Erkenntnistrieb unter Gesichtspunkten erregen, die hergeleitet sind aus den Wertideen, welche das Stück Wirklichkeit, welches in jenen Begriffen gedacht wird, für uns bedeutsam machen. Alle Erkenntnis der Kulturwirklichkeit ist, wie sich daraus ergibt, stets eine Erkenntnis unter spezifisch besonderten Gesichtspunk­ ten.53 Wenn wir von dem Historiker und Sozialforscher als elementare Voraussetzungen verlangen, daß er Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden könne, und daß er für diese Unterscheidung die

50 Vgl. Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  21, und Rickert, Grenzen, S.  468, 588, 620 f., 725. Vgl. auch Münsterberg, Psychologie, S.  463 f., 474, 479 f., 482. 51  Für Rickert, Grenzen, S.  353 f., ist der „wirkliche Mensch“ ein „stellungnehmender Mensch“. Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  24 ff., 50, über das „stellungnehmende Ich“ und die „stellungnehmende Aktualität“. 52  Weber meint sehr wahrscheinlich Rickerts „Werthbeziehung“, wenngleich Rickert nicht von Wertideen spricht. Vgl. oben, S.  166 mit Anm.  71, und oben, S.  182. 53  In Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  84, und Rickert, Grenzen, S.  356, ist die Rede von „Werthgesichtspunkten“: „Wir werden genau feststellen, worin die blosse Betrachtung unter Werthgesichtspunkten oder das theoretische ‚Beziehen‘ auf Werthe im Gegensatz zum Wollen und zum direkten Werthen besteht.“

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erforderlichen „Gesichtspunkte“ habe,54 so heißt das lediglich, daß er verstehen müsse, die Vorgänge der Wirklichkeit, – bewußt oder unbewußt – auf universelle „Kulturwerte“55 zu beziehen und danach die Zusammenhänge herauszuheben, welche für uns bedeutsam sind. Wenn immer wieder die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem „Stoff selbst entnommen“ werden, so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten,56 der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt.57 In dieser immer und überall bewußt oder unbewußt erfolgenden Auswahl einzelner spezieller „Seiten“ des Geschehens waltet auch dasjenige Element kulturwissenschaftlicher Arbeit, welches jener oft gehörten Behauptung zugrunde liegt, daß das „Persönliche“ eines wissenschaftlichen Werkes das eigentlich Wertvolle an ihm sei, daß sich in jedem Werk, solle es anders zu existieren wert sein, „eine Persönlichkeit“ aussprechen müsse.58 Gewiß: ohne Wertideen des Forschers gäbe es kein Prinzip der Stoffauswahl und keine sinnvolle Erkenntnis des individuell Wirklichen, und wie ohne den

54  Zum Beispiel haben für den Historiker Gervinus „Ideen“ die Funktion solcher Gesichtspunkte: Der „Geschichtschreiber“ gruppiert „aus der Fülle der Thatsachen das, was jene Ideen und ihren Verlauf anschaulich zu machen dient, was aus diesem Gesichtspuncte als charakteristisch, als wichtig erscheint“. Vgl. Gervinus, Historik, S.  385. 55  Tatsächlich kann für Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  62, vom „universalhistorischen Standpunkt“ aus von „empirisch allgemeinen und überall anerkannten Werthen doch nicht mehr die Rede sein“. 56  Für Gervinus, Historik, S.  385, „trägt“ der Geschichtschreiber die „Idee“ „nicht […] in seinen Stoff hinein, sondern indem er sich unbefangen in die Natur seines Gegenstandes verliert, ihn mit rein historischem Sinne betrachtet, geht sie aus diesem selbst hervor und trägt sich in seinen betrachtenden Geist über“. Für Gottl, Herrschaft, S.  136, „entspringen“ die Gesichtspunkte „aus dem Stoffe selber“. 57 Tatsächlich werden auch für Rickert die Kulturwerte jenem Stoff selbst entnommen. Vgl. Rickert, Grenzen, S.  309 f.: „Die Objekte, mit denen es die Geschichtswissenschaften zu thun haben, sind […] unter den Begriff der Kultur zu bringen, weil der Inhalt der Werthe, welche die historische Begriffsbildung leiten und zugleich bestimmen, was Objekt der Geschichte wird, durchweg dem Kulturleben entnommen ist.“ Vgl. oben, S.  166 mit Anm.  71. 58  So meint z. B. Meyer, Geschichte I, S.  19, daß sich in historischen Werken „die Zeit des Historikers und seine eigene Individualität“ widerspiegeln müsse, sonst wären sie nicht mehr als eine „trockne Aneinanderreihung von Begebenheiten“.

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Glauben59 des Forschers an die Bedeutung irgendwelcher Kulturinhalte jede Arbeit an der Erkenntnis der individuellen Wirklichkeit schlechthin sinnlos ist, so wird die Richtung seines persönlichen Glaubens, die Farbenbrechung der Werte im Spiegel seiner Seele,60 seiner Arbeit die Richtung weisen. Und die Werte, auf welche der wissenschaftliche Genius die Objekte seiner Forschung bezieht, werden die „Auffassung“ einer ganzen Epoche zu bestimmen, d. h. entscheidend zu sein vermögen nicht nur für das, was als „wertvoll“, sondern auch für das, was als bedeutsam oder bedeutungslos, als „wichtig“ und „unwichtig“ an den Erscheinungen gilt. Die kulturwissenschaftliche Erkenntnis in unserem Sinn ist also insofern an „subjektive“ Voraussetzungen gebunden, als sie sich | nur um diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit kümmert, welche irgend eine – noch so indirekte – Beziehung zu Vorgängen haben, denen wir Kulturbedeutung beilegen. Sie ist trotzdem natürlich rein kausale Erkenntnis genau in dem gleichen Sinn wie die Erkenntnis bedeutsamer individueller Naturvorgänge, welche qualitativen Charakter haben.61 Neben die mancherlei Verirrungen, welche das Hinübergreifen formal-juristischen Denkens in die Sphäre der Kulturwissenschaften gezeitigt hat, ist neuerdings u. a. der Versuch getreten, die „materialistische Geschichtsauffassung“ durch eine Reihe geistreicher Trugschlüsse prinzipiell zu „widerlegen“,62 indem ausgeführt wurde, daß, da alles Wirtschaftsleben sich in rechtlich oder konventionell geregelten Formen abspielen müsse, alle ökonomische „Entwicklung“ die Form von Bestrebungen zur Schaffung neuer Rechtsformen annehmen müsse, also nur aus sitt­ lichen Maximen verständlich und aus diesem Grunde von jeder

59  Vgl. oben, S.  150; unten, S.  232 mit Anm.  80. 60  Die Formulierung „Farbenbrechung der Seele“ findet sich in Meyer, Conrad Ferdinand, Angela Borgia. Novelle, 2.  Aufl. – Leipzig: H. Haeffel 1891, S.  101. 61  Für Julius Robert Mayer haben „Auslösungen“ wie z. B. ein Funke bei einer Explosion einen qualitativen Charakter, der nicht quantifizierbar ist und folglich auch nicht in eine Kausalgleichung eingeht. Vgl. Einleitung, oben, S.  18 f. Auf Auslösungen kommt Weber in seiner Kritik an Knies kurz nach seinem Hinweis auf den Einbruch des Dollart als einem individuellen Naturvorgang zu sprechen. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  260 mit Anm.  72, und S.  265 mit Anm.  90. Weber, Soziologische Grundbe­ griffe, MWG I/23, S.  153, wird dann formulieren: „Der Einbruch des Dollart Anfang des 12. Jahrhunderts hat (vielleicht!) ‚historische‘ Bedeutung als Auslösung gewisser Umsiedelungsvorgänge von beträchtlicher geschichtlicher Tragweite.“ 62  Möglicherweise bezieht sich Weber auf Stammler, Wirtschaft1.

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„natürlichen“ Entwicklung dem Wesen nach verschieden sei. Die Erkenntnis der wirtschaftlichen Entwicklung sei daher „teleologischen“ Charakters. Ohne hier die Bedeutung des vieldeutigeren Begriffs der „Entwicklung“63 für die Sozialwissenschaft oder auch den logisch nicht minder vieldeutigen Begriff des „Teleologischen“64 erörtern zu wollen, sei demgegenüber hier nur festgestellt, daß sie jedenfalls nicht in dem Sinn „teleologisch“ zu sein genötigt ist, wie diese Ansicht voraussetzt. Bei völliger formaler Identität der geltenden Rechtsnormen kann die Kulturbedeutung der normierten Rechtsverhältnisse und damit auch der Normen selbst sich grundstürzend ändern. Ja, will man sich denn einmal in Zukunftsphantasien spintisierend vertiefen, so könnte jemand sich z. B. eine „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“65 theoretisch als vollzogen denken, ohne daß irgend eine auf diesen Erfolg bewußt abzielende „Bestrebung“ entstanden wäre und ohne daß irgend ein Paragraph unserer Gesetzgebung verschwände oder neu hinzuträte: das statistische Vorkommen der einzelnen rechtlich normierten Beziehungen freilich wäre von Grund aus geändert, bei vielen auf Null gesunken, ein großer Teil der Rechtsnormen praktisch bedeutungslos, ihre ganze Kulturbedeutung bis zur Unkenntlichkeit verändert. Erörterungen de lege ferenda66 konnte daher die „materialistische“ Geschichtstheorie mit Recht ausscheiden, denn ihr zentraler Gesichtspunkt war gerade der unvermeidliche Bedeu­ tungswandel der Rechtsinstitutionen. Wem die schlichte Arbeit kausalen Verständnisses der historischen Wirklichkeit subaltern erscheint, der mag sie meiden, – sie durch | irgend eine „Teleologie“ zu ersetzen ist unmöglich. „Zweck“ ist für unsere Betrachtung die Vorstellung eines Erfolges, welche Ursache einer Handlung wird; wie jede Ursache, welche zu einem bedeutungsvollen Erfolg

63  Rickert, Grenzen, S.  436 ff., bes. S.  472 f., unterscheidet sieben Begriffe von Entwicklung, die von der bloßen Veränderung bis hin zur Teleologie der Geschichtsphilosophie reichen. 64  Vgl. Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  49 f., 53 ff.; Rickert, Grenzen, S.  307 f., 371 ff., 436 ff. Für Rickert, ebd., S.  50, ist „das methodische Prinzip der Auswahl in der Geschichte von einer Werth- oder Zwecksetzung abhängig“, daher ist die Begriffsbildung eine „teleologische“. 65  Vgl. z. B. Engels, Friedrich, Internationales aus dem Volksstaat (1871–75). – Berlin: Verlag der Expedition des „Vorwärts“ Berliner Volksblatt 1894, S.  6. 66  Lat.: von einem zu erlassenden Gesetz aus, vom künftigen Recht.

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beiträgt oder beitragen kann, so berücksichtigen wir auch diese. Und ihre spezifische Bedeutung beruht nur darauf, daß wir menschliches Handeln nicht nur konstatieren, sondern verstehen können und wollen. – Ohne alle Frage sind nun jene Wertideen „subjektiv“. Zwischen dem „historischen“ Interesse an einer Familienchronik und demjenigen an der Entwicklung der denkbar größten Kulturerscheinungen, welche einer Nation oder der Menschheit in langen Epochen gemeinsam waren und sind, besteht eine unendliche Stufenleiter der „Bedeutungen“, deren Staffeln für jeden einzelnen von uns eine andere Reihenfolge haben werden. Und ebenso sind sie natürlich historisch wandelbar mit dem Charakter der Kultur und der die Menschen beherrschenden Gedanken selbst. Daraus folgt nun aber selbstverständlich nicht, daß auch die kulturwissenschaftliche Forschung nur Ergebnisse haben könne, die „subjektiv“ in dem Sinne seien, daß sie für den einen gelten und für den andern nicht. Was wechselt[,] ist vielmehr der Grad, in dem sie den einen interes­ sieren und den andern nicht. Mit anderen Worten: was Gegenstand der Untersuchung wird, und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen; – im Wie?, inr der Methode der Forschung[,] ist der leitende „Gesichtspunkt“ zwar – wie wir noch sehen werden67 – für die Bildung der begrifflichen Hilfsmittel, die er verwendet, bestimmend, in der Art ihrer Verwendung aber ist der Forscher selbstverständlich hier wie überall an die Normen unseres Denkens gebunden. Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen. Aber allerdings folgt daraus eins: Die Sinnlosigkeit des selbst die Historiker unseres Faches gelegentlich beherrschenden Gedankens, daß es das, wenn auch noch so ferne, Ziel der Kulturwissenschaften sein könne, ein geschlossenes System von Begriffen zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgend einem Sinne end­ gültigen Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden könnte.68 Endlos wälzt sich der Strom des r A: In   67  Unten, S.  203–204. 68  Vgl. oben, S.  177 mit Anm.  10.

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unermeßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen.69 Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die | Menschen bewegen, flüssig bleibt damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält, „historisches Individuum“70 wird. Es wechseln die Gedankenzusammenhänge, unter denen es betrachtet und wissenschaftlich erfaßt wird. Die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften bleiben damit wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein, solange nicht chinesische Erstarrung71 des Geisteslebens die Menschheit entwöhnt, neue Fragen an das immer gleich unerschöpfliche Leben zu stellen. Ein System der Kulturwissenschaften auch nur in dem Sinne einer definitiven, objektiv gültigen, systematisierenden Fixierung der Fragen und Gebiete, von denen sie zu handeln berufen sein sollen, wäre ein Unsinn in sich: stets kann bei einem solchen Versuch nur eine Aneinanderreihung von mehreren, spezifisch besonderten, untereinander vielfach heterogenen und disparaten Gesichtspunkten herauskommen, unter denen die Wirklichkeit für uns jeweils „Kultur“, d. h. in ihrer Eigenart bedeutungsvoll war oder ist. – Nach diesen langwierigen Auseinandersetzungen können wir uns nun endlich der Frage zuwenden, die uns bei der Betrachtung der „Objektivität“ der Kulturerkenntnis methodisch interessiert: welches ist die logische Funktion und Struktur der Begriffe, mit der unsere, wie jede, Wissenschaft arbeitet, oder spezieller mit Rücksicht auf das entscheidende Problem gewendet: welches ist die Bedeutung der Theorie und der theoretischen Begriffsbildung für die Erkenntnis der Kulturwirklichkeit?

69  Für Dilthey, Einleitung, S.  45, fließt der „Strom des Geschehens“ in der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit „unaufhaltsam voran, während die einzelnen Individuen, aus denen er besteht, auf dem Schauplatz des Lebens erscheinen und von ihm wieder abtreten“. 70  Vgl. oben, S.  185 mit Anm.  40. 71  In einer Rezension von Alexis de Tocquevilles Werk über die Demokratie in Amerika sprach Mill von „Chinese stationariness“. Vgl. Mill, John Stuart, M. de Tocqueville on Democracy in America, in: ders., Dissertations and Discussions. Political, Philosophical, and Historical. Reprinted chiefly from the Edinburgh and Westminster Review, Vol.  2. – London: John W. Parker and Son 1859, S.  1–83, hier S.  56. In Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Protestantismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, MWG I/9, S.  222–425, hier S.  423, findet sich die Formulierung „‚chinesische‘ Versteinerung“.

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Die Nationalökonomie war, – wir sahen es schon72 – ursprünglich wenigstens dem Schwerpunkt ihrer Erörterungen nach[,] „Technik“, d. h. sie betrachtete die Erscheinungen der Wirklichkeit von einem, wenigstens scheinbar, eindeutigen, feststehenden praktischen Wertgesichtspunkt aus: dem der Vermehrung des „Reichtums“ der Staatsangehörigen.73 Sie war andererseits von Anfang an nicht nur „Technik“, denn sie wurde eingegliedert in die mächtige Einheit der naturrechtlichen und rationalistischen Weltanschauung des achtzehnten Jahrhunderts. Aber die Eigenart jener Weltanschauung mit ihrem optimistischen Glauben an die theoretische und praktische Rationalisierbarkeit des Wirklichen wirkte wesentlich insofern, als sie hinderte, daß der problematische Charakter jenes als selbstverständlich vorausgesetzten Gesichtspunktes entdeckt wurde. Wie die rationale Betrachtung der sozialen Wirklichkeit im engen Zusammenhalt mit der modernen Entwicklung | der Naturwissenschaft entstanden war, so blieb sie in der ganzen Art ihrer Betrachtung ihr verwandt. In den naturwissenschaftlichen Disziplinen nun war der praktische Wertgesichtspunkt des unmittelbar technisch Nützlichen von Anfang an mit der als Erbteil der Antike überkommenen und weiter entwickelten Hoffnung eng verbunden, auf dem Wege der generalisierenden Abstraktion74 und der Analyse des Empirischen auf gesetzliche Zusammenhänge hin zu einer rein „objektiven“, d. h. hier: von allen Werten losgelösten, und zugleich durchaus rationalen, d. h. von allen individuellen „Zufälligkeiten“ befreiten monistischen Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit in Gestalt eines Begriffssystems von metaphysischer Geltung und von mathematischer Form zu gelangen. Die an Wertgesichtspunkte geketteten naturwissenschaftlichen Disziplinen, wie die klinische Medizin und noch mehr die gewöhnlich sogenannte „Technologie“, wurden rein praktische „Kunstlehren“. Die Werte, denen sie zu dienen hatten: Gesundheit des Patienten, technische Vervollkommnung eines konkreten Produktionsprozesses etc.[,] standen für jede von ihnen jeweils fest. Die Mittel, die sie anwendeten, waren und konnten nur sein die Verwertung der durch die

72  Oben, S.  145. 73  Das kommt zum Ausdruck im Titel von Smith, Inquiry (wie oben, S.  88, Anm.  8). 74  Vgl. Einleitung, oben, S.  16 f.

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theoretischen Disziplinen gefundenen Gesetzesbegriffe. Jeder prinzipielle Fortschritt in der Bildung dieser war oder konnte doch sein auch ein Fortschritt der praktischen Disziplin. Bei feststehendem Zweck war ja die fortschreitende Reduktion der einzelnen praktischen Fragen (eines Krankheitsfalles, eines technischen Problems) als Spezialfall auf generell geltende Gesetze, also die Erweiterung des theoretischen Erkennens, unmittelbar mit der Ausweitung der technisch-praktischen Möglichkeiten verknüpft und identisch. Als dann die moderne Biologie auch diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, die uns historisch, d. h. in der Art ihres So-und-nicht-andersgeworden-seins interessieren, unter den Begriff eines allgemeingültigen Entwicklungsprinzips gebracht hatte,75 welches wenigstens dem Anschein nach – aber freilich nicht in Wahrheit – alles an jenen Objekten Wesentliche in ein Schema generell geltender Gesetze einzuordnen gestattete, da schien die Götterdämmerung76 aller Wertgesichtspunkte in allen Wissenschaften heraufzuziehen. Denn da ja doch auch das sogenannte historische Geschehen ein Teil der gesamten Wirklichkeit war, und da das Kausalprinzip,77 die Voraussetzung aller wissenschaftlichen Arbeit, die Auflösung alles Geschehens in generell geltende „Gesetze“ zu fordern schien, da endlich der ungeheure Erfolg der Naturwissenschaften, die mit diesem | Gedanken ernst gemacht hatten, zutage lag, so schien ein anderer Sinn des wissenschaftlichen Arbeitens als die Auffindung der Gesetze des Geschehens überhaupt nicht vorstellbar. Nur das „Gesetzmäßige“ konnte das wissenschaftlich Wesentliche an den Erscheinungen sein, „individuelle“ Vorgänge nur als „Typen“, d. h. hier: als illustrative Repräsentanten der Gesetze[,] in Betracht kommen; ein Interesse an ihnen um ihrer selbst willen schien „kein wissenschaftliches“ Interesse. Die mächtigen Rückwirkungen dieser glaubensfrohen Stimmung des naturalistischen Monismus auf die ökonomischen Disziplinen hier zu verfolgen, ist unmöglich. Als die sozialistische Kritik

75 Vgl. Darwin, Entstehung (wie oben, S.   163, Anm.   64). Vgl. Rickert, Grenzen, S.  281 ff., zum „historischen Charakter der Biologie“. 76 Bei Nietzsche ist von einer „Götterdämmerung der alten Moral“ die Rede. Vgl. Nietzsche, Friedrich, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, 2.  Aufl. – Leipzig: C. G. Naumann 1892, S.  11. 77  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  52 f. mit Anm.  59.

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und die Arbeit der Historiker die ursprünglichen Wertgesichtspunkte in Probleme zu verwandeln begannen, hielt die mächtige Entwicklung der biologischen Forschung auf der einen Seite, der Einfluß des Hegel’schen Panlogismus78 auf der anderen Seite die Nationalökonomie davon ab, das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit in vollem Umfang deutlich zu erkennen. Das Resultat, soweit es uns hier interessiert, ist, daß trotz des gewaltigen Dammes, welchen die deutsche idealistische Philosophie seit Fichte, die Leistungen der deutschen historischen Rechtsschule79 und die Arbeit der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie,80 dem Eindringen naturalistischer Dogmen entgegenbaute, dennoch und zum Teil infolge dieser Arbeit an entscheidenden Stellen die Gesichtspunkte des Naturalismus noch immer unüberwunden sind. Dahin gehört insbesondere das noch immer problematisch gebliebene Verhältnis zwischen „theoretischer“ und „historischer“ Arbeit in unserem Fache.81 In unvermittelter und anscheinend unüberbrückbarer Schroffheit steht noch heute die „abstrakt“-theoretische Methode der empirisch-historischen Forschung gegenüber.82 Sie erkennt durchaus richtig die methodische Unmöglichkeit, durch Formulierung von „Gesetzen“ die geschichtliche Erkenntnis der Wirklichkeit zu ersetzen oder umgekehrt durch bloßes Aneinanderreihen historischer Beobachtungen zu „Gesetzen“ im strengen Sinne zu gelan78  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  70 mit Anm.  24. 79  Vgl. ebd., S.  52 f. 80  Vgl. ebd., S.  42. 81  Vgl. oben, S.  161. 82  Mit „abstrakt“-theoretischer Methode ist die Tradition der klassischen Nationalökonomie gemeint, in der Carl Menger stand. Wie David Ricardo löst Menger die doppelte Einheit von Theorie und Empirie (Geschichte) sowie Theorie und Praxis (Politik) auf. Menger, Untersuchungen, S.  8 f., verweist die Praxis an die „praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft“, d. h. an die „Volkswirthschaftspolitik“ und „Finanzwis­ senschaft“, die er als „Kunstlehren“ bezeichnet (ebd., S.  7), während er die Empirie an die „historischen Wissenschaften“ der Volkswirtschaft, d. h. an die „Geschichte“ und „Statistik“ (ebd., S.  8 f.), sowie an die „realistisch-empirische Richtung“ der theoretischen Nationalökonomie delegiert (ebd., S.  34), deren andere, „exacte“ Richtung dafür „von der vollen empirischen Wirklichkeit abstrahirt“, um „exakte Gesetze“ zu formulieren (ebd., S.  38, 44). Dazu hat sie die „Phänomene auf ihre einfachsten Elemente zurück zu führen und den Process zu erforschen, durch welchen die ersteren sich aus den letzteren gesetzmässig aufbauen“ (ebd., S.  52). Menger bezeichnete seine Methode nicht nur als „exakt“, sondern auch als „analytisch-synthetisch“ und „analytischcompositiv“. Vgl. Einleitung, oben, S.  15 f.

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gen.83 Um nun solche zu gewinnen, – denn daß dies die Wissenschaft als höchstes Ziel zu erstreben habe, steht ihr fest –,84 geht sie von der Tatsache aus, daß wir die Zusammenhänge menschlichen Handelns beständig selbst in ihrer Realität unmittelbar erleben, daher – so meint sie – ihren Ablauf mit axiomatischer Evidenz direkt verständlich85 machen und so in seinen „Gesetzen“ erschließen können. Die einzig exakte Form der Erkenntnis, die Formu-| lierung unmittelbar anschaulich evidenter Gesetze,86 sei abers zugleich die einzige, welche den Schluß auf die nicht unmittelbar beobachteten Vorgänge zulasse,87 daher sei mindestens für die fundamentalen Phänomene des wirtschaftlichen Lebens88 die Aufstels A: aber,   83  Vgl. Menger, Untersuchungen, S.  13, 28 f. Für Menger sind die „historische“ und die „theoretische Nationalökonomie“ gleichberechtigt. Jene erforscht das „individuelle Wesen und den individuellen Zusammenhang“ volkswirtschaftlicher Erscheinungen, diese das „generelle Wesen und den generellen Zusammenhang (die Gesetze)“ solcher Erscheinungen (ebd., S.  8 f.). Menger sieht das generelle Wesen in den „Erscheinungsformen“, die er „Typen“ nennt (z. B. Preis, Angebot), den generellen Zusammenhang als „typische Relationen“ von „Typen“ (z. B. das Sinken des Preises durch Vermehrung des Angebots) (ebd., S.  4 f.). Die „empirisch-realistische“ Richtung der theoretischen Nationalökonomie gelangt nur zu „Realtypen“, d. h. zu „Grundformen der realen Erscheinungen“ mit einem „Spielraum für Besonderheiten“, und zu „empirische[n] Gesetze[n]“, d. h. zu „theoretische[n] Erkenntnisse[n]“,welche die „factischen (indess keineswegs verbürgt ausnahmslosen) Regelmässigkeiten in der Aufeinanderfolge und in der Coexistenz der realen Phänomene“ darstellen (ebd., S.  34, 36). 84  Vgl. ebd., S.  38. 85  Menger, ebd., S.  14, unterscheidet „Erkenntniss“ und „Verständniss“: „Wir haben eine Erscheinung erkannt, wenn das geistige Abbild derselben zu unserem Bewusstsein gelangt ist, wir verstehen dagegen dieselbe, wenn wir den Grund ihrer Existenz und ihrer eigenthümlichen Beschaffenheit (den Grund ihres Seins und ihres So-Seins) erkannt haben.“ In diesem Sinne „verstehen“ wir „eine concrete Erscheinung in specifisch historischer Weise (durch ihre Geschichte), indem wir ihren individuellen Werdeprocess erforschen“ (ebd., S.  14); wir „verstehen“ sie „in theoretischer Weise“, indem wir sie „als einen speciellen Fall einer gewissen Regelmässigkeit (Gesetzmässigkeit) in der Aufeinanderfolge, oder in der Coexistenz der Erscheinungen erkennen“ (ebd., S.  17). 86  Für Menger, ebd., S.  40 ff., besteht die einzig exakte Form der Erkenntnis in der Formulierung exakter Typen und exakter Gesetze. 87  Für Menger, ebd., S.  50, ist „eine über die unmittelbare Erfahrung hinausreichende Erkenntniss […] sowohl durch die Ergebnisse der exacten, als auch durch jene der realistischen Richtung der theoretischen Forschung“ möglich. 88 Für Menger, ebd., S.  45, sind die „ursprünglichsten Factoren der menschlichen Wirthschaft“ einerseits die „den Menschen unmittelbar von der Natur dargebotenen Güter“, andererseits die „Bedürfnisse“ der Menschen und ihr „Streben nach möglichst

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lung eines Systems von abstrakten und – infolgedessen – rein formalen Lehrsätzen nach Analogie derjenigen der exakten Naturwissenschaften89 das einzige Mittel geistiger Beherrschung90 der gesellschaftlichen Mannigfaltigkeit. Trotz der prinzipiellen methodischen Scheidung gesetzlicher und historischer Erkenntnis, welche der Schöpfer der Theorie als Erster und Einziger vollzogen hatte,91 wird nun aber für die Lehrsätze der abstrakten Theorie von ihm empirische Geltung im Sinne der Deduzierbarkeit der Wirklichkeit aus den „Gesetzen“92 in Anspruch genommen. Zwar nicht im Sinne der empirischen Geltung der abstrakten ökonomischen Lehrsätze für sich allein, sondern in der Art, daß, wenn man entsprechende „exakte“ Theorien von allen übrigen in Betracht kommenden Faktoren gebildet haben werde, diese sämtlichen abstrakten Theorien zusammen dann die wahre Realität der Dinge – d. h.: das, was von der Wirklichkeit wissenswert sei – in sich enthalten müßten.93 Die exakte ökonomische Theorie stelle die Wirkung eines psychischen Motivs fest,94 andere Theorien hätten die Aufgabe, alle übrigen Motive in ähnlicher Art in Lehrsätzen von hypothetischer Geltung zu entwickeln. Für das Ergebnis der theoretischen Arbeit, die abstrakten Preisbildungs-, Zins-, Renten- etc. -Theorien, wurde demgemäß hie und da phantastischerweise in Anspruch genommen: sie könnten, nach – angeblicher – Analogie physikalischer Lehrsätze, dazu verwendet werden, aus gegebenen realen Prämissen quantitativ bestimmte Resultate – also Gesetze im strengsten Sinne – mit Gültigkeit für die Wirklichkeit des Lebens zut deduzieren, da die Wirtschaft des Menschen bei gegebenem t  Fehlt in A; zu sinngemäß ergänzt.   vollständiger Befriedigung der Bedürfnisse (nach möglichst vollständiger Deckung des Güterbedarfes)“. 89  Vgl. ebd., S.  44. 90  Vgl. ebd., S.  33. 91  Vgl. Einleitung, oben, S.  8. 92  Vgl. oben, S.  177 mit Anm.  10. 93  Für Menger, Untersuchungen, S.  49 ff., sind auch die Erkenntnisse der realistischempirischen Richtung der theoretischen Nationalökonomie sowie die der historischen und praktischen Wissenschaften von der Volkswirtschaft wissenswert. 94  Gemeint ist das „Streben nach möglichst vollständiger Befriedigung der Bedürfnisse (nach möglichst vollständiger Deckung des Güterbedarfes“; vgl. ebd., S.  45. In der Literatur ist diesbezüglich von „Eigennutz“ die Rede. Vgl. z. B. Wundt, Logik II1 (wie oben. S.  16, Anm.  13), S.  588: „Dieses Motiv ist der Eigennutz.“

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Zweck in bezug auf die Mittel eindeutig „determiniert“ sei.95 Es wurde nicht beachtet, daß, um dies Resultat in irgend einem noch so einfachen Falle erzielen zu können, die Gesamtheit der jeweiligen historischen Wirklichkeit einschließlich aller ihrer kausalen Zusammenhänge als „gegeben“ gesetzt und als bekannt vorausgesetzt werden müßte und daß, wenn dem endlichen Geist diese Kenntnis zugänglich würde, irgend ein Erkenntniswert einer abstrakten Theorie nicht vorstellbar wäre. Das naturalistische Vorurteil, daßu in jenen Begriffen etwas den exakten Naturwissenschaften Verwandtes geschaffen werden solle, hatte | eben dahin geführt, daß man den Sinn dieser theoretischen Gedankengebilde falsch verstand. Man glaubte, es handele sich um die psychologische Isolierung eines spezifischen „Triebes“, des Erwerbstriebes, im Menschen, oder aber um die isolierte Beobachtung einer spezifischen Maxime menschlichen Handelns, des sogenannten wirtschaftlichen Prinzipes.96 Die abstrakte Theorie meinte, sich auf psychologische Axiome stützen zu können und die Folge war, daß die Historiker nach einer empirischen Psychologie riefen, um die Nichtgeltung jener Axiome beweisen und den Verlauf der wirtschaftlichen Vorgänge psychologisch ableiten zu können.97 Wir wollen nun an dieu A: das   95  Vgl. Menger, Untersuchungen, S.  45, 262 ff. Für Menger sind des Menschen „unmittelbarer Bedarf“ sowie die ihm „unmittelbar verfügbaren Güter“ der menschlichen „Willkür“ entrückt: „der Ausgangspunkt und der Zielpunkt jeder concreten menschli­ chen Wirthschaft ist somit in letzter Linie durch die jeweilige ökonomische Sachlage streng determinirt“ (ebd., S.  263). 96  Menger, ebd., S.  41 f., betreibt Analyse im Sinne einer „vollständigen Isolirung“ der „einfachsten Elemente“ von „allen sonstigen Einflüssen“, ohne Rücksicht, ob sie „in der Wirklichkeit als selbständige Erscheinungen vorhanden“, oder „ob sie in ihrer vollen Reinheit überhaupt selbständig darstellbar sind“. Wie „absolut-reiner Sauerstoff, eben solcher Alkohol, eben solches Gold“ durch Analyse abstrahiert wird, wird der Mensch in seinem Streben nach Bedürfnisbefriedigung „überempirisch“ als „ein absolut nur wirthschaftliche Zwecke verfolgender Mensch“ dargestellt. Zu dieser isolierenden Abstraktion vgl. Einleitung, oben, S.  16. 97  Schmoller, Methodologie, S.  979, hat in seiner Kritik an Menger festgestellt, daß der „Erwerbstrieb“, wenn er „ein letztes Element im streng wissenschaftlich brauchbaren Sinne“ wäre, von einer „wissenschaftlichen Psychologie“ klar „abgegrenzt gegen andere parallele Seelenkräfte“ nachgewiesen worden wäre. Davon sei aber keine Rede und „eben deshalb haben alle tieferen wissenschaftlichen Anläufe seit 50 Jahren, der Sozialismus so gut wie die historische Schule und die Dogmatiker Rau und Hermann, nach einer verbesserten psychologischen Grundlage der Nationalökonomie gesucht“.

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ser Stelle den Glauben an die Bedeutung einer – erst zu schaffenden – systematischen Wissenschaft der „Sozialpsychologie“ als künftiger Grundlage der Kulturwissenschaften, speziell der Sozialökonomik, nicht eingehend kritisieren. Gerade die bisher vorliegenden, zum Teil glänzenden Ansätze psychologischer Interpretation ökonomischer Erscheinungen zeigen jedenfalls, daß nicht von der Analyse psychologischer Qualitäten des Menschen zur Analyse der gesellschaftlichen Institutionen fortgeschritten wird, sondern gerade umgekehrt die Aufhellung der psychologischen Voraussetzungen und Wirkungen der Institutionen die genaue Bekanntschaft mit diesen letzteren und die wissenschaftliche Analyse ihrer Zusammenhänge voraussetzt. Die psychologische Analyse bedeutet alsdann lediglich eine im konkreten Fall höchst wertvolle Vertiefung der Erkenntnis ihrer historischen Kulturbedingtheit und Kulturbe­ deutung. Das, was uns an dem psychischen Verhalten des Menschen in seinen sozialen Beziehungen interessiert, ist eben in jedem Falle je nach der spezifischen Kulturbedeutung der Beziehung, um die es sich handelt, spezifisch besondert. Es handelt sich dabei um untereinander höchst heterogene und höchst konkret komponierte psychische Motive und Einflüsse. Die sozial-psychologische Forschung bedeutet eine Durchmusterung verschiedener einzelner, untereinander vielfach disparater Gattungen von Kulturelementen auf ihre Deutungsfähigkeit für unser nacherlebendes Verständnis hin. Wir werden durch sie, von der Kenntnis der einzelnen Institutionen ausgehend, deren Kulturbedingtheit und Kulturbedeutung in steigendem Maße geistig verstehen lernen, nicht aber die Institutionen aus psychologischen Gesetzen deduzieren oder aus psychologischen Elementarerscheinungen erklären wollen. So ist denn auch die weitschichtige Polemik, welche sich um die Frage der psychologischen Berechtigung der abstrakt theore|ti­schen Aufstellungen, um die Tragweite des „Erwerbstriebes“ und des „wirtschaftlichen Prinzips“ etc. gedreht hat, wenig fruchtbar gewesen. – Es handelt sich bei den Aufstellungen der abstrakten Theorie nur scheinbar um „Deduktionen“ aus psychologischen Grundmotiven, in Wahrheit vielmehr um einen Spezialfall einer Form der Begriffsbildung, welche den Wissenschaften von der menschlichen Kultur eigentümlich und in gewissem Umfange unentbehrlich ist. Es lohnt sich, sie an dieser Stelle etwas eingehender zu charakteri-

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sieren, da wir dadurch der prinzipiellen Frage nach der Bedeutung der Theorie für die sozialwissenschaftliche Erkenntnis näher kommen. Dabei lassen wir es ein für allemal unerörtert, ob die theoretischen Gebilde, welche wir als Beispiele heranziehen, oder auf die wir anspielen, so wie sie sind, dem Zwecke entsprechen, dem sie dienen wollen, ob sie also sachlich zweckmäßig gebildet sind. Die Frage, wie weit z. B. die heutige „abstrakte Theorie“ noch ausgesponnen werden soll, ist schließlich auch eine Frage der Ökonomie der wissenschaftlichen Arbeit,98 deren doch auch andere Probleme harren. Auch die „Grenznutztheorie“ untersteht dem „Gesetz des Grenznutzens“.99 – Wir haben in der abstrakten Wirtschaftstheorie ein Beispiel jener Synthesen1 vor uns, welche man als „Ideen“ historischer Erscheinungen zu bezeichnen pflegt.2 Sie bietet uns ein Idealbild3 der Vorgänge auf dem Gütermarkt bei tauschwirtschaftlicher Gesellschaftsorganisation, freier Konkurrenz und streng rationalem Handeln. Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge. Inhaltlich trägt diese Kon98  Möglicherweise Anspielung auf die „Denkökonomie“. Vgl. Mach, Ernst, Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung. Vortrag, gehalten in der feierlichen Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien am 25. Mai 1882, in: ders., Populärwissenschaftliche Vorlesungen. – Leipzig: Barth 1896, S.  203–230. 99  Inspiriert von Hermann Heinrich Gossen, William Stanley Jevons und Carl Menger, formulierte Friedrich von Wieser 1884 dieses Gesetz. Bei postulierter Knappheit und der daraus folgenden Notwendigkeit wirtschaftlichen Handelns ist der Grenznutzen der geringste Nutzen, den ein einzelnes Gut noch haben darf, um verwendet zu werden. Der Grenznutzen steigt mit dem Bedarf und sinkt mit dem Vorrat. Ist der Bedarf gestillt oder der Vorrat groß, ist der zusätzliche Nutzen pro Einheit gering. Vgl. Wieser, Friedrich von, Über den Ursprung und die Hauptgesetze des wirthschaftlichen Werthes. – Wien: Alfred Hölder 1884 (hinfort: Wieser, Hauptgesetze), S.  126 ff., 146 ff. Vgl. auch Weber, Erstes Buch. Die begrifflichen Grundlagen der Volkswirtschaftslehre, MWG III/1, S.  118–154, hier S.  127 ff., und Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, ebd., S.  234 ff., sowie Weber, Die Grenznutzlehre und das „psychophysische Grundgesetz“, MWG I/12, S.  111–133. 1  Zur Unterscheidung von Analyse und Synthese vgl. die Einleitung, oben, S.  16 f. 2  Wahrscheinlich bezieht sich Weber auf die historische Ideenlehre, die Humboldt, Gervinus, Ranke u. a. vertraten. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  71 f. mit Anm.  30. 3  Diesen im Folgenden mehrfach gebrauchten Begriff hat Weber wahrscheinlich dem Roman „Der eiserne Rittmeister“ von Hans Hoffmann entnommen, auf den er in seiner Kritik an Knies zu sprechen kommt. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  322 mit Anm.  2.

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struktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist. Ihr Verhältnis zu denv empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, daß da, wo Zusammenhänge der in jener Konstruktion abstrakt dargestellten Art, also vom „Markt“ abhängige Vorgänge, in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam festgestellt sind oder vermutet werden, wir uns die Eigenart dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus4 pragmatisch veran­ schaulichen und verständlich machen können. Diese Möglichkeit kann sowohl heuristisch, wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein. Für die Forschung will der ideal­typische Begriff das Zurechnungsurteil5 schulen: er ist keine „Hypo|these“, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Dar­ stellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen. Es ist also die „Idee“ der historisch gegebenen modernen verkehrswirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft, die uns da nach ganz denselben logischen Prinzipien entwickelt wird, wie man z. B. die Idee derw „Stadtwirtschaft“ des Mittelalters als „genetischen“6 Begriff konstruiert hat.7 Tut man dies, so bildet man den Begriff „Stadtwirtschaft“ nicht etwa als einen Durchschnitt der in sämtlichen beobachteten Städten tatsäch­ lich bestehenden Wirtschaftsprinzipien, sondern ebenfalls als einen Idealtypus.8 Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines v A: dem  w A: der,   4  Zur hier gemeinten Bedeutung dieses Konzepts vgl. Einleitung, oben, S.  24 ff. Zur Bedeutung dieses Konzepts im Sinne von Mittelwert, wie sie sich bei Francis Galton findet, vgl. unten, S.  203 f. mit Anm.  8. Zur normativen Bedeutung dieses Konzepts, wie sie sich bei Georg Jellinek und Friedrich Nietzsche findet, vgl. unten, S.  205 mit Anm.  11. 5  Vgl. oben, S.  185 mit Anm.  39. 6  Logiker sprechen von einer „genetischen Definition“, d. h. einer solchen, „welche die Vorstellung ihres Objects aus ihren Elementen entstehen lassen kann“; sie entspricht also einer „Synthese“. Vgl. Sigwart, Logik I (wie oben, S.  5, Anm.  30), S.  375. Vgl. auch unten, S.  207 mit Anm.  15. 7 Wahrscheinlich orientiert sich Weber an Karl Büchers Stufenmodell. Für Bücher, Entstehung, S.  15, folgt auf die „Hauswirtschaft“ im Sinne reiner Eigenproduktion ohne Tausch die „Stadtwirtschaft“, für die Kundenproduktion und direkter Tausch typisch sind; auf diese wiederum folgt die „Volkswirtschaft“ mit Warenproduktion und Güterumlauf. Vgl. zur Stadtwirtschaft ausführlich ebd., S.  57 f. 8  Vgl. Bücher, ebd., S., 15: „Wir wollen […] diese drei Wirtschaftsstufen zu kennzeichnen versuchen und zwar so, daß wir jede in ihrer typischen Reinheit zu erfassen stre-

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oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht, inwieweit also der ökonomische Charakter der Verhältnisse einer bestimmten Stadt als „stadtwirtschaftlich“ im begrifflichen Sinn anzusprechen ist. Für den Zweck der Erforschung und Veranschaulichung aber leistet jener Begriff, vorsichtig angewendet[,] seine spezifischen Dienste. – Ganz in der gleichen Art kann man, um noch ein weiteres Beispiel zu analysieren, die „Idee“ des „Handwerks“ in einer Utopie zeichnen, indem man bestimmte Züge, die sich diffus bei Gewerbetreibenden der verschiedensten Zeiten und Länder vorfinden, einseitig in ihren Konsequenzen gesteigert[,] zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammenfügt und auf einen Gedankenausdruck bezieht, den man darin manifestiert findet. Man kann dann ferner den Versuch machen, eine Gesellschaft zu zeichnen, in der alle Zweige wirtschaftlicher, ja selbst geistiger Tätigkeit von Maximen beherrscht werden, die uns als Anwendung des gleichen Prinzips erscheinen, welches dem zum Idealtypus erhobenen „Handwerk“ charakteristisch ist. Man kann nun weiter jenem Idealtypus des Handwerks als Antithese einen entsprechenden Idealtypus einer kapitalistischen Gewerbeverfassung, aus gewissen Zügen der modernen Großindustrie abstrahiert, entgegensetzen und daran anschließend den Versuch machen, die Utopie einer „kapitalistischen“[,] | d. h. allein durch das Verwertungsinteresse privater Kapitalien beherrschten Kultur zu zeichnen. Sie hätte einzelne diffus vorhandene Züge des modernen materiellen und geistigen Kulturlebens in ihrer Eigenart gesteigert zu einem für unsere Betrachtung ben, ohne uns durch das zufällige Auftreten von Uebergangsbildungen oder von einzelnen Erscheinungen beirren zu lassen, die als Nachbleibsel früherer oder Vorläufer späterer Zustände in eine Periode hineinragen“. Im Sinne von Mittelwert hat man „ideal type“ in der Kompositivphotographie und Biometrie verwendet. Vgl. Galton, Francis, Inquiries into Human Faculty and its Development. – London: Macmillan 1883, S.  14, 361 ff.

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widerspruchslosen Idealbilde zusammenzuschließen. Das wäre dann ein Versuch der Zeichnung einer „Idee“ der kapitalistischen Kultur – ob und wie er etwa gelingen könnte, müssen wir hier ganz dahingestellt sein lassen. Nun ist es möglich, oder vielmehr es muß als sicher angesehen werden, daß mehrere, ja sicher jeweils sehr zahlreiche Utopien dieser Art sich entwerfen lassen, von denen keine der anderen gleicht, von denen erst recht keine in der empirischen Wirklichkeit als tatsächlich geltende Ordnung der gesellschaftlichen Zustände zu beobachten ist, von denen aber doch jede den Anspruch erhebt, eine Darstellung der „Idee“ der kapitalistischen Kultur zu sein, und von denen auch jede diesen Anspruch insofern erheben kann, als jede tatsächlich gewisse, in ihrer Eigen­ art bedeutungsvolle Züge unserer Kultur der Wirklichkeit entnommen und in ein einheitliches Idealbild gebracht hat. Denn diejenigen Phänomene, die uns als Kulturerscheinungen interessieren, leiten regelmäßig dies unser Interesse – ihre „Kulturbedeutung“ – aus sehr verschiedenen Wertideen ab, zu denen wir sie in Beziehung setzen können.9 Wie es deshalb die verschiedensten „Gesichtspunkte“10 gibt, unter denen wir sie als für uns bedeutsam betrachten können, so lassen sich die allerverschiedensten Prinzipien der Auswahl der in einen Idealtypus einer bestimmten Kultur aufzunehmenden Zusammenhänge zur Anwendung bringen. Was ist nun aber die Bedeutung solcher idealtypischen Begriffe für eine Erfahrungswissenschaft, wie wir sie treiben wollen? Vorweg sei hervorgehoben, daß der Gedanke des Seinsollenden, „Vorbildlichen“ von diesen in rein logischem Sinn „idealen“ Gedankengebilden, die wir besprechen, hier zunächst sorgsam fernzuhalten ist.11 Es handelt sich um die Konstruktion von Zusammenhängen, welche unserer Phantasie12 als zulänglich motiviert und also „objektiv möglich“, unserem nomologischen Wissen als adäquat erscheinen.13 9  Vgl. oben, S.  182. 10  Vgl. oben, S.  189 ff. 11  In dieser normativen Bedeutung findet sich das Konzept des Idealtypus bei Jellinek, Staatslehre (wie oben, S.  91, Anm.  26), S.  32 f., und Nietzsche, Friedrich, Nachgelassene Werke. Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwer­thung aller Werthe. (Studien und Fragmente) (Nietzsche’s Werke. Zweite Abtheilung, Band XV). – Leipzig: C. G. Naumann 1901, S.  174. 12  Vgl. oben, S.  186 f. mit Anm.  44. 13  Vgl. oben, S.  187 mit Anm.  45.

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Wer auf dem Standpunkt steht, daß die Erkenntnis der historischen Wirklichkeit „voraussetzungslose“ Abbildung „objektiverx Tatsachen“ sein solle oder könne, wird ihnen jeden Wert absprechen. Und selbst wer erkannt hat, daß es eine „Voraussetzungslosigkeit“ im logischen Sinn auf dem Boden der Wirklichkeit nicht | gibt und auch das einfachste Aktenexzerpt oder Urkundenregest nur durch Bezugnahme auf „Bedeutungen“, und damit auf Wertideen als letzte Instanz, irgend welchen wissenschaftlichen Sinn haben kann, wird doch die Konstruktion irgend welcher historischer „Utopien“ als ein für die Unbefangenheit der historischen Arbeit gefährliches Veranschaulichungsmittel, überwiegend aber einfach als Spielerei ansehen. Und in der Tat: ob es sich um reines Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare Begriffsbildung handelt, kann a priori niemals entschieden werden: es gibt auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung. Nicht als Ziel, sondern als Mittel kommt mithin die Bildung abstrakter Idealtypen in Betracht. Jede aufmerksame Beobachtung der begrifflichen Elemente historischer Darstellung zeigt nun aber, daß der Historiker, sobald er den Versuch unternimmt, über das bloße Konstatieren konkreter Zusammenhänge hinaus die Kulturbedeutung eines noch so einfachen individuellen Vorgangs festzustellen, ihn zu „charakterisieren“, mit Begriffen arbeitet und arbeiten muß, welche regelmäßig nur in Idealtypen scharf und eindeutig bestimmbar sind. Oder sind Begriffe wie etwa: „Individualismus“, „Imperialismus“, „Feudalismus“y, „Merkantilismus“[,] „konventionell“ und die zahllosen Begriffsbildungen ähnlicher Art, mittels deren wir uns der Wirklichkeit denkend und verstehend zu bemächtigen suchen, ihrem Inhalt nach durch „voraussetzungslose“ Beschreibung irgend einer konkreten Erscheinung oder aber durch abstrahierende Zusammenfassung dessen, was mehreren konkreten Erscheinungen gemeinsam ist,14 zu bestimmen? Die Sprache, die der Historiker spricht, enthält in hunderten von Worten solche unbestimmten, dem unreflektiert waltenden Bedürfnis des Ausdrucks entnommex A: „objektiver“  y A: Feudalismus“   14  Zur generalisierenden Abstraktion vgl. Einleitung, oben, S.  16 f.

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nen Gedankenbilder, deren Bedeutung zunächst nur anschaulich empfunden, nicht klar gedacht wird. In unendlich vielen Fällen, zumal auf dem Gebiet der darstellenden politischen Geschichte, tut nun die Unbestimmtheit ihres Inhaltes der Klarheit der Darstellung sicherlich keinen Eintrag. Es genügt dann, daß im einzelnen Falle empfunden wird, was dem Historiker vorschwebt, oder aber man kann sich damit begnügen, daß eine partikuläre Bestimmtheit des Begriffsinhaltes von relativer Bedeutung für den einzelnen Fall als gedacht vorschwebt. Je schärfer aber die Bedeutsamkeit einer Kulturerscheinung zum klaren | Bewußtsein gebracht werden soll, desto unabweislicher wird das Bedürfnis, mit klaren und nicht nur partikulär, sondern allseitig bestimmten Begriffen zu arbeiten. Eine „Definition“ jener Synthesen des historischen Denkens nach dem Schema: genus proximum und differentia specifica15 ist natürlich ein Unding: man mache doch die Probe. Eine solche Form der Feststellung der Wortbedeutung gibt es nur auf dem Boden dogmatischer Disziplinen, welche mit Syllogismen arbeiten.16 Eine einfach „schildernde Auflösung“17 jener Begriffe in ihre Bestandteile gibt es jedenfalls nicht oder nur scheinbar, denn es kommt eben darauf an, welche dieser Bestandteile denn als wesentlich gelten sollen. Es bleibt, wenn eine genetische Definition18 des Begriffsinhaltes versucht werden soll, nur die Form des Idealtypus im oben

15  Die Gegenüberstellung von Definitionen nach genus proximum und genetischen Definitionen, die Weber auf dieser Seite formuliert, hat Riehl erläutert. Vgl. Riehl, Alois, Beiträge zur Logik (Erster Artikel), in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 16. Jg., 1892, S.  1–19, hier S.  9 f.: „Die Logik des Alterthums kannte nur Eine Methode des Definirens: die classificirende, durch Angabe des genus und der specifischen Differenz. […] Sie setzt voraus, dass wir uns im Besitze eines vollständigen und überdies wohlgeordneten Systemes von Begriffen befinden, eine Annahme, die nur dort zutrifft, wo wir, wie in der Geometrie, die Gattungen der Objecte selbst erzeugen. Die neuere Logik dagegen kennt und bevorzugt die genetische, den Begriff aus seinen Elementen entwickelnde Definition. Eine besonders instructive Art des genetischen Definierens wollen wir als die historische Definition bezeichnen. Sie geht von der Geschichte des Begriffes aus, indem sie zu den Aufgaben und Erkenntnissbedürfnissen zurückgreift, die zur Aussonderung des fraglichen Begriffes führten.“ 16  Windelband zufolge folgt auch jede „Causalbetrachtung“ dem logischen Schema des Syllogismus. Vgl. Einleitung, oben, S.  6. 17  Für Gottl, Herrschaft, S.  189, soll bei „Juristen“ die „worterklärende Definition“ eines Begriffs wie „Börse“ etwas leisten, „dem doch nur die schildernde Auflösung recht gewachsen bleibt“. 18  Vgl. oben, S.  203 mit Anm.  6.

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fixierten Sinn.19 Er ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die „eigentliche“ Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird. Solche Begriffe sind Gebilde, in welchen wir Zusammenhänge unter Verwendung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, welche unsere, an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als adäquat beurteilt.20 Der Idealtypus ist in dieser Funktion insbesondere der Versuch, historische Individuen21 oder deren Einzelbestandteile in geneti­ sche Begriffe zu fassen. Man nehme etwa die Begriffe: „Kirche“ und „Sekte“. Sie lassen sich rein klassifizierend in Merkmalskomplexe auflösen, wobei dann nicht nur die Grenze zwischen beiden, sondern auch der Begriffsinhalt stets flüssig bleiben muß. Will ich aber den Begriff der „Sekte“ genetisch, z. B. inz bezug auf gewisse wichtige Kulturbedeutungen, die der „Sektengeist“ für die moderne Kultur gehabt hat, erfassen, so werden bestimmte Merkmale beider wesentlich, weil sie in adäquater ursächlicher Beziehung zu jenen Wirkungen stehen. Die Begriffe werden aber alsdann zugleich ide­ altypisch, d. h. in voller begrifflicher Reinheit sind sie nicht oder nur vereinzelt vertreten. Hier wie überall führt eben jeder nicht rein klassifikatorische Begriff von der Wirklichkeit ab. Aber die diskursive Natur unseres Erkennens:22 der Umstand, daß wir die Wirklichkeit nur durch eine Kette von Vorstellungsveränderungen | hindurch erfassen, postuliert eine solche Begriffsstenographie.23 z A: im   19  Oben, S.  203 ff. 20  Vgl. oben, S.  205. 21  Vgl. oben, S.  185 mit Anm.  40. 22  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  63 mit Anm.  98. 23  Diese Bezeichnung ist im Deutschen nicht belegt. Wahrscheinlich steht sie im Zusammenhang mit Mills Logik. Für Mill war „Induction“ kein „Schluss“, der sich in einer „Wiederholung der Prämissen“ erschöpft, sondern einer, der „vom Bekannten zum Unbekannten“ führt: Wenn man z. B. nach der Beobachtung jedes einzelnen Apostels sagt, die Apostel waren Juden, so wird dies zwar eine „vollkommene Induction“ genannt, stellt aber keine „Induction“ im Sinne Mills dar, denn „es ist kein Schliessen von

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Unsere Phantasie kann ihre ausdrückliche begriffliche Formulierung sicherlich oft als Mittel der Forschung entbehren, – für die Darstellung ist, soweit sie eindeutig sein will, ihre Verwendung auf dem Boden der Kulturanalyse in zahlreichen Fällen ganz unvermeidlich. Wer sie grundsätzlich verwirft, muß sich auf die formale, etwa die rechtshistorische Seite der Kulturerscheinungen beschränken. Der Kosmos der rechtlichen Normen ist natürlich zugleich begrifflich klar bestimmbar und (im rechtlichen Sinn!) für die historische Wirklichkeit geltend. Aber ihre praktische Bedeutung ist es, mit der die Arbeit der Sozialwissenschaft in unserem Sinn zu tun hat. Diese Bedeutung aber ist sehr oft nur durch Beziehung des empirisch Gegebenen auf einena idealen Grenzfall eindeutig zum Bewußtsein zu bringen. Lehnt der Historiker (im weitesten Sinne des Wortes) einen Formulierungsversuch eines solchen Idealtypus als „theoretische Konstruktion“, d. h. als für seinen konkreten Erkenntniszweck nicht tauglich oder entbehrlich, ab, so ist die Folge regelmäßig entweder, daß er, bewußt oder unbewußt, andere ähnliche ohne sprachliche Formulierung und logische Bearbeitung verwendet, oder daß er im Gebiet des unbestimmt „Empfundenen“ stecken bleibt. Nichts aber ist allerdings gefährlicher, als die, naturalistischen Vorurteilen entstammende, Vermischung von Theorie und Geschichte, sei es in der Form, daß man glaubt, in jenen theoretischen Begriffsbildern den „eigentlichen“ Gehalt, das „Wesen“ der a A: einem   bekannten Thatsachen auf unbekannte, sondern ein Verzeichniss in einer Geschwindschrift von bekannten Thatsachen“. Vgl. Mill, John Stuart, System der deductiven und inductiven Logik. Eine Darlegung der Principien wissenschaftlicher Forschung, insbesondere der Naturforschung. In’s Deutsche übertragen von J. Schiel, 2. deutsche, nach der 5. des Originals erweiterte Aufl. in zwei Theilen, Erster Theil. – Braunschweig: Friedrich Vieweg 1862, S.  340 f. Mills „Verzeichniß in einer Geschwindschrift“ (ein anderer zeitgenössischer Ausdruck ist „Stenographie“) hat Windelband, Zufall, S.  43, aufgegriffen. – Weber, Kritische Studien, unten, S.  389 mit Anm.  14, referiert auf dieses Werk. – Den Zusammenhang zwischen der „diskursive[n] Natur unseres Erkennens“ und der „Begriffsstenographie“ erhellt Sigwart in einer Auseinandersetzung mit Mill. Vgl. Sigwart, Logik I (wie oben, S.  5, Anm.  30), S.  467. Zum englischen Sprachgebrauch vgl. Pearson, Karl, The Grammar of Science. Second Edition, Revised and Enlarged. – London: Adam and Charles Black 1900, S.  353: „Knowledge is the description in conceptual shorthand of the various phases of our perceptual experience”. Pearson konzipiert auch Naturgesetze als „conceptual shorthand“-Beschreibungen. Vgl. ebd., S.  vii, 99, 115, 194, 261, 275, 332.

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geschichtlichen Wirklichkeit fixiert zu haben, oder daß man sie als ein Prokrustesbett benutzt, in welches die Geschichte hinein­ gezwängt werden soll, oder daß man gar die „Ideen“ als eine hinter der Flucht der Erscheinungen stehende „eigentliche“ Wirklichkeit, als reale „Kräfte“ hypostasiert, die sich in der Geschichte auswirkten. Speziell diese letztere Gefahr liegt nun um so näher, als wir unter „Ideen“ einer Epoche auch und sogar in erster Linie Gedanken oder Ideale zu verstehen gewohnt sind, welche die Masse oder einen geschichtlich ins Gewicht fallenden Teil der Menschen jener Epoche selbst beherrscht haben und dadurch für deren Kultureigenart als Komponenten bedeutsam gewesen sind.24 Und es kommt noch zweierlei hinzu: Zunächst der Umstand, daß zwischen der „Idee“ im Sinn von praktischer oder theoretischer Gedankenrichtung und der „Idee“ im Sinn eines von uns als begriffliches Hilfsmittel konstruierten Idealtypus einer Epoche regelmäßig be|stimmte Beziehungen bestehen. Ein Idealtypus bestimmter gesellschaftlicher Zustände, welcher sich aus gewissen charakteristischen sozialen Erscheinungen einer Epoche abstrahieren läßt, kann – und dies ist sogar recht häufig der Fall – den Zeitgenossen selbst als praktisch zu erstrebendes Ideal oder doch als Maxime für die Regelung bestimmter sozialer Beziehungen vorgeschwebt haben. So steht es schon mit der „Idee“ des „Nahrungsschutzes“25 und manchen Theorien der Kanonisten, speziell des heiligen Thomas,26 im Verhältnis zu dem heute verwendeten idealtypischen Begriff der „Stadtwirtschaft“ des Mittelalters, den wir oben besprachen.27 Erst recht steht es so mit dem berüchtigten „Grundbegriff“ der Nationalökonomie: dem des „wirtschaftlichen Werts“.28 Von der 24  Vgl. oben, S.  148. 25  Für Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.  14, Anm.  94), S.  XXXI f., 187, ist die „Idee der Nahrung“ konstitutiv für die vorkapitalistische Wirtschaft. Der „Grundgedanke“, sich „durch eigene, zunächst nur gewerbliche Arbeit für andere“ die „standesgemäße, traditionelle ‚Nahrung‘ zu sichern“, wurde zur „Leitidee“ für das „gesamte Wirtschaftsleben“, gemäß dessen „handwerksmäßige[r] Organisation“ man forderte, „daß jedem Genossen, der in der Väter Weise seine Arbeit verrichtet, ein Auskommen gesichert, also ‚Nahrung‘ garantiert sein solle“. 26  Vgl. Weber, Geschichte der Nationalökonomie, MWG III/1, S.  682–685. 27  Oben, S.  203 f. 28 Möglicherweise referiert Weber auf Böhm-Bawerk, für den die Lehre vom Wert „eine der unklarsten, verworrensten und strittigsten Partien“ der Nationalökonomie ist.

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Scholastik an bis in die Marxsche Theorie hinein verquickt sich hier der Gedanke von etwas „objektiv“ Geltendem, d. h. also: Seinsollendemb, mit einer Abstraktion aus dem empirischen Verlauf der Preisbildung. Und jener Gedanke, daß der „Wert“ der Güter nach bestimmten (naturrechtlichen) Prinzipien reguliert sein solle, hat unermeßliche Bedeutung für die Kulturentwicklung – und zwar nicht nur des Mittelalters – gehabt und hat sie noch. Und er hat speziell auch die empirische Preisbildung intensiv beeinflußt. Was aber unter jenem theoretischen Begriff gedacht wird und gedacht werden kann, das ist nur durch scharfe, das heißt idealtypische Begriffsbildung wirklich eindeutig klar zu machen, – das sollte der Spott über die „Robinsonaden“29 der abstrakten Theorie jedenfalls so lange bedenken, als er nichts besseres, d. h. hier: Klareres[,] an die Stelle zu setzen vermag. Das Kausalverhältnis zwischen der historisch konstatierbaren, die Menschen beherrschenden, Idee und denjenigen Bestandteilen der historischen Wirklichkeit, aus welchen der ihr korrespondierende Idealtypus sich abstrahieren läßt, kann dabei natürlich höchst verschieden gestaltet sein. Festzuhalten ist prinzipiell nur, daß beides selbstverständlich grundverschiedene Dinge sind. Nun aber tritt noch etwas weiteres hinzu: Jene die Menschen einer Epoche beherrschenden, d. h. diffus in ihnen wirksamen „Ideen“ selbst können wir, sobald es sich dabei um irgend kompliziertere Gedankengebilde handelt, mit begrifflicher Schärfe wiederum nur in Gestalt eines Idealtypus erfassen, weil sie empirisch ja in den Köpfen einer b A: Seinsollenden   Vgl. Böhm-Bawerk, Eugen von, Grundzüge der Theorie des wirtschaftlichen Güterwertes, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, N. F. Band 13, 1886, S.  1–82, hier S.  3. 29  Marx hatte 1857 der klassischen Nationalökonomie bescheinigt, mit „Robinsonaden“ zu arbeiten. Vgl. Marx, Karl, Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie, in: Die neue Zeit, 21. Jg., Band 1, 1903, S.  710–718, hier S.  710. Schmoller schrieb 1873 über Menger: „Klarheit in der abstracten Theorie ist sein Ziel; sehr eingehende […] Besprechung von Beispielen, die meist mehr an die Robinsonade als an heutige wirthschaftliche Zustände anknüpfen, ist das Mittel, mit dem er operiert.“ Vgl. Schmoller, Gustav, [Rez.:] Menger, Carl, Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, in: Literarisches Centralblatt, Nr.  5 vom 1. Febr. 1873, S.  142 f., hier S.  143. Später bezeichnete Schmoller Mengers Abstraktionen als „schemenhafte Phantome, geträumte Robinsonaden“. Vgl. Schmoller, Methodologie, S.  980. Funktional betrachtet, sind Robinsonaden „Gedankenexperimente“ auf der Basis von Abstraktionen.

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unbestimmten und wechselnden Vielzahl von Individuen leben und in ihnen die mannigfachsten Abschattierungen nach Form und Inhalt, Klarheit und Sinn erfahren. Diejenigen Be|standteile des Geisteslebens der einzelnen Individuen in einer bestimmten Epoche des Mittelalters z. B., die wir als „das Christentum“ der betreffenden Individuen ansprechen dürfen, würden, wenn wir sie vollständig zur Darstellung zu bringen vermöchten, natürlich ein Chaos unendlich differenzierter und höchst widerspruchsvoller Gedanken- und Gefühlszusammenhänge aller Art sein, trotzdem die Kirche des Mittelalters die Einheit des Glaubens und der Sitten sicherlich in besonders hohem Maße durchzusetzen vermocht hat. Wirft man nun die Frage auf, was denn in diesem Chaos das „Christentum“ des Mittelalters, mit dem man doch fortwährend als mit einem feststehenden Begriff operieren muß, gewesen sei, worin das „Christliche“, welches wir in den Institutionen des Mittelalters ­finden, denn liege, so zeigt sich alsbald, daß auch hier in jedem einzelnen Fall ein von uns geschaffenes reines Gedankengebilde verwendet wird. Es ist eine Verbindung von Glaubenssätzen, Kirchenrechts- und sittlichen Normen, Maximen der Lebensführung und zahllosen Einzelzusammenhängen, die wir zu einer „Idee“ verbinden: eine Synthese, zu der wir ohne die Verwendung idealtypischerc Begriffe gar nicht widerspruchslos zu gelangen vermöchten. Die logische Struktur der Begriffssysteme, in denen wir solche „Ideen“ zur Darstellung bringen, und ihr Verhältnis zu dem, was uns in der empirischen Wirklichkeit unmittelbar gegeben ist, sind nun natürlich höchst verschieden. Verhältnismäßig einfach gestaltet sich die Sache noch, wenn es sich um Fälle handelt, in denen ein oder einige wenige leicht in Formeln zu fassende theoretische Leitsätze – etwa der Prädestinationsglaube Calvins30 – oder klar formulierbare sittliche Postulate es sind, welche sich der Menschen bemächtigt und historische Wirkungen erzeugt haben, so daß wir die „Idee“ in einer Hierarchie von Gedanken gliedern können, welche logisch aus jenen Leitsätzen sich entwickeln. Schon dann wird freilich leicht übersehen, daß, so gewaltig die Bedeutung auch der rein logisch zwingenden Macht des Gedankens in der c A: idealtypischen   30  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  74, Fn.  57 mit Anm.  45.

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Geschichte gewesen ist, – der Marxismus ist ein hervorragendes Beispiel dafür – doch der empirisch-historische Vorgang in den Köpfen der Menschen regelmäßig als ein psychologisch, nicht als ein logisch bedingter verstanden werden muß. Deutlicher noch zeigt sich der idealtypische Charakter solcher Synthesen von historisch wirksamen Ideen dann, wenn jene grundlegenden Leitsätze und Postulate gar nicht oder nicht mehr in den Köpfen derjenigen Einzelnen leben, die von den | aus ihnen logisch folgenden oder von ihnen durch Assoziation ausgelösten Gedanken beherrscht sind, weil die historisch ursprünglich zugrunde liegende „Idee“ entweder abgestorben ist, oder überhaupt nur in ihren Konsequenzen in die Breite gedrungen war. Und noch entschiedener tritt der Charakter der Synthese als einer „Idee“, die wir schaffen, dann hervor, wenn jene grundlegenden Leitsätze von Anfang an nur unvollkommen oder gar nicht zum deutlichen Bewußtsein gekommen sind oder wenigstens nicht die Form klarer Gedankenzusammenhänge angenommen haben. Wenn alsdann diese Prozedur von uns vorgenommen wird, wie es unendlich oft geschieht und auch geschehen muß, so handelt es sich bei dieser „Idee“ – etwa des „Liberalismus“ einer bestimmten Periode oder des „Methodismus“ oder irgend einer gedanklich unentwickelten Spielart des „Sozialismus“, – um einen reinen Idealtypus ganz des gleichen Charakters wie die Synthesen von „Prinzipien“ einer Wirtschaftsepoche, von denen wir ausgingen. Je umfassender die Zusammenhänge sind, um deren Darstellung es sich handelt, und je vielseitiger ihre Kulturbedeu­ tung gewesen ist, desto mehr nähert sich ihre zusammenfassende systematische Darstellung in einem Begriffs- und Gedankensystem dem Charakter des Idealtypus, desto weniger ist es möglich, mit einem derartigen Begriffe auszukommen, desto natürlicher und unumgänglicher daher die immer wiederholten Versuche, immer neue Seiten der Bedeutsamkeit durch neue Bildung idealtypischer Begriffe zum Bewußtsein zu bringen. Alle Darstellungen eines „Wesens“ des Christentums31 z. B. sind Idealtypen von stets und notwendig nur sehr relativer und problematischer Gültigkeit, wenn 31  Vgl. Feuerbach, Ludwig, Das Wesen des Christentums. – Leipzig: Otto Wigand 1841; Harnack, Adolf, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten. – Leipzig: J. C. Hinrichs 1900.

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sie als historische Darstellung des empirisch Vorhandenen angesehen sein wollen, dagegen von hohem heuristischen Wert für die Forschung und hohem systematischen Wert für die Darstellung, wenn sie lediglich als begriffliche Mittel zur Vergleichung und Mes­ sung der Wirklichkeit an ihnen verwendet werden.32 In dieser Funktion sind sie geradezu unentbehrlich. Nun aber haftet solchen idealtypischen Darstellungen regelmäßig noch ein anderes, ihre Bedeutung noch weiter komplizierendes Moment an. Sie wollen sein, oder sind unbewußt, regelmäßig Idealtypen nicht nur im logi­ schen, sondern auch im praktischen Sinne: vorbildliche Typen, welche – in unserem Beispiel – das enthalten, was das Christentum nach der Ansicht des Darstellers sein soll, was an ihm das für ihn „Wesentliche“, weil dauernd Wertvolle ist. Ist dies aber bewußt oder – häu|figer – unbewußt der Fall, dann enthalten sie Ideale, auf welche der Darsteller das Christentum wertend bezieht: Aufgaben und Ziele, auf die hin er seine „Idee“ des Christentums ausrichtet und welche natürlich von den Werten, auf welche die Zeitgenossen, etwa die Urchristen, das Christentum bezogen, höchst verschieden sein können, ja zweifellos immer sein werden. In dieser Bedeutung sind die „Ideen“ dann aber natürlich nicht mehr rein logische Hilfsmittel, nicht mehr Begriffe, an welchen die Wirklichkeit vergleichend gemessen, sondern Ideale, aus denen sie wertend beurteilt wird. Es handelt sich hier nicht mehr um den rein theoretischen Vorgang der Beziehung des Empirischen auf Werte, sondern um Werturteile, welche in den „Begriff“ des Christentums aufgenommen sind. Weil hier der Idealtypus empirische Geltung beansprucht, ragt er in die Region der wertenden Deutung des Christentums hinein: der Boden der Erfahrungswissenschaft ist verlassen: es liegt ein persönliches Bekenntnis vor, nicht eine ideal-typische Begriffs­ bildung.33 So prinzipiell dieser Unterschied ist, so tritt die Vermi­ schung jener beiden grundverschiedenen Bedeutungen der „Idee“ im Verlauf der historischen Arbeit doch außerordentlich häufig ein. Sie liegt immer sehr nahe, sobald der darstellende Historiker seine „Auffassung“ einer Persönlichkeit oder Epoche zu entwickeln 32  Vgl. oben, S.  208. 33  In diesem normativen Sinne ist der „Idealtypus“ für Jellinek, Staatslehre (wie oben, S.  91, Anm.  26), S.  32, „kein Seiendes, sondern ein Seinsollendes“ und von daher ein „Beurteilungsmassstab des Gegebenen“.

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beginnt. Im Gegensatz zu den konstant bleibenden ethischen Maßstäben, die Schlosser im Geiste des Rationalismus verwendete,34 hat der moderne relativistisch eingeschulte Historiker, der die Epoche, von der er spricht, einerseits „aus ihr selbst verstehen“, andererseits doch auch „beurteilen“ will, das Bedürfnis, die Maßstäbe seines Urteils „dem Stoff“ zu entnehmen, d. h. die „Idee“ im Sinne des Ideals aus der „Idee“ im Sinne des „Idealtypus“ herauswachsen zu lassen. Und das ästhetischd Reizvolle eines solchen Verfahrens verlockt ihn fortwährend dazu, die Linie, wo beide sich scheiden, zu verwischen – eine Halbheit, welche einerseits das wertende Urteilen nicht lassen kann, andererseits die Verantwortung für ihre Urteile von sich abzulehnen trachtet. Demgegenüber ist es aber eine elementare Pflicht der wissenschaftlichen Selbstkontrolle und das einzige Mittel zur Verhütung von Erschleichungen,35 die logisch-vergleichende Beziehung der Wirklichkeit auf Ideal­typen im logischen Sinne von der wertenden Beurteilung der Wirklichkeit aus Idealen heraus scharf zu scheiden. Ein „Idealtypus“ in unserem Sinne ist, wie noch einmal wiederholt sein mag, etwas gegenüber der wertenden Beurteilung | völlig indifferentes, er hat mit irgend einer anderen als einer rein logischen „Vollkommenheit“ nichts zu tun. Es gibt Idealtypen von Bordellen so gut wie von Religionen, und es gibt von den ersteren sowohl Idealtypen von solchen, die vom Standpunkt der heutigen Polizeiethik aus technisch „zweckmäßig“ erscheinen würden, wie von solchen, bei denen das gerade Gegenteil der Fall ist. d A: ästhetische   34  Zu Friedrich Christoph Schlosser vgl. Lorenz, Ottokar, Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben. – Berlin: Wilhelm Hertz 1886, S.  65 f. 35 Erschleichung oder Subreption entstammt dem Römischen Recht. In der Logik wird damit ein Schluß bezeichnet, der zwar formal korrekt ist, aber auf falschen Prämissen beruht und damit zu falschen Ergebnissen führt. Prominent ist Kants Auffassung, derzufolge das „vitium subreptionis“ dann unterlaufe, wenn man Eigenschaften, die Erscheinungen zukommen, den Dingen an sich zurechnet. Vgl. Kant, Immanuel, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Nebst einer Verdeutlichung dieser Abhandlung, in: ders., Vermischte Schriften, Band 2. – Halle: Renger 1799, S.  435–566, hier S.  476 ff., 551 f. Der Begriff findet sich auch in Weber, Marianne, Fichte’s Sozialismus (wie oben, S.  33, Anm.  1), S.  122: „Der Terminus ‚Wert‘ ist auch in der Nationalökonomie unentbehrlich, allein er sollte nie ohne nähere Bestimmung seines Inhalts gebraucht werden, anderfalls ist er (innerhalb wie ausserhalb der N.Ö.) die Quelle zahlloser Erschleichungen.“

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Notgedrungen muß hier die eingehende Erörterung des weitaus kompliziertesten und interessantesten Falles: die Frage der logischen Struktur des Staatsbegriffes, beiseite bleiben. Nur folgendes sei dazu bemerkt: Wenn wir fragen, was in der empirischen Wirklichkeit dem Gedanken „Staat“ entspricht, so finden wir eine Unendlichkeit diffuser und diskreter menschlicher Handlungen und Duldungen, faktischer und rechtlich geordneter Beziehungen, teils einmaligen[,] teils regelmäßig wiederkehrenden Charakters, zusammengehalten durch eine Idee, den Glauben an tatsächlich geltende oder gelten sollende Normen und Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen. Dieser Glaube ist teils gedanklich entwickelter geistiger Besitz, teils dunkel empfunden, teils passiv hingenommen und auf das mannigfaltigste abschattiert in den Köpfen der einzelnen vorhanden, welche, wenn sie die „Idee“ wirklich selbst klar als solche dächten, ja nicht erst der „allgemeinen Staatslehre“36 bedürften, die sie entwickeln will. Der wissenschaftliche Staatsbegriff, wie immer er formuliert werde, ist nun natürlich stets eine Synthese, die wir zu bestimmten Erkenntniszwecken vornehmen. Aber er ist andererseits auch abstrahiert aus den unklaren Synthesen, welche in den Köpfen der historischen Menschen vorgefunden werden. Der konkrete Inhalt aber, den der historische „Staat“ in jenen Synthesen der Zeitgenossen annimmt, kann wiederum nur durch Orientierung an idealtypischen Begriffen zur Anschauung gebracht werden. Und ferner unterliegt es nicht dem mindesten Zweifel, daß die Art, wie jene Synthesen, in logisch stets unvollkommener Form, von den Zeitgenossen vollzogen werden, die „Ideen“[,] die sie sich vom Staat machen, – die deutsche „organische“ Staatsmetaphysik37 z. B. im Gegensatz zu der „geschäftlichen“ amerikanischen Auffassung,38 – von eminenter praktischer Bedeutung ist, daß mit anderen Worten auch hier die als geltensollend oder geltend geglaubte praktische Idee und

36  Möglicherweise Anspielung auf Jellinek, Staatslehre (wie oben, S.  91, Anm.  26). 37  Vgl. Krieken, Albert Theodor van, Ueber die sogenannte organische Staatstheorie. Ein Beitrag zur Geschichte des Staatsbegriffs. – Leipzig: Duncker & Humblot 1873, sowie als aktuell: Gierke, Verbände. Vgl. dazu Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  91, Fn.  86. 38  Möglicherweise Bezug auf Bryce, James, The American Commonwealth, 3 Volumes. – London and New York: Macmillan 1888.

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der zu Erkenntniszwecken konstruierte theoretische Idealtypus nebeneinander herlaufen und die stete Neigung zeigen, ineinander überzugehen. – Wir hatten oben39 absichtlich den „Idealtypus“ wesentlich – | wenn auch nicht ausschließlich – als gedankliche Konstruktion zur Messung und systematischen Charakterisierung von individuellen, d. h. in ihrer Einzigartigkeit bedeutsamen Zusammenhängen – wie Christentum, Kapitalismus usw. – betrachtet. Dies geschah, um die landläufige Vorstellung zu beseitigen, als ob auf dem Gebiet der Kulturerscheinungen das abstrakt Typische mit dem abstrakt Gat­ tungsmäßigen identisch sei. Das ist nicht der Fall. Ohne den viel erörterten40 und durch Mißbrauch stark diskreditierten Begriff des „Typischen“e hier prinzipiell analysieren zu können, entnehmen wir doch schon unserer bisherigen Erörterung, daß die Bildung von Typenbegriffen im Sinn der Ausscheidung des „Zufälligen“41 auch und gerade bei historischen Individuen42 ihre Stätte findet.43 Nun aber können natürlich auch diejenigen Gattungsbegriffe, die wir fortwährend als Bestandteile historischer Darstellungen und konkreter historischer Begriffe finden, durch Abstraktion und Steigerung bestimmter ihnen begriffswesentlicher Elemente als Idealtye A: „typischen“   39  Oben, S.  202 ff. 40  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  360 ff., 487 f., 529 f. 41  Auf den „idealen Typus“ bezogen, betonen die Ausscheidung des Zufälligen z. B. Gervinus, Historik, S.  382, und Helmholtz, Malerei (wie oben, S.  25, Anm.  79), S.  135. Für Hoffmann, Rittmeister II, S.  236, ist das „fehlerhafte Pferd“ gleichfalls ein „von keiner zufälligen Einzelheit getrübtes Idealbild“. Auch Bücher, Entstehung, S.  15, möchte „jede“ der Wirtschaftsstufen „in ihrer typischen Reinheit“ erfassen, ohne sich „durch das zufällige Auftreten von Uebergangsbildungen oder von einzelnen Erscheinungen“ beirren zu lassen. 42  Vgl. oben, S.  185 mit Anm.  40. 43  Für Rickert, Grenzen, S.  363, ist „der Begriff des Typus ganz unbrauchbar“, will man „einen wirklich umfassenden Begriff des historischen Individuums erhalten“. Den Begriff des Idealtypus gebraucht er gar nicht. Vgl. auch den Brief von Max Weber an Heinrich Rickert vom 14. Juni 1904, MWG II/4, S.  230 f., hier S.  230: „Ihre Zustimmung zu dem Gedanken des ‚Idealtypus‘ erfreut mich sehr. In der That halte ich eine ähnliche Kategorie für notwendig, um ‚werthendes‘ und ‚werthbeziehendes‘ Urteil scheiden zu können. Wie man sie nennt[,] ist ja Nebensache. Ich nannte sie so, weil der Sprachgebrauch von ‚idealem Grenzfall‘, ‚idealer Reinheit‘ eines typischen Vorgangs, ‚idealer Construktion‘ etc. spricht, ohne damit ein Sein-sollendes zu meinen, ferner weil das, was Jellinek (Allg[emeine] Staatslehre) ‚Idealtypus‘ nennt, als nur im logischen Sinn perfekt gedacht ist, nicht als Vorbild.“

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pen geformt werden. Dies ist sogar ein praktisch besonders häufiger und wichtiger Anwendungsfall der idealtypischen Begriffe, und jeder individuelle Idealtypus setzt sich aus begrifflichen Elementen zusammen, die gattungsmäßig sind und als Idealtypen geformt worden sind. Auch in diesem Falle zeigt sich aber die spezifische logische Funktion der idealtypischen Begriffe. Ein einfacher Gattungsbegriff im Sinne eines Komplexes von Merkmalen, die an mehreren Erscheinungen gemeinsam sich vorfinden, ist z. B. der Begriff des „Tausches“, so lange ich von der Bedeutung der Begriffsbestandteile absehe, also einfach den Sprachgebrauch des Alltags analysiere. Setze ich diesen Begriff nun aber etwa zu dem „Grenznutzgesetz“44 in Beziehung und bilde denf Begriff des „ökonomischen Tausches“ als eines ökonomisch rationalen Vorgangs, dann enthält dieser, wie jeder logisch voll entwickelte, Begriff ein Urteil über die „typischen“ Bedingungen des Tausches in sich. Er nimmt genetischen45 Charakter an und wird damit zugleich im logischen Sinn idealtypisch, d. h. er entfernt sich von der empirischen Wirklichkeit, die nur mit ihm verglichen, auf ihn bezogen werden kann. Ähnliches gilt von allen sogenannten „Grundbegriffen“ der Nationalökonomie:46 sie sind in genetischer Form nur als Idealtypen zu entwickeln. Der Gegensatz zwischen einfachen Gattungsbegriffen, welche lediglich das empirischen Erscheinungen Gemeinsame zusammenfassen, und gattungsmäßigen Idealtypen – wie etwa eines ideal|typischen Begriffs des „Wesens“ des Handwerks – ist natürlich im einzelnen flüssig. Aber kein Gattungsbegriff hat als solcher „typischen“ Charakter, und einen reinen gattungsmäßigen „Durchschnitts“-Typus gibt es nicht. Wo immer wir – z. B. in der Statistik – von „typischen“ Größen reden, liegt mehr als ein bloßer Durchschnitt vor.47 Je mehr es sich um einfache Klassifikation von f A: der   44  Vgl. oben, S.  202 mit Anm.  99. 45  Vgl. oben, S.  203 mit Anm.  6, und S.  207 mit Anm.  15. 46  Vgl. oben, S.  210 mit Anm.  28. 47  So hat z. B. Lexis zwischen Durchschnitt und typischem Mittel unterschieden: „Hat man eine grössere Anzahl von Bestimmungen gleichartiger Grössen, so sind diese Einzelwerthe als typisch, d. h. als Näherungswerthe eines festen Grössentypus anzusehen, wenn sie sich nach dem durch die Function Fu gegebenen Wahrscheinlichkeitsgesetze des Zufalls um ihren Mittelwerth vertheilen. Der letztere stellt in diesem Falle die wahrscheinlichste Grösse des festen Grundwerthes dar und er besitzt daher

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Vorgängen handelt, die als Massenerscheinungen in der Wirklichkeit auftreten, desto mehr handelt es sich um Gattungsbegriffe, je mehr dagegen komplizierte historische Zusammenhänge in denjenigen ihrer Bestandteile, auf welchen ihre spezifische Kulturbedeu­ tung ruht, begrifflich geformt werden, desto mehr wird der Begriff – oder das Begriffssystem – den Charakter des Idealtypus an sich tragen. Denn Zweck der idealtypischen Begriffsbildung ist es über­ all, nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewußtsein zu bringen. Die Tatsache, daß Idealtypen auch gattungsmäßigg verwendet werden können und verwendet werden, bietet methodisches Interesse erst im Zusammenhang mit einem anderen Tatbestand. Bisher haben wir die Idealtypen wesentlich nur als abstrakte Begriffe von Zusammenhängen kennen gelernt, welche als im Fluß des Geschehens verharrend, als historische Individuen, an denen sich Entwicklungen vollziehen, von uns vorgestellt werden. Nun aber tritt eine Komplikation ein, welche das naturalistische Vorurteil, daß das Ziel der Sozialwissenschaften die Reduktion der Wirklichkeit auf „Gesetze“ sein müsse, mit Hilfe des Begriffes des „Typischen“ außerordentlich leicht wieder hereinpraktiziert. Auch Entwicklungen lassen sich nämlich als Idealtypen konstruieren, und diese Konstruktionen können ganz erheblichen heuristischen Wert haben. Aber es entsteht dabei in ganz besonders hohem Maße die Gefahr, daß Idealtypus und Wirklichkeit ineinander geschoben werden. Man kann z. B. zu dem theoretischen Ergebnis gelangen, daß in einer streng „handwerksmäßig“ organisierten Gesellschaft die einzige Quelle der Kapitalakkumulation die Grundrente sein könne. Daraus kann man dann vielleicht – denn die Richtigkeit der Konstruktion wäre hier nicht zu untersuchen – ein rein durch bestimmte einfache Faktoren: – begrenzter Boden, steigende Volkszahl, Edelmetallzufluß, Rationalisierung der Lebensführung, – g A: gattungsmäßige   als ‚typisches Mittel‘ eine weit grössere sachliche Bedeutung als das arithmetische Mittel oder der Durchschnitt aus Grössen, welchen die obige Beziehung zu einem festen Werthe fehlt.“ Vgl. Lexis, Wilhelm, Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft. Programm zur Uebernahme des Lehrstuhls der cameralistischen Fächer an der Grossherzoglich Badischen Universität Freiburg. – Freiburg i. Br.: Fr. Wagner 1877 (hinfort: Lexis, Massenerscheinungen), S.  34.

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bedingtes Idealbild einer Umbildung der handwerksmäßigen in die kapitalistische Wirtschaftsform konstruieren. Ob der empirisch-| historische Verlauf der Entwicklung tatsächlich der konstruierte gewesen ist, wäre nun erst mit Hilfe dieser Konstruktion als heuristischem Mittel zu untersuchen im Wege der Vergleichung zwischen Idealtypus und „Tatsachen“. War der Idealtypus „richtig“ konstruiert und entspricht der tatsächliche Verlauf dem idealtypischen nicht, so wäre damit der Beweis geliefert, daß die mittelalterliche Gesellschaft eben in bestimmten Beziehungen keine streng „handwerksmäßige“ war. Und wenn der Idealtypus in heuristisch „idealer“ Weise konstruiert war, – ob und wie dies in unserem Beispiel der Fall sein könnte, bleibt hier gänzlich außer Betracht, – dann wird er zugleich die Forschung auf den Weg lenken, der zu einer schärferen Erfassung jener nicht handwerksmäßigen Bestandteile der mittelalterlichen Gesellschaft in ihrer Eigenart und historischen Bedeutung führt. Er hat, wenn er zu diesem Ergebnis führt, seinen logischen Zweck erfüllt, gerade indem er seine eigene Unwirklichkeit manifestierte. Er war – in diesem Fall – die Erprobung einer Hypothese. Der Vorgang bietet keinerlei methodologische Bedenken, so lange man sich stets gegenwärtig hält, daß idealtypische Entwicklungskonstruktion und Geschichte zwei streng zu scheidende Dinge sind und daß die Konstruktion hier lediglich das Mittel war, planvoll die gültige Zurechnung48 eines historischen Vorganges zu seinen wirklichen Ursachen aus dem Kreise der nach Lage unserer Erkenntnis möglichen zu vollziehen.49 Diese Scheidung streng aufrecht zu erhalten wird nun erfahrungsgemäß durch einen Umstand oft ungemein erschwert. Im Interesse der anschaulichen Demonstration des Idealtypus oder der idealtypischen Entwicklung wird man sie durch Anschauungsmaterial aus der empirisch-historischen Wirklichkeit zu verdeutli­ chen suchen. Die Gefahr dieses an sich ganz legitimen Verfahrens liegt darin, daß das geschichtlicheh Wissen hier einmal als Diener der Theorie erscheint statt umgekehrt. Die Versuchung liegt für den Theoretiker recht nahe, dieses Verhältnis entweder als das norh A: geschichtlich   48  Vgl. oben, S.  185 mit Anm.  39. 49  Vgl. oben, S.  187 mit Anm.  45.

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male anzusehen, oder, was schlimmer ist, Theorie und Geschichte ineinander zu schieben und geradezu miteinander zu verwechseln. In noch gesteigertem Maße liegt dieser Fall dann vor, wenn die Idealkonstruktion einer Entwicklung mit der begrifflichen Klassifikation von Idealtypen bestimmter Kulturgebilde (z. B. der gewerblichen Betriebsformen von der „geschlossenen Hauswirtschaft“50 ausgehend, oder etwa der religiösen Begriffe, von den „Augenblicksgöttern“51 anfangend), zu einer genetischen Klassifikation ineinander | gearbeitet wird. Die nach den gewählten Begriffsmerkmalen sich ergebende Reihenfolge der Typen erscheint dann als eine gesetzlich notwendige historische Aufeinanderfolge derselben. Logische Ordnung der Begriffe einerseits und empirische Anordnung des Begriffenen in Raum, Zeit und ursächlicher Verknüpfung andererseits erscheinen dann so miteinander verkittet, daß die Versuchung, der Wirklichkeit Gewalt anzutun, um die reale Geltung der Konstruktion in der Wirklichkeit zu erhärten, fast unwiderstehlich wird. Absichtlich ist es vermieden worden, an dem für uns weitaus wichtigsten Fall idealtypischer Konstruktionen zu demonstrieren: an Marx. Es geschah, um die Darstellung nicht durch Hineinziehen von Marx-Interpretationen noch zu komplizieren und um den Erörterungen in unserer Zeitschrift, welche die Literatur, die über und im Anschluß an den großen Denker erwächst, zum regelmäßigen Gegenstand kritischer Analyse machen wird,52 nicht vorzugreifen. Daher sei hier nur konstatiert, daß natürlich alle spezifischmarxistischen „Gesetze“53 und Entwicklungskonstruktionen – soweit sie theoretisch fehlerfrei sind – idealtypischen Charakter haben. Die eminente, ja einzigartige heuristische Bedeutung dieser Idealtypen, wenn man sie zur Vergleichung der Wirklichkeit mit 50  Für Bücher, Entstehung, S.  15, beginnt die volkswirtschaftliche Entwicklung mit der „geschlossenen Hauswirtschaft“. Vgl. oben, S.  203 mit Anm.  7. 51  Vgl. Usener, Hermann, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung. – Bonn: Friedrich Cohen 1896, S.  279. 52  Vgl. z. B. Schmidt, Conrad, Neuere Schriften von und über Karl Marx, in: AfSSp, Band 20, Heft 2, 1905, S.  386–412, sowie die Zusammenstellung des Schrifttums von Sombart, Werner, Ein Beitrag zur Bibliographie des Marxismus, ebd., S.  413–430. 53  Etwa das „Gesetz des tendentiellen Falls der Profitrate“. Vgl. Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie, Band 3, Teil 1, Buch III: Der Gesammtprocess der kapitalistischen Produktion. Kapitel I bis XXVIII, hg. von Friedrich Engels. – Hamburg: Otto Meissner 1894, S.  191–249.

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ihnen benutzt und ebenso ihre Gefährlichkeit, sobald sie als empirisch geltend oder gar als reale (d. h. in Wahrheit metaphysische) „wirkende Kräfte“, „Tendenzen“ usw. vorgestellt werden, kennt jeder, der je mit marxistischen Begriffen gearbeitet hat. Gattungsbegriffe – Idealtypen – idealtypische Gattungsbegriffe, – Ideen im Sinne von empirisch in historischen Menschen wirksamen Gedankenverbindungen – Idealtypen solcher Ideen – Ideale, welche historische Menschen beherrschen – Idealtypen solcher Ideale – Ideale, auf welche der Historiker die Geschichte bezieht; – theoretische Konstruktionen unter illustrativer Benutzung des Empirischen – geschichtliche Untersuchung unter Benutzung der theoretischen Begriffe als idealer Grenzfälle, – dazu dann die verschiedenen möglichen Komplikationen, die hier nur angedeutet werden konnten: lauter gedankliche Bildungen, deren Verhältnis zur empirischen Wirklichkeit des unmittelbar Gegebenen in jedem einzelnen Fall problematisch ist: – diese Musterkarte allein zeigt schon die unendliche Verschlungenheit der begrifflich-methodischen Probleme, welche auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften fortwährend lebendig bleiben. Und wir mußten uns schlechthin versagen, auf die praktisch methodologischen Fragen hier, wo die Pro|bleme nur gezeigt werden sollten, ernstlich einzugehen, die Beziehungen der idealtypischen zur „gesetzlichen“ Erkenntnis, der idealtypischen Begriffe zu den Kollektivbegriffen usw. eingehender zu erörtern. – Der Historiker wird nach allen diesen Auseinandersetzungen doch immer wieder darauf beharren, daß die Herrschaft der idealtypischen Form der Begriffsbildung und Konstruktion spezifische Symptome der Jugendlichkeit einer Disziplin seien. Und darin ist ihm in gewissem Sinne recht zu geben, freilich mit anderen Konsequenzen, als er sie ziehen wird. Nehmen wir ein paar Beispiele aus anderen Disziplinen. Es ist gewiß wahr: der geplagte Quartaner ebenso wie der primitive Philologe stellt sich zunächst eine Sprache „organisch“,54 d. h. als ein von Normen beherrschtes überempiri-

54  Zur Vorstellung von Sprache als Organismus vgl. auch Humboldt, Wilhelm von, Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, in: ders., Gesammelte Werke, Band 3. – Berlin: G. Reimer 1843, S.  241–268, hier S.  241, 243; Humboldt, Wilhelm von, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung

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sches Ganzes vor, die Aufgabe der Wissenschaft aber als die: festzustellen, was – als Sprachregel – gelten solle. Die „Schriftsprache“ logisch zu bearbeiten wie etwa die Crusca55 es tat, ihren Gehalt auf Regeln zu reduzieren, ist die normalerweise erste Aufgabe, welche sich eine „Philologie“ stellt. Und wenn demgegenüber heute ein führender Philologe das „Sprechen jedes einzelnen“ als Objekt der Philologie proklamiert,56 so ist selbst die Aufstellung eines solchen Programms nur möglich, nachdem in der Schriftsprache ein relativ fester Idealtypus vorliegt, mit welchem die sonst gänzlich orientierungs- und uferlose Durchforschung der unendlichen Mannigfaltigkeit des Sprechens (mindestens stillschweigend) operieren kann. – Und nicht anders funktionierten die Konstruktionen der naturrechtlichen und der organischen Staatstheorien, oder etwa – um an einen Idealtypus in unserm Sinn zu erinnern – die Benjamin Constantsche Theorie des antiken Staats,57 gewissermaßen als Nothäfen, bis man gelernt hatte, sich auf dem ungeheueren Meere der empirischen Tatsachen zurechtzufinden. Die reif werdende Wissenschaft bedeutet also in der Tat immer Überwindung des Idealtypus, sofern er als empirisch geltend oder als Gattungsbegriff gedacht wird. Allein nicht nur ist z. B. die Benutzung der geistvollen Constantschen Konstruktion zur Demonstration gewisser Seiten und

des Menschengeschlechts, in: ders., Gesammelte Werke, Band 6, ebd. 1848, S.  1–425, hier S.  2 f. Vgl. auch Becker, Karl Ferdinand, Organism der Sprache, 2., neubearbeitete Aufl. – Frankfurt am Main: G. F. Kettembeil 1841; Schleicher, August, Die deutsche Sprache. – Stuttgart: J. G. Cotta 1860, S.  33 ff. 55  Die Accademia della Crusca, 1583 in Florenz gegründet, gilt als älteste Sprachgesellschaft. 56  Für Hermann Paul sind „das wahre object für den sprachforscher […] sämmtliche äusserungen der sprachthätigkeit an sämmtlichen individuen in ihrer wechselwirkung auf einander. Alle lautcomplexe, die irgend ein einzelner je gesprochen, gehört oder vorgestellt hat mit den damit associierten vorstellungen, deren symbole sie gewesen sind, alle die mannigfachen beziehungen, welche die sprachelemente in den seelen der einzelnen eingegangen sind, fallen in die sprachgeschichte, müssten eigentlich alle bekannt sein, um ein vollständiges verständnis der entwickelung zu ermöglichen.“ Vgl. Paul, Hermann, Principien der Sprachgeschichte. – Halle: Max Niemeyer 1880, S.  28 f. Zu Pauls Begriff der Kulturwissenschaft vgl. Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  12, 22 ff. 57  Vgl. Constant, Benjamin, De la liberté des anciens comparée à celle des modernes. Discours prononcé à l’Athénée de Paris, in: Œuvres Politiques de Benjamin Constant, avec introduction, notes et index par Charles Louandre. – Paris: Charpentier et Cie 1874, S.  259–286. Constant spricht der antiken Demokratie, die den Bürgern keine individuelle Freiheit eingeräumt habe, ihren Vorbildcharakter ab.

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historischer Eigenarten antiken Staatslebens noch heute ganz legitim, sobald man sorgsam ihren idealtypischen Charakter festhält.58 Sondern vor allem: es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit59 beschieden ist, und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue | Problemstellungen zuführt. Bei ihnen liegt die Vergänglichkeit aller, aber zugleich die Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer Konstruktionen im Wesen der Aufgabe. Stets wiederholen sich die Versuche, den „eigentlichen“, „wahren“ Sinn historischer Begriffe festzustellen, und niemals gelangen sie zu Ende. Ganz regelmäßig bleiben infolgedessen die Synthesen, mit denen die Geschichte fortwährend arbeitet, entweder nur relativ bestimmte Begriffe, oder, sobald Eindeutigkeit des Begriffsinhaltes erzwungen werden soll, wird der Begriff zum abstrakten Idealtypus und enthüllt sich damit als ein theoretischer, also „einseitiger“ Gesichtspunkt, unter dem die Wirklichkeit beleuchtet, auf den sie bezogen werden kann, der aber zum Schema, in das sie restlos eingeordnet werden könnte, sich selbstverständlich als ungeeignet erweist. Denn keines jener Gedankensysteme, deren wir zur Erfassung der jeweils bedeutsamen Bestandteile der Wirklichkeit nicht entraten können, kann ja ihren unendlichen Reichtum erschöpfen. Keins ist etwas anderes als der Versuch, auf Grund des jeweiligen Standes unseres Wissens und der uns jeweils zur Verfügung stehenden begrifflichen Gebilde, Ordnung in das Chaos derjenigen Tatsachen zu bringen, welche wir in den Kreis unseres Interesses jeweils eingezogen haben. Der Gedankenapparat, welchen die Vergangenheit durch denkende Bearbeitung, das heißt aber in Wahrheit: denkende Umbildung60 der unmittelbar gegebe-

58  Vgl. allerdings Jellinek, Staatslehre (wie oben, S.  91, Anm.  26), S.  267 f., 281 f., hier S.  281: „möge die namentlich aus dem dorischen Idealtypus und Plato zusammengestümperte Constant-Stahl-Mohl ’sche Lehre von der Nichtanerkennung der individuellen Persönlichkeit in Hellas endlich aus der Literatur verschwinden. Der Grieche war Rechtssubjekt nicht nur um des Staates, sondern auch um seinetwillen“. 59  Ewige Jugend war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein literarischer Topos u. a. bei Johannes Kessler, Leopold von Sacher-Masoch und Oscar Wilde sowie ein Leitthema der Jugend- und Lebensreformbewegung. 60  Für Rickert impliziert wissenschaftliche Erkenntnis die „Umbildung“ oder „Umformung“ der Wirklichkeit. Vgl. Rickert, Grenzen, S.  229, 246, 249, 253, 602, 628, 642 f., 645, 657 f.

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nen Wirklichkeit und durch Einordnung in diejenigen Begriffe, die dem Stande ihrer Erkenntnis und der Richtung ihres Interesses entsprachen, entwickelt hat, steht in steter Auseinandersetzung mit dem, was wir an neuer Erkenntnis aus der Wirklichkeit gewinnen können und wollen. In diesem Kampf vollzieht sich der Fortschritt der kulturwissenschaftlichen Arbeit. Ihr Ergebnis ist ein steter Umbildungsprozeß jener Begriffe, in denen wir die Wirklichkeit zu erfassen suchen. Die Geschichte der Wissenschaften vom sozialen Leben ist und bleibt daher ein steter Wechsel zwischen dem Versuch, durch Begriffsbildung Tatsachen gedanklich zu ordnen,61 – der Auflösung der so gewonnenen Gedankenbilder durch Erweiterung und Verschiebung des wissenschaftlichen Horizontes, – und der Neubildung von Begriffen auf der so veränderten Grundlage. Nicht etwa das Fehlerhafte des Versuchs, Begriffssysteme über­ haupt zu bilden, spricht sich darin aus: – eine jede Wissenschaft, auch die einfach darstellende Geschichte, arbeitet mit dem Begriffsvorrat ihrer Zeit –[,] sondern der Umstand kommt | darin zum Ausdruck, daß in den Wissenschaften von der menschlichen Kultur die Bildung der Begriffe von der Stellung der Probleme abhängt, und daß diese letztere wandelbar ist mit dem Inhalt der Kultur selbst. Das Verhältnis von Begriff und Begriffenemi in den Kulturwissenschaften bringt die Vergänglichkeit jeder solchen Synthese mit sich. Große begriffliche Konstruktionsversuche haben auf dem Gebiet unserer Wissenschaft ihren Wert regelmäßig gerade darin gehabt, daß sie die Schranken der Bedeutung desjenigen Gesichtspunktes, der ihnen zugrunde lag, enthüllten. Die weittragendsten Fortschritte auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften knüpfen sich sachlich an die Verschiebung der praktischen Kulturprobleme und kleiden sich in die Form einer Kritik der Begriffsbildung. Es wird zu den vornehmsten Aufgaben unserer Zeitschrift gehören, dem Zweck dieser Kritik und damit der Untersuchung der Prinzipien der Synthese auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft zu dienen. – Bei den Konsequenzen, die aus dem Gesagten zu ziehen sind, gelangen wir nun an einen Punkt, wo unsere Ansichten sich vielleicht hier und da von denen mancher, auch hervorragender, Veri A: Begriffenen   61  Vgl. oben, S.  148 mit Anm.  30.

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treter der historischen Schule, zu deren Kindern wir ja selbst gehören, scheiden. Diese letzteren nämlich verharren vielfach ausdrücklich oder stillschweigend in der Meinung, es sei das Endziel, der Zweck, jeder Wissenschaft, ihren Stoff in einem System von Begriffen zu ordnen, deren Inhalt durch Beobachtung empirischer Regelmäßigkeiten, Hypothesenbildung und Verifikation derselben zu gewinnen und langsam zu vervollkommnen sei, bis irgend wann eine „vollendete“ und deshalb deduktive Wissenschaft daraus entstanden sei.62 Für dieses Ziel sei die historisch-induktive Arbeit der Gegenwart eine durch die Unvollkommenheit unserer Disziplin bedingte Vorarbeit: nichts muß naturgemäß vom Standpunkt dieser Betrachtungsweise aus bedenklicher erscheinen, als die Bildung und Verwendung scharfer Begriffe, die ja jenes Ziel einer fernen Zukunft voreilig vorweg zu nehmen trachten müßte. – Prinzipiell unanfechtbar wäre diese Auffassung auf dem Boden der antik-scholastischen Erkenntnislehre, welche denn auch der Masse der Spezialarbeiter der historischen Schule noch tief im Blute steckt: Als Zweck der Begriffe wird vorausgesetzt, vorstellungsmäßige Abbilder der „objektiven“ Wirklichkeit zu sein: daher der immer wiederkehrende Hinweis auf die Unwirklichkeit aller scharfen Begriffe. Wer den Grundgedanken der auf Kant zurückgehenden modernen Erkenntnis|lehre: daß die Begriffe vielmehr gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein können,63 zu Ende denkt, dem wird der Umstand, daß scharfe genetische Begriffe notwendig Idealtypen sind, nicht gegen die Bildung von solchen sprechen können. Ihm kehrt sich das Verhältnis von Begriff und historischer Arbeit um: Jenes Endziel erscheint ihm logisch unmöglich, die Begriffe nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck der Erkenntnis der unter individuellen Gesichtspunkten bedeutsamen Zusammenhänge: gerade weil die Inhalte der historischen Begriffe notwendig wandelbar sind, müssen sie jeweils notwendig scharf formuliert werden. Er wird nur das Verlangen stellen, daß bei ihrer Verwen­ dung stets ihr Charakter als idealer Gedankengebilde sorgsam fest62  Vgl. Schmoller, Methodologie, S.  979: „alle vollendete Wissenschaft ist deduktiv“. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  60, Fn.  26. 63  Vgl. Kant, Kritik, S.  21 ff. (B XVIff.). Mit einer Anstreichung im Handexemplar (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München).

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gehalten, Idealtypus und Geschichte nicht verwechselt werde. Er wird, da wirklich definitive historische Begriffe bei dem unvermeidlichen Wechsel der leitenden Wertideen als generelles Endziel nicht in Betracht kommen, glauben, daß eben dadurch, daß für den einzelnen, jeweils leitenden Gesichtspunkt, scharfe und eindeutige Begriffe gebildet werden, die Möglichkeit gegeben sei, die Schran­ ken ihrer Geltung jeweils klar im Bewußtsein zu behalten. Man wird nun darauf hinweisen, und wir haben es selbst zugegeben,64 daß ein konkreter historischer Zusammenhang65 im einzelnen Fall sehr wohl in seinem Ablauf anschaulich gemacht werden könne, ohne daß er fortwährend mit definierten Begriffen in Beziehung gesetzt werde. Und man wird demgemäß für den Historiker unserer Disziplin in Anspruch nehmen, daß er ebenso, wie man dies von dem politischen Historiker gesagt hat, die „Sprache des Lebens“ reden dürfe.66 Gewiß! Nur ist dazu zu sagen, daß es bei diesem Verfahren bis zu einem oft sehr hohen Grade notwendig Zufall bleibt, ob der Gesichtspunkt, unter welchem der behandelte Vorgang Bedeutung gewinnt, zu klarem Bewußtsein gelangt. Wir sind im allgemeinen nicht in der günstigen Lage des politischen Historikers, bei welchem die Kulturinhalte, auf die er seine Darstellung bezieht, regelmäßig eindeutig sind – oder zu sein scheinen. Jeder nur anschaulichen Schilderung haftet die Eigenart der Bedeutung künstlerischer Darstellung67 an: „Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt,“68 – gültige Urteile setzen überall die logische 64  Oben, S.  206 ff. 65  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  392 ff. 66 Theodor Mommsen formuliert mit Bezug auf den „Rhetor und Romanschreiber“ Hegesias von Magnesia und seine Anhänger, die sich gegen den „orthodoxen Atticismus“ auflehnten: „Sie forderten das Bürgerrecht für die Sprache des Lebens, ohne Unterschied, ob das Wort und die Wendung in Attica entstanden sei oder in Karien und Phrygien; sie selber sprachen und schrieben nicht für den Geschmack der gelehrten Cliquen, sondern für den des großen Publicums.“ Vgl. Mommsen, Theodor, Römische Geschichte, Band 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus, 2.  Aufl. – Berlin: Weidmann 1857, S.  557. 67 Für Rickert, Grenzen, S.  387, macht die „Anschaulichkeit der Wirklichkeit“ die „künstlerische Schilderung unentbehrlich“, wodurch die Wissenschaft aber nicht zur Kunst wird, ist doch „für den Künstler die anschauliche Darstellung Zweck, für den Historiker dagegen nur Mittel“. Auch Gervinus, Historik, S.  366, betont, daß ein „denkender Historiker“ weder ein „historischer Poet“ noch ein „poetischer Historiker“, sondern „bloß ein sinnvoll ordnender und künstlerisch darstellender Historiker werden will“. Zur Funktion der Phantasie vgl. oben, S.  186 f. mit Anm.  44. 68  Vgl. Goethe, Faust I, S.  9.

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Bearbeitung des Anschaulichen, das heißt die Verwendung von Begriffen voraus, und es ist zwar möglich und oft ästhetisch reizvoll, diese in petto69 zu behalten, aber es gefährdet | stets die Sicherheit der Orientierung des Lesers, oft die des Schriftstellers selbst, über Inhalt und Tragweite seiner Urteile. Ganz hervorragend gefährlich aber kann nun die Unterlassung scharfer Begriffsbildung für praktische, wirtschafts- und sozialpoli­ tische Erörterungen werden. Was hier z. B. die Verwendung des Terminus „Wert“ – jenes Schmerzenskindes unserer Disziplin,70 welchem eben nur idealtypisch irgend ein eindeutiger Sinn gegeben werden kann –, oder Worte wie „produktiv“, „vom volkswirtschaftlichen Standpunkt“ usw., die überhaupt keiner begrifflich klaren Analyse standhalten, für Verwirrung gestiftet haben, ist für den Außenstehenden geradezu unglaublich. Und zwar sind es hier vornehmlich die der Sprache des Lebens entnommenen Kollektivbegriffe, welche Unsegen stiften.71 Man nehme, um ein für den Laien möglichst durchsichtiges Schulbeispiel herauszugreifen, den Begriff „Landwirtschaft“, wie er in der Wortverbindung „Interessen der Landwirtschaft“ auftritt. Nehmen wir zunächst die „Interessen der Landwirtschaft“ als die empirisch konstatierbaren mehr oder minder klaren subjektiven Vorstellungen der einzelnen wirtschaftenden Individuen von ihren Interessen, und sehen wir dabei ganz und gar von den unzähligen Konflikten der Interessen viehzüchtender, viehmästender, kornbauender, kornverfütternder, schnapsdestillierender etc. Landwirte hier ab, so kennt zwar nicht jeder Laie, aber doch jeder Fachmann den gewaltigen Knäuel von durch- und gegeneinander laufenden Wertbeziehungen,72 der darunter unklar vorgestellt wird. Wir wollen hier nur einige wenige aufzählen: Interessen von Landwirten, welche ihr Gut verkaufen wollen und deshalb lediglich an einer schnellen Hausse des Bodenpreises

69  Ital.: im Herzen, im Sinn. 70  Vgl. oben, S.  210 mit Anm.  28. 71 Vgl. Sigwart, Logik II (wie oben, S.  5, Anm.  31), S.  258 ff. Den Forschungsstand zum Kollektivbegriff hat Kistiakowski rekonstruiert, ein Schüler Wilhelm Windelbands und Georg Simmels, zu dem Weber Anfang 1905 in Kontakt tritt. Vgl. das Kapitel „Kollektivbegriffe und Kollektivwesen“ in: Kistiakowski, Theodor, Gesellschaft und Einzelwesen. Eine methodologische Studie. – Berlin: Otto Liebmann 1899 (hinfort: Kistiakowski, Gesellschaft), hier S.  111 ff. 72  Vgl. oben, S.  153 f. mit Anm.  43, S.  166 mit Anm.  71, und S.  189 mit Anm.  53.

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interessiert sind; das gerade entgegengesetzte Interesse von solchen, die sich ankaufen, arrondieren oder pachten wollen; das Inter­esse derjenigen, die ein bestimmtes Gut ihren Nachfahren um sozialer Vorteile willen zu erhalten wünschen und deshalb an Stabilität des Bodenbesitzes interessiert sind; – das entgegengesetzte Interesse solcher, die in ihrem und ihrer Kinder Interesse Bewegung des Bodens in der Richtung zum besten Wirt oder – was nicht ohne weiteres dasselbe ist – zum kapitalkräftigsten Käufer wünschen; – das rein ökonomische Interesse der im privatwirtschaftlichen Sinne „tüchtigsten Wirte“73 an ökonomischer Bewegungsfreiheit; – das damit im Konflikt stehende Interesse bestimmter herrschender Schichten an der Erhaltung der überkommenen sozialen und politischen Position des eigenen „Standes“ und damit der eigenen Nachkommen; – das soziale der | nicht herrschenden Schichten der Landwirte am Wegfall jener oberen, ihre eigene Position drückenden Schichten; – ihr unter Umständen damit kollidierendes Interesse, in jenen politische Führer zur Wahrung ihrer Erwerbsinteressen zu besitzen; – die Liste könnte noch gewaltig vermehrt werden, ohne ein Ende zu finden, obwohl wir so summarisch und unpräzis wie nur möglich verfahren sind. Daß sich mit den mehr „egoistischen“ Interessen dieser Art die verschiedensten rein idealen Werte mischen, verbinden, sie hemmen und ablenken können, übergehen wir, um uns vor allem zu erinnern, daß, wenn wir von „Interessen der Landwirtschaft“ reden, wir regelmäßig nicht nur an jene materiellen und idealen Werte denken, auf welche die jeweiligen Landwirte selbst ihre „Interessen“ beziehen, sondern daneben an die zum Teil ganz heterogenen Wertideen, auf welche wir die Landwirtschaft beziehen können, – beispielsweise: Produktionsinteressen, hergeleitet aus dem Interesse billiger und dem damit nicht immer zusammenfallenden Interesse qualitativ guter Ernährung der Bevölkerung, wobei die Interessen von Stadt und Land in den mannigfachsten Kollisionen liegen können, und wobei das Interesse der gegenwärtigen Generation mit den wahrscheinlichen Interessen künftiger Generationen keineswegs iden73  Die „Bewegung des Besitzes zu dem tüchtigsten Wirthe“ bzw. des „Bodens zum besten Wirth“ war eine unter Nationalökonomen verbreitete Formulierung. Vgl. z. B. Buchenberger, Adolf, Agrarwesen und Agrarpolitik, Band 2. – Leipzig: C. F. Winter 1893, S.  272 f.

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tisch sein muß; – populationistische Interessen: insbesondere Interesse an einer zahlreichen Landbevölkerung, hergeleitet, sei es aus Interessen „des Staates“, machtpolitischen oder innerpolitischen, oder aus anderen ideellen Interessen von unter sich verschiedener Art, z. B. an dem erwarteten Einfluß einer zahlreichen Landbevölkerung auf die Kultureigenart eines Landes; – dies populationistische Interesse kann mit den verschiedensten privatwirtschaftlichen Interessen aller Teile der Landbevölkerung, ja denkbarerweise mit allen Gegenwartsinteressen der Masse der Landbevölkerung kollidieren. Oder etwa das Interesse an einer bestimmten Art der sozialen Gliederung der Landbevölkerung wegen der Art der politischen oder Kultureinflüsse, die sich daraus ergeben: dies Interesse kann je nach seiner Richtung mit allen denkbaren, auch den dringlichsten Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der einzelnen Landwirte sowohl wie „des Staates“ kollidieren. Und – dies kompliziert die Sache weiter – der „Staat“, auf dessen „Interesse“ wir solche und zahlreiche andere ähnliche Einzelinteressen gern beziehen, ist uns dabei ja oft nur Deckadresse für ein in sich höchst verschlungenes Knäuel von Wertideen, auf die er seinerseits von uns im einzelnen Falle bezogen wird: rein militärische | Sicherung nach außen; Sicherung der Herrscherstellung einer Dynastie oder bestimmter Klassen nach innen; Interesse an der Erhaltung und Erweiterung der formal-staatlichen Einheit der Nation, um ihrer selbst willen oder im Interesse der Erhaltung bestimmter objektiver, unter sich wieder sehr verschiedener Kulturwerte, die wir als staatlich geeintes Volk zu vertreten glauben; Umgestaltung des sozialen Charakters des Staates im Sinne bestimmter, wiederum sehr verschiedener Kulturideale – es würde zu weit führen, auch nur anzudeuten, was alles unter dem Sammelnamen „staatlicher Interessen“ läuft, auf die wir „die Landwirtschaft“ beziehen können. Das hier gewählte Beispiel und noch mehr unsere summarische Analyse sind plump und einfach. Der Laie möge sich nun einmal etwa den Begriff „Klasseninteresse der Arbeiter“ ähnlich (und gründlicher) analysieren, um zu sehen, welch widerspruchsvoller Knäuel teils von Interessen und Idealen der Arbeiter, teils von Idealen, unter denen wir die Arbeiter betrachten, dahinter steckt. Es ist unmöglich, die Schlagworte des Interessenkampfes durch rein empiristische Betonung ihrer „Relativität“ zu überwinden: klare, scharfe, begriffliche Feststellung der verschiedenen möglichen Gesichtspunkte ist der

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einzige Weg, der hier über die Unklarheit der Phrase hinausführt. Das „Freihandelsargument“74 als Weltanschauung oder gültige Norm ist eine Lächerlichkeit, aber schweren Schaden hat es für unsere handelspolitischen Erörterungen mit sich gebracht – und zwar ganz gleichgültig, welche handelspolitischen Ideale der einzelne vertreten will –[,] daß wir die in solchen idealtypischen Formeln niedergelegte alte Lebensweisheit der größten Kaufleute der Erde in ihrem heuristischen Wert unterschätzt haben.75 Nur durch idealtypische Begriffsformeln werden die Gesichtspunkte, die im Einzelfalle in Betracht kommen, in ihrer Eigenart im Wege der Konfrontierung des Empirischen mit dem Idealtypus wirklich deutlich. Der Gebrauch der undifferenzierten Kollektivbegriffe, mit denen die Sprache des Alltags arbeitet, ist stets Deckmantel von Unklarheiten des Denkens oder Wollens, oft genug das Werkzeug bedenklicher Erschleichungen,76 immer aber ein Mittel, die Entwicklung der richtigen Problemstellung zu hemmen. Wir sind am Ende dieser Ausführungen, die lediglich den Zweck verfolgten, die oft haarfeine Linie, welche Wissenschaft und Glauben scheidet, hervortreten und den Sinn sozialökonomischen Erkenntnisstrebens erkennen zu lassen. Die objektive Gültigkeit alles | Erfahrungswissens beruht darauf und nur darauf, daß die gegebene Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spezifischen Sinn subjektiv, nämlich die Voraussetzung unserer Erkenntnis darstellend, und an die Voraussetzung des Wertes derjenigen Wahrheit gebunden sind, die das Erfahrungswissen allein uns zu geben vermag. Wem diese Wahrheit nicht wertvoll ist, – und der Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit ist Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes – dem haben wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu bieten. Freilich 74 Das Freihandelsargument richtete sich gegen die Einführung von Schutzzöllen, die in den Worten Lujo Brentanos, eines Befürworters des Freihandels, „im Sonderinteresse bestimmter Kreise die Benutzung eines Fortschrittes verhindert, welcher der nationalen Arbeit größere Erträge abwerfen würde“. Vgl. Brentano, Lujo, Das Freihandelsargument. – Berlin-Schöneberg: Buchverlag der Hilfe 1901, S.  7 f. Zur Freihandelsschule vgl. Weber, Roscher und Knies 2, unten, S.  244 mit Anm.  7. 75  Möglicherweise Anspielung auf Ricardo, der selbst ein Vermögen an der Börse gemacht hatte und zu den reichsten Briten seiner Zeit zählte, besonders auf dessen Theorem der komparativen Kostenvorteile, mit dem er den Freihandel begründete. Vgl. Ricardo, Principles (wie oben, S.  4, Anm.  26), S.  146 ff. 76  Vgl. oben, S.  215 mit Anm.  35.

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wird er vergeblich nach einer anderen Wahrheit suchen, die ihm die Wissenschaft in demjenigen ersetzt, was sie allein leisten kann: Begriffe und Urteile, die nicht die empirische Wirklichkeit sind, auch nicht sie abbilden, aber sie in gültiger Weise denkend ordnen lassen.77 Auf dem Gebiet der empirischen sozialen Kulturwissenschaften ist, so sahen wir,78 die Möglichkeit sinnvoller Erkenntnis des für uns Wesentlichen in der unendlichen Fülle des Geschehens gebunden an die unausgesetzte Verwendung von Gesichtspunkten spezifisch besonderten Charakters, welche alle in letzter Instanz ausgerichtet sind auf Wertideen, die ihrerseits zwar empirisch als Elemente alles sinnvollen menschlichen Handelns konstatierbar und erlebbar, nicht aber aus dem empirischen Stoff als geltend begründbar sind. Die „Objektivität“79 sozialwissenschaftlicher Erkenntnis hängt vielmehr davon ab, daß das empirisch Gegebene zwar stets auf jene Wertideen, die ihr allein Erkenntniswert verleihen, ausgerichtet, in ihrer Bedeutung aus ihnen verstanden, dennoch aber niemals zum Piedestal für den empirisch unmöglichen Nachweis ihrer Geltung gemacht wird. Und der uns allen in irgend einer Form innewohnende Glaube an die überempirische Geltung letzter und höchster Wertideen, an denen wir den Sinn unseres Daseins verankern,80 schließt die unausgesetzte Wandelbarkeit der konkreten Gesichtspunkte, unter denen die empirische Wirklichkeit Bedeutung erhält, nicht etwa aus, sondern ein: das Leben in 77  Vgl. oben, S.  148 mit Anm.  30. 78  Oben, S.  189 ff. 79  Vgl. oben, S.  153 f. mit Anm.  43. 80 Vgl. Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  68: „An objektive Werthe aber, deren Geltung die Voraussetzung […] für die Arbeit in den Kulturwissenschaften selbst bildet, glauben wir im Grunde Alle“. Rickert bekräftigt diesen Glauben mit den „schönen Worte[n]“, die Riehl am Ende einer Nietzsche-Studie gefunden hat: „Immer wird der Mensch an das Uebermenschliche glauben, mag er es nun das Göttliche nennen, oder das Ideale. Ohne ein Ideal über sich zu haben, kann der Mensch im geistigen Sinne des Wortes nicht aufrecht gehen. Dieses Uebermenschliche, Vorbildliche ist die Welt der geistigen Werte; – auch der Grösste hat diese Welt noch über sich, wie er sie zugleich in sich trägt. Diese Werte aber, die das Handeln der Menschen leiten und seine Gesinnung beseelen, werden nicht erfunden, oder durch Umwertung neu geprägt; sie werden entdeckt und gleichwie die Sterne am Himmel treten sie nach und nach mit dem Fortschritte der Kultur in den Gesichtskreis der Menschen. Es sind nicht alte Werte, nicht neue Werte, es sind die Werte.“ Vgl. Riehl, Alois, Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker. – Stuttgart: Fr. Frommann (E. Hauff) 1897, S.  132. Webers Handexemplar dieses Werks befindet sich in der Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München.

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seiner irrationalen Wirklichkeit, und sein Gehalt an möglichen Bedeutungen sind unausschöpfbar, die konkrete Gestaltung der Wertbeziehung bleibt daher fließend, dem Wandel unterworfen in die dunkle Zukunft der menschlichen Kultur hinein. Das Licht, welches jene höchsten Wertideen spenden, fällt jeweilig auf einen stets wechselnden endlichen Teil des ungeheuren chaotischen Stromes von Geschehnissen,81 der sich durch die Zeit dahinwälzt. – Das alles möge nun nicht dahin mißverstanden werden, daß | die eigentliche Aufgabe der Sozialwissenschaft eine stete Hetzjagd nach neuen Gesichtspunkten und begrifflichen Konstruktionen sein solle. Im Gegenteil: nichts sollte hier schärfer betont werden als der Satz, daß der Dienst an der Erkenntnis der Kulturbedeutung konkreter historischer Zusammenhänge ausschließlich und allein das letzte Ziel ist, dem, neben anderen Mitteln, auch die begriffsbildende und begriffskritische Arbeit dienen will. – Es gibt, um mit F[riedrich] Th[eodor] Vischer zu reden, auch auf unserem Gebiete „Stoffhuber“ und „Sinnhuber“.82 Der tatsachengierige Schlund der ersteren ist nur durch Aktenmaterial, statistische Folianten und Enqueten zu stopfen, für die Feinheit des neuen Gedankens ist er unempfindlich. Die Gourmandise der letzteren verdirbt sich den Geschmack an den Tatsachen durch immer neue Gedankendestillate. Jene echte Künstlerschaft, wie sie z. B. unter den Historikern Ranke in so grandiosem Maße besaß, pflegt sich darin gerade zu manifestieren, daß sie durch Beziehung bekannter Tatsachen auf bekannte Gesichtspunkte dennoch ein Neues zu schaffen weiß. Alle kulturwissenschaftliche Arbeit in einer Zeit der Spezialisierung wird, nachdem sie durch bestimmte Problemstellungen einmal auf einen bestimmten Stoff hin ausgerichtet ist und sich ihre methodischen Prinzipien geschaffen hat, die Bearbeitung dieses Stoffes als Selbstzweck betrachten, ohne den Erkenntniswert der einzelnen Tatsachen stets bewußt an den letzten Wertideen zu kontrollieren, ja ohne sich ihrer Verankerung an diesen Wertideen 81  Vgl. oben, S.  193 f. mit Anm.  69. 82  Vischer hat unter dem Pseudonym Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky den zweiten Teil des „Faust“ parodiert und die Interpreten, die sich an Goethes Alterswerk zu Tode deuteten, in Stoff- und Sinnhuber eingeteilt. Vgl. [Vischer, Friedrich Theodor,] Faust. Der Tragödie dritter Theil. Treu im Geiste des zweiten Theils des Götheschen Faust gedichtet, 2., umgearbeitete und vermehrte Aufl. – Tübingen: Laupp 1886, S.  161 ff.

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überhaupt bewußt zu bleiben. Und es ist gut so. Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in die Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken. Sie zieht jenen Gestirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermögen: j„… der neue Trieb erwacht, Ich eile fort, ihr ew’ges Licht zu trinken, Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht, Den Himmel über mir und unter mir die Wellen.“j 83 |

j–j  Petitdruck in A.   83  Goethe, Faust I, S.  45.

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Redaktionelle Bemerkung zu vorstehendem Aufsatz [von Gustav Cohn, Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie]

Editorischer Bericht I.  Zur Entstehung Im dritten Heft des 20.  Bandes des „Archiv[s] für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, das im März 1905 erschien, publizierte Gustav Cohn, ein namhafter „Vertreter“ der „ethischen Nationalökonomie“,1 die Abhandlung „Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie“.2 Darin knüpfte er direkt an Max Webers Abhandlung „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“3 an und problematisierte die „Scheidung […] zwischen dem Seienden und dem Seinsollenden in dem Stoffe unserer Wissenschaft“.4 Webers redaktionelle Bemerkung schließt an Cohns Abhandlung an.5 Redaktionelle Bemerkungen waren ein Mittel des Herausgeberkreises, später der Redaktion im engeren Sinne, Artikel in technischer oder inhaltlicher Hinsicht zu kommentieren.6 Weber nutzt diese Möglichkeit, geht aber nicht auf Cohns Position ein, sondern auf dessen Darstellung einer Kontroverse im Verein für Socialpolitik. Dabei äußert sich Weber – auch durch Werner Sombart „beauftragt“7 – weniger als Herausgeber des „Archivs“ als vielmehr in seiner Funktion als Mitglied des Ausschusses des Vereins, dem er zusammen mit Sombart angehört.8 In der Ausschußsitzung am 13. März 1903 war es zu einer Debatte darüber gekommen, ob eine Gegendarstellung der Direktion der Großen Berliner Stra1  Sombart, Ideale (wie oben, S.  106, Anm.  9), S.  16. 2  Cohn, Nationalökonomie, erschienen in: AfSSp, Band 20, Heft 3, 1905, S.  461–478. 3  Weber, Objektivität, oben, S.  135–234. 4  Cohn, Nationalökonomie, S.  461, 466. 5  Vgl. unten, S.  237–239. 6  Vgl. dazu die im Anhang abgedruckten Anmerkungen der Redaktion, unten, S.  669– 673. 7  Vgl. unten, S.  237, Fn.  1. 8  Weber war im März 1893 erstmals in den Ausschuß kooptiert worden (vgl. Boese, Franz, Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872–1932 (Schriften des Vereins für Sozialpolitik 188). – Leipzig: Duncker & Humblot 1939, S.  69). Sombart war bereits ein Jahr zuvor kooptiert (ebd., S.  66) und dann ab 1899 zum Ausschußmitglied gewählt worden (vgl. das Protokoll der Ausschußsitzungen des Vereins für Socialpolitik, Hamburg, 13.–17. September 1903, GStA PK Berlin, I. HA, Rep.  196, Verein für Socialpolitik, Nr.  71, Bl. 1–2 (hinfort: Ausschußprotokoll Hamburg 1903), hier Bl. 1v).

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Redaktionelle Bemerkung zu vorstehendem Aufsatz

ßenbahn zu einem in den Vereinsschriften abgedruckten Aufsatz Fritz Deichens über die Lage der Bediensteten und Arbeiter im Straßenverkehrsgewerbe Berlins in den Schriften des Vereins abgedruckt werden solle.9 Nach Überprüfung der Darstellung Deichens durch Hans Freiherr von Berlepsch beschloß der Ausschuß auf seiner Sitzung am 13. September 1903 in Hamburg, an der Weber teilgenommen hatte, mit großer Mehrheit, eine solche Gegendarstellung nicht zuzulassen, da der Verein nicht die Verantwortung für alle Einzelheiten in seinen Publikationen übernehmen könne und der Direktion die Entgegnung auf publizistischem Wege offen stehe.10 Cohn sah darin eine Preisgabe von „Objektivität“ zugunsten der „sozialpolitischen, d. h. arbeiterfreundlichen Parteinahme“ der Vereinsmitglieder.11 Dieser Einschätzung widersprach Weber.12

II.  Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter dem Titel: „Redaktionelle Bemerkung zu vorstehendem Aufsatz“ im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, hg. von Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé, Band 20, Heft 3, 1905, S.  479, erschienen ist (A). Die redaktionelle Bemerkung ist gezeichnet mit „Max Weber.“ Der Text ist im „Archiv“ in Petitdruck gesetzt, wird hier aber in normaler Schrifttype wiedergegeben. Die Fußnotenzählung wird von Asterisken auf arabische Zählung umgestellt.

9  Deichen, Fritz, Erhebungen über die Verhältnisse der Bediensteten und Arbeiter im Straßenverkehrsgewerbe Berlins (Schriften des Vereins für Socialpolitik 99). – Leipzig: Duncker & Humblot 1902, S.  367–531. 10  Vgl. Ausschußprotokoll Hamburg 1903 (wie oben, S.  235, Anm.  8), Bl. 1r–1v. 11  Cohn, Nationalökonomie, S.  462. 12 Weber zeigte sich im Rückblick von der Qualität von Cohns Artikel nicht überzeugt. Vgl. den Brief von Max Weber an Ignaz Jastrow vom 5. Sept. 1905, MWG II/4, S.  519 f.

Redaktionelle Bemerkung zu vorstehendem Aufsatz.

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A 479

Zu den Bemerkungen unseres hochverehrten Herrn Mitarbeiters1 über einen Vorgang im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik (S.  461)1) möge mir, da ich zu jener Mehrheit gehörte, welche die Aufnahme einer (übrigens nach den sorgsamen Prüfungen einer Kommission durchaus minderwertigen) „Berichtigung“ einer großen Verkehrsunternehmung in die Schriften des Vereins ablehnte,2 zur Rechtfertigung dieser Stellungnahme folgendes zu sagen gestattet sein: Es war, wenigstens bei mir, ebenso aber gewiß bei vielen anderen, sicherlich nicht die Abneigung, „an Stelle unserer 1) Auf die Kontroverse über „den wissenschaftlichen Charakter der N[ational]- A 479 Ö[konomie]“3 gehe ich hier natürlich nicht ein, hoffe vielmehr künftig – vielleicht im nächsten Winter – gelegentlich bei einer Auseinandersetzung mit Stammler und seiner „Schule“ darauf zurückzukommen. –4   W[erner] Sombart beauftragt mich, von seiner Seite dagegen Verwahrung einzulegen, daß sein vorläufiges Schweigen zu dem Angriffe unseres verehrten Herren Mitarbeiters5 – die Folge seiner Beschäftigung mit ganz anderen Problemen – als Zustimmung gedeutet werde. Er ist nach wie vor der Meinung, daß seine Äußerungen gründlich mißverstanden worden sind, sowohl von Gierke6 wie jetzt von dem Herrn Verfasser.

1  Gemeint ist Gustav Cohn. 2  Max Weber hatte an der betreffenden Sitzung teilgenommen, vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S.  236. 3  So lautet der Titel von Cohns Aufsatz. 4 Weber, Stammler, unten, S.  481–571, sowie ders., Nachtrag zu Stammler, unten, S.  572–617. In beiden Fällen findet sich aber kein expliziter Bezug auf Cohn. 5  Cohn lehnt Sombarts These ab, daß nur im Rahmen der leistungsfähigsten Organisationsformen des Wirtschaftslebens die Sittlichkeit Wurzeln schlagen könne. Vgl. Cohn, Nationalökonomie, S.  472, mit Bezug auf den Schlußbeitrag Sombarts zur Debatte über „Die Entwicklungstendenzen im modernen Kleinhandel“, in: Verhandlungen der am 25., 26. und 27. September 1899 in Breslau abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik (Schriften des Vereins für Socialpolitik 88). – Leipzig: Duncker & Humblot 1900 (hinfort: Verhandlungen VfSp 1899), S.  246–254, hier S.  253. Vgl. bereits Cohn, Gustav, Ethik und Reaktion in der Volkswirtschaft, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Band 24, 1900, S.  839–886. 6  Otto von Gierke hatte den Vorsitz der Debatte über „Die Entwicklungstendenzen im modernen Kleinhandel“. In seinem Schlußwort widersprach er Sombart: „in der ganzen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, da sollten wirtschaftliche Zustände allein Ursache sein, Rechtszustände und geistige und sittliche Zustände daraus folgen! Wenn das richtig ist, dann wäre unser Verein überflüssig, denn alle Socialpolitik geht doch von einer anderen Auffassung aus“. Vgl. Gierke, Otto, Schlußwort, in: Verhandlungen VfSp 1899 (wie oben, S.  237, Anm.  5), S.  254–259, hier S.  257.

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Redaktionelle Bemerkung zu vorstehendem Aufsatz

sozialpolitischen Parteinahme die Objektivität des in der Generalversammlung üblichen Verfahrens zu setzen“,7 welche diese Haltung herbeiführte. Sondern wir waren der Meinung, daß, wenn der Verein f[ür] Soz[ial]-Polit[ik] dazu übergehen wollte, in seinen Schriften den Interessenten Raum zur Kritik seiner Publikationen zur Verfügung zu stellen, dies nur dann geschehen dürfe, wenn nicht nur jedem, der eine solche Kritik zu üben sich berufen haltea – Gelehrten, politischen und wirtschaftlichen Interessenten des Inund Auslandes –[,] ohne weiteres dieser Raum zur Verfügung stände, sondern wenn ferner auch der Verein selbst für eine allseitige Kritik Sorge zu tragen in der Lage sei. Weder das erstere noch vollends das letztere schien uns nach der Natur der Publikationen des Vereins auch nur rein technisch möglich, denn es würde offenbar zum mindesten die Schaffung eines als „Sprechsaal“8 dienenden Organs voraussetzen. Ohne ein solches und ohne planmäßig organisierte allseitige Kritik der Vereinspublikationen darin würde – nach unserer Ansicht – der Abdruck von Elaboraten solchen Charakters, wie es die in Frage stehende „Berichtigung“ war, lediglich ein einseitiges Privileg derjenigen kapitalistischen Unterneha A: halte,   7  Vgl. Cohn, Nationalökonomie, S.  462: „Indessen für den vorliegenden Fall, da die Gelegenheit zu mündlicher Erwiderung fehlte und daher eine schriftliche Erwiderung allein möglich war, wurde der herkömmliche Grundsatz preisgegeben, augenscheinlich deshalb weil die Mehrheit des Ausschusses abgeneigt war, an die Stelle ihrer sozialpolitischen d. h. arbeiterfreundlichen Parteinahme die Objektivität des in den Generalversammlungen herkömmlichen Verfahrens zu setzen.“ 8  Möglicherweise eine polemische Bezeichnung von Cohns Vergleich des Vereins für Socialpolitik mit einem Parlament. Vgl. Cohn, Nationalökonomie, S.  461 f.: „Der Verein gibt herkömmlich durch die tatsächliche Öffentlichkeit seiner Generalversammlungen jedermann Gelegenheit, seinen Standpunkt gegen irgend einen anderen in den Schriften oder sonstwo geäußerten Standpunkt mündlich geltend zu machen, weil er der Ansicht ist, daß die sozialpolitische Tendenz aller oder der Mehrzahl seiner Mitglieder kein Hindernis sein darf gegen die freie Äußerung anders gerichteter Anschauungen. Diese Tradition verdankt der Verein teils seiner nahen Berührung mit der Wissenschaft und ihren Lebensbedingungen, teils dem Vorbilde parlamentarischer Versammlungen, die jedem ihrer Mitglieder – in den Grenzen der Geschäftsordnung – Redefreiheit gewähren.“ Die Formulierung „Sprechsaal“ findet sich später, im Zuge der Kontroversen nach der Mannheimer Generalversammlung, als Schmoller-Zitat im Brief Max Webers an denselben vom 26. Oktober 1905, MWG II/4, S.  577–579, hier S.  578, sowie in einem Brief Gustav Schmollers an Max Weber und andere Ausschußmitglieder vom 29. Oktober 1905, zitiert ebd., Anm.  6: der Verein solle „ein freier wissenschaftlicher Sprechsaal“ bleiben.

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Redaktionelle Bemerkung zu vorstehendem Aufsatz

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mungen bedeuten, welche sich „wissenschaftliche“ Hilfskräfte zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung halten, ihre vom Interessenstandpunkt aus an den Schriften des Vereins geübten „Kritik“ in diesen Schriften publiziert zu sehen. Das schien uns unbillig und auch der „Objektivität“ nicht zuträglich, da diesen Interessenten ohnedies die Presse in bevorzugtem Maße zur Verfügung steht, und da einer wirklich eindringenden sachlichen Kritik – gleichviel von welchem Standpunkt aus – keine wissenschaftliche Zeitschrift unseres Faches ihre Spalten verschließen wird.b |

b  In A folgt: Max Weber.  

Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. [(Zweiter und dritter Artikel.)]

II. Knies und das Irrationalitätsproblem

Editorischer Bericht I.  Zur Entstehung Max Weber hatte im Oktober 1902 zugesagt, für eine Festschrift der Universität Heidelberg einen Beitrag über Karl Knies zu schreiben.1 Noch im selben Jahr begann er in präliminarischer Hinsicht mit einer Auseinandersetzung mit Wilhelm Roscher. Wie Notizen zeigen, die er an der Jahreswende 1902/03 in Nervi formulierte, beschäftigte er sich dabei freilich auch schon mit Knies.2 In der ersten Jahreshälfte 1903 stellte er den ersten, „Roschers ‚historische[r] Methode‘“ gewidmeten Teil seiner Abhandlung fertig, der dann im Oktober 1903 publiziert wurde, allerdings nicht in der Festschrift, sondern in Schmollers „Jahrbuch“.3 Ob er während dieser Monate seine Beschäftigung mit Knies vorantrieb, ist nicht belegt. Jedenfalls stellte sich ihm mit der Übernahme des Braunschen „Archivs“ in der zweiten Jahreshälfte 1903 eine neue Herausforderung,4 zu der 1904 weitere Projekte hinzukamen: Seinem Aufsatz über „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“5 folgten seine Studie über die Fideikommißfrage,6 sein erster Aufsatz über die Protestantische Ethik,7 sein Vortrag in St. Louis8 und seine

1  Vgl. den Editorischen Bericht zu Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  37– 40. 2  Seine stichwortartigen Aufzeichnungen über Knies befinden sich in Briefumschlägen mit dem Briefkopf „Schickert’s Parc-Hôtel Italia Nervi“; vgl. den Abdruck im Anhang, unten, S.  623–668 , bes. S.  641–657. 3  Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  37–101. 4 Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S.  102–111; Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S.   112–119; [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  120–134. 5  Weber, Objektivität, oben, S.  135–234. 6  Weber, Fideikommißfrage, MWG I/8, S.  81–188. 7  Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S.  97–215. 8  Weber, The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science, MWG I/8, S.  200–243.

Editorischer Bericht

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Abhandlung über die Altgermanische Sozialverfassung.9 Wie aus einem Brief an seinen Bruder Alfred Weber vom 8. März 1905 hervorgeht, sollte er erst jetzt wieder Zeit finden, sich mit Methodologie zu beschäftigen: „Im Übrigen werde ich froh sein, wieder an methodologische […] Studien zu kommen.“10 Damit dürfte zunächst seine Beschäftigung mit Knies gemeint sein. Am 29. Juni 1905 teilte Weber Franz Eulenburg mit, daß er „Gottl ’s Ansichten […] vielleicht in einer Abhandlung bei Schmoller demnächst etwas näher analysieren werde“.11 Ein expliziter Beleg dafür, daß er an der Fortsetzung seiner Aufsatzfolge arbeitete, findet sich in einem Brief an seinen Bruder Alfred vom 29. Juli 1905, in dem er mitteilte, er befinde sich „tief in einer Arbeit für Schmoller steckend“.12 Am 1. September 1905 teilte er Willy Hellpach mit: „Münsterberg bekämpfe ich soeben selbst in einem Aufsatz, der im Oktober/ November in Schmollers ‚Jahrbuch‘ erscheint.“13 Zu diesem Zeitpunkt war Weber offenbar schon mit „Corrigieren“ befaßt.14 Am 3. September 1905 schrieb er Emil Lask: „Ich korrigiere eben ‚Roscher und Knies‘ und schicke in einiger Zeit die zweite Korrektur an Sie, nicht zum Korrigieren, denn ein oder zwei Schnitzer in noologischer Hinsicht schaden ja schließlich nichts, und ganz grobe Böcke werden hoffentlich in dieser sehr breiten ‚populären‘ Darstellung fehlen. Leider bleibt sie ein kleines Schnitzel, Schmoller wollte meinen Vorschlag, sie in Petit zu drucken, nicht annehmen, nun hat er nur für die kleinere Hälfte des Aufsatzes Platz.“15 Die Aufsatzfolge wurde also nur wegen der Überlänge des zweiten Teils in drei Folgen – anstatt in zweien – gedruckt. Die zweite Folge erschien im Oktober 1905. Ob Weber in der dritten Folge der Abhandlung, die im Januar 1906 veröffentlicht wurde, vor dem Druck noch inhaltliche Veränderungen vornahm, wissen wir nicht. Eingeflochten sind zumindest Hinweise auf aktuelle Veröffentlichungen.16 9 Weber, Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung, MWG I/6, S.  228–299. 10  Brief von Max Weber an Alfred Weber vom 8. März 1905, MWG II/4, S.  435 f., hier S.  436. 11  Brief von Max Weber an Franz Eulenburg vom 29. Juni 1905, ebd., S.  491 f. 12  Brief von Max Weber an Alfred Weber vom 29. Juli 1905, ebd., S.  499 f., hier S.  499. 13 Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 1. Sept. 1905, ebd., S.  511 f., hier S.  512. Vgl. auch den Brief an Willy Hellpach vom 5. Sept. 1905, ebd., S.  518. 14  Brief von Max Weber an Marianne Weber am oder nach dem 30. Aug. 1905, ebd., S.  510. 15  Brief von Max Weber an Emil Lask vom 3. Sept. 1905, ebd., S.  513 f., hier S.  514. Gedruckt wurde dann aber zunächst doch die größere Hälfte des Aufsatzes. 16 Vgl. den Hinweis auf Hellpach, Wissenschaftslehre, unten, S.   335, Fn.   10 mit Anm.  39; dieser Aufsatz war erst am 26. Juni 1906 veröffentlicht worden, aber Weber kannte vermutlich schon die Manuskriptfassung bzw. die Druckfahnen dazu; vgl. auch den Verweis auf Weber, Kritische Studien, unten, S.  340, Fn.  14 mit Anm.  60, und S.  349, Fn.  25; Webers eigener Aufsatz war im Januar-Heft des „Archivs“ erschienen, das am 8. Februar 1906 ausgeliefert wurde.

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Roscher und Knies (Zweiter und dritter Artikel)

Jedenfalls war für Weber diese Thematik auch danach noch nicht abgeschlossen. Die dritte Folge endet mit dem Hinweis: „(Ein weiterer Artikel folgt.)“,17 was aber nicht mehr geschah.

II.  Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Die zwei Folgen des Textes sind erschienen im „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“, hg. von Gustav Schmoller: – Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie [(Zweiter Artikel.)]. II. Knies und das Irrationalitätsproblem [I.]: 29.  Jg., Heft 4, 1905, S.  89–150 [1323–1384]; – Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. (Dritter Artikel.) II. Knies und das Irrationalitätsproblem. (Fortsetzung.) [II.]: 30.  Jg., Heft 1, 1906, S.  81–120 [81–120]. Der Abdruck folgt der Veröffentlichung im „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“ (A). Die erste Folge des Aufsatzes erschien bereits 1903 und ist – entsprechend der Chronologie – separat ediert.18 Der Text ist fortlaufend wiedergegeben. Die Überschriften des Erstdrucks und die Teilinhaltsverzeichnisse der Aufsatzfolgen bleiben erhalten. Die erste Überschrift wird um den Zusatz „(Zweiter Artikel.)“ entsprechend der Angaben zur ersten und dritten Aufsatzfolge ergänzt, aber als Herausgeberzusatz kenntlich gemacht.19 Die in den Inhaltsverzeichnissen und im Text enthaltenen Querverweise sind stillschweigend an die Neuedition angeglichen. Die Zählung der Fußnoten, die auf jeder Seite mit „1)“ beginnt, ist pro Aufsatzfolge durch eine durchgängige ersetzt. Als Randsigle wird die Heftseitenzählung (nicht die des Gesamtbandes) der Vorlage angegeben.

17  Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  379. Im Aufsatz finden sich weitere Hinweise auf die geplante Fortsetzung, die das Werk von Knies betreffen, vgl. unten, S.  377 mit Anm.  9; S.  378 mit Anm.  14, S.  379 mit Anm.  15 und 16. 18  Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  37–101. 19  Vgl. unten, S.  243 und S.  328.

Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie.a b(Zweiter Artikel.)b

II.  Knies und das Irrationalitätsproblem. 5

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Inhaltsverzeichnis. 1. Die Irrationalität des Handelns. Charakter des Kniesschen Werkes S.  243. – „Willensfreiheit“ und „Naturbedingtheit“ bei Knies im Verhältnis zu modernen Theorien S.  247. – Wundts Kategorie der „schöpferischen Synthese“ S.  259. – Irrationalität des konkreten Handelns und Irrationalität des konkreten Naturgeschehens S.  273. – Die „Kategorie“ der „Deutung“ S.  277. – Erkenntnistheoretische Erörterungen dieser „Kategorie“: 1) Münsterbergs Begriff der „subjektivierenden“ Wissenschaften S.  282. – 2) „Verstehen“ und „Deuten“ bei Simmel S.  310. – 3) Gottls Wissenschaftstheorie S.  313.

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Das methodologische Hauptwerk von Knies „Die politische Ökonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode“ erschien in erster Auflage 1853,1 vor dem Erscheinen des ersten Bandes von Roschers System (1854),2 mit dem sich Knies in den „Göttinger gelehrten Anzeigen“ (1855) auseinandersetzte.3 Knies’ Werk fand außerhalb enger Fachkreise relativ wenig Beachtung;4 darüber, daß Roscher ihn nicht eingehender erwähnt und behandelt habe,

a In A folgt: Von Max Weber.  b–b Fehlt in A; (Zweiter Artikel.) sinngemäß ergänzt.   1  Knies, Oekonomie1. 2  Roscher, System I1. 3  Knies, Roscher. 4  Knies, Oekonomie2, S.  III, weist selbst darauf hin.

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Roscher und Knies (Zweiter Artikel)

glaubte er sich beklagen zu können1),5 mit Bruno Hildebrand geriet er in eine heftige | Fehde.6 – Als dann in den sechziger Jahren die Freihandelsschule7 von Erfolg zu Erfolg schritt, geriet das Buch fast in Vergessenheit. Erst als die „kathedersozialistische“ Bewegung8 Macht über die Jugend gewann, begann es in steigendem Maße gelesen zu werden, so daß Knies, dessen zweites in den 70er Jahren entstandenes Hauptwerk „Geld und Kredit“9 der „histori1) Übrigens kaum mit Recht, da R[oscher] ihn sowohl im „System“ eingehend zitiert, wie in der Geschichte der Nationalökonomik anerkennend behandelt.10 Auffallend ist freilich, daß Roscher auf Knies’ z. T. tiefgreifende Angriffe weder eingehend antwortete, noch seine eigene Darstellung entsprechend modifizierte. |

5  Knies, ebd., S.  IV: Roscher sehe sich in seinem Kapitel über „Methoden der Nationalökonomik“ nicht genötigt mitzuteilen, daß bereits „ein eigenes Werk über die Fragen der Methode in der politischen Oekonomie und zwar eines grade ‚vom Standpuncte‘ der geschichtlichen Methode‘ erschienen sei“. Vgl. Roscher, System I1, S.  41 (§  28 Anm.  3), und Roscher, System I2, S.  44 (§  28 Anm.  3). Unter Verwendung des Verses „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“ („Je nach Auffassungsgabe des Lesers haben die Büchlein ihre Schicksale“) von Terentianus Maurus klagt Knies, Oekonomie2, S.  IV, daß ihm „noch heutzutage ein anderes ‚Fatum libelli‘ wahrscheinlich“ sei, wenn Roscher nicht erst 1874 in seiner „Geschichte der National-Ökonomik“, sondern bereits 1854 darauf hingewiesen hätte, daß in seinem Werk „zuerst die geschichtliche Methode unserer Wissenschaft zu einer reichen, mit trefflich durchgeführten Beispielen versehenen Methodologie entwickelt sei“. Vgl. Roscher, Geschichte, S.  1038 f.; Roscher, System I23, S.  79 (§  29 Anm.  5). 6  Knies, Oekonomie1, S.  33, wirft Hildebrand vor, in seinem Werk „Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft“ (1848) Roscher „mit keiner Sylbe erwähnt“ zu haben, obwohl dieser „den meisten Ansichten, welche Hildebrand darlegt, schon seit längerer Zeit Geltung zu verschaffen sucht“. Hildebrand kündigt Knies daraufhin die Freundschaft. 7  Gemeint sind Ökonomen, „welche die Freilassung des Verkehrs von staatlicher Beschränkung als die wichtigste Vorschrift ansehen, die sich aus der nationalökonomischen Forschung ergebe“. Vgl. Leser, Emanuel, Freihandelsschule, in: HdStW1, Band 3, 1892, S.  665–672, hier S.  665. 8  1871 von Heinrich Bernhard Oppenheim eingeführter Spottname für Nationalökonomen der jüngeren Generation der historischen Schule, die die soziale Frage und die Arbeitsbedingungen in den Mittelpunkt ihrer Forschungen stellten und 1872 an der Gründung des Vereins für Socialpolitik beteiligt waren. Vgl. Lexis, Wilhelm, Kathedersozialismus, in: HdStW2, Band 5, 1900, S.  50–52. 9  Knies, Geld und Credit I2, II,1 und II,2. 10  Mit Bezug auf Knies, Oekonomie1, vgl. Roscher, System I1, S.  16 (§  11 Anm.  2), und Roscher, System I2, S.  18 (§  11 Anm.  2), S.  44 (§  28 Anm.  3), S.  415 (§  213 Anm.  1), S.  543 (§  266 Anm.  2). Mit Bezug auf Knies, Oekonomie2, vgl. Roscher, System I23, S.  17 (§  7 Anm.  1), S.  28 (§  11 Anm.  4), S.  77 (§  28 Anm.  3), S.  79 (§  29 Anm.  5), S.  536 (§  178 Anm.  8), S.  641 (§  213 Anm.  1), S.  837 (§  265 Anm.  4). Vgl. auch Roscher, Geschichte, S.  1010 f., S.  1015, Anm.  1, S.  1038 f. und S.  1041.

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II.  Knies und das Irrationalitätsproblem

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schen“ Methode völlig fern steht, nach 30 Jahren (1883) vor einer zweiten Auflage stand.11 Sie erschien unmittelbar ehe durch Mengers „Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften“,12 Schmollers Rezension derselben13 und Mengers heftige Replik14 der Methodenstreit in der Nationalökonomie die Höhe seiner Temperatur erreichte, und gleichzeitig in Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“15 der erste groß angelegte Entwurf einer Logik des nicht naturwissenschaftlichen Erkennens vorgelegt wurde. Eine Analyse des Kniesschen Werkes bietet nicht geringe Schwierigkeiten. Einmal ist der Stil teilweise bis dicht an die Unverständlichkeit ungelenk, dank der Arbeitsweise des Gelehrten, der in einen geschriebenen Satz, weitergrübelnd, Nebensatz auf Nebensatz hineinschachtelte, unbekümmert darum, ob die entstehende Periode syntaktisch aus allen Fugen ging2). Die Fülle der ihm zuströmenden Gedanken ließc Knies dabei gelegentlich auch die offenbarsten Widersprüche in bald aufeinanderfolgenden Sätzen übersehen, und sein Buch gleicht so einem Mosaik aus Steinen von sehr verschiedener, nur im großen, nicht immer im einzelnen aufeinander abgestimmter Färbung. Die Zusätze der zweiten Auflage, welche ziemlich unorganisch neben dem fast unveränderten Text stehen, stellen gegenüber dem Gedankengehalt der ersten teils eine Verdeutlichung und Fortentwickelung, teils aber auch eine bewußte Umbiegung zu ziemlich abweichenden Gesichtspunkten dar. Wer den ganzen Inhalt dieses eminent gedankenreichen Werkes überhaupt in voller Tiefe wiedergeben wollte, dem bliebe nichts übrig, als zunächst die gewissermaßen aus verschiedenen Gedankenknäueln stammenden Fäden, welche neben- und durcheinan2)

 S[iehe] eine so entstandene unmögliche Periode 1.  Aufl. S.  203.16

c A: ließen   11  Knies, Oekonomie2. 12  Menger, Untersuchungen. 13  Schmoller, Methodologie. 14  Menger, Historismus. 15  Dilthey, Einleitung. 16  Knies, Oekonomie1, S.  203.

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Roscher und Knies (Zweiter Artikel)

der herlaufen, voneinander zu sondern und sodann jeden Gedankenkreis für sich zu systematisieren3). | Seine Ansicht über die Stellung der Nationalökonomie im Kreise der Wissenschaften hat Knies erst in der zweiten Auflage endgültig präzisiert4), jedoch in einer Weise, welche durchaus den Gedankengängen der ersten entspricht. Danach erörtert sie jene Vorgänge, welche daraus entspringen, daß der Mensch für die Deckung des Bedarfs „des menschlich persönlichen Lebens“17 auf die „Außenwelt“18 angewiesen ist: – eine, gegenüber dem historisch gewordenen Aufgabenkreise unserer Wissenschaft offenbar teils zu weite, teils zu enge Umgrenzung. Um nun aus diesem Aufgabenkreis der

3) Hier, wo es uns nur auf die Entwickelung bestimmter logischer Probleme ankommt, wird eine solche erschöpfende Wiedergabe nicht beabsichtigt. Für unsere Zwecke ist von der ersten Auflage19 und Knies’ Aufsätzen aus den 50er Jahren20 auszuA 91 gehen, die zweite und die späteren Arbeiten, insbesondere „Geld | und Kredit“, werden da ohne weiteres mit herangezogen, wo ihre Ausführungen lediglich ein Ausbau jener sind; die abweichenden Gesichtspunkte der späteren Zeit werden, soweit dabei überhaupt neue logische und methodische Anschauungen hervortreten – was nur in geringem Maße der Fall ist – zusammen mit den Ansätzen, die sich dazu schon in der ersten finden, kurz behandelt. Auch hier geschieht – wie bei Roscher – durchaus das Gegenteil dessen, was zu geschehen hätte, wenn es gelten würde, Knies’ Leistung „historisch“ zu würdigen. Seine Formulierungen werden zu Problemen der Wissenschaft in Beziehung gesetzt, die noch heute bestehen, und die Absicht ist nicht, ein Bild von Knies,21 sondern ein Bild von jenen Problemen zu geben, welche für unsere Arbeit notwendig entstehen mußten, und zu zeigen, wie er sich damit abgefunden hat und auf Grundlage von Anschauungen, die auch heute von vielen geteilt werden, sich damit abfinden mußte. Ein adäquates Bild seiner wissenschaftlichen Bedeutung entsteht dadurch natürlich in keiner Weise, ja in den Ausführungen dieses ersten Abschnittes muß zunächst der Anschein entstehen, als sei Knies nur der „Vorwand“ für das hier Gesagte. 4)  2.  Aufl. S.  1 ff. und 521d.22 |

d A: 215   17  Knies, Oekonomie2, S.  2. 18  Ebd., S.  5. 19  Knies, Oekonomie1. 20  In der ersten Hälfte der 1850er Jahre publizierte Knies u. a. anonyme Aufsätze: Anonymus [Knies], Wissenschaft; Anonymus [Knies], Bankwesen; Knies, Wert. Zur Urheberschaft der anonymen Texte vgl. [Art.] Knies (Karl), in: Gerland, Otto (Hg.), Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte seit der Reformation bis auf die gegenwärtige Zeit, Band 21. – Kassel: August Freyschmidt 1868, S.  67–74, bes. S.  72. 21  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  41. 22  Vgl. das in drei Abschnitte unterteilte Kapitel I. (Einleitendes) und den Zusatz zu Abschnitt I,2, den Knies allerdings erst als letzten Abschnitt des letzten Kapitels III. (Volkswirtschaftslehre) bringt. Vgl. Knies, Oekonomie2, S.  1–43 und S.  521–533.

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Nationalökonomie ihre Methode abzuleiten, stellt Knies neben die schon von Helmholtz je nach dem behandelten Objekt unterschiedenen Gruppen der „Naturwissenschaften“ einerseits, der „Geisteswissenschaften“ anderseits,23 als dritte Gruppe die „Geschichtswissenschaften“, als diejenigen Disziplinen, welche es mit äußeren, aber durch „geistige“ Motive mitbedingten Vorgängen zu tun haben.24 Von der für ihn selbstverständlichen Voraussetzung aus, daß die wissenschaftliche „Arbeitsteilung“25 eine Repartierung des objektiv gegebenen Tatsachenstoffes darstelle, und daß ferner dieser objektiv ihr zugewiesene Stoff es sei, der einer jeden Wissenschaft ihre Methode vorschreibe, geht nun Knies an die Erörterung der methodologischen Probleme der Nationalökonomie. Da diese Wissenschaft menschliches Handeln unter einerseits naturgegebenen, anderseits historisch bestimmten Bedingungen behandelt, so ergibt sich ihm, daß in ihr Beobachtungsmaterial als Determinanten auf der einen Seite, der | des menschlichen Handelns, die menschliche „Willensfreiheit“, auf der anderen dagegen „Elemente der Notwen­ digkeit“ „eingehen“, nämlich – erstens – in den Naturbedingungen die blinde Nezessitierung des Naturgeschehens und – zweitens – in den historisch gegebenen Bedingungen die Macht kollektiver Zusammenhänge5).

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5) Vgl. S.  119 (1.  Aufl. – dieselbe ist mangels eines besonderen Zusatzes im folgenden A 92 immer gemeint).e 26

e A: gemeint.)   23  Vgl. Helmholtz, Hermann von, Ueber das Verhältniss der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft: Akademische Festrede gehalten zu Heidelberg beim Antritt des Prorectorats 1862, in: ders., Vorträge und Reden, Band 1, 5.   Aufl. – Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1903, S.  157–185 (hinfort: Helmholtz, Verhältniss). Für Helmholtz liegt ein „Gegensatz“ zwischen Natur- und Geisteswissenschaften „in der Natur der Dinge begründet“ (ebd., S.  165), weil sie es mit Objekten unterschiedlicher Komplexität zu tun haben. 24  Knies, Oekonomie2, S.  5 ff., bezieht sich auf Lotzes Unterscheidung zwischen Natur- und Geschichtswissenschaften. Vgl. Lotze, Hermann, Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, Band 3. – Leipzig: S. Hirzel 1864, S.  10 ff. Zu Webers Lektüre dieses Werks in seinem ersten Studiensemester vgl. Hübinger, Gangolf, Einleitung, in: MWG II/1, S.  14 mit Anm.  66. 25  Knies, Oekonomie2, S.  3, spricht generell von einer „mit der Entwicklung menschlichen Kulturlebens erwachsenden ‚Teilung‘ von Arbeitsaufgaben“. 26  Vgl. Knies, Oekonomie1, S.  119.

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Die Einwirkung der natürlichen und „allgemeinen“27 Zusammenhänge faßt nun Knies ohne weiteres als gesetzmäßige Einwirkung auf, da für ihn wie für Roscher Kausalität gleich Gesetzmäßigkeit ist6). So schiebt sich ihm an die Stelle des Gegensatzes: Zweckvolles menschliches Handeln auf der einen Seite, – durch die Natur und die geschichtliche Konstellation28 gegebene Bedingungen dieses Handelns auf der andern, der ganz andere: „freies“ und daher irrational-individuelles Handeln der Personen einerseits, – gesetzliche Determiniertheit der naturgegebenen Bedingungen des Handelns anderseits7). Die Einwirkung der „Natur“ auf die ökonomischen Erscheinungen würde, so meint Knies, an sich einen gesetzlichen Ablauf derselben bedingen müssen. Tatsächlich wirken nun zwar die Naturgesetze auch in der menschlichen Wirtschaft, aber sie sind nicht Gesetze der menschlichen Wirtschaft8), und zwar, nach ihm, deshalb nicht, weil in diese in Gestalt des „personalen“ Handelns die Freiheit des menschlichen Willens hineinragt. Wir werden weiterhin sehen, daß diese „prinzipielle“ Begründung der Irrationalität des ökonomischen Geschehens dem, was Knies an anderen Stellen29 über die Einwirkung der Naturbedingungen auf die Wirtschaft ausführt, geradezu ins Gesicht schlägt, indem dort gerade die geographisch und historisch „individuelle“ Gestaltung der Wirtschaftsbedingungen als dasjenige Element erscheint, welches die Aufstellung allgemeiner Gesetze des rationalen wirtschaftlichen Handelns ausschließt. Es verlohnt aber, auf die ganze Frage, die Knies hier berührt hat, schon an dieser Stelle etwas näher einzugehen9). Die Identi|fikation von Determiniertheit mit Gesetzlichkeit einerseits, von „freiem“   Dies spricht er S.  344 ausdrücklich aus.30   Die kollektiven Zusammenhänge fallen als Sondergruppe unter den Tisch. Da sie „Handeln“ enthalten, sind auch sie für Knies irrational. 8)  S.  237, 333/4, 352, 345. 9)  Schon Schmoller hat, in seiner Besprechung des Kniesschen Werkes, dessen For6)

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27  Für Knies, Oekonomie1, S.  344, ist das Gesetzmäßige „ein Allgemeines“. 28  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  177 mit Anm.  9. 29  Vgl. Knies, Oekonomie1, S.  37 ff. (= Kapitel II. „Volkswirthschaft“). 30  Vgl. ebd., S.  344: „Der Nachweis der Gesetzmäßigkeit einer Erscheinung ist abhängig von dem Beweis des Causalitätsverhältnisses von Ursache und Wirkung.“

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und „individuellem“, d. h. nicht gattungsmäßigem Handeln anderseits, ein so elementarer Irrtum sie ist, findet sich nämlich keineswegs nur bei Knies. Vielmehr spukt sie auch in der historischen Methodologie gelegentlich bis in die Gegenwart hinein, und namentlich gilt dies für das Hineinspielen der „Frage“ der Willensfreiheit in die methodologischen Erörterungen der Spezialwissenschaften. Noch immer wird dieses Problem, und zwar ganz in demselben Sinne wie von Knies, ohne alle Not von den Historikern in die Untersuchungen über die Tragweite „individueller“ Faktoren für die Geschichte hineingetragen. Man findet dabei immer wieder die „Unberechenbarkeit“ des persönlichen Handelnsf, welche Folge der „Freiheit“ sei, als spezifische Dignität des Menschen und also der Geschichte angesprochen, entweder ganz direkt10) oder mulierung abgelehnt, da auch die Natur sich nie genau wiederhole (Zur Lit[teratur]Gesch[ichte] der Staats- u[nd] Sozialwissensch[aften], S.  209g).31 | 10) So von Hinneberg, Histor[ische] Zeitschr[ift] 63 (1889) S.   29, wonach das Frei- A 93 heitsproblem „die Grundfrage der gesamten Geisteswissenschaften“ sein soll.32 Ganz ähnlich wie Knies hält z. B. auch Stieve (D[eutsche] Z[eitschrift] f[ür] Gesch[ichts]Wissensch[aft] VI, 1891, S.  41) die Annahme einer naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit durch die „Tatsache der menschlichen Willensfreiheit“ für ausgeschlossen.33 – „Man wird,“ glaubt Meinecke, Hist[orische] Zeitschr[ift] 77 (1896) S.  26434[,] „den geschichtlichen Massenbewegungen doch mit ganz anderen Augen gegenüberstehen, wenn man in ihnen die Leistungen vieler Tausende freiheitlicher X verborgen weiß, als wenn man sie nur als das Spiel gesetzmäßig wirkender Kräfte ansieht.“ – Und S.  266 das[elbst] spricht der gleiche Schriftsteller von diesem „X“ – dem irrationalen „Rest“ der Persönlichkeit – als dem „inneren Heiligtum“ derselben,35 ganz ähnlich wie

f A: Handels  g A: 205   31  Vgl. Schmoller, Knies2, S.  209. 32  Vgl. Hinneberg, Grundlagen, S.  29. 33  Vgl. Stieve, Maximilian, S.  41. 34  Vgl. Meinecke, Erwiderung, S.  264. 35  Meinecke, ebd., S.  265, spricht vom „erfahrungsmäßig gegebenen Kerne des Individuums“, der für ihn das „innere Heiligthum“ ist, „in dem auch die Weltanschauung wurzelt“. Für ihn kommt dieses „X“ nicht als etwas Irrationales in Betracht: „Freiheit hier natürlich immer in dem Sinne spontaner Impulse geistig-sittlicher Natur, nicht etwa als absolute Willkür verstanden.“ (ebd., S.  263). Schon für Droysen ist dieses „X“ nichts Irrationales. Vgl. Droysen, Johann Gustav, Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, in: Historische Zeitschrift, Band 9, 1863, S.  1–22, hier S.  13 f.: „wenn man alles, was ein einzelner Mensch ist und hat und leistet, A nennt, so besteht dies A aus a + x, indem a alles umfaßt, was er durch äußere Umstände von seinem Land, Volk, Zeitalter u. s. w. hat und das verschwindend kleine x sein eigenes Zuthun, das Werk seines freien Willens ist. Wie verschwindend klein immer dies x sein mag, es ist von unendlichem Werth, sittlich und menschlich betrachtet allein von Werth.“

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verhüllt, indem die „schöpferische“ Bedeutung der handelnden Persönlichkeit in Gegensatz zu der „mechanischen“ Kausalität des Naturgeschehens gestellt wird. Es erscheint angesichts dessen nicht ganz ungerechtfertigt, an dieser Stelle etwas weiter auszuholen und diesem hundertmal „erledigten“, aber in stets neuer Form auftauchenden Problem etwas ins Gesicht zu leuchten. Nichts als „Selbstverständlichkeiten“ zum Teil trivialster Art können dabei herausspringen, aber gerade diese sind, wie sich zeigen wird, immer wieder in Gefahr, verdunkelt zu werden | oder geradezu in Vergessenheit zu geraten11). – Dabei akzeptieren wir vorläufig einmal ohne Diskussion den Standpunkt von Knies, wonach die Wissenschaften, in welchen menschliches „Handeln“,36 sei es allein, sei es vorzugsweise, den Stoff der Untersuchung bilde, innerlich zusammen gehören, und, da dies unstreitig in der Geschichte der Fall ist, so wird hier von „der Geschichte und den ihr verwandten Wissenschaften“ gesprochen, wobei vorerst ganz dahingestellt bleibt, welche jene Wissenschaften sind. Wo von „Geschichte“ allein die Rede ist, ist immer an den

Treitschke mit einer gewissen Andacht von dem „Rätsel“ der Persönlichkeit redet.37 Allen diesen Äußerungen, denen als methodisch berechtigter Kern natürlich die Mahnung an die „ars ignorandi“38 innewohnt, liegt doch auch die seltsame Vorstellung zugrunde, daß die Dignität einer Wissenschaft oder aber ihres Objektes gerade in dem beruhe, was wir von ihm in concreto und generell nicht wissen können. Das menschliche Handeln würde also seine spezifische Bedeutung darin finden, daß es unerklärlich und daher unverständlich ist. | 11) Ausdrücklich sei dabei bemerkt, daß die Frage: ob dabei für die praktische MeA 94 thodik der Nationalökonomie etwas „herauskommt“, a limine39 abgelehnt wird. Es wird hier Erkenntnis gewisser logischer Beziehungen um ihrer selbst willen gesucht mit demselben Recht, mit welchem die wissenschaftliche Nationalökonomie nicht lediglich danach bewertet zu werden wünscht, ob für „die Praxis“ durch ihre Arbeit „Rezepte“ ermittelt werden.

36  Vgl. Knies, Oekonomie1, S.  109; Knies, Oekonomie2, S.  2, 6. 37  Vgl. Treitschke, Heinrich von, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, hg. von Max Cornicelius, Band 1. – Leipzig: S. Hirzel 1897, S.  6: „Wäre die Geschichte eine exacte Wissenschaft, so müßten wir im Stande sein die Zukunft der Staaten zu enthüllen. Das können wir aber nicht, denn überall stößt die Geschichtswissenschaft auf das Räthsel der Persönlichkeit.“ Vgl. auch Below, Methode, S.  235 f., 247 f. Vgl. auch Webers Notizen zu Knies, abgedruckt im Anhang, unten, S.  626 ff. 38  Ein auf das Werk „De arte dubitandi et confidendi ignorandi et sciendi“ des Humanisten Sebastian Castellio zurückgehendes Prinzip der Auslegung. Vgl. bereits Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S.  199, Anm.  102. 39  Lat.: von der Schwelle; von vornherein, kurzerhand.

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weitesten Sinn des Wortes (politische, Kultur- und Sozialgeschichte eingeschlossen) zu denken. – Unter jener noch immer so stark umstrittenen „Bedeutung der Persönlichkeit“ für die Geschichte kann nur zweierlei verstanden werden. Einmal 1. das spezifische Interesse, welches die möglichst umfassende Kenntnis von dem „geistigen Gehalt“ des Lebens geschichtlich „großer“ und „einzigartiger“ Individuen als eines „Eigenwerts“ besitzt; oder 2. die Tragweite, welche dem konkret bedingten Handeln bestimmter Einzelpersonen – gleichviel[,] ob wir sie „an sich“ als „bedeutende“ oder „unbedeutende“ Persönlichkeiten bewerten würden – als ursächli­ chem Moment in einem konkreten historischen Zusammenhang zuzuschätzen ist. Beides sind offenbar logisch ganz und gar heterogene gedankliche Beziehungen. Wer jenes Interesse (ad 1) prinzipiell leugnet, oder als „unberechtigt“ verwirft, ist auf dem Boden der Erfahrungswissenschaft natürlich ebenso unwiderlegbar, wie derjenige, welcher umgekehrt die verstehende und „nacherlebende“40 Analyse „großer“ Individuen in ihrer „Einzigartigkeit“ für die einzige menschenwürdige Aufgabe und als einzig die Mühe verlohnendes Ergebnis der Erforschung der Kulturzusammenhänge ansieht. Gewiß lassen sich diese „Standpunkte“ ihrerseits wieder zum Gegenstand der kritischen Analyse machen. Aber jedenfalls wird dann kein geschichtsmethodologisches und auch kein einfach erkenntniskritisches, sondern ein geschichtsphilosophisches Problem: die Frage nach dem „Sinn“ des wissenschaftlichen Erkennens des Historischen, aufgerollt12). – Die | kausale Bedeutung aber, sei es konkreter Einzelhandlungen, sei es jenes Komplexes „konstanter Motive“,41 welche wir im formalen Sinn „Persönlichkeit“ nennen, generell zu bestreiten, ist nur dann möglich, wenn man a priori entschlossen ist, diejenigen Bestandteile eines historischen Zusammenhanges, welche dadurch ursächlich bedingt sind, als eben deshalb unseres kausalen Erklärungsbedürfnisses nicht würdig, außer Betracht zu lassen. Ohne diese, wie12)  Denn die Erkenntnistheorie der Geschichte konstatiert und analysiert die Bedeutung der Beziehung auf Werte für die historische Erkenntnis, aber sie begründet die Geltung der Werte ihrerseits nicht. |

40  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  178 mit Anm.  16. 41 Weber benutzt diese Formulierung mit Bezug auf Windelband, Willensfreiheit, S.  87 f. Vgl. Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S.  292, Fn.  58a.

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derum den Boden der Erfahrung verlassende und auf ihm nicht begründbare, weil ein Werturteil enthaltende, Voraussetzung hängt es natürlich lediglich vom Einzelfall, d. h. von der Frage, welche Bestandteile einer gegebenen historischen Wirklichkeit im Einzelfall kausal erklärt werden sollen und welches Quellenmaterial zur Verfügung steht, ab, ob wir 1. beim kausalen Regressus42 auf eine konkrete Handlung (oder Unterlassung) eines Einzelnen als eine in ihrer Eigenart bedeutsame Ursache stoßen – etwa auf das Edikt von Trianon43 –, und weiter 2., ob es alsdann genügt, zur kausalen Interpretation jener Handlungen die Konstellation der „außerhalb des Handelnden“ liegenden Antriebe zum Handeln als eine nach allgemeinen Erfahrungssätzen sein Verhalten zulänglich motivierende Ursache aufzuhellen oder ob wir daneben 3. seine „konstanten Motive“ in ihrer Eigenart festzustellen, bei diesen aber haltzumachen genötigt und berechtigt sind, oder ob endlich 4. das Bedürfnis erwächst, auch noch diese letzteren charakterogenetisch,44 z. B. in ihrem Entstehen aus „ererbten Anlagen“ und Einflüssen der Erziehung, konkreten Lebensschicksalen und der individuellen Eigenart des „Milieus“,45 nach Möglichkeit kausal erklärt zu sehen. – Irgend ein prinzipieller Unterschied zwischen Handlungen eines Einzelnen und Handlungen vieler Einzelner besteht nun hier natürlich, soweit die Irrationalitätsfrage in Betracht kommt, in keiner Weise: das alte lächerliche Vorurteil naturalistischer Dilettanten, als ob die „Massenerscheinungen“, wo sie als historische Ursachen oder Wirkungen in einem gegebenen Zusammenhang in Betracht kommen, „objektiv“ weniger „individuell“ seien als die Handlungen der „Helden“, wird sich hoffentlich auch in den Köp-

42  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  164 mit Anm.  65. Vgl. auch unten, S.  263. 43  Mit dem Edikt von Trianon (1810) führte Napoleon Bonaparte seinen 1806 mit dem Berliner Dekret begonnenen Wirtschaftskrieg gegen England fort, indem er das Handelsverbot der Kontinentalstaaten mit England (Kontinentalsperre) um eine drastische Erhöhung der Einfuhrzölle für Kolonialwaren ergänzte. Neben der Durchsetzung fiskalischer Interessen wollte er damit den Schmuggel eindämmen. 44  Möglicherweise Bezug auf Malapert, Paulin, Le caractère. – Paris: Octave Doin 1902. Dieses Buch findet sich, mit Marginalien, An- und Unterstreichungen im VI. Kapitel „Les classifications des caractères“, S.  236–270, versehen, in Webers Handbibliothek (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München). 45  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  170 mit Anm.  87.

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fen von „Soziologen“ nicht mehr allzu lange behaupten13). Auch bei Knies ist ja in dem erwähnten Zusammenhang | von menschlichem Handeln überhaupt, nicht aber von dem der „großen Persönlichkeiten“ die Rede, und so wird bei unseren weiteren Bemerkungen ein für allemal – soweit nicht das Gegenteil sich aus dem Zusammenhang unzweifelhaft ergibt bezw. ausdrücklich gesagt ist, – nicht nur an ein Sich-Verhalten eines Einzelnen, sondern ganz ebenso an „Massenbewegungen“ gedacht, wo von „menschlichem Handeln“, „Motivation“, „Entschluß“ u. dgl. die Rede ist. – Wir beginnen mit einigen Bemerkungen über den Begriff des „Schöpferischen“, welchen namentlich Wundt in seiner Methodologie der „Geisteswissenschaften“ als grundlegend aufgenommen hat.46 In welchem Sinne immer man nun jenen Begriff mit Bezug auf „Persönlichkeiten“ verwenden möge, so muß man sich jedenfalls sorgsam hüten, in ihm etwas anderes als den Niederschlag einer Wertung, die wir an den ursächlichen Momenten einerseits, und dem ihnen zugerechneten Endeffekt anderseits vornehmen, finden zu wollen. Insbesondere ist die Vorstellung gänzlich irrig, als hänge das, was unter jenem „schöpferischen“ Charakter menschlichen Tuns etwa verstanden werden kann, mit „objektiven“, – d. h.

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13) An dem individuellen Charakter der „Massenerscheinung“,47 sobald sie als Glied A 95 historischer Zusammenhänge erscheint, wird durch die Bemerkungen Simmels (Probleme der Geschichtsphilosophie, 2.  Aufl., S.  63 unten) natürlich, zweifellos auch nach Simmels eigener Ansicht, nichts geändert.48 Daß das generell | Gleiche an der beteilig- A 96 ten Vielheit von Individuen die „Massenerscheinung“ konstituiert, hindert nicht, daß ihre historische Bedeutung in dem individuellen Inhalt, der individuellen Ursache, den individuellen Wirkungen dieses den Vielen Gemeinsamen (z. B. einer konkreten religiösen Vorstellung, einer konkreten wirtschaftlichen Interessenkonstellation) liegt. Nur wirkliche, d. h. konkrete Objekte sind in ihrer individuellen Gestaltung reale Ursachen, und diese sucht die Geschichte. Über die Beziehung der Kategorie „Realgrund“ und „Erkenntnisgrund“ zu den geschichtsmethodologischen Problemen siehe meine demnächst im Jaffé-Braunschen Archiv erscheinenden Auseinandersetzungen mit Eduard Meyer und einigen anderen.49 |

46  Gemeint ist: Wundt, Logik II,2. Vgl. hierzu auch den Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 10. Okt. 1905, MWG II/4, S.  550–553. 47 Möglicherweise Bezug auf Lexis, Massenerscheinungen (wie oben, S.   219, Anm.  47). 48  Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  63: „Geschichte aber bilden sie [die Massenelemente] nur mit denjenigen Bestimmungen, die ihnen allen gemeinsam sind, in denen ihre Kräfte sich zu einer einheitlichen Wirkung addieren“. 49 Vgl. Weber, Kritische Studien, unten, S.  409 f. Vgl. bereits Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  53 f. mit Anm.  63.

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hier: von unseren Wertungen abgesehen in der empirischen Wirklichkeit gegebenen oder aus ihr abzuleitenden, – Unterschieden in der Art und Weise der Kausalbeziehungen zusammen. Als ursäch­ liches Moment greift die Eigenart und das konkrete Handeln einer konkreten „historischen“ Persönlichkeit „objektiv“, – d. h. sobald wir von unserem spezifischen Interesse abstrahieren, – in keinem irgend verständlichen Sinn „schöpferischer“ in das Geschehen ein, als dies bei „unpersönlichen“ ursächlichen Momenten, geographischen oder sozialen Zuständlichkeiten oder individuellen Naturvorgängen, ebenfalls der Fall sein kann. Denn der Begriff des „Schöpferischen“ ist, wenn er nicht einfach mit dem der „Neuheit“ bei qualitativen Veränderungen überhaupt gleichgesetzt, also ganz farblos wird, kein reiner Er|fahrungsbegriff, sondern hängt mit Wertideen zusammen, unter denen wir qualitative Veränderungen der Wirklichkeit betrachten. Die physikalischen und chemischen Vorgänge z. B., welche zur Bildung eines Kohlenflötzes oder Diamanten führen, sind „schöpferische Synthesen“50 in formal ganz demselben – nur durch die Verschiedenheit der leitenden Wertgesichtspunkte inhaltlich verschieden bestimmten – Sinn wie etwa die Motivationsverkettungen, welche von den Intuitionen eines Propheten zur Bildung einer neuen Religion führen. Unter logischen Gesichtspunkten betrachtet, hat die qualitative Veränderungsreihe in beiden Fällen die gleiche Eigenart der Färbung lediglich dadurch angenommen, daß infolge der Wertbeziehungen51 eines ihrer Glieder die Kausalungleichung,52 in welcher sie – wie an sich jede ledig-

50  Für Wundt gilt das von ihm formulierte „Princip der schöpferischen Synthese“ nur im psychischen Bereich. Vgl. Wundt, Logik II,2, S.  267. Bei einem physischen Gebilde sind die Eigenschaften des ganzen Gebildes bereits vollständig in den Eigenschaften seiner Elemente vorgebildet, so daß sie aus ihnen deduziert bzw. umgekehrt auf sie reduziert werden können. Ein psychisches Gebilde hingegen hat „neue Eigenschaften“, die in den Eigenschaften seiner Elemente nicht enthalten sind: „In diesem Sinne sind daher alle psychischen Gebilde Erzeugnisse einer schöpferischen Synthese.“ (ebd., S.  268 f.). Vgl. auch Wundt, Causalität (wie oben, S.  46, Anm.  31), S.  112 ff. 51  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  153 f. mit Anm.  49, S.  166 mit Anm.  71, und S.  189 mit Anm.  53. 52  Diesen Begriff hat Rickert in Auseinandersetzung mit Wundt, Causalität (wie oben, S.  46, Anm.  31), geprägt und seiner Theorie historischer Kausalität zugrunde gelegt. Vgl. Rickert, Causalität (wie oben, S.  46, Anm.  31), S.  64, 82 ff.; Rickert, Grenzen, S.  422. Rickert geht davon aus, daß „jede Ursache und jede Wirkung von jeder anderen Ursache und jeder anderen Wirkung verschieden“ ist (ebd., S.  413). Solche

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lich auf ihre qualitative Seite hin betrachtete Veränderung in der individuell besonderten Wirklichkeit – verläuft, als eine Wertungleichung ins Bewußtsein tritt. Damit wird die Reflexion auf diese Beziehung zum entscheidenden Grund unseres historischen Interesses. Wie die Unanwendbarkeit des Satzes „causa aequat effectum“53 auf das menschliche Handeln nicht aus irgendwelcher „objektiven“ Erhabenheit des Ablaufes der psychophysischen Vorgänge über die „Naturgesetzlichkeit“ im allgemeinen oder über spezielle Axiome, wie etwa das von der „Erhaltung der Energie“54 oder dergleichen[,] abzuleiten ist, sondern aus dem rein logischen Grund, daß eben die Gesichtspunkte, unter welchen das „Han„individuelle[n] Kausalzusammenhänge“ sind die Basis aller Kausalbetrachtung: Betrachtet man sie auf ihre Besonderheit hin, spricht man von „historische[r]“ Kausalität; betrachtet man sie auf ihre Allgemeinheit hin, d. h. darauf, „was ihnen mit anderen Kausalzusammenhängen gemeinsam ist“, um ein „Kausalgesetz“ zu formulieren, spricht man von „naturwissenschaftliche[r] Kausalität“ (ebd., S.  414). Um ein Kausalgesetz zu formulieren, gilt es, „von der stets vorhandenen Verschiedenheit der beiden, Ursache und Wirkung genannten Objekte zu abstrahiren, und zu sagen, dass die Ursache niemals mehr hervorbringe, als sie selbst enthalte“, was „dem Satz: causa aequat effectum“ entspricht und dem Kausalgesetz die Form einer „Kausalgleichung“ verleiht (ebd., S.  420, 422). Für die historischen Wissenschaften hingegen „ist der historische Effekt stets etwas Anderes als die Ursache, die ihn hervorbringt“, so daß man diesen Zusammenhang nur in „Kausalungleichungen“ darstellen kann (ebd., S.  422). Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  46 mit Anm.  31, und S.  52 f. mit Anm.  59. Vgl. auch Einleitung, oben, S.  18 f. 53  Ein aus der Scholastik stammendes Prinzip der Naturphilosophie, wonach Ursache und Wirkung gleich sind. Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Specimen dynamicum, in: ders., Philosophische Werke, Band 1: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. von Ernst Cassirer. – Leipzig: Dürr 1904, S.  256–272, hier S.  269. Vgl. auch Rickert, Grenzen, S.  420. 54  Die erste Formulierung des Energieerhaltungssatzes findet sich in Mayer, Kräfte (wie oben, S.  2, Anm.  11). Mayer beantwortet die Frage, „was wir unter ‚Kräften‘ zu verstehen haben“, indem er „Kräfte“ als „Ursachen“ konzipiert, auf die der „Grundsatz: causa aequat effectum“ insofern „volle Anwendung“ findet, als sich ihre Größen durch alle Wandlungen hindurch erhalten (ebd., S.  233). Hat die Ursache c die Wirkung e, so ist c = e. Ist e die Ursache einer Wirkung f, so ist e = f, und ebenso ist c = e = f. In einer solchen „Kette von Ursachen und Wirkungen“ kann „nie ein Glied oder ein Theil eines Gliedes zu Null werden“; daher ist die erste Eigenschaft aller Ursachen ihre „Unzerstörlichkeit“ (ebd., S.  233). Hat die Ursache c eine ihr gleiche Wirkung e hervorgebracht, so hat c aufgehört zu sein und ist zu e geworden. Da mithin c in e, e in f, usw. übergeht, müssen „diese Größen als verschiedene Erscheinungsformen eines und desselben Objectes“ betrachtet werden; daher ist die zweite Eigenschaft aller Ursachen ihre „Fähigkeit, verschiedene Formen annehmen zu können“ (ebd., S.  234). Zusammen ergibt sich: „Ursachen sind (quantitativ) unzerstörliche und (qualitativ) wandelbare Objekte“ (ebd., S.  234). In diesem Sinne kann Bewegung als Ursache von Wärme betrachtet werden, oder Fallkraft als Ursache von Bewegung (ebd., S.  235 ff.).

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deln“ für uns Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wird, die Kausalgleichung55 als Ziel derselben a priori ausschließen, – so verhält es sich, lediglich in einem noch um eine Stufe gesteigerten Grade, mit demjenigen „Handeln“, sei es Einzelner, sei es einer als Gruppe begrifflich zusammengefaßten Vielheit von Menschen,56 welches wir als „historisches“ Handeln aus der Fülle des vom geschichtlichen Interesse nicht erfaßten Tuns herausheben. Das „Schöpferische“ desselben liegt lediglich darin, daß für unsere „Auffassung“ der geschichtlichen Wirklichkeit der kausale Ablauf des Geschehens einen nach Art und Maß wechselnden Sinn empfängt: – m. a. W. das Eingreifen jener Wertungen, an denen unser geschichtliches Interesse verankert ist, läßt aus der Unendlichkeit der an sich historisch sinnlosen und gleichgültigen ursächlichen Komponenten das eine Mal gleichgültige Ergebnisse, das andere Mal aber eine bedeutungsvolle, d. h. in bestimmten Bestandteilen von jenem historischen Interesse57 erfaßte und gefärbte Konstellation entstehen. Im letzteren Fall sind für unsere „Auffassung“ neue Wertbeziehungen gestiftet worden, die | vorher fehlten, und wenn wir nun weiterhin diesen Erfolg anthropozentrisch dem „Handeln“ der Menschen kausal zurechnen,58 dann gilt uns dasselbe in solchen Fällen als „schöpferisch“. Nicht nur aber kann, wie gesagt, rein logisch betrachtet, die gleiche Dignität auch reinen „Naturvorgängen“ zukommen, – sobald nämlich von jener „objektiv“ ja ganz und gar nicht selbstverständlichen anthropozentrischen Zurechnung abstrahiert wird, – und nicht nur kann dies „Schöpferische“ natürlich auch – je nach dem „Standpunkt“ – mit negativem, herostratischem Vorzeichen versehen sein oder einfach qualitativen Wertwandel ohne eindeutiges Vorzeichen bedeuten, – sondern vor allem ist aus all diesen Gründen selbstverständlich zwischen Sinn und Maß des „Eigenwerts“ des „schöpferisch“ handelnden Men55  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  46 mit Anm.  31. 56  Für Gumplowicz ist die Gruppe die Grundeinheit der Soziologie, weil sie im Gegensatz zum Individuum keinen „individuellen Zufälligkeiten und Abweichungen“ unterliegt, sondern „von einer festen Regel beherrscht“ wird und „einem festen Gesetze“ folgt. Vgl. Gumplowicz, Ludwig, Individuum, Gruppe und Umwelt, in: ders., Soziologische Essays. – Innsbruck: Wagner 1899, S.  1–18, hier S.  4. 57  Für Rickert, Grenzen, S.  572, haben wir nur dann „ein historisches Interesse an einer Wirklichkeit, wenn mit ihr geistige Wesen zusammenhängen, die zu den allgemeinen menschlichen Werthen selbst Stellung nehmen“. Vgl. auch ebd., S.  475, 579. 58  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  185 mit Anm.  39.

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schen und seines Tuns und demjenigen des ihm zugerechneten Erfolges keinerlei notwendige Beziehung vorhanden. Ein – nach seinem „Eigenwert“ bemessen – für uns absolut wert- und geradezu sinnloses Handeln kann in seinem Erfolge durch die Verkettung historischer Schicksale eminent „schöpferisch“ werden,59 und anderseits können menschliche Taten, welche, isoliert „aufgefaßt“, durch unsere „Wertgefühle“ mit den grandiosesten Farben getränkt werden, in den ihnen zuzurechnenden Erfolgen in der grauen Unendlichkeit des historisch Gleichgültigen versinken und also für die Geschichte kausal bedeutungslos werden, oder – das in der Geschichte regelmäßig Wiederkehrende – in der Verkettung der historischen Schicksale ihren „Sinn“ nach Art und Maß bis zur Unkenntlichkeit ändern. Gerade diese letzteren Fälle des historischen Bedeutungswan­ dels pflegen unser historisches Interesse im intensivsten Maße auf sich zu ziehen, und man kann also die spezifisch historische Arbeit der Kulturwissenschaften auch hierin als äußerste Antithese aller auf Kausalgleichungen hinarbeitenden Disziplinen ansehen: Die Kausalungleichung als Wertungleichung ist für sie die entscheidende Kategorie, und lediglich diesen Sinn kann es also auch haben, wenn man von „schöpferischer Synthese“ als einem dem Gebiet, sei es des individualpsychischen Geschehens, sei es der Kulturzusammenhänge, oder beider, eigentümlichen Vorgang spricht. Die Art hingegen, wie dieser Begriff von Wundt bei den verschiedensten Gelegenheiten14) verwendet wird, ist, wie ich glauben möchte, nicht haltbar und direkt irreführend, wennschon natürlich niemand diesem hervorragenden Gelehrten den Gebrauch, welchen Historiker wie Lamprecht | gelegentlich von dieser Kategorie zu machen versucht haben,60 zur Last legen wird. 14)

  Z. B. auch in seiner „Völkerpsychologie“.61 |

59  Für Rickert, Grenzen, S.  422, braucht der Historiker dem „Satz: kleine Ursachen – grosse Wirkungen“ entsprechend „sich niemals zu scheuen“, „historisch wesentliche Wirkungen aus historisch unwesentlichen Ursachen entstehen zu lassen“. Dieser „Satz“ geht auf Julius Robert Mayers Theorie der Auslösung zurück. Vgl. unten, S.  265 mit Anm.  90. Vgl. auch die Einleitung, oben, S.  18 f. 60  Lamprecht, Kulturgeschichte, S.  81, sieht in der Psychologie die Grundlage aller historischen Wissenschaften und benutzt Wundts Konzept der schöpferischen Synthese, um seine „Lehre vom Gesamtwillen“ oder vom „Gesamtbewusstsein der sozialen Bildungen“ zu begründen. 61  Vgl. Wundt, Völkerpsychologie I,1, S.  246 f.

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– Wundts angeblich „psychologische“ Theorie mag hier in gedrängter Skizze analysiert werden. Die „psychischen Gebilde“ stehen nach Wundt15) zu den sie komponierenden „Elementen“ zwar in bestimmten kausalen Beziehungen, – d. h. also doch selbstverständlich: sie sind eindeutig determiniert –, aber sie besitzen zugleich „neue Eigenschaften“, die in jenen einzelnen Elementen „nicht enthalten sind“.62 – Es ist doch wohl zweifellos, daß dies bei allen Naturvorgängen ganz in gleichem Sinn und Maß der Fall ist, wann immer wir sie als quali­ tative Veränderungen auffassen. Wasser z. B. besitzt, mit bezug auf seine qualitative Eigenart betrachtet, Eigenschaften, die absolut nicht in seinen Elementen „enthalten“ sind.63 Sobald vollends die Beziehung auf Werte erfolgt, gibt es überhaupt keinen Naturvorgang, der nicht gegenüber seinen „Elementen“ spezifisch „neue“ Eigenschaften enthielte. Auch die rein quantitativen Beziehungen des Sonnensystems, gegenüber den, als seine „Elemente“, isoliert betrachteten einzelnen Planeten oder gegenüber den mechanischen Kräften, die es aus einem hypothetischen Urnebel herausentwickelt haben mögen,64 machenh durchaus in keinem Sinn eine Ausnahme davon, trotzdem doch hier eine Verkettung von rein physikalisch interessierenden Einzelvorgängen vorliegt, deren jeder also in einer Kausalgleichung ausdrückbar wäre. – Aber hören wir zunächst wieder Wundt. Ein Kristall, meint er, könne für den Naturforscher „nichts anderes“ sein, als „die Summe seiner Moleküle samt den ihnen eignen äußeren Wechselwirkungen“.65 Das Gleiche gelte für eine organische Form, die für den Naturforscher, auch wenn er „das Ganze“ noch nicht „kausal abzuleiten“ verA 99

15)

  Logik (2.  Aufl.) II2, S.  267 ff. |

h A: macht   62  Vgl. Wundt, Logik II,2, S.  268. 63  Für Wundt, ebd., S.  269 f., ist Wasser ein Beispiel für eine zwar noch nicht gelungene, aber wie bei allen physischen Gebilden prinzipiell mögliche „Ableitung“ der Eigenschaften eines Ganzen aus den Relationen seiner Elemente oder umgekehrt für eine „Zurückführung“ der Eigenschaften eines Ganzen auf die Relationen seiner Elemente. 64  Weber referiert auf die Kant-Laplace-Theorie. Vgl. Helmholtz, Hermann von, Ueber die Entstehung des Planetensystems, in: ders., Vorträge und Reden, Band 2, 5.  Aufl. – Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1903, S.  53–91. 65  Wundt, Logik II,2, S.  270.

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möge, nur das „in den Elementen vollständig vorgebildete Produkt dieser Elemente“ sei.66 Das entscheidende Zugeständnis, welches Wundt hier in die Feder geflossen ist, liegt in den Worten: „für den Naturforscher“, – der eben für seine Zwecke von den in der unmittelbar erlebten Wirklichkeit gegebenen Beziehungen zu abstrahieren hat. Denn für den Nationalökonomen, – um unter Außerachtlassung der feineren Zwischenglieder gleich zu ihm zu kommen, – liegt die Sache offenbar anders. Ob die „Wechselbeziehung“ der chemischen Elemente eine solche ist, daß durch sie ein für die menschliche Ernährung geeigneter Getreidehalm oder etwa ein Diamant dargestellt wird, oder ob chemisch gleiche Ele|mente sich in irgendeiner für die Befriedigung menschlicher Nahrungs- oder Schmuckbedürfnisse indifferenten Verbindung befinden, ist für seine Betrachtung ein fundamentaler Unterschied: im ersteren Falle hat der Naturprozeß ein Objekt hervorgebracht, welches ökonomisch bewertbar ist. Würde dagegen nun eingewendet, daß es sich eben deshalb hier um das Hineinspielen „psychologischer“ Momente, – der mittels „psychischer Kausalität“ zu interpretierenden „Wertgefühle“ und „Werturteile“ –[,] handle, so wäre dieser Einwand zwar in dieser Fassung falsch formuliert, aber in dem, was er sagen möchte, natürlich durchaus richtig. Nur gilt eben für das gesamte „psychische“ Geschehen genau das Gleiche. „Objektiv“67 – d. h. hier: unter Abstraktion von allen Wertbeziehungen – betrachtet, stellt es gleichfalls ausschließlich eine Kette qualitativer Veränderungen dar, deren wir uns teils direkt in der eigenen „inneren Erfahrung“, teils indirekt, durch analoge Interpretation von Ausdrucksbewegungen „anderer“, bewußt werden. Es ist ganz und gar nicht abzusehen, warum diese Veränderungsreihen nicht absolut ohne alle Ausnahme in ganz demselben Sinn einer von „Wertungen“ freien Betrachtung sollten unterworfen werden können, wie irgend einei Reihe qualitativer Veränderungen in der „toten“ Natur16). Wundt freilich stellt dem Kristall und dem organischen

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16) Dies hat übrigens niemand klarer betont als Rickert, – es bildet geradezu das A 100 Grundthema seiner in dieser Hinsicht im wesentlichen auch gegen Dilthey sich richten-

i A: einer   66 Ebd. 67  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  153 mit Anm.  43.

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Gebilde eine „Vorstellung“ als etwas gegenüber, was „niemals bloß die Summe der Empfindungen, in die sie sich zerlegen läßt“,68 darstelle, und bezeichnet weiter die „intellektuellen Vorgänge“, also z. B. ein Urteil oder einen Schluß, als Gebilde, die sich niemals „als bloße Aggregate einzelner Empfindungen und Vorstellungen begreifen“ lassen: denn, so fügt er hinzu, „was diesen Vorgängen erst die Bedeutung gibt, das entsteht“ (in streng kausaler Determination, dürfen wir auch hier unzweifelhaft Wundts Ansicht interpretieren) „… aus den Bestandteilen, ohne daß es doch in ihnen enthalten ist“.69 Sicherlich: aber ist dies etwa bei der Bildung jener „Naturprodukte“ anders? War etwa die „Bedeutung“, welche der Diamant oder der Getreidehalm für gewisse menschliche „Wertgefühle“ besitzt, in den physikalisch-chemischen Bedingungen ihrer Entstehung in höherem Grade oder in | anderem Sinne „vorgebildet“,70 als dies – bei strenger Durchführung der Kategorie der Kausalität auf psychischem Gebiet – bei den „Elementen“ der Fall ist, aus denen sich Vorstellungen und Urteile bilden? Oder – um „historische“ Vorgänge heranzuziehen – war die Bedeutung des schwarzen Todes71 für die Sozialgeschichte, oder die Bedeutung des Einbruchs des Dollart72 für die Geschichte der Kolonisationsbewegung usw. usw. „vorgebildet“ in den Bakterien und den anderen Ursachen der Infektion, welche jenes, oder in den geologischen und meteorologischen Ursachen, welche dieses Ereignis bedingten? Es steht mit beiden absolut nicht anders als mit dem Einbruch Gustav Adolfs in Deutschland73 oder dem Einbruch Dschingis­ den Schrift: „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“.74 Es ist erstaunlich, daß manche „Soziologen“ in einer Art von blindem Eifer dies immer wieder übersehen.75 | 68  Wundt, Logik II,2, S.  272. 69 Ebd. 70  Ebd., S.  270. 71  Gemeint ist die Pest-Epidemie, die im 14. Jahrhundert Europa heimsuchte. Vgl. unten, S.  296 f. mit Anm.  83 und 84. 72  Eine Meeresbucht westlich der Mündung der Ems gegenüber der Stadt Emden, die vermutlich 1277/87 entstand, als sich das Land senkte und vom Meer überflutet wurde. 73  König Gustav Adolf von Schweden unterstützte 1630 mit seinem Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg die Protestanten in Deutschland gegen die kaiserlichen Truppen Wallensteins. 74  Rickert, Grenzen. 75  Welche „Soziologen“ Weber meinte, konnte nicht nachgewiesen werden.

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chans in Europa.76 Historisch bedeutsame – d. h. für uns an „Kulturwerten“ verankerte – Folgenj haben alle jene Vorgänge hinterlassen. Kausal determiniert waren sie, – wenn man, wie Wundt, mit der Universalherrschaft des Kausalprinzips77 Ernst machen will, – ebenfalls alle. Alle bewirkten „psychisches“ ebenso wie „physisches“ Geschehen. Daß wir ihnen aber historische „Bedeutung“ beilegen, war bei keinem von ihnen aus der Art ihrer kausalen Bedingtheit abzulesen. Insbesondere folgte dies ganz und gar nicht daraus, daß „psychisches Geschehen“ in ihnen enthalten ist. In allen diesen Fällen ist vielmehr der Sinn, den wir den Erscheinungen beilegen, d. h. die Beziehung auf „Werte“, die wir vollziehen, dasjenige, was der „Ableitung“ aus den „Elementen“ als prinzipiell heterogenes und disparates Moment die Pfade kreuzt.78 Diese „unsere“ Beziehung „psychischer“ Hergänge auf Werte, – gleichviel ob sie als undifferenziertes „Wertgefühl“ oder als rationales „Werturteil“ auftritt, – vollzieht eben die „schöpferische Synthese“. Bei Wundt ist erstaunlicherweise die Sache gerade umgekehrt gedacht: das in der Eigenart der psychischen Kausalität „objektiv“ begründete Prinzip der „schöpferischen Synthese“ findet nach ihm seinen „charakteristischen Ausdruck“ in Wertbestimmungen und Werturteilen.79 Würde damit nur gemeint sein, daß es ein berechtigtes Ziel psychologischer Forschung sei, z. B. die psychischen oder psychophysischen „Bedingungen“ des Entstehens von Wertgefühlen und -urteilenk aufzusuchen und den Versuch zu machen, psychische oder psychophysische „Elementar“vorgänge als kausale Komponenten derselben zu erweisen, so wäre dagegen nichts zu erinnern. Man braucht aber nur wenige Seiten weiter zu lesen, um sich zu überzeugen, welches in Wahrheit die Konsequenzen von Wundts angeblich „psychologischer“ Betrachtungsweise sein sollen: „Im j A: Folge  k A: -Urteilen  76  Möglicherweise ist der Einmarsch der Mongolen in die Ukraine 1223 gemeint. Die Eroberungen in Europa, die heute als Mongolensturm bezeichnet werden, begannen erst um 1237, d. h. nach Dschingis Khans Tod. Zu den Mongolen vgl. Schurtz, Heinrich, Hochasien und Sibirien, in: Helmolt, Hans F. (Hg.), Weltgeschichte, Band 2: Ost­ asien und Ozeanien. Der indische Ozean. – Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut 1902, S.  117–222, hier S.  165 ff. 77  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  52 mit Anm.  59. 78  Vgl. Wundt, Logik II,2, S.  269. 79  Vgl. ebd., S.  273.

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Laufe jeder individuellen wie generellen Entwickelung“ – also | natürlich doch in derjenigen des geborenen Trunkenbolds oder Lustmörders ebenso wie in derjenigen des religiösen Genius – werden, nach Wundt, geistige (d. h. nach Wundts Interpretation logische, ethische, ästhetische) Werte erzeugt, „die ursprünglich in der ihnen zukommenden spezifischen Qualität überhaupt nicht vorhanden waren“,80 weil – nach Wundt – innerhalb der Lebenserscheinungen zu dem Prinzip der Erhaltung der physischen Energie das Gesetz des „Wachstums der psychischen Energie“ (d. h. der aktuellen und potentiellen Werte) tritt.81 Diese generelle „Tendenz“ zur Bildung „wachsender Wertgrößen“ kann durch „Störungen“ zwar „teilweise oder ganz vereitelt“ werden, aber selbst „eine der wichtigsten dieser Unterbrechungen psychischer Entwickelung: das Aufhören der individuellen geistigen Wirksamkeit“ – gemeint ist offenbar diejenige Erscheinung, die man gewöhnlich einfacher als „Tod“ bezeichnet – „pflegt“, wie nach Wundt „immerhin zu beachten“ ist, „durch das Wachstum der geistigen Energie innerhalb der Gemeinschaft, welcher der Einzelne angehört, . . . mehr als kompensiert“ zu werden:82 Das Entsprechende gelte im Verhältnis der einzelnen Nation zur menschlichen Gemeinschaft. Eine empirisch sein wollende Disziplin müßte dies nun aber auch in einer wenn auch noch so entfernten Annäherung an „Exaktheit“ nachzuweisen imstande sein. Und da doch offenbar nicht nur der Professor, sondern auch der Staatsmann und überhaupt jeder Einzelne eine „psychische Entwickelung“ erlebt, so entsteht die Frage: für wen denn nun dieses tröstliche Verhältnis des „Kompensiertwerdens“ gelten soll? – d. h. ob der Tod Cäsars oder irgendeines braven Straßenfegers als „psychologisch“ kompensiert zu gelten hat – 1. dem Verstorbenen oder Sterbenden selbst, oder 2. seiner hinterbliebenen Familie, oder 3. demjenigen, für welchen sein Tod eine „Stelle“ oder eine Gelegenheit zum „Wirken“ frei machte, oder 4. der Steuerkasse, 5. der Aushebungsbehörde, oder 6. bestimm80  Ebd., S.  274. 81  Dieses Gesetz besagt, daß sich die schöpferischen Synthesen des individuellen Seelenlebens und der darüber hinausreichenden geistigen Zusammenhänge zu progressiven Entwicklungsreihen verketten. Es steht mit dem Prinzip der Heterogonie der Zwecke in enger Beziehung. Vgl. ebd., S.  277; Wundt, Causalität (wie oben, S.  46, Anm.  31), S.  116. Vgl. oben, S.  254 mit Anm.  50. 82  Wundt, Logik II,2, S.  277.

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ten politischen Parteirichtungen usw., oder etwa 7. Gottes providentieller Weltleitung, – oder endlich: dem psychologistischen Metaphysiker. Nur diese letztere Annahme erscheint zulässig. Denn wie man sieht, handelt es sich hier nicht um Psychologie, sondern um eine im Gewande „objektiver“ psychologischer Betrachtung auftretende geschichtsphilosophische Konstruktion des a priori postulierten „Fortschritts“ der Menschheit. Weiterhin wird denn auch aus der „schöpferischen Synthese“ das „Gesetz der historischen Resultanten“83 abgeleitet, welches mit dem Gesetz der historischen „Relationen“84 und demjenigen der historischen „Kon­ traste“85 | die psychologistische Dreieinigkeit der historischen Kategorien bildet. Und sie muß weiterhin auch dazu dienen, Entstehung und „Wesen“ der „Gesellschaft“ und der Totalitäten überhaupt in einer vermeintlich „psychologisch“ begründeten Weise zu interpretieren.86 Und endlich soll sie verständlich machen, warum wir Kulturerscheinungen (angeblich) ausschließlich in Form des kausalen Regressus (von der Wirkung zur Ursache) zu erklären imstande sind, – als ob nicht genau das gleiche bei jedem mit den Mitteln der Physik zu interpretierenden konkreten „Naturvorgang“ der Fall wird, sobald es auf die individuellen Komplikationen und die Einzelheiten seiner Konsequenzen für die konkrete Wirklichkeit aus irgendwelchen Gründen einmal ankommt. Doch davon später. Hier sollten zunächst nur die elementarsten Charakterzüge 83  Nach Wundt, ebd., S.  408, besagt dieses Gesetz, „jeder einzelne […] Inhalt der Geschichte [sei] die resultirende Wirkung aus einer Mehrheit geschichtlicher Bedingungen, mit denen er derart zusammenhängt, dass in ihm die qualitative Natur jeder einzelnen Bedingung nachwirkt, während er doch zugleich einen neuen und einheitlichen Charakter besitzt, der zwar durch die historische Analyse aus der Verbindung jener geschichtlichen Factoren abgeleitet, niemals aber aus ihnen durch eine a priori ausgeführte Synthese construirt werden kann“. 84 Vgl. ebd., S.  410: Dieses Gesetz besagt, „dass jeder geschichtliche Inhalt, der den Charakter eines zusammengesetzten, aber vermöge irgend welcher geistiger Beziehungen einheitlichen Ganzen hat, nur aus Factoren von verwandtem geistigem Charakter besteht“; so gibt es z. B. zwischen der Kunst und der Wissenschaft eines Zeitalters „durchgängige Beziehungen“. 85  Vgl. ebd., S.  414: Dieses Gesetz besagt, daß die kausale Wirksamkeit eines Vorgangs nicht nur „Gleichartiges“, sondern auch „entgegengesetzte“ Wirkungen erzeugt; seine Bedeutung liegt darin, „dass es alle die geschichtlichen Veränderungen beherrscht, die nicht in der Weiterentwicklung und fortschreitenden Differenzirung in gegebener Richtung sondern in der Erzeugung qualitativ neuer Erscheinungen bestehen“. 86  Ebd., S.  598, 617.

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der Theorie konstatiert werden. – Die außerordentliche, dankbare Hochachtung, welche der umfassenden Gedankenarbeit dieses hervorragenden Gelehrten geschuldet wird, darf nicht hindern, für diese speziellen Probleme zu konstatieren, daß eine solche Art von angeblicher „Psychologie“ für die wissenschaftliche Unbefangenheit des Historikers geradezu Gift ist, weil sie ihn dazu verleitet, die geschichtsphilosophisch gewonnenen Werte, auf welche er die Geschichte bezieht, sich selbst durch Verwendung angeblicher psychologischer Kategorien zu verhüllen und so sich und andern einen falschen Schein von Exaktheit vorzutäuschen, – wofür Lamprechts Arbeiten ein abschreckendes Beispiel geliefert haben.87 Verfolgen wir, der außerordentlichen Bedeutung wegen, welche Wundts Ansichten auf dem Gebiet psychologischen Arbeitens zukommt, das Verhältnis von kausal erklärender Psychologie zu den „Normen“ und „Werten“ noch etwas weiter. Es sei vor allem betont, daß die Ablehnung jener angeblichen psychologischen „Gesetze“ Wundts und die Hervorhebung des Werturteils-Charakters gewisser angeblich „psychologischer“ Begriffe nicht etwa dem Streben nach Beeinträchtigung der Bedeutung und des Arbeitsgebietes der Psychologie und der ihr aggregierten „psychophysischen“ Disziplinen, oder gar dem Wunsch, „Lücken“ in der Geltung des Kausalprinzips für die empirischen Wissenschaften aufzuweisen, entspringenl. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Psychologie wird als empirische Disziplin erst durch Ausschaltung von Werturteilen – wie sie in Wundts „Gesetzen“ stecken – möglich. Die Psychologie mag hoffen, irgendwann einmal jene Konstellationen psychischer „Elemente“ festzustellen, welche kausal eindeutige Bedingungen dafür sind, daß bei uns das „Gefühl“ entsteht, ein „objektiv“ gültiges „Urteil“ bestimmten In|halts zu „fällen“ oder „gefällt“ zu haben. Die Hirnanatomie irgendeiner Zukunft mag die für diesen Tatbestand unentbehrlichen und ihn eindeutig bedingenden physischen Vorgänge ermitteln wollen. Ob dies sachlich möglich ist, fragen wir hier nicht, jedenfalls enthält die Annahme einer solchen Aufgabe keine logisch widersinnige Voraussetzung und, was die sachliche Seite anlangt, so zeigt z. B. der Begriff der „potenl A: entspringt   87  Vgl. oben, S.  257 mit Anm.  60.

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tiellen Energie“,88 auf dessen Einführung das Energiegesetz ruht,89 ganz ebenso „unbegreifliche“ (hier: unanschauliche) Bestandteile wie irgendwelche noch so verwickelten hirnanatomischen Voraussetzungen der Psychophysik zum Zweck der Erklärung des „explosions“artigen Verlaufs gewisser „Auslösungs“vorgänge.90 Die Voraussetzung der Möglichkeit solcher Feststellungen ist, als ideales Ziel der psychophysischen Forschung gedacht, trotz der höchsten Wahrscheinlichkeit seiner Unerreichbarkeit, jedenfalls als Problemstellung positiv sinnvoll und fruchtbar. Es mag ferner – um noch eine andere Seite heranzuziehen – die Biologie die „psychische“ Entfaltung unserer logischen Kategorien, die bewußte Verwendung des Kausalprinzips z. B., etwa als Produkt der „Anpassung“91 „verstehen“: man hat bekanntlich die „Schranken“ unserer 88  Mit diesem 1853 von Rankine geprägten Begriff wird die Fähigkeit eines Körpers bezeichnet, aufgrund seiner relativ zu einem niedereren Referenzpunkt höheren Lage Arbeit zu verrichten (Energie der Lage). Vgl. Rankine, William John Macquorn, On the General Law of the Transformation of Energy, in: ders., Miscellaneous Scientific Papers. From the Transactions and Proceedings of the Royal and other Scientific and Philosophical Societies, and the Scientific Journals. – London: Charles Griffin 1881, S.  203–209, bes. S.  203. Vgl. auch ders., On the Phrase „Potential Energy“, and on the Definitions of Physical Quantities, in: ebd., S.  229–233. 89  Mayer, Kräfte (wie oben, S.  2, Anm.  11), S.  235, hatte 1842 von „Fallkraft“ gesprochen, was man später mit dem Begriff der potentiellen Energie identifizierte. Vgl. Riehl, Alois, Robert Mayers Entdeckung und Beweis des Energieprincipes, in: Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage 28. März 1900. – Tübingen, Freiburg i. B. und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, S.  159– 184 (hinfort: Riehl, Mayers Entdeckung), hier S.  177: „Ohne die Trennung von Fallkraft, oder, wie wir heute sagen: potentieller Energie, und Bewegung war der Grundgedanke Mayers nicht durchführbar“. 90  Vgl. Mayer, Auslösung (wie oben, S.  19, Anm.  31). Mayer hat auf Erscheinungen hingewiesen, die „keine Ausnahme von dem Satze ‚causa aequat effectum‘ begründen“, aber „die Ausdrücke ‚Ursache und Wirkung‘ in total anderem Sinne“ gebrauchen lassen. Bei solchen „Auslösungen“ wie z. B. einem „Funken“, der „Knallgas“ zur Explosion bringt, handelt es sich um Erscheinungen, wo „die Ursache der Wirkung nicht nur nicht gleich oder proportional ist, sondern wo überhaupt zwischen Ursache und Wirkung gar keine quantitative Beziehung besteht, vielmehr in der Regel die Ursache der Wirkung gegenüber eine verschwindend kleine Grösse zu nennen ist“ (ebd., S.  9 f.). Solche Erscheinungen „entziehen sich jeder Berechnung, denn Qualitäten lassen sich nicht, wie Quantitäten, numerisch bestimmen“ (ebd., S.  11). Auslösungen gibt es auch in der „lebenden Welt“, in der „Physiologie“ und „Psychologie“, aber auch in der Geschichte, wie „Attentate“ zeigen (ebd., S.  11, 16). Daran anknüpfend Rickert, Grenzen, S.  422; vgl. dazu oben, S.  257, Anm.  59. 91  Vgl. Darwin, Entstehung (wie oben, S.  163, Anm.  64), S.  216: „Es ist allgemein anerkannt, dass alle organischen Wesen nach zwei grossen Gesetzen gebildet worden sind: Einheit des Typus und Anpassung an die Existenz-Bedingungen.“

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Erkenntnis prinzipiell daraus abzuleiten versucht, daß „das Bewußtsein“ eben nur als Mittel der Erhaltung der Gattung entstanden sei und daher – weil die Erkenntnis „nur“ um des Erkennens selbst willen ja Produkt des „Spieltriebs“ sei – seine Sphäre nicht über das durch jene Funktion bedingte Maß ausdehnbar sei.92 Und man mag diese freilich dem Wesen nach „teleologische“ Interpretation weiterhin durch eine mehr kausale zu ersetzen suchen, indem etwa die allmähliche Entstehung des Wissens von der Bedeutung jener Kategorie als Ergebnis ungezählter spezifischer „Reaktionen“ auf gewisse, irgendwie näher zu bestimmende „Reize“ im Laufe einer langen phylogenetischen Entwicklung – für die jam die nötigen Jahrmillionen gratis zur Verfügung stehen – interpretiert wird. Man mag ferner über die Verwendung so summarischer und stumpfer Kategorien, wie „Anpassung“, „Auslösung“ u. dgl. in ihrer generellen Fassung hinausgehen und die speziellen „Auslösungsvorgänge“, welche die moderne Wissenschaft entbunden haben, auch streng historisch in gewissen – im weitesten Sinne des Wortes – „praktischen“ Problemen zu finden suchen, vor welche konkrete Konstellationen der gesellschaftlichen Verhältnisse das Denken stellten, und weiterhin aufzeigen, wie die Verwendung bestimmter Formen des „Auffassens“ der Wirklichkeit, zugleich praktische Optimalitäten der Befriedigung gewisser jeweils | ausschlaggebender Interessen bestimmter sozialer Schichten darstellten, – und man mag so in einem freilich stark veränderten Sinne mit dem Satz des historischen „Materialismus“, daß der ideelle „Überbau“ Funktion des gesellschaftlichen Gesamtzustandes sei,93 auch auf dem Gebiet des Denkens Ernst machen: der m A: je   92  Vgl. Nietzsche, Wissenschaft (wie oben, S.  96, Anm.  51), S.  294: „Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die ‚Wahrheit‘: wir ‚wissen‘ […] gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Heerde, der Gattung, nützlich sein mag“. Vgl. ebd., S.  151 zum Zusammenhang von Erkenntnis und Spieltrieb: Die „feinere Redlicheit und Skepsis“ sind immer dort entstanden, wo „über den höheren oder geringeren Grade des Nutzens für das Leben gestritten werden konnte; ebenfalls dort, wo neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich, aber auch nicht schädlich zeigten, als Äusserungen eines intellectuellen Spieltriebes“. 93  Vgl. Marx, Karl und Engels, Friedrich, Zur Kritik der politischen Ökonomie, hg. von Karl Kautsky. – Stuttgart: J. H. W. Dietz Nachf. 1897, S. XI: Auf der materialen Basis der ökonomischen Struktur der Gesamtheit der Produktionsverhältnisse bildet sich ein bestimmten gesellschaftlichen Bewußtseinsformen entsprechender „juristischer und politischer Überbau“ geistiger Lebensprozesse.

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Satz, daß letztlich als „wahr“ uns zu gelten pflege, was uns „nützlich“ sei, würde so gewissermaßen historisch erhärtet werden. Jene Aufstellungen mögen sachlich sehr skeptisch zu beurteilen sein, – einen logischen Widersinn schließt dieser Satz jedenfalls erst da ein, wo „Erkenntniswert“ und „praktischer Wert“ konfundiert werden und die Kategorie der „Norm“ fehlt, wo also behauptet wird: daß das Nützliche, weil nützlich, auch wahr sei,94 daß jene „prakti­ sche Bedeutung“ oder jene „Auslösungs-“ und Anpassungsvorgänge die Sätze der Mathematik – nicht etwa nur zu einer faktisch erkannten, sondern – zu einer normative Geltung besitzenden Wahrheit erst gemacht haben. Das wäre freilich „Unsinn“, – im übrigen finden alle jene Überlegungen ihre prinzipielle erkenntnis­ theoretische Schranke nur in dem ihrem Erkenntniszweck immanenten Sinn und die Schranken ihrer sachlichen Verwertbarkeit lediglich an der Grenze ihrer Fähigkeit, die empirisch gegebenen Tatsachen widerspruchslos derart zu „erklären“, daß die Erklärung sich „in aller Erfahrung bewährt“. Was nun aber bei idealster Lösung aller solcher Zukunftsaufgaben einer physiologischen, psychologischen, biogenetischen, soziologischen und historischen „Erklärung“ des Phänomens des Denkens und bestimmter „Standpunkte“ desselben natürlich gänzlich unberührt bleiben würde, das ist eben die Frage nach der Geltung der Ergebnisse unserer „Denkprozesse“, ihrem „Erkenntniswert“. Welche anatomische Vorgänge der Erkenntnis von der „Geltung“ des kleinen Einmaleins korrespondieren, und wie diese anatomischen Konstellationen phylogenetisch sich entwickelt haben, dies könnten, käme es nur auf die logische Möglichkeit an, irgendwelche „exakten“ Zukunftsforschungen zu ermitteln hoffen. Nur die Frage der „Richtigkeit“ des Urteils: 2 x 2 = 4 ist dem Mikroskop ebenso wie jeder biologischen, psychologischen und historischen Betrachtung aus logischen Gründen für ewig entzogen. Denn die Behauptung, daß das Einmaleins „gelte“, ist für jede empirische psychologische Beobachtung und kausale Analyse einfach transzendent und als Objekt der Prüfung sinnlos, sie gehört zu den für sie gar nicht nachprüfbaren logischen Voraussetzungen ihrer eigenen psychometrischen Beobachtun94  Möglicherweise bezieht sich Weber auf Simmel, für den wahr ist, was allen nützlich ist. Vgl. Simmel, Georg, Über eine Beziehung der Selectionslehre zur Erkenntnistheorie, in: Archiv für systematische Philosophie, Band 1, 1895, S.  34–45, hier S.  45.

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gen.95 Der Umstand, daß die Florentiner Bankiers des Mittelalters, infolge Unkenntnis des | arabischen Zahlensystems, sich selbst bei ihren Erbteilungen ganz regelmäßig – wie wir vom „normativen“ Standpunkt aus sagenn – „verrechneten“ und wirklich „richtige“ Rechnungen bei größeren Posten in manchen Buchungen der damaligen Zeit beinahe die Ausnahme bilden,96 – dieser Umstand ist kausal genau so determiniert wie der andere: daß die „Richtigkeit“ heute die Regel bildet, und wir solche Vorkommnisse bei heutigen Bankiers höchst übel zu „deuten“ geneigt sein würden. Wir werden zur Erklärung jenes Zustandes in den Büchern etwa der Peruzzi97 alles mögliche, – nur das Eine jedenfalls nicht geltend machen können, daß das kleine Einmaleins zu ihrer Zeit noch nicht „richtig“ gewesen sei, ebensowenig wie seine „Richtigkeit“ heute etwa erschüttert werden würde, falls eine Statistik über die Anzahl der Fälle, in denen im Laufe eines Jahres tatsächlich „unrichtig“ gerechnet worden ist, ein „ungünstiges“ Resultat ergeben sollte, – denn „ungünstig“ wäre es eben nicht für die Beurteilung des Einmaleins auf seine Geltung hin, sondern für eine vom Standpunkt und unter Voraussetzung dieser Geltung aus vorgenommene Kritik unserer Fähigkeiten im „normgemäßen“ Kopfrechnen. – Würde nun – um bei dem Beispiel der intellektuellen Entwickelung zu bleiben – eine an Wundts Begriffen orientierte Betrachtungsweise auf alle diese etwas sehr simplen und natürlich von Wundt selbst am allerwenigsten bestrittenen, nur eben sachlich von ihm nicht festgehaltenen Bemerkungen antworten, daß das Prinzip der „schöpferischen Synthese“ oder der „steigenden psychischen Energie“ ja, unter anderm, gerade dies bedeute, daß wir im Laufe der „Kulturentwickelung“ zunehmend „befähigt“ werden, solche zeitlos gültigen „Normen“ intellektuell zu erfassen und „anzuerkennen“, dann wäre damit lediglich konstatiert, daß diese angeblich empirisch-„psychologische“ Betrachtung eben keine im n A: sagen,   95 Psychometrie ist die methodische Messung psychischer Prozesse. Einer ihrer Wegbereiter war der Wundt-Schüler McKeen Cattell. Vgl. McKeen Cattell, James, Psychometrische Untersuchungen, 3 Bände. – Leipzig: W. Engelmann 1886–1888. 96 Vgl. Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, MWG I/1, S.  109–340, hier S.  308 ff. 97  Vgl. ebd., S.  302, über „Auszüge aus den Büchern der beiden großen […] Bankiersfamilien der Alberti und Peruzzi“.

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Sinne der Abwesenheit von Wertungen „voraussetzungslose“98 empirische Analyse, sondern eine Beurteilung der „Kulturentwickelung“ unter dem Gesichtspunkt eines bereits als geltend vorausgesetzten „Werts“: des Werts „richtiger“ Erkenntnis, darstellt. Denn jenes angebliche „Gesetz“ der „Entwickelung“ würde dann eben nur da als vorhanden anerkannt, wo sich eine Veränderung in der Richtung auf die Anerkennung jener „Normen“ hin bewegte17). Dieser Wert – an welchem der Sinn unseres ge|samten wissenschaftlichen Erkennens verankert ist – versteht sich aber doch nicht etwa „empirisch“ von selbst. Während, wenn wir z. B. den Zweck wissenschaftlicher Analyse der empirisch gegebenen Wirklichkeit als wertvoll – es sei aus welchen Motiven immer – anerkennen wollen, bei der wissenschaftlichen Arbeit selbst die „Normen“ unseres Denkens sich ihre Beachtung (so weit sie uns bewußt bleiben und so lange zugleich jener Zweck festgehalten wird) erzwin­ gen, – ist der „Wert“ jenes Zweckes selbst etwas aus der Wissenschaft als solcher ganz und gar nicht begründbares. Ihr Betrieb mag in den Dienst klinischer, technischer, ökonomischer, politischer oder anderer „praktischer“ Interessen gestellt sein: dann setzt, für die Wertbeurteilung, ihr Wert denjenigen jener Interessen voraus, welchen sie dient, und dieser ist dann ein „a priori“. Gänzlich problematisch aber wird dann, rein empirisch behauptet, der „Wert“ der „reinen Wissenschaft“. Denn, empirisch-psychologisch betrachtet, ist der Wert der „um ihrer selbst willen“ betriebenen Wissenschaft ja nicht nur praktisch, von gewissen religiösen Standpunkten und etwa demjenigen der „Staatsraison“ aus, sondern auch prinzipiell unter Zugrundelegung radikaler Bejahung rein „vitalistischer“99 Werte oder umgekehrt radikaler Lebensverneinung1 tatsächlich bestritten worden, und ein logischer Widersinn liegt in

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17) Dies würde von psychologistischen Entwickelungstheoretikern wohl in die Form A 106 etwa der These gekleidet werden: „wo Entwickelung“ ist, da ist sie eine | solche in der A 107 Richtung auf jene „Werte“. In Wahrheit ist der Sachverhalt der, daß wir nur dann eine Veränderung als „Kulturentwickelung“ bezeichnen, wenn sie Beziehungen zu Werten

98  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  100 mit Anm.  67. 99  Zum Vitalismus vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  180 mit Anm.  22. 1 Als Apologet radikaler Lebensverneinung galt Arthur Schopenhauer, wie Simmel Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Reihe von Vorträgen ausführen sollte. Vgl. Simmel, Georg, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus. – Leipzig: Duncker & Humblot 1907, S.  195; Handexemplar Max Webers in der Diözesanbibliothek Aachen.

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dieser Bestreitung ganz und gar nicht oder nur dann, wenn etwa verkannt würde, daß damit eben lediglich andere Werte als dem Wert der wissenschaftlichen Wahrheit übergeordnet angesprochen werden. – Es würde nun zu weit führen, nach diesen umständlichen Darlegungen von „Selbstverständlichkeiten“ hier auch noch zu erörtern, daß für andere Werte genau das gleiche gilt, wie für den Wert des Strebens nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Es gibt schlechterdings keine Brücke, welche von der wirklich nur „empirischen“ Analyse der gegebenen Wirklichkeit mit den Mitteln kausaler Erklärung zur Feststellung oder Bestreitung der „Gültigkeit“ irgend eines Werturteils führt, und die Wundtschen Begriffe der „schöpferischen Synthese“, des „Gesetzes“ der stetigen „Steigerung der psychischen Energien“2 usw. enthalten Werturteile vom reinsten Wasser. Ver|deutlichen wir uns nur kurz noch die Denkmotive, welche zu diesen Aufstellungen geführt haben. Sie sind ganz offenbar darin zu finden, daß wir eben die Entwickelung derjenigen Völker, die wir „Kulturvölker“3 nennen, als Wertsteigerung beurteilen, und daß dies Werturteil, welches den Ablauf qualitativer Veränderungen, den wir an ihnen feststellen, als eine Kette von Wertungleichungen aufgefaßt werden läßt, eben dadurch unser „historisches Interesse“ in spezifischer Art auf sie hinlenkt, – bestimmter ausgedrückt: dafür konstitutiv wird, daß diese Entwickelungen für uns „Geschichte“ werden. Und jene durch unsere Wertbeurteilung hergestellten Wertungleichungen, die Erscheinungen des historischen Wert- und Bedeutungswandels, der Umstand, daß jene Bestandteile des zeitlichen Ablaufes des Geschehens, welche wir als „Kulturentwickelung“ bewerten und so aus der Sinnlosigkeit der endlosen Flucht unendlicher Mannigfaltigkeiten herausheben, eben für unser Werturteil in gewissen wichtigen aufweist, vom Standpunkt der in Werten orientierten Betrachtung aus „relevant“ ist, d. h. entweder selbst „Wertwandel“ ist oder dazu in kausalem Verhältnis steht.4 | 2  Vgl. dazu oben, S.  262 mit Anm.  81. 3  In Wundtscher Tradition vgl. Vierkandt, Alfred, Naturvölker und Kulturvölker. Ein Beitrag zur Socialpsychologie. – Leipzig: Duncker & Humblot 1896. Vgl. dazu Rickert, Grenzen, S.  620 f. Für Rickert sind „Kulturvölker“ alle Völker, „welche mit Rücksicht auf uns bekannte Werthe von normativ allgemeiner Geltung wesentliche Veränderungen zeigen“ (ebd., S.  587). 4  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  473.

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Hinsichten, – so namentlich am Maßstabe des Umfanges der „Erkenntnis“ gemessen – „Fortschritte“ zeigen: – dies alles erzeugt nun den metaphysischen Glauben, als ob, auch bei Abstraktion von unserer wertenden Stellungnahme, aus dem Reiche der zeitlosen Werte5 in das Reich des historischen Geschehens durch Vermittelung, sei es der genialen „Persönlichkeit“, sei es der „sozialpsychischen Entwickelung“, ein Jungbrunnen hinübersprudle, welcher den „Fortschritt“ der Menschheitskultur in die zeitlich unbegrenzte Zukunft hinein „objektiv“ stets von neuem erzeuge. Diesem „Fortschritts“-Glauben stellt sich Wundts „Psychologie“ als Apologet zur Verfügung. Und den gleichen, – vom Standpunkt einer empirischen Psychologie aus gesprochen: – metaphysischen Glauben teilte offenbar auch Knies. Und sicherlich hatte er sich dieses Glaubens zu schämen keinen Anlaß, nachdem ihm ein ­Größerer eine in ihrer Art klassische Form gegeben hatte. Kants „Kausalität durch Freiheit“6 ist, zusammen mit den mannigfachen Verzweigungen, welche in der weiteren Entwickelung des philosophischen Denkens aus diesem Begriff hervorgewachsen waren, der philosophische Archetypos7 aller metaphysischen „Kultur-“ und „Persönlichkeits“-Theorien dieser Art. Denn jenes Hineinragen des intelligiblen Charakters in die empirische Kausalverkettung vermittelst der ethisch normgemäßen Handlungen läßt sich ja mit der größten Leichtigkeit zu der Anschauung verschieben und verbreitern, daß entweder alles Normgemäße in ähnlicher Art aus der Welt der „Dinge an sich“ in die empirische Wirklichkeit hineinverwebt sein müsse oder daß, noch weiter, aller Wertwandel in | der Wirklichkeit durch „schöpferische“ Kräfte hervorgebracht werde, welche einer spezifisch anderen Kausalität unterliegen als andere, 5  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  232 mit Anm.  80. 6  Im Rahmen der dritten Antinomie der reinen Vernunft verknüpft Kant das Problem der Kausalität mit dem moralphilosophischen Problem der Freiheit. Er stellt die These auf, es gebe neben der „Kausalität nach Gesetzen der Natur“ noch eine „Kausalität durch Freiheit“, eine „absolute Spontaneität der Ursachen“, ohne die Kausalreihen niemals vollständig sein können, da ansonsten jede Ursache immer auch eine Wirkung sein müsse, die wiederum selbst auf eine Ursache zurückgehe. Vgl. Kant, Kritik, S.  392–399 (B 472–B 479), Zitate: S.  392 (dort im Handexemplar, Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München, mit doppeltem Randstrich versehen) und S.  394. 7  Archetypos oder Archetypus meint ein Original, Ur- oder Vorbild, das als Muster für Nachbildungen dient. Rickert, Grenzen, S.  676, spricht mit Bezug auf Kants Erkenntnistheorie von einem „intellectus archetypus“.

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für unser „Werturteil“ indifferente qualitative Veränderungsreihen. In dieser letzteren Form taucht jene Gedankenreihe, freilich arg degeneriert gegenüber dem – trotz aller Widersprüche, in die er bei jeder näheren Erwägung führt – grandiosen und vor allem in seinem logischen Wesen rückhaltlos unverhüllten Charakter des Kantschen Gedankens, in dem Wundtschen Begriff der „schöpferischen Synthese“ und des Gesetzes der „steigenden psychischen Energie“ auf. – Ob und welcher Sinn solchen Aufstellungen etwa auf dem Gebiet metaphysischer Betrachtungen zukommen könnte, bleibt hier ganz dahingestellt, und ebenso sind die sachlichen Schwierigkeiten der „Kausalität durch Freiheit“ und aller ihr verwandten Konstruktionen, welche wohl gerade auf dem metaphysischeno Gebiet beginnen dürften, hier nicht zu besprechen18). Jedenfalls ist der „Psychologismus“, d. h. hier: die Prätension der Psychologie, „Weltanschauung“ zu sein oder zu schaffen, ganz ebenso sinnlos und für die Unbefangenheit der empirischen Wissenschaft ganz ebenso gefährlich wie der „Naturalismus“ auf Grundlage sei es der Mechanik, sei es der Biologie auf der einen, der „Historismus“ auf Grundlage der „Kulturgeschichte“ auf der anderen Seite19). A 109

18) S[iehe] darüber z.  B. die Ausführungen Windelbands, Über Willensfreiheitp, S.  161 ff. 19)  Die Erscheinung, daß wirkliche oder angebliche Forschungsmethoden und -ergebnisseq empirischer Disziplinen zum Aufbau von „Weltanschauungen“ benützt werden, ist ja nachgerade ein trivial gewordener Vorgang. In klassischer Reinheit ist er wieder an den einigermaßen „fürchterlichen“ Ergebnissen zu beobachten, welche gewisse Äußerungen Machs (S.  18 Anm.  12 der „Analyse der Empfindungen“)8 im letzten Kapitel von L[udo] M[oritz] Hartmanns Buch über die „historische Entwickelung“ gezeitigt haben.9 Eine Auseinandersetzung mit der merkwürdigen Verirrung eines mit Recht angesehenen Gelehrten, welche diese Arbeit darstellt, erspare ich mir für einen

o A: metaphysischem  p A: Willensfreiheit“  q A: -Ergebnisse   8  Vgl. Mach, Analyse, S.  18, Anm.  12. 9  Hartmanns Buch ist Mach gewidmet. Nicht alle Bezüge auf Mach werden expliziert. Hartmann, Entwickelung, S.  84 ff., weist auf das „Unwissenschaftliche“ an solchen „üblichen Wertmaßstäben“ hin, führt aber dann selbst mit seinem „Satz von der fortschreitenden Vergesellschaftung“ einen „ethischen“ Maßstab ein, um den Wert von Handlungen zu beurteilen. Durch eine Reformulierung von Kants kategorischem Imperativ in der Frage „Was hat er getan?“ soll jede einzelne Persönlichkeit in der Geschichte danach beurteilt werden, „ob ihre Motive Förderung oder Zersetzung der Vergesellschaftung waren“. Vgl. hierzu auch den Brief Max Webers an Franz Eulenburg vom 29. Juni 1905, MWG II/4, S.  491 f.

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Daß mit diesem angeblichen „Prinzip“ des psychischen Geschehens für irgend eine Psychologie absolut nicht das Geringste anzufangen ist, hat bereits Münsterberg20) zur Evidenz erwiesen. Das „objektivierte“, d. h. von der Beziehung auf Wertideen gelöste „psychische“ Geschehen kennt eben lediglich den Begriff der quali|tativen Veränderung, und die objektivierte kausale Beobachtung dieser Veränderung denjenigen der Kausalungleichung. Der Begriff des „Schöpferischen“ kann erst da in Funktion treten, wo wir individuelle Bestandteile jener „an sich“ durchaus indifferenten Veränderungsreihen auf Werte zu beziehen beginnen. Tun wir dies aber, dann kann, wie gesagt,10 die Entstehung des Sonnensystems aus irgend einem Urnebel oder, wenn man für die Anwendbarkeit des Begriffs auf die Plötzlichkeit des Ereignisses Gewicht legen will, der Einbruch des Dollart ganz ebenso unter den Begriff des „Schöpferischen“ gebracht werden wie die Entstehung der Sixtinischen Madonna oder das Erdenken von Kants Kritik der reinen Vernunft.11 – Aus irgend einem von Werturteilen freien, „objektiven“, Merkmal der Art ihrer kausalen Wirkungsweise kann eine spezifische „schöpferische Bedeutung“ der „Persönlichkeiten“ oder des „menschlichen Handelns“ nicht abgeleitet werden. Dies allein – so selbstverständlich es ist, – sollte hier ausdrücklich festgestellt werden. In welchem Sinn im übrigen der Historiker den Begriff des „Schöpferischen“ verwendet und mit „subjektivem“ Recht verwenden darf, erörtern wir hier nicht. Vielmehr wenden wir uns wieder mehr dem Ausgangspunkt dieser Erörterungen – der Ansicht von Knies – durch einige Bemerkungen zu, betreffend den Glauandern Ort.12 Die Schrift ist – allerdings wider den Willen des Autors – methodologisch recht lehrreich. (Vergl. über sie die Rezension von F[ranz] Eulenburg, D[eutsche] Lit[eratur]-Zeitung 1905, Nr.  24.)13 20)  Grundzüge der Psychologie. Bd.   I, Leipzig 1900.14 Wir kommen alsbald eingehend auf ihn zurück.15 | 10  Oben, S.  258 mit Anm.  64. 11  Vgl. Kant, Kritik. 12 Eine solche Besprechung von Hartmann, Entwickelung, durch Max Weber liegt nicht vor. 13  Eulenburg, Hartmann. Dazu auch der oben, S.  272 mit Anm.  9, bereits zitierte Brief Max Webers vom 29. Juni 1905. 14  Münsterberg, Psychologie. 15  Unten, S.  282 ff.

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ben an die spezifische Irrationalität des menschlichen Handelns oder der menschlichen „Persönlichkeit“. Wir nehmen hier den Begriff „Irrationalität“ zunächst einfach in dem vulgären Sinn von jener „Unberechenbarkeit“, welche, nach der Meinung von Knies16 und, noch immer, so vieler Anderen, das Symptom der menschlichen „Willensfreiheit“ sein soll, und auf welche – daß sie es nämlich mit solchen vermöge dieser Unberechenbarkeit spezifisch reputierlichen Wesen zu tun hätten – eine Art von spezifischer Dignität der „Geisteswissenschaften“ zu begründen versucht wird. Nun ist ja zunächst in der „erlebten“ Wirklichkeit von einer spezifischen „Unberechenbarkeit“ menschlichen Tuns ganz und gar nichts zu spüren. Jedes militärische Kommando, jedes Strafgesetz, ja jede Äußerung, die wir im Verkehr mit anderen machen, „rechnet“ auf den Eintritt bestimmter Wirkungen in der „Psyche“ derer, an die sie sich wendet, – nicht auf eine absolute Eindeutigkeit in jeder Hinsicht und bei allen, aber auf eine für die Zwecke, denen das Kommando, das Gesetz, die konkrete Äußerung überhaupt dienen wollen, genügende. Sie tut dies, logisch betrachtet, in ganz und gar keinem anderen Sinn, als „statische“ Berechnungen eines Brückenbaumeisters, agrikulturchemische | Berechnungen eines Landwirts und physiologische Erwägungen eines Viehzüchters, und diese wieder sind „Berechnungen“ in demselben Sinn, in dem die ökonomischen Erwägungen eines Arbitrageurs17 und Terminmaklers es auch sind: jede von diesen „Berechnungen“ begnügt sich mit dem für sie erforderlichen und bescheidet sich mit dem für ihre spezifischen Zwecke nach Lage ihres Quellenmaterials in concreto erreichbaren Maß von „Exaktheit“. Ein prinzipieller Unterschied gegen „Naturvorgänge“ besteht nicht. Die „Berechenbarkeit“ von „Naturvorgängen“ in der Sphäre von „Wetterprophezeihungen“ etwa ist nicht entfernt so „sicher“ wie die „Berechnung“ des Handelns einer uns bekannten Person, ja, sie ist einer Erhebung zur gleichen Sicherheit auch bei noch so großer Vervollkommnung unseres nomologischen Wissens18 gar nicht fähig. So steht es aber

16  Vgl. Knies, Oekonomie1, S.  119. 17  Ein Arbitrageur ist ein Händler, der die zur gleichen Zeit zwischen verschiedenen Märkten bestehenden Kurs-, Preis- oder Zinsunterschiede nutzt. Ein Terminhändler spekuliert auf die für einen zukünftigen Zeitpunkt erwarteten Unterschiede. 18  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  186 mit Anm.  41.

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überall, wo nicht bestimmte, abstrahierte Relationen, sondern die volle Individualität eines künftigen „Naturvorgangs“ in Frage steht21). Schon die allertrivialsten Erwägungen zeigen aber ferner, daß auch auf dem Gebiet des kausalen Regressus die Dinge in gewissem Sinn gerade umgekehrt liegen als die „Unberechenbarkeitsthese“ annimmt, jedenfalls aber von einem auch bei Abstrak­ tion von unsren Wertgesichtspunkten gültig bleibenden, also in diesem Sinn „objektiven“ Plus an jener Art von Irrationalität auf Seiten des menschlichen „Handelns“ schlechterdings nicht die Rede sein kann. Wenn der Sturm einen Block von einer Felswand herabgeschleudert hatr 19 und er dabei in zahlreiche verstreut liegende Trümmer zersplittert ist, dann ist die Tatsache und, – jedoch schon ziemlich unbestimmt, – die allgemeine Richtung des Falles, die Tatsache und vielleicht, – aber wiederum ziemlich unbestimmt, – der allgemeine Grad des Zersplitterns, günstigenfalls bei vorausgegangener eingehender Beobachtung auch noch die ungefähre Richtung des einen oder anderen Sprunges, aus bekannten mechanischen Gesetzen kausal „erklärbar“ im Sinn des „Nachrechnens“. Aber beispielsweise: in wie viele und wie geformte Splitter der Block zersprang, und wie gruppiert diese verstreut liegen, – für diese und eine volle Unendlichkeit ähnlicher „Seiten“ des Vorganges würde, obwohl auch sie ja rein quantitative Beziehungen darstellen, unser kausales Bedürfnis,20 wenn es aus irgend einem Grunde einmal auf ihre Kenntnis | ankäme, sich mit dem Urteil begnügen, daß der vorgefundene Tatbestand eben nichts „Unbegreifliches“, – das heißt aber: nichts mit unserem „nomologischen“ Wissen im Widerspruch Stehendes – enthalte. Ein wirklicher kausaler „Regressus“ aber

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21) Daher sollte die Frage der „Vorausberechenbarkeit“ überhaupt nicht in der Art A 111 in den Mittelpunkt der Methodologie gerückt werden, wie es bei Bernheim, Hist[orische] Methode,s 3.  Aufl. S.  9721 geschieht. |

r A: hat,  s A: Methodol.   19  Weber erläutert hier die von Windelband und Kries im Anschluß an Laplace vertretene Annahme, daß das ontologische Wissen – die Kenntnis der Anfangsbedingungen – für den menschlichen Geist stets unvollständig bleibt. Vgl. Einleitung, oben, S.  7 f., 20; Weber, Kritische Studien, unten, S.  461 mit Anm.  4. Webers Ausführungen auf den nächsten Seiten folgen Windelband und Kries. 20  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  169 mit Anm.  80. 21  Gemeint ist: Bernheim, Lehrbuch, S.  97.

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würde uns nicht nur wegen der absoluten „Unberechenbarkeit“ dieser Seiten des Vorganges – weil die konkreten Determinanten spurlos für uns verloren sind – gänzlich unmöglich, sondern auch, abgesehen davon, gänzlich „zwecklos“ erscheinen. Unser Bedürfnis nach Kausalerklärung würde erst wieder erwachen,22 wenn innerhalb jenes Resultates des Felsabsturzes eine Einzelerscheinung aufträte, die auf den ersten Blick im Widerspruch mit den uns bekannten „Naturgesetzen“ zu stehen schiene.23 – So einfach dieser Sachverhalt liegt, so ist es doch gut, sich so klar wie möglich darüber zu werden, daß diese höchst unbestimmte, jedes sachlich begründete Notwendigkeitsurteil ausschließende, Form der kausalen Erklärung – bei welcher die universelle Geltung des „Determinismus“24 reines a priori bleibt – durchaus typisch ist für den Hergang der „kausalen“ Erklärung“ von konkreten Einzelhergängen.25 – Mit im Prinzip durchaus gleichartigen Formen der Befriedigung unseres Kausalbedürfnisses wie in diesem trivialen Falle müssen nicht nur Wissenschaften wie die Meteorologie, sondern auch die Geographie und die Biologie außerordentlich häufig antworten, sobald wir an sie mit dem Begehren der Erklärung konkreter Ein­ zelerscheinungen herantreten. Und wie unendlich weit von aller „exakten“ Zurechnung festgestellter (oder vermuteter) phylogenetischer Vorgänge z. B. der biologische Begriff der „Anpassung“ ist, wie fremd ihm namentlich kausale Notwendigkeitsurteile sind, braucht heute wohl kaum mehr hervorgehoben zu werden22). Wir begnügen uns eben in solchen Fällen damit, daß die konkrete Einzelerscheinung im allgemeinen als „begreiflich“ interpretiert ist, d. h. nichts unserem nomologischen Erfahrungswissen direkt ZuwiA 112

22) Die Ansichten L[udo] M[oritz] Hartmanns a. a. O. zeigen freilich, daß die Natur jenes Begriffes doch immer wieder verkannt wird.26 Davon ein anderes Mal.27 |

22  Vgl. Mach, Ernst, Die Principien der Wärmelehre historisch-kritisch entwickelt. – Leipzig: Barth 1896, S.  430: „Nach Ursachen zu fragen haben wir im allgemeinen nur ein Bedürfnis, wo eine (ungewöhnliche) Aenderung eintritt“. 23  Vgl. Kries, Möglichkeit, S.  6, 29 [182, 204]: Tritt „ein Ereigniss als Ausnahmefall“ auf und läßt sich diese „Abweichung“ auf eine „bestimmte Abweichung der bedingenden Umstände von ihrem regelmässigen Verhalten zurückführen“, dann bezeichnet man „gerade diese Differenz als Ursache des Ereignisses“. 24  Vgl. Einleitung, oben, S.  2, 19. 25  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  184 ff. 26  Vgl. Hartmann, Entwickelung, S.  38 ff. 27  Bezug nicht nachweisbar.

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derlaufendes enthält, und wir üben diese Genügsamkeit teils – wie bei den Erscheinungen der Phylogeneset – überwiegend deshalb, weil wir jetzt und vielleicht für immer nicht mehr wissen können, teils – wie in jenem Beispiel vom Felsabsturz – weil wir überdies nicht mehr zu wissen das Bedürfnis empfinden. Die Möglichkeit kausaler Notwendigkeitsurteile ist bei der | „Erklärung“ konkreter Vorgänge nicht etwa die Regel, sondern die Ausnahme, und sie beziehen sich stets nur auf einzelne, allein in Betracht gezogene Bestandteile des Vorganges unter Abstraktion von einer Unendlichkeit von anderen, die als „gleichgültig“ bei Seite bleiben müssen und können. Ähnlich komplex und individuell verzweigt, wie in dem Beispiel von der Gruppierung der Felsblocksplitter, liegen nun die Chancen des kausalen Regressus normaler­ weise auf dem Gebiet des geschichtlich relevanten menschlichen Tuns, sei es, daß es sich um konkrete, geschichtlich relevante Handlungen eines Einzelnen, oder daß es sich etwa um den Ablauf einer Veränderung innerhalb der sozialen Gruppenverhältnisse handelt, an deren Herbeiführung viele Einzelne in komplexer Verschlingung beteiligt gewesen sind. Und da man in jenem Beispiel von der Gruppierung der Felssplitter durch weiteres Hineinsteigen in die Einzelheiten des Herganges und Ergebnisses die Zahl der möglicherweise mit in Betracht zu ziehenden ursächlichen Momente „größer machen kann als jede gegebene, noch so große Zahl“,28 da also dieser Vorgang, wie jeder scheinbar noch so einfache individuelle Hergang, eine intensive Unendlichkeit des Mannigfaltigen enthält, sobald man ihn als eine solche sich ins Bewußtsein bringen will, – so kann kein noch so komplexer Ablauf menschlicher „Handlungen“ prinzipiell „objektiv“ mehr „Elemente“ in sich enthalten, als sie selbst in jenem einfachen Vorgang der physischen t A: Psylogenese   28  Vgl. Ohm, Martin, Versuch eines vollkommen consequenten Systems der Mathematik. Erster Theil, Arithmetik und Algebra enthaltend, 2., umgearbeitete, durch viele neue erläuternde Beyspiele verdeutlichte Ausgabe. – Berlin: T. H. Riemann 1828, S.  300: „Man kann die Reihe der ganzen Zahlen von der 1 ab ohne Aufhören wachsend, zwischen je zwey auf einander folgenden ganzen Zahlen p und p + 1 aber wiederum eine beliebig zu vermehrende Menge gebrochener Zahlen sich denken […] so daß man sich von der 0 ab, eine ohne Aufhören fort größer werdende Reihe gebrochener und ganzer Zahlen denken kann, die zuletzt jede noch so groß gegebene Zahl erreicht und übersteigt“.

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Natur sich auffinden lassen. Unterschiede aber gegenüber jenem „Naturvorgang“ finden sich in folgender Richtung: 1. Unser kausales Bedürfnis kann bei der Analyse menschlichen Sichverhaltens eine qualitativ andersartige Befriedigung finden, welche zugleich eine qualitativ andre Färbung des Irrationalitätsbegriffs nach sich zieht. Wir können für seine Interpretation uns, wenigstens prinzipiell, das Ziel stecken, sie nicht nur als „möglich“ im Sinn der Vereinbarkeit mit unserem nomologischen Wissen „begreiflich“ zu machen, sondern sie zu „verstehen“, d. h. ein „innerlich“ „nacherlebbares“ konkretes „Motiv“ oder einen Komplex von solchen zu ermitteln, dem wir sie, mit einem je nach dem Quellenmaterial verschieden hohen Grade von Eindeutigkeit, zurechnen. Mit anderen Worten: individuelles Handeln ist, seiner sinnvollen Deutbarkeit wegen, – soweit diese reicht – prinzipiell spezifisch weniger „irrational“ als der individuelle Naturvorgang. Soweit die Deutbarkeit reicht: denn wo sie aufhört, da verhält sich menschliches Tun wie der Absturz jenes Felsblocks: die „Unberechenbarkeit“ im Sinn der fehlenden Deutbarkeit ist, mit anderen Worten, das Prinzip des „Verrückten“. Wo | es für unser historisches Erkennen auf ein im Sinne der Undeutbarkeit „irrationales“ Verhalten einmal ankommt, da muß freilich unser kausales Bedürfnis regelmäßig sich mit einem an dem nomologischen Wissen etwa der Psychopathologie oder ähnlicher Wissenschaften orientierten „Begreifen“ ganz in dem Sinn begnügen, wie bei der Gruppierung jener Felssplitter, – aber eben auch nicht mit weniger. Den Sinn dieser qualitativen Rationalität „deutbarer“ Vorgänge kann man sich leicht veranschaulichen. Daß bei einem konkreten Würfel29 mit dem Würfelbecher die Sechs nach oben fällt, ist, – sofern der Würfel nicht „falsch“ ist, – durchaus jeder kausalen Zurechnung entzogen. Es erscheint uns als „möglich“, d. h. gegen unser nomologisches Wissen nicht verstoßend, aber die Überzeugung, daß es „notwendig“ so kommen mußte, bleibt reines a priori. Daß in einer sehr großen Zahl von Würfen sich – „Richtigkeit“ des Würfels vorausgesetzt – die nach oben fallenden Zahlen annähernd gleich auf alle sechs Flächen verteilen, erscheint uns „plausibel“, wir „begreifen“ diese empirisch feststellbare Geltung des „Gesetzes der gro29  Würfeln und andere Zufallsspiele sind klassische Beispiele der Wahrscheinlichkeitstheorie. Vgl. z. B. Windelband, Zufall, S.  30 ff.; Kries, Möglichkeit, S.  10 ff. [185 ff.].

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ßen Zahlen“30 dergestalt, daß das Gegenteil: – dauernde Begünstigung gewisser einzelner Zahlen trotz immer weiterer Fortsetzung des Würfelns, – uns die Frage nach dem Grunde, dem dieser Unterschied zuzurechnen sein könnte, aufdrängen würde. Aber das Charakteristische ist offenbar die wesentlich „negative“ Art, in der hier unser kausales Bedürfnis abgespeist wird, verglichen mit der „Deutung“ statistischer Zahlen, welche z. B. die Einwirkung bestimmter ökonomischer Veränderungen etwa auf die Heiratsfrequenz wiedergeben[,] und welche durch unsere eigene, von der Alltagserfahrung geschulte, Phantasie zu einer wirklich positiv kausalen Deutung aus „Motiven“ heraus wird.31 Und während auf dem Gebiet des „Undeutbaren“ der individuelle Einzelvorgang: – der einzelne Wurf mit dem Würfel, die Splitterung des abstürzenden Felsens – durchaus irrational in dem Sinn blieb, daß wir uns mit dem Feststehen der nomologischen Möglichkeit: – Nichtwiderspruch gegen Erfahrungsregeln – begnügen mußten und erst die Vielheit der Einzelfälle unter bestimmten Voraussetzungen darüber hinaus zu „Wahrscheinlichkeitsurteilen“ zu führen vermochte, – gilt uns z. B. das Verhalten Friedrichs II. im Jahre 1756,32 in einer einzelnen höchst individuellen Situation also, nicht nur als nomologisch „möglich“, wie jene Felssplitterung, sondern als „teleologisch“ rational, nicht in dem Sinn, daß wir in kausaler Zurechnung zu einem Notwendigkeitsurteil gelangen könnten, wohl aber dergestalt, daß wir den Vorgang als „adäquat verursacht“,33 | – d. h. als, bei Voraussetzung bestimmter Absichten und (richtiger oder fälschlicher) Einsichten des Königs und eines dadurch bestimmten rationalen Handelns, „zureichend“ motiviert finden. Die „Deutbarkeit“ ergibt hier ein Plus von „Berechenbarkeit“, verglichen mit den nicht „deutbaren“ Naturvorgängen. Sie steht, rein auf den Modus der Befriedigung des Kausalitätsbedürfnisses hin angesehen, den Fällen der „großen Zahlen“ gleich. Und selbst wenn die „rationale“ Deutbarkeit aus Absichten und Einsichten mangelt, also z. B. „irrationale“ Affekte hineinspielen, bleibt das Verhältnis wenigstens möglicherweise noch ein ähnliches, da wir auch sie, bei 30  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  93 mit Anm.  35. 31  Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  28 ff. 32  Im August 1756 begann Friedrich II. den (Siebenjährigen) Krieg gegen Österreich. 33  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  186 mit Anm.  43.

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Kenntnis des „Charakters“, als in ihrer Wirkung „verständliche“ Faktoren in die Zurechnung einzustellen vermögen. Erst wenn wir, wie zuweilen bei Friedrich Wilhelm IV., auf direkt pathologische, die Deutung ausschließende Sinn- und Maßlosigkeit des Reagierens stoßen,34 gelangen wir zu dem gleichen Maß von Irrationalität, wie bei jenen Naturvorgängen. In gleichem Maße aber, wie die Deutbarkeit abnimmt (und also die „Unberechenbarkeit“ sich steigert) pflegen wir – und hier ergibt sich der Zusammenhang dieser Erörterungen mit unserem Problem – dem Handelnden die „Willensfreiheit“ (im Sinn der „Freiheit des Handelns“23) abzusprechen: es zeigt sich m. a. W. schon hier, daß „Freiheit“ des Handelns (wie immer der Begriff gedeutet werden möge) und Irrationalität des historischen Geschehens, wenn überhaupt in irgend einer allgemeinen Beziehung, dann jedenfalls nicht in einem solchen Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit durcheinander stehen, daß Vorhandensein oder Steigerung des einen auch Steigerung des anderen bedeuten würde, sondern – wie sich immer deutlicher ergeben wird – gerade umgekehrt. 2. Unser kausales Bedürfnis verlangt nun aber auch, daß da, wo die Möglichkeit der „Deutung“ prinzipiell vorliegt, sie vollzogen werde, d. h. die bloßen Beziehungen auf eine lediglich empirisch beobachtete noch so strenge Regel des Geschehens genügt uns bei der Interpretation menschlichen „Handelns“ nicht. Wir verlangen die Interpretation auf den „Sinn“ des Handelns hin. Wo dieser „Sinn“ – wir lassen vorerst ununtersucht, welche Probleme dieser Begriff birgt – im Einzelfall unmittelbar evident feststellbar ist, da bleibt es uns gleichgültig, ob sich eine „Regel“ des Geschehens formulieren läßt, | die den konkreten Einzelfall umfaßt24). Und  Für alles Nähere siehe hierzu Windelband, Über Willensfreiheit, S.  19 ff. |  Daß dadurch für die Deutung nicht etwa die Beziehung auf „Regeln“ logisch oder sachlich irrelevant wird, werden wir sehr bald nachdrücklich zu betonen haben. Hier soll nur betont werden, daß die „Deutung“ phänomenologisch nicht einfach unter die Kategorie der Subsumtion unter Regeln fällt. Daß ihr erkenntnistheoretisches Wesen ein komplexes ist, werden wir später sehen.35 23)

24)

34 Zum Krankheitsbild vgl. Reumont, Alfred von, Aus König Friedrich Wilhelms IV. gesunden und kranken Tagen. – Leipzig: Duncker & Humblot 1885. Vgl. auch unten, S.  319 f., Fn.  56, mit Anm.  89 und 90, wo Weber auf Meinecke, Friedrich Wilhelm IV., und Rachfahl, Deutschland, verweist. 35  Unten, S.  310 ff.

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anderseits kann die Formulierung einer solchen Regel, selbst wenn sie den Charakter strenger Gesetzmäßigkeit an sich tragen würde, niemals dahin führen, daß die Aufgabeu „sinnvoller“ Deutung durch die einfache Bezugnahme auf sie ersetzt werden könnte. Ja, noch mehr: solche „Gesetze“ „bedeuten“ uns bei der Interpretation des „Handelns“ an sich noch gar nichts. Gesetzt, es gelänge irgendwie der strengste empirisch-statistische Nachweis, daß auf eine bestimmte Situation seitens aller ihr jemals ausgesetzt gewesenen Menschen immer und überall in, nach Art und Maß, genau der gleichen Weise reagiert worden sei und, so oft wir die Situation experimentell schaffen, noch immer reagiert werde, dergestalt also, daß diese Reaktion im wörtlichen Sinn des Wortes „berechnet“ werden könnte, – so würde das an sich die „Deutung“ noch keinen Schritt weiterbringen; denn es würde ein solcher Nachweis, für sich allein, uns noch nicht im mindesten in die Lage versetzen, zu „verstehen“, „warum“ überhaupt jemals und vollends, warum immer in jener Art reagiert worden sei. Wir würden solange dieses Verständnis nicht besitzen, als uns eben nicht auch die Möglichkeit „innerer“ „Nachbildung“25) der Motivation in der Phantasie gegeben wäre: Ohne diese würde der denkbar umfassendste empirisch-statistische Nachweis der Tatsache einer gesetzmäßig auftretenden Reaktion mithin hinter den Anforderungen, die wir an die Geschichte und die ihr in dieser Hinsicht verwandten „Geisteswissenschaften“ – wir lassen es, wie gesagt, zunächst ganz dahingestellt, welche diese sind – stellen, der Erkenntnisqualität nach zurück­ bleiben. – Man hat nun infolge dieser Inkongruenz der formalen Erkenntnisziele der „deutenden“ Forschung mit den Begriffsgebilden der 25)  Wir werden noch sehen,36 daß man von „Nachbildung“ nur in sehr uneigentlichem Sinn reden darf. Aber hier, wo es sich um den phänomenologischen Gegensatz gegen das „Undeutbare“ handelt, ist der Ausdruck unmißverständlich.37 |

u A: Aufgaben   36  Bezug nicht nachweisbar. 37  Vgl. Dilthey, Einleitung, S.  45: Anders als die Natur, die „uns stumm ist“, sind uns die Tatbestände der Gesellschaft „von innen verständlich, wir können sie in uns, auf Grund der Wahrnehmung unserer eigenen Zustände, bis auf einen gewissen Punkt nachbilden“. Von „Nachbildung“ ist auch die Rede in Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  13, 28, 30 f., 34, 37, 41, 50, 56 ff., und Münsterberg, Psychologie, S.  214, 343, 353, 355, 364.

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„gesetzeswissenschaftlichen“ Arbeit die Behauptung aufgestellt, daß die Geschichte und andere ihr verwandte „subjektivierende“ Wissenschaften, z. B. auch die Nationalökonomie, es mit einem prinzipiell andersartigen Sein als Objekt zu tun haben, als alle jene Wissenschaften, | welche, wie Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, auf die Bildung von Allgemeinbegriffen auf dem Wege der in „Induktion“, „Hypothesenbildung“ und Verifizierung der Hypothesen an den „Tatsachen“ verlaufenden „objektivierenden Erfahrung“ ausgehen. Nicht um die von keinem Verständigen geleugnete absolute Gegensätzlichkeit alles „physischen“ zu allem „psychischen“ Sein handelt es sich dabei, sondern um eine Ansicht, nach welcher jenes „Sein“, welches „Objekt“ einer analytischen Betrachtung überhaupt werden könne: – „physisches“ wie „psychisches“ –, prinzipiell in einem ganz anderen Sinne „sei“, wie diejenige Wirklichkeit, die wir unmittelbar „erleben“ und innerhalb deren der Begriff des „Psychischen“, wie ihn die „Psychologie“ verwertet, gar nicht anwendbar sei. Eine solche Auffassung würde nun auch dem von uns bisher noch gar nicht näher analysierten Begriffe der „Deutung“ eine prinzipielle Grundlage geben: in dieser Art des Erkennens würde offenbar die „subjektivierende“ Methode ihre eigentümliche Ausdrucksform besitzen. Die Kluft zwischen jenen beiden Arten von Wissenschaften würde aber offenbar die Gültigkeit aller Kategorien des „objektivierenden“ Erkennens: „Kausalität“, „Gesetz“, „Begriff“, problematisch werden lassen. Die Grundthesen einer derartigen Wissenschaftstheorie sind wohl am konsequentesten in Münsterbergs „Grundzügen der Psychologie“38 entwickelt und haben alsbald die Theorie der „Kulturwissenschaf38  Münsterberg, Psychologie, S.  XXIV, 34 ff., strebte eine „Synthese von Fichtes ethischem Idealismus mit der physiologischen Psychologie“ seiner Zeit an. Dabei knüpfte er an Windelbands These an, daß man dasselbe Objekt in zweierlei Hinsicht erkennen könne: Entweder versuche man, seiner Einzigartigkeit gerecht zu werden, oder man abstrahiere davon und suche seine Gesetzesartigkeit. Der Geschichte komme die erste, den Naturwissenschaften die zweite Perspektive zu. Münsterberg zufolge gibt es einen dritten Standpunkt, wenn nämlich dasselbe Objekt in unterschiedlicher Beziehung zum Subjekt gedacht wird. Die psychophysische Welt läßt sich entweder in ihrer wirklichen Zugehörigkeit zum ursprünglichen Ich denken oder losgelöst davon. Dieses Ich ist eine stellungnehmende, d. h. wertende und wollende, Aktualität. Die Geisteswissenschaften und damit die Geschichte versuchen, dem Objekt in seiner Abhängigkeit vom Ich gerecht zu werden. Insofern sind sie subjektivierende Wissenschaften. Die Naturwissenschaften und die Psychologie hingegen lösen das Objekt von der Aktualität des Subjekts, indem sie es zu einer der Wahrnehmung zugänglichen Wirklichkeit

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ten“ zu beeinflussen begonnen. So wenig hier eine erschöpfende Kritik des geistvollen26) Buches am Platze ist, so kann doch, da hier der Begriff | der Irrationalität des „Persönlichen“ und derjenige der „Persönlichkeit“ selbst einen ganz anderen Sinn zu erhalten scheint, eine Stellungnahme wenigstens zu denjenigen seiner Aufstellungen nicht umgangen werden, welche das Problem der Kausalität auf dem Gebiete menschlichen Handelns berühren und in diesem Sinne von einigen Autoren – namentlich F[riedrich] Gottl – für die Erkenntnistheorie der Geschichte und der ihr verwandten Wissenschaften nutzbar gemacht worden sind.39 Münsterbergs Gedankengang bezüglich der für uns hier wesentlichen Punkte27)

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26) Auch eine lobende Prädizierung eines Werkes ist eine Anmaßung, wo die Berech- A 117 tigung zur Beurteilung fehlt. Bemerkt sei daher, daß hier nur von den die erkenntnistheoretischen Probleme der historischen Disziplinen betreffenden Partien die Rede ist, deren Wert ich, auch ohne Fachmann zu sein, schätzen zu können glaube. Die höchst interessanten Erörterungen über die Methodologie der Psychologie zu beurteilen, erlaube ich mir in keiner Weise; den Versuch, mir über ihren Wert oder Unwert bei den Fach-Psychologen Auskunft zu holen, werde ich allerdings auch kaum unternehmen, da diese Gelehrten sich zurzeit nach Art jener beiden Löwen im Liede gegenseitig ohne alle für den Außenstehenden wahrnehmbaren Überbleibsel zu verschlingen pflegen.40 Bei einzelnen von Münsterbergs Ausführungen, namentlich bei der „erkenntnistheoretischen“ Begründung der Introjektion des Psychischen in das Gehirn darf allerdings m. E. auch der Nichtpsychologe den Kopf schütteln. Hier möchte man nach einer Erörterung der „Grenzen der Erkenntnistheorie“ rufen, denn bei dem erfreulichen Aufschwung des erkenntnistheoretischen Interesses entsteht doch auch die Gefahr, daß sachliche Probleme aus logischen Prinzipien heraus entschieden werden sollen, und das ergäbe eine Renaissance der Scholastik. | 27) Nur auf diese wird eingegangen. Daher bleiben eine ganze Anzahl gerade solcher A 118 Thesen hier ganz außer Betracht, auf welche Münsterberg sicherlich entscheidende Bedeutung legt. Nicht nur die Art, wie das Psychische als Objekt der Experimentalpsycho­ logie gewonnen wird, sondern auch der Begriff der „erlebten Wirklichkeit“, des „stel-

umdeuten. Insofern sind sie objektivierende Wissenschaften. Der Gegensatz dieser Wissenschaften ist kein methodologischer, sondern ein ontologischer. 39  Gottl nennt Münsterberg namentlich nur an einer Stelle. Vgl. Gottl, Grenzen, S.  64, wo er Münsterberg ebenso wie Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Johann Gustav Droysen, Ernst Bernheim, Ottokar Lorenz, Eduard Meyer, Wilhelm Schuppe, Rudolf Stammler trotz aller „Divergenzen“ die „Emanzipation des histori­ schen vom naturwissenschaftlichen Denken“ als Ziel zuschreibt. 40  Das Kommerslied „Zwei Löwen“ lautet: „1. Zwei Löwen gingen einst selband in einem Wald spazoren und haben da, von Wut entbrannt einander aufgezoren. 2. Da kamen eines Tags daher des Wegs zwei Leute edel, die fanden von dem Kampf nichts mehr als beider Löwen Wedel. 3. Daraus gehet nun für groß und klein die weise Lehr hervor: Selbst mit dem besten Freunde dein im Walde nie spazor!“ Vgl. Schauenburgs allgemeines Deutsches Kommersbuch. Unter musikalischer Redaktion von Friedrich Silcher und Friedrich Erk, 31.  Aufl. – Lahr: Moritz Schauenburg 1888, S.  686.

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läßt sich wohl etwa so zusammenfassen: Das „Ich“ des wirklichen Lebens, wie wir es in jedem Augenblicke „erleben“, kann nicht Objekt analysierender, mit Begriffen, Gesetzen und kausaler „Erklärung“ operierender Forschung sein, denn es wird niemals in gleichem Sinn „vorgefunden“ wie z. B. unsere „Umgebung“, es ist von „unbeschreibbarer“ Art. Und ebenso die von ihm wirklich „gelebte“ Welt. Denn jenes Ich ist nie nur anschauend, sondern stets und in jedem Augenblick „stellungnehmend, bewertend, beurteilend“, und die Welt kommt daher für dieses Ich – für jeden von uns, so lange er „wirkt“ – gar nicht als „beschreibbar“, sondern nur als „bewertbar“ in Betracht. Erst wenn ich zum Zweck der Mitteilung und Erklärung die Welt als der Abhängigkeit vom Ich entzogen denke, wird sie zu einem „lediglich wahrgenommenen“ Tatsachenkomplex. Schon hier ist einzuschalten, daß in dieser Theorie, wenn wir sie wörtlich verstehen wollten, offenbar die rationale Überlegung der Mittel zum Zweck eines konkreten „Wirkens“ und der möglichen Folgen eines erwogenen Handelns keine Stätte als Teil des noch unobjektivierten „Erlebens“ hättev, denn in jeder solcher Überlegung wird die „Welt“ als „wahrgenommener Tatsachenkomplex“ unter der Kategorie der Kausalität zum „Objekt“. Ohne „erfahrene“ Regeln des Ablaufs des Geschehens, wie sie nur durch „objektivierende“ bloße „Wahrnehmung“ zu gewinnen sind, kein „rationales“ Handeln28). | Darauf würde indessen Münsterberg entgegnen, daß allerdings die Objektivierung41 der „Welt“ zum Zweck der Erkenntnis letztlich in jenem rationalen Handeln wurzele, welches für seinen Zweck der Welt des „Erlebten“ einen Kosmos des „Erfahrenen“ unterbaut, um unsere „Erwartung“ der Zukunft behufs Stellungnahme zu sichern, und daß hier tatsächlich lungnehmenden Subjektes“ usw. bleiben hier unberührt. Von Münsterbergs Standpunkt aus gesehen, handelt es sich vielmehr wesentlich um einen Grenzstreit zwischen „subjektivierenden“ und „objektivierenden“ Wissenschaften, der die Zugehörigkeit speziell der Geschichte betrifft. Eine kurze, aber sehr durchsichtige Analyse des Münsterbergschen Buches gibt Rickert, Deutsche Lit[eratur]-Zeitung 1901, Nr.  14.42 28)  Auf diesen Punkt kommen wir ebenfalls wiederholt zurück.43 | v A: hätten   41  Für Münsterberg, Psychologie, S.  56, 60, ist „Objektivierung“ die „Loslösung des Objekts vom Subjekt“. 42  Rickert, Münsterberg. 43  Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  355 ff., 361 ff.

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die Quelle aller mit Begriffen und Gesetzen arbeitenden Wissenschaft liege. Die „Erfahrung“ aber, welche die objektivierende Wissenschaft schaffe, sei erst möglich nach Loslösung der Wirklichkeit von der Aktualität des wirklich Erlebten. Sie sei ein für bestimmte, ursprünglich praktische, später logische Zwecke geschaffenes, unwirkliches Abstraktionsprodukt. Das aktuelle „Wollen“ insbesondere werde nie in dem gleichen Sinne „erlebt“, wie man sich der Willensobjekte – welche nachher Gegenstände der „objektivierenden“ Wissenschaften werden – „bewußt“ werde (S.  51) und sei daher von allem „vorgefundenen“ Erfahrungsinhalt prinzipiell verschieden. Man wird zunächst geneigt sein, hiergegen einzuwenden, daß es sich dabei doch lediglich um die „Verschiedenheit“ des „Existenten“ selbst vom „Existenzialurteil“ handle, welch letzteres von uns an einem konkreten (auch eignen) Wollen genau ebenso realisiert werden könne und tatsächlich werde, wie an irgend einem „Objekt“. Daß das Wollen existent ist, d. h. also „erlebt“ wird, ist natürlich – aber ganz wie bei „wahrgenommenen“ Objekten – etwas logisch anderes, als daß wir von diesem Erlebnis „wissen“. Münsterberg würde hierauf entgegnen, seine Ansicht besage ja nur, daß erst nach vollzogener „Introjektion“44 des Psychischen in einen Körper, welche ihrerseits erst nach vollzogener Trennung des „Psychischen“ vom „Physischen“ möglich werde (eine Trennung, von der das unmittelbare „Erleben“ gar nichts wisse), also erst nach vollzogener „Objektivierung“ der Welt, der „Wille“ Gegenstand der „Beschreibung und Erklärung“45 werden könne. Dieser Wille sei aber alsdann nicht mehr der „wirkliche“ Wille des „aktuellen Subjektes“, sondern ein durch Abstraktion gewonnenes und nun weiter zum Gegenstand der Analyse gemachtes „Objekt“. Wir wissen – nach seiner Ansicht – nun aber auch von dem wirklichen Willen in seiner erlebten Realität. Aber dieses „Wissen“ von der 44  Münsterberg, Psychologie, S.  434, definiert diesen Begriff im Kontext des von ihm vertretenen „psychophysischen Parallelismus“. „Introjektion“ oder „Introjizierung“ ist die Zuordnung psychischer Inhalte zu Gehirnvorgängen, wodurch die Raum- und Zeitwerte der Vorgänge auf die Inhalte übertragen werden: „Wir projizieren dadurch jeden Inhalt unseres Bewußtseins in Raum und Zeit, und da es sich um den Raum in unserem Körper und um die Zeit in unserem Leben handelt, so können wir die Projektion als Introjektion bezeichnen.“ 45  Münsterberg, ebd., S.  2, folgt nicht dem von Gustav Kirchhoff geforderten Verzicht auf kausale Erklärung zugunsten von Beschreibung. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  175 mit Anm.  1.

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eignen ununterbrochen „stellungnehmenden“ und wertenden „Aktualität“, und ebenso von derjenigen eines anderen stellungnehmenden, d. h. wollenden und wertenden Subjekts – Mensch, oder, wie er gelegentlich ausdrücklich hervorhebt, Tier!46 – bewege sich in derw Sphäre der unmittelbar gelebten Wirklichkeit, der „Welt der Werte“,47 bedeute deshalb auch | ein unmittelbares „Verstehen“[,] d. h. ein Mit- und Nacherleben, Nachfühlen, Würdigen und Bewerten von „Aktualitäten“ – im Gegensatz zu jenemx erst durch „Objektivierung“, d.  h. künstliche Loslösung vom ursprünglichen „verstehenden und wertenden“ Subjekt[,] zu erzeugenden Gegenstand des „wertfreien“48 analytischen Erkennens, welches seinerseits eben nicht eine Welt der Aktualität innerlich „verstehen“, sondern eine Welt der „vorgefundenen“ Objekte „beschreiben“ und durch Auflösung in ihre Elemente „erklären“ wolle. Schon zum bloßen „Beschreiben“ und vollends zum „Erklären“ bedürfe aber diese „objektivierende“ Erkenntnis nicht nur der „Begriffe“, sondern auch der „Gesetze“, die anderseits auf dem Gebiet des „Verstehens“ des „aktuellen“ Ich als Erkenntnismittel weder wertvoll noch überhaupt sinnvoll seien. Denn die Aktualität des Ich, von der eine „Wirklichkeitswissenschaft“49 nicht abstrahieren könne, sei die „Welt der Freiheit“50 und manifestiere sich als solche dem Erkennen als die Welt des deutbar Verständlichen, „Nacherlebbaren“, eine Welt, von der wir eben jenes „erlebte“ Wissen haben, welches durch die Anwendung der Mittel des „objektivierenden Erkennens“: Begriffe und Gesetze, in keiner Weise vertieft werden könne. – Da nun aber, nach Münsterberg, die „objektivierende“ Psychologie ebenfalls von den erlebten Inhalten der Wirklichkeit ausgeht, um sie alsdann „beschreibend“ und „erklärend“ zu analysieren, so verbleibt schließlich als Gegensatz w A: die  x A: jenen   46  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  8, 98 f., 101. 47  Vgl. ebd., S.  18 f., 52, 95, 156. 48  Für Münsterberg, ebd., S.  20, ist „Vorstellen“ ein „wertfreies Besitzen des Objektes“; er spricht auch von einem „unabhängigen wertfreien bestimmbaren Objekte“ (ebd., S.  56) oder „wertfreien Objekte[n]“ (ebd., S.  53, 182); vgl. auch ebd., S.  444 ff. 49  Münsterberg spricht nicht explizit, aber der Sache nach von Wirklichkeitswissenschaft. Zur Kritik an Windelbands und Rickerts Konzept der Wirklichkeitswissenschaft vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  37 ff. 50  Ebd., S.  129 f.

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der objektivierenden und der subjektivierenden Disziplinen nur die „Abhängigkeit vom Ich“,51 welche von den letzteren nicht aufgegeben werden kann und soll, während die ersteren von jener Abhängigkeit nur das rein theoretische, wertfreie „Erfahrenwerden“ ihrer Objekte beibehalten, und daher die Einheit des „stellungnehmenden“ Ich durch ihre Konstruktionen gar nicht erreichen können, da dieses Ich eben nicht „beschreibbar“, sondern nur „erlebbar“ ist. Und da die Geschichte von „Akten“ der „Persönlichkeiten“ berichtet, einen „Willenszusammenhang“ herstellen will, bei dem menschliches Werten und Wollen in seiner vollen „erlebten“ Realität „nacherlebt“ wird, so ist sie eine subjektivierende Disziplin. Daß das nur auf dem Gebiet „geistiger“ Vorgänge mögliche „Einfühlen“ und „Verstehen“ die eigentümliche Kategorie des „subjektivierenden“ Erkennens sei, daß es von ihr aus keine Brücke zu den Mitteln des objektivierenden Erkennens gebe, daß wir deshalb auch nicht berechtigt seien, nach Belieben von der einen, z. B. von der psychophysischen[,] zur „noëtischen“52 (verstehenden) Deutung eines | Vorgangsy gewissermaßen überzuspringen29), oder etwa Lücken, welche die eine Erkenntnisart läßt, durch die andere auszufüllen –, auf diese Sätze gründet sich – wenn man eine Anzahl offenbarer logischer Fehler streicht30) – der für uns wesentliche

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29) Anderseits behandelt Münsterberg (S.  92)53 die Interpolation von Lücken der ge- A 121 hirnanatomischen Kenntnisse durch psychologische als möglich. 30)  Zu diesen logischen Mängeln ist m. E. zu rechnen:   1. Die Verkennung der intensiven Unendlichkeit alles empirisch gegebenen Mannigfaltigen (S.  38), welche doch die („negative“) Voraussetzung der in jeder empirischen Wissenschaft vollzogenen Stoff-Auslese ist. Diese Verkennung ist, wie Rickert bereits bemerkt hat,54 nur möglich infolge Festhaltung des vorkritischen Standpunktes der Betrachtung, der die Gesamtheit des jeweils Gegebenen mit demjenigen an und in ihm,

y A: Vorgangs,   51  Ebd., S.  71. 52  Noema (griech.), Sinngehalt eines Gedankens. Münsterberg, Psychologie, S.  308, spricht von einem „noëtischen Zusammenhang“, der zwischen uns und einem Wahrnehmungsobjekt besteht, d. h. um einen „ursprünglichen Erkenntniszusammenhang, in dem wir gerade dieses Physische durch dieses Psychische ‚meinen‘“; vgl. auch ebd., S.  558 f. 53  Münsterberg, Psychologie, S.  92. 54  Zur Kritik der Abbildtheorien vgl. Rickert, Grenzen, S.  33 ff., 98 f., 145, 166, 186 f., 216, 245 ff.

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Gehalt dieser Münster|bergschen Auffassung von der Eigenart der Geschichte und der ihr verwandten „Geisteswissenschaften“. Nun hat schon Schopenhauer | einmal gesagt, die Kausalität sei „kein

worauf es für uns „ankommt“ – also eben mit dem Produkt jener Auslese –, identifiziert. Dieser Standpunkt führt nun, in Verbindung mit einem anderen Irrtum,   2. zur Verkennung der Beziehungen zwischen „Gesetz“ und „Individuum“ (im logischen Sinne), insbesondere zu der Meinung, die individuelle „objektivierte“ Wirklichkeit gehe in die Gesetze ein (S.  39). Der Irrtum tritt als solcher am handgreiflichsten zu tage, wenn Münsterberg (S.  114) meint: „Hätte Nero andere Vorstellungen erlebt, so müßte das ideale System der Psychologie geändert werden“,z – weil eben, unter genügender Spezialisierung der „Bedingungen“, das Gesetz auch den individuellsten Einzelfall erreiche, ja ein Gesetz für den Einzelfall möglich sei. Hier ist nicht bemerkt, daß die Annahme eines anderen Vorstellungsablaufs bei Nero doch wohl in erster Linie die Annahme einer abweichenden Bedingungskonstellation hervorrufen muß[,] und diese „gegebenen Bedingungen“ ihrerseits enthalten erstens kausal den ganzen individuellen Ablauf der antiken Geschichte nicht minder als die ganze Ahnenreihe Neros usw. usw. in sich, – also doch nicht nur Objekte irgendeiner noch so „vielseitigen“ Psycholo­ gie, – und sind zweitens, – auch wenn wir sie eben als „gegeben“ einfach hinnehmen, – überdies nur dann und nur soweit nicht unendlich an Zahl, wenn wir von vornherein nur gewisse allgemeine klinisch-psychologische Qualitäten der Vorstellungen Neros, also – mögen wir diese Qualitäten noch so „speziell“ nehmen – ein durch Auslese gewonnenes Objekt, nicht aber den individuellen Gesamtablauf als das zu Erklärende allein in Betracht ziehen. Das „Historische“ an dem Vorgange, d. h. das nur historisch zu erklärende Objekt, ist die aus einem Gesetz (und aus einer noch so großen Zahl von Gesetzen) doch nimmermehr zu deduzierende Tatsache der faktischen Gegebenheit gerade dieser Bedingungen in diesem Zusammenhang. a[Ganz ebenso mißverständlich klingt es freilich, wenn Simmel (Probleme der Geschichtsphilosophie, 2.  Aufl., S.  95) ausführt, bei absoluter Vollständigkeit unseres nomologischen Wissens würde „eine einzige historische Tatsache“ zur „Vollendung des Wissens überhaupt“ genügen. Diese „eine“ Tatsache würde nämlich in diesem Falle immer noch einen unendlich großen Inhalt haben müssen. Weil, wie man gesagt hat,55 die Gesamtheit des Weltgeschehens anders verlaufen sein müßte, wenn wir ein Sandkorn auf eine andere Stelle verschoben A 122 denken als | die, an der es sich faktisch befindet, ist es doch nicht etwa richtig, zu glauben, daß – um im Beispiel zu bleiben – bei absolut vollendetem nomologischem Wissen die Kenntnis der Lage dieses „Sandkorns“ in einem Zeitdifferential zur Konstruktion der Lage aller „Sandkörner“ genügen würde. Immer noch würde für diesen Zweck vielmehr die Lage aller Sandkörner (und aller anderen Objekte) in einem anderen Zeitdifferential gekannt werden müssen.]a z A: werden,“  a–a  [ ] in A.   55  Möglicherweise referiert Weber auf Fichte: „In jedem Momente ihrer Dauer ist die Natur ein zusammenhängendes Ganzes; in jedem Momente muss jeder einzelne T ­ heil derselben so seyn, wie er ist, weil alle übrigen sind, wie sie sind; und du könntest kein Sandkörnchen von seiner Stelle verrücken, ohne dadurch, vielleicht unsichtbar für deine Augen, durch alle Theile des unermesslichen Ganzen hindurch etwas zu verändern.“ Vgl. Fichte, Johann Gottlieb, Die Bestimmung des Menschen, in: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, hg. von J. H. Fichte. Erste Abtheilung. Zur Theoretischen Philosophie, 2.  Band. – Berlin: Veit & Comp. 1845, S.  167–319, hier S.  178.

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Fiaker, den man beliebig halten lassen kann“.56 Da aber, nach Münsterberg, die Kluft zwischen „subjektivierender“ und „objektivierender“ Auffassung ein solches Innehalten an der Grenze des   3. Es ist – was ebenfalls schon Rickert (Deutsche Lit[eratur]-Z[ei]t[un]g 1901, Nr.  14) angedeutet hat57 – bei den mehrfachen Erörterungen darüber, daß die Geschichte es mit einem „Allgemeinen“ zu tun hat, der seither von Rickert klar entwickelte grundverschiedene Sinn des Begriffs des „Allgemeinen“58 (in diesem Fall: universelle Bedeu­ tung im Gegensatz zur generellen Geltung) im Unklaren geblieben, was mit dem Irrtum ad 1 zusammenhängt.   4. Trotz des großen Scharfsinns und der Eleganz, mit welchen die Scheidung und der Parallelismus der beiden Münsterbergschen Wissenschaftskategorien durchgeführt wird, ist das so höchst verschiedener logischer Bedeutungen fähige Subjekt-ObjektVerhältnis nicht restlos aufgeklärt und die gegebenen Begriffsbestimmungen nicht unbedingt festgehalten (an zwei Stellen fließen sogar, ich nehme an aus Versehen, „erkenntnistheoretisches“ und „stellungnehmendes“ Subjekt ineinander: S.  35 Mitte, S.  45 oben). Und damit kommt die für Münsterberg entscheidende Kategorie, die „Objektivierung“, in ein bedenkliches Schwanken, denn die entscheidende Frage ist eben, wo sie einsetzt, ob – worauf es hier ankommt – die Geschichte und die ihr verwandten Disziplinen als „objektivierend“ zu gelten haben. Wenn Münsterberg sagt (S.  57): Das „erfahrende“ Subjekt (dasjenige also, welches der objektivierten Welt gegenübersteht) sei das wirkliche Subjekt, wenn von dessen Aktualität „abstrahiert“ werde, so ist das eben irreführend formuliert. Das „erfahrende“ Subjekt existiert entweder in der Wirklichkeit als ein aktuelles Subjekt, dessen für den Wissenserfolg allein in Betracht kom­ mende Aktualität auf die Realisierung von Werten empirischen Erkennens gerichtet ist, – oder aber es handelt sich um jenen theoretischen Begriff des nur gedachten „erkenntnistheoretischen Subjektes“, dessen Grenzfall das vielverlästerte „Bewußtsein überhaupt“ bildet. Münsterberg trägt sodann in den Begriff des „Erfahrens“ alsbald den des Zerlegens in „Elemente“ hinein und darüber hinaus noch den des Zurückgehens auf die „letzten“ Elemente, obwohl doch, wie er selbst gelegentlich erwähnt, z. B. die (nach ihm) zweifellos „objektivierende“ Biologie davon weit entfernt ist. Es ist, wenigstens bei Münsterbergs Auffassung des Verhältnisses zwischen Gesetz und (logischer) Individualität ganz und gar nicht abzusehen, warum, was auf S.  336 unten für die Naturwissenschaften gesagt wird,59 nicht auch für die Geschichte, Nationalökonomie usw. gelten sollte: „angewandte Psychologie“ würden sie damit in keiner Weise werden, da sie nun einmal nicht nur den psychischen Ablauf – dessen Erforschung von manchen Historikern (Ed[uard] Meyer) geradezu als indifferent behandelt wird –, sondern auch und gerade die äußeren Bedingungen des Handelns in den Umkreis ihrer Betrachtungen ziehen. – Wenn die Geschichte „ein System von Absichten und Zwecken“60 ist, so bleibt das Entscheidende | lediglich: ob es eine Art des „Verstehens“ gibt, welche in A 123 56  Weber folgt einer Paraphrasierung in Rickert, Grenzen, S.  474. Vgl. Schopenhauer, Satz vom Grunde (wie oben, S.  54, Anm.  63), S.  38: „Das Gesetz der Kausalität ist also nicht so gefällig, sich brauchen zu lassen, wie ein Fiaker, den man, angekommen wo man hingewollt, nach Hause schickt.“ 57  Vgl. Rickert, Münsterberg, S.  846. 58  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  62 mit Anm.  97. 59  Für Münsterberg, Psychologie, S.  336, bleibt den Naturwissenschaften das „Prinzip der mechanischen Beschreibung“ stets das „grundsätzliche Endziel“. 60  Vgl. ebd., S.  14.

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„noëtisch“ Zugänglichen unvermeidlich machen würde, so verwirft er die Anwendbarkeit der Kausalitätskategorie auf das „subjektivierende“ Erkennen überhaupt. Denn wenn wir, so meint er, mit der kausalen Erklärung einmal beginnen, können wir keinenfalls mit dem Erklären aufhören, wenn wir „zufällig auf eine Willenshandlung stoßen, die neben ihrer erfahrbaren Konstitution auch noch eine verstehbare Innenseite hat“.61 Wir müßten vielmehr alsdann versuchen, auch diese Willenshandlung in eine Reihe von (psychophysischen) Elementarprozessen aufzulösen: können wir das nicht, so „bliebe eine dunkle Stelle zurück“, die wir durch „Einfühlung“ nicht (d. h. aber doch wohl nur: nicht im Sinn der Psychophysik) „erleuchten“ würden.62 Und umgekehrt können wir für die Erkenntnis von Subjektszusammenhängen nichts gewinnen – d. h. aber doch wohl nur: kein Mehr von „nacherlebendem“ Verständnis erreichen –, wenn wir „Unverstandenes unter die Kategorie von Objektzusammenhängen bringen“.63 Um nun mit den zuletzt wiedergegebenen, mehr peripherischen Argumenten zu beginnen, so sind diese jedenfalls nicht zwingend. Die „subjektivierenden“ Deutungen, mit denen z. B. eine kulturhistorische Analyse etwa der Zusammenhänge zwischen religiösen und sozialen Umwälzungen in der Reformationszeit arbeiten würde, beziehen sich zunächst, soweit die „Innenseite“ der Handelnden in Betracht kommt, vom Standpunkt des experimentierenden Psychologen aus betrachtet, auf Bewußtseinsinhalte von unerhört komplexem Charakter; so komplex, daß vorerst noch kaum der erste Anfang einer „Auflösung“64 derselben in einfache „Empfindungen“ oder andere, auch nur vorläufig nicht weiter zerlegbare „Elemente“ vorliegt. Diesem dem Sinne „objektiv“ ist, daß sie nicht im Sinne des Bewertens ihres Stoffes (also jener „Absichten“ und „Zwecke“) „Stellung nimmt“, sondern lediglich „gültige“ Urteile über den faktischen Ablauf und den Zusammenhang von „Tatsachen“ erstrebt. Bei Münsterberg fehlt der entscheidende Begriff des theoretischen Beziehens auf Werte, den er vielmehr mit dem Begriff des „Wertens“ ineinander schiebt. – Gegen die Theorie von der Scheidung objektivierender und nicht objektivierender empirischer Disziplinen (in Natorps Fassung)65 vgl. auch Husserl, Logische Untersuchungen II, S.  340 f. | 61  Münsterberg, Psychologie, S.  130. 62  Ebd., S.  131. 63 Ebd. 64  Ebd., S.  348. 65  Vgl. Natorp, Paul, Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode. – Freiburg i. B.: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1888, S.  11 ff. (§  4).

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sehr trivialen Umstand tritt der fernere, noch trivialere, hinzu, daß | schwer abzusehen ist, wie für eine solche „Auflösung“, die ja doch nur im Wege „exakter“ (Laboratoriums-)Beobachtung möglich wäre, das Material jemals beschafft werden könnte. Das Entscheidende aber ist schließlich, daß die Geschichte sich ja doch keineswegs nur auf dem Gebiet jener „Innenseite“ bewegt, sondern die ganze historische Konstellation der „äußeren“ Welt als einerseits Motiv, andererseits Ergebnis der „Innenvorgänge“ der Träger historischen Handelns „auffaßt“, – Dinge also, die in ihrer konkreten Mannigfaltigkeit nun einmal weder in ein psychologisches Laboratorium noch überhaupt in eine rein „psychologische“ Betrachtung, wie immer man den Begriff der Psychologie begrenzen möge, eingehen. Und die bloße „Unzerlegbarkeit“ und „teleologische Einheit“ der Willenshandlung, oder vielmehr der Umstand, daß eine Wissenschaft die „Handlungen“ mit ihren „Motiven“ oder etwa die „Persönlichkeiten“ als für sich unzerlegbar behandelt – weil für ihre Fragestellung eine Zerlegung keinem wertvollen Erkenntniszweck dienen würde –, dieser Umstand allein genügt sicherlich nicht, um diese Disziplin aus dem Umkreis der „objektivierenden“ Wissenschaften zu streichen. Der Begriff der „Zelle“,66 mit welcher der Biologe arbeitet, zeigt in seinem Verhältnis zu physikalischen und chemischen Begriffen ganz die gleiche Erscheinung. Es ist weiterhin gar nicht abzusehen, warum nicht z. B. die exakte psychologische Analyse etwa der religiösen Hysterie67 einmal gesicherte Ergebnisse zeitigen könnte, welche die Geschichte als begriffliche Hülfsmittel zur kausalen Zurechnung bestimmter Einzelvorgänge ganz ebenso verwerten könnte und müßte, wie sie die brauchbaren Begriffe irgend welcher anderen Wissenschaften, wo sie ihren Zwecken nützen, anstandslos verwendet. Wenn dies geschieht – wenn also die Geschichte sich etwa von der Pathologie belehren ließe, daß gewisse „Handlungen“ Friedrich Wilhelms IV.68 sich gewissen von ihr ergründeten Regeln psychopathischer Reaktion fügen – dann passiert genau das, was Münsterberg für unmöglich erklärt: daß wir „Unverstandenes“ auf dem Wege 66  Ebd., S.  30. 67  Vgl. Weber, Protestantische Ethik II, MWG I/9, S.  316. Weber referiert auf Hellpach, Willy, Nervosität und Kultur. – Berlin: Johannes Räde 1902, und ders., Grundlinien einer Psychologie der Hysterie. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1904. 68  Vgl. oben, S.  280 mit Anm.  34.

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der „Objektivierung“ erklären31). Und daß | die „subjektivierenden“ Wissenschaften überall da, wo die Ergebnisse „objektivierender“ Disziplinen für sie relevant werden, ähnlich verfahren, zeigt Münsterberg selbst, indem er die Verwertbarkeit experimentalpsychologischer Resultate für die Pädagogik betont32), und dabei nur den gewiß zutreffenden – aber für die Geschichte und alle theoretischen Disziplinen nicht in Betracht kommenden – Vorbehalt macht, daß der praktische Pädagoge in seiner praktischen Tätigkeit, im lebendigen Verkehr also mit den Schülern, nicht einfach zum Experimentalpsychologen werden könne und dürfe. Dies nach Münsterberg deshalb nicht, weil 1. er hier, – wo er eben, nach Münsterbergs Terminologie, „stellungnehmendes Subjekt“, eben deshalb aber nicht Mann der Wissenschaft, auch nicht einer „subjektivierenden“, ist, – Ideale des Sein-Sollenden zu verwirklichen hat, über deren Wert oder Unwert eine analytische Erfahrungswissenschaft gar kein Ergebnis zeitigen kann –, 2. weil die für pädagogische Zwecke äußerst dürftigen Ergebnisse der Experimentalpsychologie durch den „gesunden Menschenverstand“ und die

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31) Wir werden gleich sehen, inwiefern Münsterberg trotzdem für die Geschichte Recht behält. Allein für andere Disziplinen gilt der Gegensatz des „Noëtischen“ zum „Gesetzlichen“ keineswegs in gleicher Art wie dort. Die Münsterbergsche Schilderung der Aufgaben der „Sozialpsychologie“ als „Psychophysik der Gesellschaft“69 ist ganz willkürlich. Für sozialpsychologische Untersuchungen ist der psychophysische Parallelismus ebenso gleichgültig wie etwa „energistische“ Hypothesen.70 Wir werden ferner sehen, daß die „Deutung“ weit davon entfernt ist, nur Interpretation individueller A 125 ­Vorgänge sein zu können. „Sozialpsychologische“ | Untersuchungen, soweit sie heute vorliegen, sind durchweg mit dem Mittel und Ziel der Deutung arbeitende, aber gene­ ralisierende, „nomothetische“ Leistungen. Sie werden von den Ergebnissen experimentalpsychologischer, psychopathologischer und anderer naturwissenschaftlicher Disziplinen Notiz nehmen, wie sie dieselben verwerten können, selbst aber sich nicht im mindesten genötigt fühlen, als generelles Ziel ihrer Begriffsbildung das Zurückgehen auf „psychische Elemente“ im strengen Sinn aufzustellen. Sie begnügen sich ebenfalls mit demjenigen Maß von „Bestimmtheit“ ihrer Begriffe, welches ihrem Erkenntniszweck genügt. 32)  S.  193 unten.71 |

69  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  558 ff. 70  Die Energetik ist eine naturphilosophische Auffassung, die sich gegen den mechanistischen Materialismus ebenso richtet wie gegen den Spiritualismus. Für sie sind Materie und Bewußtsein sowie alle Vorgänge in der Natur auf Erscheinungsformen der Energie zurückzuführen. Vgl. z. B. Ostwald, Wilhelm, Vorlesungen über Naturphilosophie. Gehalten im Sommer 1901 an der Universität Leipzig. – Leipzig: Veit & Comp. 1902, S.  163 ff., und dazu Weber, „Energetische“ Kulturtheorien, MWG I/12, S.  145–182. 71  Münsterberg, Psychologie, S.  193.

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„praktische Erfahrung“ an Bedeutung bei weitem übertroffen werden. Woher nun – um bei diesem ganz lehrreichen Beispiel einen Augenblick zu verweilen – diese letztere Erscheinung, für welche bei Münsterberg eine Begründung zu vermissen ist, und welche doch eigentlich allein interessiert? Offenbar daher, daß der konkrete Schüler oder die Vielzahl konkreter Schüler für die praktische Erziehung als Individuen in Betracht kommen, deren für die pädagogische Beeinflussung relevante Qualitäten in wichtigen Punkten durch eine ungeheure Summe von ganz konkreten Einflüssen der „Veranlagung“ und des individuellen „Milieus“ im weitesten Sinn dieses Wortes bedingt werden, – Einflüsse, die ihrerseits unter allen möglichen Gesichtspunkten zum Gegenstand wissenschaftlicher, auch „objektivierender“ Betrachtung gemacht, sicherlich aber nicht im Laboratorium eines Psychologen experimentell her|gestellt werden können. Jeder einzelne Schüler repräsentiert, vom Standpunkt der „Gesetzeswissenschaften“ aus, eine individuelle Konstellation einer Unendlichkeit einzelner Kausalreihen, er kann als „Exemplar“ in eine noch so große Anzahl von „Gesetzen“ auch bei Erreichung des denkbaren Maximums nomologischen Wissens immer nur in der Art eingeordnet werden, daß diese Gesetze als unter Voraussetzung einer Unendlichkeit „schlechthin“ gegebener Bedingungen wirkend gedacht werden.72 Und die „erlebte“ Wirklichkeit „physischer“ Vorgänge unterscheidet sich darin in absolut nichts von der „erlebten“ Wirklichkeit „psychischer“ Vorgänge, wie gerade Münsterberg, der nachdrücklich den sekundären, erst im Gefolge der „Objektivierung“ eintretenden Charakter der Spaltung der Welt in „Physisches“ und „Psychisches“ betont, in keiner Weise bestreiten wird. Noch so umfassendes nomologisches Wissen – Kenntnis also von „Gesetzen“, d. h. aber: Abstraktionen – bedeutet eben hier so wenig wie sonst Kenntnis der „ontologischen“ Unendlichkeit der Wirklichkeit.73 Daß die, zu ganz heterogenen Erkenntniszwecken gewonnene, wissenschaftlich-psychologische Kenntnis im Einzelfall einmal die „Mittel“ für die Erreichung eines pädagogischen „Zweckes“ nachweisen kann, ist gänzlich unbestreitbar, – ebenso sicher aber, daß dafür keinerlei Gewähr a priori bestehen kann, denn es hängt eben 72  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  177 mit Anm.  10. 73  Vgl. Einleitung, oben, S.  19 f.

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natürlich auch von dem Inhalt des konkreten Zweckes der pädagogischen Tätigkeit ab, inwieweit generelle „exakte“ Beobachtungen der Psychologie von der Art, wie dies z. B. bei denjenigen über die Bedingungen der Ermüdung, über Aufmerksamkeit und Gedächtnis der Fall ist, auch generell und „exakt“ geltende pädagogische Regeln ergeben können. Die fundamentale Eigenschaft des „einfühlenden Verständnisses“ ist es nun, gerade individuelle „geistige“ Wirklichkeiten in ihrem Zusammenhang derart in ein Gedankenbild fassen zu können, daß dadurch die Herstellung „geistiger Gemeinschaft“74 des Pädagogen mit dem oder den Schülern und damit deren geistige Beeinflussung in einer bestimmten gewollten Richtung möglich wird. Der unermeßliche Fluß stets individueller „Erlebnisse“, welcher durch unser Leben strömt,75 „schult“ die „Phantasie“ des Pädagogen – und des Schülers – und ermöglicht jenes „deutende Verständnis“ des Seelenlebens, welches dem Pädagogen not tut. Inwieweit er daneben Anlaß hat, diese seine „Menschenkenntnis“ durch die Besinnung auf abstrakte „Gesetze“ aus dem Gebiet des „Anschaulichen“ in dasjenige des „Begrifflichen“ zu übertragen,76 und, vor allem, wieweit alsdann die logische Bearbeitung in der Richtung auf die Bildung | von tunlichst „exakten“77 und generell geltenden Gesetzesbegriffen im Interesse der Pädagogik als wertvoll zu gelten hat, das hängt lediglich davon ab, ob für einzelne Zwecke die „exakte“ Bestimmtheit einer begrifflichen Formel irgend welche durch die „Vulgärpsychologie“ nicht erreichbaren „neuen“ Erkenntnisse einschließt, welche für den Pädagogen irgend welchen praktischen Wert haben33). Bei der hochgradig 33) Die so oft verwertete Gegenüberstellung der „wissenschaftlichen“ Psychologie und der „Psychologie“ des „Menschenkenners“ ist in ihrer Bedeutung von Münster-

74  Münsterberg, Psychologie, S.  61, spricht von „seelischer Gemeinschaft“. Für ihn können auch Gruppen zum Träger seelischer Inhalte werden: „Erkenntnis und Wille der nationalen oder wirtschaftlichen oder religiösen oder verwandtschaftlichen Gemeinschaft existieren nicht weniger wirklich als die seelischen Funktionen des einzelnen Nebenmenschen“ (ebd., S.  99). 75  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  193 f. mit Anm.  69. 76  Für Rickert sind Dinge und Vorgänge in ihrer individuellen Wirklichkeit anschaulich. Die Naturwissenschaften abstrahieren davon, um generelle Begriffe, d. h. Gesetze, zu formulieren. Als Gesetzeswissenschaften sind sie Begriffswissenschaften, während die historischen bzw. Kulturwissenschaften Wirklichkeitswissenschaften sind. Vgl. Rickert, Grenzen, S.  263, 265, 270, 285, 327. 77 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  198 mit Anm.  86; Einleitung, oben, S.  15 f. mit Anm.  10.

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„historischen“ Natur der Bedingungen, mit welchen die Pädagogik zu rechnen hat, wird es sich dabei um relativ sehr kleine „Enklaven“78 innerhalb eines weiten Gebiets von „Lebenskennt|nissen“ handeln, welche nur eine relative, und zwar geringe, begriffliche Bestimmtheit besitzen, besitzen können und auch nur zu besitzen brauchen, um den Zwecken, um die es sich handelt, zu dienen. Das Gleiche gilt nun aber für die historischen Disziplinen. Richtig ist an den Ausführungen Münsterbergs über ihre Stellung alles, was sich auf die lediglich negative Bedeutung des nicht „Deutbaren“ für die Geschichte bezieht. Erfahrungssätze der Psychopathologie und Gesetze der Psychophysik kommen für die Geschichte berg – wie von so manchen anderen – m. E. unzutreffend aufgefaßt und mit Unrecht in den Dienst seines Dualismus gestellt worden. Wenn er (S.  181) sagt:79 „Der Menschenkenner kennt den ganzen Menschen, oder er kennt ihn gar nicht“, – so ist darauf zu antworten: er kennt das von ihm, was für bestimmte konkrete Zwecke relevant ist, und sonst nichts. Was an dem Menschen unter bestimmten konkret gegebenen Gesichtspunkten bedeutsam wird, das kann eine Gesetze suchende[,] rein psychologische Theorie unmittelbar schon aus logischen Gründen nicht in sich enthalten. Faktisch aber hängt es von den jeweils in Betracht kommenden, natürlich nicht nur „Psychisches“ enthaltenden Konstellationen des Lebens in ihrer unendlichen Variation ab, welche keine Theorie der Welt erschöpfend in ihre „Voraussetzungen“ aufnehmen kann. – Wenn Münsterberg die Bedeutungslosigkeit psychologischer Kenntnisse für die Politik mit der Bedeutung physikalischer Kenntnisse für den Brückenbau vergleicht,80 um die Kluft zwischen der durch Objektivierung gewonnenen „Psyche“ der Psychologie und dem „Subjekt“ des praktischen Lebens zu verdeutlichen, so paßt dieser Vergleich nicht, weil – von dem Gegensatz abgesehen, den das Beharren der technischen Situation, welche umständlichen Rechnungen geduldig stand hält, im Gegensatz zu der Flüchtigkeit der politischen Gelegenheit enthält – für den Brückentechniker bei den dem Schwerpunkt nach generell bestimmbaren Eigenschaften, welche die Brücke besitzen soll, generell bestimmbare Mittel eine absolut andere Rolle spielen als für den Politiker. Setzt man an Stelle des Brückenbauers etwa einen Billardvirtuosen, so tritt die Unzulänglichkeit der Kenntnis abstrakter Gesetze für die „Praxis“ auch auf dem Gebiet des Physikalischen deutlich hervor. Irreführend ist auch Münsterbergs gegen die Bedeutung jeglicher „Objektivierung“ des „nur“ Psychischen für das praktische Leben gerichtete Formulierung (S.  185),81 daß „die psychischen Inhalte“ eines andern für uns „gar keine praktische Bedeutung“ haben können, daß „unsere praktischen Vorausbestimmungen unseres Nachbars und seiner Handlungen“ sich vielmehr nur auf „seinen Körper und dessen Bewegungen“ bezögen. In unzähligen Fällen kann es uns: – der Mutter, dem Freunde, dem „Gentleman“ überhaupt – nicht gleichgültig sein, was der andere „empfindet“, auch wenn davon keinerlei „Handlung“ irgend einer Art, am allerwenigsten eine „Körperbewegung“ zu gewärtigen ist. | 78  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  131: „Das Gebiet der Freiheit besteht nicht aus Enklaven, die zerstreut im Reich der Natur liegen“. 79  Gemeint ist: Münsterberg, Psychologie, S.  181. 80  Vgl. ebd., S.  182. 81  Ebd., S.  185.

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nur genau in dem gleichen Sinn in Betracht, wie physikalische, meteorologische, biologische Erkenntnisse. Das heißt: Es ist ganz und gar Frage des Einzelfalls, ob die Geschichte oder die Nationalökonomie von den feststehenden Ergebnissen einer psychophysischen Gesetzeswissenschaft Notiz zu nehmen Anlaß hat. Denn die zuweilen gehörte Behauptung,82 daß die „Psychologie“ im allgemeinen oder eine erst zu schaffende besondere Art von Psychologie um deswillen für die Geschichte oder die Nationalökonomie ganz allgemein unentbehrliche „Grundwissenschaft“ sein müsse, weil alle geschichtlichen und ökonomischen Vorgänge ein „psychisches“ Stadium durchlaufen, durch ein solches „hindurchgehen“ müßten, ist natürlich unhaltbar. Man müßte sonst, da alles „Handeln“ heutiger Staatsmänner durch die Form des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, also durch Schallwellen und Tintentropfen usw. „hindurchgeht“, auch die Akustik und die Lehre von den tropfbaren Flüssigkeiten für unentbehrliche Grundwissenschaften der Geschichte halten. Die heute so populäre Meinung, es genüge, die „Bedeutung“ bestimmter realer „Faktoren“ für kausale Zusammenhänge des Kulturlebens aufzuweisen, um schleunigst eine spezielle „Wissenschaft“ von diesen „Faktoren“ zu gründen, übersieht, daß die erste Frage doch stets ist, ob in jenen „Faktoren“ generell etwas Problematisches steckt, welches nur durch eine spezifische Methode gelöst werden kann. Wir wären vor vielen „…logien“ bewahrt geblieben, wenn diese Frage regelmäßig auch nur aufgeworfen würde. – Es läßt sich – schon aus diesen Gründen – nicht einmal behaupten, daß die Geschichte a priori ein „näheres“ Verhältnis zu irgend einer Art von „Psychologie“ haben müsse als zu anderen Disziplinen. Denn sie behandelt eben nicht den im Menschen durch gewisse „Reize“ ausgelösten Innenvorgang um seiner selbst willen, sondern das Verhalten des Menschen zur „Welt“, in seinen „äußeren“ Bedingungen und Wirkungen. Der „Standpunkt“ ist dabei freilich stets ein in einem spezifischen Sinn „anthropozentrischer“. Wenn in der Geschichte Englands der | schwarze Tod83 nicht in kausalem Regressus auf das Gebiet etwa 82  Vgl. Lamprecht, Kulturgeschichte, S.  77: „Einig ist man sich allerdings darin, dass die Psychologie die Grundlage aller Geschichtswissenschaft sein müsse.“ 83  Zur Pest in der Geschichte Englands im 14. Jahrhundert vgl. Pauli, Reinhold, Geschichte von England, Band 4. – Gotha: Friedrich Andreas Perthes 1855, S.  417 ff.

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der bakteriologischen Erkenntnis verfolgt, sondern als ein Ereignis gewissermaßen aus einer „außerhistorischen“ Welt, als ein „Zufall“ behandelt wird, so hat dies zunächst einfach seinen Grund in den „Kompositionsprinzipien“, denen auch jede wissenschaftliche Darstellung untersteht, ist also in soweit nicht erkenntnistheoretisch begründet. Denn eine „Geschichte des schwarzen Todes“,84 welche sorgsam die konkreten Bedingungen und den Verlauf der Epidemie auf Grund medizinischer Kenntnisse analysiert, ist natürlich sehr wohl möglich: – sie ist dann „Geschichte“ im wirklichen Sinn des Wortes, wenn sie durch jene Kulturwerte, welche unsere Betrachtung einer Geschichte Englands in der betreffenden Zeit leiten, sich ebenfalls leiten läßt, wenn also ihr Erkenntniszweck nicht ist: Gesetze z. B. der Bakteriologie zu finden, sondern kulturhistorische „Tatsachen“ kausal zu erklären. Das bedeutet nun, infolge des begrifflichen Wesens der „Kultur“, stets, daß sie darin gipfelt, uns zur Erkenntnis eines Zusammenhanges hinzuleiten, in welchen verständliches menschliches Handeln oder, allgemeiner, „Verhalten“ eingeschaltet und als beeinflußt gedacht ist, da hieran sich das „historische“ Interesse heftet. Eine psychologische Begriffsbildung, welche im Interesse der „Exaktheit“ unter die Grenze des „Noëtischen“85 herunter auf irgend welche nicht in der empirisch gegebenen Psyche verstehend „nacherlebbare“ Elemente griffe, würde für die Geschichte ganz in die gleiche Stellung rücken, wie das nomologische Wissen irgend einer anderen Naturwissenschaft oder wie – nach der anderen Seite – irgend eine Reihe nicht verständlich deutbarer statistischer Regelmäßigkeiten. Soweit psychologische Begriffe und Regeln oder statistische Zahlen der „Deutung“ nicht zugänglich sind, stellen sie Wahrheiten dar, welche von der Geschichte als „gegeben“ hingenommen werden, die aber zur Befriedigung des spezifisch „historischen Interesses“ nichts beitragen. Die Verknüpfung des historischen Interesses mit der „Deutbarkeit“ bleibt also als das eigentlich zu Analysierende immer wieder allein zurück. 84  Vgl. z. B. Hecker, Justus Friedrich Karl, Der schwarze Tod im vierzehnten Jahrhundert. Nach den Quellen für Aerzte und gebildete Nichtärzte bearbeitet. – Berlin: Friedrich August Herbig 1832. 85  Vgl. oben, S.  287, Anm.  52.

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Münsterberg trägt in die Erörterung der Bedeutung dieses Umstandes erhebliche Unklarheiten hinein. Es verwirrt sich sein Gedankengang auf das Bedenklichste namentlich dadurch, daß, um die Kluft zwischen „objektivierender“ und „subjektivierender“ Betrachtungsweise möglichst weit aufzureißen, bei ihm Erkenntniskategorien und Begriffe sehr heterogener Art miteinander teils terminologisch, teils sachlich verquickt werden. Es bleibt bei | seinen verschiedenen Aufstellungen über jene Erkenntniskategorie zunächst unklar, inwieweit das Wortpaar „Verstehen und Bewerten“ (Münsterbergs Bezeichnung der „natürlichen Betrachtung des Geisteslebens“)34) eine einheitliche, oder zwei an sich verschiedene, wenn auch bei der „subjektivierenden“ Betrachtungsweise in steter Gemeinschaft miteinander auftretende Formen des „subjektivierenden“ Sich-Verhaltens zum „Geistesleben“ bedeuten sollen. Sicher und von Münsterberg nicht bestritten ist, daß das „Bewerten“ von Seiten des „stellungnehmenden Subjektes“ auch an nicht „geistigen“, also nicht „verstehbaren“ Dingen vollzogen wird. Die Frage bleibt also, inwieweit auch ein subjektivierendes „Verstehen“ – von „geistigem“ Leben – ohne „Bewerten“ möglich ist. Die bejahende Beantwortung könnte zweifellos erscheinen, da Münsterberg ja „normative“ und „historische“ subjektivierende Wissenschaften unterscheidet.86 Alles wird aber wieder zweifelhaft angesichts der Tatsache, daß die Tabelle der Wissenschaftssystematik, welche Münsterberg seinem Buche nachgesendet hat35), die Mutter aller „exakten“ Wissenschaften: die Philologie, restlos den objektivierenden Wissenschaften zuweist, obwohl der Philologe ohne allen Zweifel (nicht nur, aber auch und in hervorragendem Maße) deutend verfährt und nicht nur bei Konjekturen – die Mün S.  14 oben.87   In der Psychological Review Monogr[aph] Suppl[ements] Vol. IV.88 Umgekehrt noch Grundzüge der Psychologie, S.  17.89 Münsterbergs Ansichten befinden sich im Fluß. Der Aufsatz einer seiner Schülerinnen Mary Whiton Calkins, Der doppelte Stand­ punkt in der Psychologie (1905)90 – zeigt schon in seinem Titel, was aus der „subjektivierenden“ Betrachtungsweise geworden ist. 34)

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86  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  15, 18, 35, 65 f., 104, 109. 87  Vgl. ebd., S.  14. 88  Münsterberg, Position, Faltblatt nach S.  654. 89  Münsterberg, Psychologie, S.  17. 90  Calkins, Standpunkt.

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sterberg vielleicht als „Teilarbeit“ der Literatur-, also Kulturge­ schichte ansprechen würde –[,] sondern ebenso bei jeder nicht rein klassifizierenden Arbeit der Grammatik ausschließlich, und – obwohl dies den „Grenzfall“ darstellt – sogar bei der Lautwandellehre doch auch36) sich an das „nacherlebende Verstehen“ wenden muß. Es scheint daher, als ob es auch „deutendes“ wissenschaftliches Arbeiten gebe, welches dennoch „objektivierenden“ Disziplinen angehört, weil es nicht „wertet“. Es spielen aber bei Münsterberg überhaupt heterogene Gesichtspunkte in das Problem hinein. Entscheidend tritt dies darin | zutage, daß er das „Verstehen“, das „Einleben“, „Würdigen“ und „Einfühlen“ der „subjektivierenden Wissenschaften“ mit „teleologischem Denken“ identifiziert37). Nun kann man ja unter „teleologischem Denken“ sehr Verschiedenes verstehen. Nehmen wir zunächst an, es handle sich um die Deutung von Vorgängen aus ihrem Zweck. Dann ist sicher – und wir werden es noch näher erörtern91 – daß das „teleologische Denken“ einen engeren Umkreis deckt als unsere Fähigkeit des „subjektivierenden Einlebens“ und „Verstehens“. Anderseits erstreckt sich teleologisches „Denken“ in diesem Sinn keineswegs nur auf „Geistesleben“ oder menschliches Handeln, sondern ist in allen Wissenschaften, welche mit „Organismen“ – z. B. Pflanzen – zu tun haben, zum mindesten als eine höchst wichtige „Durchgangsstufe“ anzutreffen. Endlich schließen die Kategorien „Zweck“ und „Mit-

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36)  Siehe dazu die wesentlich gegen Wechßlers Aufsatz in der Festgabe für Suchier,92 aber überhaupt gegen die ausschließlich psychophysische Behandlung dieser methodologischen crux philologorum gerichtete Schrift von K[arl] Voßler, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft (1904),93 auch die, freilich in der Identifikation von „Gesetzlichkeit“ und „Kausalität“ fehlerhaften Erwiderungen Wundts in seiner „Völkerpsychologie“, Bd.  I.94 | 37)  bA. a. O.b weiter unten.95 – Noch verwirrender ist es, wenn (S.  14 f.) der Satz „wer A 131 Zwecke setzt, ist frei“ aufgestellt und dann das Zwecke-Setzen, also eine rationale Funktion, mit der „anschaulichen Mannigfaltigkeit“ des „Erlebten“ ineinander gescho­ ben wird. Ebenso wird S.  106 „Stellungnahme“ und „Willensakt“ identifiziert und die „erlebte“ Wirklichkeit mit dem „Geltenden“.

b–b A: a. a. O.   91  Möglicherweise Bezug auf Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  363. 92  Vgl. Wechssler, Lautgesetze. 93  Voßler, Positivismus. 94  Wundt, Völkerpsychologie I,1, S.  360 ff. 95  Münsterberg, Psychologie, S.  14.

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tel“, ohne welche es teleologisches „Denken“ überhaupt nicht gibt, sobald mit ihrer Hülfe wissenschaftlich operiert wird, gedanklich geformtes nomologisches Wissen, d. h. also: Begriffe und Regeln, an der Hand der Kausalitätskategorie entwickelt, ein. Denn es gibt zwar kausale Verknüpfung ohne Teleologie, aber keine teleologischen Begriffe ohne Kausalregeln38). – Würde unter „teleologischem Denken“ dagegen lediglich die Gliederung des Stoffs durch Wertbeziehungen, also die „teleologische Begriffsbildung“96 oder das Prinzip der „teleologischen Dependenz“ gemeint sein, in dem Sinne, in | welchem Rickert und nach ihm andere97 diese Begriffe verwenden39), so hätte dies natürlich weder mit einem „Ersatz“ der Kausalität durch irgendwelche „Teleologie“, noch mit einem

38)  Wir kommen auf das Thema der „teleologischen“ Begriffsbildung in diesem Sinne eingehender zurück.98 – Äußerst unklar ist die Bemerkung Bernheims, Hist[orische] Methode, 3.  Aufl. S.  119:99 „Die geschichtlichen Betätigungen der Menschen sind für unsere Erkenntnis nur teleologisch zu fassen, d. h. wesentlich als Willenshandlungen, die durch Zwecke bestimmt sind, und ihre begriffliche Erkenntnis unterscheidet sich dadurch wesentlich von der naturwissenschaftlichen, bei deren Begriffen die Zusammengehörigkeit und Einheit nicht von dem psychologischen Moment erreichter oder zu erreichender Zwecke bestimmt wird“. Der Versuch, den Unterschied näher zu präzisieren, wird gar nicht gemacht. Denn es kann doch wohl eine Begriffsbildung nicht als „teleologisch“ qualifizieren, daß die von ihr zu erfassenden Vorgänge der „psychischen Kausalität“ unterliegen, „welcher“, wie es im gleich darauf folgenden Satze heißt: „die Zwecke angehören“.1 | 39) Mit Bezug auf die „teleologische Begriffsbildung“ in diesem Sinne ist auch Con­ A 132 radc Schmidt (in seiner Besprechung des Adlerschen Buches im Jaffé-Braunschen Ar-

c A: Konrad   96  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  192 mit Anm.  64. 97  Rickert verwendet diesen Begriff nicht. Vgl. aber Windelband, Wilhelm, Vom System der Kategorien, in: Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage 28. März 1900. – Tübingen, Freiburg i. B. und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, S.  43–58, hier S.  57: „Die Bestimmtheit der zeitlichen Reihenfolge aber, in der die reale Zusammengehörigkeit der Zustände zum Ausdruck gelangt, wird entweder so gedacht, dass der vorhergehende Zustand den nachfolgenden oder so, dass umgekehrt der nachfolgende den vorhergehenden ‚zum Dasein in der Zeit bestimmt‘: im ersteren Falle handelt es sich um die causale, im zweiten um die teleologische Dependenz.“ 98  Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  358 ff. 99  Bernheim, Lehrbuch, S.  119. 1  Ebd., S.  118 f., bezieht sich auf Rickerts Theorie teleologischer Begriffsbildung in Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  49 ff., meint aber offenbar – was Rickert ausschließt –, „dass die Geschichte aus den bewussten Zwecksetzungen der Personen, von denen sie handelt, ‚erklärt’ werden soll“. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  353, Fn.  29 mit Anm.  17.

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Gegensatz zur „objektivierenden“ Methode irgend etwas zu tun, da es sich hier lediglich um ein Prinzip der Auswahl des für die Begriffsbildung Wesentlichen durch Beziehung auf Werte handelt, die „Objektivierung“ und Analysis der Wirklichkeit also dabei gerade vorausgesetzt wird. – Man könnte nun aber die Verwendung „teleologischen Denkens“ in den historischen Disziplinen etwa darin finden wollen, daß sie Begriffe „normativer“ Disziplinen, z. B. namentlich solche der Jurisprudenz, übernehmen und verwenden. – Nun ist selbst­ verständlich die juristische Begriffsbildung keine „kausale“.2 Sie erfolgt, soweit sie begriffliche Abstraktion ist, unter der Frage­ stellung: wie muß der zu definierende Begriff X gedacht werden, damit alle diejenigen positiven Normen, welche jenen Begriff verwenden oder voraussetzen, widerspruchslos und sinnvoll, nebenund miteinander bestehen können?3 Es steht nichts im Wege, diese Art der Begriffsbildung, welche die eigenartige „subjektive Welt“4 der juristischen Dogmatik konstituiert, „teleologisch“5 zu nenchiv XX, S.  397) insofern ein Irrtum unterlaufen, als er Rickert den „Teleologen“ vom Gepräge Stammlers zuzählt und mich gegen ihn zitiert.6 – Allein selbstredend hat jene „teleologische Begriffsbildung“ mit einem Ersatz der Kausalität als Kategorie der Erklärung durch irgendwelche Teleologie nichts zu tun.

2  Vgl. Jellinek, System2, S.  18. 3  Vgl. z. B. Jellinek, ebd., S.  16 f.: „Wie muss das Eigentum gedacht werden, damit alle auf dasselbe sich beziehenden Normen zu einer widerspruchslosen Einheit zusammengefasst werden können? Also nicht: was ist das Eigentum, sondern wie ist es zu denken, ist die Weise wissenschaftlicher juristischer Fragestellung.“ 4 Für Jellinek, ebd., S.  28, arbeitet der Jurist „in der subjektiven Welt, in der das Rechtsleben sich abspielt und nicht theoretische Erkenntnis, sondern praktisches Handeln herrscht“. 5  Jellinek, ebd., S.  21, 26, referiert auf Sigwarts „Ausführung über die teleologische Einheit“. Für Sigwart, Logik II (wie oben, S.  5, Anm.  31), S.  258, sind „Collectivbegriffe“ Begriffe „eines Ganzen, das aus einer Vielheit discreter, für sich als Einheiten gedachter Theile besteht, eines Ganzen aus Stücken oder Individuen“. Die „Einheit“ eines solchen Ganzen kann erstens eine „äusserliche und zufällige Einheit“ sein, z. B. bei einem „Sandhaufen“; sie kann zweitens auf einer „causale[n] Beziehung“ beruhen, sei es „Abhängigkeit von Einer Ursache, sei es Wechselwirkung“, z. B. beim „Sonnensystem“; sie kann drittens als „teleologische Einheit“ auftreten, wo „der Zweck den einzelnen Gliedern als bewusster Gedanke oder wenigstens als Trieb immanent ist, wie bei allen Verhältnissen menschlicher Gemeinschaft oder in den Schwärmen der Bienen“ (ebd., S.  258 f.). 6 Vgl. Schmidt, Adler, S.  397, 401, 404, mit den Bezügen auf Weber, Rickert und Stammler.

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nen40). Allein so selbstverständlich die Bedeutung der so gewonnenen juristischen Begriffsgebilde gegenüber den Begriffsbildungen aller kausal erklärenden Disziplinen gänzlich autonom ist, mit kausaler Interpretation der Wirklichkeit gar nichts zu schaffen hat, – so unzweifelhaft ist es, daß die Geschichte und alle Spielarten der nicht normativen „Gesellschaftswissenschaften“ diese Begriffsbildungen in ganz anderem Sinne verwerten als die juristische Dogmatik. Für letztere steht der begriffliche Geltungsbereich gewisser Rechtsnormen, für jede empirisch-geschichtliche Betrachtung dagegen das faktische „Bestehen“ | einer „Rechtsordnung“, eines konkreten „Rechtsinstituts“ oder „Rechtsverhältnisses“ nach Ursachen und Wirkungen in Frage. Sie finden als diesen „faktischen Bestand“ in der historischen Wirklichkeit die „Rechtsnormen“ einschließlich der Produkte der dogmatisch-juristischen Begriffsbildung lediglich als in den Köpfen der Menschen vorhandene Vorstellungen vor, als einen der Bestimmungsgründe ihres Wollens und Handelns neben anderen, und sie behandeln diese Bestandteile der objektiven Wirklichkeit wie alle anderen: kausal zurechnend. Das „Gelten“ eines bestimmten „Rechtssatzes“ kann z. B. für die abstrakte ökonomische Theorie7 unter Umständen begrifflich sich auf den Inhalt reduzieren: daß bestimmte ökonomische Zukunftserwartungen eine an Sicherheit grenzende faktische Chance8 der Realisierung haben. Und wenn die politische oder soziale Geschichte juristische Begriffe verwenden – wie sie dies fortwährend tun –[,] so wird das ideale Geltenwollen des Rechtssatzes hier nicht erörtert, sondern die juristischen Normen sind nur der für die Geschichte allein in Betracht kommenden faktischen Realisierung gewisser äußerer Handlungen von Mensch zu Mensch terminologisch soweit substituiert, als dies nach Lage der Sache möglich ist. Das Wort ist dasselbe, – was gemeint ist, etwas in logi­ schem Sinn toto coelo Verschiedenes. Der juristische Terminus ist hier teils Bezeichnung einer oder vieler faktischer Beziehungen, 40)  Siehe über die prinzipielle logische Geschiedenheit der juristischen Gedankengebilde von denjenigen der rein empirisch-kausalen Disziplinen die anschaulichen Formulierungen von Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2.  Aufl. 1905, S.  23 ff. |

7  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  197 mit Anm.  82. 8  Zum Begriff „Chance“ vgl. Weber, Kritische Studien, unten, S.  472 mit Anm.  41.

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teils ein „idealtypischer“ Kollektivbegriff geworden.9 Daß dies leicht übersehen wird, ist die Folge der Bedeutung rechtlicher Termini in der Praxis unseres Alltagslebens; – und im übrigen ist der Sehfehler nicht häufiger und nicht schwerwiegender als der umgekehrte: daß Gebilde juristischen Denkens mit Naturobjekten identifiziert werden. Der wirkliche Tatbestand ist, wie gesagt: daß der juristische Terminus zur Erfassung eines rein kausal zu analysierenden realen Sachverhaltes verwendet wird und normalerweise auch verwendet werden kann, weil wir alsbald dem Geltenwollen juristischer Begriffsgebilde das faktisch existente soziale Kollektivum unterschieben41). – | Würde man endlich – wie dies sicherlich Münsterbergs eigentlicher, wennschon durch seine eigenen Ausführungen verdunkelter Ansicht entspricht –, unter „subjektivierendem“ und deshalb „teleologischem“ Denken ein solches verstehen, welches, unbekümmert um die Abstraktionen psychologischer Theorien, das „Wollen“ in seiner empirischen, ungebrochenen Gegebenheit nimmt, und seinen Ablauf, seine Konflikte und Verbindungen mit fremdem Wollen und – was aber bei Münsterbergs Ausdrucksweise immer wieder unter den Tisch fällt – mit den Widerständen und „Bedingungen“ der „Natur“, denkend zu erfassen sucht, so würde die Tatsache, daß es andere Disziplinen gibt, welche für ihre Erkenntniszwecke das „Wollen“ als einen „Empfindungskomplex“ behandeln, doch keine prinzipielle, wie Münsterberg sagt: „ontologische“,10 Kluft zwischen beiden Betrachtungsweisen begründen.

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41) Wenn man von den „handelspolitischen Interessen Deutschlands“ redet, so ist A 133 der Begriff „Deutschland“, der hier verwendet wird, ganz offenbar ein anderer, als der juristische Begriff des „Deutschen Reichs“, welches, als Rechtspersönlichkeit, den Handelsvertrag abschließt.11 – Ob freilich nicht gerade in diesen Fällen die Verwendung der Kollektiva die Quelle arger Unklarheiten werden kann, ist eine Frage für sich. Ganz zu vermeiden sind sie nicht. |

9  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  203 ff., S.  228 mit Anm.  71, und S.  231. 10  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  35, 41 f., 45, 158. 11  Vgl. Jellinek, Staatslehre (wie oben, S.  91, Fn.  86, Anm.  26), S.  160: „Seiner juristischen Seite nach kann der Staat […] nur als Rechtssubjekt gefasst werden, und zwar ist es näher der Begriff der Körperschaft, unter den er zu subsumieren ist. […] Der Begriff der Körperschaft aber ist ein rein juristischer Begriff, dem, wie allen Rechtsbegriffen, in der Welt der Tatsachen nichts objektiv Wahrnehmbares entspricht; er ist eine Form der juristischen Synthese, um die rechtlichen Beziehungen der Verbandseinheit, ihr Verhältnis zur Rechtsordnung auszudrücken.“

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Sie würde auch einer Gewinnung von kausalen Regeln durch eine Disziplin, für welche das „Wollen“ ein für allemal die letzte, nicht weiter zu zerlegende „Einheit“ bildet, nach dem früher Ausgeführten natürlich durchaus nicht im Wege stehen. Immer wieder bleibt also als spezifisches Merkmal der „subjektivierenden“ Wissenschaften, soweit sie historische Wissenschaften und nicht normative Disziplinen sind, das Ziel des „Einfühlens“, „Nacherlebens“, kurz des „deutenden Verstehens“. Der „Objektivierung“ entrinnt aber bei den auf dieses „Verstehen“ abzielenden Disziplinen der konkrete psychische „Vorgang“, z. B. das „unmittelbar“ verständliche „Wollen“ und ebenso auch das „Ich“ in seiner „unmittelbar“ verständlichen „Einheit“ niemals, wo immer es sich um eine wissenschaftliche Darstellung von Tatsachen handelt, zu deren Wesen es eben gehört, daß sie überindividuell als „objektive Wahrheit“ gelten will. Diese Objektivierung wird sich, wo es sich um die Ausnutzung unserer Fähigkeit des „deutenden“ Verste­ hens handelt, teilweise, namentlich in der Art und Weise ihrer begrifflichen Bestimmtheit, anders gestalteter Demonstrationsmittel bedienen, als da, wo das Zurückgehen auf „unverstandene“ aber eindeutig bestimmte „Formeln“ das Ziel sein soll, und allein sein kann, aber „Objektivierung“ ist sie eben auch. Münsterberg42) ist der Ansicht, daß das subjektivierende „Nachfühlen“, welches im Gegensatz zu der ebenfalls von dem „Anerkennen“ fremder Subjekte ausgehenden, dann aber im Interesse der Beschreibung, Erklärung und Mitteilung den Weg der „Introjektion“12 einschlagenden Psychologie, der Historiker | verwende, sich auf das „Zeitlose“ des „Erlebnisses“ beziehe, daher wesensgleich mit dem „Verstehen“ des „stellungnehmenden Subjektes“ sei. Je weniger „begrifflich“ bestimmt der Ausdruck, desto sicherer erreiche daher der Historiker seinen Zweck. Wir kommen darauf noch näher zurück,13 hier sei nur folgendes dazu bemerkt: Die Kategorie der „Deutung“ zeigt ein doppeltes Gesicht: sie kann 1. eine Anregung zu einer bestimmten gefühlsmäßigen Stellungnahme sein wollen – so die „Suggestion“ eines Kunstwerks oder einer „Naturschön42)

 S.  126.14 |

12  Vgl. oben, S.  285 mit Anm.  44. 13  Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  347 ff. 14  Münsterberg, Psychologie, S.  126.

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heit“: dann bedeutet sie die Zumutung zum Vollzug einer Wertung bestimmter Qualität.15 Oder sie kann 2. Zumutung eines Urteils im Sinn der Bejahung eines realen Zusammenhanges als eines gültig „verstandenen“ sein: dann ist sie das, was wir hier allein behandeln: kausal erkennende „Deutung“43). Sie ist bei der „Naturschönheit“ in Ermangelung metaphysischer Aufstellungen ausgeschlossen, beim Kunstwerk auf die historische „Deutung“ der „Intentionen“ und der „Eigenart“ des Künstlers in ihrer Bedingtheit durch die zahllosen in Betracht kommenden Determinanten seines Schaffens beschränkt. Wenn in den „Genuß“ des Kunstwerks beides ungeschieden einzugehen pflegt und in den Darstellungen der Kunsthistoriker nur zu oft beides nicht geschieden wird, wenn ferner die faktische Scheidung ungemein schwer fällt und die Fähigkeit dazu erarbeitet werden will, und wenn endlich und vor allem die wertende Deutung in gewissem Umfang der unentbehrliche Schrittmacher für die kausale Deutung ist, – so ist die prinzipielle Scheidung beider von der Logik doch selbstverständlich unbedingt zu postulieren.16 Sonst wird „Erkenntniszweck“ und „praktischer Zweck“ ähnlich ineinander geschoben, wie dies so oft zwischen Erkenntnisgrund und Realgrund17 geschieht. Es steht jedermann frei, sich auch in Form einer historischen Darstellung als „stellungnehmendes Subjekt“ zur Geltung zu bringen, politische oder Kulturideale oder andere „Werturteile“ zu propagieren und zur Illustration der praktischen Bedeutung dieser und anderer, bekämpfter, Ideale das ganze Material der Geschichte zu verwenden, ganz ebenso wie Biologen oder Anthropologen gewisse „Fortschritts“-Ideale sehr subjektiver Art oder philosophische Überzeugungen in ihre Untersuchungen hineintragen und damit natürlich nichts anderes tun, als | jemand, der das ganze Rüstzeug naturwissenschaftlicher Erkenntnis zur erbaulichen Illustration etwa der „Güte Gottes“

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43) Wir erörtern hier noch nicht, daß zwischen beiden Kategorien eine dritte liegt: A 135 die „Deutung“ im Sinn einer nicht „kausalen“, und auch nicht wertenden, sondern die Wertung durch Analyse möglicher Wertbeziehungen eines Objektes (etwa des „Faust“) vorbereitenden „Interpretation“.18 |

15  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  146 f., 151 f. 16  Vgl. ebd., S.  146. 17  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  53 mit Anm.  63. 18  Zu Goethe, Faust I–II, und den „Interpretationen“ vgl. Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  349 ff.

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verwertet.19 In jedem Fall redet aber dann nicht der Forscher, sondern der wertende Mensch, und wendet sich die Darlegung an wertende, nicht an nur theoretisch erkennende Subjekte. Die Logik ist durchaus außer stande zu hindern, daß eben aus diesem Grunde der Markt des stürmisch wollenden und ethisch oder ästhetisch wertenden Lebens20 gerade diese Bestandteile als das eigentlich „Wertvolle“ einer „historischen Leistung“ ansieht, – was sie allein feststellen kann und, will sie sich treu bleiben, muß, ist: daß in diesem Fall nicht der Erkenntniszweck es ist, an welchem gemessen wird, sondern andere Zwecke und Gefühlswerte der Lebenswirklichkeit. Auch die Geschichte behandelt „objektivierte Selbststellungen“, wie dies Münsterberg44) für die Psychologie in dem Anfangsstadium ihrer Begriffsbildung statuiert. Der Unterschied beider ist, daß die Geschichte zwar generelle Begriffe und „Gesetze“ verwendet, wo sie ihrer kausalen Zurechnung des Individuellen dienlich sind, aber nicht selbst auf die Bildung solcher Gesetze ausgeht, daher zur Entfernung von der Wirklichkeit in der Richtung, welche die Psychologie einschlägt, von sich aus keinen Grund hat. Daß wir bei der „deutenden“ Synthese eines individuellen historischen Vorganges oder einer historischen „Persönlichkeit“ Wert­ begriffe verwenden, deren „Sinn“ wir selbst als stellungnehmende Subjekte handelnd und fühlend fortwährend „erleben“, ist ganz richtig. Dies ist jedoch zwar auf dem Gebiet der „Kulturwissenschaften“ infolge der Eigenart ihres durch den Erkenntniszweck geformten und begrenzten Objekts am umfassendsten der Fall, aber durchaus nicht nur ihnen eigentümlich. „Deutungen“ bilden z. B. den unvermeidlichen Durchgangspunkt auch der „Tier­psy­cho­ A 136

44)

 S.  95, 96.21

19  Möglicherweise Bezug auf Reinke, Johannes, Die Welt als Tat. Umrisse einer Weltansicht auf naturwissenschaftlicher Grundlage, 3.  Aufl. – Berlin: Gebrüder Paetel 1905. 20  „Markt des Lebens“ ist Titel eines Gedichts von Herder: „Staune nicht an den glänzenden Markt des Lebens; doch geh auch nicht vorüber; tritt ein! Kaufe, was kaufen du kannst. Und erharre der Zeit: Sie ist die Göttin des Armen, Was man heut theurer erkauft, giebt sie dir morgen umsonst.“ Vgl. Herder, Johann Gottfried, Zerstreute Blätter. Erste Sammlung. – Gotha: Carl Wilhelm Ettinger 1785, S.  85. Vgl. auch Tiedge, Christoph August, Wanderungen durch den Markt des Lebens, 2 Bände. – Halle: Renger 1835; Thackeray, William Makepeace, Der Markt des Lebens. Ein Roman ohne einen Helden. Aus dem Englischen übersetzt von August Diezmann, 6 Bände. – Leipzig: B. G. Teubner 1848–1849. 21  Münsterberg, Psychologie, S.  95 f.

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logie“45), und „Deutungen“ enthalten ihrem ursprünglichen Gehalt nach auch die „teleologischen“ Bestandteile biologischer Begriffe. Aber wie hier an Stelle der metaphysischen Hineindeutung eines „Sinnes“ die bloße Faktizität der mit Bezug auf die Daseinserhaltung „zweckmäßigen“ Funktionen tritt, so an Stelle der „Wertung“ die theoretische Wertbeziehung, an Stelle der „Stellungnahme“ des erlebenden Subjekts | das kausale „Verstehen“ des deutenden Historikers. In all diesen Fällen tritt die Verwendung von Kategorien der „erlebten“ und „nacherlebten“d Wirklichkeit eben in den Dienst „objektivierender“ Erkenntnis. Das hat methodisch wichtige und interessante Folgen, aber nicht die, welche Münsterberg voraussetzt. Welche? – könnte nur eine, soweit ersichtlich, heute kaum angebahnte Theorie der „Deutung“ geben46). Hier kann nur im Anschluß an das vorstehend Gesagte noch einiges zur Feststel-

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45)  Münsterberg selbst sagt ja gelegentlich, daß wir auch das Tier als stellungnehmendes Subjekt „anerkennen“.22 Man fragt vergebens nach logischen Gründen, welche angesichts dessen die „subjektivierenden“ Disziplinen auf den Menschen beschränken sollten. | 46) Die Arbeiten von Schleiermacher und Boeckh über die „Hermeneutik“ kommen A 137 hier nicht in Betracht, da sie nicht erkenntnistheoretische Ziele verfolgen.23 Die von den Psychologen (Ebbinghaus) scharf abgelehnten Erörterungen Diltheys in den Abhandlungen der Berliner Akademie (1895)24 leiden unter dem Vorurteil, daß bestimmten formalen Kategorien unseres Erkennens auch eigene systematische Wissenschaften entsprechen müßten. (Dazu vgl. Rickert a. a. O. S.  188 Anm.)25 Eine spezielle Auseinandersetzung mit den Gedanken dieses Gelehrten unterbleibt im übrigen in diesem Zu-

d A: nacherlebten“   22  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  8, 98 f., 101, 192, 464 ff. Die Tierpsychologie ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Wegbereiter waren u. a. Christian Jo­sef Fuchs, Andreas Christian Gerlach, Hermann Pütz, Peter Scheitlin. Vgl. auch später Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S.  163 f. 23  Vgl. Schleiermacher, Friedrich, Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. von Friedrich Lücke (ders., Sämmtliche Werke, 1. Abt.: Zur Theologie, Band 2: Friedrich Schleiermacher’s literarischer Nachlaß). – Berlin: G. Reimer 1838; Boeckh, August, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von Ernst Bratuscheck, 2.  Aufl., besorgt von Rudolf Klussmann. – Leipzig: B. G. Teubner 1886. 24  Dilthey, Ideen, erschien bereits 1894; dazu die Kritik von Ebbinghaus, Hermann, Über erklärende und beschreibende Psychologie, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Band 9, 1896, S.  161–205. 25  Für Rickert, Grenzen, S.  188, muß auch der Historiker ein „Kenner des Seelenlebens“ sein und braucht insofern eine „historische Psychologie“; Rickert bezweifelt jedoch die Möglichkeit, diese zu einer „systematischen Wissenschaft“ zu machen.

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lung der Lage und der möglichen Tragweite dieses Problems für uns bemerkt werden. – Die logisch weitaus entwickeltsten Ansätze einer Theorie des „Verstehens“ finden sich in der zweiten Auflage von Simmels „Probleme der Geschichtsphilosophie“ (S.  27–62)47). Die um|fassendste

sammenhang besser, da alsdann für das Verständnis der Münsterbergschen ebenso wie der weiterhin zu besprechenden Gottlschen Ansichten auch Mach und Avenarius herangezogen werden müßten und wir ins Bodenlose gerieten. Zu manchen der folgenden Ausführungen sind jedoch Diltheys Aufsatz in der Festgabe für Sigwart (Zur Entstehung der Hermeneutik),26 seine „Beiträge zum Studium der Individualität“ (Berliner Akademie 1896, XIII)27 und seine „Studien zur Grundlegung der Wissenschaftslehre“ (Berliner Akademie 1905, XIV)28 zu vergleichen; über Diltheys Stellung zur „Soziologie“ vgl. O[thmar] Spann in der Zeitschr[ift] f[ür] Staatswissensch[aft] 1903, S.  193e.29 – Der Vortrag von Elsenhans: „Die Aufgaben einer Psychologie der Deutung als Vorarbeit für die Geisteswissenschaften“, Gießen 1904,30 betrifft nur die psychologische, nicht aber die z. B. wichtigere erkenntnistheoretische Seite des Problems. Auf jene kommen wir später kurz zurück.31 47) In den hier entscheidenden erkenntnistheoretischen Punkten kommt Simmel jetzt (in manchen wichtigen Beziehungen im Gegensatz zu früher vertretenen Ansichten) im wesentlichen völlig mit dem Standpunkt Rickerts (a. a. O.)32 überein. Ich kann nicht finden, daß die Polemik S.  43 unten33 einen Punkt von Belang trifft: auch Simmel wird nicht verkennen können, daß nur die auch von ihm zugegebene Unendlichkeit und absolute Irrationalität jedes konkreten Mannigfaltigen die absolute Sinnlosigkeit des Gedankens einer „Abbildung“ der Wirklichkeit durch irgendeine Art von Wissenschaft wirklich zwingend erkenntnistheoretisch erweist. Daß sie – als eine „negative“ Instanz – nicht als historische Ursache oder überhaupt als Realgrund für die logische Konstitution unseres empirisch gegebenen Wissenschaftsbetriebes gelten kann, diese A 138 vielmehr aus der positiven | Gestaltung unserer Erkenntniszwecke und Erkenntnismit­ tel abzuleiten ist, würde anderseits Rickert nicht bestreiten wollen. – Durchaus zutreffend ist natürlich die Bemerkung (S.  121), daß die Bezeichnung der die historische Begriffsbildung formenden Quellen des historischen Interesses als „Werte“ das Problem nur durch Verweisung auf einen Gattungsbegriff löst.34 Zweifellos ist die Aufgabe der psychologischen Analyse des historischen Interesses damit nur gestellt, nicht gelöst, und die Probleme der Wertinhalte bleiben bestehen. Allein für die Feststellung der lo­ gischen Grundlage der spezifisch historischen Begriffsbildung genügt eben jene Fore A: 192   26  Dilthey, Hermeneutik. 27  Dilthey, Individualität. 28  Dilthey, Grundlegung. 29  Spann, Dilthey, S.  193–222. 30  Gemeint ist: Elsenhans, Deutung. 31  Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  344 ff. 32  Rickert, Grenzen. 33  Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  43, gibt zu bedenken, „daß historische Wissenschaft selbst dann etwas anderes als die Abspiegelung des Wirklichen wäre, wenn die volle Treue derselben technisch erzielbar wäre“. 34  Simmel, ebd., S.  121, spricht von „Wertungen“ und „Allgemeinbegriff“.

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methodologische Verwertung der Kategorie hat, und zwar teilweise unter dem Einfluß der Ausführungen Münsterbergs,35 für die Geschichte und die Nationalökonomie Gottl versucht48), während für die Ästhetik bekanntlich Lipps und B[enedetto] Croce sich eingehender mit ihr beschäftigt haben. mulierung, die ja psychologische und metaphysische Probleme nicht lösen will, vollauf. – Von Simmels Formulierungen könnten m. E. überdies manche (S.  124, 126, 133 Anm.  1) unter logischen Gesichtspunkten Anlaß zu Bedenken geben. Nur ein Punkt, der Simmel mit Münsterberg gemeinsam ist, sei hier herausgehoben. Beide betonen gegenüber Rickerts Theorie von der Bedeutung der Wertbeziehung für die Erkenntnis des Individuellen, daß Wertgefühle keineswegs nur an die „Einzigartigkeit“, sondern auch an die Wiederholung als solche sich knüpfen können.36 Diese psychologische Betrachtung berührt aber jenes logische Problem schon deshalb nicht, weil Rickert für seine These gar nicht genötigt ist zu behaupten, daß nur dasf Einzigartige zu Werten in Beziehung stehe. Es genügt, daß – möge die Rolle der Werte außerhalb des Historischen welche immer sein – jedenfalls eine historische Erkenntnis individueller Zusammenhänge ohne Wertbeziehung nicht sinnvoll möglich ist. 48)  Siehe über ihn die erste Abteilung dieses Aufsatzes (Jahrbuch XXVII, S.   1184, 1192g),37 ferner Eulenburg in der Deutschen Literaturzeitung 1903, Nr.  7.38 Seitdem ist sein auf dem Historikertage 1903 gehaltener Vortrag (Die Grenzen der Geschichte) im Druck erschienen,39 welcher (während Gottl zu seinen Grundansichten durchaus auf eigenen Wegen, nur etwa von Dilthey und Mach, daneben von Wundt, beeinflußt, gelangte) deutlich eine stärkere Beeinflussung durch Münsterberg zeigt. Uns interessiert in Gottls Ausführungen hier nur seine Interpretation der „Deutung“. Bemerkt sei nur nebenher, daß alles dash, was von dem jetzt in Schwung befindlichen konfusen Gerede von der Bedeutung des „Telos“ im Gegensatz zur Kausalität richtig oder auch nur diskussionsfähig ist,40 von Gottl bereits entwickelt war. f A: daß  g A: 1182  h A: Das   35  Vgl. oben, S.  283 mit Anm.  39. 36  Für Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  139, ist es „die spezifische Interessiertheit für die Tatsächlichkeit gewisser ausgewählter Reihen von Ereignissen, Personen, Zuständen, die die Historik begründet“. Für Münsterberg, Psychologie, S.  40, kommt ein „Wert“ im Sinne eines „psychologischen Gefühlsproze[sses]“, der „im objektiven gesetzmäßigen Geschehen durch die Dinge hervorgerufen wird“, dem „wiederholten Vorgange durchaus nicht seltener zu als dem einmaligen“: „Gewiß gibt es Akte, deren Reiz in ihrer Einzigkeit ruht; alles Gute und Edle aber vertieft den Gefühlston durch die Wiederholung sowie auch die Unlust am Niedrigen und Gemeinen bei der Erneuerung wächst.“ 37  Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  45, Fn.  5, S.  57, Fn.  25. 38  Eulenburg, Gottl. 39  Gottl, Grenzen. Vermutlich hat Weber auf diesem Historikertag zumindest einige Vorträge angehört. In der offiziellen Teilnehmerliste der VII. Versammlung Deutscher Historiker zu Heidelberg vom 14. bis 18. April 1903. – Heidelberg: Hörning & Berkenbusch 1903, ist er allerdings nicht aufgeführt. 40  Wahrscheinlich ist Stammler gemeint. Vgl. Stammler, Wirtschaft1. Weber hat diesbezüglich auch Wilhelm Eduard Biermann im Visier. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  355 f., Fn.  32 mit Anm.  22.

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Simmel49) hat zunächst das Verdienst, innerhalb des weitesten Umkreises, den der Begriff des „Verstehens“ – wenn man ihn in | Gegensatz stellt zu dem „Begreifen“50) der nicht der „inneren“ Erfahrung gegebenen Wirklichkeit – umfassen kann, das objektive „Verstehen“ des Sinnes einer Äußerung von der subjektiven „Deutung“ der Motive eines (sprechenden oder handelnden) Menschen klar geschieden zu haben51). Im ersten Fall „verstehen“ wir das Gesprochene, im letzteren den Sprechenden (oder Handelnden). Simmel ist der Meinung, daß die erstere Form des „Verstehens“ nur vorkomme, wo es sich um theoretische Erkenntnis, um ein Darbieten von sachlichem Inhalte in logischer Form handele, die – weil Erkenntnis – einfach in genau identischem Sinn erkennend nachgebildet werden könne.41 Das ist so nicht zutreffend. Um ein Verstehen nur des Gesprochenen handelt es sich z. B. auch bei dem Aufnehmen und Befolgen eines Kommandos, eines Appells an das Gewissen, an Wertgefühle und Werturteile des Hörers überhaupt, welches den Zweck hat, nicht ein theoretisches Deuten, sondern ein unmittelbar „praktisch“ werdendes Fühlen und Handeln zu erzeugen. Gerade das Münsterbergsche „stellungnehmende“, d. h.

49)  Gar nicht eingegangen wird an dieser Stelle auf Simmels in seinen verschiedenen Schriften verstreute Äußerungen über den Gesellschaftsbegriff und die Aufgaben der Soziologie. Vgl. dazu O[thmar] Spann in der Zeitschr[ift] f[ür] Staatsw[issenschaft] 1905 (61) S.  311 ff.42 | 50)  Gottl verwendet beide termini gerade umgekehrt,43 – was gegenüber dem A 139 Sprachgebrauch des Lebens ebenso wie der Forschung (Dilthey, Münsterberg u. a.)44 meines Erachtens ebenso unzweckmäßig ist wie seine Verwendung des Ausdrucks „Formeln“ von Begriffen, die verständliches Handeln erfassen sollen.45 51)  S.  28 a. a. O.46 Dilthey, Festgabe f[ür] Sigwart (S.  109) schränkt den von der „Hermeneutik“ zu behandelnden Vorgang des „Verstehens“ auf die „Interpretation aus äußeren Zeichen“ ein, was nicht einmal für das „Verständnis des Gesprochenen“ (im Sinne Simmels) restlos zutrifft.47 Anderseits ist nach ihm (ebenda S.  187) die „Erhebung der Verständlichkeit des Singulären zur Allgemeingültigkeit“ ein spezifisches Problem der Geisteswissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften, – was zu weit geht. |

41  Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  28. 42  Spann, Gesellschaftsbegriff III, S.  311 ff. 43  Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  181 ff. 44  Vgl. Dilthey, Hermeneutik, S.  187 ff.; Münsterberg, Psychologie, S.  395. 45  Für Gottl, Herrschaft, S.  80, sind Formeln „Begriffe“, die „für unser geistiges Auge in den Alltag hineinleuchten, weil sie unserem eigenen Handeln voranleuchten“; sie sind „Schlüssel“ für das „Verständniss des Alltäglichen“. 46  Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  28. 47  Vgl. Dilthey, Hermeneutik, S.  188.

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wollende und wertende, Subjekt des wirklichen Lebens begnügt sich normalerweise mit dem Verstehen des Gesprochenen (korrekter ausgedrückt: des „Geäußerten“) und ist zu einer „Deutung“ in dem Sinn, wie sie die „subjektivierenden“ Wissenschaften Münsterbergs betreiben sollen, weder geneigt noch – in den meisten Fällen – fähig: die „Deutung“ ist eine durchaus sekundäre, in der künstlichen Welt der Wissenschaft heimische Kategorie. Auf dem Boden des „stellungnehmenden“ wirklichen Lebens hält sich da­gegen auch das „Verstehen des Gesprochenen“ in jenem Sinn, den Simmel im Auge hat. Hier handelt es sich bei dem „Verstehen“ um ein Stellungnehmen zu dem „objektiven“ Sinn eines Urteils. Die „verstandene“ Äußerung kann jede mögliche logische Form, auch | natürlich die einer Frage haben, – stets ist das, worum es sich handelt, ihre Beziehung zur Geltung von Urteilen, eventuell eines einfachen Existenzialurteils, zu dem der „Verstehende“ bejahend, verneinend, zweifelnd, urteilsfällend „Stellung“ nimmt. Simmel drückt das in seiner psychologistischen Formulierungsweise so aus, daß „durch das gesprochene Wort die Seelenvorgänge des Sprechenden . . . auch im Hörer erregt werden“, der erstere als dabei „ausgeschaltet“ und nur der Inhalt des Gesprochenen in dem Denken des letzteren, parallel zu demjenigen des ersteren, fortbestehen bliebe.48 Ich zweifele, ob durch diese psychologische Beschreibung der logische Charakter dieser Art des „Verstehens“ hinlänglich scharf zu Tage tritt: irrig wäre m. E. – wie schon gezeigt49 – jedenfalls, daß der Vorgang dieses „Verstehens“ nur bei „objektiver Erkenntnis“ stattfände. Das Entscheidende ist, daß es sich in diesen Fällen von „Verstehen“: – eines Kommandos, einer Frage, einer Behauptung, eines Appells an Mitgefühl, Vaterlandsliebe oder dergleichen, – um einen Vorgang innerhalb der Sphäre der „stellungnehmenden Aktualität“ handelt, um in der hier durchaus brauchbaren Münsterbergschen Terminologie zu reden.50 Mit diesem „aktuellen“ Verstehen haben wir es bei unserer „Deutung“ nicht zu tun. Diese letztere würde in solchen Fällen erst in Funktion treten, wenn z. B. der „Sinn“ einer Äußerung, einerlei welchen Inhalts,

48  Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  27 f. 49  Oben, S.  291 f. 50  Münsterberg, Psychologie, S.  24 ff., 50.

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nicht unmittelbar „verstanden“ ist, und eine aktuelle „Verständigung“ darüber mit dem Urheber nicht möglich, ein „Verstehen“ aber unbedingt praktisch nötig wäre: ein mehrdeutig abgefaßter schriftlicher Kommandobefehl z. B. – um auf dem Boden der „aktuellen“ Lebenswirklichkeit zu bleiben – nötigt den Empfänger, etwa einen patrouillenführenden Offizier, zur „Deutung“ desselben die „Zwecke“, d. h. aber: die Motive des Befehls zu erwägen, um danach handeln zu können52). Die kausale Frage: wie ist der Befehl „psychologisch“ entstanden, wird dabei also zu dem Zweck aufgeworfen, die „noëtische Frage“51 nach seinem „Sinn“ zu lösen. Hier tritt die theoretische „Deutung“ des persönlichen Handelns und eventuell der „Persönlichkeit“ (des Befehlendeni) in den Dienst des aktuell praktischen Zweckes. Wo sie in den Dienst der empirischen Wissenschaft tritt, | da haben wir sie in der Gestalt, in welcher sie uns hier beschäftigt. Sie ist, wie gerade diese Auseinandersetzungen wieder zeigen: durchaus im Gegensatz zu Münsterbergs Aufstellungen, eine Form kau­ salen Erkennens, und es sind uns bisher noch keinerlei, im Sinne Münsterbergs, grundsätzliche Unterschiede gegenüber den Formen der „objektivierenden“ Erkenntnis begegnet, – denn, daß das „Gedeutete“ in ein „Subjekt“, d. h. aber hier: in ein psychophysisches Individuum, als dessen Vorstellung, Gefühl, Wollen „introjiziert“ wird, bedingt einen solchen Unterschied gerade nach Münsterbergs Ansicht ja nicht53). Für die weitere Erörterung des Wesens der „Deutung“ knüpfen wir nun zweckmäßigerweise zunächst an die Ansichten von Gottl an. Denn wir können seine Ausführungen bequem als Anknüpfungspunkt benutzen, um uns klar zu machen, worin die erkenntnistheoretische Bedeutung der „Deutbarkeit“

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52) Simmel exemplifiziert auf Äußerungen, die durch „Voreingenommenheit, Ärger, Spottlust“ usw. hervorgerufen seien.52 Allein das Entscheidende ist: ob auf diese Moti­ ve der Äußerung aus irgendeinem Grunde erkennend – wenn auch ev. zu praktischen Zwecken – reflektiert wird. Dann erst tritt das, was wir hier „Deutung“ nennen, in Funktion. | 53) Daß gleichwohl noch andere Elemente in dieser Kategorie stecken können, wird A 141 uns später beschäftigen.53

i A: befehlenden   51  Vgl. oben, S.  287 mit Anm.  52. 52  Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  28. 53  Möglicherweise Bezug auf unten, S.  323 f.

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nicht besteht54). Da|durch wird es möglich, auch zu einigen noch unerledigten wichtigen Thesen Münsterbergs, auf dem Gottl (in 54) Eine in irgendeinem Sinne erschöpfende Auseinandersetzung mit Gottl kann hier nicht geliefert werden. Seine in hohem Maße geistvolle bisherige Hauptleistung: „Die Herrschaft des Wortes“ ist infolge der gewählten Form platt zu Boden gefallen, obwohl ich mich bei nochmaligem Lesen wiederum überzeugt habe, wie viele vortreffliche Bemerkungen sie enthält. Ich sehe u. a., daß die Kritik, die ich an anderer Stelle an der Vorstellung von dem „systematischen“ Charakter der Nationalökonomie übte,54 in den Ausführungen Gottls S.  147 u. 149 in nuce schon enthalten ist.55 Doch in unserem Zusammenhang ist zur „positiven“ Kritik leider kein Raum, ich verspare sie mir für eine andere Gelegenheit.56 Hier seien vielmehr kurz die Punkte angedeutet, wo er mir logisch zu irren scheint:   1. Um die Kluft zwischen Naturerkenntnis und Erkenntnis des Handelns – so muß man den Gegensatz der Objekte bei ihm wohl formulieren – zu einerj „ontologischen“ zu deuten, wie er es tut, muß Gottl die bereits wissenschaftlich bearbeitete Welt der Naturwissenschaft (besonders deutlich „Herrschaft des Wortes“ S.  149 unten) dem logisch noch unbearbeiteten inneren „Erlebnis“ gegenüberstellen.57 Denn die wirklich in der „erlebten“ Wirklichkeit gegebene „äußere“ Welt weist jenes „knatternde bloße Nach- und Neben-Einander“58 Gottls ganz und gar nicht auf. Gerade Mach, der ihn stark beeinflußt hat, steht nicht nur, wie bekannt, prinzipiell darin anders, sondern hat gelegentlich geradezu gemeint: wenn man von dem Erdbeben von Lissabon die volle anschauliche Kenntnis des in den Sinnen gegebenen Hergangs hätte und die potentiell den Sinnen zugänglichen, von der Wissenschaft zu ermittelnden subterrestrischen Vorgänge in gleicher Anschaulichkeit kenne, so sei es weder nötig noch prinzipiell möglich, mehr zu wissen.59 Auf dem Boden der „rei-

j A: einem   54  Möglicherweise ist Webers Kritik an Roschers „System der Volkswirthschaft“ gemeint. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  37–101. 55  Für Gottl, Herrschaft, S.  147, 149, hat eine „systematische“ Wissenschaft in dem „Allgemeinen“ ihren Kern: „In den ‚systematischen‘ Naturwissenschaften beziehen sich die Artbegriffe auf die Gegenstände des zerfällenden Denkens, in der schildernden Wissenschaft auf die Gegenstände des unzerfällenden Denkens.“ 56  Bezug nicht nachweisbar. 57  Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  77 f., 149 f. 58  Vgl. ebd., S.  79: „Auch jene Flut des Geschehens, das Alltägliche, fällt uns nicht als ein knatterndes Nacheinander zu, in das wir erst hinterher Zusammenhang denken. Wir erleben auch dieses flutende Geschehen in lauter Zusammenhängen, durchschauen es von Haus aus als ein unablässig Auseinander, Wegeneinander, Miteinander.“ 59  Möglicherweise referiert Weber auf die dritte Auflage von Ernst Machs Studie zur Analyse der Empfindungen. Vgl. Mach, Analyse, S.  144 f.: „Wir sind über irgend einen Naturvorgang, z. B. ein Erdbeben, so vollständig als möglich unterrichtet, wenn unsere Gedanken uns die Gesammtheit der zusammengehörigen sinnlichen Thatsachen so vorführen, dass sie fast als ein Ersatz derselben angesehen werden können […]. Wenn […] uns auch noch die unterirdischen Vorgänge […] sinnlich so vor Augen stehen, dass wir das Erdbeben herankommen sehen wie einen fernen Wagen, bis wir endlich die Erschütterung unter den Füssen fühlen, so können wir mehr Einsicht nicht

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seiner zweiten Schrift) fußt,60 | Stellung zu nehmen und zugleich

nen“,61 stets individuellen Wirklichkeit ist es in der Tat so. Erst die generalisierende Bearbeitung schafft jenes abstrakte System von Gesetzen und von Objekten, an denen A 142 sich jene vollziehen, welches nichts Anschauliches mehr hat und daher dem an|schaulich erfaßten Handeln natürlich logisch nicht gleichwertig ist. Der Glaube Gottls aber, daß wir – im Gegensatze zur „Natur“ – das „erlebte“ Geschehen auch so zu denken vermöchten, wie es „erlebt“ werde,62 ist logisch unrichtig. Das trifft, in gewissem Sinne, nur bei der objektivierten und isoliert betrachteten streng teleologisch rationalen Erwägung zu, die eben selbst „Gedanke“ ist. Im übrigen aber ist, auch auf dem Gebiet des Persönlichen, ein „Begriff“ unter allen Umständen etwas anderes: ein, sei es durch generalisierende Abstraktion, sei es durch Isolierung und Synthese hergestelltes Gedankengebilde,63 als das „Erlebnis“, auf welches er sich bezieht. Nicht erst von den „zuständlichen Gebilden“64 – wie Gottl annimmt, sondern ganz ebenso von dem einzelnen „inneren“ Vorgang gilt dies. Sein Irrtum hängt damit zusammen, daß   2. Gottls Vorstellungen über die Prinzipien der wissenschaftlichen Stoffauslese m. E. unklar sind. Er glaubt (S.  128, 131 a. a. O.),65 es gebe objektiv „dichtere“ Zusammenhänge in der Wirklichkeit des Geschehens, welche als solche „erlebt“ würden, so daß also die „Auffassung“ des Stoffs diesem selbst (dem Erlebten: Mit- und Nach-Erlebten) entnommen werde. Tatsächlich handelt es sich aber doch überall um eine gedankliche Auslese des mit bezug auf „Werte“ Bedeutsamen und danach entscheidet sich z. B. auch, was eine „Haupt- und Staatsaktion“ und wer ein „ungekrönter König“ ist.66

verlangen.“ Mach bezieht sich allerdings nicht auf das Erdbeben von Lissabon. Als Sekretär der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien ist ihm von 1897 bis 1898 die Österreichische Erdbebenkommission unterstellt gewesen, die man am 25. April 1895 nach dem Erdbeben von Ljubljana vom 14. April 1895 gegründet hatte. Auf das Erdbeben, das Lissabon am 1. November 1755 zerstört hatte, bezieht sich hingegen Rickert, Grenzen, S.  414. 60  Gottl, Grenzen. 61  Möglicherweise referiert Weber auf Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  49 f.: „Ich habe hier die Form, die ein Stoff annehmen muß, um wissenschaftliche Geschichte zu sein, der unmittelbar gelebten Wirklichkeit, die eben dieser Stoff sei, gegenübergestellt. Nun aber wäre möglich, auch diese als eine Form anzusehn, in die ein Geschehensinhalt sich kleidet. Vielleicht nun kann dieser letztere für sich niemals in ein Bewußtsein eingehen, sondern liegt für dieses im Unendlichen, so daß die Formen, durch und in die wir ihn fassen, sich ihm nur in mannigfaltigen Abständen nähern. Diese reine Wirklichkeit wäre etwa dem reinen Inhalt unserer Begriffe zu vergleichen, den wir uns auch als etwas Ideelles denken, jenseits seiner psychologischen wie seiner äußeren Realisierung in logischer Gültigkeit bestehend“. 62  Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  108: „Wir erleben stets nur das Handeln selber in seiner Einheit; das heisst, die Handlungen in jenen Zusammenhängen, aus denen sich der ‚rote Faden‘ spinnt. Weil dieser jedoch unstreitig da ist, steht unser Denken mit unse­ rem Erleben im Einklang, wo immer ein Zuständliches Gebilde erfasst wird.“ 63  Zu Abstraktion, Isolierung und Synthese vgl. die Einleitung, oben, S.  16 f. 64 Für Gottl, Herrschaft, S.  108, ist ein „Zuständliches Gebilde […] für sich selber nichts, was wir erlebten; es ist eine durch unser Denken bewirkte […] denkende Um­ formung von Erlebtem“. 65  Ebd., S.  128, 131. 66  Vgl. ebd., S.  93 f.

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Simmels Formulierungen entweder zu verwerten oder unter   3. Ähnlich zu beurteilen ist seine damit korrespondierende Vorstellung, daß das Objekt der „schildernden Wissenschaft“ vom Handeln, die bei ihm das generalisierende Seitenstück zur historischen Erkenntnis desselben bildet, einfach mit der „Ungeschichte“, dem „Alltag“, ohne Stoffauslese zu identifizieren sei (S.  133 ff., 139 f., 171 ff.), und daß eine Sonderung bestimmter „Seiten“ innerhalb dieses Inbegriffes kein logisches oder auch nur methodisches Prinzip, sondern allenfalls zu Lehrzwecken zulässig, im übrigen aber „Willkür“ oder bloße „Bequemlichkeit“ sei. Allein es ist nicht richtig, – und Gottl würde bei dem (aussichtslosen) Versuch einer genauen Verbuchung aller Alltagserlebnisse in allen ihren Bestandteilen auch nur eines einzigen seiner eigenen Tage sich davon leicht überzeugen –, daß in eine wissenschaftliche Behandlung, möge sie auch noch so umfassend gestaltet sein, schlechthin alles Tun, welcher Art immer, eingehe. Eine noch so weit ausgreifende Darstellung des „Kultur­inhaltes“ eines Zeitalters ist stets eine Beleuchtung seines „Erlebens“ unter einer Mehrzahl qualitativ verschiedener „Gesichtspunkte“,67 welche ihrerseits an Werten orientiert sind,68 und als Objekte wissenschaftlicher Betrachtung werden auch diejenigen „Alltagserlebnisse“, welche überhaupt zu Gegenständen „kulturwissenschaftlicher“ Betrachtung werden, in gedanklich gegliederte konkrete Zusammenhänge gefügt und dann unter den mannigfaltigsten, teilweise disparaten „Gesichtspunkten“ Objekte „historischer“ oder „nomo­ thetischer“k Begriffsbildung.69   4. Der Kern der Irrtümer Gottls gruppiert sich m. E. um die, allem Psychologismus so naheliegende, Verwechselung des psychologischen Hergangs bei der Entstehung sachlicher Erkenntnis mit dem logischen Wesen der Begriffe, in denen sie geformt wird. Zugegeben einmal, daß wir in weitem Umfang zu unserer Erkenntnis der Zusammenhänge des „Handelns“ auf psychologisch | eigenartigem Wege gelangen, so wäre damit A 143 noch nicht das Geringste darüber ausgemacht, daß der logische Charakter der Begriffe, die man heuristisch sowohl wie als Mittel der Formulierung verwendet, prinzipiell von denen anderer Wissenschaften abweiche. „Elefant“ und „Freund“ könne man doch nicht gleichartig definieren, meint Gottl.70 Natürlich nicht, weil der eine ein Ding­ begriff ist, der andere einen Relationsbegriff in sich schließt.71 „Elefant“ und „kom­ munizierende Röhre“72 z. B. kann man aus diesem Grunde auch nicht in gleicher Art

k A: „monothetischer“   67  Für Gottl, ebd., S.  136, „entspringen“ die Gesichtspunkte „aus dem Stoffe selber“. 68  Für Rickert, Grenzen, S.  627, sind „Werthe die leitenden Gesichtspunkte der historischen Begriffsbildung“. Ebd., S.  356 (und passim), spricht Rickert auch von „Werthgesichtspunkten“. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  189 mit Anm.  53. 69  Zur Unterscheidung von „idiographisch“ und „nomothetisch“ vgl. Windelband, Geschichte, S.  12. Zur daran anschließenden Unterscheidung von historischen Wissenschaften, die das Besondere im Sinne historischer Individuen erforschen, und Naturwissenschaften, die allgemeine Begriffe im Sinne von Gesetzen formulieren, vgl. Rickert, Grenzen, S.  302 f. 70  Gottl, Herrschaft, S.  149, 151. 71 Zur Unterscheidung von Ding- und Relationsbegriffen vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  47 mit Anm.  32. 72  Kommunizierende Röhren sind miteinander verbundene offene Gefäße, die Flüssigkeit austauschen, bis die Flüssigkeit in allen den gleichen Pegelstand erreicht. 1647 hat Blaise Pascal ein entsprechendes Gesetz formuliert. Sigwart, Logik II (wie

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Angabe der Gründe abzulehnen55). Dabei soll, soweit dies in unseren Zusammenhang gehört, auch eine kurze Auseinandersetzung mit den Ansichten von Lipps und Croce versucht werden. Nach Gottl ist das „historische“ Erkennen seinem Wesen nach im Gegensatz zur „Erfahrung“ der Naturwissenschaften 1. Erschließung des zu Erkennenden.73 Das heißt: es setzt mit einem Akt – wie wir sagen würden – deutenden Durchschauens des Sinnes menschlicher Handlungen ein, und schreitet fort, indem immer neue deutend erfaßte Bestandteile des Zusammenhanges der historischen Wirklichkeit angegliedert, immer neue einer „Deutung“ zugängliche „Quellen“ auf den Sinn jenes Handelns hin, dessen Spuren sie sind, erschlossen und so ein stets umfassenderer Zusammenhang sinnvollen Handelns gebildet wird, dessen Einzelbestandteile sich gegenseitig stützen, weil der gesamte Zusammenhang für uns „von innen heraus“ durchsichtig bleibt.74 definieren. Dagegen ist die logische Form der Definition irgendeines spezifisch „sozialpsychologischen“ von der irgendeines chemischen Relationsbegriffs nicht verschieden, so gänzlich disparat der Inhalt ist. Mit einigen Konsequenzen von Gottls dem Ausgangspunkt nach m. E. verfehlter Logik werden wir es im Text zu tun haben: Daß in der Welt des Handelns der Begriff vor dem Begriffenen da sei,75 ist eine ebenso schiefe Formulierung, wie die Behauptung, daß die „gemeine Erfahrung“, der „Mutterwitz“, für die Nationalökonomie unbedingt ausreiche.76 Ersteres ist nicht nur in der „Welt des Handelns“ so, letzteres kann nur besagen wollen: daß die verständliche Deutung der ökonomischen Erscheinungen Ziel der Nationalökonomie ist. Denn eine logische Bearbeitung der „gemeinen Erfahrung“, und zwar mit ganz entsprechenden Mitteln wie in der Naturwissenschaft, findet auch hier statt. 55)  Eine systematische Kritik von Simmels Standpunkt ist hier nicht beabsichtigt. Auf manche seiner, wie immer, sachlich feinen und künstlerisch geformten Thesen komme ich demnächst wohl im Jaffé-Braunschen Archiv zurück.77 Siehe zur logischen Kritik des zweiten Kapitels seines Buches (Gesetze der Geschichte)78 jetzt O[thmar] Spann in der Zeitschr[ift] f[ür] Staatsw[issenschaft] 1905, S.  302 f.79 | oben, S.  5, Anm.  31), S.  506, bringt in seiner Diskussion empirischer Gesetze u. a. die „communicierenden Röhren“ als Beispiel. 73  Vgl. Gottl, Grenzen, S.  38 ff. 74  Für Gottl, ebd., S.  54, ist es möglich, „das historische Geschehen […] aus seinen inneren Zusammenhängen zu begreifen“. 75  Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  149. 76  Vgl. ebd., S.  81, 87 f. 77  Im „Archiv“ ist diesbezüglich nichts erschienen. Gemeint ist möglicherweise das vermutlich 1908 entstandene Fragment: Weber, Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft, MWG I/12, S.  95–110. 78 Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  67 ff. Die Kapitelüberschrift lautet: „Von den historischen Gesetzen“. 79  Vgl. Spann, Gesellschaftsbegriff III, S.  302 ff., bes. S.  309 f.

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Dieses „Erschließen“ ist nach Gottl dem Erkennen menschlichen Handelns eigentümlich und scheidet es von aller Naturwissenschaft, als welche stets nur im Wege von Analogie|schlüssen die Annäherung an ein möglichstes Maximum der Wahrscheinlichkeit – durch immer wiederkehrende Bewährung der hypothetischen „Gesetze“ – erstreben könne.80 Hier ist zunächst der psychologische Hergang des Erkennens mit seinem erkenntnistheoretischen Sinn, das Ziel des Erkennens mit seiner Methode, Formen der Darstellung mit Mitteln der Forschung identifiziert, dann aber auch für den tatsächlichen Verlauf des Erkennens ein Unterschied behauptet, der in dieser Art gar nicht besteht. Es ist schon rein faktisch nicht generell richtig, daß die Gewinnung historischer Erkenntnis mit der „Deutung“ einsetzt. Die Rolle ferner, welche unsere „historische“, oder allgemeiner: deutende Phantasie in der „Erschließung“ geschichtlicher Hergänge spielt, fällt auf dem Gebiet des physikalischen Erkennens z. B. etwa der „mathematischen Phantasie“81 zu, und die Erprobung der so gewonnenen Hypothesen – denn darum handelt es sich hier und dort – ist ein, logisch betrachtet, keineswegs prinzipiell verschiedener Vorgang. Ranke „erriet“82 die geschichtlichen Zusammenhänge ganz ebenso[,] wie Bunsens „Experimentierkunst“ an ihm als die spezifische Grundlage seiner Erfolge bewundert zu werden pflegt.83 Besteht hier also ein Unterschied, so ist er jedenfalls mit der Funktion der „Erschließung“, auf

80  Zur Analogiebildung der Naturwissenschaften vgl. ebd., S.  50 f. 81  Möglicherweise bezieht sich Weber auf Cantor, Moritz, Phantasie und Mathematik, in: Deutsche Revue, Band 28, 1903, S.  362–365. Referenzperson für mathematische Phantasie war für Weber Karl Weierstraß; vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf, MWG I/17, S.  83. 82  Vgl. den Begriff „errathen“ in Ranke, Leopold, Ueber die Zeiten Ferdinands I. und Maximilians II., in: Historisch-politische Zeitschrift, Band 1, 1832, S.  223–339, hier S.  263. Vgl. auch ders., Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Band 5. – Berlin: Duncker & Humblot 1843, S.  472, sowie bereits Humboldt, Geschichtschreiber, S.  305, und Gervinus, Historik, S.  368, 377, 395. 83  Robert Wilhelm Bunsen hielt in den 1870er und 1880er Jahren an der Universität Heidelberg regelmäßig Vorlesungen über „Experimentalchemie“. Für seine „große Geschicklichkeit“ bei der Durchführung von Experimenten war er berühmt. Vgl. Debus, Heinrich, [Art.] Bunsen, Robert Wilhelm, in: Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 47, 1903, S.  369–376, hier S.  370. Den Begriff der „Experimentierkunst“ hat Weber möglicherweise von Gerlach, Ernst und Traumüller, Friedrich, Geschichte der Physikalischen Experimentierkunst. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1899.

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die Gottl immer wieder zurückkommt, nicht charakterisiert. – Gottl spezialisiert nun seine Behauptung näher dahin, daß 2. jene „Erschließung“ historischen Geschehens eine solche „vom Boden der Denkgesetze“ aus sei, worauf es beruhe, daß für die Geschichte als Bestandteil des von ihr zu schildernden Geschehens nur in Betracht komme, was „durch logische Denkgesetze erfaßbar“ sei,84 alles andere aber – so etwa historisch relevante Naturereignisse, wie der Einbruch des Zuyder Sees oder des Dollart usw. – als bloße „Verschiebung“ der „Bedingungen“ des sie allein interessierenden menschlichen Handelns.85 Hier ist die Verwendung des vieldeutigen Gegensatzes von „Ursache“ und „Bedingung“ – auf dessen Sinn hier nicht im einzelnen einzugehen ist – in diesem Zusammenhang zu beanstanden. Wer eine „Geschichte“ der Syphilis schreibt86 – d. h. die kulturgeschichtlichen Wandlungen verfolgt, welche ihr Auftreten und ihre Verbreitung ursächlich beeinflußt haben, um dann anderseits die durch sie hervorgerufenen oder doch mitbedingten kulturhistorischen Erscheinungen von ihr aus ursächlich zu erklären – der wird im allgemeinen die Krankheits-Erreger als „Ursache“, die kulturhistorischen Situationen als wandelbare „Bedingungen“ einerseits, „Folgen“ | anderseits, zu behandeln haben. Gleichwohl wird, soweit seine Arbeit ein Beitrag zur Kulturgeschichte, und nicht eine Vorarbeit für eine klinische Theorie zu sein beabsichtigt, dasjenige Moment bestehen bleiben, welches als berechtigter Kern der irrig formulierten Gottlschen Darlegungen übrig bleibt: das wissenschaftliche Interesse ist in letzter Instanz in denjenigen Bestandteilen des historischen Ablaufs verankert, welche verständlich deutba­ res menschliches Sich-Verhalten in sich schließen, auf die Rolle, welche jenes für uns „sinnvolle“ Tun in seiner Verflechtung mit 84  Vgl. Gottl, Grenzen, S.  56: „Bei der historischen Interpretation handelt es sich um ein Geschehen, das wir vom Boden der logischen Denkgesetze aus als ein Geflechte vernünftigen Tuns erschließen, so daß wir es aus seinen inneren Zusammenhängen begreifen.“ Vgl. ebd., S.  37, 49. 85 Vgl. ebd., S.  103, zum „Wandel der Umwelt“ als „chronische Verschiebung der Bedingungen, unter denen gehandelt wird“. Vgl. ebd., S.  58, zum Zuyder See; der Dollart wird nicht genannt. 86 Gemeint sind möglicherweise Proksch, Karl Johann, Die Geschichte über die venerischen Krankheiten, 2 Bände. – Bonn: Peter Hanstein 1895; Bloch, Iwan, Der Ursprung der Syphilis. Eine medizinische und kulturgeschichtliche Untersuchung, 1. Abt. – Jena: Gustav Fischer 1901.

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dem Walten „sinnloser“ Naturmächte gespielt[,] und auf die Beeinflussungen, welche es von dorther erfahren hat. Insofern also, als die Geschichte die „Naturvorgänge“ stets auf menschliche Kulturwerte bezieht, daher stets ihr Einfluß auf menschliches Handeln die Gesichtspunkte der Untersuchung – wenn sie eben eine historische sein will – bestimmt, aber auch nur insofern, ist Gottls Ansicht begründet. Es ist auch hier wieder nur jene schon früher erörterte,87 spezifische Wendung unseres wertbedingten Interesses, welche in Verbindung mit sinnvoller Deutbarkeit auftritt, was Gottl vorschwebt. – Ein sehr entschiedener Mißgriff aber ist es natürlich, wenn von Erschließbarkeit des historischen Geschehens auf dem Boden der „logischen Denkgesetze“ gesprochen wird, wo doch nur dessen Zugänglichkeit für unser nacherlebendes Verstehen – eben seine „Deutbarkeit“ – gemeint ist. Ganz irrelevant ist sachlich diese Terminologie keineswegs, denn nicht nur spricht Gottl infolge dessen an anderer Stelle da, wo es heißen sollte: „verständliches Handeln“, von „vernünftigem Geschehen“88 – was offenbar etwas ganz und gar anderes, durch ein Werturteil Qualifiziertes besagt –[,] sondern jene Gleichsetzung von dem, was wir „deutend“ zu verstehen vermögen, mit logisch erschließbarem Tun, wie sie in Gottls hier stark schillernder Terminologie liegt, spielt auch in der Praxis der Kulturwissenschaften, und zwar auch der Historiographie, noch heute zuweilen ihre Rolle, und kann dann zu einem Prinzip rationaler Konstruktion historischer Vorgänge führen, welches der Wirklichkeit Gewalt antut56). Die „Erschließung“ | eines Sinnes einer Handlung aus der gegebenen Situation, unter Voraussetzung des rationalen Charakters ihrer Motivierung, ist stets lediglich eine zum Zweck der „Deutung“ vorgenommene Hypothese, die prinzi-

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56) Siehe die ungemein feinsinnige Kritik, welche Meinecke an dem Versuch, das Ver- A 145 halten Friedrich Wilhelms IV. wesentlich aus rationalen Gesichtspunkten zu erklären, in der Histor[ischen] Zeitschr[ift] 1902 geübt hat.89 (Ob sachlich im vorliegenden Fall sein Gegner – Rachfahl – mit seiner Interpretation90 vielleicht im Rechte ist, entzieht

87  Oben, S.  256. 88  Vgl. Gottl, Grenzen, S.  74: „Rein nur als Repräsentant des logisch zusammenhän­ genden, des ‚vernünftigen‘ Geschehens ist der Mensch unzertrennlich von der Ge­ schichte; sagen wir, als Vernunftwesen pur et simple, als bloßer Knotenpunkt – ‚Subjekt‘ – des vernünftigen, vom Boden der Denkgesetze aus erfaßlichen Geschehens.“ 89  Meinecke, Friedrich Wilhelm IV. 90 Vgl. Rachfahl, Felix, Deutschland, König Friedrich Wilhelm IV. und die Berliner Märzrevolution. – Halle a. S.: Max Niemeyer 1901.

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piell immer der empirischen Verifizierung bedarf, mag sie in Tausenden von Fällen noch so sicher erscheinen, und die dieser Verifizierung auch zugänglich ist. Denn wir „verstehen“ nun einmal das irrationale Walten der maßlosesten „Affekte“ genau so gut wie den Ablauf rationaler „Erwägungen“, und das Handeln und Fühlen des Verbrechers und des Genius – obwohl wir uns bewußt sind, es nie selbst haben erleben zu können – vermögen wir im Prinzip wie das Tun des „Normalmenschen“91 nachzuerleben, wenn es uns adäquat „gedeutet“ wird57). Nur dies: die „Deutbar|keit“ menschlichen

sich meinem Urteil und ist hier gleichgültig. Uns interessiert nur die Kritik des Erklärungsprinzips, nicht des in concreto ja möglicherweise dennoch richtigen sachlichen Ergebnisses.) | 57) Diesen Punkt – daß man „kein Caesar zu sein braucht, um Caesar zu verstehen“ A 146 – hat Simmel (S.  57) speziell erörtert.92 Merkwürdigerweise gestaltet sich ihm die Frage nach der Möglichkeit des Hinauswachsens unseres denkenden Verstehens über den Umkreis des Selbsterlebten hinaus zu einem psychogenetischen, statt zu einem Problem der Genese der einzelnen konkreten Erkenntnis, und er glaubt zur Lösung des ersteren zu einer Art biologischer Umformung des platonischen lAnamnesis-Gedankensl 93 greifen zu müssen, welche nur dann auch nur als Hypothese zulässig wäre, wenn jeder Mensch gerade einen Caesar mit dessen individuellen „Erlebungen“ unter seinen Vorfahren zählte, welch letztere dann in irgendeiner Weise vererbt worden wären. Allein wenn hier eine nur durch solche Mittel zu lösende Schwierigkeit vorliegt, dann weist ja jede Vermehrung der eigenen Erlebnisse, jeder eigen- oder einzigartige Zug jedes einzelnen individuellen inneren Vorganges bei jedem Individuum hinsichtlich seiner Möglichkeit ganz das gleiche Problem auf. Daß eine Konstellation der nach Qualität und Intensität äußerst variablen, durch unzählbare Komplikationen und Relationen untereinander und zu der stets individuell gearteten Wirksamkeitssphäre in ihrem Sinn in schlechthin unendlichen Kombinationen auftretenden psychischen „Elemente“94 – was immer wir unter diesem letzten Ausdruck verstehen95 – für uns etwas l–l A: Anamnesis-Gedenkens   91  Sigwart, Logik II (wie oben, S.  5, Anm.  31), S.  628, spricht vom „Normalmenschen“, der „nicht bloss vom Princip des wirthschaftlichen Egoismus allein erfüllt“ ist. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  58, spricht von „den Alltagsmenschen“ im Unterschied zu „den Genies“. 92  Simmel, ebd., S.  57. 93  Simmel, ebd., S.  58 f., begreift „dieses Verständnis über alles Selbsterlebte hinaus als das Bewußtwerden latenter Vererbungen“: „Wie […] unser Körper die Errungenschaften vieltausendjähriger Entwicklung in sich schließt […] so enthält unser Geist die Resultate und die Spuren vergangener psychischer Prozesse von den verschiedenen Stufen der Gattungsentwicklung her“. 94  Simmel, ebd., S.  33, spricht von einem qualitativ einzigartigen „Gebilde“ als dem „Kristallisationspunkt, an dem die einzelnen psychischen Elemente zusammenschießen und so, durch überzeugend nachgefühlte Kräfte untereinander verbunden, die Einheit einer Persönlichkeit ergeben“. 95  Für Menger, Untersuchungen, S.  41, 45, sucht die exakte Richtung der theoretischen Nationalökonomie die „einfachsten Elemente alles Realen“ zu ergründen, wozu

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Handelns als Voraussetzung der Entstehung des spezifisch „historischen“ Interesses besagt denn auch das von Ranke96 ebensowohl Einzigartiges und in dieser Einzigartigkeit von uns als „Genius“ Gewertetes, dennoch aber keine schlechthin unbekannten „Elemente“ in sich Enthaltendes darstellt, erscheint an sich keineswegs besonders schwer erklärlich, nicht schwerer jedenfalls, als daß jeder von uns sich stetig zum eigenen inneren „Erleben“ von etwas qualitativ „Neuem“ fähig zeigt. Die feine Beobachtung Simmels (a. a. O. S.  61), daß „scharf umrissene“, höchstgradig „individuelle“ Persönlichkeiten tiefer und unzweideutiger „verstanden“ zu werden pflegen – oder wir wenigstens im konkreten Fall glauben, es sei so – hängt mit der Struktur des historischen Erkennens zusammen: die „Einzigartigkeit“ ist hier dasjenige, welches die Beziehung zum Wert herstellt und das spezifische Interes­ se am „Verstehen“ des durch seine Eigenart Bedeutsamen auf sich zieht, welches mit jeder Annäherung zum „Durchschnitt“ notwendig sinkt.97 Auch die Herstellung jener „Einheit“98 des historischen Individuums, auf welche Simmel zurückgreift, erfolgt ja durch Wertbeziehung, und es erklärt sich daraus auch dasjenige, was von den Ausführungen Simmels (S.  51 f.) über die Bedeutung einer ausgeprägten Indi|vidualität des A 147 Historikers für das Gelingen seiner „Deutungen“ als unbedingt richtig zuzugestehen ist.99 (Wieviel dies ist, soll hier nicht untersucht werden. Der Begriff „ausgeprägte Individualität“ ist ziemlich unbestimmt. Man würde doch wohl etwa an Ranke als Beispiel anknüpfen müssen und dann mit dieser Kategorie in arge Verlegenheit geraten.)1 Die Verankerung des ganzen Sinns einer Erkenntnis des Individuellen an Wertideen manifestiert sich eben auch in der „schöpferischen“ Kraft, welche eigene starke Werturteile des Historikers bei der Entbindung historischer Erkenntnis entwickeln können. Wie die teleologische „Deutung“ in den Dienst der biologischen Erkenntnis – und in

er neben den von der Natur dargebotenen „Güter[n]“ die menschlichen „Bedürfnisse“ und das „Streben“ nach ihrer Befriedigung zählt. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  199 mit Anm.  94. 96  Eine Formulierung zur „natürlichen Gleichheit aller Menschen“ findet sich in Ranke, Leopold von, Weltgeschichte. Fünfter Theil: Die arabische Weltherrschaft und das Reich Karls des Großen. Erste Abtheilung, 1. bis 3.  Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1884, S.  10. 97  Für Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  61, „gelingt die innere Nachbildung scharf umrissener Individualitäten relativ leicht. Themistokles und Cäsar, Augustin und Kaiser Friedrich II. glauben wir tiefer und unzweideutiger zu verstehen als einen typischen Athener des fünften Jahrhunderts oder den Durchschnittsitaliener vor der Renaissance. Das völlig Individuelle nämlich, obgleich historisch nur je ein einziges Mal realisiert, hat doch sozusagen ein allgemeiner menschliches, gewissermaßen zeitloseres Wesen, als die in vielen Exemplaren existierenden Repräsentanten einer raumzeitlich bestimmten Situation.“ 98  Vgl. Simmel, ebd., S.  61: „Jene zwar historisch festgelegten, aber doch anonymen Wesen erscheinen als je eine Summe nebeneinanderliegender Eigenschaften, während in der markanten Individualität die Einheitsform, die alle Einzelbestimmungen zusammenhält, entscheidend hervortritt.“ Vgl. ebd., S.  22 ff., 38. 99  Vgl. ebd., S.  53: „Und so scheinen auch nur diejenigen Historiker, die selbst eine stark ausgeprägte geistige Eigenart haben, geschichtliche Individualitäten in ihrem Grunde ergreifen und darstellen zu können.“ 1 Simmel, ebd., S.  51, kommt auf Rankes „Wunsch“ zu sprechen, „er möchte sein Selbst auslöschen, um die Dinge zu sehen, wie sie an sich gewesen sind“.

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wie von neueren Methodologen58) stark betonte „Axiom aller historischen Erkenntnis“ von der „prinzipiellen Gleichheit“ der Menschennatur. Denn der „normale“ Mensch und das „normale“ Handeln sind natürlich ganz ebenso zu bestimmten Zwecken konstruierte idealtypische Gedankengebilde, wie – im umgekehrten Sinne – das bekannte „kranke Pferd“ in Hoffmanns „Eisernem Rittmeister“,2 und das „Wesen“ z. B. des Affekts eines Tiers „verder Zeit der ersten Entwickelung der modernen Naturforschung in den Dienst aller Naturerkenntnis – trat, obwohl doch ihre möglichste Eliminierung den Sinn des Naturerkennens ausmacht, so treten hier die Werturteile in den Dienst der Deutung. m[Für die Spekulationen über den „Sinn“ der Geschichte hat grade Simmel (im letzten Kapitel) etwas Ähnliches sehr fein ausgeführt.]m 3 58) In recht bedenklicher Formulierung bei Bernheim, Histor[ische] Methode, 3.  Aufl., S.  170: „Analogie der Empfindungs-, Vorstellungs- und Willensweise der Menschen“, „Identität der Menschennatur“, „Identität der allgemeinen psychischen Prozesse“, „der Denkgesetze“, „immer gleiche seelische und geistige Anlagen“ usw. seien die „Grundaxiome“ jeder historischen Erkenntnis.4 Gemeint ist doch einfach: daß die Geschichte in ihrer Eigenart möglich ist, weil und soweit wir Menschen zu „verstehen“ und ihr Handeln zu „deuten“ vermögen. Inwieweit dies „Gleichheit“ voraussetzt, wäre alsdann zu untersuchen. Anderseits ist es auch nicht zu billigen, wenn Bernheim S.  104 „die qualitative Differenz der Individuen, diese Grundtatsache allen organischen Lebens“ – die Unmöglichkeit historischer Gesetze begründen läßt. Denn jene Differenz gilt für die Gesamtheit aller, auch anorganischen, „Individuen“. m–m  [ ] in A.   2  In Hoffmann, Rittmeister II, S.  235 f., wird über ein Bildchen gesprochen, „bezeichnet: das fehlerhafte Pferd. Genau wie der griechische Künstler für seine Marmorgöttin aus hundert lebenden Vorbildern ein letztes reines Urbild aller Vollkommenheiten herauszuziehen und zusammenzufügen wußte, so hat der geistvolle Meister jenes Kunstwerkes in seinem Rosse ein reines, ganzes, von keiner zufälligen Einzelheit getrübtes Idealbild aller lebenswirklichen Unvollkommenheit hingestellt.“ Als Herkunft des Motivs nebst Bildchen kommt in Frage: Pöllnitz, Gottlob Ludwig von, Das fehlerhafte Pferd oder Darstellung aller an einem Pferde äußerlich sichtbaren Mängel und Gebrechen, nebst kurzer Beschreibung und Heilung derselben. Mit einem Kupfer. – Halberstadt: H. Vogler 1820. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  202 mit Anm.  3. 3 Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  118: „Die teleologische Reflexion belebt das Bild der Geschichte selbst, wenn die Individualisierung der Seelen oder ihre Egalisierung, wenn der Reichtum objektiv geistiger Gestaltungen oder die sittliche Vollendung, wenn die Steigerung des Glücksquantums oder die allein erreichbare Minderung der Leidenssumme als der Zweck oder Sinn der geschichtlichen Bewegungen vorgeführt wird.“ 4  Vgl. Bernheim, Lehrbuch, S.  170 f.: „Diese auf die allgemeine Erfahrung tief und fest gegründete Gewißheit der Analogie der Empfindungs-, Vorstellungs-, Willensweise unter den Menschen oder, wie wir auch sagen können, die Identität der Menschen­ natur ist das Grundaxiom jeder historischen Erkenntnis.“ Man habe es mit „immer gleichen seelischen und geistigen Anlagen“ zu tun; die „Gesetze des Denkens“ verändern sich nicht, und selbst wenn sich die Inhalte des Empfindens wandeln, bleiben die zugrundeliegenden „allgemeinen psychischen Prozesse“ doch „unveränderlich“.

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stehen“ wir durchaus in gleichem Sinn wie den menschlichen. Schon dies zeigt, daß – im Gegensatz zu Gottls Annahme – die „Deutung“ natürlich keineswegs ausschließlich im Wege einer von „Objektivierung“ freien Anschaulichkeit und einer einfachen Nachbildung entstanden zu denken ist. Nicht nur ist die deutende „Erschließung“ eines konkreten Gedankens gelegentlich geradezu auf die Unterstützung durch klinisch-pathologische Kenntnisse angewiesen59), sondern sie be|dient sich selbstredend überhaupt, im Gegensatz zu Gottls Annahme, fortwährend der „Kontrolle“ durch „Erfahrung“ in logisch gleichem Sinn wie die Hypothesen der „Naturwissenschaften“. Man hat zwar – und so verfährt im wesentlichen auch Gottl – zugunsten einer spezifischen „Gewißheit“ der „Deutungen“ gegenüber anderen Erkenntnisarten geltend gemacht, daß der sicherste Inhalt unseres Wissens das „eigene Erlebnis“ sei60). Das ist – in einem bestimmten, gleich zu erörternden Sinn – richtig, sobald als Gegensatz dazu fremde „Erlebnisse“ gemeint sind, sobald ferner der Begriff des „Erlebnisses“ auf die in einem bestimmten Moment uns unmittelbar gegebene psychische und physische Welt erstreckt

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59)  Denn auch die Psychopathologie verhält sich – z. B. auf dem Gebiet der Hysterie5 – nicht nur, aber doch nauch – „deutend“.n Auf das Verhältnis | des „Einfühlens“ zur A 148 „Erfahrung“ auf diesem Gebiet werden wir weiterhin noch exemplifizieren.6 60)  Auch Münsterberg (S.  55) (wie sehr viele andere) ist dieser Meinung. Die „amechanische Bedeutung“ des fremden „Subjektsaktes“ sei „unmittelbar gegeben“.7 Das kann doch nur heißen: verstanden – oder mißverstanden. Oder endlich: unverstanden. In jedem der beiden ersteno Fälle ist sie formal „evident“, aber ob sie empirisch „gültig“ ist, ist eben Frage der „Erfahrung“. – Cf. gegen die spezifische „Gewißheit“ und den höheren „Wirklichkeitsgehalt“ der inneren Erfahrung auch Husserl, Logische Untersuchungen, Beilage zu Bd.  II, S.  703.8 |

n–n A: auch –, „deutend“  o A: ersten   5  Vgl. oben, S.  291 mit Anm.  67. 6  Weber, Roscher und Knies 3, unten, S.  335, Fn.  10. 7  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  54 f.: „In der Welt der Bewertungen aber handelt es sich nicht um psychophysische Individuen, sondern um stellungnehmende Subjekte, die einander nicht vorfinden, sondern anerkennen und nicht erst durch physische Zwischenglieder voneinander wissen, sondern die fremde Aussage unmittelbar als Zumutung, als Urteil, als Subjektakt erleben. Im Erfassen des Sinnes liegt also nichts Hypothetisches; ist irgend etwas mir als Wirklichkeit gegeben, so ist es die amechanische Bedeutung der fremden Aussagen, zu denen ich Stellung nehme; daß sie auch mechanisch existieren, ist erst nachträgliche Einsicht.“ 8  Gemeint ist Husserl, Beilage.

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wird und sobald unter dem „Erlebten“ nicht die von der wissen­ schaftlichen Betrachtung zu formende Wirklichkeit gemeint ist, sondern die Gesamtheit der „Wahrnehmungen“ in Verbindung mit den gänzlich ungeschieden mit ihnen verbundenen „Empfindungen“, „Wollungen“, – den „Stellungnahmen“ also, die wir in jedem Augenblick vollziehen und deren wir uns in dem betreffenden Augenblick in sehr verschiedenem Grade und Sinn „bewußt“ werden. So gemeint, ist aber das „Erlebte“ etwas, was nicht zum Objekt von Urteilen im Sinn der empirischen Tatsachenerklärung gemacht wird und daher im Zustande der Indifferenz gegenüber jeder empirischen Erkenntnis verharrt. Soll dagegen unter dem „Erlebten“ das „psychische“ Geschehen „in“ uns im Gegensatz zu der Gesamtheit des Geschehens „außer“ uns – gleichviel wie die Grenze zwischen beiden gezogen wird – verstanden sein, und soll dies „psychische“ Geschehen als Gegenstand einer gültigen Tatsachen-Erkenntnis verstanden werden – dann liegt die Sache selbst nach der von Gottl akzeptierten Auffassung Münsterbergs eben doch wesentlich anders.9 Aber auch wenn man – wie dies Gottls Intentionen entspricht – sich jenseits der zur „Introjektion“ leitenden Scheidung des „Erlebten“ in „physische“ und „psychische“ Teile der objektivierten Wirklichkeit hält, die „physische“ Welt also nur als Anlaß | unsrer Stellungnahme „auffaßt“, setzt jede gültig-sein-wollende Erkenntnis erlebbarer konkreter Zusammenhänge „Erfahrung“ von logisch gleicher Struktur wie jede Bearbeitung der „objektivierten“ Welt voraus. Zunächst enthält ja das zum Gegenstand der Deutung gemachte Sich-Verhalten von Menschen überall Bestandteile, welche ganz ebenso als letzte „Erfahrungen“ einfach hinzunehmen sind, wie irgend welche „Objekte“. Nehmen wir etwas Allereinfachstes: Der Vorgang der „Einübung“ geistigen Könnens, wie er überall in der Kulturgeschichte begriffliche Verwendung findet, ist ganz gewiß unmittelbar „verständlich“ in seinem Hergang und seinen Konsequenzen. Wie er abläuft, kann für gewisse meßbare Bestandteile Gegenstand von exakter „Psychometrie“10 werden, im übrigen kennen wir seinen Effekt aus massenhafter eigner 9  Weber benützt hier gegen Gottl die Ausführungen von Münsterberg über „Die reine Erfahrung“. Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  44 ff. 10  Vgl. oben, S.  268 mit Anm.  95.

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Erfahrung, insbesondere etwa aus der eignen Erlernung fremder Sprachen. Daß er stattfindet und möglich ist, ist aber letztlich eben doch nur einfach „konstatierbar“ in durchaus gar keinem anderen Sinn als etwa die Tatsache, daß die Körper „schwer“ sind. Aber weiter: unsre eignen, das Werten und Handeln mitbestimmenden, „Stimmungen“ – im „vulgärpsychologischen“ Sinn des Wortes, wie ihn die Kulturwissenschaften unzählige Male brauchen – sind uns in ihrem Sinn, ihrem „Mit-, Aus- und Wegen-einander“ (um mit Gottl zu reden)11 ganz und gar nicht unmittelbar „deutbar“. Sondern – wie am klarsten etwa beim ästhetischen Genuß, nicht minder aber auch z. B. bei klassenbedingtem inneren Sich-Verhalten zu Tage tritt – es ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, daß sie uns in all diesen Hinsichten durch Interpretation an der Hand der Analogie, d. h. unter Heranziehung fremder „Erlebungen“, die zum Zweck der Vergleichung denkend gewählt sind, also ein bestimmtes Maß von Isolation und Analyse als vollzogen unbedingt voraussetzen,12 nicht nur „gedeutet“ werden können, sondern in dieser Weise geradezu kontrolliert und analysiert werden müssen, wenn anders sie jenen Charakter der Klarheit und Eindeutigkeit annehmen sollen, mit dem Gottl als einem a priori operiert. Die dumpfe Ungeschiedenheit des „Erlebens“ muß – zweifellos auch nach Gottls Ansicht – gebrochen sein, damit auch nur der erste Anfang wirklichen „Verstehens“ unsrer selbst einsetzen kann. Wenn man sagt, daß jedes „Erlebnis“ das Gewisseste des Gewissen sei,13 so trifft dies natürlich darauf zu, daß wir erleben. Was wir aber eigentlich erleben, dessen kann auch jede „deutende“ Interpretation erst habhaft werden, nachdem das Stadium des „Erlebens“ selbst verlassen ist und das Erlebte zum | „Objekt“ von Urteilen gemacht wird, die ihrerseits ihrem Inhalt nach nicht mehr in ungeschiedener Dumpfheit „erlebt“, sondern als „geltend“ anerkannt werden.14 Dies „Anerkennen“, als ein Bestandteil des Stellungnehmens gedacht, kommt aber nicht, wie Münsterberg seltsamerweise

11  Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  79. 12  Zu Isolation und Analyse vgl. Einleitung, oben, S.  16. 13  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  51: „Daß ich in meinem Willen etwas erlebe, das von jedem vorgefundenen Erfahrungsinhalt prinzipiell verschieden ist, das ist die sicherste unmittelbarste Gewißheit“. 14  Ebd., S.  54 f.

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annimmt, dem fremden „Subjekt“,15 sondern der Geltung eigner und fremder Urteile zu. Das Maximum der „Gewißheit“ aber im Sinn des Geltens – und nur in diesem Sinn hat irgend eine Wissenschaft damit zu schaffen – haftet an Sätzen wie 2 x 2 = 4, nachdem sie einmal „anerkannt“ sind, nicht aber an dem Gefühl unmittelbaren, aber ungeschiedenen Erlebens, welches wir jeweils „haben“ oder, was dasselbe ist, eben „sind“. Und die Kategorie des „Geltens“ tritt alsbald in ihre formende Funktion, sobald die Frage nach dem „Was?“ und „Wie?“ des Erlebten auch nur vor unserm eignen Forum aufgeworfen wird und gültig beantwortet werden soll61). – A 150

61) Auch Münsterberg führt (S.  31) aus,16 daß die „erlebte Einheit“ auch nicht einmal ein „Zusammenhang beschreibbarer Vorgänge“ sei. Sofern sie „erlebt“ wird, gewiß nicht, sofern sie aber „gedacht“ wird, zweifelsohne. Wenn der Umstand, daß die „Beschaffenheit“ von etwas „bestimmbar“ ist, genügt, um es, schon im vorwissenschaftlichen Stadium, zum „Objekt“ zu machen, – und gegen eine solche Terminologie ist von dem hier festgehaltenen Standpunkte an sich nichts zu erinnern –, dann hat es die Geschichte als Wissenschaft eben mit „Objekten“ zu tun.17 Es ist die Eigenart der dichte­ rischen „Wiedergabe“ der Wirklichkeit – obwohl auch sie natürlich nicht ein „Abbild“, sondern eine geistige Formung ihrer enthält –, sie so zu behandeln, daß „ein jeder fühlt, was er im Herzen trägt“.18 „Geschichte“ sind aber auch einfache anschauliche Niederschriften von „Erlebnissen“, obwohl auch sie das Erlebnis bereits gedanklich formen, noch ebensowenig, wie etwa eine Zolasche Schilderung, und sei sie die getreueste Wiedergabe eines wirklich genau so „erlebten“ Vorganges an der Börse oder in einem Warenhaus,19 schon eine wissenschaftliche Erkenntnis bedeutet. Wer darin, daß die Worte des Historikers, wie Münsterberg sagt, „lachen und weinen“,20 das logische Wesen der Geschichte findet, könnte es ebensogut in den etwa beigegebenen Illustrationen oder schließlich in dem nach moderner Manier unter Umständen vorhandenen stimmungserregenden „Buchschmuck“21 suchen. – Wir werden weiterhin noch sehen, daß jeden-

15  Ebd., S.  55. 16  Ebd., S.  31. 17  Vgl. ebd.: „Beschreibung, auch wenn sie noch im vorwissenschaftlichen Stadium ist, setzt stets ein Objekt voraus, dessen Beschaffenheit bestimmbar ist, und bestimmbar ist nur, was in sich bestimmt ist, was also nicht vom Subjekt abhängig ist.“ 18 Abwandlung eines Goethe-Zitats. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.   227 mit Anm.  68. 19  Vgl. Zola, Emile, Das Geld. Die Rougon-Macquart: die Geschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich, Band 18. Übersetzt von Armin Schwarz. – Budapest: Grimm 1897; ders., Zum Paradies der Damen. Die Rougon-Macquart: die Geschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich, Band 11. Übersetzt von Armin Schwarz, ebd. 1894–1895. 20  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  36 f. 21  Ein Ende des 19. Jahrhunderts von William Morris mit seinem Verlag Kelmscott Press begründetes Kunsthandwerk, an dem sich in Deutschland u. a. der Leipziger Verleger Eugen Diederichs orientierte. Der Begriff Buchschmuck wird alsbald durch den Begriff Buchkunst ersetzt. Vgl. Kautzsch, Rudolf, Die neue Buchkunst. Studien im In- und Ausland. – Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1902.

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Darauf, wie dies geschieht, kommt es aber für die Beurteilung des logischen Wesens der „deutend“ gewonnenen Erkenntnis allein an, und damit allein werden wir uns hier weiterhin beschäftigen. | falls die so viel betonte „Unmittelbarkeit“ des „Verstehens“ in die Lehre von der psychologischen Genesis, aber nicht in diejenige vom logischen Sinn des historischen ­Urteils gehört. Die konfusen Vorstellungen, daß die Geschichte „keine“ oder doch „eigentlich keine“ Wissenschaft sei, fußen meist auf falschen Vorstellungen grade hierüber.22 p |

p  In A folgt: (Ein weiterer Aufsatz folgt.)23   22  Vgl. z. B. Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung (ders., Sämmt­ liche Werke, hg. von Julius Frauenstädt, Band 2). – Leipzig: F. A. Brockhaus 1891, S.  502; Bernheim, Lehrbuch, S.  141 ff. 23  Gemeint ist der dritte Artikel, unten, S.  328–379.

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II.a Knies und das Irrationalitätsproblem. (Fortsetzung.) Inhaltsverzeichnis.b 1. Die Irrationalität des Handelns. (Schluß). 4) Die „Einfühlung“ bei Lipps und die „Anschauung“ bei Croce S.  328. – „Evidenz“ und „Geltung“ S.  339. – Heuristisches „Gefühl“ und „suggestive“ Darstellung des Historikers S.  344. – Die „rationale“ Deutung S.  355. – Die doppelte Wendung der Kausalitätskategorie und das Verhältnis zwischen Irrationalität und Indeterminismus S.  361. – Der Begriff des Individuums bei Knies. Anthropologischer Emanatismus S.  369.

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Für die Erörterung der logischen Stellung des „Deutens“ (in dem hier festgehaltenen Sinne) ist zunächst ein Blick auf gewisse moderne Theorien über seinen psychologischen Hergang unvermeidlich. Nach Lipps1), welcher, wennschon wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Begründung der ästhetischen Werte, eine eigenartige Theorie der „Deutung“ entwickelt hat, ist das „Verstehen“ der „Ausdrucksbewegung“ eines anderen, z.  B. eines Affektlautes, „mehr“ als bloßes „intellektuelles Verständnis“ (S.  106).1 Es enthält „Einfühlung“, und diese für Lipps grundlegende Kategorie ist ihrerseits (nach ihm) ein Seitentrieb der „Nachahmung“, nämlich die aus|schließlich „innere“ Nachahmung eines Vorganges (S.  120) – z. B. des Seiltanzens eines Akrobaten – als eines „eigenen“.2 Und zwar ist es nicht reflektierende Betrachtung des fremden Tuns, sondern eigenes, aber rein innerlich bleibendes „Erlebnis“, neben welchem das „Urteil“, daß – im Beispiel – nicht ich, sondern eben der 1) Grundlegung der Ästhetik. Hamburg 1903. Es werden hier nur die wenigen Punkte herausgegriffen, die für unsere Betrachtungen wesentlich sind. |

a  In A geht voraus: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. / (Dritter Artikel.) / Von Max Weber.  b  Erster Teil des Inhaltsverzeichnisses (zum zweiten Artikel), oben, S.  243.   1  Vgl. Lipps, Ästhetik, S.  106, 108. 2  Vgl. ebd., S.  120 ff.

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Akrobat auf dem Seile steht, „unbewußt“ bleibt (S.  122)2).3 Aus dieser „vollkommenen“ Einfühlung, welche also ein gänzliches inneres Hineingehen des „Ich“ in dasjenige Objekt, in welches man sich „einfühlt“: – ein wirkliches phantastisches, eigenes (inneres) Tun also, nicht etwa ein bloß phantasiertes, d. h. zum Objekt einer „Vorstellung“ gemachtes Tun3),4 – bedeutet, und welches Lipps als „ästhetische Einfühlung“5 zur konstitutiven Kategorie des ästhetischen Genusses erhebt, entwickelt (nach ihm) sich das „intellektuelle Verständnis“ dadurch, daß, um im Beispiel zu bleiben, zunächst jenes „unbewußte“ Urteil: – „nicht ich, sondern der Akrobat steht (oder: stand) auf dem Seil“ – ins Bewußtsein erhoben, und damit das „Ich“ in ein „vorgestelltes“ (auf dem Seil) und ein „reales“ (jenes andre sich vorstellendes) sich zerspaltet (S.  125), so daß alsdann die – wie Münsterberg sagen würde: – „Objektivierung“6 des Vorganges, insbesondere also seine kausale Interpretation, beginnen kann. Ohne vorangegangene kausale „Erfahrung“ ist anderseits aber „Einfühlung“ nicht möglich: ein Kind „erlebt“ den Akrobaten nicht. Aber – dürfen wir in Lipps’ Sinne einschalten – diese „Erfahrung“ ist nicht das objektivierte Produkt nomologischer Wissenschaft, sondern die anschaulich „erlebte“ und erlebbare, mit dem Begriff des „Wirkens“, der „wirkenden Kraft“, des „Strebens“ verknüpfte Subjektskausalität des Alltags.7 Dies äußert sich insbesondere bei der „Einfühlung“ in reine „Natur“vorgänge. Denn die Kategorie der „Einfühlung“ ist nach Lipps keineswegs auf „psychische“ Vorgänge beschränkt. Wir „fühlen“ uns vielmehr auch in die 2)  Lipps hebt deshalb hervor (S.   126 f.), daß die Bezeichnung als „innere Nachah- A 82 mung“ nur eine provisorische sei, denn in Wahrheit handele es sich nicht um Nachahmung, sondern um eigenes Erleben. 3)  Auf diese Scheidung legt L[ipps] (S.  129) großen Nachdruck. Es gibt nach ihm drei psychologisch zu scheidende Arten des realen Tuns: 1. „phantastisches“ inneres Tun, – 2. „intellektuelles“ (nachdenkendes und urteilendes) Tun, – 3. jenes Tun, welches sich erst „befriedigt im realen Dasein, d. h. in Empfindungen und dem Bewußtsein, daß etwas wirklich sei“, also doch wohl reales äußeres Tun. Der psychologische Wert dieser Scheidung kann hier nicht kritisiert werden. |

3  Vgl. ebd., S.  122 f. 4  Vgl. ebd., S.  127 ff. 5  Vgl. ebd., S.  123 ff. 6  Für Münsterberg, Psychologie, S.  56, 60, ist „Objektivierung“ die „Loslösung des Objekts vom Subjekt“. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  282 mit Anm.  38. 7 Lipps, Ästhetik, S.  170, will nicht den „geläuterten Kraftbegriff der Naturwissenschaft“ benutzen, der nur ein „kürzerer Name für eine regelmäßige Folge von Naturer-

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physische Außen|welt ein, indem wir Bestandteile ihrer als Ausdruck einer „Kraft“, eines „Strebens“, eines bestimmten „Gesetzes“ usw. gefühlsmäßig „erleben“ (S.  188), und diese phantastisch „erlebbare“ anthropomorphe individuelle Kausalität in der Natur ist nach Lipps die Quelle der „Naturschönheiten“.8 Die „erlebte“ Natur besteht im Gegensatz zur objektivierten, d. h. in Relationsbegriffe9 aufgelösten oder aufzulösenden, aus „Dingen“ ganz ebenso, wie das erlebte eigene „Ich“ ein Ding ist, – und der Unterschied zwischen „Natur“ und „Ich“ liegt eben darin, daß das „erlebte Ich“ das einzige reale „Ding“ ist, von dem alle „Natur-“ individuen ihre anschaulich „erlebbare“ Dinghaftigkeit und „Einheit“ zu Lehen tragen (S.  196). Wie man nun auch über den Wert dieser Aufstellungen für die Begründung der Ästhetik denken mag: für logische Erörterungen ist vor allem daran festzuhalten, daß das „individuelle Verstehen“ – wie das ja auch bei Lipps wenigstens angedeutet ist – nicht ein „eingefühltes Erlebnis“ ist. Aber jenes entwickelt sich auch nicht in der Art aus diesem, wie Lipps es darstellt. Wer sich in den Lippsschen Akrobaten „einfühlt“, „erlebt“ ja weder, was dieser auf dem Seil „erlebt“, noch was er „erleben“ würde, wenn er selbst auf dem Seil stände, sondern etwas dazu nur in durchaus nicht eindeutigen, phantastischen Beziehungen Stehendes,10 und deshalb vor allem: etwas, was nicht nur keinerlei „Erkenntnis“ in irgendeinem Sinne enthält, sondern auch garnicht das „historisch“ zu erkennende Objekt enthält. Denn dies wäre eben doch im gegebenen Falle das Erlebnis des Akrobaten und nicht dasjenige des Einfühlenden. Nicht eine „Spaltung“ des einfühlenden Ich tritt also ein, sondern die Verdrängung des eigenen Erlebnisses durch die Besinnung auf ein fremdes als „Objekt“, wenn die Reflexion beginnt. Richtig ist nur, daß auch das „intellektuelle Verständnis“ in der Tat ein „inneres Mitmachen“, also „Einfühlung“, in sich schließt, – aber, sofern es „Erkenntnis“ beabsichtigt und erzielt, ein „Mitmachen“ zweckvoll gewählter Bestandteile. Die Ansicht, daß die Einfühlung scheinungen“ ist, sondern den „alltäglichen Kraftbegriff“, demzufolge Kraft „ein von den Dingen verschiedenes Reales“ ist, das „in den Dingen wohnt oder sitzt, und nach Betätigung verlangt“. Dieses Verlangen ist ein „Streben“ (ebd., S.  171). 8  Vgl. ebd., S.  202. 9 Zur Unterscheidung von Ding- und Relationsbegriffen vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  47 mit Anm.  32. 10  Vgl. Lipps, Ästhetik, S.  123 ff., 127 ff.

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„mehr“ sei als bloßes „intellektuelles Verständnis“, kann also nicht ein Plus an „Erkenntniswert“ im Sinne des „Geltens“ behaupten, sondern besagt nur, daß kein objektiviertes „Erkennen“, sondern reines „Erleben“ vorliegt. Im übrigen ist entscheidend, ob die von Lipps dem „Ich“ und nur ihm zugeschriebene reale „Dinghaftigkeit“ Konsequenzen für die Art der wissenschaftlichen Analyse „innerlich nacherlebbarer“ Vorgänge haben soll. Die letztgenannte Frage aber bildet einen Bestandteil des universelleren Problems nach der logischen | Natur der „Dingbegriffe“, dessen allgemeinste Formulierung wiederum sich dahin zuspitzen läßt: gibt es denn überhaupt Dingbegriffe? Man hat es immer wieder geleugnet, und welche Konsequenzen dieser Standpunkt für die logische Beurteilung speziell der Geschichte haben muß, zeigt neuestens wieder in typischer Weise der geistvolle italienische Widerpart der Ansichten von Lipps und des Psychologismus überhaupt in der Philologie und schauungen“,c Ästhetik: Benedetto Croce4).11 „Dinge sind An­ meint Croce, „Begriffe“ dagegen beziehen sich auf „Beziehungen zwischen Dingen“.12 Der Begriff, welcher seinem Wesen nach nur genereller und also abstrakter Natur sein kann, ist daher „nicht mehr“ Anschauung, aber er ist es anderseits „doch noch“, da er ja eben schließlich seinem Inhalt nach nur verarbeitete Anschauung ist.13 Die Folge seines notwendig abstrakten Charakters ist jedoch, daß „Dinge“, da sie stets individuell sind, nicht in Begriffe eingehen, sondern nur „angeschaut“ werden können: ihre Erkenntnis ist also nur „künstlerisch“ möglich. Ein „Begriff“ von etwas Individu-

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4) Ich zitire zur Bequemlichkeit nach der deutschen Übersetzung seiner Ästhetik A 84 von K[arl] Federn. Leipzig 1905.

c A: Anschauungen,“   11  Croce, Aesthetik, S.  1, beginnt mit folgender Grundunterscheidung: „Es gibt zwei Formen menschlicher Erkenntnis: sie ist entweder intuitive (anschauende) Erkenntnis oder logische Erkenntnis; Erkenntnis, die durch die Phantasie vermittelt wird oder durch den Intellekt; Erkenntnis des Individuellen oder Erkenntnis des Allgemeinen; Erkenntnis der Dinge oder ihrer Beziehungen; sie erzeugt in uns entweder Bilder (Anschauungen) oder Begriffe.“ Diese Formen der Erkenntnis – „die ästhetische und die intellektuelle oder begriffliche“ – sind „sehr verschieden, aber keineswegs getrennt“; zwar ist die ästhetische von der intellektuellen unabhängig, aber diese kann nicht ohne jene bestehen (ebd., S.  22). 12  Ebd., S.  22. 13 Ebd.

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ellem ist contradictio in adjecto,14 und die Geschichte, welche das Individuelle erkennen will, ist eben deshalb „Kunst“, d. h. eine Aneinanderreihung von „Intuitionen“.15 Denn ob eine Tatsache unsres Lebens „wirklich war“ – worauf es ja der Geschichte allein ankommt –, lehrt keine begriffliche Analyse, sondern allein die „Reproduktion der Anschauungen“: – „Geschichte ist Gedächtnis“,16 und die Urteile, welche ihren Inhalt ausmachen, enthalten, ‚als bloße „Einkleidung des Eindrucks einer Erfahrung“, keinerlei „Setzung von Begriffen“, sondern sind nur „Ausdrücke“ von Anschauungen.17 Es kann daher die Geschichte Gegenstand „logischer“ Bewertung gar nicht werden, denn die „Logik“ befaßt sich nur mit (Allgemein-)Begriffen und ihrer Definition5).18 Solche Aufstellungen sind die Konsequenz folgender naturalistischer Irrtümer: 1. Daß nur Relationsbegriffe, und – da die Relationsbegriffe der unmittelbaren Alltagserfahrung selbstverständlich genau so viel „Anschauung“ enthalten wie irgendein Dingbegriff6) – nur | Relationsbegriffe von absoluter Bestimmtheit, d. h. aber: in Kausalgleichungen19 ausdrückbare Relationsbegriffe überhaupt „Begriffe“ seien. Ausschließlich mit solchen Begriffen aber arbeitet nicht einmal die Physik.20 – 2. Die damit zusammenhängende

5)  Es ist hier absichtlich B[enedetto] Croces inzwischen erschienene Logica come scienza del concetto puro (Acc[ademia] Pont[oniana], Napoli 1905)21 beiseite gelassen, da es nicht auf eine Auseinandersetzung mit Croce, sondern auf ein typisches Beispiel weitverbreiteter Meinungen abgesehen ist, die hier besonders präzis formuliert sind. Auf jene Schrift hoffe ich[,] anderwärts zurückzukommen.22 6)  Dem stehen natürlich die zunächst auf „Urteilsaussagen“ bezüglichen | BemerA 85 kungen von Husserl, Log[ische] Untersuchungen II, S.  607 (vgl. auch S.  333)23 nicht entgegen, da eben auch der Dingbegriff nicht nur auf der einen Seite „weniger“, sondern auch auf der anderen „mehr“ enthält als die bloße sinnliche Anschauung oder das bloße „Erlebnis“. Darüber siehe das hier im Text folgende.

14  Ebd., S.  39 f. 15  Ebd., S.  27. 16  Ebd., S.  28. 17  Ebd., S.  43. 18  Ebd., S.  42 f. 19  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  46 mit Anm.  31. 20  Weber folgt Rickert, für den nur die „Mechanik“ als „letzte Naturwissenschaft“ ausschließlich mit Relationsbegriffen arbeitet. Vgl. Rickert, Causalität (wie oben, S.  46, Anm.  31), S.  84; Rickert, Grenzen, S.  80, 104. 21  Croce, Logica. 22  Nicht belegt. 23  Husserl, Untersuchungen II, S.  606 ff.

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Behauptung, daß „Dingbegriffe“ keine „Begriffe“ seien, sondern „Anschauungen“, ist die Folge des Ineinanderschiebens verschiedener Bedeutungen der Kategorie der „Anschaulichkeit“. Wie die anschauliche Evidenz des mathematischen Lehrsatzes etwas anderes ist als die für die „Erfahrung“ unmittelbar gegebene, „in“ und „außer“ uns erlebte und erlebbare „Anschaulichkeit“ des Mannigfaltigen – „kategoriale“ Anschauung im Gegensatz zur „sinnlichen“ nach Husserls Terminologie7) –, so ist das Crocesche Ding24 und insbesondere auch das Lippssche Ding κατ‘ έξοχήν:25 das „Ich“,26 so, wie es die empirische Wissenschaft anwendet, etwas gänzlich anderes als der „erlebte“, zu einer rein sinnlich oder gefühlsmäßig anschaulichen „Einheit“ zusammengeflossene und als solche durch „Gedächtnis“ oder „Ichgefühl“ psychologisch zusammengehaltene Komplex von Bewußtseinsinhalten. Wo die empirische Wissenschaft eine gegebene Mannigfaltigkeit als „Ding“ und damit als „Einheit“ behandelt, z. B. die „Persönlichkeit“27 eines konkreten historischen Menschen, da ist dieses Objekt zwar stets ein nur „relativ bestimmtes“, d. h. ein stets und ausnahmlos empirisch „Anschauliches“ in sich enthaltendes gedankliches Gebilde, – aber es ist gleichwohl eben ein durchaus künstliches Gebilde8), dessen „Einheit“ durch Auswahl des mit Bezug auf bestimmte Forschungszwecke „Wesentlichen“ bestimmt ist, ein Denkprodukt also von nur „funktioneller“ Beziehung zum „Gegebenen“ und mithin: ein „Begriff“, wenn anders | dieser Ausdruck nicht künstlich auf nur einen Teil der durch denkende Umfor  Husserl a. a. O. II, S.  607, 637 ff.28   In der Verkennung des künstlichen Charakters des Historischen liegen auch die verschiedenen Irrtümer Münsterbergs. Daß z. B. die spezifische Interessenrichtung, also Wertung, die Formung des Historischen bedingt, nimmt auch er an (S.  132, 119),29 aber auf die Frage, welche „Wollungen“ denn in die Geschichte eingehen, antwortet er durch Hinweis auf die „Tragweite“, wonach die „zufälligen (!) Willenszuckungen, die von Gegenbewegungen sofort aufgehoben“ werden (S.  127), nicht hineingehören. Es waltet die unklare Vorstellung ob, die auch Gottl beherrscht, als ob der „erlebte“ Stoff von selbst aus sich die historischen Gebilde gebäre.30 | 7)

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24  Vgl. Croce, Aesthetik, S.  1. 25  Altgriech.: kat’exochen, schlechthin, im eigentlichen Sinne. 26  Lipps, Ästhetik, S.  194. 27  Croce, Aesthetik, S.  27. 28  Husserl, Untersuchungen II. 29  Münsterberg, Psychologie, S.  132, 119. 30  Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  70.

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mung31 des empirisch Gegebenen entstehenden und durch Worte bezeichenbaren Gedankengebilde beschränkt wird. – Schon deshalb ist natürlich auch, drittens, die weitverbreitete und von Croce akzeptierte Laienansicht durchaus irrig, als ob die Geschichte eine „Reproduktion von (empirischen) Anschauungen“ oder ein Abbild von früheren „Erlebungen“ (des Abbildenden selbst oder anderer) sei.32 Schon das eigene Erlebnis kann, sobald es denkend erfaßt werden soll, nicht einfach „abgebildet“ oder „nachgebildet“ werden: das wäre eben kein Denken über das Erlebnis, sondern ein nochmaliges „Erleben“9) des früheren oder vielmehr, da dies unmöglich ist, ein neues „Erlebnis“, in welches das – für eine denkende Betrachtung sich stets als nur relativ begründet herausstellende – „Gefühl“ mit „eingeht“, „dies“ (d. h. einen unbestimmt bleibenden Bestandteil des als präsentes „Erlebnis“ Gegebenen) schon einmal „erlebt“ zu haben. Ich habe an anderer Stelle33 – ohne übrigens selbstredend damit irgend etwas „Neues“ zu sagen – dargelegt, wie auch das einfachste „Existenzialurteil“ („Peter geht spazieren“, um mit Croce zu exemplifizieren),34 sobald es eben „Urteil“ sein und sich als solches „Geltung“ sichern will – denn das ist die einzige in Betracht kommende Frage –[,] logische Operationen voraussetzt, welche allerdings nicht die „Setzung“, wohl aber die konstante Verwendung von Allgemeinbegriffen, daher Isolation35 und Vergleichung, in sich enthalten. Es ist eben – und damit kommen wir zu Gottls Ausführungen zurück – der entscheidende Fehler aller jener, leider auch von Fachhistorikern so sehr oft akzeptierten Theorien, welche das spezifisch „Künstlerische“ und „Intuitive“ der historischen Erkenntnis, z. B. der „Deutung“ von „Persönlichkeiten“, als das Privileg der Geschichte ansehen,36 daß die Frage nach dem psychologischen A 86

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 Vgl. auch Husserl a. a. O. II, S.  333, 607.37 |

31  Für Rickert impliziert wissenschaftliche Erkenntnis die „Umbildung“ bzw. „Umformung“ der Wirklichkeit. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  224 mit Anm.  60. Gottl, Herrschaft, S.  108, spricht von einer „denkende[n] Umformung von Erlebtem“. 32  Croce, Aesthetik, S.  91 f. 33  Möglicherweise Bezug auf Weber, Objektivität, oben, S.  184 f. mit Anm.  35. 34  Croce, Aesthetik, S.  43. 35  Zur isolierenden Abstraktion vgl. Einleitung, oben, S.  16. 36  Croce, Aesthetik, S.  26 ff. Vgl. z. B. auch Meyer, Theorie, S.  49 ff. 37  Husserl, Untersuchungen II, S.  333, 607.

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Hergang bei der Entstehung einer Erkenntnis mit der gänzlich andern nach ihrem logischen „Sinn“ und ihrer empirischen „Geltung“ verwechselt wird. Was den psychologischen Hergang des Erkennens anbetrifft, so ist die Rolle, welche der „Intuition“ zufällt, dem Wesen nach – wie schon oben ausgeführt38 – auf allen Wissensgebieten dieselbe, und nur der Grad, in welchem wir uns alsdann, bei der denkenden Formung, der allseitigen begrifflichen Bestimmtheit nähern können und wollen, ein je nach dem Erkenntnisziel verschiedener. Die logische Struktur einer Erkenntnis aber zeigt sich erst dann, wenn ihre empirische | Geltung im konkreten Fall, weil problematisch, demonstriert werden muß. Erst die Demon­ stration erfordert unbedingt die (relative) Bestimmtheit der verwendeten Begriffe und setzt ausnahmslos und immer generalisierende Erkenntnis voraus, – was beides eine gedankliche Bearbeitung des nur „eingefühlten“ Mit- oder Nacherlebens, d. h. seine Verwandlung in „Erfahrung“, bedingt10). Und die Verwendung von „Erfahrungsregeln“ zum Zweck der Kontrolle der „Deutung“ menschlichen Handelns ist dabei nur dem alleroberflächlichsten Anschein nach von der gleichen Prozedur bei konkreten „Naturvorgängen“ geschieden. Dieser Anschein entsteht dadurch, daß

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10) Dies gilt z.  B. auch auf solchen Gebieten, wie der psychopathologischen For- A 87 schung. Die „einfühlende“ „Psychoanalyse“ einer kranken Psyche bleibt nicht nur inkommunikables Privateigentum des dafür spezifisch begabten Forschers, sondern überdies bleiben auch ihre Ergebnisse gänzlich undemonstrabel und deshalb von absolut problematischer „Geltung“, so lange nicht die Verknüpfung des einfühlend nacherlebten seelischen Zusammenhanges mit den aus der allgemeinen psychiatrischen „Erfahrung“ gewonnenen Begriffen gelingt. Sie sind „Intuitionen“ des dafür begabten Forschers „über“ das Objekt, aber inwieweit sie objektiv gelten, bleibt prinzipiell unkontrollierbar und daher ihr wissenschaftlicher Wert durchaus unsicher. Siehe darüber W[illy] Hellpach, Zur Wissenschaftslehre der Psychopathologie. Wundtsche Studien, 1906.39 |

38  Oben, S.  331 f. 39  Vgl. Hellpach, Wissenschaftslehre, S.  177 f. Zur Psychoanalyse vgl. ebd., S.  180 ff. Hellpachs Text wurde nicht in der Zeitschrift „Philosophische Studien” publiziert, die Wilhelm Wundt 1883 gegründet hatte, sondern in deren Nachfolgeorgan „Archiv für die gesamte Psychologie”, das ab 1903 unter der Herausgeberschaft von Ernst Meumann erschien. Obwohl der Beitrag Hellpachs erst im Juni 1906 erschien, dürfte Weber der Text bekannt gewesen sein. Es handelte sich um einen textidentischen Abdruck von Hellpachs Habilitationsschrift, die Weber kritisch begleitet hat, vgl. dazu die Korrespondenzen von Max Weber an Willy Hellpach von August bis Oktober 1905, sowie zu den Hintergründen die Editorische Vorbemerkung zum Brief vom 11. Aug. 1905, MWG II/4, S.  503.

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wir, infolge unsrer an der eignen Alltagskenntnis geschulten Phantasie, bei der „Deutung“ menschlichen Handelns die ausdrückliche Formulierung jenes Erfahrungsgehaltes in „Regeln“ in weiterem Umfang als „unökonomisch“40 unterlassen und also die Generalisierungen „implicite“ verwenden. Denn die Frage, wann es für „deutend“ arbeitende Disziplinen irgend welchen wissenschaftlichen Sinn hat, aus ihrem Material, also dem unmittelbar verständlichen menschlichen Sich-Verhalten, im Wege der Abstraktion41 für ihre Zwecke besondere Regeln und sog. „Gesetze“ zu bilden, ist freilich durchaus davon abhängig, ob dadurch für die deutende Kausalerkenntnis des Historikers bzw. Nationalökonomen bezüglich eines konkreten Problems brauchbare neue Einsichten zu erwarten sind. Daß dies der Fall sein müsse, ist schon wegen der geringen Schärfe, außerdem aber wegen der Trivialität der überwältigenden Mehrzahl der so zu gewinnenden Erfahrungssätze nicht im allergeringsten generell selbstverständlich.42 Wer sich veranschaulichen will, welche Früchte die bedingungslose Durchführung des Grundsatzes der Aufstellung von „Regeln“ zeitigen würde, der lese etwa die Werke von Wilhelm Busch. Seine drolligsten Effekte erzielt dieser große Humorist gerade dadurch, daß er die zahllosen trivialen All|tagserfahrungen, die wir überall in unzählbaren Verschlingungen „deutend“ verwenden, in das Gewand wissenschaftlicher Sentenzen kleidet. Der schöne Vers aus „Plisch und Plum“: „Wer sich freut, wenn wer betrübt, macht sich meistens unbeliebt“ ist,43 zumal er das Gattungsartige des Vorgangs sehr korrekt nicht als Notwendigkeitsurteil, sondern als Regel „adäquater Verursachung“44 faßt, ein ganz tadellos formuliertes „historisches Gesetz“. Sein Gehalt an Erfahrungswahrheit ist als geeignetes Hülfsmittel der „Deutung“ z. B. der politischen Spannung zwischen Deutschland und England nach dem Burenkriege45 (natürlich neben sehr vielen andern, vielleicht wesentlich wichtige40  Zur Denkökonomie vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  202 mit Anm.  98. 41  Zur generalisierenden Abstraktion vgl. die Einleitung, oben, S.  16 f. 42  Vgl. in diesem Sinne Münsterberg, Psychologie, S.  135 f. 43  Wilhelm Busch-Album. Humoristischer Hausschatz, 13.  Aufl. – München: Fr. Bassermann 1904, S.  62. 44  Vgl. Einleitung, oben, S.  23. 45 Bewaffneter Konflikt zwischen Großbritannien und den Burenrepubliken OranjeFreistaat und Südafrikanische Republik (1. Burenkrieg 1880–81). Nachdem die Südafrikanische Republik einen Angriff der Briten (sog. Jameson Raid) im Dezember 1895

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ren Momenten) gänzlich unbezweifelbar. Eine „sozialpsychologische“ Analyse derartiger politischer „Stimmungs“-Entwickelungen könnte nun ja selbstverständlich unter den verschiedensten Gesichtspunkten höchst interessante Ergebnisse zu Tage fördern, die auch für die historische Deutung solcher Vorgänge, wie des erwähnten, den erheblichsten Wert gewinnen können – aber was eben ganz und gar nicht feststeht, ist, daß sie ihn gewinnen müssen, und daß nicht im konkreten Fall die „vulgärpsychologische“ Erfahrung vollkommen genügt und also das auf einer Art naturalistischer Eitelkeit beruhende Bedürfnis, die historische (oder ökonomische) Darstellung möglichst überall mit der Bezugnahme auf psychologische „Gesetze“ schmücken zu können, im konkreten Fall ein Verstoß gegen die Ökonomie der wissenschaftlichen Arbeit wäre. Für eine grundsätzlich das Ziel der „verständlichen Deutung“ festhaltende „psychologische“ Behandlung von „Kulturerscheinungen“ lassen sich Aufgaben der Begriffsbildung von logisch ziemlich heterogenem Charakter denken: darunter ohne allen Zweifel notwendigerweise auch die Bildung von Gattungsbegriffen und von „Gesetzen“ in dem weiteren Sinn von „Regeln adäquater Verursachung“. Diese letzteren werden nur da, aber auch überall da, von Wert sein, wo die „Alltagserfahrung“ nicht ausreicht, denjenigen Grad relativer „Bestimmtheit“ der kausalen Zurechnung46 zu gewährleisten, welcher für die Deutung der Kulturerscheinungen im Interesse ihrer „Eindeutigkeit“ erforderlich ist. Der Erkenntniswert ihrer Ergebnisse wird aber eben deshalb regelmäßig um so größer sein, je weniger sie dem Streben nach einer den quantifizierenden Naturwissenschaften verwandten Formulierung und Systematik auf Kosten des Anschlusses an die unmittelbar verständliche „Deutung“ konkreter historischer Gebilde nachgeben, und je weniger sie infolgedessen von den allgemeinen Voraussetzungen in sich aufnehmen, welche naturwissenschaftliche Diszipliabgewehrt hatte, bei dem ihr Präsident Paul Krüger gestürzt werden sollte, schickte Kaiser Wilhelm II. am 3. Januar 1896 ein Glückwunschtelegramm (Krüger-Depesche). Bei den Briten wurde dies als Parteinahme gewertet, so daß sich die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien verschlechterten. Zum Burenkrieg vgl. z. B. Doyle, Arthur Conan, The Great Boer War. Second Impres­ sion. – London: Smith, Elder & Co. 1900, sowie Schiele, Wolfgang, Mit den Deutschen im Buren-Kriege. – Berlin: Dietrich Reimer (Ernst Vohsen) 1901. 46  Zum Begriff der „Zurechnung“ vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  185 mit Anm.  39.

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nen | für ihre Zwecke verwerten.47 Begriffe wie etwa der des „psychophysischen Parallelismus“48 z.  B. haben als jenseits des „Erlebbaren“ liegend für derartige Untersuchungen natürlich unmittelbar nicht die allergeringste Bedeutung, und die besten Leistungen „sozialpsychologischer“ Deutung, die wir besitzen, sind in ihrem Erkenntniswert ebenso unabhängig von der Geltung aller derartigen Prämissen, wie ihre Einordnung in ein lückenloses „System“ von „psychologischen“ Erkenntnissen eine Sinnlosigkeit wäre. Der entscheidende logische Grund ist eben der: daß die Geschichte zwar nicht in dem Sinn „Wirklichkeitswissenschaft“49 ist, daß sie den gesamten Gehalt irgend einer Wirklichkeit „abbildete“, – das ist prinzipiell unmöglich, – wohl aber in dem anderen, daß sie Bestandteile der gegebenen Wirklichkeit, die, als solche, begrifflich nur relativ bestimmt sein können, als „reale“ Bestandteile einem konkreten kausalen Zusammenhang einfügt.50 Jedes einzelne derartige Urteil über die Existenz eines konkreten Kausalzusammenhangs ist an sich der Zerspaltung schlechthin ins Unendliche hinein fähig11), und nur eine solche würde – bei absolut idealer Vollendung des nomologischen Wissens51 – zur vollständi11)

 Darüber s[iehe] meine Ausführungen im Jaffé-Braunschen Archiv a. a. O.52

47  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  254 f.: „Die Geschichte kann niemals versuchen, ihr Material in ein System von allgemeinen Begriffen zu bringen, das um so vollkommener ist, je weniger von der empirischen Wirklichkeit es enthält, sondern sie sucht sich einer Darstellung der Wirklichkeit selbst wenigstens anzunähern. Sie kann deshalb im Vergleich zur Naturwissenschaft, die vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Wirklichen zum Geltenden strebt, auch als die eigentliche Wirklichkeitswissenschaft bezeichnet werden.“ 48  Eine von Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz ausgehende These, derzufolge auf Psychisches nur Psychisches und auf Physisches nur Physisches wirken könne. Was als kausale Beziehung zwischen Psychischem und Physischem erscheine, sei nur eine Entsprechung. Den Begriff „psychophysischer Parallelismus“ hat Wilhelm Wundt populär gemacht. Vgl. Wundt, Causalität (wie oben, S.  46, Anm.  31), und dazu kritisch Rickert, Causalität (wie oben, S.  46, Anm.  31). 49  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  174 mit Anm.  97. 50  Die „historischen Thatsachen“ sind für Rickert, Grenzen, S.  409, „nicht nur insofern nicht vereinzelt und isolirt, als sie stets Theile eines grösseren Ganzen sind, sondern auch insofern, als sie sich gegenseitig beeinflussen oder in einem kausalen Zusammenhange mit anderen Thatsachen stehen. Es giebt keinen Theil der empirischen Wirklichkeit, in dem nicht jedes Ding die Wirkung von anderen Dingen ist und für andere Dinge eine Ursache bildet. Wenn daher die Geschichte Wirklichkeitswissenschaft sein soll, so wird sie sich auch hiermit zu beschäftigen haben“. 51  Zum nomologischen Wissen vgl. Einleitung, oben, S.  19 f. 52  Weber, Objektivität, oben, S.  184 mit Anm.  34.

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gen Zurechnung mittelst exakter „Gesetze“ führen. Die historische Erkenntnis führt die Zerlegung nur so weit, als der konkrete Erkenntniszweck es verlangt, und diese notwendig nur relative Vollständigkeit der Zurechnung manifestiert sich in der notwendig nur relativen Bestimmtheit der für ihre Vollziehung verwendeten „Erfahrungsregeln“: darin also, daß die auf Grund methodischer Arbeit gewonnenen und weiter zu gewinnenden „Regeln“ stets nur eine Enklave innerhalb der Flut „vulgär-psychologischer“ Alltagserfahrung darstellen, welche der historischen Zurechnung dient. Aber „Erfahrung“ ist eben, im logischen Sinn, auch diese. „Erleben“ und „Erfahren“, die Gottl einander so schroff gegenüberstellt12), sind in der Tat Gegensätze, aber auf dem Gebiet der | 12) Die von Gottl behauptete Verschiedenheit: daß die Erschließung des Historischen nicht über sich hinaus auf die „Erfahrung“ weisen könnte, soll ihren Grund darin haben, daß die „logischen Denkgesetze“ sich in der gleichen Lage befinden, und daß auf dem Gebiet des Geschichtlichen „die Logik gleichsam im Geschehen selbst stecke“. Daher seien jene „Denkgesetze“ für das historische Erkennen die „letzte Instanz“, sie bestimmen es „zwingend“, dergestalt, daß eine gültige historische Erkenntnis stets eine „Annäherung an das absolut Gewisse“ bedeute, im Gegensatz zu der von Gottl ihr als „Metahistorik“ entgegengesetzten geologischen und biogenetischen Erkenntnis, welche auch bei idealster | Erreichung ihrer Aufgabe dennoch, erkenntnistheoretisch A 90 betrachtet, lediglich eine durch „Interpolation“ von Geschehen gewonnene zeitliche Anordnung räumlicher „Erscheinungen“ darstelle und daher nie über die durch Analogieschluß gewonnene Aufstellung: daß die in der Erfahrung gegebenen Dinge so liegen, als ob ein kosmisches oder biogenetisches Geschehen bestimmter Art stattgefunden hätte, hinausgelangen könne.53 Allein die Erfahrung zeigt, und jeder Historiker wird bestätigen müssen, daß wir bei der kausalen „Deutung“ von „Persönlichkeiten“, „Handlungen“ und „geistigen Kulturentwickelungen“ Tag aus Tag ein uns mit dem Ergebnis bescheiden müssen, daß die unbezweifelt überlieferten „Tatsachen“ so liegen, „als ob“ der gedeutete Zusammenhang bestanden hätte, so daß man daraus sogar auf die spezifische „Unsicherheit“ und – fälschlicherweise – aus dieser wieder auf eine spezifische „Subjektivität“ nicht nur der erreichbaren, sondern auch der überhaupt zu erstrebenden historischen Erkenntnis geschlossen hat.54 Speziell Simmel legt das entscheidende Gewicht auf den hypothetischen Charakter der Deutung und belegt ihn mit anschaulichen Beispielen (S.  9 ff. a. a. O.).55 Ihm gegenüber muß nun aber wieder daran festgehalten werden, daß der Umstand, daß wir erst durch den faktischen Ausschlag des Entschlusses nach einer bestimmten Seite hin darüber belehrt werden, welche „psychische Disposition“ vorhanden gewesen ist, keine Eigentümlichkeit der „psychischen“ Kausalerklärung bildet. Unzählige Male ist es – wie wir sahen56 – bei „Natur“vorgängen

53  Vgl. Gottl, Grenzen, S.  25 ff., 30 ff., 49 ff., 99. 54  Vgl. Meyer, Theorie, S.  45. 55 Für Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  15, hat „alle Erklärung des äußeren geschichtlichen Geschehens” einen „hypothetische[n] Charakter”. 56  Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  260, 265 mit Anm.  90, 273; vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  191 mit Anm.  61.

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„innern“ in keinem andern Sinn wie auf dem der „äußern“ Hergänge, beim „Handeln“ nicht anders als in der „Natur“. „Verstehen“ – im Sinn des evidenten „Deutens“ – und „Erfahren“ sind auf der einen Seite keine Gegensätze, denn jedes „Verstehen“ setzt (psychologisch) „Erfahrung“ voraus und ist (logisch) nur durch Bezugnahme auf „Erfahrung“ als geltend demonstrierbar. Beide Kategorien sind anderseits insofern nicht identisch, als die Qualität der „Evidenz“13) das „Verstandene“ und „Verständliche“ dem bloß (aus Erfahrungsregeln) „Begriffenen“ gegenüber auszeichnet. Das Spiel mensch|licher „Leidenschaften“ ist sicherlich in einem qualitativ andern Sinn „nacherlebbar“ und „anschaulich“ als „Natur“Vorgänge es sind. Aber diese „Evidenz“ des „verständlich“ Gedeuteten ist sorgsam von jeder Beziehung zur „Geltung“ zu trennen. Denn sie enthält nach der logischen Seite lediglich die Denkmög­ lichkeit und nach der sachlichen lediglich die objektive Möglichkeit14) der „deutend“ erfaßbaren Zusammenhänge als Voraussetzung in sich. Für die Analyse der Wirklichkeit aber kommt ihr, lediglich um jener ihrer Evidenz-Qualität willen, nur die Bedeu-

genau so, ja, wo es auf die qualitativ-individuelle Seite konkreter „Naturereignisse“ ankommt, belehrt uns im allgemeinen nur der Erfolg über die vorhanden gewesene Konstellation. Die Kausalerklärung läuft – was auch gegen Ed[uard] Meyer57 zu betonen ist – bei individuell „aufgefaßten“ Ereignissen regelmäßig rückwärts, von der Wirkung zur Ursache, 58 und gelangt, wie wir früher selbst für rein quantitative Beziehungen zeigten,59 ganz normalerweise nur zu einem Urteil, welches die „Vereinbarkeit“ des Hergangs mit unserem Erfahrungswissen besagt und nur für gewisse abstrahierte Einzelbestandteile derselben die „Notwendigkeit“ auch in concreto durch Bezugnahme auf „Gesetze“ zu belegen vermag. 13)  Dieser Ausdruck wird hier statt „innere Anschaulichkeit der Bewußtseinsvorgänge“ gebraucht, um die Vieldeutigkeit des Ausdrucks „anschaulich“ zu vermeiden, welche sich ja auch auf das logisch unbearbeitete „Erlebnis“ bezieht. Ich weiß sehr wohl, daß der Ausdruck sonst von den Logikern nicht in diesem Sinn, sondern im Sinn der Einsicht in die Gründe eines Urteils gebraucht wird. | 14) Über den Sinn des Begriffes des „objektiv Möglichen“ im Gebiet speziell des A 91 Historischen siehe meine Bemerkungen im Jaffé-Braunschen Archiv, Januarheft 1906 (durchaus im Anschluß an die bekannte Theorie von v. Kries).60

57  Vgl. Meyer, Theorie, S.  40f: „Dieser Schluss von der Wirkung auf die Ursache ist aber bekanntlich immer problematisch und kann daher niemals zu einer absolut sicheren Erkenntniss führen.“ 58 Weber, Objektivität, oben, S.  164 mit Anm.  65, spricht diesbezüglich von einem kausalen Regressus. 59  Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  275 ff. 60  Weber, Kritische Studien, unten, S.  447–480.

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tung entweder, – wenn es sich um die Erklärung eines konkreten Vorganges handelt, – einer Hypothese, oder, – wenn es sich um die Bildung genereller Begriffe handelt, sei es zum Zweck der Heuristik oder zum Zweck einer eindeutigen Terminologie, – diejenige eines „idealtypischen“ Gedankengebildes zu.61 Der gleiche Dualismus von „Evidenz“ und empirischer „Geltung“ ist aber auf dem Gebiet der an der Mathematik orientierten Disziplinen, ja gerade auf dem Gebiet des mathematischen Erkennens selbst15), ganz ebenso vorhanden, wie auf demjenigen der Deutung menschlichen Handelns. Während aber die „Evidenz“ mathematischer Erkenntnisse und der mathematisch formulierten Erkenntnis quantitativer Beziehungen der Körperwelt „kategorialen“ Charakter hat, gehört die „psychologische“ Evidenz in dem hier behandelten Sinn in das Gebiet des nur Phänomenologischen. Sie ist – denn hier erweist sich die Lippssche Terminologie als recht brauchbar – phänomenologisch bedingt durch die spezielle Färbung, welche die „Einfühlung“ in solche qualitative Hergänge besitzt, deren wir uns als objektiv möglicher Inhalte der eignen inneren Aktualität62 bewußt werden können. Ihre indirekte logische Bedeutung für die Geschichte ist gegeben durch den Umstand, daß zum „einfühlbaren“ Inhalt fremder Aktualität auch jene „Wertungen“ gehören, an denen der Sinn des „historischen Interesses“ verankert ist, und daß daher seitens einer Wissenschaft, deren Objekt, geschichtsphilosophisch formuliert, „die Verwirklichung | von Werten“ darstellt16),

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15)  Der „pseudosphärische Raum“ ist logisch durchaus widerspruchslos und völlig „evident“ konstruierbar: nach Ansicht mancher Mathematiker, bekanntlich auch von Helmholtz, der dadurch Kant widerlegt glaubte, besäße er sogar kategoriale Anschaulichkeit, – seine zweifellose empirische „Nichtgeltung“ aber steht jedenfalls mit der ersten Auffassung nicht im Widerspruch.63 | 16) Es sollte eigentlich nicht nötig sein, besonders zu betonen, daß darunter in kei- A 92 nem Sinn irgendein „objektiv“ auf die „Verwirklichung“ eines „Absoluten“ als empiri­ scher Tatsache „hinstrebender“ Weltprozeß oder überhaupt irgend etwas Metaphysi-

61  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  203 ff. 62  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, S.  282 mit Anm.  38, S.  285 f., 289, Fn.  30, S.  311. 63  Ein Raum ist eben, wenn das Krümmungsmaß k = 0 ist; er ist sphärisch, wenn k > 0 ist; und er ist pseudosphärisch, wenn k < 0 ist. Vgl. Helmholtz, Hermann von, Ueber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome: Vortrag gehalten im Docentenverein zu Heidelberg 1870, in: ders., Vorträge und Reden, Band 2, 5.  Aufl. – Braunschweig: Friedrich Vieweg 1903, S.  1–31, hier S.  18 ff.

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die selbst „wertenden“ Individuen stets als die „Träger“ jenes Prozesses behandelt werden17). Zwischen jenen beiden Polen –: der kategorialen mathematischen Evidenz räumlicher Beziehungen und der phänomenologisch bedingten Evidenz „einfühlbarer“ Vorgänge des bewußten Seelenlebens, – liegt eine Welt von weder der einen noch der andern Art von „Evidenz“ zugänglichen Erkenntnissen, die aber um dieses phänomenologischen „Mangels“ willen natürlich nicht das Allermindeste an Dignität oder empirischer Geltung einbüßen. Denn, um es zu wiederholen, der Grundirrtum der von Gottl akzeptierten Erkenntnistheorie liegt darin, daß sie das Maximum „anschaulicher“18) Evidenz mit dem Maximum von (empirischer) Gewißheit verwechselt. Wie das wechselvolle Schicksal der sogenannten „physikalischen Axiome“64 immer wieder den Prozeß zeigt19), daß eine in der Erfahrung sich bewährende Konstruktion sches gemeint ist, wie die Ausführungen Rickerts a. a. O., letztes Kapitel,65 trotz aller Unzweideutigkeit gelegentlich aufgefaßt worden sind.66 17)  Alles Erforderliche enthält auch hier schon der Rickertsche Begriff des „historischen Zentrums“.67 18)  Anschaulich hier natürlich im Sinn von kategorial-anschaulich einerseits, „innerlich“ verständlich anderseits. 19)  Über das Hindernis, welches der „evidente“ Satz: „cessante causa cessat effectus“68 der Gewinnung des Energiegesetzes so lange bereitete, bis die „Denknotwendigkeit“ des Satzes: „nil fit ex nihilo, nil fit ad nihilum“69 die Einschaltung des Begriffes der „potenziellen Energie“ veranlaßte und wie nun, ungeachtet der „Unanschaulichkeit“ des letzteren, das „Energiegesetz“ seinerseits alsbald den Weg zur „Denknotwendigkeit“ einzuschlagen begann, – darüber ist Wundts Jugendschrift über „Die physikalischen Axiome“ noch heute sehr lesenswert.70 64  Vgl. Wundt, Axiome. 65  Gemeint ist das fünfte Kapitel („Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie“) in Rickert, Grenzen, S.  600 ff. 66  Gemeint ist möglicherweise Schmeidler, Begriffsbildung, S.  29 f., 32. 67  Für Rickert, Grenzen, S.  560 f., 571, zerfallen die uns durch Beziehung der Wirklichkeit auf Werte bekannten Objekte in zwei Klassen, nämlich in solche, bei denen „diese Beziehung überhaupt möglich ist“, und in solche, „die nicht nur durch ihr Dasein etwas für den Werth bedeuten, sondern auch selbst zu diesem Werth Stellung nehmen“. Folglich können wir „alle historischen Objekte, welche zu den leitenden Werthen der Darstellung selbst Stellung nehmen, und die immer geistige Wesen sein müssen, auch die historischen Centren nennen“. 68  Lat.: Wenn die Ursache aufhört, hört die Wirkung auf. 69  Lat.: Nichts wird aus nichts, nichts geschieht für nichts. 70  Vgl. Wundt, Axiome, S.  57 ff. (Sechstes Axiom: Jede Wirkung ist äquivalent ihrer Ursache). Zum „Energiegesetz“ vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  255 mit Anm.  54. Zur „potenziellen Energie“ vgl. ebd., oben, S.  264 f. mit Anm.  88 und 89.

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die Dignität einer Denknotwendigkeit prätendiert, so hat die Identifikation von „Evidenz“ mit „Gewißheit“ oder gar – wie manche Epigonen C[arl]d Mengers wollten71 –: mit „Denknotwendigkeit“ bei „idealtypischen“ Konstruktionen auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften ganz entsprechende Irrtümer gezeitigt, und auch Gottl z. B. hat mit manchen Aufstellungen in seiner „Herrschaft des Worts“ den gleichen Weg betreten20). | 20)  Es ist nicht möglich, an dieser Stelle die von Gottl (in der „Herrschaft des Worts“) vorgeschlagenen Grundkategorien ökonomischen Denkens auf ihre anschauliche Evidenz einerseits, ihre „Denknotwendigkeit“ und ihre logische Struktur anderseits zu untersuchen. Nur beispielsweise sei gesagt: Als „Grundverhältnis“ Nr.  1: „Not“ gilt (S.  80 f.) ihm der Umstand, „daß sich nie ein | Streben erfüllen läßt, ohne dem Erfolge A 93 anderer Streben in irgend einer Weise Abbruch zu tun“, 2. das Grundverhältnis der „Macht“ wurzelt darin, daß „es uns allzeit freisteht, durch vereintes Streben Erfolge zu erreichen, die dem einzelnen Streben versagt sind“.72 Zunächst fehlt nun diesen Tatbeständen die Ausnahmslosigkeit, welche für „Grundverhältnisse“ des „Alltagslebens“ schlechthin – die also durchaus alles, nicht etwa nur das daran für bestimmte Wissenschaften Wesentliche, umspannen sollen – zu verlangen wäre. Es ist weder wahr, daß die Kollision und also die Notwendigkeit der Wahl zwischen mehreren Zwecken ein unbedingt gültiger Tatbestand ist, noch, daß für alle denkbaren Zwecke die Vereinigung Mehrerer ein geeignetes Mittel ist, die Chancen der Erreichung zu steigern. Nun betont zwar angesichts der Möglichkeit solcher Einwände Gottl, daß das aus jenem „Grundverhältnis“ Nr.  1 („Not“) hervorgehende „Werten“ nur dahin verstanden werden solle, daß von mehreren kollidierenden Möglichkeiten jeweils nur eine faktisch Wirklichkeit wird,73 nicht aber als ein bewußtes Wählen zwischen „Zwecken“. Allein, so gefaßt, ist dieser „Tatbestand“ in Wahrheit bereits ein unter Verwendung der Kategorie der „Möglichkeit“ hergestelltes naturalistisches Gedankengebilde: den – nach Gottls Voraussetzung nicht seitens des „Handelnden“, sondern nur seitens der denkenden Analyse des „Handelns“ vorgestellten – mehreren „Möglichkeiten“ des Ablaufes des Handelns steht die „Tatsache“ gegenüber, daß eben nur ein konkret bestimmter Ablauf faktisch erfolgt. Genau das Gleiche gilt aber für jedes „Naturgeschehen“ dann, wenn wir dasselbe an der Hand der Kategorie der „Möglichkeit“ analysieren. Wann dies der Fall ist, ist hier nicht zu erörtern, – daß es geschieht, lehrt – unter anderen – jede Theorie der Wahrscheinlichkeitsrechnung.74 Und was die „Formel“ für „Haushalten“ anlangt (S.  209 a. a. O.: Ausgleich von Dauerstreben im Handeln derart, daß dadurch für die Andauer dieses Handelns eine Gewähr gegeben ist),75 so enthält dieselbe offenbar

d A: K.   71  Carl Mengers Schüler waren Friedrich von Wieser und Eugen von Böhm-Bawerk. Weber bezeichnete „Menger, Wieser, Böhm-Bawerk“ als Vertreter der „Neue[n] Theo­ rie: österr[eichische] Schule“. Vgl. Weber, Vorlesungen über „Allgemeine (‚theoretische‘) Nationalökonomie“, MWG III/1, S.  566. 72  Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  82. 73  Dies entspricht unter der Prämisse des Determinismus der auf Zufallsspielen wie dem Würfeln fußenden Kriesschen Theorie der objektiven Möglichkeit. Vgl. Einleitung, oben, S.  19 ff. 74  Zur Geschichte der Wahrscheinlichkeitstheorie vgl. Kries, Principien, S.  266 ff. 75  Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  213 ff.

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Allem Gesagten zum Trotz wird man nun aber doch daran festhalten wollen, daß jedenfalls auf einem Gebiet die an sich nur | erkenntnispsychologische Bedeutung der „nacherlebenden Deutung“ de facto den Sinn des „Geltens“ annehme: da nämlich, wo eben bloße nicht artikulierte „Gefühle“ historisches Erkenntnis­ objekt und eben daher die Suggestion von entsprechenden „Ge­fühlen“ bei uns das einzige mögliche Erkenntnisideal sei. Das „Einleben“ eines Historikers, Archäologen, Philologen in „Persönlichkeiten“, „Kunstepochen“, „Sprachen“ erfolge in Gestalt bestimmter „Gemeingefühle“, „Sprachgefühle“ usw., und man

gar nichts, was nicht schon in einem Begriff wie „Anpassung“ steckte. Denn auf ihren Gehalt an Urteilen analysiert, besagt die Formel eben nur: daß es wiederkehrendes (d. h. in bestimmten, als erheblich allein in Betracht gezogenen Hinsichten gleiches) Handeln gibt, dessen Wiederkehr auf seiner „Angepaßtheit“ an zwingende Situationen beruht. Eine kausale „Erklärung“ enthält der „Begriff“ (denn ein solcher, und zwar ein abstrakter, liegt vor) nicht, soll sie auch wohl nicht enthalten, wir „durchschauen“ aber mit seiner Hülfe auch nichts, wie wir es doch nach Gottls Theorie sollten.76 Er ist darin den entsprechenden biologischen Begriffen77 durchaus gleichartig und gleichwertig. – Im übrigen liegt hier durchaus die Absicht fern, Gottls Fortbildung der rationalen Konstruktion der österreichischen Schule als wertlos hinzustellen. Davon ist gar keine Rede: es ist ein bedeutender Fortschritt, daß hier gänzlich klar von einer in der Wirklichkeit generell gegebenen („objektiven“) Situation: – Begrenztheit des Könnens im Verhältnis zum Wollen – als letzter Grundlage jener Lehrsätze ausgegangen wird, statt von angeblich „psychologischen“ Abstraktionen, und daß damit die „abstrakte“ Theorie von der immer wieder gehörten absolut schiefen – aber freilich durch manche ÄuA 94 ßerungen von Bonar,78 John79 und Menger80 selbst mitverschuldeten | – Charakterisierung als einer „psychologischen“ Begründung der Werttheorie befreit wird. Mit irgend welcher „Psychologie“, sei sie „Individual-“ oder „Sozial“-Psychologie, hat die „Grenznutzlehre“81 auch nicht das allergeringste zu schaffen.

76  Vgl. ebd., S.  78 f.: „Aber nach dem Vorbilde unseres Handelns durchschauen wir das erlebte Geschehen gleich auch in seinen seitlichen Zusammenhängen.” 77 Zum Begriff „Anpassung“ vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  265 mit Anm.  91. 78 Bonar rekonstruiert in seiner Darstellung der österreichischen Schule Mengers Werttheorie als eine Lehre, deren zentrale Eigenschaft die „psychological analysis“ sei. Vgl. Bonar, James, The Austrian Economists and their View of Value, in: Quarterly Journal of Economics, Vol.  3, 1888/89, S.  1–31, hier S.  2 f. 79  Für John zeigen sich Gesetze „im Gebiet der Menschenwelt […] nur in der That des Individuums“. Die Analyse dieses Tuns wird dadurch zur „Analyse einer Willens­ äusserung“ und erhält damit den Charakter einer „psychologischen Beobachtung“. Vgl. John, Vincenz, Zur Methode der heutigen Social-Wissenschaft, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Jg. 1, 1892, S.  212–226, hier S.  219. 80  Vgl. Menger, Untersuchungen, S.  258, wo er von der „psychologische[n] Begründung der allgemeinsten Wirthschaftsphänomene“ spricht. 81  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  202 mit Anm.  99.

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hat21) diese Gefühle geradezu als den sichersten „Canon“ für die historische Bestimmung z. B. der Provenienz einer Urkunde, eines Kunstwerks, oder für die Deutung der Gründe und des Sinnes einer historischen Handlung hingestellt. Da nun der Historiker anderseits bezwecke und bezwecken müsse, uns die „Kulturerscheinungen“ (wozu natürlich z. B. auch einzelne historisch, speziell auch rein politisch bedeutsame „Stimmungen“ gehören) „nacherleben“ zu lassen, sie uns zu „suggerieren“, so sei wenigstens in diesen Fällen diese suggerierende „Deutung“ ein Vorgang, welcher gegenüber der begrifflichen Artikulation auch erkenntnistheoretisch autonom sei. Versuchen wir, in diesen Ausführungen Zutreffendes von Falschem zu sondern. Was zunächst jene behauptete Bedeutung der „Gemeingefühle“ oder „Totalititätsgefühle“ als „Canon“ der kulturhistorischen Einordnung oder der Deutung von „Persönlichkeiten“ anlangt, so ist die Bedeutung des – wohlgemerkt: durch konstante denkende Beschäftigung mit dem „Stoff“, d. h. aber: durch Übung, also „Erfahrung“ erworbenen22) – „Gefühls“ für die psychologische Genesis | einer Hypothese im Geist des Historikers sicherlich von eminenter Bedeutung, ja geradezu unentbehrlich: durch bloßes Hantieren mit „Wahrnehmungen“ und „Begriffen“ ist noch keinerlei wertvolle historische, aber auch keinerlei Erkenntnis irgend welcher andern Art, „geschaffen“ worden. Was dagegen die angebliche „Sicherheit“ im Sinn des wissenschaftlichen „Geltens“ anlangt, so wird jeder gewissenhafte Forscher die Ansicht auf das bestimmteste ablehnen müssen, daß der Berufung auf „Totalitätsgefühle“, z. B. auf den „allgemeinen Charakter“ einer Epoche, eines Künstlers usw. irgend welcher Wert zukomme, 21) So Elsenhans in dem früher zitierten Aufsatz S.  23.82 Die Totalitätsgefühle, mit denen wir die Vorstellung einer bestimmten „historischen Epoche“ begleiten, könnten – meint der Verf[asser] – „trotz aller scheinbaren Unbestimmtheit einen sichern Kanon des Erkennens abgeben“, insbesondere werde „mit instinktiver Sicherheit entschieden“, ob ein Vorstellungskomplex in dieses Gefühlsganze „hineinpasse“, – nach Analogie des „Sprachgefühls“. 22) Also darin dem Wesen nach durchaus gleichartig dem in keiner Weise bewußt artikulierten „Gefühl“, nach welchem etwa ein Schiffskapitän im Moment der Kollisionsgefahr, wo von dem in Bruchteilen einer Sekunde zu fassenden Entschluß alles abhängt, handelt. Kondensierte „Erfahrung“ ist hier wie dort das Ausschlaggebende, die Artikulierbarkeit hier wie dort im Prinzip gleich möglich. |

82  Elsenhans, Deutung, S.  23; zitiert in Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  308, Fn.  46.

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sofern sie sich nicht in bestimmt artikulierte und demonstrierbare Urteile, d. h. aber in „begrifflich“ geformte „Erfahrung“ durchaus im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes umsetzen und so kontrollieren läßt. – Damit ist im Grunde auch schon gesagt, was es mit der historischen „Reproduktion“ von gefühlsmäßigen seelischen Inhalten, wo sie historisch (kausal) relevant sind, für eine Bewandtnis hat. Daß „Gefühle“ sich nicht in dem Sinne begrifflich „definieren“ lassen wie etwa ein rechtwinkliges Dreieck oder wie Abstraktionsprodukte der quantifizierenden Wissenschaften, teilen sie durchaus mit allem Qualitativen. Alle Qualia,83 mögen wir sie als Qualitäten der „Dinge“ in die Welt außer uns „projizieren“ oder als psychische Erlebungen in uns „introjizieren“, besitzen als solche diesen Charakter des notwendig relativ „Unbestimmten“. Für Lichtfarben, Klangfarben, Geruchsnüancen usw. gilt natürlich genau im gleichen Sinn wie für religiöse, ästhetische, ethische „Wertgefühle“, daß bei ihrer schildernden Darstellung letztlich „ein jeder sieht, was er im Herzen trägt“.84 Die Deutung „psychischer“ Vorgänge arbeitet also, soweit nur dieser Umstand in Frage kommt, in durchaus keinem andern Sinn mit prinzipiell nicht absolut eindeutig bestimmbaren Begriffen, wie jede Wissenschaft, welche vom Qualitativen nicht durchweg abstrahiert, überhaupt es tun muß23). | A 95

23) Daran ändert natürlich auch die experimentalpsychologische „Meßbarkeit“ bestimmter Äußerungen psychischer Vorgänge nichts. Denn es ist zwar keineswegs richtig, daß das „Psychische“ als solches überhaupt inkommunikabel sei (Münsterberg),85 – das ist vielmehr eine Eigenart derjenigen „Erlebungen“, welche wir, eben deshalb, als „mystische“ bezeichnen,86 – aber es ist, wie alles Qualitative, nur in relativer Eindeutigkeit kommunikabel, und die „Messung“ erfaßt hier, wie in der Statistik die Zählung, nur das zu einer bestimmten Art von äußerem Ausdruck gelangende Psychische oder vielmehr: nur diese Art seiner Äußerung. Die psychometrische Messung bedeutet nicht Herstellung der Kommunikabilität überhaupt (Münsterberg),87 sondern Steigerung ih-

83  Plural von Quale, lat.: „wie beschaffen“, ein wahrscheinlich auf Charles Sanders Peirce zurückgehender Begriff zur Bezeichnung von Erfahrungen mit empfindungsmäßiger Qualität wie Wahrnehmungen und Gefühle. Weber benutzt den Begriff in einem Brief an Willy Hellpach vom 10. Okt. 1905, MWG II/4, S.  550–553, hier S.  551. Hellpach selbst unterscheidet zwischen der psychischen „Kausalität der Qualia“ und der physischen „Kausalität der Quanta“. Vgl. Hellpach, Wissenschaftslehre, S.  83. Vgl. auch Weber, Stammler, unten, S.  521. 84  Zu diesem Goethe-Zitat vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  227 mit Anm  68. 85  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  268 f. 86  Zu „Psychologie und Mystik” vgl. ebd., S.  170 ff. 87  Zur „scheinbare[n] Messung des Psychischen“ vgl. ebd., S.  270 ff.

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Soweit der Historiker in seiner Darstellung sich mit „suggestiv“ wirkenden Mitteln an unser „Gefühl“ wendet, also m. a. W. ein begrifflich nicht artikulierbares „Erlebnis“ in uns zu provozieren trachtet,88 handelt es sich entweder um eine Stenographie89 für die Darstellung von Teilerscheinungen seines Objekts, deren begriffliche Bestimmtheit für den konkreten Erkenntniszweck ohne Schaden unterlassen werden kann: – dies ist eine Folge des Umstandes, daß die prinzipielle Unausschöpfbarkeit90 des empirisch gegebenen Mannigfaltigen jede Darstellung nur als einen „relativen“ Abschluß des historischen Erkenntnisprozesses „Geltung“ erlangen läßt. Oder aber: die Provokation eines reinen Gefühlserlebnis-

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rer Be|stimmtheit durch Quantifikation jeweils einer Äußerungsform eines „psychisch A 96 bedingten“ Vorgangs. Aber es stände übel um die Wissenschaft, wenn deshalb eine Klassifikation und eine, je nach dem konkreten Forschungszweck, ausreichende relative Bestimmtheit der begrifflichen Formung „psychischen“ Stoffes nicht möglich wäre. Tatsächlich wird sie von allen nicht quantifizierenden Wissenschaften konstant vorgenommen und verwertet. Man hat oft, und richtig verstanden, mit Recht, es als die ungeheure Bedeutung des Geldes bezeichnet, daß es das Ergebnis subjektiver „Wertungen“ in materieller Form zum Ausdruck zu bringen gestatte, sie „meßbar“ werden lasse.91 Zu vergessen ist dabei aber nicht, daß der „Preis“ absolut keine dem psychometrischen Experiment parallele Erscheinung, vor allem kein Maßstab einer „sozialpsychischen“ Wertung, eines „sozialen Gebrauchswertes“ ist,92 sondern ein unter sehr konkreten, historisch eigenartigen Bedingungen entstehendes Kompromißprodukt kämpfender Interessen. Aber er teilt allerdings mit dem psychometrischen Experiment den Umstand, daß eben nur die, nach Maßgabe der gegebenen sozialen Konstitution, (als „Kaufkraft“ usw.) zu einer bestimmten Art von „Äußerung“ gelangenden Strebungen „meßbar“ werden. | 88  Vgl. Münsterberg, Psychologie, S.  129: „erst in der Darstellung kann das kritisch bearbeitete Material jene Umformung erfahren, auf welche der Historiker ausgeht; erst in der Darstellung vollendet sich jener Ausleseprozeß, für den der Gegensatz bedeutsam und einflußlos nicht minder entscheidend wird als der Gegensatz überliefert und nicht überliefert. Nur insofern aber berührt sich der Historiker dabei aber mit dem Dichter, als beide mit dem ganzen Register suggerierender Hilfsmittel den Leser zum subjektivierenden Standpunkt hinzwingen müssen. Beschreiben kann der Historiker ja unmittelbar auch nur das Beschreibbare, also das Objekt, auf das es als solches aber garnicht ankommt. Das Objekt muß subjektiv apperzipiert, die Vorstellung von den Selbststellungen durchdrungen, der beschriebene Mensch muß verstanden und nacherlebt werden; in diesen Hilfsmitteln werden sich Dichter und Historiker begegnen, so weit abliegend voneinander auch ihre Ziele sind und so wenig, da doch die Ziele verschieden, der Historiker dadurch zum Künstler wird.“ 89  Zu „Begriffsstenographie“ vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  208 mit Anm.  23. 90  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  35. 91  Zum „Geld als ‚Massstab der Preise‘ und als ökonomischste Form der Tauschvorräthe“ vgl. Menger, Grundsätze (wie oben, S.  16, Anm.  11), S.  271 ff. 92  Wieser, Friedrich von, Der natürliche Werth. – Wien: Hölder 1889 (hinfort: Wieser, Werth), S.  60 f., spricht vom „gesellschaftlichen Gebrauchswerth“.

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ses in uns beansprucht, als spezifisches Erkenntnismittel zu dienen: als „Veranschaulichung“ z. B. des „Charakters“ einer „Kulturepoche“ oder eines „Kunstwerkes“. Alsdann kann sie zwiefachen logischen Charakter haben. Sie kann mit dem Anspruch auftreten, ein „Nacherleben“ des – je nach der Ausdrucksweise – „geistigen“ oder „psychischen“ „Gehaltes“ des „Lebens“ der betreffenden Epoche oder Persönlichkeit oder des konkreten Kunstwerkes darzustellen. In diesem Fall enthält sie beim Darsteller und erzeugt sie beim Leser, der sich mit ihrer Hülfe „einfühlt“, solange sie im Stadium des „Gefühlten“ beharrt,93 stets und unvermeidlich unartikulierte eigene Wertgefühle, bezüglich deren an sich nicht die mindeste Gewähr besteht, daß sie den „Gefühlen“ jener historischen Menschen irgendwie entsprechen, in welche er sich „ein|fühlt“24). Es fehlt ihr deshalb auch jeder kontrollierbare Maßstab für eine Unterscheidung von kausal „Wesentlichem“ und „Unwesentlichem“. Wie das „Totalitätsgefühl“, welches in uns z. B. durch eine fremde Stadt erzeugt wird, im Stadium des rein „Gefühlsmäßigen“ durch Dinge, wie die Lage der Schornsteine, die Form der Dachgesimse und dergl. absolut „zufällige“, d. h. hier: für den eignen „Lebensstil“94 ihrer Bewohner in keinem Sinn kausal „wesentliche“ Elemente bestimmt zu werden pflegt, so steht es auch, nach aller Erfahrung, mit allen unartikulierten historischen „Intuitionen“95 ohne alle Ausnahme: ihr wissenschaftlicher Erkenntniswert 24) Wer die Eigenart solcher Provokationen von Gefühlsdeutungen im Gegensatz zu begrifflich artikulierter und deshalb empirischer Analyse sich an einem Beispiel vergegenwärtigen will, vergleiche in Carl Neumanns „Rembrandt“ die „Deutung“ der „Nachtwache“ mit derjenigen von „Manoahs Opfer“, – beides gleich ungewöhnlich schöne Leistungen auf dem Gebiet der Interpretation von Kunstwerken, aber nur die erste, nicht die zweite, durchweg empirischen Charakters.96 |

93  Vgl. Elsenhans, Deutung, S.  24 f.: „So kann der Historiker eine geschichtliche Periode anschaulich schildern, indem er aus der Stimmung heraus, in welche er sich bei der Vertiefung in dieselbe versetzt fühlt, eine Reihe von Vorstellungen und entsprechenden Wortbildern in sich hervorruft, deren Gefühlswirkung jener Stimmung entspricht und die daher auch den Hörer oder Leser in dieselbe Gefühlslage überführt.“ 94  Vgl. Simmel, Georg, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Petermann, Theodor (Hg.), Die Großstadt. Vorträge und Reden zur Städteausstellung (Jahrbuch der GeheStiftung, Band 9). – Dresden: Jahn & Jaentsch 1903, S.  185–206, hier S.  193: „Stil des Lebens“. 95  Für Croce, Aesthetik, S.  27, konstruiert die Geschichte keine allgemeinen Begriffe und Abstraktionen, sondern reiht „Intuitionen“ aneinander. 96  Vgl. Neumann, Rembrandt, S.  217 ff., über die Nachtwache S.  281 f., und das Opfer von Manoah S.  320 f.

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sinkt zumeist parallel mit ihrem ästhetischen Reiz; sie können unter Umständen bedeutenden „heuristischen“ Wert gewinnen, unter Umständen aber auch der sachlichen Erkenntnis geradezu im Wege stehen, weil sie das Bewußtsein davon, daß es sich um Gefühlsinhalte des Beschauers, nicht der geschilderten „Epoche“ resp. des schaffenden Künstlers usw. handelt, verdunkeln. Der subjektive Charakter derartiger „Erkenntnis“ ist in diesem Falle identisch mit dem Mangel der „Geltung“, eben weil eine begriffliche Artikulation unterlassen ist, und die „Anempfindung“97 dadurch sich der Demonstration und Kontrolle entzieht. Und sie trägt überdies die eminente Gefahr in sich, die kausale Analyse der Zusammenhänge zugunsten des Suchense nach einem dem „Totalgefühl“ entsprechenden „Gesamtcharakter“ zurückzudrängen, welcher nun, – da das Bedürfnis nach einer die „Gefühlssynthese“ wiedergebenden Formel an die Stelle desjenigen nach empirischer Analyse getreten ist, – der „Epoche“ als Etikette aufgeklebt wird.98 Die subjektive gefühlsmäßige „Deutung“ in dieser Form stellt weder empirische historische Erkenntnis realer Zusammenhänge (kausaler Deutung) dar, noch dasjenige andere, was sie außerdem noch sein könnte: wertbeziehende Interpretation. Denn dies ist derjenige andere Sinn des „Erlebens“ eines historischen Objektes, welcher neben der kausalen Zurechnung in der „Kategorie“, mit welcher wir uns hier befassen, liegen kann. Ich habe über ihr logisches | Verhältnis zum Geschichtlichen an anderer Stelle gehandelt25), und es genügt hier, festzustellen, daß in dieser Funktion die „Deutung“ eines ästhetisch, ethisch, intellektuell oder unter Kulturwertgesichtspunkten aller denkbaren Art bewertbaren Objektes nicht

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25) Jaffé-Braunsches Archiv, Januarheft 1906.99 Im übrigen ist auch hier durchaus A 98 auf die Ausführungen Rickerts zu verweisen.1

e A: Suchers   97  Ein im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert verbreiteter Begriff zur Bezeichnung einer spezifischen, bisweilen mit dem Begriff „Dilettantismus“ konnotierten Art, Vergangenes, Fremdes oder auch nur Anderes zu erfassen. Troeltsch spricht z. B. vom Verstehen anderer Religionen als einer „hypothetischen Anempfindung“. Vgl. ­Troeltsch, Ernst, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte. Vortrag gehalten auf der Versammlung der Freunde der Christlichen Welt zu Mühlacker am 3. Oktober 1901. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1902, S.  52 f., 59, 61. 98  Vgl. Elsenhans, Deutung, S.  20 ff. 99  Weber, Kritische Studien, unten, S.  380–480. 1  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  305 ff.

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Bestandteil einer (im logischen Sinn) rein empirisch-historischen – d. h. konkrete, „historische Individuen“ zu konkreten Ursachen zurechnenden – Darstellung, sondern vielmehr – vom Standpunkt der Geschichte aus betrachtet – Formung des „historischen Individuums“ ist. Die „Deutung“ des „Faust“, oder etwa des „Puritanismus“ oder etwa bestimmter Inhalte der „Griechischen Kultur“ in diesem Sinn ist Ermittlung der „Werte“, welche „wir“ in jenen Objekten „verwirklicht“ finden können und derjenigen stets und ausnahmslos individuellen „Form“, in welcher „wir“ sie darin „verwirklicht“ finden, und um derentwillen jene „Individuen“ Objekte der historischen „Erklärung“ werden: – mithin eine geschichtsphi­ losophische Leistung.2 Sie ist in der Tat „subjektivierend“,3 wenn nämlich darunter verstanden wird, daß die „Geltung“ jener Werte selbstverständlich von uns niemals im Sinn einer Geltung als empirischer „Tatsachen“ gemeint sein kann. Denn in dem hier jetzt in Rede stehenden Sinn verstanden, interpretiert sie nicht, was die historisch an der Schaffung des „bewerteten“ Objekts Beteiligten ihrerseits subjektiv „empfanden“ – das ist ihr, soweit sie Selbstzweck ist, nur eventuell Hülfsmittel für unser eigenes, besseres „Verständnis“ des Wertes26) –[,] sondern was „wir“ in dem Objekt an Werten finden „können“ – oder etwa auch: „sollen“. Im letzteren Fall setzt sie sich die Ziele einer normativen Disziplin – etwa der Ästhetik – und „wertet“ selbst, im ersteren ruht sie, logisch betrachtet, auf der Grundlage „dialektischer“ Wertanalyse4 und ermittelt ausschließlich „mögliche“ Wertbeziehungen des Objekts. Diese „Beziehung“ auf „Werte“5 ist es nun aber, – und das ist ihre in unserm Zusammenhang entscheidend wichtige Funktion, – welche zugleich den einzigen Weg darstellt, aus der völligen Unbe26)

  In dieser Hinsicht ist B[enedetto] Croce vollkommen beizutreten.6 |

2  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  600 ff. Vgl. auch Rickert, Heinrich, Geschichtsphilosophie, in: Windelband, Wilhelm (Hg.), Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, Band 2. – Heidelberg: Carl Winter 1905, S.  51–135 (hinfort: Rickert, Geschichtsphilosophie). 3 Zum „erkenntnisstheoretische[n] Subjektivismus“ vgl. Rickert, Grenzen, S.  660 ff. Vgl. auch Münsterberg, Psychologie, S.  41. 4 Diesen Begriff verwendet Rickert nicht. Vgl. aber sinngemäß Rickert, Grenzen, S.  378. 5  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  153 mit Anm.  43, S.  166 mit Anm.  71, und S.  189 mit Anm.  53. 6  Vgl. Croce, Aesthetik, S.  46 ff.

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stimmtheit des „Eingefühlten“ herauszukommen zu derjenigen Art von Bestimmtheit, deren die Erkenntnis individueller geistiger Bewußtseinsinhalte fähig ist. Denn im Gegensatz zum bloßen „Gefühlsinhalt“ bezeichnen wir als „Wert“ ja eben gerade das und nur das, was fähig ist, Inhalt einer | Stellungnahme: eines artikuliert-bewußten positiven und negativen „Urteils“ zu werden, etwas, was „Geltung heischend“ an uns herantritt, und dessen „Geltung“ als „Wert“ „für“ uns demgemäß nun „von“ uns anerkannt, abgelehnt oder in den mannigfachsten Verschlingungen „wertend beur­ teilt“ wird. Die „Zumutung“ eines ethischen oder ästhetischen „Wertes“ enthält ausnahmslos die Fällung eines „Werturteils“. Ohne nun auf das Wesen der „Werturteile“ hier noch näher eingehen zu können27), so ist für unsere Betrachtungen das eine jedenfalls festzustellen: daß die Bestimmtheit des Inhaltes es ist, welches das Objekt, auf welches sie sich beziehen, aus der Sphäre des nur „Gefühlten“ heraushebt. Ob irgend jemand das „Rot“ einer bestimmten Tapete „ebenso“ sieht wie ich, ob es für ihn dieselben „Gefühlstöne“ besitzt, ist durch kein Mittel eindeutig festzustellen, die betreffende „Anschauung“ bleibt in ihrer Kommunikabilität notwendig unbestimmt. Die Zumutung, ein ethisches oder ästhetisches Urteil über einen Tatbestand zu teilen, hätte dagegen gar keinen Sinn, wenn – bei allem Mitspielen inkommunikabler „Gefühls“bestandteile – nicht dennoch der „zugemutete“ Inhalt des Urteils in den Punkten, „auf die es ankommt“, identisch „verstanden“ würde. Beziehung des Individuellen auf mögliche „Werte“ bedeutet stets ein – immer nur relatives! – Maß von Beseitigung des lediglich anschaulich „Gefühlten“. Eben darum – und damit kommen wir noch einmal abschließend auf einige schon früher gemachte Andeutungen zurück7 – tritt diese geschichtsphilosophische „Deutung“, und zwar in ihren beiden möglichen Formen: der direkt wertenden (also metaphysischen) und der lediglich wertanalytischen, offensichtlich fortwährend in den Dienst des „einfühlenden Verständnisses“ des Historikers. Es kann in dieser Hinsicht durchaus

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27) Es ist der psychologische Einschlag in den antipsychologistischen Ausführungen A 99 Croces, daß er die Existenz von „Werturteilen“ in diesem Sinne leugnet, obwohl seine eigene Konstruktion mit ihnen steht und fällt.8

7  Möglicherweise Bezug auf Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  319 ff. 8  Zur Kritik der praktischen oder Werturteile vgl. Croce, Aesthetik, S.  48 f.

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auf die, nur in der Formulierung hier und da nicht abschließenden, gelegentlich auch sachlich nicht ganz unbedenklichen Bemerkungen Simmels28) verwiesen und | mag nur folgendes ergänzend hinzugefügt werden: Weil das „historische Individuum“9 auch in der speziellen Bedeutung der „Persönlichkeit“ im logischen Sinn nur eine durch Wertbeziehung künstlich hergestellte „Einheit“ sein kann, ist „Wertung“ die normale psychologische Durchgangsstufe für das „intellektuelle Verständnis“.10 Die volle Verdeutlichung der historisch relevanten Bestandteile der „inneren Entwickelung“ einer „historischen Persönlichkeit“ (etwa Goethes oder Bismarcks) oder auch nur ihres konkreten Handelns in einem konkreten historisch relevanten Zusammenhang pflegt in der Tat nur durch Konfrontation möglicher „Wertungen“ ihres Verhaltens gewonnen zu werden, so unbedingt die Überwindung dieser psychologischen Durchgangsstufe in der Genesis seines Erkennens vom Historiker

28)  Simmels Formulierungen (S.  52, 54, 56)11 sind auch hier psychologisch-deskriptiv und deshalb trotz ihrer ungemeinen Feinheit logisch m. E. nicht durchweg einwandsfrei. Richtig ist 1. daß starke „Subjektivität“ des Historikers als „Persönlichkeit“ der kausalen „Deutung“ historischen Handelns und historischer Individualitäten, oft gerade ihm nicht konformer, ungemein zu statten kommen kann, – 2. daß unser historisches Verständnis „scharf umrissener“, hochgradig „subjektiver“ Persönlichkeiten nicht selA 100 ten besonders „evident“ ist; – beide Er|scheinungen hängen mit der Rolle zusammen, welche die Beziehung auf Werte in der erkennenden Formung des Individuellen spielt. Die intensiven „Wertungen“ der „reichen“ und „eigenartigen“ Persönlichkeit des Historikers sind ferner heuristisches Mittel ersten Ranges für die Aufdeckung nicht an der Oberfläche liegender Wertbeziehungen historischer Vorgänge und Persönlichkeiten: – aber eben diese Fähigkeit des Historikers zur geistig klar entwickelten Wertung und die dadurch vermittelte zur Erkenntnis von Wertbeziehungen kommen in Betracht, nicht irgend ein Irrationales seiner Individualität. Psychologisch beginnt das „Verstehen“ als ungeschiedene Einheit von Wertung und kausaler Deutung, die logische Bearbeitung aber setzt an Stelle der Wertung die bloß theoretische „Beziehung“ auf Werte bei Formung der „historischen Individuen“. – Es ist auch bedenklich, wenn Simmel (S.  55 unten, 56)12 meint, an den Stoff sei der Historiker gebunden, in der For­ mung zum Ganzen des historischen Verlaufs sei er „frei“. Die Sache liegt m. E. umgekehrt: in der Auswahl der leitenden Werte, die ihrerseits die Auslese und Formung des zu erklärenden „historischen Individuums“ (auch hier natürlich, wie immer, in dem unpersönlichen rein logischen Sinn des Wortes) bestimmen, ist der Historiker „frei“. Auf seinem weiteren Wege ist er aber an die Prinzipien kausaler Zurechnung schlechthin gebunden und „frei“ in gewissem Sinn nur in der Ausgestaltung des logisch „Zufälligen“: d. h. der Gestaltung des rein ästhetischen „Veranschaulichungsmaterials“.

9  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  185 mit Anm.  40. 10  Vgl. oben, S.  328 mit Anm.  1. 11  Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  51 ff. 12  Ebd., S.  55 f.

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beansprucht werden muß. Wie in dem früher benutzten Beispiel des Patrouillenführers13 die kausale Deutung in den Dienst des praktischen „Stellungnehmens“ trat, indem sie das noëtische14 „Verstehen“ der aus sich selbst nicht eindeutigen Order ermöglichte, so tritt in diesen Fällen umgekehrt die eigene „Wertung“ als Mittel in den Dienst des „Verstehens“, und das heißt hier: der kausalen Deutung fremden Handelns29). In diesem Sinn und aus diesem | Grund ist es richtig, daß gerade eine ausgeprägte „Individualität“ des Historikers, d. h. aber: scharf präzisierte „Wertungen“, die ihm eigen sind, eminent leistungsfähige Geburtshelfer kausaler Erkenntnis sein können, so sehr sie auf der andern Seite durch die Wucht ihres Wirkens die „Geltung“ der Einzelergebnisse als Erfahrungswahrheit auch wieder zu gefährden geeignet sind30).

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29)  Auch in den Fällen, wo eine „teleologische“ Wertung an der Hand der Kategorie „Zweck“ und „Mittel“ angenommen wird – das übliche Schulbeispiel der Historiker ist die Kriegsgeschichte – ist der logische Sachverhalt genau der|selbe. Die auf Grund stra- A 101 tegischer „Kunstlehren“ gewonnene Erkenntnis, daß eine bestimmte Maßnahme Moltkes ein „Fehler“ war,15 d. h. die geeigneten „Mittel“ zu dem feststehenden „Zwecke“ verfehlte, hat für eine geschichtliche Darstellung lediglich den Sinn, uns zur Erkenntnis der kausalen Bedeutung zu verhelfen, welche jener (teleologisch „fehlerhafte“) Entschluß auf den Verlauf der geschichtlich relevanten Ereignisse gehabt hat. Den Lehren der Strategie entnehmen wir lediglich die Erkenntnis der „objektiven“ Möglichkeiten,16 welche für den Fall der verschiedenen denkbaren Entschlüsse als realisierbar zu denken sind. (Die Darstellung Bernheims ist auch in diesem Punkt logisch recht unklar.)17 30)  Jakob Burckhardtf ist für beide Seiten dieses Vorganges ein hervorragendes Beispiel.18

f A: Burkhardt   13  Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  312. 14  Vgl. ebd., oben, S.  287 mit Anm.  52. 15  Trotz des Sieges über Österreich in der Schlacht von Königgrätz 1866 kamen bereits Zweifel an der Kriegsführung Helmuth von Moltkes auf. So formulierte der Chef des Generalstabs der Zweiten Armee, Leonhard von Blumenthal, am 2. Juni 1866 Bedenken wegen der fortwährenden Änderungen der Organisation, in der er kein „großes Kunststück” erkannte. Vgl. Blumenthal, Albrecht Graf von (Hg.), Tagebücher des Generalfeldmarschalls Graf von Blumenthal aus den Jahren 1866 und 1870/71. – Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta Nachf. 1902, S.  16 f. Hingegen hat für Meyer, Theorie, S.  44, „der Krieg von 1866 ewiesen“, daß Moltke ein „strategisches Genie“ war. 16  Vgl. Kries, Möglichkeit; dazu Einleitung, oben, S.  19 ff. 17 Gemeint sind möglicherweise Bernheims Ausführungen zur teleologischen Begriffsbildung in der Geschichte. Vgl. Bernheim, Lehrbuch, S.  118 f., 704. Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  300, Fn.  38, mit Anm.  99. 18  Weber hat sich intensiv mit Burckhardt befaßt. Anlaß dazu war ein Aufsatz von Carl Neumann, der Burckhardt mit Blick auf den Methodenstreit unter Historikern interpre-

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Um hiermit diese notgedrungen etwas eintönige Auseinandersetzung mit den mannigfachen, in allerhand Farben und Formen schillernden Theorien, von der angeblichen Eigenart der „subjektivierenden“ Disziplinen und der Bedeutung dieser Eigenart für die Geschichte abzuschließen, so ist das Ergebnis lediglich die eigentlich recht triviale, aber trotz allem immer wieder in Frage gestellte Einsicht, daß weder die „sachlichen“ Qualitäten des „Stoffes“ noch „ontologische“ Unterschiede seines „Seins“, noch endlich die Art des „psychologischen“ Herganges der Erlangung einer bestimmten Erkenntnis über ihren logischen Sinn und über die Voraussetzungen ihrer „Geltung“ entscheiden. Empirische Erkenntnis auf dem Gebiet des „Geistigen“ und auf demjenigen der „äußern“ „Natur“, der Vorgänge „in“ uns und derjenigen „außer“ uns[,] ist stets an die Mittel der „Begriffsbildung“ gebunden, und das Wesen eines „Begriffs“ ist auf beiden sachlichen „Gebieten“ logisch das gleiche. Die logische Eigenart „historischer“ Erkenntnis im Gegensatz zu der im logischen Sinn „naturwissenschaftlichen“ hat mit der Scheidung des „Psychischen“ vom „Physischen“, der „Persönlichkeit“ und des „Handelns“ vom toten „Naturobjekt“ und „mechanischen Naturvorgang“[,] durchaus nichts zu schaffen31). Und noch weniger darf die „Evidenz“ der | „Einfühlung“ in tatsächliche oder potentielle „bewußte“ innere „Erlebungen“g – eine lediglich phänomenologische Qualität der „Deutung“ –[,] mit einer spezifischen empirischen „Gewißheit“ „deutbarer“ Vorgänge identifiziert werden. – Weil und soweit es 31)  Darüber s[iehe] Rickert a. a. O.19 Gleichwohl hat natürlich seine Bezeichnung der „Gesetze“ suchenden Arbeit als „naturwissenschaftlicher“ Begriffsbildung in der Polemik der Gegner die stete Vermischung des „ressortmäßigen“ mit dem logischen Begriff der „Naturwissenschaften“ zur Folge gehabt. |

g A: „Erlebungen“,   tierte. Vgl. Neumann, Carl, Griechische Kulturgeschichte in der Auffassung Jakob Burckhardts, in: Historische Zeitschrift, 85.  Band (N. F., 49.  Band), 1900, S.  385–452. Weber hat daraufhin auch Burckhardts „Cicerone“ studiert, in dem der Begriff „Idealtypus“ auftaucht. Vgl. Burckhardt, Cicerone (wie oben, S.  25, Anm.  78), S.  510. Vgl. dazu den Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 25. Jan. 1902, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446; sowie die Briefe von Max Weber an Marianne Weber vom 22. Juli 1901, MWG II/3, S.  793, und an Carl Neumann vom 11. Nov. 1901, ebd., S.  796–798. 19  Rickert, Grenzen, S.  147 ff.

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uns etwas „bedeuten“ kann, wird eine, physische oder psychische oder beides umfassende, „Wirklichkeit“ von uns als „historisches Individuum“ geformt; – weil es durch „Wertungen“ und „Bedeutungen“ bestimmbar ist, wird „sinnvoll“ deutbares menschliches Sich-Verhalten („Handeln“) in spezifischer Art von unserm kausa­ len Interesse bei der „geschichtlichen“ Erklärung eines solchen „Individuums“ erfaßt; – endlich: soweit es an sinnvollen „Wertungen“ orientiert oder mit ihnen konfrontierbar ist, kann menschliches Tun in spezifischer Art „evident“ „verstanden“ werden. Es handelt sich also bei der besonderen Rolle des „deutbar“ Verständlichen in der „Geschichte“ um Unterschiede 1. unseres kausalen Interesses und 2. der Qualität der erstrebten „Evidenz“ individueller Kausalzusammenhänge, nicht aber um Unterschiede der Kausalität oder der Bedeutung und Art der Begriffsbildung. – Es erübrigt jetzt nur noch, einer bestimmten Art der „deutenden“ Erkenntnis einige Betrachtungen zu widmen: der „rationalen“ Deutung mittelst der Kategorien „Zweck“ und „Mittel“. Wo immer wir menschliches Handeln als durch klar bewußte und gewollte „Zwecke“ bei klarer Erkenntnis der „Mittel“ bedingt „verstehen“, da erreicht dieses Verständnis unzweifelhaft ein spezifisch hohes Maß von „Evidenz“. Fragen wir nun aber, worauf dies beruhe, so zeigt sich als Grund alsbald der Umstand, daß die Beziehung der „Mittel“ zum „Zweck“ eine rationale, der generalisieren­ den Kausalbetrachtung im Sinn der „Gesetzlichkeit“ im spezifischen Maße zugängliche ist. Es gibt kein rationales Handeln ohne kausale Rationalisierung des als Objekt und Mittel der Beeinflussung in Betracht gezogenen Ausschnittes aus der Wirklichkeit, d. h. ohne dessen Einordnung in einen Komplex von Erfahrungsregeln, welche aussagen, welcher Erfolg eines bestimmten Sich-Verhaltens zu erwarten steht. Zwar ist es in jedem Sinn grundverkehrt, wenn behauptet wird, die „teleologische“32) „Auffassung“ eines Vorgan32) Über das Verhältnis von „Telos“ und „Causa“ in der sozialwissenschaftlichen Er- A 102 kenntnis herrscht mehrfach, namentlich seit Stammlers geistvollen, aber manche Trugschlüsse enthaltenden Arbeiten20 eine erstaunliche Verwirrung. Den Gipfel der Konfusion in dieser Hinsicht möchte zur Zeit | Dr. Biermann in seinen Aufsätzen: „W. Wundt A 103 und die Logik der Sozialwissenschaften“, Conrads Jahrb[ücher], Januar 1903, „Natur und Gesellschaft“, ebda. Juli 1903 und vollends: „Sozialwissenschaft, Geschichte und

20  Vgl. Stammler, Wirtschaft1, S.  349 ff.; Stammler, Wirtschaft2, S.  337 ff.

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ges sei aus | diesem Grunde als eine „Umkehrung“21 der kausalen Naturwissenschaft“ 1904, XXVIII, S.  592 f.h erklommen haben.22 Dagegen, daß er die „gegensätzliche Formulierung von Theorie und Geschichte“ seinerseits vertrete, „verwahrt“ er sich „ausdrücklich“, da sie ihm „unklar und prinzipiell unberechtigt“ erscheint.23 Die Unklarheit ist in der Tat vorhanden, aber wohl nur insofern, als jene Beziehungen eben leider dem Verfasser völlig unklar geblieben sind, da er sich andernfalls nicht auf Forscher wie Windelband und Rickert berufen könnte,24 welche über diese ihnen zugemutete Eideshelferschaft nicht wenig erstaunen würden. – Indessen, wenn es bei dieser Unklarheit sein Bewenden hätte, so ginge die Sache noch an: – auch sehr viel erheblichere Nationalökonomen äußern über die komplizierten Probleme, welche sich an jenen Gegensatz anschließen, gelegentlich handgreiflich irrtümliche Ansichten. Schlimmer ist, daß das allzu eifrige „Telos“ des Verf[assers] auch den allerelementarsten Gegensatz: den zwischen „Sein“ und „Sollen“, verschluckt. Daß dann „Willensfreiheit“, „Gesamtkausalität“, „Gesetzlichkeit der Entwickelung“ im bunten Durcheinander in die angeblich allein entscheidende Antithese: „Telos“ und „Causa“ hineinverflochten und schließlich die Meinung vertreten wird, man müsse ein bestimmtes „Forschungsprinzip“ vertreten, um den „Individualismus“ überwinden zu können,25 – während ja gerade die Verquickung der Frage nach der „Methode“ und derjenigen nach dem „Programm“ das (heute) Veraltete an den früheren Kontroversen ist –, dies Alles läßt den Wunsch entstehen, es möge die heutige Mode, daß jede Anfängerarbeit mit „erkenntnistheoretischen“ Untersuchungen geziert werden muß, recht bald wieder aussterben. Man kann die ziemlich einfachen und keineswegs „neuen“ Gedanken, welche der Verf[asser] in diesen und anderen Arbeiten über die Beziehungen zwischen „Staat und Wirtschaft“ vorträgt, wirklich auch ohne solche darlegen. Es ist zu hoffen, daß uns der sicherlich vom ehrlichsten Eifer für seine Ideale beseelte Verf[asser] künftig mit Arbeiten beschenken möge, bei deren Lektüre man nicht fortwährend über dilettantische logische Schnitzer stolpert und so die Geduld verliert. Dann erst wird eine fruchtbare Auseinandersetzung mit seinen praktischen Idealen überhaupt möglich h A: 552 f.   21  Für Rickert, Grenzen, S.  374 f., ist „der Kampf gegen die Teleologie, die auf eine zeitliche Umkehr des Kausalitätsverhältnisses hinauskommt und wirkende Zwecke annimmt, […] in der Geschichtswissenschaft gewiss berechtigt“, denn: „Der Gedanke des Zieles allein, nicht aber das Ziel selbst wirkt, und der Gedanke geht auch der Zeit nach dem beabsichtigten Effekt voran. Ein teleologischer Vorgang dieser Art ordnet sich also durchaus dem für die empirische Wirklichkeit allein gültigen Begriff der Kausalität ein“. 22  Vgl. Biermann, Wundt; Biermann, Natur; Biermann, Sozialwissenschaft. Biermann, Natur, S.  685, ordnet der neukantianischen Unterscheidung von Natur- und Kulturwissenschaften die Begriffe Kausalität und Teleologie zu. Die Sozialwissenschaften schlägt er auf die Seite der Kulturwissenschaften. Während sich naturwissenschaftlicher Materialismus und Sozialpolitik ausschlössen, ließe sich diese durch eine sozialwissenschaftliche Forschungsweise im Sinne eines erkenntnistheoretischen sozialen Idealismus begründen. Sozialpolitische Anschauungen müßten auf dem Fundament einer teleologischen, durch ethische Forderungen beeinflußten ökonomischen Entwicklung aufbauen. Biermann meinte in der Tat, Stammler zu folgen. 23  Vgl. Biermann, Sozialwissenschaft, S.  596. 24  Vgl. ebd., S.  598 f.; Biermann, Natur, S.  683. 25  Vgl. Biermann, Sozialwissenschaft, S.  599, 605 ff.; ders., Natur, S.  684 f.

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zu begreifen33). Richtig aber ist, daß es ohne den Glauben an die Verläßlichkeit der | Erfahrungsregeln kein auf Erwägung der Mittel für einen beabsichtigten Erfolg ruhendes Handeln geben könnte, und daß, im Zusammenhang damit, ferner bei eindeutigem gegebenen Zweck die Wahl der Mittel zwar nicht notwendig ebenfalls eindeutig, aber doch wenigstens nicht in gänzlich unbestimmter Vieldeutigkeit, sondern in einer Disjunktion von je nach den

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sein. – Eine prinzipielle Auseinandersetzung mit Stammler selbst – der keineswegs etwa für alle Schiefheiten Biermanns verantwortlich gemacht werden kann – würde diesen Aufsatz abermals um einen Bogen anschwellen lassen und ist hier nicht geboten.26 33)  Erstaunlicherweise akzeptiert auch Wundt (Logik I, S.  642) diesen populären Irrtum. – Er sagt: „Lassen wir (a) in der Apperzeption die Vorstellung unserer Bewegung der äußeren Veränderung vorangehen, so erscheint uns die Bewegung als die Ursache der Veränderung. Lassen wir dagegen (b) die Vorstellung der ersteren Veränderung derjenigen der Bewegung vorangehen, durch die jene hervorgebracht werden soll, so erscheint die Veränderung als Zweck, die Bewegung als das Mittel, durch welches der Zweck erreicht wird. – In diesen Anfängen der psychologischen Begriffsentwickelung enthalten demnach Zweck und Kausalität nur verschiedene Bewegungsweisen eines und desselben | (von Wundt gesperrt) Vorgangs.“27 – Hierzu ist zu sagen: Es ist klar, daß A 104 die oben (von mir) mit a und b bezeichneten Sätze gar nicht „denselben“ Vorgang schildern, sondern jeder von beiden einen anderen Teil eines Vorgangs, welcher sich in Anlehnung an Wundt in grobem Schema so wiedergeben läßt: 1. „Vorstellung“ einer erwünschten Veränderung v in der „Außenwelt“, verbunden mit 2. Vorstellung einer Bewegung (m), als geeignet, diese Veränderung zu bewirken, sodann 3. Bewegung m, und 4. eine Veränderung (v’) in der Außenwelt, durch m herbeigeführt. Nur die Bestandteile ad 3 und 4: äußere Bewegung und äußere Folge der Bewegung sind offenbar durch den obigen Wundtschen Satz a umfaßt, – 1 und 2: die Vorstellung des Erfolges oder, für den konsequenten Materialisten, wenigstens der entsprechende Gehirnvorgang – fehlen dort, während es für den Wundtschen Satz b dahingestellt bleiben muß, ob er die Elemente ad 1 und 2 allein oder in unklarer Vermischung damit die Elemente ad 3 und 4 umfaßt. In keinem von beiden Fällen aber enthält Satz b eine andere „Auffassung“ desselben Vorganges wie Satz a, und zwar schon aus dem Grunde nicht, weil ja doch vor allem natürlich ganz und gar nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf, daß die durch die Bewegung (m) als Ursache hervorgebrachte Veränderung (v’) mit der durch die Bewegung (m) als Mittel „bezweckten“ Veränderung (v) notwendig identisch sei. Sobald der „bezweckte“ und der faktisch „erreichte“ Erfolg auch nur teilweise auseinanderfallen, paßt ja das ganze Schema Wundts offenbar überhaupt nicht. Gerade ein solches Auseinanderfallen von Gewolltem und Erreichtem – das Nicht-Erreichen des Zwecks – ist aber unzweifelhaft auch für die psychologische Genesis des Zweckbegriffs, deren Erörterung Wundt hier gänzlich mit derjenigen seines logischen Sinnes vermischt, konstitutiv. Es ist gar nicht abzusehen, wie wir des „Zwecks“ als selbständiger Kategorie je inne werden sollten, wenn v und v’ ein für allemal zusammenfielen. | 26  Vgl. Weber, Stammler, unten, S.  481–571. 27  Vgl. Wundt, Logik I, S.  642: „In diesen Anfängen der psychologischen Begriffsentwicklung entspringen demnach Zweck und Causalität aus verschiedenen Betrachtungsweisen eines und desselben Vorgangs.“

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Umständen verschieden vielen Gliedern „determiniert“ ist. Die rationale Deutung kann so die Form eines bedingten Notwendigkeitsurteils annehmen (Schema: bei gegebener Absicht x „mußte“ nach bekannten Regeln des Geschehens der Handelnde zu ihrer Erreichung das Mittel y bezw. eines der Mittel y, y’, y’’ wählen) und daher zugleich mit einer teleologischen „Wertung“ des empirisch konstatierbaren Handelns in Eins zusammenfließen (Schema: die Wahl des Mittels y gewährte nach bekannten Regeln des Geschehens gegenüber y’ oder y’’ die größere Chance28 der Erreichung des Zweckes x oder erreichte diesen Zweck mit den geringsten Opfern usw., die eine war daher „zweckmäßiger“ als | die andere oder auch allein „zweckmäßig“). Da diese Wertung rein „technischen“ Charakters ist, d. h. lediglich an der Hand der Erfahrung die Adäquatheit der „Mittel“ für den vom Handelnden faktisch gewollten Zweck konstatiert, so verläßt sie trotz ihres Charakters als „Wertung“ den Boden der Analyse des empirisch Gegebenen in keiner Weise. Und auf dem Boden der Erkenntnis des wirklich Geschehenden tritt diese rationale „Wertung“ auch lediglich als Hypothese oder idealtypische Begriffsbildung auf: Wir konfrontieren das faktische Handeln mit dem, „teleologisch“ angesehen, nach allgemeinen kausalen Erfahrungsregeln rationalen, um so entweder ein rationales Motiv, welches den Handelnden geleitet haben kann, und welches wir zu ermitteln beabsichtigen, dadurch festzustellen, daß wir seine faktischen Handlungen als geeignete Mittel zu einem Zweck, den er verfolgt haben „könnte“, aufzeigen, – oder um verständlich zu machen, warum ein uns bekanntes Motiv des Handelnden infolge der Wahl der Mittel einen anderen Erfolg hatte, als der Handelnde subjektiv erwartete. In beiden Fällen aber nehmen wir nicht eine „psychologische“ Analyse der „Persönlichkeit“ mit Hülfe irgendwelcher eigenartiger Erkenntnismittel vor, sondern vielmehr eine Analyse der „objektiv“ gegebenen Situation mit Hülfe unseres nomologischen Wissens. Die „Deutung“ verblaßt also hier zu dem allgemeinen Wissen davon, daß wir „zweckvoll“ handeln können, d. h. aber: handeln können auf Grund der Erwägung der verschiedenen „Möglichkeiten“ eines künftigen Hergangs im Fall der Vollziehung jeder von verschiedenen als möglich gedachten Handlungen (oder Unterlassungen). Infolge der emi28  Zum Begriff „Chance“ vgl. Weber, Kritische Studien, unten, S.  472 mit Anm.  41.

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nenten faktischen Bedeutung des in diesem Sinn „zweckbewußten“ Handelns in der empirischen Wirklichkeit läßt sich die „teleologische“ Rationalisierung als konstruktives Mittel zur Schaffung von Gedankengebilden verwenden, welche den außerordentlichsten heuristischen Wert für die kausale Analyse historischer Zu­ sammenhänge haben. Und zwar können diese konstruktiven Gedankengebilde zunächst rein individuellen Charakters: Deutungs-Hypothesen für konkrete Einzelzusammenhänge sein, – so etwa in einem schon erwähnten Beispiel29 die Konstruktion einer, durch supponierte Zwecke einerseits, durch die Konstellation der „großen Mächte“ anderseits, bedingten Politik Friedrich Wilhelms IV.30 Sie dient dann als gedankliches Mittel zu dem Zweck, seine reale Politik daran in bezug auf den Grad ihres rationalen Gehaltes zu messen und so einerseits die rationalen Bestandteile, anderseits die (mit Bezug auf jenen Zweck) nicht rationalen Elemente seines wirklichen | politischen Handelns zu erkennen, wodurch dann die historisch gültige Deutung jenes Handelns, die Abschätzung der kausalen Tragweite beider und so die gültige Einordnung der „Persönlichkeit“ Friedrich Wilhelms IV. als kausalen Faktori in den historischen Zusammenhang ermöglicht wird. Oder aber – und das interessiert uns hier – sie können idealtypische Konstruktionen generellen Charakters sein, wie die „Gesetze“ der abstrakten Nationalökonomie,31 welche unter der Voraussetzung streng rationalen Handelns die Konsequenzen bestimmter ökonomischer Situationen gedanklich konstruieren. In allen Fällen aber ist das Verhältnis solcher rationalen teleologischen Konstruktionen zu derjenigen Wirklichkeit, welche die Erfahrungswissenschaften bearbeiten, natürlich nicht etwa das von „Naturgesetz“ und „Konstellation“,32 sondern lediglich das eines idealtypischen Begriffs, der dazu dient, die empirisch gültige Deutung dadurch zu erleichtern, daß die gegebenen Tatsachen mit einer Deutungsmöglichkeit – einem Deutungsschema – verglichen werden, – sie ist insofern also verwandt der Stelle, welche die teleologische Deutung in der Bioi A: Faktors   29  Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  280, 291. 30  Mit Verweis auf „große Mächte“ vgl. Meinecke, Friedrich Wilhelm IV., S.  20 ff. 31  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  197 ff. 32  Vgl. ebd., S.  177 mit Anm.  9.

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logie spielt.33 Wir „erschließen“ auch durch die rationale Deutung nicht – wie Gottl meint34 – „wirkliches Handeln“, sondern „objektiv mögliche“35 Zusammenhänge. Die teleologische Evidenz bedeutet auch bei diesen Konstruktionen nicht ein spezifisches Maß von empirischer Gültigkeit, sondern die „evidente“ rationale Konstruktion vermag, „richtig“ gebildet, gerade die teleologisch nichtrationalen Elemente des faktischen ökonomischen Handelns erkennbar und damit das letztere in seinem tatsächlichen Verlaufe verständlich zu machen. Jene Deutungsschemata sind daher auch nicht nur – wie man gesagt hat36 – „Hypothesen“ nach Analogien naturwissenschaftlicher hypothetischer „Gesetze“. Sie können als Hypothesen bei der heuristischen Verwendung zur Deutung konkreter Vorgänge fungieren. Aber im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Hypothesen tangiert die Feststellung, daß sie im konkreten Fall eine gültige Deutung nicht enthalten, ihren Erkenntniswert nicht, ebensowenig, wie z. B. die empirische Nichtgeltung des pseudosphärischen Raumes37 die „Richtigkeit“ seiner Konstruktion. Die Deutung mit Hülfe des rationalen Schemas war dann eben in die­ sem Fall nicht möglich – weil die im Schema angenommenen „Zwecke“ im konkreten Fall als Motive nicht existent waren –, was aber die Möglichkeit ihrer Verwertung für keinen anderen Fall ausschließt. Ein hypothetisches „Naturgesetz“, welches in einem Fall definitiv versagt, fällt als Hypothese ein für allemal in sich zusammen. Die idealtypischen Konstruktionen der | Nationalökonomie dagegen prätendieren – richtig verstanden – keineswegs, generell zu gelten, während ein „Naturgesetz“ diesen Anspruch erheben muß, will es nicht seine Bedeutung verlieren. – Ein sogenanntes „empirisches“ Gesetz38 endlich ist eine empirisch geltende Regel mit problematischer kausaler Deutung, ein teleologisches Schema rationalen Handelns dagegen eine Deutung mit problematischer empirischer Geltung: beide sind also logisch polare Gegensätze.39 33  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  455 ff. 34  Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  108 f. 35  Im Sinne von Kries, Möglichkeit. 36  Referenz nicht belegt. 37  Vgl. oben, S.  341, Fn.  15 mit Anm.  63. 38  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  59 mit Anm.  88. 39  Der polare Gegensatz ist ein Spezialfall des konträren Gegensatzes und liegt vor, wenn seine Momente die Enden einer Vergleichsskala bilden, z. B. „weiß“ und „schwarz“ bzgl. einer Skala von Grautönen.

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– Jene Schemata sind aber „idealtypische Begriffs­ bildungen“34). Weil die Kategorien „Zweck“ und „Mittel“ bei ihrer Anwendung auf die empirische Wirklichkeit deren Rationalisierung bedingen, deshalb und nur deshalb ist die Konstruktion solcher Schemata möglich35). Von hier aus fällt noch einmal, und endgültig, Licht auf die Behauptung von der spezifischen empirischen Irrationalität der „Persönlichkeit“ und des „freien“ Handelns. Je „freier“, d. h. je mehr auf Grund „eigener“, durch „äußeren“ Zwang oder unwiderstehliche „Affekte“ nicht getrübter „Erwä­ gungen“, der „Entschluß“ des Handelnden einsetzt, desto restloser ordnet sich die Motivation ceteris paribus den Kategorien „Zweck“ und „Mittel“ ein, desto vollkommener vermag also ihre rationale Analyse und gegebenen Falls ihre Einordnung in ein Schema rationalen Handelns zu gelingen, desto größer aber ist infolgedessen auch die Rolle, welche – beim Handelnden einerseits, beim analysierenden Forscher anderseits – das nomologische Wissen spielt, 34) Über diesen Begriff s[iehe] meine Abhandlungen Jaffé-Braunsches Archiv A 107 XIX, 1.40 Ich hoffe[,] jene skizzenhaften und deshalb vielleicht teilweise mißverständlichen Erörterungen bald eingehender fortzusetzen.41 35)  Es ist deshalb so ziemlich der Gipfel des Mißverständnisses, wenn man in den Konstruktionen der abstrakten Theorie – z. B. im „Grenznutzgesetz“42 – Produkte „psychologischer“ und vollends „individualpsychologischer“ Deutungen oder den Versuch „psychologischer Begründung“ des „ökonomischen Wertes“ sieht.43 Die Eigenart dieser Konstruktionen, ihr heuristischer Wert ebenso wie die Schranken ihrer empirischen Geltung[,] beruhen gerade darauf, daß sie kein Gran von „Psychologie“ in irgend einem Sinn dieses Wortes enthalten. Manche Vertreter der Schule, die mit diesen Schemata operieren, haben freilich jenen Irrtum mitverschuldet, indem sie zuweilen allerhand Analogien von „Reizschwellen“ heranzogen,44 mit der diese rein rationalen, nur auf dem Hintergrund geldwirtschaftlichen Denkens möglichen Konstruktionen ganz und gar nichts, außer gewissen äußeren Formen, gemein haben. (Vgl. S.  346 f. Anm.  23.) |

40  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  135–234, hier S.  203 ff. 41  Eingehendere Erörterungen sind nicht belegt. 42  Vgl. dazu Weber, Objektivität, oben, S.  202, Anm.  99. 43  Vgl. z. B. Wundt, Logik II,2, S.  519 ff., u. a. mit Bezug auf Menger, Grundsätze (wie oben, S.  16, Anm.  11). 44 Gemeint ist wohl Friedrich von Wieser und dessen Bezug auf Fechner, Gustav Theodor, Elemente der Psychophysik. Erster Theil. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1860, S.  238 ff. – hier finden sich die Begriffe „Schwelle“ bzw. „Reizschwelle“. Vgl. Wieser, Hauptgesetze (wie oben, S.  202, Anm.  99), S.  126 ff., 146 ff., 180 ff. Vgl. auch Wieser, Werth (wie oben, S.   347, Anm.   92), S.   9 ff. („Sättigungs-Scalen“), S.   11 ff. („Grenznutzen“).

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desto „determinierter“ ist Ersterer in bezug auf die „Mittel“. Und nicht nur das. Sondern je „freier“ in dem hier in Rede stehenden Sinn das „Handeln“ ist, d. h. je weniger es den Charakter des „naturhaften | Geschehens“ an sich trägt, desto mehr tritt damit endlich auch derjenige Begriff der „Persönlichkeit“ in Kraft, welcher ihr „Wesen“ in der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten „Werten“ und Lebens-„Bedeutungen“ findet, die sich in ihrem Tun zu Zwecken ausmünzen und so in teleologisch-rationales Handeln umsetzen, und desto mehr schwindet also jene romantisch-naturalistische Wendung des „Persönlichkeits“gedankens, die umgekehrt in dem dumpfen, ungeschiedenen vegetativen „Untergrund“ des persönlichen Lebens, d. h. in derjenigen, auf der Verschlingung einer Unendlichkeit psycho-physischer Bedingungen der Temperaments- und Stimmungsentwickelung beruhenden „Irrationalität“, welche die „Person“ ja doch mit dem Tier durchaus teilt, das eigentliche Heiligtum des Persönlichen sucht.45 Denn diese Romantik ist es, welche hinter dem „Rätsel der Persönlichkeit“ in dem Sinn steht, in welchem Treitschke46 gelegentlich und viele andere sehr häufig davon sprechen, und welche dann womöglich noch die „Willensfreiheit“ in jene naturhaften Regionen hineindichtet.47 Die Sinnwidrigkeit dieses letzteren Beginnens ist schon im unmittelbaren Erleben handgreiflich: wir „fühlen“ uns ja gerade durch jene „irrationalen“ Elemente unseres Handelns entweder (zuweilen) geradezu „nezessitiert“ oder doch in einer unse-

45  Gemeint ist möglicherweise der von Weber während des Studiums intensiv gelesene Lotze, Hermann, Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit, Band 1. – Leipzig: S. Hirzel 1856 (hinfort: Lotze, Mikrokosmus I), S.  284: „Denn nur in zu großer Ausdehnung finden wir unser Temperament, die beständige Stimmung unseres Gemüthes, die eigenthümliche Richtung und die Lebhaftigkeit der Phantasie, endlich die hervorragenden Talente, welche zunächst den Bestand unserer individuellsten Persönlichkeit auszumachen schienen, abhängig von der körperlichen Constitution und ihren Veränderungen; selbst als ererbte Anlage ist Vieles davon nur das Ergebnis eines Naturlaufes, der lange vor unserem eignen Dasein schon einzelne Züge unseres späteren Lebens unwiderruflich bestimmte.“ Vgl. ebd., S.  287 f., zum Vergleich mit dem „Tier“. 46  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  250, Fn.  10 mit Anm.  37. 47  Vgl. Lotze, Mikrokosmus I (wie oben, S.  362, Anm.  45), S.  288: „Aller mögliche Inhalt des Wollens dagegen wird überall durch den unwillkürlichen Verlauf der Vorstellungen und Gefühle herbeigeführt, und ohne an sich selbst ein nach außen gerichtetes, gestaltendes und schaffendes Streben zu sein, muß der Wille sich mit der Freiheit unbeschränkter Wahl zwischen dem begnügen, was ihm von dorther geboten wird.“

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rem „Wollen“ nicht „immanenten“ Weise mitbestimmt.48 Für die „Deutung“ des Historikers ist die „Persönlichkeit“ nicht ein „Rätsel“, sondern umgekehrt das einzig deutbar „Verständliche“, was es überhaupt gibt, und menschliches Handelns und Sich-Verhalten an keiner Stelle, insbesondere auch nicht da, wo die Möglichkeit rationaler Deutung aufhört, in höherem Grade „irrational“ – im Sinn von „unberechenbar“ oder der kausalen Zurechnung spottend –, als jeder individuelle Vorgang als solcher überhaupt es ist, dagegen hoch hinausgehoben über die Irrationalität des rein „Natürlichen“ überall da, wo rationale „Deutung“ möglich ist. Der Eindruck von der ganz spezifischen Irrationalität des „Persönlichen“ entsteht dadurch, daß der Historiker das Handeln seiner Helden und die daraus sich ergebenden Konstellationen an dem Ideal teleologisch-rationalen Handelns mißt, statt es, wie, um Vergleichbares zu vergleichen, geschehen müßte, mit dem Ablauf individueller Vorgänge in der „toten Natur“ zu konfrontieren. Am allerwenigsten aber sollte irgend ein Begriff von „Willensfreiheit“ mit jener Irrationalität je in Beziehung gesetzt werden. Gerade der empirisch „frei“, d. h. nach Erwägungen Handelnde, ist teleologisch durch die, nach Maßgabe der objektiven Situation, ungleichen und erkennbaren Mittel zur Erreichung seiner | Zwecke gebunden. Dem Fabrikanten im Konkurrenzkampf, dem Makler auf der Börse hilft der Glaube an seine „Willensfreiheit“ herzlich wenig. Er hat die Wahl zwischen ökonomischer Ausmerzung oder der Befolgung sehr bestimmter Maximen des ökonomischen Gebarens. Befolgt er sie zu seinem offenkundigen Schaden nicht, so werden wir zur Erklärung – neben anderen möglichen Hypothesen – eventuell gerade auch die in Betracht ziehen, daß ihm die „Willensfreiheit“ mangelte. Gerade die „Gesetze“ der theoretischen Nationalökonomie setzen, ganz ebenso wie natürlich auch jede rein rationale Deutung eines historischen Einzelvorganges, das Bestehen von „Willensfreiheit“ in jedem auf dem Boden des Empirischen überhaupt möglichen Sinn des Wortes notwendig voraus. In irgendeinem andern als jenem Sinn zweckvoll-rationalen Handelns gefaßt, steht dagegen das „Problem“ der „Willensfreiheit“ in allen Formen, die es überhaupt annehmen kann, durchaus 48  In seiner Kritik an Stammler wird Weber von „Mitbestimmungsgründen“ sprechen. Vgl. Weber, Stammler, unten, S.  549.

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jenseits des Betriebes der Geschichte und ist für sie ohne alle Bedeutung. Die „deutende“ Motiverforschung des Historikers ist in absolut dem gleichen logischen Sinn kausale Zurechnung wie die kausale Interpretation irgendeines individuellen Naturvorganges, denn ihr Ziel ist die Feststellung eines „zureichenden“ Grundes (mindestens als Hypothese) genau so, wie dies bei komplexen Naturvorgängen, falls es auf deren individuelle Bestandteile ankommt, allein das Ziel der Forschung sein kann.49 Sie kann die Erkenntnis eines Sohandeln-müssens (im naturgesetzlichen Sinn), wenn sie nicht entweder dem Hegelschen Emanatismus50 oder irgendeiner Spielart des modernen anthropologischen Okkultismus51 zum Opfer fallen will, nicht zum Erkenntnisziel machen, weil das menschliche ganz ebenso wie das außermenschliche („lebende“ oder „tote“) Konkre­ tum, als ein irgendwie begrenzter Ausschnitt des kosmischen Gesamtgeschehens angesehen, nirgends im ganzen Umkreise des Geschehens in ein lediglich „nomologisches“ Wissen „eingeht“, – da es überall (nicht nur auf dem Gebiete des „Persönlichen“) eine intensive Unendlichkeit des Mannigfaltigen ist, von der für einen historischen Kausalzusammenhang, logisch betrachtet, alle denkbaren einzelnen, für die Wissenschaft lediglich als „gegeben“ konstatierbaren Bestandteile als kausal bedeutsam in Betracht kommen können.52 Die Form, in welcher die Kategorie der Kausalität von den einzelnen Disziplinen verwendet wird, ist eben eine verschiedene, und in einem bestimmten Sinn – das ist durchaus zuzugeben – wechselt damit auch der Gehalt der Kategorie selbst, dergestalt nämlich, daß | von ihren Bestandteilen bald der eine, bald der andere grade 49  Vgl. Schopenhauer, Satz vom Grunde (wie oben, S.  54, Anm.  63), S.  144: „Bei jedem wahrgenommenen Entschluß, sowohl Anderer, als unsrer selbst, halten wir uns berechtigt, zu fragen Warum?, d. h. wir setzen als nothwendig voraus, es sei ihm etwas vorhergegangen, daraus er erfolgt ist, und welches wir den Grund, genauer das Motiv der jetzt erfolgenden Handlung nennen. Ohne ein solches ist dieselbe uns so undenkbar, wie die Bewegung eines leblosen Körpers ohne Stoß, oder Zug. Demnach gehört das Motiv zu den Ursachen“. 50  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  62 mit Anm.  96. 51  Als dessen Protagonist gilt Fichte, Immanuel Hermann, Anthropologie. Die Lehre von der menschlichen Seele. Neubegründet auf naturwissenschaftlichem Wege für Naturforscher, Seelenärzte und wissenschaftliche Gebildete überhaupt. – Leipzig: Brockhaus 1856. 52  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  184 mit Anm.  34.

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dann seinen Sinn verliert, wenn mit der Durchführung des Kausalprinzips53 bis in die letzten Konsequenzen Ernst gemacht wird36). Ihr voller, sozusagen „urwüchsiger“ Sinn enthält zweierlei: den Gedanken des „Wirkens“ als eines, sozusagen, dynamischen Bandes54 zwischen unter sich qualitativ verschiedenen Erscheinungen auf der einen, den Gedanken der Gebundenheit an „Regeln“ auf der anderen Seite. Das „Wirken“55 als sachlicher Gehalt der Kausalkategorie und damit der Begriff der „Ursache“ verliert seinen Sinn und verschwindet überall da, wo im Wege der quantifizierenden Abstraktion die mathematische Gleichung als Ausdruck der rein räumlichen Kausalbeziehungen gewonnen ist.56 Soll ein Sinn der Kausalitätskategorie hier noch festgehalten werden, so kann es nur der einer Regel zeitlichen Aufeinanderfolgens von Bewegun36) Siehe über diese Probleme O[tto] Ritschl, Die Kausalbetrachtung in den Geistes- A 110 wissenschaften (Bonner Universitätsprogramm von 1901).57 Es ist R[itschl] jedoch keineswegs beizutreten, wenn er im Anschluß an Münsterbergs Grundzüge der Psychologie die Grenze der wissenschaftlichen Betrachtung und speziell der Anwendbarkeit des Kausalitätsgedankens überall da findet, wo „verständnisvolles Nacherleben“ eines Vorganges erstrebt werde.58 Richtig ist nur, daß keine Kausalbetrachtung welcher Art immer dem „Erleben“ äquivalent ist. Welche Bedeutung diesem Umstande etwa für metaphysische Aufstellungen zukommen könnte, kann hier nicht untersucht werden. Allein jene mangelnde Äquivalenz gilt für jedes artikulierte „Verstehen“ von Motivationsverkettungen59 ebenfalls, und daß die Prinzipien der empirischen Kausalbetrachtung an der Grenze der „verständlichen“ Motivation Halt machen sollten, dafür gibt es keinerlei ersichtlichen Grund. Die Zurechnung „verständlicher“ Vorgänge erfolgt nach logisch ganz denselben Grundsätzen wie die Zurechnung von Naturereignissen. Es gibt innerhalb des Kausalitätsprinzips auf dem Boden des Empirischen nur einen Knick: er liegt da, wo die Kausalgleichung60 als mögliches oder doch als ideales Ziel der wissenschaftlichen Arbeit endet. |

53  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  52 mit Anm.  59. 54  Rickert, Grenzen, S.  420, gibt keine Antwort auf die Frage, worin das „Band zwischen Ursache und Effekt“ besteht, sondern betont nur, der „Begriff des Bandes“ müsse dem „Begriff des allgemeinen Kausalprinzips, dem der historischen Kausalität und dem des Kausalgesetzes gemeinsam sein.“ Über „dynamistische Causalbetrachtung“ vgl. Ritschl, Causalbetrachtung, S.  85, 88 f. 55  Rickert, Causalität (wie oben, S.  46, Anm.  31), S.  62, merkt an, daß er hinsichtlich des Begriffs des „Wirkens“ mit Sigwart auf „demselben Boden“ steht. Vgl. Sigwart, Logik I (wie oben, S.  5, Anm.  30), S.  41 ff., 407 f.; Sigwart, Logik II (wie oben, S.  5, Anm.  31), S.  132 ff., 464 ff. 56  Gemeint ist eine Kausalgleichung. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  46 mit Anm.  31. 57  Ritschl, Causalbetrachtung. 58  Vgl. ebd., S.  41. 59  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  254. 60  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  46 mit Anm.  31.

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gen sein, und auch dieses nur in dem Sinn, daß sie als Ausdruck der Metamorphose eines seinem Wesen nach ewig Gleichen gilt.61 – Umgekehrt verschwindet der Gedanke der „Regel“ aus der Kausalkategorie, sobald auf die schlechthinnige qualitative Einmaligkeit des durch die Zeit ablaufenden Weltprozesses und die qualitative Einzigartigkeit auch jedes räumlich-zeitlichen Ausschnittes daraus reflektiert wird. Für eine schlechthin einmalige gesamtkosmische oder partialkosmische Entwickelung verliert dann der Begriff der Kausalregel ganz ebenso seinen Sinn, wie für die Kausalgleichung der Begriff des kausalen Wirkens, und will man für jene von keiner Erkenntnis je zu umspannende Unendlichkeit des konkreten Geschehens einen Sinn der | Kausalkategorie festhalten, so bleibt nur der Gedanke des „Bewirktwerdens“ in dem Sinn, daß das in jedem Zeitdifferential schlechthin „Neue“ eben gerade so und nicht anders aus dem „Vergangenen“ entstehen „mußte“, was aber im Grunde nichts anderes bedeutet als die Angabe der Tatsache, daß es eben schlechthin so und nicht anders in seinem „Jetzt“, in absoluter Einzigartigkeit und doch in einem Continuum des Geschehens, „entstand“. Diejenigen empirischen, mit der Kategorie der Kausalität arbeitenden Disziplinen, welche die Qualitäten der Wirklichkeit bearbeiten, und zu ihnen gehört die Geschichte und gehören alle „Kulturwissenschaften“62 gleichviel welcher Art, verwenden diese Kategorie durchweg in ihrer vollen Entfaltung: sie betrachten Zustände und Veränderungen der Wirklichkeit als „bewirkt“ und „wirkend“ und suchen teils aus den konkreten Zusammenhängen durch Abstraktion „Regeln“ der „Verursachung“ zu ermitteln,63 teils konkrete „ursächliche“ Zusammenhänge durch Bezugnahme auf „Regeln“ zu „erklären“. Welche Rolle aber die Formulierung der „Regeln“ dabei spielt, und welche logische Form diese annehmen, ob überhaupt eine Formulierung von Regeln stattfindet, ist Frage des spezifischen Erkenntnisziels. Ihre Formulierung in 61  Für Rickert, Causalität (wie oben, S.  46, Anm.  31), S.  82 f., „entsteht“ in der „Welt des reinen Mechanismus“ „niemals etwas Neues. Die Atome sind ewig dieselben, und lediglich die potentielle oder aktuelle Bewegung geht von dem einen ihrer Complexe auf den andern über. Wenn Wirkung Veränderung voraussetzt, so wirken die Dinge selbst hier nicht mehr, sondern alles Wirken ist in die Relationsveränderungen der Dinge verlegt.“ Vgl. auch Rickert, Grenzen, S.  269, 506 f. 62  Vgl. Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62). 63  Zur generalisierenden Abstraktion vgl. Einleitung, oben, S.  16 f.

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Gestalt von kausalen Notwendigkeitsurteilen aber ist nicht das ausnahmslosej Ziel, die Unmöglichkeit der apodiktischen Form keineswegs auf die „Geisteswissenschaften“ beschränkt. Für die Geschichte speziell folgt die Form der kausalen Erklärung überdies aus ihrem Postulat verständlicher „Deutung“. Gewiß will und soll auch sie mit Begriffen von hinlänglicher Bestimmtheit arbeiten, und erstrebt sie das nach Lage des Quellenmaterials mögliche Maximum von Eindeutigkeit der kausalen Zurechnung. Die Deutung des Historikers wendet sich aber nicht an unsere Fähigkeit, „Tatsachen“ als Exemplare in allgemeine Gattungsbegriffe und Formeln einzuordnen, sondern an unsere Vertrautheit mit der täglich an uns herantretenden Aufgabe, individuelles menschliches Handeln in seinen Motiven zu „verstehen“. Die hypothetischen „Deutungen“, welche unser einfühlendes „Verstehen“ uns bietet, werden von uns dann allerdings an der Hand der „Erfahrung“ verifiziert. Wir sahen aber an dem Beispiel mit dem Felsabsturz,64 daß die Gewinnung von Notwendigkeitsurteilen als ausschließliches Ziel für jede kausale Zurechnung einer individuellen Mannigfaltigkeit des Gegebenen nur an abstrahierten Teilbeständen vollziehbar ist. So auch in der Geschichte: sie kann nur feststellen, daß ein „ursächlicher“ Zusammenhang bestimmter Art bestanden hat und dies durch die Bezugnahme auf | Regeln des Geschehens „verständlich“ machen.65 Bleibt so die strikte „Notwendigkeit“ des konkreten historischen Geschehens für die Geschichte nicht nur ein ideales, sondern ein in der Unendlichkeit liegendes Postulat, so ist anderseits aus der Irrationalität auch jedes partialkosmischen individuellen Geschehens natürlich keinerlei für die historische Forschung spezifischer und relevanter Begriff einer indeterministischen „Freiheit“ abzuleiten. Speziell die „Willensfreiheit“ ist für sie etwas durchaus Transzendentes, und als Grundlage ihrer Arbeit gedacht geradezu Sinnloses.66 Negativ gewendet, ist die Sachlage j A: ausnahmlose   64  Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  275 ff. 65  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  186 mit Anm.  41. 66  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  415 f.: „Gegen den Glauben an eine transcendente oder transcendentale Willensfreiheit soll damit nichts gesagt sein, aber es wäre doch sehr bedenklich, ihm auf die empirische Untersuchung der Geschichte einen Einfluss zu gestatten oder gar die Methode der historischen Darstellung von ihm abhängig zu machen.“

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die, daß für sie beide Gedanken jenseits jeder durch sie zu verifizierenden „Erfahrung“ liegen, und beide ihre praktische Arbeit faktisch nicht beeinflussen dürfen. Wenn sich also in methodologischen Erörterungen nicht selten der Satz findet, daß „auch“ der Mensch in seinem Handeln (objektiv) einem „immer gleichen“ (also: gesetzlichen) „Kausalnexus“ unterworfen „sei“37), so ist dies eine das Gebiet der wissenschaftlichen Praxis nicht berührende und nicht unbedenklich formulierte protestatio fidei67 zu gunsten des metaphysischen Determinismus, aus welcher der Historiker keinerlei Konsequenzen für seinen praktischen Betrieb ziehen kann. Vielmehr ist aus dem gleichen Grunde die Ablehnung des metaphysischen Glaubens an den „Determinismus“ – in welchem Sinne immer sie gemeint sein mag – seitens eines Historikers, etwa aus religiösen oder anderen jenseits der Erfahrung liegenden Gründen, prinzipiell und auch erfahrungsgemäß, so lange gänzlich irrelevant, als der Historiker in seiner Praxis an dem Prinzip der Deutung menschlichen Handelns aus verständlichen, prinzipiell und ausnahmslos der Nachprüfung an der Erfahrung unterworfenen „Motiven“ festhält. Aber: der Glaube, deterministische Postulate schlössen für irgendein Wissensgebiet das methodische Postulat der Aufstellung von Gattungsbegriffen und „Gesetzen“ als ausschließlichen Ziels ein, ist kein größerer Irrtum38), als die ihm im umgekehrten Sinne | entspre-

 So z. B. auch bei Schmoller in seiner früher zitierten Rezension von Knies.68   Denn wenn das „Material“ eines konkreten historischen Zusammenhanges etwa allein aus hysterisch, hypnotisch oder paranoëtisch bedingten Vorgängen bestände, welche uns, weil undeutbar, als „Natur“ gelten, – so würde das Prinzip der historischen Begriffsbildung dennoch das Gleiche bleiben: auch dann wäre nur die durch Wertbeziehungk hergestellte „Bedeutung“, welche einer individuellen Konstellation solcher Vorgänge im Zusammenhang mit der ebenfalls individuellen „Umwelt“ beigelegt würA 113 de, Ausgangspunkt, Erkenntnis individueller | Zusammenhänge Ziel, individuelle kau-

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k A: Wertbezeichnung   67  Lat.: Glaubensbekundung. 68  Vgl. die in Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  248 f., Fn.  9, zitierte Rezension: Schmoller, Knies2, S.  209: „ich behaupte, daß wir auch auf psychologischem Gebiete einen immer gleichen Kausalnexus annehmen müssen; freilich sind die psychologischen Gesetze der Motivation andere, als die Naturgesetze der äußeren Welt; aber der Satz der Kausalität gilt in seiner unerbittlichen Notwendigkeit für beide Gebiete gleichmäßig, während es bei Knies öfter den Anschein hat, als ob er ihn für das ‚personale Element‘ historischer Verursachung leugnen wollte.“

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chende Annahme: irgendein metaphysischer Glaube an die „Willensfreiheit“ schlösse die Anwendung von Gattungsbegriffen und „Regeln“ auf menschliches Sich-Verhalten aus, oder die menschliche „Willensfreiheit“ sei mit einer spezifischen „Unberechenbarkeit“ oder überhaupt irgendeiner spezifischen Art von „objektiver“ Irrationalität des menschlichen Handelns verknüpft. Wir sahen,69 daß das Gegenteil der Fall ist. – Wir haben nunmehr, nach dieser langen Abschweifung auf das Gebiet moderner Problemstellungen, zu Knies zurückzukehren und uns zunächst klar zu machen, auf welcher prinzipiellen philosophischen Basis sein „Freiheits“begriff ruht, und welche Konsequenzen dies für seine Tragweite in der Logik und Methodik der Wirtschaftswissenschaft hat. – Da zeigt sich nun alsbald, daß – und in welchem Sinne – auch Knies durchaus im Banne jener historisch gewendeten „organischen“ Naturrechtslehre steht, welche, in Deutschland vorwiegend unter dem Einfluß der historischen Juristenschule,70 alle Gebiete der Erforschung menschlicher Kulturarbeit durchdrang. – Am zweckmäßigsten beginnen wir mit der Frage: welcher „Persönlichkeits“begriff denn bei Knies mit seinem „Freiheits“gedanken kombiniert ist. Es zeigt sich dabei, daß jene „Freiheit“ nicht als „Ursachlosigkeit“,71 sondern als Ausfluß des Handelns aus der notwendig schlechthin individuellen Substanz der Persönlichkeit gedacht ist, und daß die Irrationalität des Handelns infolge dieses der Persönlichkeit zugeschriebenen Substanzcharakters alsbald wieder ins Rationale umgebogen wird. Das Wesen der „Persönlichkeit“ ist für Knies zunächst: eine „Einheit“ zu sein.72 Diese „Einheit“ aber verwandelt sich in den Händen von Knies alsbald in den Gedanken einer naturalistischsale Zurechnung Mittel der wissenschaftlichen Verarbeitung. Auch Taine, der solchen Aufstellungen gelegentlich Konzessionen macht, bleibt dabei durchaus „Historiker“.73

69  Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  249, 274 ff. 70  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  52 f. mit Anm.  57. 71  Windelband, Zufall, S.  6 f., begreift den absoluten Zufall als „Ursachlosigkeit“. 72  Vgl. Knies, Oekonomie1, S.  107: „Alle Triebe, alle Formen, in denen sich das individuelle menschliche Leben wie das Leben ganzer Völker zu manifestieren pflegt, stehen unter dem Einflusse einer gewaltigen Strebekraft“. 73  Gemeint ist möglicherweise Taine, Hippolyte, Der Verstand. Autorisierte deutsche Ausgabe, nach der 3. französischen Aufl. übersetzt von L. Seifried, 2 Bände. – Bonn: Emil Strauss 1880.

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organisch gedachten „Einheitlichkeit“,74 und diese wiederum wird als („objektive“) innere „Widerspruchslosigkeit“, also im letzten Grunde rational, gedeutet39). Der Mensch ist ein organisches Wesen und teilt daher mit allen Organismen den „Grundtrieb“ der „Selbsterhaltung“ und „Vervollkommnung“, einen Trieb, welcher – nach | Knies – als „Selbstliebe“ durchaus „normal“ und deshalb „sittlich“ ist, insbesondere keinen Gegensatz gegen „Nächstenliebe“ und „Gemeinsinn“ enthält, sondern nur in seiner „Ausartung“ zur „Selbstsucht“ sowohl eine „Abnormität“ ist als, eben deshalb, im Widerspruch mit jenen sozialen „Trieben“ steht (S.  161).75 Beim normalen Menschen sind hingegen jene beiden Kategorien von „Trieben“ nur verschiedene „Seiten“ eines und desselben einheitlichen Vervollkommnungsstrebens (S.  165), und liegen mit dem von Knies gelegentlich (ebendort) als „dritter wirtschaftlicher“ – soll heißen: „wirtschaftlich relevanter“76 – „Haupttrieb“ bezeichneten „Billigkeits- und Rechtsinn“ ungeschieden in der Einheit der Persönlichkeit.77 An die Stelle der konstruktiven Allgemeinheit bestimmter konkreter „Triebe“, insbesondere des „Eigennutzes“ , in der älteren Nationalökonomie, und an Stelle des auf dieser Grundlage aufgebauten religiös bedingten ethischen Dualismus der Triebe bei Roscher,78 tritt bei Knies die konstruk39)  Theoretisch – aber freilich recht unzulänglich – formuliert Knies seinen Ausgangspunkt dahin: „Personales Leben und Mangel eines einheitlichen Mittelpunktes ist ein kontradiktorischer Widerspruch; wo er bemerkt wird, ist er nur scheinbar.“ (S.  247).l |

l A: 247.)   74  Vgl. Knies, Oekonomie1, S.  109: „Die Handlungen und Beschäftigungen des einzelnen Menschen zeigen zwar dem Gegenstande nach, welchem sie sich zuwenden, sowie hinsichtlich des Grades und der Art von Kraft, welche thätig wird, eine große Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit; aber sie lassen sich alle auf einen gemeinsamen Ursprung in einem einheitlichen Geiste des Individuums zurückführen.“ 75  Ebd., S.  160 f. 76  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  162 ff. 77  Knies, Oekonomie1, S.  165, unterscheidet zwischen erstens dem „Streben nach dem Eigenwohle“, das den Einzelnen im Verhältnis zu sich selbst zeigt; zweitens dem „Gemeinsinn“, der den Einzelnen im Verhältnis zum Ganzen zeigt; und drittens einem Trieb, der die „Beschränkung des Strebens nach dem Eigenwohle zu Gunsten des Nächsten“ herbeiführt und damit den Einzelnen im Verhältnis zum einzelnen Anderen zeigt: „Auch hier handelt es sich um keine Abstraktion, sondern um eine Wahrheit des wirklichen Lebens, welche aus der sittlichen Natur und Entwicklung des Menschen hervorgeht.“ 78  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  84 f.

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tive Einheitlichkeit des konkreten Individuums in sich,79 welche daher mit „fortschreitender Kulturentwickelung“ die „einseitige Ausbildung“ des „Eigennutzes“ nicht etwa häufiger, sondern – so nach Knies’ Meinung im 19., im Gegensatz gegen das 18. Jahrhundert – immer seltener werden läßt.80 Nach einer Erörterung der starken Entwickelung charitativer Arbeit in der Neuzeit fährt er fort: „Und wenn solche Werktätigkeit nur Spenden des Erworbenen erkennen läßt, also dem Eigennutz im Verbrauch widersagt, wäre es nicht schon an sich ein unlösbarer psychologischer Widerspruch, wenn man sich die Massen dagegen im Erwerb, auf den Bahnen der Produktion, nur von Selbstsucht und Eigennutz erfüllt denken sollte, unbekümmert um das Wohl des Nächsten und um das Gemeinwohl, so lange sie Güter zu gewinnen streben?“40) (S.  164/5.)81 Und doch steht die Erfahrung aller derjenigen, welche jenen Unternehmertypus, den das heroische Zeitalter des Kapitalismus gezeitigt hat, entweder aus der Geschichte oder aus eigener Anschauung in den Nachzüglern, die er auch heute noch besitzt, kennen, dem schnurstracks entgegen, und ganze Kulturmächte wie der Puritanismus, tragen jenes nach Knies „psychologisch“ widerspruchsvolle Gepräge. Allein, wie die Anm.  40 zitierte Berufung | auf den „Begriff“ der „Selbstliebe“ zeigt: das Individuum darf eben kein „Mensch mit seinem Widerspruch“ sein, – es ist ein „ausgeklügelt Buch“,82 weil es eben sonst nicht dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit genugtun würde.

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40) Ähnlich und hinsichtlich des rationalen Charakters dieser Konstruktion noch A 114 deutlicher: „Die Selbstliebe des Menschen enthält in ihrem Begriff (!) keinen Widerspruch gegen die Liebe zur Familie, zum Nächsten, zum Vaterlande. Die Selbstsucht enthält diesen Widerspruch, sie hat ein privatives und rein negatives Element, das unvereinbar ist mit der Liebe zu allem, was nicht mit dem Ich des einzelnen zusammenfällt.“ (S.  160/161).m 83 |

m A: 160/161.)   79  Vgl. auch Webers Notizen zu Knies, abgedruckt im Anhang, unten, S.  627, 645. 80  Vgl. Knies, Oekonomie1, S.  161 ff. 81  Ebd., S.  164 f. 82  Vgl. Meyer, Conrad Ferdinand, Huttens letzte Tage. Eine Dichtung. – Leipzig: H. Haessel 1872, S.  41: „Neidlose Liebe lehrt das Christentum – Und nur dem Deutschen gönn’ ich Macht und Ruhm. Das heißt: ich bin kein ausgeklügelt Buch, Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“ 83  Knies, Oekonomie2, S.  160 f.

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Aus diesem Begriff der psychologischen „Einheitlichkeit“ des Individuums folgert nun Knies für die Methodik seine wissenschaftliche Unzerlegbarkeit. Der Versuch der „Zerlegung“ des Menschen in einzelne „Triebe“ ist nach ihm der Grundfehler der bisherigen (klassischen) Methode41). – Man könnte glauben, Knies habe mit dieser letzten Äußerung jener Auffassung den Krieg erklärt, welche – Mandeville und Helvetius wie ihre Gegner – die Lehrsätze der theoretischen Nationalökonomie aus einem konstruierten Triebleben des Menschen ableiten zu müssen glaubte und deshalb, da der für sie entscheidende „Trieb“, der „Eigennutz“, nun einmal ein bestimmtes ethisches Vorzeichen trägt, Theorie und Theodizee, Darstellung und Beurteilung hoffnungslos in eine noch heute nachwirkende Verquickung miteinander brachten. In der Tat nähert sich Knies wenigstens an einer Stelle der richtigen Auffassung der Grundlagen der ökonomischen „Gesetze“ in hohem Maß: „Von Anfang an,“ heißt es in einem gegen Roschers Konstruktion der „Triebe“ gerichteten, freilich wenig klar formulierten Satz (S.  246), „wird (scil. bei Rau und Roscher) in dem Hinweis auf die ‚Äußerungen des Eigennutzes‘ nicht zwischen dem ‚Prinzip der Wirtschaftlichkeit‘ in einer – objektivierten – Haushaltsführung und dem seelischen Trieb des Eigennutzes und der Selbstsucht in dem menschlichen Subjekte unterschieden.“84 Man sieht, es liegt hier die Erkenntnis ungemein nahe, daß die ökonomischen „Gesetze“ A 115

41) „Der Chemiker mag den ‚elementaren‘, ‚reinen‘ Körper aus den Verbindungen, in denen derselbe vorkommt, ausscheiden und als für sich ausscheidbaren Körper auf alles weitere hin untersuchen. Dieser elementare Körper ist auch als solcher in der Verbindung real vorhanden und wirksam. Die Seele des Menschen dagegen ist ein Einheitliches, nicht in Teile Zerlegbares, und die Seele des ‚von Natur sozialen Menschen‘ mit einem für sich verselbständigt scheidbaren Triebe des reinen Eigennutzes ist eine theoretisch unzulässige Annahme“ usw. (S.  505).85 |

n A: brachten   84 Vgl. Knies, Oekonomie2, S.  246, mit Bezug auf Roscher, System I1, und ebd., S.  248, mit Bezug auf Rau, Lehrbuch, sowie Rau, Karl Heinrich, Bemerkungen über die Volkswirthschaftslehre und ihr Verhältnis zur Sittenlehre, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Band 26, 1870, S.  106–121. 85  Knies, Oekonomie2, S.  505. Knies wendet sich mit seiner Ablehnung von „Zerlegung“ gegen den analytischen Aspekt der Methode der abstrakten Nationalökonomie. Vgl. Einleitung, oben, S.  15 ff.

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Schemata rationalen Handelns sind, die nicht durch psychologische Analyse86 der Individuen, sondern durch idealtypische Wiedergabe des Preiskampfs-Mechanismus aus der so in der Theorie hergestellten objektiven Situation deduziert werden, welche da, wo sie „rein“ zum Ausdruck kommt, dem in den Markt verflochtenen Individuum nur die Wahl läßt | zwischen der Alternative: „teleologische“ Anpassung an den „Markt“ oder ökonomischer Untergang. Indessen hat Knies aus dieser vereinzelt auftauchenden Erkenntnis keine methodologischen Konsequenzen gezogen: wie schon die früher zitierten Stellen zeigen,87 und wir immer wieder sehen werden, bleibt bei ihm in letzter Instanz der Glaube unerschüttert, man bedürfe, um zu begreifen, daß Fabrikanten generell ihre Rohstoffe billig zu kaufen und ihre Produkte teuer zu verkaufen beabsichtigen, eigentlich nicht viel weniger als einero Analyse des gesamten empirischen menschlichen Handelns und seiner psychologischen Triebfedern überhaupt. – Vielmehr hat die Ablehnung der „Zerlegung“ des „Individuums“ bei ihm einen andern Sinn: „Weil … die Eigentümlichkeit des einzelnen Menschen wie die eines ganzen Volkes sich aus einem einheitlichen Springquell erschließt, alle Erscheinungskreise der menschlichen Tätigkeit sich auf eine Totalität zurückbeziehen und eben deshalb untereinander in Wechselwirkung stehen, so können weder die Triebfedern der wirtschaftlichen Tätigkeit, noch auch die ökonomischen Tatsachen und Erscheinungen ihren eigentlichen Charakter, ihr ganzes Wesen offenbaren, wenn sie nur isoliert ins Auge gefaßt werden“ (S.  244).88 Der Satz zeigt zunächst, daß Knies – in diesem Punkt durchaus wie Roscher denkend89 – seine „organische“ Theorie vom Wesen des Individuums im Prinzip auch auf das „Volk“ anwendet.90 Was unter einem „Volk“ im Sinn seiner Theorie zu verstehen ist, hält er dabei nicht nötig zu bestimmen: er hält es augenscheinlich für ein

o A: eine   86  Im Sinne von „Zerlegung“. Vgl. oben, S.  372, Fn.  41 mit Anm.  85. 87  Oben, S.  369 ff. 88  Knies, Oekonomie1, S.  244. Mit „isoliert“ ist die isolierende Abstraktion gemeint. Vgl. Einleitung, oben, S.  16; vgl. auch Anhang, unten, S.  645 f. 89  Vgl. Roscher, System I2, S.  19 (§§ [12]); in dieser Auflage wird §  12 fälschlicherweise als §  13 bezeichnet. 90  Vgl. dazu auch Knies, Oekonomie1, S.  107, 247.

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in der gemeinen Erfahrung eindeutig gegebenes Objekt42) und identifiziert es gelegentlich ausdrücklich (S.  490) mit der staatlich organisierten Gemeinschaft.91 Diese Gemeinschaft nun ist ihm nicht nur, selbstverständlich, etwas anderes als die „Summe der Individuen“, sondern dieser letztere Umstand ist ihm nur eine Folge des viel allgemeineren Prinzips, daß überall und notwendig – wie er (S.  109) es ausdrückt – „ein ähnlicher Zusammenklang“ (nämlich wie zwischen den Lebensäußerungen einer „Persönlichkeit“) „auch aus den Lebensäußerungen eines ganzen Volkes | heraustönt“.92 Denn: „Wie von einem einheitlichen Kern aus umfaßt das geschichtliche Dasein eines Volkes die verschiedenen Lebenskreise.“93 Daß unter dieser „Einheitlichkeit“ mehr als die nur rechtliche oder die durch gemeinsame historische Schicksale, Traditionen und Kulturgüter bedingte historisch erwachsene gegenseitige Beeinflussung aller Lebensgebiete zu verstehen ist, daß vielmehr für Knies umgekehrt die „Einheitlichkeit“ das prius ist, aus welchem die Kultur des Volkes emaniert, ergibt sich nicht nur aus der oben zitierten,94 mehrfach wiederkehrenden Parallele zwischen der „Totalität“ beim Individuum und beim Volk, sondern auch aus zahlreichen anderen Äußerungen. Jene „Totalität“ bedeutet insbesondere auch beim Volk eine einheitliche psychologische Bedingtheit aller seiner Kulturäußerungen: die „Völker“ sind auch für Knies Träger einheitlicher „Triebkräfte“. Nicht die einzelnen geschichtlich werdenden und empirisch konstatierbaren Kulturer42) „Es gibt Gegenstände, für deren begriffliche Feststellung aus der allgemeinen Lebenserfahrung alle nötigen Elemente unwiderlegbar dargeboten werden, so daß sie immer gefunden werden, wenn auf sie verwiesen wird, und andere, deren Feststellung in gewisser Beziehung nur Sache des Übereinkommens ist, so daß sie nur unter bestimmten Voraussetzungen allgemeingültig werden kann. Zu den ersteren gehört der Begriff des Volkes, zu den letzteren der der Wirtschaft.“ (S.  125).p 95 |

p A: 125.)   91  Vgl. Knies, Oekonomie2, S.  490: „Das Untersuchungs-Object der politischen Oekonomik […] wird, im allgemeinen betrachtet, von dem wirtschaftlichen Bezirk des staatlich organisierten Gemeinschaftslebens der Völker mit ihrem besonderen territorialen Besitztum und ihrer Rechtsordnung erstellt“. 92  Vgl. dazu die Erläuterung des Begriffs „Diapason“ in: Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  77, Fn.  63 mit Anm.  61. 93  Knies, Oekonomie1, S.  109. 94  Oben, S.  373. 95  Knies, Oekonomie1, S.  125.

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scheinungen sind Komponenten des „Gesamtcharakters“, sondern der „Gesamtcharakter“ ist Realgrund96 der einzelnen Kulturerscheinungen: er ist nicht etwas Zusammengesetztes, sondern das Einheitliche, welches sich in allem einzelnen auswirkt; – zusammengesetzt ist – im Gegensatz zu den natürlichen Organismen – nur der „Körper“ des Volksorganismus43). Die einzelnen „Seiten“ der Kultur eines Volkes sind daher in keiner Weise gesondert und für sich, sondern lediglich aus dem einheitlichen Gesamtcharakter des Volkes heraus wissenschaftlich zu begreifen. Denn ihr Zusammenschluß zu einer „Einheit“ ist nicht etwa bedingt durch gegenseitige „Angleichungs“- und „Anpassungs“-Prozesse, oder wie immer sonst man die durch den Allzusammenhang97 des Geschehens bedingten gegenseitigen Beeinflussungen alles „Einzelnen“ unter sich bezeichnen will, sondern umgekehrt: der notwendig in sich einheitliche und widerspruchslose „Volkscharakter“ „strebt“ seinerseits stets und unvermeidlich dahin, unter allen Umständen einen Zustand der Homogenität auf und | zwischen allen Gebieten des Volkslebens herzustellen44). Die Natur dieser dunklen, der vita-

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43) Darüber vgl. S.  164:98 „Wir sind nicht etwa nur berechtigt, sondern in der Tat dazu A 117 gedrängt, die Volkswirtschaft mit ihrer gesellschaftlichen Gliederung und ihrer staatlichen Rechtsordnung als ein organisches Gebilde aufzufassen. Nur handelt es sich hier um einen Organismus einer höheren Ordnung, dessen besonderes Wesen dadurch bedingt ist, daß er nicht ein naturaler Individualorganismus ist, wie die pflanzlichen und die tierischen Organismen, sondern ein ‚zusammengesetzter Körper‘, ein als Kulturprodukt erwachsener Kollektivorganismus, dessen zu gleichzeitigem Einzelleben ausgerüsteten und berufenen Elemente Individualorganismen mit ihrer für die Erhaltung der Gattung erforderlichen Geschlechtsverbindung sind.“ | 44) Folgende Stellen werden das hinlänglich illustrieren: „Möge auch im Fortgange A 118 der Zeit die Triebkraft der Entwickelung sich in einzelnen Gebieten zuerst weiteren Raum verschaffen . … es wird immer die Fortbewegung über das Ganze sich erstrecken und alle Teile in Homogenität zu erhalten streben.“ (S.  114).q 99 Ganz entsprechend weiterhin S.  118:1 „Wie man die Einsicht in die volkswirtschaftlichen Zustände einer Zeit im allgemeinen erst dann erlangt haben wird, wenn man dieselben in ihrer Verbindung mit den Gesamterscheinungen des geschichtlichen Volkslebens erfaßt hat, so wird man auch innerhalb des ökonomischen Ringkreises insbesondere die geschichtliche Bedeutsamkeit einer einzelnen Entwickelungsform nur durch die Erfassung des Paralle-

q A: 114.)   96  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  53 mit Anm.  63. 97  Vgl. ebd., oben, S.  58, Fn.  25 mit Anm.  84. 98  Knies, Oekonomie2, S.  164. 99  Knies, Oekonomie1, S.  114. 1  Ebd., S.  115.

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listischen „Lebenskraft“2 gleichartig gedachten Macht wird nicht zu analysieren versucht: sie ist, wie der Roschersche „Hintergrund“,3 eben das schlechthin letzte Agens, auf welches man bei der Analyse historischer Erscheinungen stößt. Denn wie in den Individuen dasr, was ihre „Persönlichkeit“, ihren „Charakter“ ausmacht, den Charakter einer „Substanz“ hat – dies ist ja doch der Sinn der Kniesschen Persönlichkeitstheorie –, so ist eben hier dieser Substanzcharakter ganz im Geist der Romantik auch auf die „Volksseele“ übertragen, – eine metaphysische Abblassung von Roschers frommem Glauben daran, daß die „Seelen“ der einzelnen wie der Völker direkt aus Gottes Hand stammen.4 Und über den „Organismen“ der einzelnen Völker steht endlich | der höchste organische Zusammenhang: derjenige der lismus, der aus der analogen Gestaltung aller übrigen hervorblickt, zu erkennen vermögen.“ „Nicht bloß, daß alle speziellen Parteien der Volkswirtschaft untereinander in einem auf die Haltung und den Charakter der Gesamtwirtschaft, als auf ihre Erklärung hinweisenden Zusammenhang stehen, sondern eben dieses Ganze steht auch seinerseits in unlöslicher Verbindung mit dem Gesamtleben des Volkes. Auf diese Verbindung wird man immer wieder hingewiesen, so oft man sich die Frage nach den Ursachen vorlegt, aus denen wirtschaftliche Zustände hervorgewachsen sind, und umgekehrt wird man, wenn man die Wirkungen der letzteren nachzuweisen sucht, auch auf die Erscheinungen der übrigen Lebenskreise eintreten müssen.“ (S.  111).s 5 „Daher bleibt immer die Gemeinsamkeit des allgemeinen Charakters erhalten, der in den verschiedenen Erscheinungsgebieten hervortritt; alle Formen des äußeren Lebens stellen sich als Gebilde einheitlicher Triebkräfte dar, die sich überall zur Geltung zu bringen suchen und deren Entwickelungen die Wandlungen dieser Formen vermitteln, dieselben nach einer Richtung hin zu bewegen suchen.“ (Ebendort.) Und endlich: „Es können sich wohl Neugestaltungen als die Ergebnisse einer vorgeschrittenen Entwickelung im allgemeinen Volksleben auf einem einzelnen Gebiete zuerst in deutlicherer Gestaltung, mit scharf ausgeprägtem Charakter herausbilden, aber dieses partielle Dasein ist nur die Erscheinung des allmählichen Werdens, das sich in einer das Gesamtleben umfassenden Reihe nicht bloß gleichzeitiger, sondern auch aufeinander folgender Umbildungen vollzieht.“ (S.  110).t |

r A: Das  s A: 111.)  t A: 110.)   2  Vgl. Driesch, Hans, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre. – Leipzig: J. A. Barth 1905, S.  82 ff. Vgl. bereits Weber, Objektivität, oben, S.  180 mit Anm.  22. 3  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  68 f., 90. 4  Vgl. Roscher, Gedanken, S.  127: „Alle einzelnen Völker, die neben und nach einander gelebt haben, werden zusammengefaßt als Menschheit. Wer möchte das Vorhandensein eines Standpunktes leugnen, für welchen die Menschheit nur Ein großes Ganzes bildet, alle bunte Mannichfaltigkeit ihres Lebens nur einen großen Plan, Einen ‚wunderbaren, herrlich hinausgeführten‘ Rathschluß Gottes? (Jes. 28,29).“ 5  Knies, Oekonomie1, S.  111.

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Menschheit.6 Die Menschheitsentwickelung kann aber, da sie eben ein „organischer“ Zusammenhang ist, nicht ein Nach- und Miteinander von Völkern darstellen, deren Entwickelung in den historisch relevanten Beziehungen je einen Kreislauf bildete, – das wäre ja ein „unorganisches“ Hinter- und Nebeneinander von Gattungswesen, – sondern sie ist als eine Gesamtentwickelung aufzufassen, in der jedes Volk seine geschichtlich ihm zugewiesene, daher indi­ viduelle, Rolle spielt.7 In dieser, dem Kniesschen Buch überall stillschweigend zugrunde liegenden geschichtsphilosophischen Auffassung liegt der entscheidende Bruch mit Roschers Gedankenwelt.8 Denn aus ihr folgt, daß für die Wissenschaft die Einzelnen ebenso wie die Völker nicht in letzter Instanz als „Gattungswesen“ in ihren generell gleichen Qualitäten, sondern eben als „Individuen“ in ihrer – vom Standpunkt der „organischen“ Auffassung aus gesprochen: – „funktionellen“ Bedeutung in Betracht kommen müssen, und wir werden sehen,9 daß diese Auffassung in der Tat in der Kniesschen Methodologie äußerst kräftig zum Ausdruck gelangt. Allein: der metaphysische oder, logisch ausgedrückt: der emana­ tistische Charakter der Kniesschen Voraussetzungen: die Auffassung der „Einheit“ des Individuums als einer real, sozusagen biologisch wirkenden „Kraft“, führte auf der andern Seite, sobald sie nicht gänzlich in anthropologische verkleidete Mystik umschlagen wollte, mit Notwendigkeit doch auch jene rationalistischen Konsequenzen wieder in die Erörterung hinein, welche dem Epigonentum des Hegelschen Panlogismus10 als Erbe von dessen großartigen Konstruktionen anhaften blieben. Dahin gehört vor allem die der emanatistischen Logik11 in ihrem Decadence-Stadium so charakteristische Ineinanderschiebung von realem Kollektivum und Gattungsbegriff. Es ist, sagt Knies (S.  345)12 „festzustellen, daß in allem menschlichen Leben und Wirken etwas Ewiges und Gleiches 6  Vgl. Roscher, System I2, S.  541 (§  266). 7  Vgl. Knies, Oekonomie1, S.  120. 8  Für Knies, ebd., S.  122, hat sich Roscher „zu sehr […] der Ansicht von dem Kreislaufe der menschlichen Dinge auch auf dem ökonomischen Gebiete hingegeben“. 9  Der unten, S.  379, in Aussicht gestellte weitere Artikel folgte nicht. 10  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  70 mit Anm.  24. 11  Vgl. ebd., oben, S.  62 mit Anm.  96. 12  Knies, Oekonomie1, S.  345.

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ist, weil kein einzelner Mensch zur Gattung gehören könnte, wenn er nicht gerade so mit allen Individuen zum gemeinsamen Ganzen verbunden wäre, und daß dieses Ewige und Gleiche auch in den Gemeinwesen zur Erscheinung gelangt, weil diese die Eigentümlichkeit der Einzelnen doch immer zur Basis haben.“ Man sieht: „allgemeiner“ Zusammenhang und „allgemeiner“ Begriff, reale Zugehörigkeit zur Gattung und Subsumtion unter den Gattungsbegriff gehen hier ineinander über. Wie von Knies die „Einheitlichkeit“ der realen Totalität als begriffliche „Widerspruchslosigkeit“ gefaßt wurde, so wird hier der reale Zusammenhang der Menschheit und ihrer Entwickelung | doch wieder zu einer begrifflichen „Gleichheit“ der in sie eingefügten Individuen. Dazu tritt nun ein weiteres: die Identifikation von „Kausalität“ und „Gesetzlichkeit“, welche gleichfalls ein legitimes Kind der panlogistischen Entwickelungsdialektik und nur auf ihrem Boden konsequent durchführbar ist: „Wer die Volkswirtschaftslehre als eine Wissenschaft ansieht, der wird es keinem Zweifel unterwerfen, daß es sich in derselben um Gesetze der Erscheinung handelt. Die Wissenschaft unterscheidet sich eben so von dem bloßen Wissen, daß dieses in der Kenntnis von Tatsachen und Erscheinungen besteht, die Wissenschaft aber die Erkenntnis des Kausalitätszusammenhanges zwischen diesen Erscheinungen und den sie hervorbringenden Ursachen vermittelt und die Feststellung der auf dem Gebiete ihrer Untersuchungen hervortretenden Gesetze der Erscheinung erstrebt“ – sagt Knies (S.  235).u 13 Schon nach allem was wir im Eingang dieses Abschnittes über die „Freiheit“ des Handelns, den Zusammenhang zwischen „Persönlichkeit“ und Irrationalität bei Knies hörten, muß diese Bemerkung auf das äußerste erstaunen, – und wir werden alsbald bei Betrachtung seiner Geschichtstheorie sehen,14 daß mit jener Irrationalität strenger Ernst gemacht wird. Zur Erklärung dient eben der Umstand, daß hier unter „Gesetzlichkeit“ nur das durchgängige Beherrschtsein der realen Entwickelung der Menschheitsgeschichte durch jene einheitliche, hinter ihr stehende „Triebkraft“ zu verstehen ist, aus welcher alles einzelne als ihre Äußeu A: 235.)   13  Ebd., S.  235. 14  Wie oben, S.  377, Anm.  9. Vgl. aber die „Nervi“-Notizen im Anhang, unten, S.  648 ff.

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rungsform emaniert. Der Bruch in der erkenntnistheoretischen Grundlage ist bei Knies wie bei Roscher durch jene verkümmerten und nach der anthropologisch-biologischen Seite abgebogenen Reste der großen Hegelschen Gedanken zu erklären, welche für die Geschichts-, Sprach- und Kulturphilosophie verschiedener noch in den mittleren Jahrzehnten des abgelaufenen Jahrhunderts einflußreicher Richtungen so charakteristisch warenv. Bei Knies ist zwar der Begriff des „Individuums“, wie nach der vorstehenden Darstellung sich vermuten läßt und wie sich bald näher zeigen wird,15 wieder zu seinem Rechte gelangt an Stelle des Naturalismus der Roscherschen Kreislauftheorie. Aber die in ihren Grundlagen emanatistischen Vorstellungen über seinen realen substanziellen Charakter sind mit daran schuld, daß die Kniessche Theorie den Versuch, das Verhältnis zwischen Begriff und Realität zu ermitteln, gar nicht unternahm und daher, wie wir ebenfalls sehen werden,16 nur wesentlich negative und geradezu destruktive Resultate zeitigen konnte.w |

v A: war  w  In A folgt: (Ein weiterer Artikel folgt.)   15  Wie oben, S.  377, Anm.  9. 16  Wie oben, S.  377, Anm.  9.

Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik

Editorischer Bericht I.  Zur Entstehung Max Webers „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“ wurden 1906 in der Rubrik „Literatur“ des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ veröffentlicht.1 Sie enthalten nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem 1902 publizierten Buch „Zur Theorie und Methodik der Geschichte“2 des Althistorikers Eduard Meyer, sondern auch eigene methodologische Ausführungen. Webers Text ist entsprechend in zwei Teile gegliedert: „I. Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer. – II. Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung.“3 So entstand ein für eine Rezension unüblich umfangreicher, im wesentlichen aus systematischen Überlegungen bestehender Text, der mit 65 Seiten um neun Seiten länger war als das besprochene Buch von Meyer und gerade mal eine Seite kürzer als Webers eigene Abhandlung „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“.4 Weber war Meyers Buch spätestens seit 1903 bekannt, wie drei vage Verweise in den Fußnoten des im Herbst 1903 publizierten Teils seiner Abhandlung „Roscher und Knies“ belegen. In seiner ersten Referenz wies Weber darauf hin, daß Friedrich Gottls Buch „Die Herrschaft des Wortes“ Heinrich Rickert „offenbar unbekannt geblieben“ ist, „ebenso Eduard Meyer, dessen Ausführungen (‚Zur Theorie und Methodik der Geschichte.‘ Halle 1902) sich mit derjenigen Gottls vielfach berühren“.5 In der zweiten Referenz geht es darum, ob es „ein allgemeines methodisches Prinzip“ gebe, mit dem „die für unsere Erkenntnis wesentlichen Züge“ aus „der Fülle der wissenschaftlich gleichgültigen herausgelesen“ werden können, was Weber „vorerst dahingestellt“ sein ließ: „(S[iehe] dagegen z. B. E[duard] Meyer, a. a. O.)“.6 In der dritten Referenz wird die aktuelle Entwicklung Meyers in die Nähe von Karl Lamprecht und Karl Knies gerückt.7 1  Weber, Kritische Studien, unten, S.  384–480. 2  Meyer, Theorie. 3  Weber, Kritische Studien, unten, S.  384 und 447. 4  Weber, Objektivität, oben, S.  135–234. 5  Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  45, Fn.  5. 6  Ebd., S.  48, Fn.  11. 7  Ebd., S.  73, Fn.  55.

Editorischer Bericht

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Die Absicht, sich mit Meyers Thesen zu befassen oder dessen Buch als einen Anlaß zu einer weiteren Schärfung der methodologischen Grundlagen der Kulturwissenschaften zu nutzen, spricht bereits aus einer Mitteilung, die Weber wenige Monate nach der Publikation seiner Abhandlung „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ gegenüber Heinrich Rickert machte. Im Rahmen einer Erörterung des Konzepts des „Idealtypus“ teilte Weber am 14. Juni 1904 Rickert mit, er werde „demnächst einmal (im Winter) die Bedeutung der Kategorie der ‚objektiven Möglichkeit‘ für das historische Urteil“ analysieren,8 was er denn auch in Teil II. der „Kritische[n] Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“ einlöste. Nach eigenem Bekunden brachte er die „Kritische[n] Studien“ im Spätsommer 1905 zum Abschluß, zeitgleich mit seiner Kritik an Knies. Am 3. September 1905 schrieb er Emil Lask: „Ich korrigiere eben ‚Roscher und Knies’ […]. Ein Aufsatz über 1.) Eduard Meyer – 2.) im Anschluß daran: den Begriff der ‚objektiven Möglichkeit in der historischen Zurechnung‘ ist ziemlich fertig.“9 Am 10. September 1905 teilte er sodann Willy Hellpach mit, daß sein „Standpunkt“ in Sachen Kausalität „in einem scharfen Angriff auf Ed[uard] Meyer im Januar-Heft noch deutlicher“ werde.10 Wie eng die Arbeit an beiden Aufsatz-Projekten nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich miteinander verknüpft war, zeigen die wechselseitigen Querverweise. Im zweiten, im Herbst 1905 publizierten Teil der Abhandlung „Roscher und Knies“ sind in Fußnoten zwei Hinweise auf die Meyer-Besprechung enthalten. In der ersten Referenz heißt es: „Über die Beziehung der Kategorie ‚Realgrund‘ und ‚Erkenntnisgrund‘ zu den geschichtsmethodologischen Problemen siehe meine demnächst im Jaffé-Braunschen Archiv erscheinenden Auseinandersetzungen mit Eduard Meyer und einigen anderen.“11 In der zweiten Referenz ist mit Bezug auf Hugo Münsterberg vom „psychischen Ablauf“ die Rede, „dessen Erforschung von manchen Historikern (Ed[uard] Meyer) geradezu als indifferent behandelt wird“.12 Im dritten Teil der Abhandlung „Roscher und Knies“, der wie der zweite im Sommer 1905 abgeschlossene Teil, aus Platzgründen aber erst Anfang 1906, d. h. 8 Brief von Max Weber an Heinrich Rickert vom 14. Juni 1904, MWG II/4, S.  230 f. Tatsächlich taucht die von Johannes von Kries entwickelte Kategorie der objektiven Möglichkeit schon in Webers Abhandlung „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ auf. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  187 mit Anm.  45 und S.  208. 9 Brief von Max Weber an Emil Lask vom 3. Sept. 1905, MWG II/4, S.  513 f., hier S.  514. 10  Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 10. Sept. 1905, ebd., S.  526–533, hier S.  532. 11  Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  253, Fn.  13. Vgl. zu dieser Thematik Weber, Kritische Studien, unten, S.  409 f., 412 f., 456. 12  Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  289, Fn.  30.

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zeitgleich mit den „Kritische[n] Studien“, publiziert wurde,13 kam Weber auf den kausalen Regressus zu sprechen: „Die Kausalerklärung läuft – was auch gegen Ed[uard] Meyer zu betonen ist – bei individuell ‚aufgefaßten‘ Ereignissen regelmäßig rückwärts von der Wirkung zur Ursache“.14 Umgekehrt finden sich in den „Kritischen Studien“ einige Rückverweise auf „Roscher und Knies“.15 Am 7. Dezember 1905 teilte Weber Hellpach mit, er „stecke tief in Cor­ rekturen“.16 Am 18. Dezember 1905 erwähnte er gegenüber Edwin R. A. Seligman, daß er „tief in logischen Arbeiten stecke“.17 Diese Korrekturen oder Arbeiten könnten sich zwar durchaus noch auf den dritten Teil von „Roscher und Knies“ beziehen, ebenso gut freilich auch auf die „Kritische[n] Studien“, die im Januarheft des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienen – ausgegeben am 8. Februar 1906.18 Dennoch war die Thematik für Weber noch nicht abgeschlossen. Dies geht aus einigen Hinweisen auf die weiteren Schreibabsichten im Text,19 aber auch aus dem die „Kritische[n] Studien“ abschließenden Hinweis hervor: „(Ein weiterer Aufsatz folgt.)“.20 Dies unterblieb. Welcher Text dafür vorgesehen war, wissen wir nicht.

II.  Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter dem Titel „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“, im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, hg. von Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé, Band 22, Heft 1, 1906, S.  143–207, erschien (A). Eine Häufung von typischen Lesefehlern des Setzers läßt darauf schließen, daß zumindest einige Passagen der Druckvorlage handschriftlich verfaßt waren bzw. im Korrekturprozeß handschriftlich nachgetragen worden sind.21 Unterschiedliche Schreibungen, wie z. B. „litterarisch“ und „literar[…]histo­ 13  Vgl. den Editorischen Bericht zu Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  240–242. 14  Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  340, Fn.  12. 15  Z. B. unten, S.  398, Fn.  9 mit Anm.  57, S.  399, Fn.  11 mit Anm.  61, S.  403, Fn.  14 mit Anm.  82, und S.  463, Fn.  34 mit Anm.  14. 16  Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 7. Dez. 1905, MWG II/4, S.  609. 17  Brief von Max Weber an Edwin R. A. Seligman vom 18. Dez. 1905, ebd., S.  611 f., hier S.  611. 18  Vgl. den Zusatz auf dem Heftumschlag. 19  Vgl. unten, S.  444, S.  476, Fn.  36. 20  Weber, Kritische Studien, unten, S.  480. 21  Vgl. z. B. die fehlerhafte Wiedergabe von „Togliacozzo“, unten, S.  459, textkritische Anm.  r; von „Adäquenz“, unten, S.  479 f., textkritische Anm.  e und g; die Lesung von „dem“ (statt: „den“) oder „derselben“ (statt: „desselben“), unten, S.  449, textkritische Anm.  g und h.

Editorischer Bericht

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risch“ (unten, S.  415) werden belassen. Die Fußnoten sind fortlaufend durchgezählt, es gibt allerdings Fußnoten, die, vermutlich in einem späteren Stadium eingebracht, auf „a“ lauten.22 In der Edition folgt die Fußnotenzählung exakt der Druckvorlage, so daß der Arbeitsprozeß erkennbar bleibt. Bei bibliographischen Belegen wird öfter eine Seitenzahl mit „f.“ („folgende“) angegeben, wo man „ff.“ („fortfolgende“) erwartet, weil Weber sich nachweislich auf einen größeren Abschnitt einer Schrift bezieht.23 Dies wurde belassen, allerdings präzisiert eine Sacherläuterung die gemeinten Seitenangaben.

22  Unten, S.  425, Fn.  20a; S.  444, Fn.  24a; S.  469, Fn.  35a. 23  Vgl. unten, S.  409, Fn.  16 mit Anm.  10; S.  430, Fn.  22 mit Anm.  84.

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Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik.a Inhalt: I. Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer b, S.  384b. – II. Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung c, S.  447c.

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Wenn einer unserer ersten Historiker sich veranlaßt sieht, sich selbst und seinen Fachgenossen über Ziele und Wege seiner Arbeit Rechenschaft zu geben, so muß dies schon deshalb ein über die Fachkreise hinausreichendes Interesse wachrufen, weil er damit den Bereich seiner Einzeldisziplinen überschreitet und das Gebiet erkenntnistheoretischer Betrachtungen betritt. Dies hat freilich zunächst gewisse Konsequenzen negativer Art. Die Kategorien der Logik, welche nun einmal in ihrer heutigen Entwicklung eine Fachdisziplin ist wie andere, erfordern, um wirklich sicher gehandhabt zu werden, ganz ebenso den täglichen Umgang mit ihnen wie diejenigen irgend einer anderen Disziplin; und einen solchen konstanten geistigen Verkehr mit logischen Problemen kann und will selbstverständlich Eduard Meyer, von dessen Schrift: „Zur Theorie und Methodik der Geschichte“ (Halle 1902) hier die Rede ist, für sich ebensowenig in Anspruch nehmen, wie etwa der Schreiber der nachfolgenden Zeilen dies tut. Die erkenntniskritischen Ausführungen jener Schrift sind also, sozusagen, ein Krankheitsbericht nicht des Arztes, sondern des Patienten selbst, und als solcher wollen sie gewürdigt und verstanden werden. Der Logiker und Erkenntnistheoretiker vomd Fach wird daher an zahlreichen Formulierungen M[eyer]s Anstoß nehmen und für seine Zwecke vielleicht nicht eigentlich Neues aus der Schrift erfahren. Allein dies tut ihrer Bedeutung | für die benachbarten Einzeldisziplinen kei-

a  In A folgt: Von MAX WEBER.  b–b  Fehlt in A; vom Editor ergänzt.   c–c Fehlt in A; vom Editor ergänzt.   d A: von  

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nen Eintrag.1) Gerade die bedeutsamsten Leistungen der fachmäßigen Erkenntnistheorie arbeiten mit „idealtypisch“1 geformten Bildern von den Erkenntniszielen und -wegene der Einzelwissenschaften und fliegen daher über die Köpfe der letzteren so hoch hinweg, daß es diesen zuweilen schwer fällt, mit unbewaffnetem Auge sich selbst in jenen Erörterungen wiederzuerkennen. Zur Selbstbesinnung können ihnen daher methodologische Erörterungen in ihrer eigenen Mitte trotz und in gewissem Sinn gerade wegen ihrer vom Standpunkt der Erkenntnistheorie aus unvollkommenen Formulierung zuweilen leichter dienlich sein. Gerade M[eyer]s Darlegung in ihrer durchsichtigen Verständlichkeit bietet den Fachleuten der Nachbardisziplinen die Möglichkeit, an eine ganze Reihe von Punkten anzuknüpfen, um gewisse ihnen mit den „Historikern“ im engeren Sinne dieses Wortes gemeinsame logische Fragen zum Austrag zu bringen. Dies ist der Zweck der nachfolgenden Erörterungen, welche, zunächst an M[eyer]s Schrift anknüpfend, der Reihe nach eine Anzahl von logischen Einzelproblemen veranschaulichen und von dem so gewonnenen Standpunkt aus alsdann eine Anzahl weiterer neuerer Arbeiten zur Logik der Kulturwissenschaften besprechen wollen. Mit Absicht wird dabei von rein historischen Problemen ausgegangen und erst im späteren Verlauf der Erörterung zu den „Regeln“ und „Gesetze“ suchenden Disziplinen vom sozialen Leben aufgestiegen, nachdem bisher so oft der Versuch gemacht worden ist, die Eigenart der Sozialwissenschaften durch Abgrenzung gegen die „Naturwissenschaften“ zu begrenzen.2 Dabei spielte immer die stillschweigende Voraussetzung mit, daß die „Geschichte“ eine rein materialsammelnde,3 oder doch eine 1) Man wird deshalb auch die folgende Kritik, welche absichtlich gerade die Schwä- A 144 chen seiner Formulierungen aufsucht, hoffentlich nicht dem Bedürfnis der „Besserwisserei“ zuschreiben. Die Fehler, die ein hervorragender Schriftsteller macht, sind lehrreicher als die Korrektheiten einer wissenschaftlichen Null. Es ist hier eben nicht die Absicht, Ed[uard] Meyers Leistung positiv gerecht zu werden, sondern gerade umgekehrt: dadurch von seinen Unvollkommenheiten zu lernen, daß wir sehen, wie er sich mit gewissen wichtigen Problemen der Geschichtslogik abzufinden, mit sehr verschiedenem Erfolge, versucht hat. |

e A: -Wegen   1  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  203 ff. 2  Gemeint ist möglicherweise Gottl, Grenzen, S. VI. 3  Schon Gervinus, Historik, S.  360, hat Kritik am „geistlosen[n] Factensammler“ geübt, „der chronikartig blos zusammenträgt“.

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rein „beschreibende“4 Disziplin sei, welche günstigenfalls „Tatsachen“ herbeischleppe, die als Bausteine für die nun erst beginnende „eigentliche“ wissenschaftliche Arbeit dienen. Und zwar haben leider gerade auch die Fachhistoriker durch die Art, in welcher sie die Eigenheit der „Geschichte“ im fachlichen Sinn des Wortes zu begründen suchten, nicht wenig zur Befestigung des Vorurteils beigetragen, daß „historische“ Arbeit etwas qualitativ anderes sei als „wissenschaftliche“ Arbeit, weil „Begriffe“ und „Regeln“ die Geschichte „nichts angingen“.5 Da auch unsere Disziplin6 heute, unter dem nachhaltigen Einfluß der „historischen Schule“,7 „geschichtlich“ fundamentiert zu werden pflegt, und da die Beziehung | zur „Theorie“ noch immer, wie vor 25 Jahren,8 problematisch geblieben ist, so scheint es richtig, zunächst einmal zu fragen: was denn eigentlich unter „historischer“ Arbeit im logischen Sinne verstanden werden kann, und diese Frage zunächst auf dem Boden der zweifellos und nach allgemeinem Zugeständnis „historischen“ Arbeit auszutragen, diejenige eben, mit welcher sich die hier an erster Stelle kritisierte Schrift befaßt. – Eduard Meyer beginnt mit einer Warnung vor der Überschätzung der Bedeutung methodologischer Studien für die Praxis der Geschichte: die umfassendsten methodologischen Kenntnisse machen niemand zum Historiker, irrige methodologische Ansichten bedingen nicht notwendig eine falsche wissenschaftliche Praxis, sondern beweisen zunächst nur, daß der Historiker seine eignen richtigen Arbeitsmaximen irrtümlich formuliere oder deute.9 Dem ist im wesentlichen beizustimmen: die Methodologie kann immer 4  Zur Unterscheidung von (kausaler) Erklärung und Beschreibung vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  175 mit Anm.  1. 5  Möglicherweise referiert Weber auf Below, Methode, S.  241 f.: „Die Geschichtswissenschaft bestreitet immer die Allgemeingiltigkeit der Systeme, der Begriffe. Sie lehrt erkennen, daß die Dinge nicht stabil sind, daß die starren Dogmen und Regeln, die man aufstellt, zum mindesten bedeutenden Einschränkungen unterliegen, zugleich auch, daß es unzulässig ist, für die menschliche Entwicklung Naturgesetze zu dekretieren.“ 6  Gemeint ist die Nationalökonomie. 7  Für Weber sind Wilhelm Roscher, Karl Knies und Bruno Hildebrand die Begründer der „historischen Schule“. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  42. 8  Wahrscheinlich ist der Methodenstreit zwischen der theoretischen Nationalökonomie Carl Mengers und der von Gustav Schmoller fortgeführten historischen Schule gemeint. Vgl. Einleitung, oben, S.  4 f. 9  Vgl. Meyer, Theorie, S.  3.

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nur Selbstbesinnung auf die Mittel sein, welche sich in der Praxis bewährt haben, und daß diese ausdrücklich zum Bewußtsein gebracht werden, ist so wenig Voraussetzung fruchtbarer Arbeit, wie die Kenntnis der Anatomie Voraussetzung „richtigen“ Gehens. Ja, wie derjenige, welcher seine Gangart fortlaufend an anatomischen Kenntnissen kontrollieren wollte, in Gefahr käme zu stolpern, so kann das Entsprechende dem Fachgelehrten bei dem Versuche begegnen, auf Grund methodologischer Erwägungen die Ziele seiner Arbeit anderweit zu bestimmen.2) Wenn die methodologische Arbeit, – wie dies natürlich auch ihre Absicht ist, – in irgend einem Punkt der Praxis des Historikers unmittelbar dienen kann, so ist es gerade dadurch, daß sie ihn befähigt, sich durch philosophisch verbrämten Dilettantismus ein für allemal nicht imponieren zu lassen. Nur durch Aufzeigung und Lösung sachlicher Probleme wurden Wissenschaften begründet und wird ihre Methode fortentwickelt, noch niemals dagegen sind daran rein erkenntnistheoretische oder methodologische Erwägungen entscheidend beteiligt gewesen. Wichtig für den Betrieb der Wissenschaft selbst pflegen solche Erörterungen nur dann zu werden, wenn infolge starker Verschiebungen der „Gesichtspunkte“,10 unter denen ein Stoff Objekt der Darstellung wird, die Vorstellung auftaucht, daß die neuen „Gesichtspunkte“ auch eine Revision der logischen Formen bedingen, in denen sich der überkommene „Betrieb“ bewegt hat, und dadurch Unsicherheit über das „Wesen“ der eigenen Arbeit entsteht. Diese Lage ist nun allerdings unstreitig in der Gegenwart für die Geschichte gegeben, und E[duard] M[eyer]s Ansicht über die prinzipielle Bedeutungslosigkeit der Methodologie für die „Praxis“ hat ihn daher mit Recht nicht gehindert, heute selbst Methodologie zu treiben. Er wendet sich zunächst zu einer Darstellung derjenigen Theorien, welche neuerdings vom methodologischen Gesichtspunkte aus die Ge|schichtswissenschaft umzugestalten versucht haben und formuliert den Standpunkt, mit welchem er speziell sich kritisch auseinandersetzen will, S.  5 ff.11 dahin, daß

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2) Dies würde – wie noch zu zeigen – auch bei E[duard] Meyer eintreten, falls er mit A 145 manchen seiner Aufstellungen allzu wörtlich Ernst machen wollte. |

10  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  189 mit Anm.  53. 11  Meyer, Theorie, S.  5 ff.

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1. als für die Geschichte bedeutungslos und daher nicht in eine wissenschaftliche Darstellung gehörend anzusehen seien:   a)  das „Zufällige“,   b)  der „freie“ Willensentschluß konkreter Persönlichkeiten,   c)  der Einfluß der „Ideen“ auf das Handeln der Menschen, –   daß dagegen 2. als das eigentliche Objekt wissenschaftlichen Erkennens:   a) die „Massenerscheinungen“ im Gegensatz zum individuellen Handeln,   b)  das „Typische“ im Gegensatz zum „Singulären“,   c) die Entwicklung der „Gemeinschaften“, speziell der sozialen „Klassen“ oder der „Nationen“ im Gegensatz zum politischen Handeln Einzelner   zu gelten hätten, daß endlich 3. die geschichtliche Entwicklung, weil wissenschaftlich nur kausal verständlich, als ein „gesetzlich“ ablaufender Prozeß aufzufassen, also die Auffindung der notwendig „typisch“ sich folgenden „Entwicklungsstufen“ der menschlichen Gemeinschaften und die Eingliederung der geschichtlichen Mannigfaltigkeit in sie der eigentliche Zweck geschichtlicher Arbeit sei. Es werden nun im folgenden alle diejenigen Punkte in E[duard] M[eyer]s Erörterungen, welche speziell der Auseinandersetzung mit Lamprecht dienen,12 vorläufig einmal ganz beiseite gelassen, und ebenso nehme ich mir die Freiheit, die Argumente E[duard] M[eyer]s dergestalt umzugruppieren und einzelne von ihnen zu gesonderter Erörterung in den weiter folgenden Abschnitten auszuscheiden, wie dies dem Bedürfnisse der folgenden Studien, die ja nicht den Zweck einer bloßen Kritik von E[duard] M[eyer]s Schrift haben, dienlich ist. – Der von ihm bekämpften Auffassung stellt E[duard] M[eyer] zunächst den Hinweis auf die gewaltige Rolle entgegen, welche „freier Wille“ und „Zufall“, – beides nach seiner Ansicht „vollkommen feste und klare Begriffe“f – in der Geschichte und im Leben überhaupt spielen.13 f A: Begriffe.“   12  Ebd., S.  7 ff. 13  Ebd., S.  13.

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Was zunächst die Erörterung des „Zufalles“ (S.  17 ff.) anlangt, so versteht E[duard] M[eyer] selbstverständlich diesen Begriff nicht als objektive „Ursachlosigkeit“g („absoluter“ Zufall im metaphysischen Sinn) und auch nicht als subjektive, aber bei jedem Einzelfall der betreffenden Art (beim Würfelspiel z. B.) notwendig erneut auftretende absolute Unmöglichkeit der Erkenntnis der ursächlichen Bedingungen („absoluter“ Zufall im erkenntnistheoretischen Sinn3)), sondern als „relativen“ Zufall im | Sinn einer logischen Beziehung zwischen gesondert gedachten Ursachenkomplexen, und zwar im ganzen, bei naturgemäß nicht überall „korrekter“ Formulierung, so, wie dieser Begriff von der auch heute noch trotz mancher Fortschritte im einzelnen wesentlich auf Windelbands Erstlingsschrift14 zurückgehenden Lehre der Fachlogik akzeptiert wird. In der Hauptsache richtig geschieden wird dann auch 1. dieser kausale Begriff des „Zufalls“ (der sog. „relative Zufall“): – der „zufällige“ Erfolg steht hier im Gegensatz zu einem solchen, welcher nach denjenigen kausalen Komponenten eines Ereignisses, die wir zu einer begrifflichen Einheit zusammengefaßt haben, zu „erwarten“ war, das „Zufällige“ ist das aus jenen allein in Betracht gezogenen Bedingungen nach allgemeinen Regeln des Geschehens nicht kausal Ableitbare, sondern durch Hinzutritt einer „außerhalb“ ihrer liegenden Bedingungen Verursachte (S.  17–19), – von 2. dem davon verschiedenen teleologischen Begriff des „Zufälligen“, dessen Gegensatz das „Wesentliche“ ist, sei es, daß es sich um die zu Erkenntniszwecken vorgenommene Bildung eines Begriffes unter Ausscheidung der für die Erkenntnis „unwesentlichen“ („zufälligen“, „individuellen“) Bestandteile der Wirklichkeit han-

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3) Dieser „Zufall“ liegt z. B. den sog. „Zufalls“-Spielen, etwa den Würfeln oder | Aus- A 146, 147 losungen, zugrunde. Die absolute Unerkennbarkeit des Zusammenhanges zwischen bestimmten Teilen der den konkreten Erfolg bestimmenden Bedingungen mit dem Erfolg ist für die Möglichkeit der „Wahrscheinlichkeitsrechnung“, im strengen Sinne dieses Wortes, konstitutiv.15

g  Ausführungszeichen fehlt in A.   14  Vgl. Windelband, Zufall. Die „Fortschritte“ erkennt Weber vermutlich im Werk von Kries; vgl. Kries, Principien, S.  97 ff., und Kries, Möglichkeit, S.  10 ff. [185 ff.]. 15 Zu den Zufallsspielen sowie zur Unvollkommenheit ontologischen Wissens vgl. Kries, Principien, S.  48 ff., 85 ff.; Kries, Möglichkeit, S.  10 ff. [185 ff.]; Windelband, Zufall, S.  30 f. Zur „absoluten Unerkennbarkeit“ aller (Anfangs-)Bedingungen vgl. Einleitung, oben, S.  20.

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delt, sei es[,] daß eine Beurteilung gewisser realer oder gedachter Objekte als „Mittel“ zu einem „Zweck“ vorgenommen wird, wobei dann gewisse Eigenschaften als „Mittel“ allein praktisch relevant, die übrigen praktisch „gleichgültig“ werden (S.  20–21).4) Freilich, die Formulierung (besonders S.  20 unten, wo der Gegensatz als ein solcher von „Vorgängen“ und „Sachen“ gefaßt wird) läßt zu wünschen übrig, und daß das Problem logisch doch nicht ganz in seinen Konsequenzen durchdacht worden ist, wird sich weiterhin bei Erörterung der Stellung E[duard] M[eyer]s zum Entwicklungsbegriff (unten Abschnitt II)16 ergeben. Allein was er sagt, genügt im übrigen den Bedürfnissen der historischen Praxis. – Uns interessiert hier jedoch die Art, wie an einer späteren Stelle der Schrift (S.  28) auf den Zufallsbegriff zurückgegriffen wird. „Die Naturwissenschaft“, sagt E[duard] M[eyer] dort, „kann . . . . . aussprechen, daß, wenn Dynamit entzündet wird, eine Explosion stattfinden werde. Aber vorauszusehen, ob und wann in einem Einzelfalle | diese Explosion stattfindet, ob dabei ein bestimmter Mensch verwundet, getötet, gerettet wird, das ist ihr unmöglich, denn das hängt vom Zufall und vom freien Willen ab, den sie nicht kennt, wohl aber die Geschichte.“ Zunächst ist hier die enge Verkoppelung des 4)  Diese „Zufalls“-Begriffe sind aus einer auch nur relativ historischen Disziplin (z. B. der Biologie)17 nie auszuscheiden. Nur von diesem und dem in Note 6 zu erwähnenden „pragmatischen“ Begriff des „Zufalls“18 spricht – offenbar im Anschluß an E[duard] Meyer – auch L[udo] M[oritz] Hartmann (Die geschichtliche Entwicklung S.  15, 25),19 er macht damit also jedenfalls – trotz seiner falschen Formulierung – nicht, wie Eulenburg (Deutsche Literaturzeitung 1905 Nr.  24) meint, das „Ursachlose zur Ursache“.20 |

16  Unten, S.  457 ff., 461, 465. 17  Für Rickert, Grenzen, S.  268, 270, 278, ist die Mechanik die „letzte Naturwissenschaft“, weil sie „letzte Gesetze“ anstrebt und dabei alles Historische im Sinne von anschaulich Individuellem ausscheidet, mithin außer „Dingbegriffen“ von unanschaulichen „letzten Dingen“ (Atomen) nur noch „Relationsbegriffe“ formuliert. Im Unterschied dazu sind die anderen Naturwissenschaften und somit auch die Biologie relativ historische Disziplinen, weil sie noch Dingbegriffe verwenden, die historische Bestandteile enthalten. 18  Unten, S.  395, Fn.  6. 19  Vgl. „Über den Zufall“ in Hartmann, Entwickelung, S.  15 ff. Für Hartmann erscheinen dem Menschen als Zufall sowohl Faktoren der äußeren Natur, die auf historische Vorgänge einwirken, als auch Begebenheiten, die sich nicht mit dem Inhalt seines Willens decken. Auf Meyer verweist er nur, als er ebd., S.  62 ff., mit Bezug auf dessen Geschichte des Altertums das Persische Heer beschreibt. 20 Vgl. Eulenburg, Hartmann, S.  1502: „die Ursachlosigkeit (‚Zufall‘) als Ursache (‚Triebfeder‘) – was soll das heißen?“ Vgl. auch den Brief Max Webers an Franz Eulenburg vom 29. Juni 1905, MWG II/4, S.  491 f.

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„Zufalles“ mit dem „freien Willen“ auffällig. Sie tritt noch deut­ licher dadurch hervor, daß E[duard] M[eyer] als zweites Beispiel anführt die Möglichkeit, mit den Mitteln der Astronomie eine Konstellation21 „sicher“, d. h. unter Voraussetzung des Ausbleibens von „Störungen“ (z. B. durch ein Sich-Verirren fremder Weltkörper in das Sonnensystem)[,] zu „berechnen“, und demgegenüber als „nicht möglich“ erklärt die Voraussage, ob jene berechnete Konstellation nun auch „beobachtet“ wird.22 Erstens wäre doch auch jenes „SichVerirren“ des fremden Weltkörpers nach E[duard] M[eyer]s Voraussetzung „unberechenbar“ – mithin kennt auch die Astronomie, und nicht nur die Geschichte, den „Zufall“ in diesem Sinn, – zweitens ist doch normalerweise sehr leicht „berechenbar“, daß irgend ein Astronom die berechnete Constellation auch zu „beobachten“ versuchen und, wenn keine „zufälligen“ Störungen eintreten, tatsächlich beobachten wird. Es entsteht der Eindruck, daß E[duard] M[eyer], trotzdem der „Zufall“ von ihm durchaus deterministisch interpretiert wird, doch, ohne dies klar auszusprechen, eine besonders enge Wahlverwandtschaft23 zwischen dem „Zufall“ und einer „Willensfreiheit“24 vorschwebt, welche eine spezifische Irrationalität des historischen Geschehens bedinge. Sehen wir also zu. Was E[duard] M[eyer] als „freien Willen“ bezeichnet, enthält, nach hihm (S.  14),h wiederum keineswegs einen Widerspruch gegen den „axiomatischen“ und auch nach seiner Ansicht unbedingt, auch für das menschliche Handeln, geltenden „Satz vom zureichenden Grunde“.25 Sondern der Gegensatz von „Freiheit“ und „Notwendigkeit“ des Handelns löse sich in einen bloßen Unterschied der Betrachtungsweise auf: im letzten Fall betrachten wir das Gewordene, und dies gelte uns, einschließlich des einmal tatsächlich gefaßten Entschlusses, als „notwendig“, – im ersten Fall betrachten wir den Hergang als „werdend“, also noch nicht vorhanh–h A: ihm, (S.  14)   21  Vgl. Weber, Objektivität, oben 177 mit Anm.  9. 22  Vgl. Meyer, Theorie, S.  28. 23  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  152 mit Anm.  38. 24 Weber orientiert sich diesbezüglich an Windelband. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  272, Fn.  18, und unten, S.  396, Fn.  7. 25  Schopenhauer, Satz vom Grunde (wie oben, S.  54, Anm.  63), S.  5, 9, bezeichnet diesen Satz als „Axiom“: „Nichts ist ohne Grund warum es sei.“ Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  364 mit Anm.  49.

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den, also auch noch nicht „notwendig“, sondern als eine von unendlich vielen „Möglichkeiten“. Vom Standpunkt einer „werdenden“ Entwicklung aus aber können wir niemals behaupten, daß ein menschlicher Entschluß nicht auch anders habe ausfallen können, als er (später) tatsächlich ausgefallen ist. „Über das ‚ich will‘ kommen wir bei keiner menschlichen Handlung hinaus.“26 Nun entsteht zunächst die Frage: ist E[duard] M[eyer] der Ansicht, daß jener Gegensatz der Betrachtungsweise („werdende“ und deshalb „frei“ gedachte „Entwicklung“ – „gewordene“ und deshalb als „notwendig“ zu denkende „Tatsache“) nur auf das Gebiet menschlicher Motivation, also nicht auf das Gebiet der „toten“ Natur Anwendung finde? Da er (S.  15) bemerkt, daß derjenige, welcher „die Persönlichkeit und die Umstände kenne“, das Ergebnis, – den „werdenden“ Entschluß – „vielleicht mit sehr hoher | Wahrscheinlichkeit“ voraussehen könne, so scheint er einen solchen Gegensatz nicht anzunehmen. Denn eine wirklich exakte Voraus„berechnung“ eines individuellen Vorgangs aus gegebenen Bedingungen ist auch auf dem Gebiet der „toten“ Natur an die beiden Voraussetzungen geknüpft, daß 1. es sich eben lediglich um „berechenbare“, d.  h. quantitativ darstellbare Bestandteile des Gegebenen handelt, und daß 2. „alle“ für den Ablauf relevanten Bedingungen wirklich bekannt und exakt gemessen sind. Im anderen Fall – und dieser ist, sobald es auf die konkrete Individualität des Ereignisses: etwa die Gestaltung des Wetters an einem bestimmten künftigen Tage, ankommt, durchaus die Regel – kommen wir auch dort über Wahrscheinlichkeitsurteile von sehr verschieden abgestufter Bestimmtheit nicht hinaus.27 Der „freie“ Wille nähme dann keine Sonderstellung ein und jenes „ich will“ wäre nur das formale James’sche „fiat“ des Bewußtseins,28 welches z. B. auch von den deterministischen Kriminalisten5) ohne Schaden für die Kon5)

 So etwa von Liepmann, Einleitung in das Strafrecht.29 |

26  Meyer, Theorie, S.  15. 27  Vgl. Einleitung, oben, S.  20. 28  Vgl. James, William, The Principles of Psychology, Volume 2. – New York: Henry Holt and Comp. 1890, S.  561: „The essential achievement of the will, in short, when it is most ‘voluntary,’ is to ATTEND to a difficult object and hold it fast before the mind. The so-doing is the fiat; and it is a mere physiological incident that when the object is thus attended to, immediate motor consequences should ensue.” 29  Vgl. Liepmann, Strafrecht. Vgl. auch unten, S.  452 mit Anm.  58.

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sequenz ihrer Zurechnungs-Theorien30 akzeptiert wird. Der „freie Wille“ bedeutete dann nur, daß dem faktisch aus vielleicht nie vollständig zu ermittelnden, jedenfalls aber „zureichenden“ Ursachen entstandenen „Entschluß“ kausale Bedeutung zugeschätzt wird, und dies wird auch kein strikter Determinist ernstlich bestreiten. Wenn es sich um weiter nichts handelte, wäre durchaus nicht abzusehen, warum nicht der gelegentlich der Erörterung des „Zufalls“ erörterte Begriff der Irrationalität31 des Historischen genügen sollte. Allein zunächst müßte es im Fall einer solchen Deutung von E[duard] M[eyer]s Ansicht befremden, daß er in diesem Zusammenhang die „Willensfreiheit“ als „Tatsache der inneren Erfahrung“ in ihrer Unentbehrlichkeit für die Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine „Willensbetätigung“ zu betonen für nötig findet.32 Dazu läge doch eine Veranlassung nur vor, wenn es ihm darauf ankäme, der Geschichte die Aufgabe des „Richters“ über ihre Helden zuzuweisen. Es entsteht die Frage, inwieweit E[duard] M[eyer] tatsächlich auf diesem Standpunkt steht. Er bemerkt (S.  16): „wir suchen die … Motive aufzudecken, welche sie“ – nämlich z. B. Bismarck 186633 – „zu ihren Entschlüssen geführt haben und beurteilen danach die Richtigkeit dieser Entschlüsse und den Wert (NB!) ihrer Persönlichkeit.“34 Nach dieser Formulierung könnte man glauben, E[duard] M[eyer] betrachte es als höchste Aufgabe der Geschichte, Werturteile über die „historisch handelnde“ Persönlichkeit zu gewinnen. Nicht nur seine noch zu erwähnende35 Stellung zur „Biographie“ aber (am Schluß der Schrift),36 sondern auch die höchst treffenden Bemerkungen über die Inkongruenz von „Eigenwert“37 der geschichtlichen Persönlichkeiten und kausaler Bedeutung derselben (S.  50, 51) lassen es 30  Zur kausalen Zurechnung vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  185 mit Anm.  39. 31  Meyer, Theorie, S.  13, kommt auf diesen Begriff nur einmal zu sprechen, ohne ihn zu erörtern. 32  Vgl. ebd., S.  16. 33  Meyer, ebd., S.  17, meint die Frage, „wie Bismarck dazu gekommen ist, den Krieg mit Oesterreich für eine politische Nothwendigkeit zu erkennen“. 34  Ebd., S.  16 f. 35  Unten, S.  416. 36  Meyer, Theorie, S.  55 f. 37  Meyer verwendet diesen Begriff nicht, sondern spricht ebd., S.  52, von „Bedeutung und Werth der Persönlichkeit an sich“.

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als zweifellos erscheinen, daß unter dem „Wert“ der Persönlichkeit in dem obigen Satz die kausale „Bedeutung“ bestimmter Handlungen oder bestimmter – für eine etwaige | Wertbeurteilung möglicherweise positive oder auch, wie bei Friedrich Wilhelm IV.,38 negative – Qualitäten jener konkreten Personen gemeint ist oder doch konsequenterweise nur gemeint sein könnte. Was aber die „Beurteilung“ der „Richtigkeit“ jener Entschlüsse anlangt, so kann darunter wiederum verschiedenerlei verstanden sein: entweder 1. wiederum eine Beurteilung des „Werts“ des Zwecks, der dem Entschluß zugrunde lag, etwa des Zwecks der Verdrängung Österreichs aus Deutschland vom Standpunkt des deutschen Patrioten aus, – oder 2. eine Analyse jenes Entschlusses an der Hand der Frage, ob, oder vielmehr – da ja die Geschichte diese Frage mit „ja“ beantwortet hat – warum der Entschluß zum Kriege gerade in jenem Moment das geeignete Mittel war, jenen Zweck: die Einigung Deutschlands, zu erreichen. Es mag dahingestellt bleiben, ob E[duard] M[eyer] diese beiden Fragestellungen subjektiv tatsächlich klar unterschieden hat: in eine Argumentation über historische Kausalität würde offenbar nur die zweite hineinpassen. Denn diese der Form nach „teleologische“ Beurteilung der historischen Situation unter den Kategorien „Mittel und Zweck“ hat offenbar innerhalb einer nicht als Rezeptenbuch für Diplomaten, sondern als „Geschichte“ auftretenden Darstellung lediglich den Sinn, eine Beurteilung der kausalen historischen Bedeutung der Tatsachen zu ermöglichen, – festzustellen also, daß gerade in jenem Moment eine „Gelegenheit“ zu jenem Entschluß nicht „versäumt“ wurde, weil die „Träger“ jenes Entschlusses, – wie E[duard] M[eyer] sich ausdrückt, – die „seelische Kraft“39 besaßen, ihn gegen alle Widerstände festzuhalten: dadurch wird festgestellt, wieviel kausal auf jenen Entschluß und seine charakterologischen und sonstigen Vorbedingungen „ankommt“, inwieweit also und in welchem Sinne z. B. das Vorhandensein jener „Charakterqualitäten“40 ein „Moment“ von historischer „Tragweite“ war. Solche Probleme der kausalen Zurückführung41 eines bestimmten historischen Gesche38  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  280 mit Anm.  34, und S.  319, Fn.  56 mit Anm.  89 und 90. 39  Meyer, Theorie, S.  17. 40  Meyer, ebd., S.  44, spricht von „Charakteranlagen“. 41 Im Sinne eines kausalen Regressus. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  164 mit Anm.  65.

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hens auf die Handlungen konkreter Menschen sind aber selbstverständlich scharf zu scheiden von der Frage nach Sinn und Bedeutung der ethischen „Verantwortlichkeit“.42 Man könnte diesen letzteren Ausdruck bei E[duard] M[eyer] in dem rein „objektiven“ Sinn von kausaler Zurechnung gewisser Effekte zu den gegebenen „charakterologischen“ Qualitäten und den dadurch und durch zahlreiche Umstände des „Milieus“43 und der konkreten Situation zu erklärenden „Motiven“ handelnder Persönlichkeiten deuten. Allein dann müßte auffallen, daß E[duard] M[eyer] an einer späteren Stelle seiner Schrift (S.  44, 45) gerade die „Motivenforschung“44 als für die Geschichte „sekundär“ bezeichnet.6) Der angeführte Grund, daß sie meist die Grenze des sicher | 6) Was unter „Motivenforschung“ zu verstehen sei, ist dabei nicht eindeutig gesagt.45 A 150 Es versteht sich jedenfalls doch wohl von selbst, daß wir den „Entschluß“ einer konkreten „Persönlichkeit“ nur dann als schlechthin „letzte“ Tatsache hinnehmen, wenn er uns als „pragmatisch“ zufällig, d. h. als sinnvoller Deutung nicht | zugänglich oder nicht A 151 wert erscheint: so etwa die vom Wahn eingegebenen wirren Verfügungen Kaiser Pauls.46 Im übrigen aber besteht doch eine der zweifellosesten Aufgaben der Geschichte von jeher gerade darin, die empirisch gegebenen äußeren „Handlungen“ und ihre Ergebnisse aus den historisch gegebenen „Bedingungen“, „Zwecken“ und „Mitteln“ des Handelns zu verstehen. Auch Ed[uard] Meyer verfährt doch nicht anders. Und die „Motivenforschung“ – d. h. die Analyse des wirklich „Gewollten“ und der „Gründe“ dieses Wollens – ist einerseits das Mittel, zu verhüten, daß jene Analyse in eine unhistorische Pragmatik ausarte, andererseits aber einer der Hauptansatzpunkte des „historischen Interesses“:47 – wir wollen ja (unter anderm) gerade auch sehen, wie das „Wol-

42  In Meyer, Theorie, S.  44, heißt es nur: „Weil wir in jedem Moment an uns selbst erfahren, dass wir trotz aller Abhängigkeit von äusseren Umständen in jeder Willensentscheidung frei sind, deshalb machen wir für jede Bethätigung des Willens uns selbst und jeden anderen Menschen verantwortlich, und nicht die unendliche Causalreihe“. 43  Diesen Begriff verwendet Meyer nicht, aber Weber einige Male. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  170 mit Anm.  87. 44 Diesen Begriff verwendet Meyer nicht. Er findet sich aber in einer Rezension Belows: Vgl. Below, Georg von, [Rez.] Eduard Meyer, Zur Theorie und Methodik der Geschichte, in: Historische Zeitschrift, 94.  Band, 1905, S.  449–453 (hinfort: Below, Meyer), hier S.  452: „Motivenforschung“. Zum Begriff „Motiv“ vgl. ansonsten Meyer, Theorie, S.  14 ff., 33, 40 ff. 45 Für Below, Meyer (wie oben, S.  395, Anm.  44), S.  452, geht es der „Motivenforschung“ um die „inneren Kräfte der Geschichte“. 46  Paul I. krönte sich am 17. November 1796, dem Todestag seiner Mutter Katharina d. Gr., zum Kaiser. Seine vierjährige Amtszeit brachte ihm den Ruf eines unberechenbaren Tyrannen ein. Vgl. Schiemann, Theodor, Geschichte Russlands unter Kaiser Nikolaus I., Band 1: Kaiser Alexander I. und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit. – Berlin: Georg Reimer 1904, S.  12 ff. 47  Vgl. Meyer, Theorie, S.  37 f. Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  256 mit Anm.  57.

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Erkennbaren überschreite, oft geradezu nur eine „genetische Formulierung“ einer nach Lage des Materials nicht gut erklärbaren, daher als „Tatsache“ einfach hinzunehmenden Handlung sei,48 ist, so oft dies im einzelnen zutreffen mag, als logisch unterscheidendes Merkmal gegenüber den ebenfalls oft problematischen „Erklärungen“ konkreter „äußerer“ Vorgänge schwerlich festzuhalten. Aber, wie dem sei, in jedem Fall führt diese Anschauung in Verbindung mit der starken Betonung der Bedeutung des rein formalen Momentes des „Willensentschlusses“ für die Geschichte und der zitierten Bemerkung über die „Verantwortlichkeit“49 auf die Vermutung, daß für E[duard] M[eyer] hier in der Tat doch wohl ethische und kausale Betrachtungsweise menschlichen Handelns: „Wertung“ und „Erklärung“, eine gewisse Neigung zeigen, ineinanderzufließen. Denn gleichviel, ob man die Formulierung Windelbands, daß der Gedanke der Verantwortlichkeit eine Abstraktion von der Kausalität bedeute, als positive Begründung der normativen Dignität des sittlichen Bewußtseins ausreichend findet7), – jedenfalls kennzeichnet diese Formulierung zutreffend die Art, wie sich die Welt der „Normen“ und „Werte“, vom Boden der empirisch-wissenschaftlichen Kausalbetrachtung aus gesehen, gegen diese letztere abgrenzt. Bei dem Urteil, daß ein bestimmter mathematischer Satz „richtig“ sei, kommt es auf die Frage, wie seine Erkenntnis „psychologisch“ zustande gekommen sein mag und ob etwa „mathematische Phantasie“50 in höchster Potenz nur als len“ des Menschen durch die Verkettung der „historischen“ Schicksale in seiner „Bedeutung“ gewandelt wird. 7)  Windelband (Über Willensfreiheit, letztes Kapitel)51 wählt diese Formulierung speziell, um die Frage der „Willensfreiheit“ aus den kriminalistischen Erörterungen auszuscheiden. Allein es fragt sich, ob sie den Kriminalisten genügt, da gerade die Frage nach der Art der kausalen Verknüpfung durchaus nicht irrelevant für die Anwendbarkeit der strafrechtlichen Normen ist. | 48  Vgl. Meyer, Theorie, S.  44 f., „Nicht selten ist der historische Schluss, der die Ursache eines Vorgangs zu ermitteln sucht, nichts als eine unter dem zwingenden Gebot unseres Causalbedürfnisses vorgenommene Umsetzung der Thatsache in eine genetische Formulirung, die uns in Wirklichkeit absolut nichts neues lehrt. […] Daher kann die Darlegung der Motive, die psychologische Analyse, niemals die Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft sein […]. Die Grundlage bleibt immer die Ermittelung der Thatsachen“. 49  Oben, S.  395 mit Anm.  42. 50  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  317 mit Anm.  81. 51  Vgl. Windelband, Willensfreiheit, S.  203 ff. (Zwölfte Vorlesung. Die Verantwortung).

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Begleiterscheinung bestimmter anatomischer Abnormitäten des „mathematischen Gehirns“52 möglich sei, natürlich gar nichts an. Und ebensowenig bedeutet vor dem Forum des „Gewissens“ die Erwägung, daß das ethisch beurteilte eigne „Motiv“ ja, nach den Lehren der empirischen Wissenschaft, schlechthin kausal bedingt gewesen sei, oder bei Beurteilung des ästhetischen Wertes einer Stümperei | die Überzeugung, daß ihr Zustandekommen als ebenso determiniert gedacht werden müsse, wie dasjenige der Sixtinischen Kapelle. Die kausale Analyse liefert absolut keine Werturteile8), und ein Werturteil ist absolut keine kausale Erklärung. Und eben deshalb bewegt sich die Bewertung eines Vorganges – etwa der „Schönheit“ eines Naturvorganges – in einer andern Sphäre als seine kausale Erklärungi und würde daher auch die Beziehung auf die „Verantwortlichkeit“ des historisch Handelnden vor seinemj Gewissen oder vor dem Richterstuhl irgend eines Gottes oder Menschen und alles andere Hineintragen des philosophischen „Freiheits“-Problems in die Methodik der Geschichte deren Charakter als Erfahrungswissenschaft ganz ebenso aufheben, wie die Einschaltung von Wundern in ihre Kausalreihen. Diese lehnt E[duard] M[eyer] im Anschluß an Ranke (S.  20)53 unter Berufung auf die „scharfe Grenze zwischen historischer Erkenntnis und reli-

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8) Was freilich durchaus nicht besagt, daß nicht für die „psychologische“ Ermögli- A 152 chung des „Verständnisses“ der Wertbedeutung eines Objektes (z. B. eines Kunstwerks) die kausale Betrachtung seiner Genesis sehr Wesentliches bringen könne. Darauf kommen wir zurück.54

i A: Erklärung,  j A: ihrem   52 Möglicherweise Bezug auf die zeitgenössische Hirnforschung, z. B. auf Rudolf Wagner, der u. a. das „Gehirn von Carl Friedrich Gauss“ (tatsächlich das des Mediziners Conrad Heinrich Fuchs) und das „Gehirn des ausgezeichneten Mathematikers Lejeune Dirichlet“ analysiert hat. Vgl. Wagner, Rudolf, Vorstudien zu einer wissenschaftlichen Morphologie und Physiologie des menschlichen Gehirns als Seelenorgan. Erste Abhandlung: Über die typischen Verschiedenheiten der Windungen der Hemisphären und die Lehre vom Hirngewicht, mit besondrer Rücksicht auf die Hirnbildung intelligenter Männer. Mit sechs Kupfertafeln. – Göttingen: Dieterich 1860, S.  79. 53  Für Meyer, Theorie, S.  20, hat Ranke, obwohl er als „strenggläubiger Christ“ gelegentlich Ausdrücke wie „Finger Gottes“ verwendet, doch „niemals einer theologisirenden Auffassung der Geschichte, welche etwa in ihr die Verwirklichung eines göttlichen Planes aufzeigen wollte, Raum gegeben“. Vgl. eine solche Formulierung in Ranke, Leopold von, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, 1.  Band. – Leipzig und Berlin: G. Reimer 1824, S.  139: „In dem entscheidenden Augenblick tritt allemal ein, was wir Zufall oder Geschick nennen, und was Gottes Finger ist.“ 54  Unten, S.  426 ff.

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giöser Weltanschauung“ natürlich ab, und es wäre m. E. besser gewesen, wenn er sich nicht durch Ausführungen Stammler’s, auf die er sich (S.  16 Anm.  2) beruft,55 hätte verführen lassen, die genau gleich scharfe Grenze gegenüber der Ethik zu verwischen. Wie verhängnisvoll diese Vermengung verschiedener Betrachtungsweisen methodologisch werden kann, zeigt sich sofort, wenn E[duard] M[eyer] (weiterhin S.   20)56 glaubt, „damit“ – nämlich mit den empirisch gegebenen Freiheits- und Verantwortlichkeitsgedanken – sei im historischen Werden ein „rein individuelles Moment“ gegeben, welches sich „niemals auf eine Formel reduzieren“ lasse, ohne „sein Wesen aufzuheben“, und diesen Satz dann wieder durch die eminente historische (kausale) Bedeutung des individuellen Willensentschlusses einzelner Persönlichkeiten zu illustrieren sucht. Dieser alte Irrtum9) ist deshalb so bedenklich gerade vom Standpunkt der Wahrung der logischen Eigenart der Geschichte aus, weil er Probleme ganz anderer Forschungsgebiete auf das Gebiet der Geschichtswissenschaft überträgt und den Anschein erweckt, als sei eine bestimmte (antideterministische) philosophische Überzeugung Voraussetzung der Geltung der historischen Methode. Das Irrtümliche aber der Annahme, daß eine, wie immer verstandene „Freiheit“ des Wollens identisch sei mit der „Irrationalität“ des Handelns bezw. daß die letztere durch die erstere bedingt sei, liegt denn doch auf der Hand. Spezifische „Unberechenbarkeit“, gleich groß – aber nicht größer | – wie diejenige „blinder Naturgewalten“, ist das Privileg des – Verrückten.10) Mit dem höch-

9)  Ich habe denselben eingehend in meinem Aufsatz „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“ II in Schmollers Jahrbuch, 1905, 4. Heft kritisiert.57 | 10) Die Handlungen Kaiser Pauls von Rußland im letzten Stadium seines wirren ReA 153 giments58 nehmen wir, als nicht sinnvoll deutbar und deshalb „unberechenbar“, ebenso hin wie den Sturm, der die spanische Armada zerstörte,59 bei dem einen wie bei dem

55  Meyer, Theorie, S.  16, beruft sich in Anm.  1 auf Stammler, Rudolf, Die Lehre von dem richtigen Rechte. – Berlin: J. Guttentag 1902 (hinfort: Stammler, Lehre), S.  177 ff., wo es um die „Gesetzmäßigkeit der Zwecke“ geht. 56  Vgl. Meyer, Theorie, S.  16. 57  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  248 ff. 58  Vgl. oben, S.  395, Fn.  6 mit Anm.  46. 59  Im Sommer 1588 tobte ein zweiwöchiger Sturm vor der Küste Nordenglands. Die Hälfte der Schiffe Spaniens, das sich im Krieg mit England befand, sank; ungefähr 12.000 Seeleute ertranken.

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sten Grad empirischen „Freiheitsgefühls“ dagegen begleiten wir umgekehrt gerade diejenigen Handlungen, welche wir rational, d. h. unter Abwesenheit physischen und psychischen „Zwanges“, leidenschaftlicher „Affekte“ und „zufälliger“ Trübungen der Klarheit des Urteils[,] vollzogen zu haben uns bewußt sind, in denen wir einen klar bewußten „Zweck“ durch seine, nach Maßgabe unserer Kenntnis, d. h. nach Erfahrungsregeln, adäquatesten „Mittel“ verfolgen. Hätte es aber die Geschichte nur mit solchem, in diesem Sinne „freien“, d. h. rationalen Handeln zu tun, so wäre ihre Aufgabe unendlich erleichtert: aus den angewendeten Mitteln wäre ja der Zweck, das „Motiv“, die „Maxime“ des Handelnden eindeutig erschließbar und alle Irrationalitäten, welche das, im vegetativen Sinne des mehrdeutigen Wortes, „Persönliche“ des Handelnsk ausmachen, wären ausgeschaltet. Da alles streng teleologisch verlaufende Handeln eine Anwendung von Erfahrungsregeln ist, welche die geeigneten „Mittel“ zum Zwecke angeben, so wäre die Geschichte gar nichts als die Anwendung jener Regeln.11) Daß das anderen verzichten wir auf „Motivenforschung“, aber offenbar nicht, weil wir diese Vorgänge als „frei“ deuten, und auch nicht nur[,] weil uns ihre konkrete Kausalität notwendig verborgen bleiben müßte – bei Kaiser Paul könnte ja vielleicht die Pathologie Aufschlüsse geben –[,] sondern weil sie uns historisch nicht hinlänglich interessieren. Darüber Näheres später.60 11) S[iehe] darüber meine Ausführungen in Schmollers Jahrbuch, Oktoberheft 1905.61 – Streng rationales Handeln, – so kann man es auch ausdrücken, – wäre glatte und restlose „Anpassung“ an die gegebene „Situation“. Die Mengerschen theoretischen Schemata z. B. enthalten die streng rationale „Anpassung“ an die „Marktlage“ als Voraussetzung in sich und veranschaulichen in „idealtypischer“ Reinheit die Konsequenzen derselben.62 Die Geschichte wäre in der Tat nichts weiter als eine Pragmatik der „Anpassung“ – wozu L[udo] M[oritz] Hartmann sie umgestalten möchte,63 – wenn sie lediglich eine Analyse des Entstehens und Ineinandergreifens von einzelnen „freien“, d. h. teleologisch absolut rationalen Handlungen einzelner Individuen wäre. – Entkleidet man, wie Hartmann es tut, den Begriff der „Anpassung“ dieses teleologischrationalen Sinnes, dann wird er, wie weiterhin gelegentlich noch weiter ausgeführt werden soll,64 für das Historische absolut farblos. | k A: Handels   60  Unten S.  416 ff., bes. S.  418. 61  Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  240–327. 62  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  201 ff. 63 Für Hartmann, Entwickelung, S.  18 f., 29, 62, besteht die Form historischer Entwicklung aus Prozessen der Anpassung und der Auslese. 64  Weber kommt in seiner Kritik an Meyer nicht mehr auf „Anpassung“ oder Hartmann zu sprechen. Den Begriff „Anpassung“ hat er andernorts als eine „summarische und stumpfe Kategorie“ bezeichnet. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  266.

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Handeln des Menschen nicht so rein rational deutbar ist, daß nicht nur irrationale „Vorurteile“, Denkfehler und Irrtümer über Tatsachen, sondern auch „Temperament“, „Stimmungen“ und „Affekte“ seine „Freiheit“ trüben, daß also auch sein Handeln – in sehr verschiedenem Maße – an der empirischen „Sinnlosigkeit“ des „Naturgeschehens“ teil hatl, dies gerade bedingt die Unmöglichkeit rein pragmatischer Historik. Allein diese Art von „Irrationalität“ teilt | das Handeln ja gerade mit den individuellen Naturvorgängen, und wenn also der Historiker von der „Irrationalität“ des menschlichen Handelns als einem bei der Deutung historischer Zusammenhänge störenden Moment spricht, so vergleicht er dabei eben das historisch-empirische Handeln nicht mit dem Geschehen in der Natur, sondern mit dem Ideal eines rein rationalen, d. h. schlechthin zweckbestimmten und über die adäquaten Mittel absolut orientierten Handelns. Zeigt die Darlegung Eduard Meyers über die der historischen Betrachtung eigentümlichen Kategorien „Zufall“ und „freier Wille“ eine etwas unklare Neigung, heterogene Probleme in die Methodik der Geschichte zu tragen, so ist ferner auch zu konstatieren, daß seine Auffassung von der historischen Kausalität auffallende Widersprüche aufweist. Auf S.  40 wird in nachdrücklicher Weise betont, daß die historische Forschung stets und immer in der Richtung von der Wirkung zur Ursache Kausalreihen aufsuche. Schon dies ist – in E[duard] M[eyer]s Formulierung12) – bestreitbar: Es ist an sich durchaus möglich, daß für ein als Tatsache gegebenes oder neubekannt werdendes historisches Ereignis die Wirkungen, die es vielleicht ausgeübt haben könnte, in Form einer Hypothese formuliert und diese alsdann durch Prüfung der „Tatsachen“ verifiziert wird. Gemeint ist, wie sich später zeigen wird,65 etwas anderes: das neuerdings sog. Prinzip der „teleologischen Dependenz“,66 12) Er sagt a. a. O. wenig glücklich: „die historische Forschung verfährt in der Folgerung von der Wirkung zur Ursache“.67 |

l A: tat   65  Unten, S.  434. 66  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  300 mit Anm.  97. 67  Meyer, Theorie, S.  40.

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welches das kausale Interesse der Geschichte beherrscht. – Weiterhin ist es aber natürlich auch unzutreffend, wenn jenes Aufsteigen von der Wirkung zur Ursache als nur der Geschichte eigentümlich angesprochen wird. Die kausale „Erklärung“ eines konkreten „Naturvorganges“ verfährt hierin ganz und gar nicht anders. Und während S.  14 – wie wir sahen –68 die Ansicht vertreten wurde, daß das Gewordene uns als schlechthin „notwendig“ und nur das „werdend“ Gedachte als bloße „Möglichkeit“ gelte,69 wird S.  40 umgekehrt das besonders Problematische des Schlusses von der Wirkung auf die Ursache betont, derart, daß E[duard] M[eyer] selbst das Wort „Ursache“ auf dem Gebiet der Geschichte vermieden sehen möchte und die „Motivenforschung“, wie wir schon sahen,70 bei ihm in Mißkredit steht.71 Man könnte in E[duard] M[eyer]s Sinn diesen letzten Widerspruch so lösen wollen, daß das Problematische jenes Schlusses nur in den prinzipiell begrenzten Möglichkeiten unseres Erkennens läge, die Determiniertheit also ideales Postulat bliebe. Allein auch dies weist E[duard] M[eyer] S.  23 entschieden zurück, und es folgt alsdann (S.  24 ff.) eine Auseinandersetzung, die wiederum erhebliche Bedenken erweckt. Eduard Meyer hatte s. Z. in der Einleitung zur Geschichte des Altertums das Verhältnis zwischen „Allgemeinem“ und „Besonderem“ mit dem zwischen „Freiheit“ und „Notwendigkeit“ und beide mit demjenigen des „Einzelnen“ zur „Gesamt|heit“ identifiziert und war so zu dem Resultat gelangt, daß die „Freiheit“ und deshalb (s. o.)72 das „Individuelle“ im „Detail“, in den „großen Zügen“ des historischen Geschehens aber das „Gesetz“ resp. die „Regel“ herrsche.73 Diese auch bei manchen „modernen“ Historikern74 herrschende, in dieser Formulierung

68  Oben, S.  391 f. 69  Vgl. Meyer, Theorie, S.  14 f. 70  Oben, S.  395 mit Anm.  44. 71  Vgl. Meyer, Theorie, S.  40 f. 72  Oben, S.  398. 73  Vgl. Meyer, Geschichte I, S.  14 f. 74  In seiner Kritik an Roscher, oben, S.  74, Fn.  57, bezeichnet Weber Georg von Below als „moderne[n] Historiker“. Im zweiten Teil seiner Kritik an Meyer, unten, S.  458 f., scheint Weber auch Hans F. Helmolt den „moderne[n] Histo­riker[n]“ zuzuschlagen. Hier dürfte hingegen Lamprecht, Karl, Moderne Geschichtswissenschaft. Fünf Vorträge. – Freiburg i. B.: Heyfelder 1905, gemeint sein.

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allerdings grundverkehrte Auffassung widerruft er auf S.  25 ausdrücklich, unter Bezugnahme teils auf Rickert, teils auf v. Below. Der letztere hatte speziell an dem Gedanken der „gesetzlichen Entwicklung“ Anstoß genommen und13) gegenüber dem Beispiel E[duard] M[eyer]s: – die Entwicklung Deutschlands zu einer einigen Nation erscheine uns als „geschichtliche Notwendigkeit“, die Zeit und Form der Einigung in einem Bundesstaat mit 25 Gliedern dagegen beruhe auf der „Individualität der geschichtlich wirkenden Faktoren“75 – die Einwendung gemacht: „Konnte es nicht auch anders kommen?“76 Dieser Kritik gibt E[duard] M[eyer] bedingungslos recht.77 Allein es scheint mir leicht einzusehen, daß sie – wie immer man jene von Below bekämpfte Formulierung E[duard] M[eyer]s beurteilt – jedenfalls zu viel, und darum eben gar nichts, beweist. Denn der gleiche Einwurf träfe offenbar auch da zu, wo wir alle, sicher auch v. Below und Eduard Meyer, den Begriff der „gesetzmäßigen Entwicklung“ ganz ohne Bedenken anwenden. Daß z. B. aus einem menschlichen Fötus ein Mensch geworden ist oder werden wird, erscheint uns tatsächlich als eine gesetzmäßige Entwicklung – und doch kann es unzweifelhaft auch hier durch äußere „Zufälle“ oder „pathologische“ Veranlagung „anders kommen“. Es kann sich also bei der Polemik gegen die „Entwicklungs“Theoretiker offenbar nur darum handeln, den logischen Sinn des „Entwicklungs“-Begriffes richtig zu fassen und zu begrenzen – einfach beseitigen läßt er sich durch solche Argumente doch offenbar nicht. Dafür ist E[duard] M[eyer] selbst das beste Beispiel. Denn schon zwei Seiten weiter (S.  27) verfährt er in einer Anmerkung, die den Begriff „Mittelalter“ als einen „festen (?) Begriff“ bezeichA 155

13)

 Hist[orische] Zeitschr[ift] 81, 1899, S.  238.78

75  Meyer, Theorie, S.  25. 76  Below, Methode, S.  238. 77  Vgl. Meyer, Theorie, S.  25. 78  Below, Methode, S.  238. Der Band ist 1898 erschienen. Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  74, Fn.  57.

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net, wieder ganz nach dem in seiner widerrufenen „Einleitung“79 niedergelegten Schema[,] und im Text heißt es, daß das Wort „notwendig“ in der Geschichte nur bedeute, daß die „Wahrscheinlichkeit“ (eines historischen Erfolges aus gegebenen Bedingungen) „einen sehr hohen Grad erreicht, daß etwa die ganze Entwicklung auf ein Ereignis hindrängt“.80 Mehr hatte er doch wohl mit seiner Bemerkung über die Einigung Deutschlands auch nicht sagen wollen. Und wenn er dabei betont, daß jenes Ereignis trotz alledem eventuell nicht eintreten könne, so wollen wir uns erinnern, daß er ja sogar für astronomische Berechnungen die Möglichkeit, daß sie durch sich verirrende Weltkörper „gestört“ werden könnten, betont hatte:81 Es besteht eben in der Tat in dieser Hinsicht ein Unterschied gegenüber individuellen Naturvorgängen nicht, und auch in der Naturerklärung ist – was näher auszuführen hier zu weit abführte –14), sobald es sich um konkrete Ereignisse handelt, das Not|wendigkeitsurteil keineswegs die einzige oder auch nur die vorwiegende Form, in welcher die Kategorie der Kausalität erscheint. Man geht wohl mit der Annahme nicht fehl, daß E[duard] M[eyer] zu seinem Mißtrauen gegen den „Entwicklungs“-Begriff durch seine Auseinandersetzungen mit J[ulius] Wellhausen gelangt 14) S[iehe] darüber meine Ausführungen in Schmollers Jahrbuch, Oktoberheft 1905.82 |

79  Meyer, Geschichte I, hatte behauptet, die Geschichte setze die Ergebnisse der Anthropologie „als gegeben voraus“. Deren Aufgabe sei es, die „allgemeinen Grundzüge der Entwickelung zu erforschen“ und die „in ihnen herrschenden Gesetze darzulegen“. Die Geschichte beschäftige sich dann „mit einem räumlich und zeitlich bestimmten Volke, das unter dem Einfluss nicht allgemeiner Gesetze, sondern bestimmter, für den einzelnen Fall gegebener Verhältnisse steht“ (ebd., S.  11; mit einer Unterstreichung im Handexemplar, Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München). Das „historische Leben“ entfalte sich schließlich aus einem „Kampfe“ zwischen dem „Einzelnen“ und der „Gesammtheit“, zwischen „Freiheit und Nothwendigkeit“: „In den Grundzügen der Entwickelung erkennen wir die allgemeinen Gesetze, in der Gestaltung des Einzelnen die Wirkung der Individualität des Volkes und der handelnden Person, welche die gegebenen Umstände richtig oder unrichtig verwerthen“ (ebd., S.  14 f.). In Meyer, Theorie, S.  25, werden diese Formulierungen als „unzureichend und zum Teil falsch“ bezeichnet: „sowohl in Betreff der Individuen wie in Betreff der ‚allgemeinen Gesetze‘“. 80  Meyer, Theorie, S.  27. 81  Vgl. ebd., S.  28. 82  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  275 ff.

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ist,83 bei denen es sich wesentlich (nicht: nur) um den Gegensatz handelte: Deutung der „Entwicklung“ des Judentums als einer solchen wesentlich „von Innen heraus“ („evolutionistisch“) oder als durch gewisse von „Außen“ eingreifende konkrete historische Schicksale: insbesondere die Oktroyierung des „Gesetzes“ durch die Perserkönige aus politischen (also in der persischen Politik, nicht in der Eigenart des Judentums liegenden) Gründen, bedingt („epigenetisch“). Wie dem nun aber sei, jedenfalls ist es keine Verbesserung gegenüber der in der „Einleitung“ gebrauchten Formulierung, wenn S.  46 „das Allgemeine“ als die „im Wesentlichen (?) negativ oder, schärfer formuliert, limitierend“ wirkende „Voraussetzung“ erscheint, welche die „Grenze“ setze, „innerhalb deren die unendlichen Möglichkeiten der historischen Entwicklung liegen“, während die Frage, welche von diesen Möglichkeiten „Wirklichkeit“ wird15), von den „höheren (?), individuellen Faktoren des historischen Lebens“ abhänge.84 Damit ist ganz offenbar das „Allgemeine“, d. h. nicht etwa das mißbräuchlich zuweilen mit dem „Generellen“ verwechselte „allgemeine Milieu“, sondern (S.   46 oben) die Regel, also ein abstrakter Begriff doch wieder zu einer wirkenden Kraft hinter der Geschichte hypostasiert und die elementare Tatsache verkannt, – welche E[duard] M[eyer] an anderen Stellen klar und scharf betont hatte, – daß Realität nur dem Konkreten, Individuellen zukommt. Jene bedenkliche Formulierung der Beziehungen zwischen „Allgemeinem“ und „Besonderem“ ist keineswegs nur E[duard] Meyer A 156

15) Diese Formulierung erinnert an gewisse, innerhalb der russischen Soziologenschule (Michailowski, Karjejew u. a.) übliche Gedankengänge, mit denen sich ein Aufsatz Th[eodor] Kistiakowskis in den „Problemen des Idealismus“ (hrg. von Nowgorodzew, Moskau 1902) über „die russische Soziologenschule und die Kategorie der Möglichkeit in der sozialwissenschaftlichen Problematik“ auseinandersetzt,85 auf den wir noch zurückkommen.86 |

83  Vgl. Meyer, Eduard, Die Entstehung des Judenthums. Eine historische Untersuchung. – Halle a. S.: Max Niemeyer 1896; Wellhausen, Julius, [Rez.] Eduard Meyer, Die Entstehung des Judenthums, in: Göttinger gelehrte Anzeigen, Jg. 159, Band 1, 1897, S.  89–97; Meyer, Eduard, Julius Wellhausen und meine Schrift Die Entstehung des Judenthums. Eine Erwiderung. – Halle a. S.: Max Niemeyer 1897. 84 Meyer, Theorie, S.  46; dort ist von den: „unendlichen Möglichkeiten der historischen Einzelgestaltung“ die Rede. 85  Kistjakovskij, Russkaja sociologicˇeskja. 86  Unten, S.  452, Fn.  31.

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eigentümlich und keineswegs auf Historiker seines Gepräges beschränkt. Im Gegenteil: sie liegt z. B. auch der populären[,] aber gerade von manchen „modernen“ Historikern – nicht von E[duard] M[eyer] – geteilten Vorstellung zugrunde, als ob man, um den Betrieb der Geschichte als einer „Wissenschaft vom Individuellen“ rational zu gestalten, zunächst die „Übereinstimmungen“ menschlicher Entwicklungen festzustellen habe, worauf alsdann als „Rest“ die „Besonderheiten und Unteilbarkeiten“ als – wie Breysig sich einmal ausdrückt – „feinste Blumen“ übrig bleiben würden.87 Diese Auffassung stellt gegenüber der naiven Meinung von dem Beruf der Geschichte, eine „systematische Wissenschaft“ zu werden,88 natürlich schon einen der historischen | Praxis näherstehenden „Fortschritt“ dar. Aber allerdings ist sie selbst wiederum eine große Naivität. Das Unternehmen, „Bismarck“ in seiner historischen Bedeutung zu verstehen, indem man das, was er mit allen anderen Menschen gemeinsam hat, subtrahiert, und so dann das „Besondere“ übrigbehält, würde einen für Anfänger ganz lehrreichen und amüsanten Versuch abgeben. Man würde – natürlich (wie bei logischen Erörterungen immer) ideale Vollständigkeit des Materials vorausgesetzt – z. B. als eine jener „feinsten Blumen“ seinen „Daumenabdruck“, jenes von der Technik der Kriminalpolizei entdeckte spezifischste Erkennungszeichen der „Individualität“,89 übrigbehalten, dessen Verlust also für die Geschichte geradezu unersetzlich wäre. Und wenn darauf entrüstet entgegnet würde,

87  Vgl. Breysig, Entstehung, S.  527: „Man verlangt heute zuweilen mit einiger Ungeduld, daß die fortschreitende Forschung die Entstehung der Unterschiede im menschlichen Gesellschaftsleben deute und erkläre. Es scheint, daß für lange Zeit noch notwendig ist, erst die Übereinstimmungen festzustellen. Damit einmal erst erkannt werde, was denn nach Abzug von Allgemeinheit und Gemeingut der Menschen und Völker als Besonderheit und Unteilbarkeit übrig bleibt. Gerade wem der Sinn nach dieser feinsten Blume auf dem Plan der Gesellschaftswissenschaft steht, müßte so, kann nur so verfahren.“ 88  Möglicherweise ist Lamprecht gemeint. Vgl. Lamprecht, Karl, Die kulturhistorische Methode. – Berlin: R. Gaertner 1900, S.  16: „Aufschwung der Geschichtswissenschaft aber heißt Aufschwung der historischen Methode, Aufschwung des systematischen, zu Begriffen hinführenden Denkens auf geschichtlichem Gebiete.“ Vgl. dagegen ­Meyer, Theorie, S.  1: „Die Geschichte ist keine systematische Wissenschaft.“ 89  Die Daktyloskopie hat Galton nach Vorarbeiten von William James Herschel und Henry Faulds wissenschaftlich begründet. Vgl. Galton, Francis, Finger Prints. – London and New York: Macmillan 1892.

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daß „natürlich“ doch nur „geistige“ oder „psychische“m Qualitäten und Vorgänge als „historisch“ in Betracht kommen könnten, so würde sein Alltagsleben, wenn wir es „erschöpfend“ kennten, uns eine Unendlichkeit von Lebensäußerungen bieten, die so, in dieser Mischung und Konstellation, bei schlechthin keinem anderen Menschen vorgefallen sind und an Interesse doch nicht über jenem Daumenabdruck stehen. Wenn dann weiter eingewendet würde, daß ja doch „selbstverständlich“ für die Wissenschaft nur die historisch „bedeutsamen“ Bestandteile von Bismarcks Leben in Betracht kommen, so hätte die Logik darauf zu erwidern: daß eben jenes „selbstverständlich“ das für sie entscheidende Problem enthalte, da sie ja gerade danach fragt: welches denn das logische Merkmal der historisch „bedeutsamen“ Bestandteile ist. Daß jenes Subtraktionsexempel – absolute Vollständigkeit des Materials vorausgesetzt – auch in der fernsten Zukunft nicht zu Ende zu führen und nach Subtraktion einer vollen Unendlichkeit von „Gemeinsamkeiten“ stets eine weitere Unendlichkeit von Bestandteilen übrig bleiben würde, innerhalb deren man nach einer vollen Ewigkeit eifrigen Subtrahierens der Frage, was von diesen Besonderheiten denn nun eigentlich das historisch „wesentliche“ sein, noch um keinen Schritt näher gerückt wäre: – dies würde die eine Einsicht sein, welche bei dem Versuch seiner Durchführung herausspringen würde, – die andere aber wäre: daß für jene Subtraktionsmanipulation die absolute Vollständigkeit der Einsicht in den kausalen Ablauf des Geschehens bereits in einem Sinne vorausgesetzt wird, in welchem keine Wissenschaft der Welt sie auch nur als ein ideales Ziel zu erstreben vermag.90 In Wahrheit setzt eben jede „Vergleichung“ auf dem Gebiet des Historischen zunächst voraus, daß durch Beziehung auf Kultur-„Bedeutungen“91 bereits eine Auslese vollzogen ist, welche, unter Ausschaltung einer vollen Unendlichkeit von sowohl „generellen“ als „individuellen“

m A: „physische“  n A: seien   90  Dieses Ziel erreicht nur der Laplacesche Dämon, der sowohl alle Gesetze (nomologisches Wissen) als auch alle Anfangsbedingungen (ontologisches Wissen) kennt. Vgl. Einleitung, oben, S.  20. 91  Weber spricht auch mit Rickert von Wertbeziehung. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  153 mit Anm.  43; S.  166 mit Anm.  71; S.  189 mit Anm.  53.

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Bestandteilen des „Gegebenen“, Zweck und Richtung der kausalen Zurechnung positiv bestimmt. Als ein Mittel dieser Zurechnung, und gewiß auch nach meiner Ansicht als eines der allerwichtigsten, vielfach noch nicht in irgend entfernt ge|nügendem Maße genutzten, kommt alsdann die Vergleichung „analoger“92 Vorgänge in Betracht. Welchen logischen Sinn sie hat, davon später.93 – Eduard Meyer seinerseits teilt, wie seine noch zu besprechende94 Bemerkung S.  48 unten zeigt, den Irrtum, daß das Individuelle als solches bereits Objekt der Geschichte sei, nicht, und seine Bemerkungen über die Bedeutung des Generellen für die Geschichte: daß die „Regeln“ und Begriffe nur „Mittel“, „Voraussetzungen“ der historischen Arbeit seien (S.  29 Mitte),95 sind, wie wir sehen werden,96 logisch im wesentlichen korrekt. Allein seine oben kritisierte Formulierung ist,97 wie gesagt, logisch bedenklich und liegt in der gleichen Richtung wie der zuletzt besprochene Irrtum. Nun wird trotz aller dieser Auseinandersetzungen der Fachhistoriker dennoch den Eindruck behalten, daß auch in den hier kritisierten Ausführungen E[duard] M[eyer]s der bekannte „richtige Kern“ stecke. Und dies ist ja bei einem Historiker dieses Ranges, der über seine eigene Arbeitsweise spricht, in der Tat fast selbstverständlich. In Wahrheit ist er denn auch der logisch zutreffenden Formulierung des Richtigen, was in seinen Ausführungen steckt, mehrfach ziemlich nahe gekommen. So namentlich S.  27 oben, wo von den „Entwicklungsstufen“ gesagt wird, daß sie „Begriffe“ seien, die als „Leitfaden zur Ermittlung und Gruppierung der Tatsachen“ dienen können,98 und speziell an den zahlreichen Stellen, wo von ihm auf die Kategorie der „Möglichkeit“ operiert wird.99 Allein das logische Problem beginnt hier erst: es mußte auf die Frage eingegangen werden, wie denn die Gliederung des Historischen durch den Entwicklungsbegriff erfolge und welches der logische Sinn der „Möglichkeitskategorie“ und die Art ihrer Verwen92  Vgl. Meyer, Theorie, S.  26, 48. 93  Unten, S.  436 ff. 94  Unten, S.  414 f., 435. 95  Meyer, Theorie, S.  29, spricht nur von „Voraussetzung“; an anderen Stellen ist von „Regel“ (ebd., S.  26 ff., 46) und „Mittel“ (ebd., S.  49) die Rede. 96  Unten, S.  413 ff. 97  Oben, S.  390, 400 ff., 404. 98  Vgl. Meyer, Theorie, S.  26 f. 99  Vgl. ebd., S.  15, 18, 27, 46, 50.

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dung zur Formung des historischen Zusammenhangs sei. Da E[duard] M[eyer] dies unterließ, hat er in Bezug auf die Rolle, welche „Regeln“ des Geschehens in der Arbeit der Geschichte spielen, das Richtige zwar „empfunden“, es aber – wie mir scheint – nicht adäquat zu formulieren vermocht. Dies soll nun in einem besonderen Abschnitt (II)1 dieser Studien versucht werden. Hier wenden wir uns nach diesen notgedrungen wesentlich negativen Bemerkungen gegenüber E[duard] M[eyer]s methodologischen Formulierungen vorerst der Betrachtung der namentlich im zweiten (S.  35–54) und dritten (S.  54–56) Teil seiner Schrift niedergelegten Erörterungen über das Problem zu: was „Objekt“ der Geschichte sei, – eine Frage, welche die zuletzt gemachten Ausführungen ja bereits streiften. Diese Frage nun kann mit E[duard] Meyer auch so formuliert werden: „welche von den Vorgängen, von denen wir Kunde haben, sind ‚historisch‘?“o 2 Darauf antwortet er zunächst in ganz allgemeiner Form: „historisch ist, was wirksam ist und gewesen ist“.3 Also: das in einem konkreten, individuellen Zusammenhang kausal Erhebliche ist das „Historische“. Wir stellen alle anderen, hieran anknüpfenden Fragen zurück, um zunächst festzustellen, daß E[duard] M[eyer] diesen auf S.  36 gewonnenen Begriff auf S.  37 bereits wieder preisgibt. | Es ist ihm klar, daß – wie er sich ausdrückt – „auch bei Beschränkung auf das Wirksame“ doch „die Zahl der Einzelvorgänge noch immer unendlich“ bleibt. Wonach richtet sich nun, fragt er mit Recht, die „Auswahl, welche jeder Historiker unter ihnen vornimmt“? Antwort: „nach dem historischen Interesse“.4 Für dieses aber gebe es, fügt er nach einigen Ausführungen, die wir später betrachten werden,5 hinzu, keine „absolute Norm“, und daß dies nicht der Fall sei, erläutert er uns in einer Weise, welche, wie gesagt, seine eigene Beschränkung des „Historischen“ auf das „Wirksame“ o  Ausführungszeichen fehlt in A.   1  Unten, S.  447–480. 2  Vgl. Meyer, Theorie, S.  36: „So erhebt sich die fundamentale Frage: welche unter den Vorgängen, von denen wir Kunde haben, sind historisch?“ 3  Vgl. ebd.: „historisch ist, was wirksam ist oder gewesen ist“. 4  Ebd., S.  37. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  256 mit Anm.  57. 5  Vom historischen Interesse ist im Folgenden mehrmals die Rede.

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wieder aufgibt. Anknüpfend an Rickerts exemplifikatorische Bemerkung: „daß … Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone ablehnte, ist ein ‚historisches‘ Ereignis, aber es ist vollkommen gleichgültig, welche Schneider seine Röcke gemacht haben“,6 – bemerkt er (S.  37 unten): „Für die politische Geschichte freilich wird der betreffende Schneider historisch meist immer vollkommen gleichgültig bleiben, aber wir können uns sehr wohl vorstellen, daß wir trotzdem an ihm ein historisches Interesse nähmen, etwa in einer Geschichte der Moden oder des Schneidergewerbes oder der Preise u. ä.“ Das ist gewiß zutreffend, – allein es könnte bei näherer Erwägung E[duard] M[eyer] doch kaum entgehen, daß das „Interesse“, welches wir im einen[,] und das, welches wir im anderen Falle nehmen, erhebliche Verschiedenheiten der logischen Struktur enthält und daß, wer diese nicht beachtet, in Gefahr kommt, zwei ebenso grundverschiedene, wie oft zusammengeworfene Kategorien miteinander zu verwechseln: „Realgrund“ und „Erkenntnisgrund“.7 Machen wir uns den Gegensatz, da der Fall in dem Beispiel jenes Schneiders nicht ganz eindeutig liegt, zunächst an einem anderen Fall klar, welcher jene Vermischung besonders deutlich zeigt. K[urt] Breysig hat in einem Aufsatz über die „Entstehung des Staats … bei Tlinkit und Irokesen“16) versucht, darzutun, daß gewisse, bei jenen Volksstämmen sich findende Vorgänge, welche er als „Entstehung des Staats aus der Geschlechterverfassung“ deutet, „artvertretende Wichtigkeit“ haben:8 – daß sie m. a. W. die „typische“ Form der Staatenbildung darstellen, – und deshalb, wie er sagt: „Geltung“, ja „fast weltgeschichtliche Bedeutung“ gewinnen.9 Nun liegt – natürlich unter Voraussetzung der Richtigkeit von Br[eysig]s Aufstellungen – die Sache offenbar so, daß die Tatsache der Entstehung dieser Indianer-„Staaten“ und die Art, wie sie sich vollzog, für den kausalen Zusammenhang der universalhistori16) Schmollers Jahrbuch 1904 S.  483 f.10 Auf den sachlichen Wert der Arbeit gehe ich A 159 natürlich in keiner Weise ein, die Richtigkeit aller Br[eysig]schen Aufstellungen wird vielmehr hier wie in allen ähnlichen Exemplikationen vorausgesetzt. |

6  Meyer, Theorie, S.  37, mit Bezug auf Rickert, Grenzen, S.  325 f. 7  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  53 f. mit Anm.  63. 8  Breysig, Entstehung, S.  503. 9  Ebd., S.  508. 10  Vgl. ebd., S.  483–527.

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schen Entwicklung von ganz ungemein geringer „Bedeutung“ geblieben ist. Keine einzige „erheb|liche“ Tatsache der späteren politischen oder kulturellen Gestaltung der Welt ist durch sie beeinflußt, d. h. läßt sich auf sie als „Ursache“ zurückführen. Für die Gestaltung der politischen und kulturlichen Verhältnisse der heutigen Vereinigten Staaten war die Art des Entstehens jener Staaten und wohl auch die Existenz dieser selbst, „gleichgültig“, d. h. es besteht kein erweislicher ursächlicher Zusammenhang beider, während z. B. die Nachwirkung gewisser Entschlüsse des Themistokles noch heute fühlbar ist, – so ärgerlich uns dies bei dem Versuch einer recht eindrucksvoll einheitlichen „entwicklungsgeschichtlichen“ Geschichtsschreibung auch in die Quere kommen möge. Dagegen wäre allerdings – wenn Br[eysig] Recht hat – die Bedeutung der durch seine Analyse gewonnenen Kenntnis von dem Hergang jener Staatenbildung für unser Wissen von der Art, wie generell Staaten entstehen, von, nach seiner Meinung, epochemachender Bedeutung. Wir würden – wenn nämlich Br[eysig]s Auffassung des Hergangs als „Typus“ zutrifft und ein „neues“ Wissen darstellt – in den Stand versetzt, bestimmte Begriffe zu bilden, welche, von ihrem Erkenntniswert für die Begriffsbildung der Staatslehre auch ganz abgesehen, zum mindesten als heuristisches Mittel bei der kausalen Deutung anderer historischer Hergänge verwendet werden könnten. M. a. W.: als historischer Realgrund bedeutet jener Hergang nichts, – als möglicher Erkennt­nisgrund bedeutet (nach Br[eysig]) seine Analyse ungemein viel. Dagegen bedeutet die Kenntnis jener Entschlüsse des Themistokles z. B. für die „Psychologie“ oder irgend welche andere begriffsbildende Wissenschaft gar nichts: daß ein Staatsmann in jener Situation sich so entschließen „konnte“, verstehen wir ohne alle Beihilfe von „Gesetzeswissenschaften“, und daß wir es verstehen, ist zwar Voraussetzung der Erkenntnis des konkreten kausalen Zusammenhangs, bedeutet aber keinerlei Bereicherung unseres gattungsbe­ grifflichen Wissens. Nehmen wir ein Beispiel aus dem „Natur“gebiet: jene konkreten X-Strahlen, welche Röntgen auf seinem Schirm aufblitzen sah,11 11  Röntgen hat die nach ihm benannten Strahlen am 8. November 1895 in seinem Labor an der Universität Würzburg entdeckt. Vgl. Röntgen, Wilhelm Conrad, Eine neue Art von Strahlen, 2.  Aufl. – Würzburg: Stahel 1896.

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haben bestimmte konkrete Wirkungen hinterlassen, die, nach dem Energiegesetz, noch heute im kosmischen Geschehen irgendwo nachwirken müssen. Aber nicht in dieser Eigenschaft als kosmische Realursache liegt die „Bedeutung“ jener konkreten Strahlen in Röntgens Laboratorium. Jener Vorgang kommt vielmehr – ebenso wie jedes „Experiment“ – nur als Erkenntnisgrund bestimmter „Gesetze“ des Geschehens in Betracht.17) | Ganz genau so liegt es natürlich in den Fällen, die E[duard] Meyer in einer Fußnote zu der hier kritisierten Stelle aufführt (Anm.  2 auf S.  37):12 Er erinnert daran, daß „die gleichgültigsten Personen, von denen wir zufällig (in Inschriften oder Urkunden) Kenntnis erlangen, ein historisches Interesse gewinnen, weil wir durch sie die Zustände der Vergangen­ heit kennen lernen.“ Und noch deutlicher liegt die gleiche Verwechslung vor, wenn – falls mich mein Gedächtnis nicht täuscht – wiederum Breysig (an anderer Stelle, die ich im Augenblick nicht finde) die Tatsache, daß die Stoffauslese der Geschichte sich auf

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17) Damit ist nicht gesagt, daß jene konkreten Röntgenstrahlen nicht auch als „histo- A 160 rische“ Tatsache figurieren könnten: in einer Geschichte der Physik. Diese würde sich u. a. immerhin auch dafür interessieren können, welche „zufälligen“ Umstände an jenem Tage in Röntgens Laboratorium die Konstellation herbeiführten, welche jenes Aufblitzen veranlaßtep und damit – wie wir hier einmal annehmen wollen – die Entdeckung des betreffenden „Gesetzes“ kausal herbeiführteq. Es ist klar, wie völlig dadurch die logische Stellung jener konkreten Strahlen verändert wird. | Möglich ist dies da- A 161 durch, daß sie hier in einem Zusammenhang eine Rolle spielen, der an Werten („Fortschritt der Wissenschaft“) verankert ist. Man wird vielleicht annehmen, dieser logische Unterschied sei nur die Folge davon, daß hier in das sachliche Gebiet der „Geisteswissenschaften“ übergesprungen worden sei: die kosmischen Wirkungen jener konkreten Strahlen sind ja außer Betracht gelassen. Allein ob das „gewertete“ konkrete Objekt, für welches jene Strahlen kausal „bedeutungsvoll“ waren, „physischer“ oder „psychischer“ Natur war, ist irrelevant, wofern es nur seinerseits uns etwas „bedeutet“, d. h. „gewertet“ wird. Die faktische Möglichkeit eines darauf gerichteten Erkennens einmal vorausgesetzt, könnten (theoretisch) auch die konkreten kosmischen (physikalischen, chemischen usw.) Wirkungen jener konkreten Strahlen „historische Tatsache“ werden: aber nur dann, wenn, – was freilich sehr schwer konstruierbar ist – der kausale Progressus13 von ihnen aus letztlich auf ein konkretes Ergebnis führte, welches „historisches Individuum“ wäre, d. h. in seiner individuellen Eigenart von uns als universell bedeutsam „gewertet“ würde. Nur weil dies in keiner Weise ersichtlich ist, würde, selbst wenn wir ihn durchführen könnten, jener Versuch eine Sinnlosigkeit sein. |

p A: veranlaßten  q A: herbeiführten   12  Meyer, Theorie, S.  37, Anm.  2. 13  Während man beim kausalen Regressus eine Wirkung auf ihre Ursachen zurückführt (vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  164 mit Anm.  65), ordnet man beim kausalen Progressus einer Ursache Wirkungen zu. Vgl. auch Einleitung, oben, S.  18 mit Anm.  28.

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das „Bedeutsame“, individuell „Wichtige“ richtet, durch den Hinweis darauf aus der Welt schaffen zu können glaubt, daß die Forschung aus „Tonscherben“ u. dgl. manche ihrer wichtigsten Ergebnisse gezeitigt habe.14 Ähnliche Argumente sind heute ziemlich „populär“, und die Verwandtschaft mit jenen „Röcken“ Friedrich Wilhelms IV. und den „gleichgültigen Personen“ auf den Inschriften bei E[duard] M[eyer] liegt auf der Hand. Aber zugleich auch jene Verwechslung, um die es sich auch hier wieder handelt. Denn, wie gesagt: die „Tonscherben“ Breysigs und die „gleichgültigen Personen“ E[duard] M[eyer]s werden doch nicht – ebensowenig wie die konkreten X-Strahlen in Röntgens Laboratorium – als kau­ sales Glied in den historischen Zusammenhang eingeordnet, sondern gewisse Eigenarten ihrer sind Erkenntnismittel für gewisse historische Tatsachen, welche alsdann ihrerseits, je nachdem, sowohl für die „Begriffsbildung“, also wiederum als Erkenntnismittel, z. B. für den gattungsmäßigen „Charakter“ bestimmter künstlerischer „Epochen“, oder zur kausalen Deutung konkreter historischer Zusammenhänge wichtig werden können. Dieser Gegensatz der logischen Verwendung von gegebenen Tatsachen der Kulturwirklichkeit: 1. Begriffsbildung unter exempli|fikatorischer Verwendung der „Einzeltatsache“ als eines „typischen“ Repräsentanten eines abstrakten Begriffes, d. h. also als Erkenntnismittel[,] auf der anderen Seite – 2. Einfügung der „Einzeltatsache“ als Glied, also als „Realgrund“, in einen realen, also konkreten Zusammenhang, unter Verwendung – unter anderem auch – der Produkte der Begriffsbildung als heuristischen Mittels auf der einen, als Darstellungsmittels auf der andern Seite, – enthält jenen Gegensatz, der von Windelband als „nomothetisch“,15 von Rickert als „naturwissenschaftlich“16 bezeichneten Prozedur (ad 1) gegenüber dem logischen Zwecke der „historischen Kulturwissenschaften“ (ad 2). Er 14 Vgl. Breysig, Kurt, Einzigkeit und Wiederholung geschichtlicher Tatsachen, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 28.  Band, 1904, S.  1–45, hier S.  8: „Gibt es etwas Nichtigeres, Gleichgültigeres als Scherben- und Abfallhaufen – und man weiß doch, daß solcher Küchenwegwurf Jahrtausende nach seiner doch wahrlich alltäglichen Entstehung wieder aufgefunden, ein wichtiges Zeugnis für die Kenntnis des vorgeschichtlichen Menschen von Europa geworden ist.“ 15  Vgl. Windelband, Geschichte, S.  12. 16 Mit Bezug auf Windelband vgl. Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.   10, Anm.  62), S.  38 f., und Rickert, Grenzen, S.  302 f.

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enthält zugleich den einzig berechtigten Sinn, in dem man die Geschichte eine Wirklichkeitswissenschaft17 nennen kann. Für sie kommen – dies allein kann jener Ausdruck besagen wollen – individuelle Einzelbestandteile der Wirklichkeit nicht nur als Erkennt­ nismittel, sondern schlechthin als Erkenntnisobjekt, und konkrete kausale Beziehungen nicht als Erkenntnis-, sondern als Realgrund in Betracht. Denn im übrigen werden wir noch sehen, wie wenig die populäre naive Vorstellung, die Geschichte sei „bloße“ Beschreibung vorgefundener Wirklichkeiten, oder einfache Wiedergabe von „Tatsachen“, in Wahrheit zutrifft.18) Wie mit den Tonscherben und den inschriftlich erhaltenen „gleichgültigen Persönlichkeiten“, so steht es auch mit jenen von E[duard] M[eyer] kritisierten „Schneidern“ Rickerts.18 Auch für den kulturhistorischen kausalen Zusammenhang der Entwicklung der „Mode“ und des „Schneidergewerbes“ ist die Tatsache, daß bestimmte Schneider dem König bestimmte Röcke geliefert haben, vermutlich von ganz geringer kausaler Bedeutung, – sie wäre es nur dann nicht, wenn gerade aus dieser konkreten Lieferung historische Wirkungen hervorgegangen wären, wenn also etwa die Persönlichkeit dieser Schneider, das Schicksal gerade ihres Geschäftes unter irgend einem Gesichtspunkt kausal für die Umgestaltung der Mode oder der Gewerbeverfassung „bedeutsam“ gewesen und wenn diese historische Stellung gerade durch die Lieferung gerade jener Röcke kausal mit bedingt worden wäre. – Als Erkenntnismittel für die Feststellung der Mode etc. dagegen kann die Façon der Röcke Friedrich Wilhelms IV. und die Tatsache, daß dieselben aus bestimmten (z.  B. Berliner) Werkstätten stammten, gewiß von ebensolcher „Bedeutung“ werden, wie irgend etwas, was uns sonst als Material zur Ermittlung der Mode jener Zeit zugänglich ist. Die Röcke des Königs kommen aber eben in diesem Fall als Exemplar eines zu bildenden Gattungs|begriffs, als Mittel der Erkenntnis, in

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18) In jenem hier eben wiedergegebenen Sinne ist aber der Ausdruck „Wirklichkeits- A 162 wissenschaft“ auch durchaus dem logischen Wesen der Geschichte entsprechend. Das Mißverständnis, welches die populäre Deutung dieses Ausdrucks auf bloße voraussetzungslose „Beschreibung“ enthält, haben Rickert und Simmel bereits genügend abgefertigt.19 |

17  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  174 mit Anm.  97. 18  Vgl. oben, S.  409 mit Anm.  6. 19  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  174 mit Anm.  97.

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Betracht, – die Ablehnung der Kaiserkrone dagegen, mit der sie verglichen wurden,20 als konkretes Glied eines historischen Zusam­ menhanges, als reale Wirkung und Ursache innerhalb bestimmter realer Veränderungsreihen. Das sind für die Logik grundstürzende Unterschiede und werden es ewig bleiben. Und mögen sich, – was durchaus vorkommt und Quelle der interessantesten methodischen Probleme ist, – jene beiden toto coelo21 differierenden Gesichtspunkte in der Praxis des Kulturforschers in noch so mannigfacher Verschlingung kreuzen: – das logische Wesen der „Geschichte“ wird niemand verstehen, der sie nicht sorgsam zu scheiden weiß. Eduard Meyer hat nun über das Verhältnis dieser beiden logisch verschiedenen Kategorien der „historischen Wichtigkeit“22 zweierlei miteinander nicht vereinbare Ansichten vorgetragen. Auf der einen Seite vermischt sich ihm, wie wir sahen,23 das „historische Interesse“ an dem geschichtlich „Wirksamen“, d. h. den realen Gliedern historischer Kausalzusammenhänge (Ablehnung der Kaiserkrone)[,] mit denjenigen Tatsachen (Röcke Friedrich Wilhelms IV., Inschriften usw.), die als Erkenntnismittel für den Historiker erheblich werden können. Auf der anderen Seite aber – und davon ist nunmehr zu reden – steigert sich ihm der Gegensatz des „historisch Wirksamen“ gegen alle übrigen Objekte unseres faktischen oder möglichen Wissens derart, daß er Behauptungen über die Grenzen des wissenschaftlichen „Interesses“ des Historikers aufstellt, deren etwaige Durchführung in seinem eigenen großen Werk alle Freunde des letzteren lebhaft bedauern müßten. Er sagt nämlich (S.  48 unten): „Ich habe lange geglaubt, daß für die Auswahl, die der Historiker zu treffen hat, das Charakteristische (d. h. das spezifisch Singuläre, wodurch sich eine Institution oder eine Individualität von allen analogen unterscheidet) maßgebend sei. Das ist ja auch unleugbar der Fall; aber es kommt doch für die Geschichte nur insofern in Betracht, als wir nur durch die charakteristischen Züge die Eigenart einer Kultur … erfassen können; und so ist es historisch immer nur ein Mittel, welches uns ihre histo-

20  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  325 f. 21  Lat.: himmelweit. 22  Meyer, Theorie, S.  39, verwendet diesen Begriff nicht, sondern spricht nur von einer „historisch wichtigen Entwickelungsreihe“. 23  Oben, S.  408 ff.

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rische Wirksamkeit erst … begreiflich macht“.24 Dies ist, wie alle bisherigen Ausführungen zeigen, durchaus korrekt, und ebenso die daraus gezogenen Folgerungen: daß die populäre Formulierung der Frage nach der „Bedeutung“ des Individuellen und der Persönlichkeiten für die Geschichte schief gestellt sei, daß die „Persönlichkeit“25 keineswegs in ihrer Totalität, sondern nur in ihren kausal relevanten Äußerungen in den historischen Zusammenhang, wie ihn die Geschichte konstruiert, „eingeht“,26 daß historische Bedeutung einer konkreten Persönlichkeit als kausaler Faktor und allgemein „menschliche“ Bedeutung derselben nach ihrem „Eigenwert“ nichts miteinander zu tun haben, daß gerade auch die „Unzu­ länglichkeiten“ einer in maßgebender Position befindlichen Persönlichkeit kausal bedeutsam werden können.27 Das Alles ist vollkommen | zutreffend. Und trotzdem bleibt die Frage zu beantworten, ob, oder sagen wir lieber gleich: in welchem Sinn es richtig ist, daß die Analyse von Kulturinhalten – vom Standpunkt der Geschichte aus – nur den Zweck habe, die betreffenden Kulturvorgänge in ihrer Wirksamkeit begreiflich zu machen. Welche logische Tragweite die Frage hat, ergibt sich alsbald bei Betrachtung der Konsequenzen, welche E[duard] M[eyer] aus seiner These zieht. Zunächst (S.  48) folgert er daraus, daß „bestehende Zustände an sich niemals Objekte der Geschichte sind, sondern nur insoweit dazu werden, als sie historisch wirksam sind“.28 Ein Kunstwerk, ein litterarisches Produkt, staatsrechtliche Einrichtungen, Sitten u. dgl. „allseitig“ zu analysieren sei in einer historischen (auch literar- und kunsthistori­ schen) Darstellung gar nicht möglich und am Platz: denn immer müßten dabei Bestandteile mit aufgenommen werden, welche „zu keiner historischen Wirkung gelangt“ seien, – während andererseits der Historiker vieles „in einem System“ (z. B. des Staatsrechts) „untergeordnet erscheinende Detail“ wegen seiner kausalen Tragweite in seine Darstellung aufnehmen müsse.29 Und insbesondere folgert er deshalb aus jenem historischen Ausleseprinzip auch 24  Meyer, Theorie, S.  48 f. 25  Vgl. ebd., S.  49 ff. 26  Vgl. ebd., S.  46. 27 Meyer verwendet die Begriffe „Eigenwert“ und „Unzulänglichkeiten“ nicht. Vgl. oben, S.  393 mit Anm.  37. 28  Meyer, Theorie, S.  47. 29  Ebd., S.  48.

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(S.  55), daß die Biographie eine „philologische“ und keine historische Disziplin sei. Warum? „Ihr Objekt ist die betreffende Persönlichkeit an sich in ihrer Totalität, nicht als historisch wirksamer Fak­ tor, – daß sie das gewesen ist, ist hier nur Voraussetzung, der Grund, weshalb ihr eine Biographie gewidmet wird.“30 So lange die Biographie eben Biographie und nicht eine Geschichte der Zeit ihres Helden sei, könne sie die Aufgaben der Geschichte: Darstellung eines historischen Vorganges, nicht erreichen.31 Dem gegenüber fragt man: warum diese Sonderstellung der „Persönlichkeiten“? „Gehören“ denn die „Vorgänge“, z. B. die Schlacht bei Marathon oder die Perserkriege überhaupt in ihrer „Totalität“, also nach Art der homerischen Schilderungen,32 mit allen specimina fortitudinis33 beschrieben, in eine historische Darstellung? Doch offenbar auch hier nur die für den historischen Kausalzusammenhang entscheidenden Vorgänge und Bedingungen. Seit Heldenmythos und Geschichte sich geschieden haben, ist dies doch zum wenigsten dem logischen Prinzip nach so. – Und wie steht es nun damit in der „Biographie“? Es ist doch offenbar falsch (resp. eine sprachliche Hyperbel), daß einfach „alle die Einzelheiten … … des äußeren und inneren Lebens ihres Helden“34 in eine solche hineingehören, so sehr etwa die Goethe-„Philologie“, an welche E[duard] M[eyer] vielleicht denkt, den Anschein davon erwecken könnte. Allein hier handelt es sich um Materialsammlungen, welche bezwecken, alles zu erhalten, was möglicherweise für die Geschichte Goethes, sei es als direkter Bestandteil einer Kausalreihe, – also als historisch relevante „Tatsache“ –[,] sei es als Erkenntnismittel historisch relevanter Tatsachen, als „Quelle“, irgendwie Bedeutung gewinnen könnte. In eine wissenschaftliche Goethe-Biographie | aber gehören als Bestandteile der Darstellung offenbar doch nur solche Tatsachen hinein, welche „bedeutungsvoll“ sind. 30  Ebd., S.  56. 31  Vgl. ebd. 32 Webers Handbibliothek (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) enthält Homers Odyssee. In neuer Übersetzung von Oskar Hubatsch. – Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing 1892, und Homers Ilias. In neuer Übersetzung von Oskar Hubatsch, ebd. 1894. 33 Lat.: Beispiele der Tapferkeit und Stärke. Vgl. z. B. Meineke, August, Nicephori Bryennii Commentarii. – Bonn: Weber 1836, S.  25. Meyer verwendet diese Formulierung nicht. 34  Meyer, Theorie, S.  56.

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Aber hier stoßen wir nun freilich auf eine Duplizität des logischen Sinnes dieses Wortes, welche der Analyse bedarf, und welche, wie sich zeigen wird, den „berechtigten Kern“ der Ansicht E[duard] M[eyer]s, zugleich aber auch die Unzulänglichkeit in der Formulie­ rung seiner Theorie von dem „historisch Wirksamen“35 als dem Objekt der Geschichte aufzuhellen geeignet ist. Nehmen wir zur Veranschaulichung der verschiedenen logischen Gesichtspunkte, unter welchen „Tatsachen“ des Kulturlebens wissenschaftlich in Betracht kommen können, ein Beispiel: Goethes Briefe an Frau v. Stein.36 Als „historisch“ kommt an ihnen jedenfalls – um dies vorwegzunehmen – nicht das als wahrnehmbare „Tatsache“ Vorliegende: das beschriebene Papier in Betracht, sondern dies ist natürlich nur Erkenntnismittel für die andere „Tatsache“, daß Goethe die darin ausgesprochenen Empfindungen gehabt, niedergeschrieben und Frau v. Stein zugestellt, und von ihr Antworten erhalten hat, deren ungefährer Sinn aus dem richtig gedeuteten „Inhalt“ der Goetheschen Briefe sich vermuten läßt. Diese, durch eine, eventuell mit „wissenschaftlichen“ Hilfsmitteln vorzunehmende „Deutung“ des „Sinnes“ der Briefe, zu erschließende, in Wahrheit von uns unter jenen „Briefen“ verstandene „Tatsache“, könnte nun ihrerseits zunächst 1. direkt, als solche, in einen historischen Kausalzusammenhang eingereiht werden: die mit einer unerhört gewaltigen Leidenschaft verbundene Askese jener Jahre z. B. hat in der Entwicklung Goethes selbstverständlich gewaltige Spuren hinterlassen, die nicht erloschen, auch als er unter dem Himmel des Südens sich wandelte: diesen Wirkungen in Goethes literarischer „Persönlichkeit“ nachzugehen, ihre Spuren in seinem Schaffen aufzusuchen und durch Aufweis des Zusammenhanges mit den Erlebnissen jener Jahre, so weit als dies eben möglich ist, kausal zu „deuten“, gehört zu den zweifellosen Aufgaben der Literaturgeschichte: die Tatsachen, welche jene Briefe bekunden, sind hier „historische“ Tatsachen, das heißt, wie wir sahen: reale Glieder einer Kausalkette. Nun wollen wir aber einmal annehmen – auf die Frage der Wahrscheinlichkeit dieser und aller weiterhin gemachten Annahmen kommt hier natürlich abso35  Vgl. oben, S.  408 f. mit Anm.  3. 36 Goethe, Johann Wolfgang von, Briefe an Frau von Stein, hg. von Adolf Schöll, 2 Bände, 3., umgearbeitete Aufl. – Frankfurt am Main: Rütten & Loening 1899–1900.

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lut nichts an – es ließe sich irgendwie positiv nachweisen, daß jene Erlebnisse auf die persönliche und literarische Entwicklung Goethes gar keinen Einfluß geübt hätten, d. h. aber: daß schlechterdings keine seiner uns „interessierenden“ Lebensäußerungen durch sie beeinflußt sei. Dann könnten 2. jene Erlebnisse trotzdem unser Interesse als Erkenntnismittel auf sich ziehen: sie könnten zunächst etwas für die historische Eigenart Goethes – wie man zu sagen pflegt – „Charakteristisches“37 darstellen. Das heißt aber: wir könnten vielleicht – ob wirklich, ist hier nicht die Frage – aus ihnen Einsichten in eine Art von Lebensführung und Lebensauffassung gewinnen, welche ihm dauernd oder doch | während geraumer Zeit eigen war und welche seine uns historisch interessierenden Lebensäußerungen persönlicher und literarischer Art bestimmend beeinflußt hat. Die „historische“ Tatsache, welche als reales Glied in den Kausalzusammenhang seines „Lebens“ eingefügt wird, wäre dann eben jene „Lebensauffassung“ – ein kollektivbegrifflicher Zusammenhang ererbter und durch Erziehung, Milieu und Lebensschicksale erworbener persönlicher „Qualitäten“ Goethes und (vielleicht) bewußt angeeigneter „Maximen“,38 nach denen er lebte und welche sein Verhalten und seine Schöpfungen mit bedingten. Die Erlebnisse mit Frau v. Stein wären in diesem Falle zwar – da ja jene „Lebensauffassung“ ein begriffliches Kollektivum ist, welches in den einzelnen Lebensvorgängen sich „äußert“ – auch reale Bestandteile eines „historischen“ Tatbestandes, aber für unser Interesse kämen sie – unter den gemachten Voraussetzungen – offenbar nicht wesentlich als solche in Betracht, sondern als „Symptome“ jener Lebensauffassung, d. h. aber: als Erkenntnismittel; ihre logische Beziehung zum Erkenntnisobjekt hat sich also verschoben. – Nehmen wir nun weiter an, auch dies sei nicht der Fall. Jene Erlebnisse enthielten in keiner Hinsicht etwas, was gerade Goethe im Gegensatz zu anderen Zeitgenossen charakteristisch gewesen wäre, sondern seien lediglich etwas durchaus einem „Typus“39 der Lebensführung gewisser deutscher Kreise in jener 37  Vgl. oben, S.  414 f. mit Anm.  24. 38  Vgl. Goethes „Maximen und Reflexionen“, in: Goethe, Johann Wolfgang, Gedichte. Vierter Teil, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Band 4, hg. von Eduard von der Hellen. – Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta Nachf. o. J., S.  199–252. 39  Hier in dem Sinne gemeint, den Rickert, Grenzen, S.  362, am Beispiel Goethes und Bismarcks als das „mit Allen Gemeinsame“ – im Unterschied zum „für Alle Bedeutsamen“ – bezeichnete.

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Zeit Entsprechendes. Alsdann würden sie uns für die historische Erkenntnis Goethes nichts Neues sagen, wohl aber könnten sie 3. unter Umständen als ein bequem zu verwertendes Paradigma40 jenes „Typus“ unser Interesse erregen, als ein Erkenntnismittel also der „charakteristischen“ Eigenart des geistigen Habitus jener Kreise. Die Eigenart dieses damals für jene Kreise – nach unserer Voraussetzung – „typischen“ Habitus und, als seiner Äußerungsform, jener Lebensführung in ihrem Gegensatz gegen die Lebensführung anderer Zeiten, Nationen und Gesellschaftsschichten, wäre dann die „historische“ Tatsache, welche in einen kulturgeschichtlichen Kausalzusammenhang als reale Ursache und Wirkung eingeordnet würde und nun in ihrem Unterschied etwa vom italienischen Cicisbeat41 u. dergl. historisch durch eine „deutsche Sittengeschichte“42 oder, soweit solche nationalen Abweichungen nicht bestehen sollten, durch eine allgemeine Sittengeschichte der damaligen Zeit kausal zu „deuten“ wäre. – Gesetzt nun ferner, auch für diesen Zweck sei der Inhalt jener Briefe nicht verwertbar, es würde sich dagegen zeigen, daß Erscheinungen von – in gewissen „wesentlichen“ Punkten – gleicher Art sich unter gewissen Kulturbedingungen regelmäßig einstellten, daß also in diesen Punkten eine Eigenart der deutschen oder der ottocentistischen43 Kultur in jenen Erlebnissen gar nicht zutage träte, sondern eine allen Kulturen[,] unter gewissen, begrifflich bestimmt zu formulierenden Bedingungen, gemeinsame Erscheinung, – so wäre 4. für diese 40  Lat. paradigma, griech. parádeigma: Beispiel, Muster. Lichtenberg hat den Begriff in die Wissenschaft eingeführt. Vgl. Lichtenberg, Georg Christoph, Geologisch-Meteorologische Phantasien, in: ders., Vermischte Schriften. Nach dessen Tode gesammelt und hg. von Ludwig Christian Lichtenberg, Band 7. – Göttingen: Heinrich Dieterich 1804, S.  191–239, hier S.  203 f. 41  Cicisbeat, auch Cicisbeo oder cavalier servente, bezeichnet „einen Cavallier, welchen eine Dame dazu ausersehen hat, um sich seiner Dienstleistungen bey unterschiedenen Vorfällen zu bedienen, sie z. B. auf Spaziergänge, in den Wagen, in die Kirche etc. zu begleiten, sie zu unterhalten, und wider das Unangenehme der langen Weile zu schützen“. Vgl. Cicisbeo, in: Krünitz, Johann Georg (Hg.), Oekonomische Encyclopaedie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- u. Landwirthschaft in alphabetischer Ordnung, Band 8. – Berlin: Joachim Pauli 1776, S.  122–128, hier S.  122. 42  Möglicherweise referiert Weber auf Scherr, Johannes, Geschichte deutscher Cultur und Sitte. In drei Büchern dargestellt. – Leipzig: Otto Wigand 1852. Das Buch ist ab 1858 unter dem Titel „Deutsche Kultur- und Sittengeschichte“ in mehreren Auflagen erschienen. 43  Von ital. ottocento: 19. Jahrhundert.

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Bestandteile es Aufgabe etwa einer „Kulturpsychologie“ oder „Sozialpsychologie“, die Bedingungen, unter welchen sie aufzu-| treten pflegten, durch Analyse, isolierende Abstraktion und Generalisierung44 festzustellen, den Grund der regelmäßigen Abfolge zu „deuten“ und die so gewonnene „Regel“ in einem genetischen Gattungsbegriff zu formulieren.45 Diese durchaus gattungsmäßigen, für seine individuelle Eigenart dagegen höchst irrelevanten Bestandteile jener Erlebnisse Goethes wären alsdann insoweit lediglich als Mittel zur Gewinnung dieses Gattungsbegriffes von Interesse. – Und endlich 5. muß a priori es als möglich gelten, daß jene „Erlebnisse“ ganz und gar nichts für irgend eine Bevölkerungsschicht oder Kulturepoche Charakteristisches enthielten; dann könnte auch beim Fehlen aller jener Anlässe eines „kulturwissenschaftlichen“ Interesses denkbarerweise – ob wirklich, ist hier wiederum gleichgültig – etwa ein an der Psychologie der Erotik interessierter Psychiater46 sie als „idealtypisches“ Beispiel für bestimmte asketische „Verirrungen“ unter allerhand „nützlichen“ Gesichtspunkten ebenso abhandeln, wie zweifellos z. B. Rousseaus Confessions47 für den Nervenarzt Interesse haben. Natürlich ist dabei noch die Wahrscheinlichkeit in Betracht zu ziehen, daß die Briefe sowohl für alle jene verschiedenen – natürlich die „Möglichkeiten“ absolut nicht erschöpfenden – wissenschaftlichen Erkenntniszwecke durch verschiedene Bestandteile ihres Inhalts, als auch durch die gleichen Bestandteile für verschiedene von ihnen in Betracht kommen.19) Blicken wir zurück, so haben wir bisher also jene Briefe an Frau v. Stein, d. h. den aus ihnen zu gewinnenden Gehalt an Äußerungen 19) Dies würde selbstverständlich nicht etwa beweisen, daß die Logik im Unrecht sei, wenn sie diese – eventuell selbst innerhalb einer und derselben wissenschaftlichen Darstellung sich findenden – verschiedenen Gesichtspunkte streng scheidet, wie dies die Voraussetzung mancher gegen Rickert gemachten verkehrten Einwendungen ist.48

44  Vgl. Einleitung, oben, S.  16 f. 45  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  203 mit Anm.  6, S.  207 mit Anm.  15, und S.  217 ff. 46  Möglicherweise referiert Weber auf Freud, Sigmund, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. – Leipzig und Wien: Franz Deuticke 1905, S.  1 ff. zu „sexuellen Abirrungen“. 47  Rousseau, Bekenntnisse. 48  Nicht belegt.

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und Erlebnissen Goethes, „Bedeutung“ gewinnen sehen – vom letzten zum ersten Fall zurückschreitend: a) in den letzten beiden Fällen (4, 5) als Exemplar einer Gattung und deshalb Erkenntnismittel ihres generellen Wesens (Nr.  4, 5), – b) als „charakteristischen“ Bestandteil eines Kollektivumsr und deshalb Erkenntnismittel seiner individuellen Eigenart (Nr.  2, 3)20), – c) als kausalen Bestandteil eines historischen Zusammenhangs (Nr.  1). In den Fällen ad a (oben Nr.    4 u. 5) besteht eine „Bedeutung“ für die Geschichte | nur insofern, als der mit Hilfe dieses Einzelexemplars gewonnene Gattungsbegriff unter Umständen – darüber später49 – für die Kontrolle der historischen Demonstration wichtig werden kann. Dagegen kann, wenn E[duard] M[eyer] den Umkreis des „Historischen“ auf das „Wirksame“ beschränkt, – also auf Nr.  1 (= c) der vorstehenden Staffel, – dies doch unmöglich bedeuten sollen, daß die Berücksichtigung der zweiten Kategorie von Fällen von „Bedeutsamkeit“ (litt. b) außerhalb des Gesichtskreises der Geschichte läge, daß also Tatsachen, welche nicht selbst Bestandteile historischer Kausalreihen sind, sondern nur dazu dienen, die in solche Kausalreihen einzufügenden Tatsachen zu erschließen, – z. B. also solche Bestandteile jener Goetheschen Korrespondenz, welche etwa Goethes für seine literarische Produktion entscheidende „Eigenart“, oder die für die Entwicklung der Sitten wesentlichen Seiten der ottocentistischen gesellschaftlichen Kultur „illustrieren“, d. h. zur Erkenntnis bringen, von der Geschichte – wenn nicht (wie bei Nr.  2) von einer „Geschichte Goethes“s, dann (bei Nr.  3) von einer „Sittengeschichte“ des 18. Jahrhunderts – ein für allemal vernachlässigt werden dürften. Sein eigenes Werk muß ja fortgesetzt mit derartigen Erkenntnismitteln arbeiten. Gemeint 20)  Die Erörterung dieses Spezialfalles wird uns in einem späteren Abschnitt näher beschäftigen.50 Es bleibt daher hier absichtlich dahingestellt, inwieweit er als etwas logisch Eigenartiges anzusehen ist. Festgestellt sei hier nur, der größeren Sicherheit wegen, daß er natürlich in keiner Weise die Klarheit des logischen Gegensatzes zwischen historischer und nomothetischer Verwendung der „Tatsachen“ stört. Denn die konkrete Tatsache wird bei ihm jedenfalls nicht „historisch“ in dem hier festgehaltenen Sinn: als Glied einer konkreten Kausalweiset, verwendet. |

r A: Kollektivum  s  Ausführungszeichen fehlt in A.   t  Zu erwarten wäre: Kausalkette   49  Unten, S.  424 ff. 50  Unten, S.  431 f.

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kann hier also nur sein, daß es sich dabei eben um „Erkenntnismittel“, nicht um „Bestandteile des historischen Zusammenhanges“ handelt: – aber in einem anderen Sinn verwendet doch auch die „Biographie“ oder die „Altertumskunde“ derartige „charakteristische“ Einzelheiten nicht. Nicht hier also liegt offenbar der Stein des Anstoßes für E[duard] Meyer. Nun aber steigt über allen jenen bisher analysierten Arten der „Bedeutung“ noch eine höchste auf: jene Erlebnisse Goethes, um im Beispiel zu bleiben, „bedeuten“ uns ja nicht nur als „Ursache“ und „Erkenntnismittel“ etwas, sondern, – ganz gleichgültig, ob wir aus ihnen für die Erkenntnis der Lebensauffassung Goethes, der Kultur des 18. Jahrhunderts, des „typischen“ Ablaufes von Kulturvorgängen usw. irgend etwas Neues, nicht ohnehin Bekanntes erfahren, ganz gleichgültig ferner, ob sie kausal irgend welchen Einfluß auf seine Entwicklung gehabt haben: – der Inhalt dieser Briefe ist uns, so wie er ist und ohne alles Schielen nach irgendwelchen außer ihnen liegenden, nicht in ihnen selbst beschlossenen „Bedeutungen“ – in seiner Eigenart ein Objekt der Bewertung, und sie würden dies sein, auch wenn von ihrem Verfasser sonst nicht das geringste bekannt wäre. Was uns nun hier zunächst interessiert, ist zweierlei: einmal der Umstand, daß diese „Bewertung“ sich an die Eigenart, das Unvergleichliche, Einzigartige, literarisch Unersetzliche des Objekts knüpft, und dann, daß diese Wertung des Objekts in seiner individuellen Eigenart – das ist das zweite – Grund dafür wird, daß es für uns Gegenstand des Nachdenkens und der gedanklichen – wir wollen absichtlich noch vermeiden zu sagen: der „wissenschaftlichen“ – Bearbeitung: der Interpretation, | wird. Diese „Interpretation“[,] oder, wie wir sagen wollen: „Deutung“, kann nun zwei faktisch fast immer verschmolzene, logisch aber scharf zu scheidende Richtungen einschlagen: Sie kann und wird zunächst „Wert-Interpretation“51 sein, das heißt: uns den „geistigen“ Gehalt jener Korrespondenz „verstehen“ lehren, also das, was wir dunkel und unbestimmt „fühlen“, entfalten und in das Licht des artikulierten „Wertens“ erheben. Sie ist zu diesem Zweck keineswegs genötigt, selbst ein Werturteil abzugeben oder zu „suggerieren“. Was sie tatsächlich analysierend „suggeriert“, sind vielmehr Möglichkeiten

51  Diesen Begriff verwendet Rickert nicht.

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von Wertbeziehungen52 des Objektes. Die „Stellungnahme“53 ferner, welche das gewertete Objekt bei uns hervorruft, muß natürlich durchaus nicht ein positives Vorzeichen haben: schon zu dem Verhältnis Goethes zu Frau v. Stein wird sich z. B. der übliche moderne Sexualbanause ebenso wie etwa ein katholischer Moralist,54 wenn überhaupt „verstehend“, dann wesentlich ablehnend verhalten. Und wenn wir uns als Objekt der Interpretation nach einander Karl Marx’ „Kapital“ oder den Faust oder die Decke der Sixtinischen Kapelle oder Rousseaus Confessions55 oder die Erlebnisse der heiligen Teresa oder Mme Roland oder Tolstoi oder Rabelais oder Marie Bashkirtseff oder etwa die Bergpredigt denken, dann ergibt sich eine endlose Mannigfaltigkeit „wertender“ Stellungnahme, und die „Interpretation“ dieser höchst verschiedenwertigen Objekte hat, wenn sie für „lohnend“ gehalten und unternommen wird, – was wir hier für unsere Zwecke einmal voraussetzen –[,] nur das formale Element gemeinsam, daß ihr Sinn darauf geht, uns eben die möglichen „Standpunkte“ und „Angriffspunkte“ der „Wertung“ aufzudecken. Eine bestimmte Wertung als die allein „wissenschaftlich“ zulässige uns zu oktroyieren vermag sie nur, wo, wie etwa bei dem Gedankengehalt von Marx’ Kapital, Normen (in diesem Fall solche des Denkens) in Betracht kommen. Aber auch hier ist eine objektiv gültige „Wertung“ des Objekts (in diesem Falle also die logische „Richtigkeit“ Marxscher Denkformen) nicht etwas, was notwendig im Zweck einer „Interpretation“ läge, und vollends wäre dies da, wo es sich nicht um „Normen“[,] sondern um „Kulturwerte“ handelt, eine das Gebiet des „Interpretierens“ überschreitende Aufgabe. Es kann jemand, ohne allen logischen und sachlichen Widersinn – und nur darauf kommt es hier an – alle Produkte der dichterischen und künstlerischen Kultur des Altertums oder etwa die religiöse Stimmung der Bergpredigt als für sich „ungültig“ ablehnen, ebensogut wie jene Mischung von glühender Leidenschaft auf der einen Seite und Askese auf der anderen mit 52  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  153 mit Anm.  43, S.  166 mit Anm.  71, und S.  189 mit Anm.  53. 53  Vgl. ebd., oben, S.  189 mit Anm.  51. 54  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  95, Fn.  93 mit Anm.  47 und 48. 55  Auf Marx, Kapital, Goethe, Faust I–II, und die „Gemälde der sixtinischen Kapelle“ kommt Meyer, Theorie, S.  30, 48, zu sprechen. Zu Rousseau, Bekenntnisse, vgl. oben, S.  420.

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allen jenen für uns feinsten Blüten56 des Stimmungslebens, wie sie unser Beispiel: die Briefe an Frau v. Stein, enthalten. Jene „Interpretation“ aber wird für ihn dadurch allein noch keineswegs „wertlos“, denn sie kann trotzdem, ja gerade deshalb, auch für ihn „Erkenntnis“ enthalten in dem Sinn, daß sie, wie wir zu sagen pflegen, sein eigenes „inneres Leben“, seinen „geistigen Horizont“ erweitert, | ihn fähig macht, Möglichkeiten und Nüancen des Lebensstils57 als solche zu erfassen und zu durchdenken, sein eigenes Selbst intellektuell, ästhetisch, ethisch (im weitesten Sinn) differenziierend zu entwickeln, seine „Psyche“ – sozusagen – „wertempfindlicher“ zu machen. Die „Interpretation“ der geistigen, ästhetischen oder ethischen Schöpfung wirkt eben hier wie diese letztere selbst wirkt, und die Behauptung, daß die „Geschichte“ in gewissem Sinn „Kunst“ sei,58 hat hier ihren „berechtigten Kern“, nicht minder wie die Bezeichnung der „Geisteswissenschaften“ als „subjektivierend“:59 es ist hier aber zugleich die äußerste Grenze dessen erreicht, was noch als „denkende Bearbeitung des Empirischen“60 bezeichnet werden kann, und es handelt sich nicht mehr um, im logischen Sinn, „historische“ Arbeit. Es ist wohl klar, daß E[duard] M[eyer] mit dem, was er (S.  55) „philologische Betrachtung der Vergangenheit“ nennt,61 diese Art der Interpretation, welche von den ihrem Wesen nach zeitlosen Beziehungen „historischer“ Objekte: ihrer Wertgeltung, ausgeht und diese „verstehen“ lehrt, gemeint hat. Das ergibt seine Definition dieser Art der wissenschaftlichen Tätigkeit S.  55, welche, nach ihm, „die Produkte der Geschichte in die Gegenwart versetzt und daher zuständlich behandelt“, das Objekt „nicht als werdend und historisch wirkend, sondern als seiend“ und daher im Gegensatz zur Geschichte „allseitig“ behandelt, eine „erschöpfende Interpre56  Meyer, Theorie, S.  31, spricht mit Bezug auf „Helmolt’s Weltgeschichte“ von „seltsame[n] Blüthen“. Breysig, Entstehung, S.  527, spricht von einer „feinsten Blume“. Vgl. oben, S.  405 mit Anm.  87. 57  Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  348 mit Anm.  94. 58  Möglicherweise referiert Weber auf Croce, Aesthetik, S.  27. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  332 mit Anm.  15. Vgl. auch die Auseinandersetzung mit ähnlichen Vorstellungen Lamprechts in Meyer, Theorie, S.  12. 59  Weber referiert auf Münsterberg, Psychologie, S.  XXIV, 34 ff. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  282 mit Anm.  38. 60  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  184 mit Anm.  30. 61  Vgl. Meyer, Theorie, S.  54.

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tation der einzelnen Schöpfungen“, zunächst der Literatur und Kunst, aber, wie E[duard] M[eyer] ausdrücklich hinzufügt, auch der staatlichen und religiösen Institutionen, der Sitten und Anschauungen, „und schließlich der gesamten Kultur einer als Einheit zusammengefaßten Epoche“ bezweckt. Natürlich ist diese Art der „Deutung“ nichts „Philologisches“ im Sinn einer sprachwissenschaftlichen Fachdisziplin. Die Deutung des sprachlichen „Sinns“ eines literarischen Objekts und die „Deutung“ seines „geistigen Gehalts“, seines „Sinns“ in dieser, an Werten orientierten Bedeutung des Wortes, möge faktisch noch so oft und aus guten Gründen Hand in Hand gehen: sie sind dennoch logisch grundverschiedene Vorgänge, der eine, die sprachliche „Deutung“[,] ist die – nicht etwa dem Wert und der Intensität der dazu erforderlichen geistigen Arbeit, wohl aber dem logischen Sachverhalt nach – elementare Vorarbeit für alle Arten der wissenschaftlichen Bearbeitung und Verwertung des „Quellenmaterials“, sie ist, vom Standpunkt der Geschichte aus gesehen, ein technisches Mittel, „Tatsachen“ zu verifizieren: sie ist Handwerkszeug der Geschichte (wie zahlreicher anderer Disziplinen). Die „Deutung“ im Sinn der „Wertanalyse“62 – wie wir den oben zuletzt beschriebenen Vorgang ad hoc einmal nennen wollen20a) – steht jedenfalls in dieser Relation zur Geschichte | nicht. Und da diese Art der „Deutung“ auch weder auf die Ermittelung „kausal“, für einen historischen Zusammenhang, relevanter Tatsachen, noch auf die Abstraktion von „typischen“, für die Bildung eines Gattungsbegriffes verwertbaren Bestandteilen gerichtet ist, da sie, im Gegensatz hierzu, vielmehr ihre Objekte, also, um bei E[duard] M[eyer]s Beispiel zu bleiben, die „gesamte Kultur“,63 etwa der hellenischen Blütezeit, als Einheit aufgefaßt – „um ihrer selbst willen“64 betrachtet, und in ihren Wertbeziehungen zum Verständnis bringt, so gehört sie eben auch unter keine der anderen Kategorien des Erkennens, deren direkte oder indirekte Bezie-

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20a) Wesentlich, um diese Art der „Interpretation“ von der nur sprachlichen zu schei- A 170 den. Daß faktisch diese Scheidung regelmäßig nicht stattfindet, darf die logische Unterscheidung nicht hindern. |

62  Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  350 mit Anm.  4. 63  Meyer, Theorie, S.  55. 64  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  435, 469.

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hungen zum „Historischen“ dort erörtert wurden. Sie kann aber insbesondere auch nicht eigentlich als „Hilfswissenschaft“ der Geschichte in Betracht kommen – wie E[duard] M[eyer] S.   54 unten von seiner „Philologie“65 meint – denn sie behandelt ja ihre Objekte von ganz anderen Gesichtspunkten aus als die Geschichte. Wäre der Gegensatz beider Betrachtungsweisen nur darin zu suchen, daß die eine (die „Wertanalyse“) die Objekte „zuständlich“,66 die andere (die Geschichte) als „Entwicklung“ betrachtete, die eine Quer-, die andere Längsschnitte durch das Geschehene legte, dann wäre er natürlich von ganz geringem Belang: auch der Historiker, z. B. E[duard] Meyer selbst in seinem Werke, muß[,] um seinen Faden anzuspinnen, von gewissen „gegebenen“ Anfangspunkten, die er „zuständlich“ schildert, ausgehen, und wird die „Ergebnisse“ der „Entwicklung“ im Verlaufe seiner Darstellung immer wieder einmal als „Zustand“ im Querschnitte zusammenfassen. Eine monographische Darstellung etwa der sozialen Zusammensetzung der athenischen Ekklesie67 in einem bestimmten Zeitpunkt, zu dem Zwecke, deren ursächliche historische Bedingtheit einerseits, ihre Wirkung auf die politischen „Zustände“ Athens andererseits verdeutlichen zu helfen, ist auch nach E[duard] M[eyer] sicherlich eine „historische“ Leistung. Sondern der Unterschied liegt doch wohl für E[duard] M[eyer] darin, daß für jene „philologische“ („wertanalysierende“) Arbeit zwar möglicher- und wohl normalerweise auch die für die „Geschichte“ relevanten, daneben aber eventuell ganz andere Tatsachen in Betracht kommen, als für die „Geschichte“, solche also, die weder 1. selbst Glieder einer historischen Kausalkette sind, noch 2. als Erkenntnismittel für Tatsachen der ersten Kategorie verwertet werden, also überhaupt in keiner der bisher betrachteten Relationen zum „Historischen“ stehen. In welcher anderen aber? Oder steht diese „wertanalysierende“ Betrachtung außerhalb jeder Beziehung zu irgend welcher historischen Erkenntnis? – Kehren wir, um vorwärtszukommen, wieder zu unserem Beispiel von den Briefen an Frau v. Stein zurück und nehmen wir als zweites Beispiel Karl Marx’ „Kapital“ dazu. Beide Objekte können offenbar Gegenstand 65  Meyer, Theorie, S.  54 f. 66  Ebd., S.  55. 67  Zur Volksversammlung Athens vgl. Meyer, Geschichte II, S.  329 ff.

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der „Interpretation“ werden, nicht nur der „sprachlichen“, von der wir ja hier nicht reden wollen, sondern auch der „wertanalysierenden“, die uns ihre Wertbeziehungen zum „Verständnis“ bringt, welche also die Briefe anu Frau v. Stein ähnlich analysiert und „psycho|logisch“ interpretiert, wie man etwa den „Faust“ „deutet“ – das Marxsche Kapital also auf seinen Gedankengehalt hin untersucht und in seinem gedanklichen – nicht: geschichtlichen – Verhältnis zu anderen Gedankensystemen über die gleichen Probleme zur Darstellung bringt. Die „Wertanalyse“ behandelt ihre Objekte zu diesem Behufe, nach E[duard] Meyers Terminologie, zunächst „zuständlich“,68 d. h., richtiger formuliert: sie geht von ihrer Eigenschaft als eines von jeder rein historisch-kausalen Bedeutung unabhängigen, insofern also für uns jenseits des Historischen stehenden „Wertes“ aus. – Aber bleibt sie dabei stehen? Sicherlich nicht, eine Interpretation jener Goetheschen Briefe so wenig wie eine solche des „Kapitals“ oder des Faust oder derv Orestie oder der Sixtinischen Deckengemälde.69 Sie wird vielmehr, schon um ihren eigenen Zweck ganz zu erreichen, sich darauf besinnen müssen, daß jenes ideale Wertobjekt historisch bedingt war, daß zahlreiche Nüancen und Wendungen des Denkens und Empfindens „unverständlich“ bleiben, wenn die allgemeinen Bedingungen, z. B. das gesellschaftliche „Milieu“ und die ganz konkreten Vorgänge der Tage, an denen jene Goetheschen Briefe geschrieben wurden, nicht bekannt sind, wenn die historisch gegebene „Problemlage“ zur Zeit, als Marx sein Buch schrieb, und seine Entwicklung als Denker unerörtert bleiben, – und die „Deutung“ fordert so zu ihrem Gelingen eine historische Untersuchung der Bedingungen, unter denen diese Briefe zustande kamen, aller jener kleinsten sowohl wie umfassendsten Zusammenhänge in Goethes rein persönlich„häuslichem“ und im Kulturleben der gesamten damaligen „Umwelt“ im weitesten Sinne, welche für ihre Eigenart von kausa­ ler Bedeutung – „wirksam“ im Sinne E[duard] Meyers – gewesen sind. Denn die Kenntnis aller dieser kausalen Bedingungen lehrt uns ja die seelischen Konstellationen, aus denen heraus jene Briefe u A: von  v A: des   68  Meyer, Theorie, S.  55. 69  Zu den genannten Beispielen – außer: Aischylos, Orestie – vgl. oben, S.  423 mit Anm.  55.

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geboren wurden, und damit diese selbst erst wirklich „verstehen“21), A 172

21) Gegen seinen Willen legt davon doch auch Voßler in seiner Analyse einer La Fontaineschen Fabel in der ebenso glänzend geschriebenen wie absichtsvoll einseitigen Schrift: „Die Sprache als Schöpfung und Entwicklung“ (Heidelberg 1905 S.  84 f.) Zeugnis ab.70 Einzige „legitime“ Aufgabe der „ästhetischen“ Deutung ist ihm (wie B[enedetto] Croce, mit dem er sich nahe berührt)71 der Nachweis, daß und inwieweit die literarische „Schöpfung“ adäquater „Ausdruck“ sei.72 Allein er selbst muß zu einer Bezugnahme auf ganz konkrete „psychische“ Eigenarten La Fontaines (S.  93) und, noch darüber hinaus, zum „Milieu“ und zur „Rasse“ (S.  94) seine Zuflucht nehmen, und es ist nicht abzusehen, warum nicht diese kausale Zurechnung, die Erforschung des Gewordenseins, welche stets auch mit generalisierenden Begriffen warbeitet (davon später),w73 gerade an dem Punkte abbrechen und ihre Weiterführung für die „Interpretation“ wertlos werden sollte, wo dies in seiner höchst erziehenden und lehrreichen Skizze geschieht. Wenn Voßler jene Zugeständnisse dadurch wieder beseitigt, daß er (S.  95) nur A 173 für den „Stoff“ die „zeitliche“ und „räumliche“ Be|dingtheit zugibt, von der ästhetisch allein wesentlichen „Form“ aber sagt, sie sei „freie Schöpfung des Geistes“, so muß man sich erinnern, daß er hier eine der Croceschen ähnliche Terminologie befolgt: „Freiheit“ ist hier gleich „Normgemäßheit“[,] und „Form“ ist richtiger Ausdruck im Croceschen Sinn74 und als solcher mit dem ästhetischen Wert identisch. Diese Terminologie hat aber das Bedenkliche, daß sie zur Ineinanderschiebung von „Sein“ und „Norm“ führt. – Es ist das große Verdienst von Voßlers sprühender Schrift, daß sie gegenüber den reinen Glottologen75 und Sprach-Positivisten wieder stärker betont, daß 1. es neben Sprachphysiologie und -psychologie, neben „historischen“ und „lautgesetzlichen“ Untersuchungen die durchaus selbständige wissenschaftliche Aufgabe der Interpretation der „Werte“ und „Normen“ literarischer Schöpfungen gibt, und daß 2. ferner das eigene Verständnis und „Erleben“ dieser „Werte“ und Normen auch für die kausale Deutung des Herganges und der Bedingtheit geistigen Schaffens unentbehrliche Voraussetzung ist, da eben der Schöpfer des literarischen Produktes oder des sprachlichen Ausdrucks sie „erlebt“. Allein wohlgemerkt: in diesem letzteren Fall, wo sie Mittel des kausalen Erkennens und nicht Wertmaßstäbe sind, kommen sie, logisch angesehen, nicht als „Normen“, sondern vielmehr in reiner Faktizität als „mögliche“ empirische Inhalte eines „psychischen“ Geschehens in Betracht, „prinzipiell“ nicht anders wie die Wahnidee eines Paralytikers. Ich glaube, daß seine und Croces Terminologie, welche immer wieder zu einem logischen Ineinanderschieben des „Wertens“ und des „Erklärens“ und zu einer Negierung der Selbständigkeit des letzteren neigt, die überzeugende Kraft der Argumentation abschwächt. Jene Aufgaben rein empirischer Arbeit bleiben eben neben derjenigen, die Voßler als „Ästhetik“ bezeichnet, ihrerseits auch, und zwar sachlich und logisch durchaus selbständig, bestehen: daß man diese kausale Analyse heute als „Völkerpsychologie“76 oder überhaupt als „Psychologie“ bezeichnet, ist Folge einer modischen Terminologie, ändert aber an der sachlichen Berechtigung auch dieser Art der Behandlung doch schließlich nichts. |

w–w A: arbeitet, (davon später)   70  Voßler, Sprache. 71  Für Croce, Aesthetik, S.  16, liegt der „ästhetische Vorgang“ „in der Form und ist nichts als Form“. 72  Vgl. Voßler, Sprache, S.  18 f. 73  Unten, S.  462 f. 74  Vgl. auch Croce, Aesthetik, S.  59. 75  Von ital. glottològo: Sprachforscher. 76  Da Weber von „heute“ spricht, spielt er wahrscheinlich an auf Wundt, Völkerpsy-

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so wahr es andererseits na|türlich ist, daß die kausale „Erklärung“ hier wie überall, allein für sich genommen und à la Düntzer77 betrieben, nur die „Teile in ihrer Hand“ hält.78 Und selbstverständlich ist nun jene Art der „Deutung“, welche wir hier als „Wertanalyse“ bezeichnet haben,79 die Wegweiserin dieser anderen, der „historischen“, d. h. kausalen „Deutung“. Die Analyse jener wies die „gewerteten“ Bestandteile des Objektes auf, deren kausale „Erklärung“ das Problem dieser ist, jene schuf die Anknüpfungspunkte, an denen der kausale Regressus80 sich anspinnt[,] und gab ihm so die entscheidenden „Gesichtspunkte“ mit auf den Weg, ohne welche er ja ohne Kompaß ins Uferlose steuern müßte. Nun kann jemand – und viele werden es tun – für sich das Bedürfnis ablehnen, den ganzen Apparat der historischen Arbeit aufgeboten zu sehen für die historische „Erklärung“ einer Reihe von „Liebesbriefen“, und seien sie noch so sublim. Gewiß, – aber das Gleiche gilt, so despektierlich es scheint, für das „Kapital“ von Karl Marx und überhaupt für alle Objekte histo|rischer Arbeit. Die Kenntnis davon, aus welchen Bausteinen Marx sein Werk schuf und wie die Genesis seiner Gedanken historisch bedingt war, und ebenso jede historische Kenntnis der politischen Machtkonstellation der Gegenwart, oder des Werdens des deutschen Staatswesens in seiner Eigenart, kann jemandem eine überaus fade und öde oder doch eine sehr subalterne, ja, um ihrer selbst willen betrieben, sinnlose Sache scheinen, ohne daß die Logik oder die wissenschaftliche Erfahrung ihn zu „widerlegen“ vermöchte, wie E[duard] M[eyer] ausdrücklich, in freilich etwas kurz angebundener Form, zugegeben hat.81 Für unseren Zweck lohnt es, noch einen Augenblick bei dem logischen Wesen jener „Wertanalyse“ zu verweilen. Man hat allen Ernstes den von H[einrich] Rickert sehr klar entwickelten Gedanchologie I,1 und I,2. Die einschlägigen Arbeiten zur Völkerpsychologie von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal stammen aus den 1860er Jahren bzw. von 1890 und können daher kaum gemeint sein. 77  Vgl z. B. Düntzer, Heinrich, Abhandlungen zu Goethes Werken und Leben, 2 Bände. – Leipzig: Ed. Wartig (Ernst Hoppe) 1885. 78  Vgl. Goethe, Faust I, S.  77: „Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist heraus zu treiben, Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt leider! nur das geistige Band.“ 79  Oben, S.  425 mit Anm.  62. 80  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  164 mit Anm.  65. 81  Nicht belegt.

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ken, daß die Bildung des „historischen Individuums“ durch „Wertbeziehung“ bedingt werde,82 dahin verstanden oder dadurch zu „widerlegen“ versucht, daß diese „Wertbeziehung“ identisch sei mit einer Subsumtion unter generelle Begriffe:22) „Staat“, „Religion“, „Kunst“ etc.[,] und ähnliche „Begriffe“ seien ja doch die „Werte“, um die es sich handle, und der Umstand, daß die Geschichte ihre Objekte auf sie „beziehe“ und dadurch spezifische „Gesichtspunkte“ gewinne, sei also – so ist hinzugefügt worden – nur dasselbe wie die gesonderte Behandlung der „chemischen“, „physikalischen“ etc. „Seite“ der Vorgänge in den Naturwissenschaften.23) Dies sind merkwürdige Mißverständnisse dessen, was unter einer „Wertbeziehung“ verstanden ist und allein verstanden werden kann.83 Ein aktuelles „Werturteil“ über ein konkretes Objekt oder die theoretische Aufstellung „möglicher“ WertbezieA 174

 So Schmeidler in Ostwalds „Annalen der Naturphilosophie“ III S.  24 f.84   So zu meinem Erstaunen auch Franz Eulenburg in dem Aufsatz in der vorigen Nummer dieser Zeitschrift.85 Seine Polemik gegen Rickert „und die Seinen“ (?) ist m. E. nur möglich, weil er gerade das Objekt, um dessen logische Analyse es sich handelt: die „Geschichte“, aus seinen Betrachtungen ausscheidet.86 | 22)

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82  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  368: „Die Begriffsbestimmung des historischen Individuums ist in drei Stufen erfolgt. Zuerst war das Historische das Wirkliche schlechthin, das überall individuell im Sinne von einzigartig ist, und dieser Begriff genügte, um die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung klar zu legen. Sodann wurde das Historische das von einem wollenden Wesen mit einem Werth verbundene und in seiner Einzigartigkeit zugleich einheitliche Wirkliche, und damit lernten wir die Wirklichkeitsauffassung des praktischen Lebens kennen. Endlich konnten wir das historische Individuum als die Wirklichkeit bestimmen, die sich durch Beziehung auf einen allgemeinen Werth zu einer einzigartigen und einheitlichen Mannigfaltigkeit für Jeden zusammenschliessen muss, und die dann so, wie sie unter dem Gesichtspunkt dieser bloss theoretischen Betrachtung in wesentliche und unwesentliche Bestandtheile zerfällt, dargestellt werden kann.“ 83  Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  62 mit Anm.  97. 84  Vgl. Schmeidler, Begriffsbildung, S.  24–70, hier bes. S.  41 ff. 85 Vgl. Eulenburg, Gesellschaft, S.  524 ff., erschienen im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“. 86  Für Eulenburg ist „Gesetze zu finden“ das „apriorisch anzunehmende Ziel “ jeder systematischen Wissenschaft: „Ich halte dies auch gegenüber dem neuerlichen Versuch H. Rickerts (Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung I, 1896), einen wissenschaftlichen Dualismus zwischen Kultur- und Naturwissenschaft konstruieren zu wollen, principiell aufrecht.“ Vgl. Eulenburg, Franz, Über die Möglichkeit und die Aufgaben einer Socialpsychologie. Akademische Antrittsrede, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 24. Jg., 1900, S.  201–238, hier S.  213 f. Vgl. auch die Briefe Max Webers an Franz Eulenburg vom 6. Sept. 1905, MWG II/4, S.  521, und vom 8. Sept. 1905, ebd., S.  522 f.

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hungen desselben heißt doch nicht, daß ich dasselbe unter einen bestimmten Gattungsbegriff: „Liebesbrief“, „politisches Gebilde“, „ökonomische Erscheinung“ subsumiere. Sondern das „Werturteil“ heißt: daß ich zu ihm in seiner konkreten Eigenart in bestimmter konkreter Art „Stellung nehme“[,] und die subjektiven Quellen dieser meiner Stellungnahme, meiner dafür entscheidenden „Wertgesichtspunkte“,87 sind doch erst recht nicht ein „Begriff“ und vollends ein „abstrakter Begriff“, sondern ein durchaus konkretes, höchst individuell geartetes und zusammengesetztes „Fühlen“ und „Wollen“ oder aber, unter Umständen, das Bewußtsein eines bestimmt und wiederum konkret gearteten „Sollens“. Und wenn ich nun aus dem Stadium des aktuellen Bewertens der Objekte in dasjenige der theoretisch-interpretativen Überlegung der mögli­ chen Wertbeziehungen trete, also aus den Objekten „historische Individuen“ bilde, | so bedeutet dies, daß ich die konkrete, individuelle und deshalb in letzter Instanz einzigartige Form, in welcher sich – um zunächst einmal eine metaphysische Wendung zu brauchen – „Ideen“88 in dem betreffenden politischen Gebilde (z. B. dem „Staat Friedrichs des Großen“)[,] der betreffenden Persönlichkeit (z. B. Goethe oder Bismarck), dem betreffenden Literaturprodukt (dem „Kapital“ von Marx) „verkörpert“89 haben oder „auswirken“, mir und anderen interpretierend zum Bewußtsein bringe. Oder, unter Beseitigung der stets bedenklichen und überdies entbehrlichen metaphysischen Ausdrucksweise formulirt: daß ich die Gesichtspunktex für mögliche „wertende“ Stellungnahmen, welche der betreffende Ausschnitt aus der Wirklichkeit aufweist, und um derentwillen er eine mehr oder minder universelle „Bedeutung“ beansprucht, – die von kausaler „Bedeutung“ scharf zu scheiden ist, – in artikulierter Form entwickele. Das „Kapital“ von Karl Marx teilt die Qualität als „Literaturprodukt“ mit jedem der allwöchentlich im Brockhausschen Verzeichnis90 stehenden Kombinationen von Druckerschwärze und Papier, – was es für uns zu einem x A: Begriffspunkte   87  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  189 mit Anm.  53. 88  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  71 f. mit Anm.  25 und 30; Weber, Objektivität, oben, S.  148 mit Anm.  29, und S.  202 mit Anm.  2. 89  Zur Verkörperung von Ideen vgl. Gervinus, Historik, S.  375, 383. 90  Möglicherweise sind die „Blätter für literarische Unterhaltung“ gemeint, die 1826 bis 1898 wöchentlich im Brockhaus-Verlag erschienen.

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„historischen“ Individuum macht, ist aber doch nicht etwa jene Zugehörigkeit zur Gattung, sondern umgekehrt der durchaus einzigartige „geistige Gehalt“, den „wir“ in ihm „niedergelegt“ finden. Ebenso: die Qualität des „politischen“ Vorgangs teilt das Kannegießern91 eines Philisters beim Dämmerschoppen mit demjenigen Komplex von bedrucktem und beschriebenem Papier, Schallwellen, Körperbewegungen auf Exerzierplätzen, gescheiten oder auch törichten Gedanken in den Köpfen von Fürsten, Diplomaten, usw., welcheny „wir“ zu dem individuellen Gedankengebilde „Deutsches Reich“ zusammenschließen, weil „wir“ ihm ein bestimmtes für „uns“ durchaus einzigartiges, an zahllosen „Werten“ (nicht nur „politischen“) verankertes „historisches Interesse“ zuwenden. Diese „Bedeutung“ – denz „Inhalt“ des Objektes, etwa des „Faust“, an möglichen Wertbeziehungen, oder, anders geredet, den „Inhalt“ unseres Interesses am historischen Individuum – durch einen Gattungsbegriff ausdrückbar zu denken, ist ein offenbarer Widersinn: gerade die Unausschöpfbarkeit seinesa „Inhalts“ an möglichen Anknüpfungspunkten unseres Interesses ist das dem historischen Individuum „höchsten“ Ranges Charakteristische. Daß wir gewisse „wichtige“ Richtungen der historischen Wertbeziehung klassifizieren und diese Klassifikation dann der Arbeitsteilung der Kulturwissenschaften zur Grundlage dient, ändert natürlich daran nichts24), daß der Gedanke: | ein „Wert“ von „allgemeiner (= universeller) Bedeutung“ sei ein „allgemeiner“ (= genereller) Begriff, ähnlich seltsam ist, wie etwa die Meinung, man könne „die Wahrheit“ in 24) Wenn ich die sozial-ökonomischen Determinanten der Entstehung einer konkreten „Ausprägung“ des „Christentums“ oder etwa der provençalischen Ritterpoesie92 untersuche, so mache ich damit doch diese letzteren nicht zu Erscheinungen, welche um ihrer ökonomischen Bedeutung willen „gewertet“ werden. Die aus rein technischen Gründen der Arbeitsteilung hervorgegangene Art, wie der einzelne Forscher oder die einzelne traditionell unterschiedene „Disziplin“ ihr „Gebiet“ abgrenzen, ist natürlich auch hier logisch von keinem Belang. |

y A: welche  z A: der  a A: ihres   91  Stammtischgerede. Vgl. Holberg, Ludvig, Der politische Kannegießer. Komödie in fünf Akten. Aus dem Dänischen von Robert Prutz. – Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut 1872. 92  Mittelalterliches Genre der Dichtkunst der Minnesänger und Troubadoure, das sich den Themen Kampf und Frauenverehrung widmete. Seine Ursprünge lagen in Frankreich.

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einem Satz aussprechen, oder „das Sittliche“ in einer Handlung vollbringen, oder „das Schöne“ in einem Kunstwerk verkörpern. – Doch kehren wir zu Eduard Meyer und seinen Versuchen, dem Problem der historischen „Bedeutung“ beizukommen, zurück. Die vorstehenden Betrachtungen verließen ja das methodologische und streiften das geschichtsphilosophische Gebiet.93 Für die strikt auf dem Boden der Methodik verweilende Betrachtung ist der Umstand, daß gewisse individuelle Bestandteile der Wirklichkeit als Objekt historischer Betrachtung ausgelesen werden, schlechterdings nur durch den Hinweis auf dies faktische Vorhandensein eines entsprechenden Interesses zu begründen: mehr kann ja die „Beziehung auf Werte“ für eine solche Betrachtung, die nach dem Sinn dieses Interesses nicht fragt, in der Tat nicht besagen, und so beruhigt sich denn auch E[duard] M[eyer] dabei, indem er, von diesem Standpunkt aus mit Recht, meint, für die Geschichte genüge die Tatsache der Existenz jenes Interesses, möge man es noch so niedrig veranschlagen.94 Aber gewisse Unklarheiten und Widersprüche in seinen Ausführungen zeigen doch die Folgen jenes Mangels an geschichtsphilosophischer Orientierung deutlich genug. „Die Auswahl“ (der Geschichte) „beruht auf dem historischen Interesse, welches die Gegenwart an irgendeiner Wirkung, einem Ergebnis der Entwicklung hat, so daß sie das Bedürfnis empfindet, den Anlässen nachzuspüren, welche es herbeigeführt haben“, sagt E[duard] M[eyer] (S.  37) und interpretiert dies später (S.  45) dahin, daß der Historiker „aus sich selbst die Probleme, mit denen er an das Material herantritt“, nehme, welche ihm dann den „Leitfaden, an dem er die Ereignisse ordnet“, gebenb. Das stimmt durchaus mit dem Gesagten zusammen und ist überdies zugleich der einzig mögliche Sinn, in welchem die früher kritisierte Äußerung E[duard] M[eyer]s über das „Aufsteigen von der Wirkung zur Ursache“95 richtig ist: es handelt sich dabei nicht, wie er annimmt, um eine der b A: gebe   93  Der Untertitel von Meyer, Theorie, lautet „Geschichtsphilosophische Untersuchungen“. Auch Rickerts Theorie historischer Begriffsbildung ist in eine Geschichtsphilosophie eingebettet. Vgl. Rickert, Grenzen, S.  600 ff.; Rickert, Geschichtsphilosophie (wie oben, S.  350, Anm.  2). 94  Für Meyer, Theorie, S.  38, genügt es, „dass es vorhanden ist“. 95  Oben, S.  400, Fn.  12 mit Anm.  67.

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Geschichte eigentümliche Art der Handhabung des Kausalitäts­ begriffes, sondern darum, daß „historisch bedeutsam“ eben nur diejenigen „Ursachen“ sind, welche der von einem „gewerteten“ Kulturbestandteil ausgehende Regressus als unentbehrliche Bestandteile seiner in sich aufnehmen muß: das Prinzip der „teleologischen Dependenz“,96 wie man es mit einem allerdings mißverständlichen Ausdruck genannt hat. Nun aber fragt sich: muß dieser Ausgangspunkt des Regressus stets ein Bestandteil der Gegenwart sein, wie man nach der oben zuerst zitierten Äußerung E[duard] M[eyer]s97 als seine Ansicht ansehen könnte? E[duard] M[eyer] hat hierzu in Wahrheit keine ganz sichere Stellung. Es fehlt eben, das zeigte schon das bisher Gesagte, bei ihm jede klare Angabe darüber, was er unter seinem „historisch Wirksamen“ eigentlich versteht. Denn | – wie ihm dies schon von anderer Seite vorgehalten ist98 – wenn nur das in die Geschichte gehört, was „wirkt“, so muß für jede historische Darstellung, z. B. für seine Geschichte des Altertums,99 die Kardinalfrage sein: welcher Endzustand und welche Bestandteile desselben sollen als das durch die darzustellende historische Entwicklung „Bewirkte“ zugrunde gelegt werden und also darüber entscheiden, ob eine Tatsache, weil sie für keinen Bestandteil jenes Endresultats eine erweisliche kausale Bedeutung hatte, als historisch unwesentlich ausgeschieden werden muß. Manche Äußerungen E[duard] M[eyer]s können zunächst den Anschein erwecken, als ob in der Tat die objektive „Kulturlage“ – wie wir einmal kurz sagen wollen – der Gegenwart hier entscheiden sollte: nur Tatsachen, deren Wirkung noch heute, in unseren gegenwärtigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, religiösen, ethischen, wissenschaftlichen Zuständen oder irgendwelchen anderen Bestandteilen unseres Kulturlebens von kausaler Bedeutung sind, deren „Wirkung“ wir in der Gegenwart unmittelbar wahrnehmen (s[iehe] S.  37 oben),1 gehörten dann in eine „Geschichte des Alter96  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  300 mit Anm.  97. 97  Oben, S.  433. 98 Möglicherweise referiert Weber auf Ratzel, Friedrich, Geschichte, Völkerkunde und historische Perspektive, in: Historische Zeitschrift, Band 93, N. F. Band 57, 1904, S.  1–46, hier S.  21 ff. 99  Vgl. Meyer, Geschichte I-V. Alle fünf Bände der 1. Auflage sind als Handexemplare Webers überliefert (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München). 1  Vgl. Meyer, Theorie, S.  36 f.

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tums“, gänzlich irrelevant aber wäre es, ob eine Tatsache für die Eigenart der Kultur des Altertums von noch so fundamentaler Bedeutung wäre (s[iehe] S.  48 unten).2 E[duard] M[eyer]s Werk würde arg zusammenschrumpfen – man denke etwa an den Band über Ägypten3 – wenn er damit Ernst machen wollte[,] und viele würden gerade das nicht darin finden, was sie in einer Geschichte des Altertums erwarten. Aber er läßt (S.  37 oben)4 einen anderen Ausweg offen: „wir können es“ – nämlich was historisch „wirksam“ gewesen ist – „auch an der Vergangenheit erfahren, indem wir irgendeinen Moment derselben als gegenwärtig fingieren.“ Damit kann nun allerdings jeder beliebige Kulturbestandteil als von einem irgendwie gewählten Standpunkt aus „wirksam“ in eine Geschichte des Altertums hinein-„fingiert“ werden, – es entfiele aber damit eben gerade die Begrenzung, welche E[duard] M[eyer] erstrebt. Und es entstände trotzdem die Frage: welchen „Moment“ nimmt z. B. eine „Geschichte des Altertums“ zum Maßstab des für den Historiker Wesentlichen? Bei E[duard] M[eyer]s Betrachtungsweise müßte man annehmen: das „Ende“ der antiken Geschichte, d. h. der Einschnitt, der uns als geeigneter „Endpunkt“ erscheint: also etwa die Regierung des Kaisers Romulus, oder die Regierung Justinians, oder – wohl besser – die Regierung Diocletians? In diesem Fall gehörte zunächst jedenfalls alles, was für diese Schlußepoche, dies „Greisenalter“5 der Antike, „charakteristisch“ ist, zweifelsohne in vollem Umfang in die Darstellung als deren Abschluß hinein, weil eben diese Charakteristik ja das Objekt der historischen Erklärung formte, ferner, vor allem anderen, alle die Tatsachen, welche eben für diesen Prozeß der „Vergreisung“ kausal wesentlich („wirksam“) waren, – auszuscheiden wäre dagegen z. B. bei der Schilderung der griechischen Kultur alles, was damals (zur Zeit des Kaisers Romulus oder Diocletians) keine „Kulturwirkungen“ mehr übte, | und das wäre bei dem damaligen Zustand der Literatur, der Philosophie, der allgemeinen Kultur ein erschrec2  Vgl. ebd., S.  48 f. 3  Vgl. Meyer, Geschichte I, S.  29 ff., 253 ff., 311 ff., 380 ff., 425 ff., 561 ff. 4  Meyer, Theorie, S.  37. 5  Vgl. Mommsen, Theodor, Römische Geschichte, Band 5: Die Provinzen von Caesar bis Diocletian. – Berlin: Weidmann 1885, S.  4: „Das Greisenalter vermag nicht neue Gedanken und schöpferische Thätigkeit zu entwickeln, und das hat auch das römische Kaiserregiment nicht gethan“.

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kend großer Teil gerade dessen, was uns eine „Geschichte des Altertums“ überhaupt „wertvoll“ macht, und was wir, glücklicherweise, in E[duard] M[eyer]s eigenem Werke nicht vermissen. Eine Geschichte des Altertums, welche nur das auf irgend eine spätere Epoche kausal Wirkende enthalten wollte, würde, – zumal wenn man die politischen Verhältnisse als das eigentliche Rückgrat des Historischen ansieht,6 durchaus ebenso leer erscheinen, wie eine „Geschichte“ Goethes, welche ihn selbst, nach Rankeschem Ausdruck, zugunsten seiner Epigonen „mediatisiert“,7 d. h. nur die Bestandteile seiner Eigenart und seiner Lebensäußerungen feststellt, welche in der Literatur „wirksam“ geblieben sind: die wissenschaftliche „Biographie“ unterscheidet sich da prinzipiell nicht von anders abgegrenzten historischen Objekten. E[duard] M[eyer]s These ist in der von ihm gegebenen Formulierung nicht durchführbar. – Oder gibt es auch hier einen Ausweg aus dem Widerspruch zwischen dieser seiner Theorie und seiner eigenen Praxis? Wir hörten E[duard] M[eyer] sagen, daß der Historiker „aus sich“ seine Probleme nehme, und dieser Bemerkung fügt er hinzu: „die Gegenwart des Historikers ist ein Moment, das aus keiner Geschichtsdarstellung ausgeschieden werden kann“.8 Sollte etwa jene „Wirksamkeit“ einer „Tatsache“, welche sie zu einer „historischen“ stempelt, schon dann vorliegen, wenn ein moderner Historiker sich für diese Tatsache in ihrer individuellen Eigenart und ihrem So-und-nichtanders-Gewordensein interessiert und seine Leser dafür zu interessieren versteht? – Offenbar sind tatsächlich in E[duard] M[eyer]s Ausführungen (S.  36 unten einerseits, S.  37 und 45 andererseits) zwei verschiedene Begriffe von „historischen Tatsachen“ ineinander geschoben: einmal solche Bestandteile der Wirklichkeit, welche, man kann sagen: „um ihrer selbst willen“, in ihrer konkreten Eigenart als Objekte unseres Interesses „gewertet“ werden, auf der anderen solche, auf welche unser Bedürfnis, jene „gewerteten“ 6  Zur Bedeutung des Politischen vgl. Meyer, Theorie, S.  28, 30. 7 Für Ranke, Epochen (wie oben, S.  72, Anm.  30), S.  4 f., wird im „Fortschritt“ eine Generation „mediatisirt“, wenn man sie nur als „die Stufe der nachfolgenden Generation“ betrachtet, die sie vollkommen übertrifft. Vgl. auch im Kontext seiner Diskussion des Fortschrittsbegriffs Rickert, Grenzen, S.  469: „Dies Verfahren würde aber, um ein Wort Ranke’s zu gebrauchen, die früheren Perioden zu Gunsten der späteren mediatisiren“. 8  Meyer, Theorie, S.  45.

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Bestandteile der Wirklichkeit in ihrer historischen Bedingtheit zu verstehen, beim kausalen Regressus als „Ursachen“, als historisch „wirksam“ in E[duard] M[eyer]s Sinn, stößt. Man kann die ersteren historische Individuen, die letzteren historische (Real-)Ursachen nennen und sie mit Rickert als „primäre“ und „sekundäre“ historische Tatsachen scheiden.9 Eine strikte Beschränkung einer historischen Darstellung auf die historischen „Ursachen“, die „sekundären“ Tatsachen Rickerts, die „wirksamen“ Tatsachen E[duard] M[eyer]s, ist uns natürlich nur möglich, wenn bereits eindeutig feststeht, um die kausale Erklärung welches historischen Individuums es sich ausschließlich handeln soll. Wie umfassend alsdann dieses primäre Objekt auch gewählt werden möge, – nehmen wir an, als solches gelte z. B. die gesamte „moderne“, d. h. unsere von Europa „ausstrahlende“ christlich-kapitalistisch-rechtsstaatliche „Kultur“ in ihrem Gegenwartsstadium, also ein ungeheuerer Knäuel von „Kultur|werten“, welche unter den allerverschiedensten „Gesichtspunkten“ als solche betrachtet werden, – so wird der kausale Regressus, welcher sie historisch „erklärt“, dennoch, wenn er bis ins Mittelalter oder gar bis ins Altertum gelangt, eine ungeheuere Fülle von Objekten, mindestens teilweise, als kausal unwesentlich, beiseite lassen müssen, welche unser „wertendes“ Interesse „um ihrer selbst willen“ in hohem Maße erregen, also ihrerseits „historische Individuen“ werden können, an welche sich ein „erklärender“ kausaler Regressus anknüpft. Gewiß ist dabei zuzugeben, daß dies „historische Interesse“, infolge des Fehlens der kausalen Bedeutung für eine Universalgeschichte der heutigen Kultur, ein spezifisch geringeres ist. Die Kulturentwicklung der Inkas und Azteken hat historisch relevante Spuren in – verhältnismäßig! – überaus geringem Maße hinterlassen, dergestalt, daß eine Universalgeschichte der Genesis der heutigen Kultur in E[duard] M[ey9  Rickert, Grenzen, S.  475 f., hat, „um die logische Struktur der Darstellung historischer Entwicklungsreihen zu verstehen“, zwischen „zwei Arten von historischen Individuen“ unterschieden: „Die einen haben eine direkte, die anderen eine indirekte Beziehung auf den leitenden Werthgesichtspunkt, und so können wir von primären und sekundären historischen Individuen sprechen.“ Diese Unterscheidung sei eindeutig, wenn man daran festhalte, „dass für einen bestimmten leitenden Werthgesichtspunkt die eine Art der Objekte unmittelbar durch die Eigenart ihrer inhaltlichen Mannigfaltigkeit sich zu In-dividuen zusammenschliesst, bei der anderen dagegen das historische Interesse an ihnen nur durch das Mittel der kausalen Verbindung entsteht, die zwischen ihnen und den unmittelbar wesentlichen Individuen vorhanden ist.“

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er]s Sinne von ihnen vielleicht ohne Schaden geradezu schweigen darf. Ist dem so, – wie wir einmal annehmen wollen, – dann kommt das, was wir von ihrer Kulturentwicklung wissen, in erster Linie weder als „historisches Objekt“, noch als „historische Ursache“, sondern wesentlich als „Erkenntnismittel“ für die Bildung kulturtheoretischer Begriffe in Betracht: positiv: z. B. für die Bildung des Begriffes des Feudalismus, als ein eigenartig spezifiziertes Exemplar desselben, oder negativ, um gewisse Begriffe, mit denen wir in der europäischen Kulturgeschichte arbeiten, gegen jene heterogenen Kulturinhalte abzugrenzen und so im Wege der Vergleichung die historische Eigenart der europäischen Kulturentwicklung genetisch schärfer zu fassen. Ganz das Gleiche ist natürlich bezüglich solcher Bestandteile der antiken Kultur der Fall, welche E[duard] M[eyer], als historisch „nicht wirksam“ geworden, aus einer an dem Bestande der Gegenwartskultur orientierten Geschichte des Altertums streichen – müßte, wenn er konsequent wäre. – Allein offenbar ist bezüglich der Inkas und Azteken10 es trotz alledem in keiner Weise weder logisch noch sachlich ausgeschlossen, daß gewisse Inhalte ihrer Kultur in ihrer Eigenart zum historischen „Individuum“ gemacht, d. h. also zunächst auf ihre „Wert“be­zie­ hungen hin „deutend“ analysiert und daraufhin wieder zum Gegenstand „historischer“ Untersuchung werden, so daß nun der kausale Regressus nach Tatsachen ihrer Kulturentwicklung ausgreift, welche mit Bezug auf jenes Objekt „historische Ursachen“ werden. Und wenn jemand eine „Geschichte des Altertums“ komponiert, so ist es eben eitel Selbsttäuschung zu glauben, diese enthielte nur kausal auf unsere heutige Kultur „wirksame“ Tatsachen, weil sie allerdings nur von Tatsachen handelt, welche uns entweder „primär“ als gewertete „historische Individuen“, oder „sekundär“ als kausal (mit Beziehung auf diese oder andere „Individuen“), als „Ursachen“, bedeutsam erscheinen. Unser an „Werten“ orientiertes Interesse, nicht die sachliche Ursachenbeziehung unserer Kultur zu der hellenischen allein, wird den Umkreis | der für eine Geschichte der hellenischen Kultur maßgebenden Kulturwerte 10  Vgl. Haebler, Konrad, Amerika, in: Helmolt, Hans F. (Hg.), Weltgeschichte, Band 1: Allgemeines – Die Vorgeschichte – Amerika – Der Stille Ozean. – Leipzig und München: Bibliographisches Institut 1899, S.  181–574, hier S.  307 ff. zu den Inkas, S.  272 ff. zu den Azteken. Weber kommt unten, S.  458 f., Fn.  33 mit Anm.  96, auf dieses Sammelwerk zu sprechen.

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bestimmen. Jene Epoche, welche wir zumeist – durchaus „subjektiv“ wertend – als „Höhepunkt“ der hellenischen Kultur ansehen, also etwa die Zeit zwischen Äschylos und Aristoteles, kommt mit ihren Kulturgehalten als „Eigenwert“ in jeder „Geschichte des Altertums“, auch derjenigen E[duard] M[eyer]s in Betracht,11 und das könnte sich erst ändern, falls irgend eine Zukunft zu jenen Kulturschöpfungen ebensowenig eine unmittelbare „Wertbeziehung“ zu gewinnen vermöchte, wie zu dem „Gesang“ und der „Weltanschauung“ eines innerafrikanischen Volkes, die unser Interesse als Artrepräsentanten, als Mittel der Begriffsbildung also, oder als „Ursachen“ erregen. – Dies also: daß wir Gegenwartsmenschen Wertbeziehungen irgendwelcher Art zu der individuellen „Ausprägung“ antiker Kulturinhalte besitzen, ist der allein mögliche Sinn, den man E[duard] M[eyer]s Begriff des „Wirksamen“ als des „Historischen“ geben kann.12 Wie sehr dagegen E[duard] M[eyer]s eigener Begriff des „Wirksamen“ aus heterogenen Bestandteilen zusammengesetzt ist, zeigt schon seine Motivierung des spezifischen Interesses, welches die Geschichte den „Kulturvölkern“ entgegenbringt. „Das beruht“, meint er (S.  47)[,] „darauf, daß diese Völker und Kulturen in unendlich viel höherem Grade wirksam gewesen sind und noch auf die Gegenwart wirken“. Das ist zweifelsohne richtig, aber keineswegs der einzige Grund unseres für ihre Bedeutung als historische Objekte entscheidenden „Interesses“, und namentlich läßt sich daraus nicht ableiten, daß, wie E[duard] M[eyer] (a. a. O.) sagt, jenes Interesse um so stärker wird, „je höher sie (die historischen Kulturvölker) stehen“.13 Denn die Frage des „Eigenwerts“ einer Kultur, die hier angeschnitten ist, hat mit derjenigen ihrer historischen „Wirksamkeit“ nichts zu tun: es ist hier bei E[duard] M[eyer] eben „wertvoll“ und „kausal wichtig“ verwechselt. So unbedingt es richtig ist, daß jede „Geschichte“ vom Standpunkt der Wertinteressen der Gegenwart geschrieben wird, und daß also jede Gegenwart neue Fragen an das historische Material stellt oder doch stellen kann, weil eben ihr durch Wertideen14 11  Vgl. Meyer, Geschichte IV, S.  85 ff., über „Die Cultur des perikleischen Zeitalters“, dort: „Das ist die Geburtsstunde einer neuen Cultur, welche auf Jahrhunderte hinaus dem Denken und Empfinden des Volkes die Richtung weist“ (ebd., S.  85). 12  Für Meyer, Theorie, S.  36, gilt: „historisch ist, was wirksam ist oder gewesen ist“. 13  Ebd., S.  47. 14  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  182 mit Anm.  28.

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geleitetes Interesse wechselt, so sicher ist, daß dieses Interesse auch schlechthin „vergangene“ Kulturbestandteile, d. h. solche, auf welche ein Kulturbestandteil der Gegenwart im kausalen Regressus nicht zurückgeführt werden kann, „wertet“ und zu historischen „Individuen“ macht, im kleinen Objekte wie die Briefe an Frau v. Stein, im großen auch jene Bestandteile der hellenischen Kultur, deren Einwirkung die Kultur der Gegenwart längst entwachsen ist. E[duard] M[eyer] hat, wie wir sahen,15 das ja selbst, nur ohne die Konsequenzen zu ziehen, durch die von ihm angenommene Möglichkeit eingeräumt: daß ein Moment der Vergangenheit, wie er sich ausdrückt, als gegenwärtig „fingiert“ werde (S.  47 oben)16 , – was ja nach den Bemerkungen auf S.  55, Mitte, doch eigentlich nur die „Philologie“ tun dürfte. In Wahrheit ist damit eben zugestanden, daß auch „vergangene“ Kulturbestandteile ohne | Rücksicht auf das Vorhandensein einer noch fühlbaren „Wirkung“ historische Objekte sind, in einer „Geschichte des Altertums“ z. B. also auch die „charakteristischen“ Werte des Altertums selbst für die Auswahl der Tatsachen und die Richtung der historischen Arbeit maßgebend werden. – Ja noch mehr. Wenn E[duard] M[eyer] als Grund dafür, daß die Gegenwart nicht Gegenstand der „Geschichte“ werde, ausschließlich geltend macht, daß man noch nicht wisse und nicht wissen könne, welche Bestandteile ihrer sich in Zukunft als „wirksam“ erweisen,17 so ist jene Behauptung von der (subjektiven) Ungeschichtlichkeit der Gegenwart wenigstens in bedingtem Maße zutreffend. Über die kausale Bedeutung der Tatsachen der Gegenwart als „Ursachen“ „entscheidet“ endgültig erst die Zukunft. Allein dies ist nicht die einzige Seite des Problems, auch wenn man, wie hier selbstverständlich, von solchen äußerlichen Momenten, wie dem Mangel der archivalischen Quellen etc., absieht.18 Die wirklich unmittelbare Gegenwart ist nicht nur noch nicht geschichtliche „Ursache“ geworden, sondern sie ist auch noch nicht geschichtliches „Individuum“, so wenig wie ein „Erlebnis“ in dem Augenblick, in welchem es sich „in mir“ und „um mich“ vollzieht, Objekt empirischen 15  Oben, S.  434 f. 16  Vgl. Meyer, Theorie, S.  37. 17  Vgl. ebd., S.  39. 18  Vgl. ebd., S.  42.

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„Wissens“ ist. Alle historische „Wertung“ umschließt ein, um es so auszudrücken: „kontemplatives“ Moment, sie enthält nicht nur und nicht in erster Linie das unmittelbare Werturteil des „stellungnehmenden Subjektes“, sondern ihr wesentlicher Gehalt ist, wie wir sahen,19 ein „Wissen“ von möglichen „Wertbeziehungen“, setzt also die Fähigkeit voraus, den „Standpunkt“ dem Objekt gegenüber wenigstens theoretisch zu wechseln: man pflegt dies so auszudrücken, daß wir einem Erlebnis gegenüber erst „objektiv werden müssen“, ehe es, als Objekt, „der Geschichte angehört“, – was hier ja aber gerade nicht bedeutet, daß es kausal „wirksam“ ist. – Doch sollen diese das Verhältnis von „Erleben“ und „Wissen“ betreffenden Erörterungen hier nicht weitergesponnen werden: genug, daß mit allen diesen umständlichen Darlegungen wohl klar geworden ist, nicht nur daß, sondern auch warum der E[duard] Meyersche Begriff des „Historischen“ als des „Wirksamen“ unzulänglich ist. Es fehlt vor allem die logische Scheidung des „primären“ historischen Objekts, jenes „gewerteten“ Kulturindividuums, an welches sich das Interesse für die kausale „Erklärung“ seines Gewordenseins haftet, und der „sekundären“ historischen „Tatsachen“, der Ursachen, denen die „gewertete“ Eigenart jenes „Individuums“ im kausalen Regressus zugerechnet wird. Diese Zurechnung wird mit dem prinzipiellen Ziel vorgenommen, „objektiv“ als Erfahrungswahrheit gültig zu sein mit derselben Unbedingtheit, wie irgend welche Erfahrungserkenntnis überhaupt, und nur die Zulänglichkeit des Materials entscheidet über die, nicht logische, sondern nur faktische Frage, ob sie dies Ziel erreicht, ganz ebenso wie dies auf dem Gebiet der Erklärung eines konkreten Naturvorgangs der Fall ist. „Subjektiv“ in einem bestimmten hier nicht | nochmals zu erörternden Sinn ist nicht die Feststellung der historischen „Ursachen“ bei gegebenem Erklärungs-„Objekt“, sondern die Abgrenzung des historischen „Objektes“, des „Individuums“ selbst, denn hier entscheiden Wertbeziehungen, deren „Auffassung“ dem historischen Wandel unterworfen ist. Es ist deshalb auf der einen Seite unrichtig, wenn E[duard] M[eyer] (S.  45, Mitte) meint, wir vermöchten „niemals“ zu einer „absoluten und unbedingt gültigen“ Erkenntnis von etwas Historischem zu gelangen: das trifft für die „Ursachen“ nicht zu; – ebenso unrichtig aber ist 19  Oben, S.  422 ff.

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es, wenn alsdann gesagt wird, es stehe um die Geltung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis „nicht anders“20 als um die historische: das trifft für die historischen „Individuen“, d. h. für die Art, in welcher „Werte“ in der Geschichte eine Rolle spielen[,] und auf die Modalität dieser Werte nicht zu, (gleichviel wie man über die „Geltung“ jener „Werte“ als solcher denkt, die ja jedenfalls etwas gegenüber der Geltung einer ursächlichen Beziehung als Erfahrungswahrheit prinzipiell heterogenes ist, sollten auch etwa philosophisch beide in letzter Instanz als normgebunden gedacht werden müssen). Denn die an „Werten“ orientierten „Gesichtspunkte“, unter denen wir Kulturobjekte betrachten, unter denen sie für uns überhaupt „Objekte“ der historischen Forschung werden, sind wandelbar, und weil und so lange sie dies sind, werden – bei Annahme unveränderten „Quellenmaterials“, von der wir hier, bei logischen Erörterungen, ein für allemal ausgehen – stets neue „Tatsachen“ und stets in neuer Art historisch „wesentlich“. Diese Art der Bedingtheit durch „subjektive Werte“ ist aber jedenfalls solchen Naturwissenschaften, welche dem Typus der Mechanik21 zustreben, durchaus fremd und bildetc gerade den spezifischen Gegensatz des Historischen gegen sie.22 Fassen wir zusammen: Soweit die „Deutung“ eines Objekts im gewöhnlichen Sinne des Wortes „philologische“ Deutung, z. B. des sprachlichen „Sinnes“ ist, ist sie für die „Geschichte“ technische Vorarbeit. Soweit sie das für die Eigenart bestimmter „Kulturepochen“ oder bestimmter Persönlichkeiten, oder bestimmter Einzelobjekte (Kunstwerke, literarischer Objekte) Charakteristische „deutend“ analysiert, steht sie im Dienst der historischen Begriffsbildung. Und zwar, logisch betrachtet, entweder dienend, indem sie kausal relevante Bestandteile eines konkreten historischen Zusammenhangs als solche erkennen hilft, – oder umgekehrt leitend und wegweisend, indem sie den Gehalt eines Objekts: – des „Faust“, der Orestie, des Christentums einer bestimmten Epoche usw. – an mögc A: bilden   20  Vgl. Meyer, Theorie, S.  45. 21  Für Rickert, Grenzen, S.  80, 104 ff., 264 ff., ist die Mechanik die letzte Naturwissenschaft, weil in ihren Begriffen nichts mehr von der Anschaulichkeit der Wirklichkeit enthalten ist. Als Ideal der Naturwissenschaften ist sie reine Begriffswissenschaft. 22  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  45 ff. und 48.

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lichen Wertbeziehungen „deutet“ und so der kausalen Arbeit der Geschichte „Aufgaben“ stellt, also ihre Voraussetzung wird. Der Begriff der „Kultur“ eines konkreten Volkes und Zeitalters, der Begriff des „Christentums“, des „Faust“, aber – was leichter übersehen wirdd – auch z. B. der Begriff „Deutschland“ usw. sind, als Objekte historischer Arbeit gebildet, individuelle Wertbegriffe, d. h. durch Beziehungen zu Wertideen geformt. | Wenn wir nun, um auch dies zu berühren, diese Wertungen selbst, mit denen wir an die Tatsachen treten, zum Gegenstand der Analyse machen, so treiben wir – je nach dem Erkenntnisziel – entweder Geschichtsphilosophie23 oder Psychologie des „historischen Interesses“. Wenn wir dagegen ein konkretes Objekt „wertanalysierend“ behandeln, d. h. in seiner Eigenart derart „interpretieren“, daß uns die möglichen Wertungen seiner „suggestiv“ nahegebracht werden, ein „Nacherleben“,24 wie man es (freilich sehr inkorrekt) zu nennen pflegt, einer Kulturschöpfung beabsichtigt wird, so ist das – darin steckt der „berechtigte Kern“ von E[duard] M[eyer]s Formulierung – noch keine „historische“ Arbeit, aber es ist allerdings die ganz unvermeidliche „forma formans“25 für das historische „Interesse“ an einem Objekt, für dessen primäre begriffliche Formung als „Individuum“ und für die dadurch erst sinnvoll mögliche kausale Arbeit der Geschichte. In noch so vielen Fällen mögen – wie dies bei politischen Gemeinschaften, zumal dem eigenen Staat, am Anfang aller „Geschichte“ geschieht – die anerzogenen Alltags-Wertungen das Objekt geformt und der historischen Arbeit ihre Straße gepflastert haben, und der Historiker mag also glauben, bei diesen handfesten „Objekten“, die anscheinend – aber auch freilich eben nur dem Anschein nach und nur für den gewöhnlichen „Hausgebrauch“ – keiner besonderen „Wert-Interpretation“ mehr bedürfen, auf seinem „eigentlichen“ Gebiet zu sein: so bald er die breite Landstraße verlassen und große neue Einsichten auch in die politische „Eigenart“ eines Staates oder politischen Genius gewinnen will, muß er auch hier, dem logischen Prinzip nach, gerade so verfahren wie ein Faust-Interpret. d A: wird,   23  Vgl. oben, S.  433 mit Anm.  93. 24  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  178 mit Anm.  16. 25  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  93, Fn.  87 mit Anm.  33.

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Aber freilich, darin hat E[duard] M[eyer] Recht: wo die Analyse im Stadium einer solchen „Deutung“ des „Eigenwertes“ des Objekts bleibt, die kausale Zurechnungsarbeit beiseite gelassen und das Objekt auch nicht der Fragestellung: was es kausal, mit Rücksicht auf andere, umfassendere, gegenwärtigere, Kulturobjekte kausal „bedeutet“, unterzogen wird, – da ist die historische Arbeit nicht ins Rollen gekommen[,] und der Historiker kann hier nur Bausteine zu historischen Problemen sehen. Nur die Art der Begründung seines Standpunktes ist meines Erachtens nicht haltbar. Wenn E[duard] M[eyer] insbesondere in der „zuständlichen“,26 „systematischen“27 Behandlung eines Stoffes den prinzipiellen Gegensatz gegen die Historik erblickt und wenn z. B. auch Rickert – nachdem er früher in dem „Systematischen“ das spezifisch „Naturwissenschaftliche“, auch auf dem Gebiet des „sozialen“ und „geistigen“ Lebens, im Gegensatz zu den „historischen Kulturwissenschaften“, erblickt hatte,28 – neuerdings den Begriff der „syste­ matischen Kulturwissenschaften“ aufgestellt hat,29 – so wird es die Aufgabe sein, weiterhin in einem besonderen Abschnitt30 die Frage aufzuwerfen: was eigentlich „Systematik“ alles bedeuten kann und in welchen verschiedenen Beziehungen ihre verschiedenen Arten zur ge|schichtlichen Betrachtung und zu den „Naturwissenschaften“ stehen.24a) Die von E[duard] M[eyer] als „philologische 24a) Dann erst treten wir auch in eine Erörterung der verschiedenen möglichen Prinzipien einer „Klassifikation“ der „Wissenschaften“ ein.

26  Vgl. Meyer, Theorie, S.  55. 27  Für Meyer, ebd., S.  1, ist die Geschichte „keine systematische Wissenschaft“. 28  Möglicherweise referiert Weber auf Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  9; Rickert, Grenzen, S.  188 f., 247. Vgl. auch ebd., S.  24, wo Rickert feststellt, daß es ihm „nicht um eine systematische Logik der historischen Wissenschaften oder um ein System der Geschichtsphilosophie im Sinne einer Philosophie als Wissenschaftslehre“ gehe. Vgl. auch oben, S.  405 mit Anm.  88. 29  Für Rickert, Geschichtsphilosophie (wie oben, S.  350, Anm.  2), S.  88, „kann das Kulturleben trotz der Wertbeziehung einer generalisierenden Darstellung unterworfen werden. Ja, ganz abgesehen von der Psychologie, sind viele der sogenannten Geisteswissenschaften, wie z. B. die Sprachwissenschaft, die Jurisprudenz, die Nationalökonomie, wenigstens zum Teil, gewiß nicht historische, sondern systematische Kulturwissenschaften, deren Methode nicht mit der der generalisierenden Naturwissenschaften zusammenzufallen braucht“. Vgl. den Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 28. April 1905, MWG II/4, S.  476–479, hier S.  478 f. 30 Ein entsprechender Text ist nicht überliefert; zu den weiteren Schreibabsichten vgl. den Editorischen Bericht, oben, S.  382.

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Methode“31 bezeichnete Behandlung der Kultur des Altertums, speziell der hellenischen, die Form der „Altertumskunde“[,] ist ja zunächst durch die sprachlichen Voraussetzungen der Materialbeherrschung praktisch herbeigeführt. Aber sie ist nicht nur durch sie bedingt, sondern auch durch die Eigenart bestimmter hervorragender Forscher und vor allem durch die „Bedeutung“, welche die Kultur des klassischen Altertums bisher für unsere eigene Geistesschulung gehabt hat. Versuchen wir, uns diejenigen Standpunkte, welche gegenüber der Kultur des Altertums prinzipiell möglich sind, in radikaler und deshalb auch rein theoretischer Fassung zu formulieren. 1. Die eine würde die Vorstellung von der absoluten Wertgeltung der antiken Kultur sein, deren Ausprägungen im Humanismus, dann etwa bei Winckelmanne 32 und schließlich in allen Spielarten des sogenannten „Klassizismus“ hier nicht zu untersuchen sind. Antike Kulturbestandteile sind nach dieser Auffassung, wenn wir sie in ihre letzten Konsequenzen treiben, – soweit nicht entweder die „Christlichkeit“ unserer Kultur oder die Produkte des Rationalismus „Ergänzungen“ und „Umbildungen“ gebracht haben, – wenigstens virtuelle Bestandteile „der“ Kultur schlechthin, nicht weil sie „kausal“ in E[duard] M[eyer]s Sinn gewirkt haben, sondern weil sie in ihrer absoluten Wertgeltung kausal, auf unsere Erziehung, wirken sollen. Daher ist die antike Kultur in erster Linie Objekt der Interpretation in usum scholarum,33 zur Erziehung der eigenen Nation zum Kulturvolk: Die „Philologie“, in ihrem umfassendsten Begriff, als „Erkenntnis des Erkannten“,34 erkennt im Altertum etwas prinzipiell Überhistorisches, zeitlos Geltendes. 2. Die andere, moderne, würde radikal e A: Winkelmann   31  Vgl. Meyer, Theorie, S.  54 ff. 32  Vgl. z. B. Winckelmann, Johann Joachim, Geschichte der Kunst des Alterthums, 2 Bände. – Dresden: Walther 1764. 33  Lat.: im Schulgebrauch, in den Schulen. 34 Für Boeckh „ist die Philologie – oder, was dasselbe sagt, die Geschichte – Er­ kenntnis des Erkannten. Unter dem Erkannten sind dabei auch alle Vorstellungen begriffen; denn häufig sind es nur Vorstellungen, die wiedererkannt werden, z. B. in der Poesie, in der Kunst, in der politischen Geschichte, worin nur theilweise, wie in der Wissenschaft, Begriffe, im Uebrigen aber Vorstellungen niedergelegt sind, die der Philologe wiederzuerkennen hat.“ Vgl. Boeckh, August, Encyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von Ernst Bratuscheck. – Leipzig: Teubner 1877, S.  11.

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entgegengesetzt stehen: die Kultur des Altertums in ihrer wahren Eigenart steht uns so unendlich fern, daß es ganz sinnlos ist, den „Vielzuvielen“35 einen Einblick in ihr wahres „Wesen“ geben zu wollen: sie ist ein sublimes Objekt der Wertung für die Wenigen, die in eine für immer dahingegangene, in keinem wesentlichen Punkte jemals wiederholbare, höchste Form des Menschentums sich versenken, sie gewissermaßen „künstlerisch genießen“ wollen25). Und endlich 3. kommt die altertumskundliche Behandlung einer wissenschaftlichen Interessenrichtung entgegen, welcher der Quellenschatz des Altertums in erster Linie ein ungewöhnlich reichhaltiges ethnographisches Material für die Gewinnung allgemeiner Begriffe, Analogien und Entwicklungsregeln, für die Vorgeschichte nicht nur unserer, sondern „jeder“ Kultur darbietet: man denke etwa an die Entwicklung der vergleichenden Religionskunde,36 deren heutiger Auf|schwung ohne Ausbeutung der Antike mit Hilfe streng philologischer Schulung unmöglich gewesen wäre. Die Antike kommt hier insofern in Betracht, als ihr Kulturgehalt als Erkenntnismittel zur Bildung von generellen „Typen“ geeignet ist, dagegen weder, wie für die erste „Auffassung“, als dauernd gültige Kulturnorm noch, wie für die zweite, als absolut einzigartiges Objekt individueller, contemplativer Wertung. Man sieht alsbald, daß alle drei hier, wie gesagt, „theoretisch“ formulierten Auffassungen für ihre Zwecke an der Behandlung der 25)  Dies dürfte wohl die „esoterische“ Lehre von U[lrich] v. Wilamowitz sein,37 gegen den sich ja E[duard] M[eyer]s Angriff in erster Linie richtet.38 |

35  Vgl. Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. – Leipzig: C. G. Naumann 1901, S.  70: „Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüssigen ward der Staat erfunden! Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zuVielen! Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut!“ 36  Vgl. z. B. die Studie des Begründers der vergleichenden Religionswissenschaft: Müller, Friedrich Max, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft. – Straßburg: Trübner 1874. Vgl. auch Hardy, Edmund, Zur Geschichte der vergleichenden Religionsforschung, in: Archiv für Religionswissenschaft, Band 4, 1901, S.  45–66, 97– 135, 193–228. 37 Den Begriff „esoterische Lehre” verwendet Wilamowitz-Moellendorf, Tragoedie (wie oben, S.  3, Anm.  13), S.  162, 230. Vgl. auch Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von, Aristoteles und Athen, Band 1. – Berlin: Weidmann 1893, S.  320. 38  Vgl. Meyer, Theorie, S.  54 f. Vgl. schon Below, Meyer (wie oben, S.  395, Anm.  44), S.  452: „S.  54 f. verwirft M. aufs entschiedenste die Vereinigung der alten Geschichte mit der klassischen Philologie unter der Firma der ‚Altertumswissenschaft‘. Seine Polemik richtet sich, wie man leicht erkennt, gegen U. v. Wilamowitz-Möllendorf und gegen Einrichtungen der Berliner Universität.“

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antiken Geschichte in Form der „Altertumskunde“ interessiert sind, und sieht auch ohne Kommentar, daß das Interesse des Historikers bei jeder von ihnen in der Tat zu kurz kommt, da sie alle drei etwas anderes als „Geschichte“ zum primären Zweck haben. Allein wenn andrerseits E[duard] M[eyer] ernstlich alles vom Standpunkt der Gegenwart aus historisch nicht mehr „Wirksame“ aus der Geschichte des Altertums ausmerzen wollte, würde gerade er, in den Augen aller derjenigen, welche im Altertum mehr als nur eine historische „Ursache“ suchen, seinen Gegnern recht geben. Und alle Freunde seines großen Werkes werden es erfreulich finden, daß er mit jenem Gedanken gar nicht Ernst machen kann, und hoffen, daß er nicht etwa einer irrtümlich formulierten Theorie zuliebe auch nur den Versuch dazu unternimmt26).

II.  Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung. „Der Ausbruch des zweiten punischen Krieges“, sagt Eduard Meyer (S.  16),39 „ist die Folge eines Willensentschlusses Hannibals, der des Siebenjährigen Krieges Friedrichs des Großen, der des Krieges von 1866 Bismarcks. Sie alle hätten sich auch anders entscheiden können, und andere Persönlichkeiten würden .... sich anders entschieden haben; die Folge würde gewesen sein, daß der Verlauf der Geschichte ein anderer geworden wäre.“ „Damit soll“ – fügt er in der Fußnote 2 hinzu, „weder behauptet noch bestritten werden, daß es in diesem Fall nicht zu den betreffenden Kriegen gekommen wäre; das ist eine völlig unbeantwortbare und müßige 26) Die Breite der vorstehenden Erörterungen steht offenbar in durchaus gar kei- A 185 nem Verhältnis mit dem, was unmittelbar praktisch für die „Methodologie“ dabei „herauskommt“. Wer sie aus diesem Grund für „müßig“ hält, dem kann nur empfohlen werden, die Frage nach dem „Sinn“ des Erkennens einfach beiseite zu lassen und sich zu begnügen, durch praktische Arbeit „wertvolle“ Erkenntnisse zu gewinnen. Es sind nicht die Historiker, welche jene Fragen aufgerollt haben, sondern diejenigen, welche die verkehrte Behauptung aufstellten und noch jetzt fortgesetzt variieren, „wissenschaftliche Erkenntnis“ sei mit „Findung von Gesetzen“ identisch.40 Das ist nun einmal eine Frage nach dem „Sinn“ des Erkennens. |

39  Meyer, Theorie, S.  16. Der Zweite Punische Krieg begann 218 v. Chr., der Siebenjährige Krieg 1756. 40  Weber meint u. a. Eulenburg. Vgl. oben, S.  430, Fn.  23 mit Anm.  86.

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Frage.“ Abgesehen von dem schiefen Ver|hältnis, in welchem der zweite Satz gegen E[uard] M[eyer]s früher besprochene Formulierungen über die Beziehungen von „Freiheit“ und „Notwendigkeit“ in der Geschichte steht,41 ist hier vor allem die Ansicht zu beanstanden, daß Fragen, welche wir nicht oder nicht sicher beantworten können, um deswillen schon „müßige“ Fragen seien. Es stände übel auch um die empirische Wissenschaft, wenn jene höchsten Probleme, auf welche sie keine Antwort gibt, niemals aufgeworfen worden wären. Um solche „letzten“ Probleme handelt es sich hier nun freilich nicht, sondern allerdings um eine einerseits durch die Ereignisse „überholte“, andererseits nach Lage unseres wirklichen und möglichen Wissens in der Tat positiv nicht eindeutig zu beantwortende Frage, welche überdies, vom strikt „deterministischen“42 Standpunkt aus betrachtet, die Folgen von etwas erörtert, was „unmöglich“ war nach Lage der „Determinanten“. Und trotz alledem ist diese Fragestellung: was hätte werden können, wenn z. B. Bismarck den Entschluß zum Kriege nicht gefunden hätte, durchaus keine „müßige“. Denn eben sie betrifft ja das für die historische Formung der Wirklichkeit Entscheidende: welche kausale Bedeutung diesem individuellen Entschluß innerhalb der Gesamtheit der unendlich zahlreichen „Momente“,43 die alle gerade so und nicht anders gelagert sein mußten, damit gerade dies Resultat daraus entstand, eigentlich zuzuschätzen ist und welche Stelle ihm also in der historischen Darstellung zukommt. Will die Geschichte über den Rang einer bloßen Chronik44 merkwürdiger Begebenheiten und Persönlichkeiten sich erheben, so bleibt ihr ja gar kein anderer Weg, als die Stellung ebensolcher Fragen. Und sie ist auch, solange sie Wissenschaft ist, so verfahren. Dies ist ja an E[duard] M[eyer]s früher wiedergegebener Formulierung:45 daß die Geschichte die Ereignisse vom Standpunkt des „Werdens“ aus betrachte und daher ihr Objekt der „Notwendigkeit“, die dem „Gewordenen“ eigne, nicht unterstehe, das Richtige, daß der Historiker bei der Würdigung der kausalen Bedeutung eines konkreten Ereignisses ähnlich verfährt, wie der stellungnehmende und wol41  Oben, S.  390 ff. 42  Zu dem von Laplace begründeten Determinismus vgl. Einleitung, oben, S.  2. 43  Vgl. Kries, Möglichkeit, S.  22 [197]. 44  Über die „endlose Manier der Chronik“ vgl. schon Gervinus, Historik, S.  382. 45  Oben, S.  391 f.

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lende historische Mensch, der niemals „handeln“ würde, wenn ihm sein eigenes Handeln als „notwendig“ und nicht als nur „möglich“ erschiene27). Der Unterschied ist nur dieser: der handelnde Mensch erwägt, soweit er streng „rational“ handelt – was wir hier annehmen –, die „außerhalb“ seiner liegenden, nach Maßgabe seiner Kenntnis in der Wirklichkeit gegebenen, „Bedingungen“ der ihn interessierenden Zukunftsentwicklung und schaltet nun gedanklich verschiedene „mögliche“ Arten seines eigenen Verhaltens und deren, in Verbindung mit jenen „äußeren“ Bedingungen zu erwar­ tendenf Erfolge in den Kausalnexus ein, um dann je nach deng dergestalt (gedanklich) ermittelten „möglichen“ Ergebnissen sich für die eine oder die andere | Verhaltungsweise, als die seinem „Zweck“ entsprechende, zu entscheiden. Der Historiker nun ist seinem Helden zunächst darin überlegen, daß er jedenfalls a posteriori weiß, ob die Abschätzung der gegebenen „außerhalb“ desselbenh vorhanden gewesenen Bedingungen auch tatsächlich den Kenntnissen und Erwartungen, welche der Handelnde hegte, entsprachen: dies lehrt ja der faktische „Erfolg“ des Handelns. Und bei demjenigen idealen Maximum an Kenntnis jener Bedingungen, welches wir hier, wo es sich ja lediglich um die Aufhellung logischer Fragen handelt, einmal theoretisch zugrunde legen wollen und dürfen, – mag es in Wirklichkeit noch so selten, vielleicht nie, erreichbar sein46 – kann er die gleiche gedankliche Erwägung, welche sein „Held“ mehr oder minder klar stellte oder „hätte stellen können“, seinerseits rückblickend vollziehen und also z. B. mit wesentlich günstigeren Chancen47 als Bismarck selbst die Frage aufwerfen: welche Folgen wären bei Fassung eines anderen Entschlusses zu „erwarten“ gewesen. Es leuchtet ein, daß diese Betrachtung sehr weit davon entfernt ist, „müßig“ zu sein. E[uard] M[eyer] selbst

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27) Dies bleibt gegenüber der Kritik Kistiakowskis a. a. O. S.  39348 richtig, welche die­ A 186 sen Begriff der „Möglichkeit“ gar nicht trifft. |

f A: erwartende  g A: dem  h A: derselben   46  Im Unterschied zum Laplaceschen Dämon kann der menschliche Geist die Anfangsbedingungen nie alle kennen. Sein ontologisches Wissen bleibt stets unvollständig. Vgl. Einleitung, oben, S.  20. 47  Vgl. unten, S.  472 mit Anm.  41. 48  Kistjakovskij, Russkaja sociologicˇeskja. Vgl. oben, S.  404, Fn.  15 mit Anm.  85.

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wendet (S.  43) genau dies Verfahren auf jene beiden Schüsse an, welche in den Berliner Märztagen49 den Ausbruch des Straßenkampfes unmittelbar provozierten. Die Frage nach ihrer Entstehung, meint er, sei „historisch irrelevant“. Warum irrelevanter als die Erörterung der Entschlüsse Hannibals, Friedrichs des Großen, Bismarcks? „Die Dinge lagen so, daß irgendein beliebiger Zufall den Konflikt zum Ausbruch bringen mußte“(!).50 Man sieht, hier ist von E[duard] M[eyer] selbst die angeblich „müßige“ Frage beantwortet, was ohne jene Schüsse geschehen „wäre“, und dadurch ist deren historische „Bedeutung“ (in diesem Fall: ihre Irrelevanz) entschieden worden. Bei den Entschlüssen Hannibals, Friedrichs, Bismarcks „lagen“ dagegen offenbar, wenigstens nach E[duard] M[eyer]s Ansicht, „die Dinge“ anders und zwar nicht so, daß der Konflikt, sei es überhaupt, sei es unter den damaligen konkreten politischen Konstellationen,51 welche seinen Verlauf und Ausgang bestimmten, zum Ausbruch gekommen wäre, wenn der Entschluß anders ausfieli. Denn sonst wäre ja dieser Entschluß historisch so bedeutungslos wie jene Schüsse. Das Urteil, daß, wenn eine einzelne historische Tatsache in einem Komplex von historischen Bedingungen fehlend oder abgeändert gedacht wird,52 dies einen in bestimmten, historisch wichtigen Beziehungen abgeänderten Verlauf der historischen Ereignisse bedingt haben würde, scheint also doch für die Feststellung der „historischen Bedeutung“ jener Tatsache von erheblichem Wert zu sein, mag auch der Historiker in praxi nur ausnahmsweise, nämlich im Fall der Strittigkeit eben jener „historischen Bedeutung“, veranlaßt sein, jenes Urteil bewußt und ausdrücklich zu entwickeln und zu begründen. Es ist klar, daß dieser Umstand zu einer Betrachtung des logischen Wesens solcher Urteile, welche aussagen, welcher Erfolg bei Fortlassung oder Abänderung einer kausalen Einzelkomponente aus einem Komplex von Bedingungen zu er|warten gewesen „wäre“, und ihrer i  Zu erwarten wäre: ausgefallen wäre   49  Meyer, Theorie, S.  43, spricht von „Berliner Märzrevolution“ 1848. Vgl. aber Busch, Wilhelm, Die Berliner Märztage. Die Ereignisse und ihre Überlieferung. – München und Leipzig: R. Oldenbourg 1899. 50  Meyer, Theorie, S.  43 (ohne Hervorhebung). 51  Zum Begriff „Konstellation“ vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  177 mit Anm.  9. 52  Vgl. unten, S.  456 ff.

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Bedeutung für die Geschichte hätte auffordern müssen. Wir wollen versuchen, uns darüber etwas klarer zu werden. Wie sehr die Geschichtslogik28) noch im argen liegt, zeigt sich u. a. auch darin, daß über diese wichtige Frage weder Historiker, noch Methodologen der Geschichte, sondern Vertreter weit abliegender Fächer die maßgebenden Untersuchungen angestellt haben. Die Theorie der sogenannten „objektiven Möglichkeit“, um welche es sich hier handelt, beruht auf den Arbeiten des ausgezeichneten Physiologen v. Kries29) und die gebräuchliche Verwendung dieses Begriffs auf den an v. Kries sich anschließenden oder ihn kritisierenden Arbeiten in erster Linie kriminalistischer, in zweiter andererj juristischer Schriftsteller, speziell Merkel,53 Rümelin,54 28) Die weiterhin erörterten Kategorien finden, wie ausdrücklich bemerkt sein mag, A 188 nicht etwa nur auf dem Gebiet der üblicherweise so genannten Fachdisziplin der „Geschichte“ ihre Anwendung, sondern bei der „historischen“ Zurechnung jedes individuellen Ereignisses, auch eines solchen der „toten Natur“. Die Kategorie des „Historischen“ ist hier ein logischer, nicht fachtechnischer Begriff. 29)  Über den Begriff der objektiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, Leipzig 1888.55 Wichtige Ausgangspunkte dieser Erörterungen sind von v. Kries zuerst in seinen „Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung“ niedergelegt worden.56 Es sei hier von vornherein bemerkt, daß nach der Natur des historischen „Objekts“ nur die allerelementarsten Bestandteile der v. Kriesschen Theorie für die Geschichtsmethodologie Bedeutung haben. Die Übernahme von Prinzipien der im strengen Sinn sogen. „Wahrscheinlichkeitsrechnung“ kommt für die kausale Arbeit der Geschichte nicht nur, selbstverständlich, nicht in Betracht, sondern schon der Versuch einer analogen Verwertung ihrer Gesichtspunkte erheischt große Vorsicht.57

j A: andere   53 Vgl. Merkel, Adolf, Lehrbuch des deutschen Strafrechts. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1889, S.  99 ff. 54  Vgl. Rümelin, Max, Der Zufall im Recht. Akademische Antrittsrede. – Freiburg i. B. und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1896. 55  Kries, Möglichkeit. Weber benutzt einen Separatdruck, der mit dem Abdruck in der Zeitschrift text-, aber nicht seitenidentisch ist. Die Seiten werden daher durchweg doppelt nachgewiesen: die der Zeitschrift in eckigen Klammern. 56  Kries, Principien. 57  Kries, ebd., entwickelt seine Theorie mit Bezug auf Zufallsspiele wie dem Würfeln. Solche Spiele sind für ihn nicht nur das „eigentliche Haupt-Gebiet der Wahrscheinlichkeits-Rechnung“ (ebd., S.  37), sondern auch „ideale Fälle“ (ebd., S.  82), mit deren Hilfe sich andere Bereiche der Wirklichkeit verstehen lassen. Kries will herausfinden, „ob irgend welche andere[n] Gebiete etwas Aehnliches zeigen“, ob sie sich, mit anderen Worten, „einem gewöhnlichen Zufalls-Spiele analog verhalte[n]“ (ebd., S.  73, 140; vgl. auch S.  24, 47). Die Anwendung seiner Theorie impliziert also in jedem Fall Analogien.

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Liepmann,58 und neustens, Radbruch.30) In der Methodologie der Sozialwissenschaften ist bisher die Kriessche Gedankenreihe vorerst nur in der Statistik übernommen worden.31) Daß | gerade die

30)  Die am tiefsten eingreifende Kritik hat bisher Radbruch (Die Lehre von der adäquaten Verursachung, Bd.  1 N. F. Heft 3 der Abhandlungen des v. Lisztschen Seminars; – bei ihm die wichtigste sonstige Literatur)59 an der Verwertung der v. Kriesschen Theorie für juristische Probleme geübt. Seiner prinzipiellen Zergliederung des Begriffes der „adäquaten Verursachung“ wird erst weiterhin Rechnung getragen werden können, nachdem zunächst die Theorie in möglichst einfacher (und deshalb, wie sich zeigen wird, nur provisorischer, nicht endgültiger) Formulierung vorgetragen ist. 31)  Sehr eng berührt sich mit den statistischen Theorien von v. Kries unter den Theoretikern der Statistik L[adislaus] v. Bortkiewitsch, Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Conrads Jahrbücher, 3. Folge XVII60 (vgl. auch Bd.  XVIII)61 und: Die Theorie der Bevölkerungs- und Moralstatistik nach Lexis (ebenda Bd.  XXVII).62 Auf dem Boden der v. Kriesschen Theorie steht ferner A[lexander] Tschuprow, dessen Artikel über Moralstatistik im Brockhaus-EphronA 189 schen Enzyklopädischen | Wörterbuch mir leider nicht zugänglich war.63 Vgl. seinen Artikel über die Aufgaben der Theorie der Statistik in Schmollers Jahrbuch 1905 S.  421 f.64 Der Kritik Th[eodor] Kistiakowskis (in dem früher angeführten Aufsatz in den „Problemen des Idealismus“ S.  378 ff.),65 die freilich vorerst nur, unter Vorbehalt der näheren Ausführung, skizziert vorliegt, kann ich nicht beitreten.66 Er wirft (S.  379) der Theorie zunächst die Verwendung eines falschen, auf der Millschen Logik beruhenden Ursachenbegriffes vor, speziell den Gebrauch der Kategorie der „zusammengesetzten“ und der „Teilursache“, welcher seinerseits wieder auf einer anthropomorphen Deutung der Kausalität (im Sinn des „Wirkens“) beruhe (das letztere deutet auch Radbruch a. a. O. S.  22 an).67 Allein der Gedanke des „Wirkens“ oder, wie man es farbloser, aber dem Sinn nach durchaus identisch, auch ausgedrückt hat: des „kausalen Bandes“,68 ist von jeder Kausalbetrachtung, welche auf individuelle qualitative Veränderungsreihen reflektiert, durchaus unzertrennlich. Davon, daß er nicht mit unnötigen und bedenklichen metaphysischen Voraussetzungen belastet werden darf (und auch

58  Vgl. Liepmann, Strafrecht, S.  67 ff. 59  Radbruch, Verursachung. 60  Bortkiewicz, Grundlagen. 61  Bortkiewicz, Entgegnung. 62  Bortkiewicz, Theorie. 63 Cˇuprov, Nravstvennaja statistika. Weber bat am 26. Oktober 1905 Bortkiewicz, ihm einen Sonderabzug dieses Artikels zu leihen (vgl. MWG II/4, S.  574). Am 2. November 1905 antwortete er Bortkiewicz, er sehe, daß er sich die Lektüre dieses Artikels sparen könne (vgl. ebd., S.  583). 64  Tschuprow, Aufgaben, S.  421–480. 65  Kistjakovskij, Russkaja sociologicˇeskja. Vgl. oben, S.  404, Fn.  15 mit Anm.  85. 66  Weber teilte Bortkiewicz mit, daß er diese Kritik an Kries unzulänglich finde. Vgl. den Brief von Max Weber an Ladislaus von Bortkiewicz vom 26. Okt. 1905, MWG II/4, S.  574. 67  Vgl. Radbruch, Verursachung, S.  22. 68  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  420. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  365 mit Anm.  54 und 55.

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Juristen, in erster Linie die Kriminalisten, das Problem behandelten, ist naturgemäß, da die Frage nach der strafrechtlichen Schuld, insoweit sie das Problem enthält: unter welchen Umständen man behaupten könne, daß jemand durch sein Handeln einen bestimmten äußeren Erfolg „verursacht“ habe, reine Kausalitätsfrage ist, – und zwar offenbar von der gleichen logischen Struktur, wie die historische Kausalitätsfrage. Denn ebenso wie die Geschichte sind die Probleme der praktischen sozialen Beziehungen der Menschen zueinander und insbesondere der Rechtspflege „anthropozentrisch“ orientiert, d. h. sie | fragen nach der kausalen Bedeutung menschlicher „Handlungen“. Und ebenso wie bei der Frage nach der ursächlichen Bedingtheit eines konkreten, eventuell strafrechtlich zu sühnenden oder zivilrechtlich zu ersetzenden schädigenden nicht muß), wird später die Rede sein.69 (Siehe über Ursachenpluralität und Elementarursachen die Darlegungen Tschuprows a. a. O. S.  436).70 Hier sei nur noch bemerkt: die „Möglichkeit“ ist eine „formende“ Kategorie, d. h. sie tritt in der Art in Funktion, daß sie die Auslese der in die historische Darstellung aufzunehmenden kausalen Glieder bestimmt. Der historisch geformte Stoff enthält dagegen an „Möglichkeit“ wenigstens dem Ideal nach nichts: die geschichtliche Darstellung gelangt zwar subjektiv nur sehr selten zu Notwendigkeits-Urteilen,71 aber sie steht, objektiv, zweifellos stets unter der Voraussetzung: daß die „Ursachen“, welchen der Erfolg „zugerechnet“72 wird, – wohlgemerkt natürlich: in Verbindung mit jener Unendlichkeit von „Bedingungen“, welche als wissenschaftlich, „interesselos“ in der Darstellung nur summarisch angedeutet sind – als schlechthin „zureichende Gründe“ seines Eintrittes zu gelten haben. Daher involviert die Verwendung jener Kategorie nicht im geringsten die von der Kausalitätstheorie längst überwundene Vorstellung, als ob irgend welche Glieder realer Kausalzusammenhänge bis zu ihrem Eintritte in die ursächliche Verkettung gewissermaßen „in der Schwebe“ gewesen wären. Den Gegensatz seiner Theorie gegen diejenige J[ohn] St[uart] Mills hat v. Kries selbst (a. a. O. S.  107)73 in m. E. durchaus überzeugender Weise dargelegt. Darüber s. weiter unten.74 Richtig ist nur, daß auch Mill die Kategorie der objektiven Möglichkeit erörtert und dabei gelegentlich auch (s[iehe] Werke, deutsche Ausg[abe] v[on] Gomperz, III S.  262) den Begriff der „adäquaten Verursachung“ gebildet hat.75 | 69  Unten, S.  477 ff. 70  Vgl. Tschuprow, Aufgaben, S.  435 f. 71  Für Kries kann der menschliche Geist aufgrund der Unvollständigkeit seines ontologischen Wissens die Notwendigkeit des Eintritts eines Ereignisses nie feststellen. Vgl. Einleitung, oben, S.  20. 72  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  185 mit Anm.  39. 73  Vgl. Kries, Möglichkeit, S.  107 ff. [397 ff.]. 74  Unten, S.  476 f. 75  Vgl. Mill, System II, S.  262: „Für Jeden, der da glaubt, daß jedes Ereigniß von Ursachen abhängt, ist die Thatsache, daß etwas ein Mal geschehen ist, ein Grund es wieder zu erwarten, einfach darum, weil dies beweist, daß eine seiner Erzeugung adäquate Ursache vorhanden ist oder eventuell vorhanden sein wird.“

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Erfolges, richtet sich auch das Kausalitätsproblem des Historikers stets auf die Zurechnung76 konkreter Erfolge zu konkreten Ursachen, nicht auf die Ergründung abstrakter „Gesetzlichkeiten“.77 Von dem gemeinsamen Wege biegt die Jurisprudenz, speziell die Kriminalistik[,] zu einer ihr spezifischen Problemstellung allerdings wieder ab infolge des Hinzutretens der weiteren Frage: ob und wann die objektive, rein kausale, Zurechnung des Erfolges zu der Handlung eines Individuums auch zu deren Qualifizierung als seiner subjektiven „Schuld“ ausreichend sei. Denn diese Frage ist nicht mehr ein rein kausales, durch bloße Feststellung „objektiv“, durch Wahrnehmung und kausale Deutung, zu ermittelnder Tatsachen lösbares Problem, sondern ein solches der an ethischen und anderen Werten orientierten Kriminalpolitik.78 Denn es ist a priori möglich und tatsächlich häufig, heute regelmäßig, der Fall, daß der ausdrücklich ausgesprochene oder durch Interpretation zu ermittelnde Sinn der Rechtsnormen dahin geht, daß das Vorhandensein einer „Schuld“ im Sinne des betreffenden Rechtssatzes in erster Linie von gewissen subjektiven Tatbeständen auf Seite des Handelnden (Absicht, subjektiv bedingtes „Voraussehenkönnen“ des Erfolges u. dgl.) abhängen solle, und dadurch kann die Bedeutung der kategorialen Unterschiede der kausalen Verknüpfungsweise erheblich alteriert werden.32) Allein auf den ersten Stadien der A 190

32) Das moderne Recht richtet sich gegen den Täter, nicht die Tat (cf. Radbruch a. a. O. S.  62)79 und fragt nach der subjektiven „Schuld“, während die Geschichte, solange sie empirische Wissenschaft bleiben will, nach den „objektiven“ Gründen konkreter Vorgänge und nach der Folge konkreter „Taten“ fragt, nicht aber über den „Täter“ zu Gericht sitzen will. Die Kritik Radbruchs gegen v. Kries fußt ganz mit Recht auf jenem grundlegenden Prinzip des modernen – nicht jeden – Rechts. Daher gesteht er aber selbst in den Fällen der sogen. Erfolgsdelikte (S.  65), der Haftung wegen „abstrakter Einwirkungsmöglichkeit“ (S.  71), der Haftung für Gewinnausfälle, und der Haftung von „Zurechnungsunfähigen“, d. h. überall da, wo lediglich die „objektive“ Kausalität in Frage kommt (S.  80), die Geltung der Kriesschen Lehre zu. In gleicher logischer Lage mit jenen Fällen befindet sich aber eben die Geschichte. |

76  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  185 mit Anm.  39. 77 Im Gefolge von Windelband und Rickert sind laut Weber für die Geschichtsund die Kulturwissenschaft Gesetze nicht Zweck, sondern Mittel der Erkenntnis. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  181, 185. Dasselbe gilt für Idealtypen. Vgl. ebd., oben, S.  206. Vgl. auch den Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 9. April 1905, MWG II/4, S.  454 f., hier S.  454. 78  Vgl. oben, S.  396, Fn.  7, mit Bezug auf Windelband, Willensfreiheit, S.  203 ff. 79  Radbruch, Verursachung, S.  62.

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Erörterung hat dieser Unterschied des Untersuchungszwecks noch keine Bedeutung. Wir fragen zunächst, durchaus gemeinsam mit der juristischen Theorie: wie ist eine Zurechnung eines konkreten „Erfolges“ zu einer einzelnen „Ursache“ überhaupt prinzipiell möglich und vollziehbar angesichts dessen, daß in Wahrheit stets eine Unendlichkeit von ursächlichen Momenten80 das Zustandekommen des einzelnen „Vorgangs“ bedingt hatk, und daß für das Zustandekommen des Erfolges in seiner konkreten Gestalt ja | schlechthin alle jene einzelnen ursächlichen Momente unentbehrlich waren?81 Die Möglichkeit einer Auslese unter der Unendlichkeit derl Determinanten ist nun zunächst durch die Art unseres historischen Interesses82 bedingt. Wenn man sagt, daß die Geschichte die konkrete Wirklichkeit eines „Ereignisses“ in seiner Individualität kausal zu verstehen habe, so ist damit, wie wir schon sahen,83 selbstverständlich nicht gemeint, daß sie dasselbe in der Gesamtheit seiner individuellen Qualitäten unverkürzt zu „reproduzieren“ und kausal zu erklären habe: das wäre eine nicht nur faktisch unmög­ liche, sondern prinzipiell sinnlose Aufgabe. Sondern es kommt der Geschichte ausschließlich auf die kausale Erklärung derjenigen „Bestandteile“ und „Seiten“ des betreffenden Ereignisses an, welche unter bestimmten Gesichtspunkten von „allgemeiner Bedeutung“ und deshalb von historischem Interessem sind, genau ebenso, wie für die Erwägungen des Richters nicht der gesamte individuelle Ablauf des Geschehnisses, sondern die für die Subsumtion unter die Normen wesentlichen Bestandteile desselben allein in Betracht kommen. Ihn interessiert, – ganz abgesehen von der Unendlichkeit „absolut“ trivialer Einzelheiten – nicht einmal alles, was für andere naturwissenschaftliche, historische, künstlerische Betrachtungsweisen von Interesse sein kann: nicht, ob der tödliche Stich den Tod unter Nebenerscheinungen „herbeiführte“, die für den Physiologen recht interessant sein mögen, nicht[,] ob die Pose des Toten oder des Mörders ein geeigneter Gegenstand künstlerik A: haben  l A: des  m A: Intesesse   80  Vgl. oben, S.  448 mit Anm.  43. 81  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  184 mit Anm.  34. 82  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  256 mit Anm.  57. 83  Oben, S.  405 ff.

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scher Darstellung hätte sein können, nicht, ob etwa der Tod einem unbeteiligten „Hintermann“ in der Beamtenhierarchie zum „Aufrücken“ half, also, von dessen Standpunkt aus, kausal „wertvoll“ wurde, oder aber etwa Anlaß zu bestimmten sicherheitspolizeilichen Anordnungen wurde, vielleicht gar internationale Konflikte schuf und sich so „historisch“ bedeutsam zeigte.84 Das für ihn allein Relevante ist: ob die Kausalkette zwischen Stich und Tod derart gestaltet und der subjektive Habitus des Täters und sein Verhältnis zur Tat ein solches war, daß eine bestimmte strafrechtliche Norm anwendbar wird. Den Historiker andererseits interessieren z. B. am Tode Caesars weder die kriminalistischen noch die medizinischen Probleme, die der „Fall“ dargeboten haben könnte, noch die Einzelheiten des Hergangs – soweit sie nicht etwa entweder für die „Charakteristik“ Caesars, oder für die „Charakteristik“ der Parteilage in Rom – also als „Erkenntnismittel“ – oder endlich für den „politischen Effekt“ seines Todes – also als „Realursache“ – von Erheblichkeit sind.85 Sondern ihn beschäftigt daran zunächst allein der Umstand, daß der Tod gerade damals[,] unter einer konkreten politischen Konstellation, eintrat[,] und er erörtert die daran anknüpfende Frage, ob dieser Umstand etwa bestimmte für den Ablauf der „Weltgeschichte“ erhebliche „Folgen“ gehabt hat. | Wie für die juristische, so ergibt sich auch für die historische Zurechnungsfrage dadurch die Ausscheidung einer Unendlichkeit von Bestandteilen des wirklichen Herganges als „kausal irrelevant“, denn ein einzelner Umstand ist, wie wir sehen, nicht nur dann unerheblich, wenn er mit dem zur Erörterung stehenden Ereignis in gar keiner Beziehung stand, dergestalt, daß wir ihn wegdenken können, ohne daß irgendeine Änderung des tatsächlichen Verlaufes eingetreten „wäre“, sondern schon dann, wenn die in 84  Vgl. Kries, Möglichkeit, S.  24 [190 f.]: „Gegenstand unserer Fragestellung ist also nicht der factisch eingetretene Erfolg in seiner vollen concreten Bestimmtheit, wie wir ihn aus dem factischen Laufe der Ereignisse durch blosse Aussonderung eines Thei­ les abgrenzen könnten, sondern eine verallgemeinerte Vorstellung, welche wir uns aus diesem bilden. Wir fragen, ob ein Moment für Jemandes Tod causal gewesen sei, und wünschen zu wissen, ob ohne dasselbe der Betreffende gleichfalls gestorben wäre, nicht aber, ob er in genau derselben Körperhaltung, an genau derselben Stelle des Zimmers gestorben wäre, nicht, mit einem Worte, ob der Vorgang des Sterbens sich in genau derselben Weise, wie es factisch der Fall war, abgespielt haben würde.“ 85  Zur Unterscheidung von Erkenntnisgrund und Realgrund vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  53 mit Anm.  63.

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concreto wesentlichenn und allein interessierendeno Bestandteile jenes Verlaufes durch ihn nicht mitverursacht erscheinen. Unsere eigentliche Frage ist ja nun aber: durch welche logischenp Operationen gewinnen wir die Einsicht und vermögen wir sie demonstrierend zu begründen, daß eine solche Kausalbeziehung zwischen jenen „wesentlichen“ Bestandteilen des Erfolges und bestimmten Bestandteilen aus der Unendlichkeit determinierender Momente vorliegt. Offenbar nicht durch einfache „Beobachtung“86 des Herganges, – dann jedenfalls nicht, wenn man darunter ein „voraussetzungsloses“,87 geistiges „Photographieren“ aller in dem fraglichen Raum- und Zeitabschnitt vorgefallenen physischen und psychischen Hergänge versteht – selbst wenn ein solches möglich wäre. Sondern die kausale Zurechnung vollzieht sich in Gestalt eines Gedankenprozesses, welcher eine Serie von Abstraktionen enthält.88 Die erste und entscheidende ist nun eben die, daß wir von den tatsächlichen kausalen Komponenten des Verlaufs eine oder einige in bestimmter Richtung abgeändert denken und uns fragen, ob unter den dergestalt abgeänderten Bedingungen des Hergangs der (in den „wesentlichen“ Punkten) gleiche Erfolg oder welcher andere „zu erwarten gewesen“ wäre.89 Nehmen wir ein Beispiel aus Eduard Meyers eigener Praxis. Niemand hat so plastisch und klar wie er die welthistorische „Tragweite“ der Perserkriege für die abendländische Kulturentwicklung klargelegt.90 Wie aber geschieht dies, logisch betrachtet? Im wesentlichen, indem n A: wesentliche  o A: interessierende  p A: logische   86  Weber folgt hier Kries, Möglichkeit, S.  22 [197]. 87  Zur „Voraussetzungslosigkeit“ vgl. auch Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  100 mit Anm.  67. 88  Vgl. Einleitung, oben, S.  16 f. 89  Kries, Möglichkeit, S.  23 [198] unterscheidet, ob es sich bei der jeweiligen Bedingung um einen „realen Gegenstand“ oder um ein „Verhalten“ handelt. Einen Gegenstand kann man „einfach fortdenken“; ein Verhalten muss „abgeändert gedacht werden“: „an Stelle der Bedingungen X, welche thatsächlich vorhanden waren, sollen die Bedingungen X‘ gedacht werden, welche sich aus jenen durch eine bestimmte Modification ergeben würden. […] Gegenstand der Frage ist nun hier fast immer, ob die in der besagten Weise modificirten Bedingungen den Erfolg ebenfalls herbeigeführt haben würden oder nicht. […] Wir werden das Moment ein für den Erfolg causales nennen, wenn sich behaupten lässt, dass der Erfolg ‚ohne dasselbe‘, wie wir kurz zu sagen pflegen, d. h. bei der betreffenden Variirung der Bedingungen nicht eingetreten wäre.“ 90  Vgl. Meyer, Geschichte III, S.  237 ff.

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entwickelt wird, daß zwischen den beiden „Möglichkeiten“: Entfaltung einer theokratisch-religiösen Kultur, deren Ansätze in den Mysterien und Orakeln vorlagen, unter der Ägide des persischen Protektorats, welches möglichst überall, so bei den Juden, die nationale Religion als Herrschaftsmittel nutzte, auf der einen Seite, und dem Siege der diesseitig gewendeten, freien hellenischen Geisteswelt, welche uns jene Kulturwerte schenkte, vonq denen wir noch heute zehren, die „Entscheidung“ fiel durch ein Gefecht von den winzigen Dimensionen der „Schlacht“ bei Marathon,91 welche ja die unerläßliche „Vorbedingung“ der Entstehung der attischen Flotte und also des weiteren Verlaufes des Freiheitskampfes, der Rettung der Selbständigkeit der hellenischen Kultur, der positiven Anregung zu dem Beginn der spezifisch abendländischen Historiographie, der Vollentwicklung des Dramas und all jenes einzigartigen Geisteslebens darstellte, welches auf dieser – rein quantitativ gemessen – Duodezbühne der Weltgeschichte sich abspielte. | Und daß jene Schlacht die „Entscheidung“ zwischen jenen „Möglichkeiten“ brachte oder doch sehr wesentlich beeinflußte, ist offenbar der schlechthin einzige Grund, weshalb unser – die wir keine Athener sind – historisches Interesse überhaupt an ihr haftet. Ohne Abschätzung jener „Möglichkeiten“ und der unersetzlichen Kulturwerte, welche für unsere rückschauende Betrachtung an jener Entscheidung „hingen“, wäre eine Feststellung ihrer „Bedeutung“ unmöglich[,] und es wäre dann in der Tat nicht abzusehen, weshalb wir nicht sie mit einer Prügelei zwischen zwei Kaffernoder Indianerstämmen gleichwerten und also mit den stumpfsinnigen „Grundgedanken“ der Helmoltschen „Weltgeschichte“ wirklich und gründlicher Ernst machen sollten, als es in diesem „modernen“ Sammelwerk33) geschehen ist. Wenn also moderne 33) Selbstredend gilt dies Urteil nicht den einzelnen in diesem Werk92 enthaltenen Aufsätzen, unter denen sich vortreffliche, aber dann auch in der „Methode“ durchaus „altmodische“ Leistungen finden. Der Gedanke einer Art von „sozialpolitischer“ Gerechtigkeit aber, der die so schnöde vernachlässigten Indianer- und Kaffernstämme in der Geschichte gern – endlich, endlich! – doch mindestens ebenso wichtig nehmen

q A: an   91  Zur Schlacht bei Marathon (490 v. Chr.) vgl. ebd., S.  295 ff. 92  Die von Hans F. Helmolt herausgegebene „Weltgeschichte“ erschien in 1. Auflage in neun Bänden (1899–1907) und erlebte zahlreiche Auflagen.

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Historiker,93 sobald sie durch eine Sache genötigt werden, die „Bedeutung“ eines konkreten Ereignisses durch ausdrückliche Überlegung und Darlegung der „Möglichkeiten“ der Entwicklung zu umgrenzen, sich wegen ihrer Verwendung dieser scheinbar antideterministischen Kategorie zu entschuldigen pflegen, so ist das logisch ganz unbegründet. Wenn z. B. K[arl] Hampe in seinem „Conradin“ nach einer sehr lehrreichen Darlegung der historischen „Bedeutung“ der Schlacht bei Tagliacozzor,94 an der Hand der Erwägung der verschiedenen „Möglichkeiten“, zwischen welchen ihr rein „zufälliger“, d. h. durch ganz individuelle taktische Vorgänge bestimmter, Ausgang „entschied“, plötzlich einlenkend beifügt: „Aber die Geschichte kennt keine Möglichkeiten“,95 – so ist darauf zu antworten: Das, unter deterministischen Axiomen „objektiviert“ gedachte, „Geschehen“ „kennt“ sie nicht, weil es eben überhaupt keine Begriffe „kennt“, – die „Geschichte“ kennt sie immer, vorausgesetzt, daß sie Wissenschaft sein will. In jeder Zeile jeder historischen Darstellung, ja in jeder Auswahl von Archivalien und Urkunden zur Publikation, stecken „Möglichkeitsurteile“ oder richtiger: müssen sie stecken, wenn die Publikation „Erkenntniswert“ haben soll. möchte, wie etwa die Athener, und der, um diese Gerechtigkeit auch recht deutlich zu markieren, zu einer geographischen Stoffanordnung greift, ist eben kindlich.96 |

r A: Togliacozzo   93  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  74, Fn.  57; oben, S.  401 mit Anm.  74. 94  Niederlage Konradins von Hohenstaufen im Kampf gegen Karl von Anjou um das Königreich Sizilien am 23. August 1268. 95  Hampe, Konradin, S.  327: „Freilich, die Geschichte kennt kein ‚wenn‘.“ 96 Tatsächlich hat Helmolt, Weltgeschichte, S.  15, sein Konzept nicht „sozialpolitisch“, sondern methodologisch begründet: „In der Kette der gegenseitigen Beeinflussungen darf keine Lücke sein. […] Völker haben auf Nachbarn Wirkungen ausgestrahlt, von der oberflächliche Betrachtung nichts ahnt. […] Daß man von Südseeinsulanern und Negern bisher nicht viel hat wissen wollen, ist begreiflich, weil die Rollen, die diese im Drama der Menschheit gespielt haben, nicht gerade die glänzendsten gewesen sind; nicht zu entschuldigen aber ist das Verfahren, Indien, ja sämtliche Völker Ostasiens von dem Plan einer wirklichen Weltgeschichte aus­ zuschließen und die Entwickelung Amerikas kurzer Hand unter Kennworten wie ‚Entdeckungsgeschichte’, ‚Unabhängigkeitskrieg’ unterzubringen. Das sind Verlegen­ heitsauskünfte, die mangelhaften Kenntnissen oder beschränktem Blick ihr Dasein verdanken“.

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Was heißt es denn nun aber, wenn wir von mehreren „Möglichkeiten“ sprechen, zwischen denen jene Kämpfe „entschieden“ haben sollen? Es bedeutet zunächst jedenfalls die Schaffung von – sagen wir ruhig: – Phantasiebildern97 durch Absehen von einem oder mehreren der in der Realität faktisch vorhanden gewesenen Bestandteile der „Wirk|lichkeit“ und durch die denkende Konstruktion eines in bezug auf eine oder einige „Bedingungen“ abgeänderten Herganges. Schon der erste Schritt zum historischen Urteil ist also – darauf liegt hier der Nachdruck – ein Abstraktions­ prozeß, der durch Analyse und gedankliche Isolierung der Bestandteile des unmittelbar Gegebenen, – welches eben als ein Komplex möglicher ursächlicher Beziehungen angesehen wird, – verläuft und in eine Synthese des „wirklichen“ ursächlichen Zusammenhanges ausmünden soll.98 Schon dieser erste Schritt verwandelt mithin die gegebene „Wirklichkeit“, um sie zur historischen „Tatsache“ zu machen, in ein Gedankengebilde:99 in der „Tatsache“ steckt eben, mit Goethe zu reden, „Theorie“.1 Betrachtet man nun aber diese „Möglichkeitsurteile“ – d. h. die Aussagen über das, was bei Ausschaltung oder Abänderung gewisser Bedingungen geworden „wäre“ – noch etwas genauer und fragt zunächst danach: wie wir denn eigentlich zu ihnen gelangen? – so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es sich durchweg um Isolationen und Generalisationen handelt,2 d. h. daß wir das „Gegebene“ so weit in „Bestandteile“ zerlegen, bis jeder von diesen in eine „Regel der Erfahrung“ eingefügt und also festgestellt werden 97  Zu „Phantasie“ vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  186 mit Anm.  44; und bzgl. der von Weber als Gedankenbilder bzw. Idealbilder bezeichneten Idealtypen vgl. ebd., oben, S.  205 und 208. 98  Weber beschreibt hier die analytisch-synthetische Methode. Vgl. Einleitung, oben, S.  15 ff. 99  Zum Zusammenhang von objektiver Möglichkeit und dem Idealtypus als Gedankengebilde vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  205 und 208. 1 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang, Schriften zur Naturwissenschaft. Erster Teil, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Band 39, hg. von Eduard von der Hellen. – Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta Nachf. o. J., S.  72: „Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“ Zitiert als Motto des ersten Kapitels („Die begriffliche Erkenntniss der Körperwelt“) in Rickert, Grenzen, S.  31. 2  Gemeint sind isolierende und generalisierende Abstraktionen. Vgl. Einleitung, oben, S.  16 f.

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kann, welcher Erfolg von jedem einzelnen von ihnen, bei Vorhandensein der anderen als „Bedingungen“, nach einer Erfahrungsregel zu „erwarten“ gewesen „wäre“. Ein „Möglichkeits“urteil in dem Sinne, in welchem der Ausdruck hier gebraucht ist, bedeutet also stets die Bezugnahme auf Erfahrungsregeln. Die Kategorie der „Möglichkeit“ kommt also nicht in ihrer negativen Gestalt zur Verwendung, in dem Sinne also, daß sie ein Ausdruck unseres Nicht- resp. Nichtvollständig-Wissens im Gegensatz zum assertorischen oder apodiktischen Urteil ist,3 sondern gerade umgekehrt bedeutet sie hier die Bezugnahme auf ein positives Wissen von „Regeln des Geschehens“, auf unser „nomologisches“ Wissen, wie man zu sagen pflegt.4 Wenn auf die Frage, ob ein bestimmter Eisenbahnzug eine Station bereits passiert habe, geantwortet wird: „es ist möglich“, so bedeutet diese Aussage die Feststellung, daß der Betreffende sub­ jektiv keine Tatsache kenne, welche diese Annahme ausschließe, aber auch ihre Richtigkeit zu behaupten nicht in der Lage sei: „Nichtwissen“ also. Wenn aber Eduard Meyer urteilt, daß eine theokratisch-religiöse Entwicklung in Hellas zur Zeit der Schlacht bei Marathon „möglich“ oder unter gewissen Eventualitäten „wahrscheinlich“ gewesen sei,5 so bedeutet dies dagegen die Behauptung, daß gewisse Bestandteile des historisch Gegebenen objektiv vorgelegen haben, und das heißt: objektiv gültig feststellbar seien, welche, wenn wir die Schlacht bei Marathon (und, natürlich, noch eine erhebliche Anzahl anderer Bestandteile des faktischen Verlaufs) wegdenken oder anders ablaufend denken, nach allgemeinen Erfahrungsregeln eine solche Entwicklung herbeizuführen positiv „geeignet“ waren, wie wir in Anlehnung an eine in der | Kriminalistik gebräuchliche Wendung vorerst einmal sagen 3  Sigwart, Logik I (wie oben, S.  5, Anm.  30), S.  230, zufolge meint das „assertorische Urtheil“ die „Behauptung A ist B“, während das „apodiktische“ meint, „es ist nothwendig zu behaupten, dass A B ist“. 4 Zur Unterscheidung von nomologischem und ontologischem Wissen vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  186 mit Anm.  41. Tatsächlich kommt die Kategorie der objektiven Möglichkeit ebenso wie die der Wahrscheinlichkeit durchaus auch in ihrer negativen Gestalt zur Verwendung, denn sie ist für Kries, Möglichkeit, S.  13 [189], stets Ausdruck der „Unkenntniss“ der „individuellen“ oder „ontologischen Verhältnisse des Einzelfalls“. Vgl. in diesem Sinne auch Kries, Principien, S.  86 f., und Windelband, Zufall, S.  30 f. 5  Vgl. Meyer, Geschichte III, S.  420. Vgl. auch ebd., S.  237 ff., 295 ff., 418 ff.

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wollen.6 Das „Wissen“, auf welches ein solches Urteil zur Begründung der „Bedeutung“ der Schlacht bei Marathon sich stützt, ist nach allem bisher Ausgeführten einerseits Wissen von bestimmten quellenmäßig erweislichen zur „historischen Situation“ gehörigen „Tatsachen“ („ontologisches“ Wissen),7 andererseits – wie wir schon sahen8 – Wissen von bestimmten bekannten Erfahrungsregeln, insbesondere über die Art, wie Menschen auf gegebene Situationen zu reagieren pflegen („nomologisches Wissen“). Die Art der „Geltung“ dieser „Erfahrungsregeln“ werden wir später betrachten.9 Jedenfalls steht fest: Um seine für die „Bedeutung“ der Schlacht bei Marathon entscheidende These zu erweisen, müßte E[duard] M[eyer], im Falle ihrer Bestreitung, jene „Situation“ so weit in ihre „Bestandteile“ zergliedern,10 daß unsere „Phantasie“ auf dieses „ontologische“ Wissens unser aus der eigenen Lebens­ praxis und der Kenntnis von dem Verhalten anderer geschöpftes „nomologisches“ Erfahrungswissen anwendent und wir alsdann positiv urteilen könnten, daß das Zusammenwirken jener Tatsachen – unter den in bestimmter Art abgeändert gedachten Bedingungen – den als „objektiv möglich“ behaupteten Erfolg herbeiführen „konnte“, d. h. aber nur: daß, wenn wir ihn uns als faktisch eingetreten „denken“, wir die in jener Art abgeändert gedachten Tatsachen als „zureichende Ursachen“ anerkennen würden. Die im Interesse der Unzweideutigkeit notgedrungen etwas umständliche Formulierung dieses einfachen Sachverhaltes zeigt, daß sich die Formulierung des historischen Kausalzusammenhans A: Wissen,  t  Zu erwarten wäre: anwenden könnte   6  Vgl. Kries, Möglichkeit, S.  25 [200 f.]: „Wo es festgestellt ist, dass ein Moment für einen Erfolg causal war, da unterscheidet man doch noch, ob der Zusammenhang desselben mit dem Erfolge ein zu verallgemeinernder oder nur eine Eigenthümlichkeit des vorliegenden Falles ist, ob das Moment, wie man wohl zu sagen pflegt, allgemein geeignet ist, eine Tendenz besitzt, einen Erfolg solcher Art hervorzubringen, oder ob es nur in zufälliger Weise die Veranlassung desselben geworden ist.“ Kries, ebd., S.  26 f. [202], verwendet „geeignet“ und „begünstigend“ synonym. Vgl. unten, S.  472 f. Auf wen in der Kriminalistik Weber verweist, ist nicht belegt, möglicherweise auf Glaser, Julius, Beiträge zur Lehre vom Beweis im Strafprozess. – Leipzig: Duncker & Humblot 1883, S.  6, 47. 7  Vgl. Einleitung, oben, S.  19 f. 8  Oben, S.  461 mit Anm.  4. 9  Unten, S.  469 ff. 10  Im Sinne von Analyse. Vgl. Einleitung, oben, S.  16.

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ges nicht nur der Abstraktion in ihren beiden Wendungen: Isolierung und Generalisierung,11 bedient, sondern daß das einfachste historische Urteil über die geschichtliche „Bedeutung“ einer konkreten „Tatsache“, weit entfernt, eine einfache Registrierung des „Vorgefundenen“ zu sein, vielmehr nicht nur ein ukategorial geformtesu Gedankengebilde darstellt, sondern auch sachlich nur dadurch Gültigkeit empfängt, daß wir zu der „gegebenen“ Wirklichkeit den ganzen Schatz unseres „nomologischen“ Erfahrungswissens hinzubringen. Der Historiker wird gegenüber dem Gesagten nun geltend machen,34) daß der faktische Hergang der historischen Arbeit und der faktische Gehalt der historischen Darstellung ein anderer sei. Der „Takt“12 oder die „Intuition“13 des Historikers, nicht aber Generalisationen und Besinnung auf „Regeln“ seien es, welche die Kausalzusammenhänge erschlössen: der Unterschied gegen die naturwissenschaftliche Arbeit bestehe ja gerade darin, daß der 34) Ausführliches über das im folgenden Gesagte s. meine Ausführungen in Schmol- A 195 lers Jahrbuch, Januarheft 1906.14 |

u–u A: kategorialgeformtes   11  Vgl. ebd., S.  16 f. 12 Eine im 19. Jahrhundert verbreitete Bezeichnung nicht nur des Sinns für das Schickliche, sondern auch des Sinns für das Wesentliche. Für Gervinus, Historik, S.  383, 385, wählt der Geschichtsschreiber mit „sicherem historischen Takte“ aus der „Fülle der Thatsachen“ das aus, was zur Darstellung einer „Idee“ als „wichtig“ erscheint. In Helmholtz, Verhältniss (wie oben, S.  247, Anm.  23), S.  171 f., 175, ist vom „psychologischen Tacte“ die Rede, der auch „künstlerischer Tact“ genannt und mit einer nicht „logischen“, sondern „künstlerische[n] Induction“ in Zusammenhang gebracht wird, die für die „Geisteswissenschaften“ typisch sei. Für Windelband, Geschichte, S.  23, haben Historiker „durch natürliche Menschenkenntniss, durch Takt und geniale Intuition gerade genug gewusst, um ihre Helden und deren Handlungen zu verstehen“. Für Rickert, Grenzen, S.  385, ist es „Sache des Taktes und des Geschmackes, wie weit man im Interesse der Anschaulichkeit über die teleologisch nothwendigen Bestandtheile hinausgehen und Details berücksichtigen will, die eine Beziehung zu den leitenden Werthen nicht besitzen“. Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S.  14, Anm.  94), S.  XXIII, meint, daß der „intellektuelle Takt ein so notwendiges Requisit für den Theoretiker ist, wie etwa das feine Gehör für den Musiker“. 13  Vgl. Windelband, Geschichte, S.  23. Zu „Intuition“ bei Croce vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  332 mit Anm.  15. Hellpach, Wissenschaftslehre, S.  177 f., spricht von der „Intuition, die dem Chemiker eine Synthese, dem Geometer eine Konstruktion schenkt“, aber nicht „in die Methoden der Chemie oder Geometrie eingeht“. 14  Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  328–379.

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Historiker es mit der Erklärung von Vorgängen und Persönlichkeiten zu tun habe, welche unmittelbar nach Analogie unseres eigenen geistigen Wesens „gedeutet“ und „verstanden“ würden; und in der Dar|stellung des Historikers vollends komme es wiederum auf den „Takt“ an, auf die suggerierende Anschaulichkeit seines Berichts, welcher den Leser das Dargestellte „nacherleben“ lasse, ähnlich wie es die Intuition des Historikers selbst erlebt und erschaut, nicht aber räsonierend erklügelt habe. Überdies aber sei jenes objektive Möglichkeitsurteil über das, was nach allgemeinen Regeln der Erfahrung geschehen „wäre“, wenn eine kausale Einzelkomponente ausgeschaltet oder abgeändert gedacht wird, sehr oft höchst unsicher und oft genug überhaupt nicht zu gewinnen, so daß diese Unterlage der historischen „Zurechnung“ faktisch permanent dem Versagen ausgesetzt sei, also unmöglich für den logischen Wert der historischen Erkenntnis konstitutiv sein könne. – In solchen Argumentationen ist nun zunächst verschiedenerlei verwechselt, nämlich der psychologische Hergang der Entstehung einer wissenschaftlichen Erkenntnis und die im Interesse der „psychologischen“ Beeinflussung des Lesers gewählte „künstlerische“ Form der Dar­ bietung des Erkannten auf der einen Seite mit der logischen Struk­ tur der Erkenntnis auf der anderen. Ranke „erriet“15 die Vergangenheit, und auch um die Fortschritte des Erkennens eines Historikers minderen Ranges ist es übel bestellt, wenn er über diese Gabe der „Intuition“ gar nicht verfügt: dann bleibt er eine Art historischer Subalternbeamter. – Aber mit den wirklich großen Erkenntnissen der Mathematik und Naturwissenschaft steht es absolut nicht anders: sie alle blitzen16 als Hypothese „intuitiv“ in der Phantasie auf und werden alsdann an der Tatsache „verifiziert“, d. h. unter Verwertung des bereits gewonnenen Erfahrungswissens auf ihre „Gültigkeit“ untersucht und logisch korrekt „formuliert“. Ganz ebenso in der Geschichte: wenn hier die Gebundenheit der Erkenntnis des „Wesentlichen“ an die Verwendung des Begriffes der objektiven Möglichkeit 15  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  317 mit Anm.  82. 16  Eine seit der Romantik auch in den Wissenschaften verbreitete Metapher. Vgl. z. B. Helmholtz, Hermann von, Goethe’s Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen. Rede, gehalten in der Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft zu Weimar 1892, in: ders., Vorträge und Reden, Band 2, 5.  Aufl. – Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1903, S.  336–361, hier S.  344.

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behauptet wurde, so sollte damit nichts über die psychologisch interessante, aber uns hier nicht beschäftigende Frage: wie eine historische Hypothese im Geist des Forschers entsteht, ausgesagt werden, sondern über die Frage, in welcher logischen Kategorie sie im Zweifels- und Bestreitungsfalle als gültig zu demonstrieren sei, denn das bestimmt ihre logische „Struktur“. Und wenn in der Form seiner Darstellung der Historiker das logische Resultat seiner historischen Kausalurteile dem Leser ohne Vorrechnung der Erkenntnisgründe mitteilt, ihm den Hergang „suggeriert“ statt pedantisch zu „räsonieren“, so wäre seine Darstellung doch ein historischer Roman und keine wissenschaftliche Feststellung, wenn das feste Skelett der kausalen Zurechnung hinter der künstlerisch geformten Außenseite fehlte. Auf dieses Skelett kommt es der trockenen Betrachtungsweise der Logik nun einmal allein an, denn auch die historische Darstellung beansprucht „Geltung“ als „Wahrheit“[,] und diese Geltung erlangt diejenige wichtigste Seite ihrer Arbeit, die wir bisher allein betrachteten, der kausale Regressus,17 eben lediglich, wenn er im Bestreitungsfalle die | Probe jener Isolation und Generalisation der kausalen Einzelkomponenten unter Benutzung der Kategorie der objektiven Möglichkeit und der so ermöglichten zurechnenden Synthese18 bestanden hat. Es ist nun aber klar, daß ganz in derselben Weise, wie die kausale Entwicklung der „historischen Bedeutung“ der Schlacht bei Marathon durch Isolierung, Generalisierung und Konstruktion von Möglichkeitsurteilen auch die kausale Analyse persönlichen Handelns logisch vor sich geht. Nehmen wir gleich einen Grenzfall: die denkende Analyse des eigenen Handelns, von welcher das logisch ungeschulte Empfinden zu glauben geneigt ist, daß sie doch sicherlich keinerlei „logische“ Probleme darbiete, da sie ja unmittelbar im Erlebnis gegeben und – geistige „Gesundheit“ vorausgesetzt – ohne weiteres „verständlich“, daher natürlich auch alsbald in der Erinnerung „nachbildbar“19 sei. Sehr einfache Erwägungen zeigen, daß dem eben doch nicht so ist, daß die „gültige“ Antwort auf die Frage: weshalb habe ich so gehandelt? ein kategorial geformtes, nur unter Verwendung von Abstraktionen in die Sphäre des 17  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  164 mit Anm.  65. 18  Zur analytisch-synthetischen Methode vgl. Einleitung, oben, S.  15 ff. 19  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  281, Fn.  25.

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demonstrierbaren Urteils zu erhebendes, Gebilde darstellt, – trotzdem hier ja die „Demonstration“ vor dem eigenen Forum des „Handelnden“ geführt wird. Nehmen wir an, eine temperamentvolle junge Mutter wird durch gewisse Ungebärdigkeiten ihres Kleinen ennuyiert, und, als gute Deutsche, welche nicht der Theorie jener schönen Buschschen Worte huldigt: „Oberflächlich ist der Hieb, – nur des Geistes Kraft allein – dringet in die Seele ein,“20 – versetzte sie ihm eine gründliche Ohrfeige. Nehmen wir nun aber weiter an, sie sei immerhin soweit „von des Gedankens Blässe angekränkelt“,21 um sich nachträglich sei es über die „pädagogische Zweckmäßigkeit“, sei es über die „Gerechtigkeit“ der Ohrfeige oder wenigstens der dabei entwickelten erheblichen „Kraftentfaltung“ einige Sekunden lang „Gedanken zu machen“, oder – noch besser – nehmen wir an, das Geheul des Kindes löse in dem pater familias, der, als Deutscher, von seinem überlegenen Verständnis aller Dinge, und so auch der Kindererziehung, überzeugt ist, das Bedürfnis aus, „ihr“ unter „teleologischen“ Gesichtspunkten Vorhaltungen zu machen; – dann wird „sie“ z. B. etwa die Erwägung anstellen und zu ihrer Entschuldigung geltend machen, daß, wenn sie in jenem Augenblick nicht, nehmen wir an: durch einen Zank mit der Köchin, „aufgeregt“ gewesen wäre, jenes Zuchtmittel entweder gar nicht oder doch „nicht so“ appliziert worden wäre[,] und dies ihm zuzugestehen geneigt sein: „er wisse ja, sie sei sonst nicht so“. Sie verweist ihn damit auf sein „Erfahrungswissen“ über ihre „konstanten Motive“,22 welche unter der überwiegenden Zahl aller überhaupt möglichen Konstellationen einen anderen, weniger irrationellen Effekt herbeigeführt haben würden. Sie nimmt, mit anderen Worten, für sich in Anspruch, daß jene Ohrfeige ihrerseits eine „zufällige“, nicht eine „adäquat“ verursachte Reaktion auf das Verhalten | ihres Kin20 Vgl. Busch, Wilhelm, Abenteuer eines Junggesellen. – München: Bassermann 1883, S.  28. 21  Vgl. Shakespeare, William, Hamlet, Prinz von Dänemark, in: Shakespeare’s dramatische Werke. Uebersetzt von August Wilhelm von Schlegel, ergänzt und erläutert von Ludwig Tieck. Sechster Theil. – Berlin: G. Reimer 1831, S.  77–196, hier S.  128: „So macht das Gewissen Feige aus uns allen; Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt; Und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, Verlieren so der Handlung Namen.“ 22  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  251 mit Anm.  41.

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des gewesen sei, wie wir in Vorwegnahme der gleich zu erörternden Terminologie sagen wollen. Schon jene eheliche Zwiesprache hat also genügt, um aus jenem „Erlebnis“ ein vkategorial geformtesv „Objekt“ zu machen, und wenn auch die junge Frau, falls ihr ein Logiker eröffnet, sie habe eine „kausale Zurechnung“ nach Art des Historikers vollzogen, sie habe zu diesem Zweck „objektive Möglichkeitsurteile“ gefällt und sogar mit der gleich näher zu besprechenden Kategorie der „adäquaten Verursachung“23 operiert, sicherlich ganz ebenso erstaunt sein würde, wie jener Philister bei Molière, der zu seiner freudigen Überraschung erfährt, daß er zeitlebens „Prosa“ gesprochen habe,24 – vor dem Forum der Logik ist es nun einmal nicht anders. Nie und nirgends ist eine gedankliche Erkenntnis selbst eines eigenen Erlebnisses ein wirkliches „Wiedererleben“ oder eine einfache „Photographie“ des Erlebten, stets gewinnt das „Erlebnis“, zum „Objekt“ gemacht, Perspektiven und Zusammenhänge, die im „Erleben“ eben nicht „gewußt“ werden. Das SichVorstellen einer vergangenen eigenen Handlung im Nachdenken darüber verhält sich dabei in dieser Hinsicht durchaus nicht anders als das Sich-Vorstellen eines vergangenen, selbst „erlebten“ oder von anderen berichteten konkreten „Naturvorganges“. Es wird wohl nicht nötig sein, die Allgemeingültigkeit dieses Satzes an komplizierteren Beispielen weiter zu erläutern35) und ausdrücklich fest|zustellen, daß wir bei der Analyse eines Entschlusses Napole-

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35) Nur noch ein Beispiel, welches K[arl] Voßler a. a. O. S.  101 f.25 analysiert, um die A 198 Ohnmacht der „Gesetzes“bildung zu illustrieren, sei hier kurz betrachtet. Er erwähnt gewisse Spracheigenheiten, welche innerhalb seiner Familie, „einer italienischen Sprachinsel im Meer der deutschen Rede“, von seinen Kindern ausgebildet und von den Eltern im Sprechen mit den Kindern nachgeahmt wurden und deren Entstehung auf ganz konkrete Anlässe, die in der Erinnerung völlig klar zutage liegen, zurückgehenw, – und fragt: „was will an diesen Fällen sprachlicher Entwicklung die Völkerpsychologie“ (und, dürfen wir in seinem Sinn hinzusetzen, jede „Gesetzeswissenschaft“)

v–v A: kategorialgeformtes  w A: zurückgeht   23 Zur Unterscheidung von adäquater und zufälliger Verursachung vgl. Einleitung, oben, S.  23. 24  Vgl. Molière, Der bürgerliche Edelmann, in: Molière’s Lustspiele übersetzt von Wolf Grafen Baudissin, Band 3. – Leipzig: S. Hirzel 1866, S.  213–346, hier S.  247: „Jourdain: Mein’ Seel, seit länger als vierzig Jahren also spreche ich Prosa und habe nichts davon gewußt.“ 25  Voßler, Sprache, S.  101 f.

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ons oder Bismarcks logisch ganz ebenso verfahren, wie unsere deutsche Mutter im Beispiel. Der Unterschied, daß ihr die „Innen„noch erklären“? – Der Vorgang, für sich allein betrachtet, ist in der Tat prima facie durchaus zureichend erklärt, und dennoch ist damit nicht gesagt, daß er gar kein Objekt einer weiteren Bearbeitung und Verwertung mehr darstellen könne. Zunächst könnte der Umstand, daß hier das Kausalverhältnis bestimmt feststellbar ist (denkbarerweise, denn darauf kommt es ja hier allein an)[,] als heuristisches Mittel verwendet werden, um andere Vorgänge der Sprachentwicklung daraufhin zu prüfen, ob die gleiche Kausalbeziehung bei ihnen wahrscheinlich gemacht werden kann: dies erfordert aber, logisch betrachtet, die Einfügung des konkreten Falles in eine allgemeine Regel. Voßler selbst hat denn auch (S.  102) diese Regel dahin formuliert: „die häufiger gebrauchten Formen attrahieren die selteneren“. Aber damit nicht genug. Die Kausalerklärung des vorliegenden Falls genügt, sagten wir, „prima facie“. Aber es darf nicht vergessen werden, daß jeder, auch der scheinbar „einfachste“ individuelle Kausalzusammenhang ins Unendliche hinein zergliedert und gespalten werden kann26 und es A 199 nur eine Frage der Grenzen | unseres jeweiligen kausalen Interesses ist, an welchem Punkt wir Halt machen. Und im vorliegenden Fall ist an sich durchaus nicht gesagt, daß unser kausales Bedürfnis27 sich mit dem angegebenen „tatsächlichen“ Verlauf zufrieden geben müsse. Genaue Beobachtung würde möglicherweise z. B. lehren, daß jene „Attraktion“, welche die kindliche Sprachumbildung bedingte, und ebenso die elterliche Nachahmung dieser kindlichen Sprachschöpfungen bei verschiedenen Wortformen in sehr verschiedenem Grade stattgefunden hat[,] und es würde die Frage erhoben werden können, ob sich nicht etwas darüber aussagen lasse, warum die eine oder die andere häufiger oder seltener oder überhaupt nicht aufgetreten ist. Wir würden alsdann in unserm Kausalbedürfnis erst dann beruhigt sein, wenn die Bedingungen dieses Auftretens in der Form von Regeln formuliert wären und der konkrete Fall als eine besondere Konstellation, hervorgehend aus dem „Zusammenwirken“ solcher Regeln unter konkreten „Bedingungen“, „erklärt“ wäre. Damit hätte denn Voßler die verabscheute Gesetzesjägerei, Isolation und Generalisation,28 mitten in seinem traulichen Heim. Und zwar noch dazu durch eigene Schuld. Denn seine eigene allgemeine Fassung: „Analogie ist psychische Machtfrage“, zwingt doch ganz unbedingt zu der Frage, ob sich denn nun rein gar nichts Generelles über die „psychischen“ Bedingungen solcher „psychischen Machtverhältnisse“ ermitteln und aussagen lasse, und auf den ersten Blick zieht sie also – in dieser Formulierung – anscheinend gerade Voßlers Hauptfeindin: die „Psychologie“[,] geradezu mit Gewalt in diese Fragen hinein. Wenn wir im konkreten Fall uns mit der einfachen Darstellung des konkreten Hergangs begnügen, so wird der Grund ein doppelter sein: einmal „daß jene Regeln“, die sich etwa durch weitere Analyse ermitteln ließen, im konkreten Fall wohl keine für die Wissenschaft neuen Einsichten bieten würden: – daß also das konkrete Ereignis als „Erkenntnismittel“ keine erhebliche Bedeutung besitzt, und ferner, daß das konkrete Ereignis selbst, weil nur im engen Kreise wirksam geworden, keine universelle Tragweite für die Sprachentwicklung gewonnen hat, daß es auch als historische „Realursache“29 bedeutungslos blieb. Nur die Schranke unseres Interesses also, nicht die logische Sinnwidrigkeit bedingen es, daß jener Vorgang in Voßlers Familie von der „Begriffsbildung“ vermutlich verschont bleibt. | 26  Vgl. 27  Vgl. 28  Vgl. 29  Vgl.

Weber, Objektivität, oben, S.  184 mit Anm.  34. ebd., oben, S.  169 mit Anm.  80. oben, S.  460 mit Anm.  2. oben, S.  456 mit Anm.  85.

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seite“ der zu analysierenden Handlung in der eigenen Erinnerung gegeben ist, während wir die Handlung eines Dritten von „außen“ her „deuten“ müssen, ist, entgegen dem naiven Vorurteil, lediglich ein gradueller Unterschied in der Zugänglichkeit und Vollständigkeit des „Materials“: – wir sind eben, wenn wir die „Persönlichkeit“ eines Menschen „kompliziert“ und schwer zu deuten finden, immer wieder geneigt zu glauben, er selbst müsse doch, falls er nur aufrichtig wolle, darüber bündige Auskunft zu erteilen in der Lage sein. Daß und warum dies nicht, ja oft das gerade Gegenteil der Fall ist, ist hier nicht weiter auszuführen. | Vielmehr wenden wir uns einer näheren Betrachtung der bisher nur in sehr allgemeiner Weise in ihrer Funktion gekennzeichneten Kategorie der „objektiven Möglichkeit“ zu, und zwar speziell der Frage nach der Modalität der „Geltung“ der „Möglichkeitsurteile“. Liegt nicht der Einwand nahe, daß die Einführung von „Möglichkeiten“ in die „Kausalbetrachtung“ den Verzicht auf kausale Erkenntnis überhaupt bedeute, daß, – trotz all dessen, was oben über die „objektive“ Unterlage des Möglichkeitsurteils gesagt wurde,30 – faktisch, da die Feststellung des „möglichen“ Herganges stets der „Phantasie“ überlassen werden müsse, doch die Anerkennung der Bedeutung dieser Kategorie eben das Geständnis bedeute, daß subjektiver Willkür in der „Geschichtsschreibung“ Tür und Tor offen stehen und sie eben deshalb keine „Wissenschaft“ sei? In der Tat: was geworden „wäre“, wenn ein bestimmtes mitbedeutendes Moment in bestimmter Art abgeändert gedacht wird, – diese Frage ist positiv oft auch bei jener „idealen“ Vollständigkeit des Quellenmaterials31 durchaus nicht aus allgemeinen Erfahrungsregeln mit irgend erheblicher Wahrscheinlichkeit zu beantworten.35a) Allein dies ist auch nicht unbedingt erforderlich. – Die Erwägung der kausalen Bedeutung eines historischen Faktums wird zunächst mit der Fragestellung beginnen: ob bei Ausschaltung desselben aus dem Komplex der als mitbedingend in Betracht gezogenen Faktoren seiner oder Abänderung in einem bestimmten Sinne, der Ablauf

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35a) Der Versuch, das , was geworden „wäre“ , positiv zu konstruieren, kann, wenn A 200 [] [] er gemacht wird, zu monströsen Resultaten führen. |

30  Oben, S.  461 f. 31  Vgl. oben, S.  449 mit Anm.  46.

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der Geschehnisse nach allgemeinen Erfahrungsregeln eine in den für unser Interesse entscheidenden Punkten irgendwie anders gestaltete Richtung hätte einschlagen können, – denn nur darauf, wie jene uns interessierenden „Seiten“ der Erscheinung durch die einzelnen mitbedingenden Momente berührt werden, kommt es uns ja an.32 Ist freilich auch auf diese wesentlich negative Fragestellung ein entsprechendes „objektives Möglichkeitsurteil“ nicht zu gewinnen, war also – was dasselbe besagt – nach Lage unseres Wissens auch bei Ausschaltung oder Abänderung jenes Faktums der Ablauf in den „historisch wichtigen“, d. h. uns interessierenden, Punkten nach allgemeinen Erfahrungsregeln gerade so, wie er abgelaufen ist, „zu erwarten“, dann ist jenes Faktum eben auch in der Tat kausal bedeutungslos und gehört absolut nicht in die Kette hinein, welche der kausale Regressus der Geschichte herstellen will und soll. Die beiden Schüsse in der Berliner Märznacht gehören nach E[duard] M[eyer] annähernd in diese Kategorie,33 – vollständig möglicherweise deshalb nicht, weil auch bei seiner Auffassung denkbarerweise doch wenigstens der Zeitpunkt des Ausbruches durch sie mitbedingt war, und ein späterer Zeitpunkt auch einen anderen Verlauf bedeutet haben könnte. | Ist jedoch nach unserem Erfahrungswissen eine kausale Relevanz eines Moments mit Bezug auf die für die konkrete Betrachtung erheblichen Punkte anzunehmen, dann ist das objektive Möglichkeitsurteil, welches diese Relevanz aussagt, einer ganzen Skala von Graden der Bestimmtheit fähig. Die Ansicht E[duard] M[eyer]s, daß Bismarcks „Entschluß“ in anderem Sinn als jene beiden Schüsse den Krieg von 1866 „herbeigeführt“ habe,34 involviert die Behauptung, daß bei Ausschaltung35 dieses Entschlusses die sonst vorhandenen Determinanten uns einen „hohen Grad“ von objektiver Möglichkeit einer (in den „wesentlichen“ Punkten!) anderen Entwicklung, – etwa: Ablauf des preußisch-italienischen Vertrages, friedliche Abtretung Venetiens, Koalition Österreichs mit Frank32  Vgl. oben, S.  455 ff. 33  Vgl. oben, S.  450 mit Anm.  49. 34  Vgl. Meyer, Theorie, S.  16. Vgl. oben, S.  393. 35  Tatsächlich kann man, weil er ein „Verhalten“ ist, diesen Entschluß nicht „einfach fortdenken“; vielmehr müßte er „in einer gewissen Hinsicht abgeändert gedacht werden“. Vgl. Kries, Möglichkeit, S.  23 [198].

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reich oder doch eine Verschiebung der politischen und militärischen Lage, welche Napoleon36 faktisch zum „Herrn der Situation“ machte, – annehmen lassen müssen. Das objektive „Möglichkeits“Urteil läßt also seinem Wesen nach Gradabstufungen zu, und man kann sich die logische Beziehung in Anlehnung an Prinzipien, welche bei der logischen Analyse der „Wahrscheinlichkeitsrechnung“ zur Anwendung kommen,37 so vorstellen, daß man jene kausalen Komponenten, auf deren „möglichen“ Erfolg sich das Urteil bezieht, isoliert der Gesamtheit aller übrigen als mit ihnen zusammenwirkend überhaupt denkbaren Bedingungen gegenübergestellt denkt und fragt, wie sich der Umkreis aller derjenigen Bedingungen, bei deren Hinzutritt jene isoliert gedachten Komponenten den „möglichen“ Erfolg herbeizuführen „geeignet“38 waren, xund denx Umkreis aller derjenigen, bei deren Hinzutritt sie ihn „voraussichtlich“ nicht herbeigeführt hätten, zu einander verhalten. Ein in irgendeinem Sinn „zahlenmäßig“ zu schätzendes Verhältnis beider „Möglichkeiten“ gewinnt man durch diese Operation natürlich in absolut gar keiner Weise. Derartiges gibt es nur auf dem Gebiet des „absoluten Zufalls“39 (im logischen Sinn), d. h. in Fällen, wo – wie z. B. beim Würfeln, bei der Ziehung von Kugeln verschiedener Farbe aus einer Urne, die stets die gleiche Mischung derselben enthält – bei einer sehr großen Zahl von Fällen bestimmte einfache und eindeutige Bedingungen sich absolut gleich bleiben, alle übrigen aber in einer unserer Kenntnis absolut entzogenen Weise variieren, und wo diejenige „Seite“ des Erfolges, auf die es ankommt: beim Würfeln die Zahl der Augen, beim Ziehen aus der Urne die Farbe der Kugel – in ihrer „Möglichkeit“ durch jene konstanten und eindeutigen Bedingungen (Beschaffenheit des Würfels, Verteilung der Kugeln) dergestalt bestimmt wird, daß alle sonst denkbaren Umstände gar keine in einen generellen Erfahrungssatz zu x–x A: zu dem   36  Gemeint ist Napoleon III. 37  Kries, Principien, S.  24 ff., und ders., Möglichkeit, S.  7 [183], spricht in diesem Zusammenhang von einem Spielraum. Vgl. Einleitung, oben, S.  20 f. 38  Vgl. oben, S.  461 f. mit Anm.  6. 39  Vgl. Kries, Möglichkeit, S.  11 f. [187]: „Wir nennen diejenigen Ereignisse absolut oder schlechthin zufällig, für welche sich allgemein wohl gewisse Möglichkeiten angeben lassen, deren Stattfinden oder Ausbleiben aber von den unserer Kenntniss sich durchaus entziehenden Besonderheiten des Verhaltens in jedem Einzelfalle abhängt.“

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bringende kausale Beziehung zu jenen „Möglichkeiten“ aufweisen. Die Art, wie ich den Würfelbecher ergreife und rüttle, ehe ich werfe, ist eine absolut determinierende Komponente für die Zahl der Augen, die ich in concreto werfe,40 – aber es gibt trotz alles „Knobler“-Aberglaubens keinerlei Möglichkeit, einen Erfahrungssatz auch nur zu denken, | der ausspräche, daß eine bestimmte Art, beides zu vollziehen, „geeignet sei“, das Werfen einer bestimmten Anzahl von Augen zu begünstigen: diese Kausalität also ist absolut „zufällige“ Kausalität, d. h. wir sind zu der Aussage berechtigt, daß die physische Art des Würflers die Chancen,41 eine bestimmte Zahl von Augen zu werfen, „generell“ nicht beeinflußt: bei jeder Art gelten uns die „Chancen“ für jede der sechs möglichen Würfelseiten, nach oben zu fallen, als „gleich“.42 Dagegen gibt es einen generellen Erfahrungssatz, welcher aussagt, daß bei exzentrischer Lage des Würfelschwerpunktes eine „Begünstigung“43 einer bestimmten Seite dieses „falschen“ Würfels, nach oben zu kommen, bei Hinzutritt beliebiger anderer konkreter Determinanten besteht[,] und wir können das Maß dieser „Begünstigung“, der „objektiven Möglich40  Zu den konstanten und variablen Bedingungen beim Würfeln vgl. Kries, Principien, S.  54, 84, und Windelband, Zufall, S.  30 f. Vgl. auch Einleitung, oben, S.  21. 41  Der Begriff „Chance“ ist hier im Singular zu verstehen. Dieser Begriff findet sich bereits in der Frühzeit der Wahrscheinlichkeitstheorie im Zusammenhang mit Zufallsspielen. Vgl. Moivre, Abraham de, The Doctrine of Chances: or, A Method of Calcula­ ting the Probability of Events in Play. – London: W. Pearson 1718, und Cumberland, Richard, A Philosophical Enquiry into the Laws of Nature. – Dublin: Samuel Powell 1750, S.  193 f.: „it is more natural to suppose, that six will not turn up at the first cast of a Die, than that six will; because there are five possible Chances against such a Cast, and but one Chance for it.” Diese eine Chance meint Kries, wenn er mit dem Begriff „Chance“ die Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses bezeichnet, wie man sie von Zufallsspielen her kennt. Tatsächlich ist „Chance“ für Kries, Principien, S.  95 f., nicht „Wahrscheinlichkeit schlechtweg“, d. h. „Wahrscheinlichkeiten“, die „nur von individueller Bedeutung sind und durch Vermehrung der Kenntniss sich verändern können“, sondern „allgemein giltige Wahrscheinlichkeit“, weil sie wie bei Zufallsspielen für Jeden und für alle Fälle auf ein für allemal feststehenden „Grössen-Relationen ontologischer Verhaltungs-Spielräume“ beruht, wie z. B. auf der Relation 1/6 beim Wurf eines Würfels, auf der Relation 1/36 beim Wurf zweier Würfel, usw. In diesem Sinne bezeichnet Kries die „allgemein giltige Wahrscheinlichkeit“, mit der ein Ergebnis eintritt, als „Chance“ oder „objective Chance“ (ebd., S.  95 f.), und weist darauf hin, daß sie „in nahe Beziehung zu dem Begriff des Zufalls“ tritt (ebd., S.  96), eben weil ein Ergebnis dann zufällig ist, „wenn es die unserer Kenntniss entzogenen genaueren ontologischen Bestimmungen der bedingenden Umstände sind, von welchen das Stattfinden oder Ausbleiben abhängt“ (ebd., S.  99). 42  Vgl. Einleitung, oben, S.  21. 43  Vgl. ebd., oben, S.  23.

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keit“, durch hinlänglich häufige Wiederholung des Würfelns, sogar zahlenmäßig zum Ausdruck bringen. Trotz der Warnungstafel,44 die mit vollem Recht vor der Übertragung der Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf andere Gebiete aufgerichtet zu werden pflegt,45 ist es nun klar, daß dieser letztere Fall seine Analogien auf dem Gebiet aller konkreten Kausalität hat und so auch der historischen,46 nur daß eben die zahlenmäßige Bestimmbarkeit, welche erstens den „absoluten Zufall“ und zweitens bestimmte zählbare „Seiten“ oder Ergebnisse als alleinigen Gegenstand des Interesses voraussetzt, hier durchweg fehlt.47 Allein trotz dieses Fehlens können wir nicht nur sehr wohl generell gültige Urteile dahin fällen, daß durch bestimmte Situationen eine in gewissen Merkmalen gleiche Art des Reagierens seitens der ihnen gegenübergestellten Menschen in mehr oder minder hohem Grade „begünstigt“ werde, sondern wir sind, wenn wir eineny solchen Satz formulieren, auch in der Lage, eine ungeheuere Masse von mögli­ cherweise hinzutretenden Umständen als solche zu bezeichnen, durch welche jene generelle „Begünstigung“ nicht alteriert wird. Und wir können endlich den Grad der Begünstigung eines bestimmten Erfolges durch bestimmte „Bedingungen“ zwar in durchaus

y A: eine   44 Anspielung auf Windelband: „Nicht umsonst pflanzt die Geschichte neben den Irrtümern, von denen sie zu erzählen hat, ihre Warnungstafeln auf: ‚Dies ist ein Holzweg‘“. Vgl. Windelband, Wilhelm, Geschichte der Philosophie, in: ders. (Hg.), Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift fur Kuno Fischer. – Heidelberg: Winter 1905, S.   175–199, hier S.   179; vgl. dazu Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik, MWG I/12, S.  378 mit Hg.-Anm.  45. 45  Vgl. bereits Kries, Principien, S.  261 ff. 46  Vgl. Einleitung, oben, S.  23 f. 47 Selbst für die „Massenerscheinungen der menschlichen Gesellschaft“ kommt Kries, Principien, S.  239, zufolge „nur eine ganz allgemeine Heranziehung des Principes der Spielräume“ ohne jede „numerische Bezeichnung irgend einer bestimmten Wahrscheinlichkeit“ in Frage, denn: „Wo de facto nicht genau gleichartige, sondern nur mehr oder weniger ähnliche Dinge sich räumlich oder zeitlich wiederholen, und auch das Ausdehnungs-Verhältniss, in welchem ihr Vorhandensein und Fehlen mit einander abwechselt, kein bestimmtes, sondern ein mehr oder weniger schwankendes ist, da kann der Natur der Sache nach eine bestimmte Zahl als genauer und richtiger Wahrscheinlichkeits-Ausdruck gar nicht angegeben werden“ (ebd., S.  263). Dieses Argument findet sich bereits bei Kries’ Lehrer Helmholtz. Vgl. Helmholtz, Verhältniss (wie oben, S.  247, Anm.  23), S.  169 ff.

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keiner Weise eindeutig oder etwa gar nach Art einer Wahrscheinlichkeitsrechnung abschätzen, – wohl aber können wir, durch den Vergleich mit der Art, in welchem andere, abgeändert gedachtez Bedingungen ihn „begünstigt“ haben „würden“, den relativen „Grad“ jener generellen Begünstigung einschätzen, und wenn wir diesen Vergleich in der „Phantasie“48 durch hinreichend viele denkbare Abänderungen der Konstellationen durchführen, dann ist ein immerhin erhebliches Maß von Bestimmtheit für ein Urteil über den „Grad“ der objektiven Möglichkeit wenigstens prinzipiell – und diese Frage allein beschäftigt uns hier zunächst – denkbar. Nicht nur im Alltagsleben, sondern auch und gerade in der Geschichte verwenden wir nun solche Urteile über den „Grad“ der „Begünstigung“ konstant, ja ohne sie wäre eine Scheidung von kausal „Wichtigem“ und „Unwichtigem“ einfach gar nicht möglich, und auch E[duard] Meyer hat in seiner hier besprochenen Schrift49 unbedenklich davon Gebrauch gemacht. | Wenn jene mehrfach erwähnten beiden Schüsse50 kausal „unwesentlich“ waren, weil „irgend ein beliebiger Zufall“ nach E[duard] M[eyer]s hier sachlich nicht zu kritisierender Ansicht „den Konflikt zum Ausbruch bringen mußte“,51 so heißt das doch, daß in der gegebenen historischen Konstellation bestimmte „Bedingungen“ gedanklich isolierbar sind, welche bei einer ganz überwältigend großen Überzahl von, als möglicherweise hinzutretend, denkbaren, weiteren Bedingungen, eben jenen Effekt herbeigeführt haben würden, während der Umkreis solcher denkbarer ursächlichen Momente, bei deren Hinzutreten ein (in den „entscheidenden“ Punkten!) anderer Erfolg uns als wahrscheinlich gelten würde, uns als ein, relativ, sehr begrenzter erscheint: daß er nach E[duard] M[eyer]s Ansicht geradezu gleich Null gewesen sei, wollen wir, trotz des Ausdrucks: „mußte“, bei seiner sonstigen starken Betonung der Irrationalität des Historischen nicht annehmen. Solche Fälle der Beziehung bestimmter, von der geschichtlichen Betrachtung zu einer Einheit zusammengefaßter und isoliert z A: gedachten   48  Vgl. oben, S.  460 mit Anm.  97. 49  Meyer, Theorie. 50  Oben, S.  450, 470. 51  Vgl. Meyer, Theorie, S.  43.

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betrachteter Komplexe von „Bedingungen“ zu einem eingetretenen „Erfolg“, welche diesem letztgenannten logischen Typus entsprechen, wollen wir im Anschluß an den seit den Kriesschen Arbeiten feststehenden Sprachgebrauch der juristischen Kausalitätstheoretiker „adäquate“ Verursachung52 (jener Bestandteile des Erfolges durch jene Bedingungen) nennen und, ganz ebenso wie dies E[duard] Meyer – der nur eben diesen Begriff nicht klar bildet – ja auch tut,53 von „zufälliger“ Verursachung da sprechen, wo für die historisch in Betracht kommenden Bestandteile des Erfolges Tatsachen wirksam wurden, die einen Erfolg herbeiführten, welcher einem zu einer Einheit zusammengefaßt gedachten Bedingungskomplex nicht in diesem Sinne „adäquat“ war. Um also zu den früher verwendeten Beispielen zurückzukehren,54 so würde die „Bedeutung“ der Schlacht bei Marathon nach Ed[uard] Meyers Ansicht nun logisch dahin zu bestimmen sein: nicht: daß ein Sieg der Perser eine bestimmte ganz andersartige Entwicklung der hellenischen und damit der Weltkultur hätte zur Folge haben müssen – ein solches Urteil wäre schlechthin unmöglich –, sondern: – daß jene andersartige Entwicklung die „adäquate“ Folge eines solchen Ereignisses gewesen „wäre“. Und jenen Ausspruch E[duard] Meyers über die Einigung Deutschlands, den v. Below beanstandet,55 werden wir logisch korrekt ebenfalls dahin fassen: daß jene Einigung als die „adäquate“ Folge gewisser vorangegangener Ereignisse und ebenso, daß die Märzrevolution in Berlin als die adäquate Folge gewisser allgemeiner sozialer und politischer „Zustände“ aus allgemeinen Erfahrungsregeln verständlich gemacht werden kann. Wenn dagegen z. B. glaubhaft zu machen wäre, daß ohne jene beiden Schüsse vor dem Berliner Schloß eine Revolution nach allgemeinen Erfahrungsregeln mit einem entschieden überwiegenden Maß von Wahrscheinlichkeit „hätte“ vermieden werden können, weil | nachweislich die Kombination der sonstigen „Bedingungen“ ohne den Hinzutritt jener Schüsse eine solche nach allgemeinen Erfahrungsregeln nicht oder doch nicht erheblich „begünstigt“ hätten – in dem früher entwickelten Sinne 52  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  186 f. mit Anm.  43. 53  Vgl. Meyer, Theorie, S.  16. 54  Oben, S.  416, 458, 461 ff. Vgl. auch die „Nervi“-Notizen im Anhang, unten, S.  664. 55  Vgl. oben, S.  402, Fn.  13 mit Anm.  75 und 76.

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dieser Wendung –,56 dann würden wir von „zufälliger“ Verursachung sprechen und also die Märzrevolution in diesem, freilich schwer auszudenkenden, Fall kausal eben jenen beiden Schüssen „zurechnen“ müssen. Bei jenem Beispiel von der Einigung Deutschlands ist also als Gegensatz von „zufällig“ nicht, wie v. Below annahm, zu setzen: „notwendig“, sondern: „adäquat“ in dem vorstehend im Anschluß an v. Kries entwickelten Sinn.36) Und es ist streng daran festzuhalten, daß es sich bei diesem Gegensatz niemals um Unterschiede der „objektiven“ Kausalität des Ablaufs der historischen Vorgänge und ihrer Kausalbeziehungen, sondern stets lediglich darum handelt, daß wir einen Teil der im „Stoff“ des Geschehens vorgefundenen „Bedingungen“ abstrahierend isolieren und zum Gegenstande von „Möglichkeitsurteilen“ machen, um so an der Hand von Erfahrungsregeln Einsicht in die kausale „Bedeutung“ der einzelnen Bestandteile des Geschehens zu gewinnen. Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche. Daß es sich um Abstraktionen handelt, wird besonders häufig in einer ganz spezifischen Art und Weise verkannt, welche in bestimmten, auf Ansichten J[ohn] St[uart] Mills ruhenden Theorien einzelner juristischer Kausalitätstheoretiker ihr Analogon findet, die in der früher zitierten v. Kriesschen Arbeit ebenfalls bereits überzeugend kritisiert sind.37) 57 Im Anschluß an Mill, welcher glaubte, daß der mathematische Wahrscheinlichkeitsquotient das Verhältnis bedeute zwischen denjenigen einen Erfolg „herbeiführenden“ und A 204

36) Ob und welche Mittel wir haben, den „Grad“ der Adäquanz zu schätzen,a und ob und welche Rolle dabei, speziell bei der Zerlegung komplexer „Gesamtursachen“ in ihre „Komponenten“ – wofür uns ja ein „Teilungsschlüssel“ objektiv gar nicht gegeben ist –[,] die sog. „Analogien“ spielen, davon später.58 Die Formulierung ist hier notgedrungen provisorisch. 37)  Der Umfang, in welchem hier wieder, wie schon in vielen vorstehenden Ausführungen v. Kries’ Gedanken „gegliedert“ werden, ist mir fast genant, zumal die Formulierung vielfach notgedrungen an Präzision hinter der von Kries gegebenen zurückbleiben muß. Allein für den Zweck dieser Studie ist beides unvermeidlich.

a A: schützen   56  Oben, S.  472 mit Anm.  43. 57  In Kries, Möglichkeit, S.  106 ff. [396 ff.], zitiert, oben, S.  451, Fn.  29, werden Karl Binding, Maximilian von Buri, Heinrich Lammasch und Eduard Hertz genannt. 58  Ein entsprechender Text ist nicht überliefert; vermutlich Teil von Webers Schreib­ absichten, vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S.  382.

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den ihn „verhindernden“ Ursachen, die in dem gegebenen Zeitpunkt („objektiv“) existieren,59 nimmt auch Binding an, daß zwischen den „zu einem Erfolg hinstrebenden“ und den ihm „widerstrebenden“ Bedingungen ein (in einzelnen Fällen) zahlenmäßig oder doch schätzungsweise bestimmbares Verhältnis, unter Umständen einb „Gleichgewichtszustand“ objektiv bestehe und daß der Hergang der Verursachung der sei, daß die ersteren zum Übergewicht gelangen.38) Es | ist wohl klar, daß hier das bei der Erwägung von menschlichen „Handlungen“ sich als unmittelbares „Erlebnis“ einstellende Phänomen des „Kampfes der Motive“60 zur Basis der Kausalitätstheorie gemacht worden ist. Welche allgemeine Bedeutung man jenemc Phänomen nun auch beilegen möge,39) so ist doch sicher, daß keine strenge Kausalbetrachtung, auch nicht die histo-

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  Binding, Die Normen und ihre Übertretung I S.  41 f.61 v. Kries a. a. O. S.  107.62 |  H[einrich] Gomperz (Über die Wahrscheinlichkeit der Willensentscheidungen, A 205 Wien 1904, Separatabdruck aus den Sitzungsberichten der Wiener Akademie,d Phil[o­ sophisch]-hist[orische] Kl[asse] Bd.  149)63 hat dasselbe zur Grundlage einer phänomenologischen Theorie des „Entschlusses“ gemacht. Über den Wert seiner Darstellung des Herganges möchte ich mir kein Urteil erlauben. Immerhin scheint mir, auch abgesehen hiervon, daß Windelbands – für seinen Zweck absichtlich – rein begriffsanaly­ tische Identifikation des „stärkeren“ Motives mit demjenigen, zu dessen Gunsten schließlich der Entschluß „ausschlägt“ (Über Willensfreiheit S.  36 f.),64 nicht die einzig mögliche Art der Behandlung des Problems ist. 38)

39)

b A: im  c A: jenen  d A: Akademie-   59  Vgl. Kries, Möglichkeit, S.  107 [397], mit Bezug auf Mill, System II, S.  264. Mill hat die Prognose der Altersentwicklung bestimmt als Berechnung des Verhältnisses der „Ursachen, […] die das Leben […] zu verlängern und jenen, die es zu einem früheren Ende zu bringen streben“. 60  Vgl. Nietzsche, Friedrich, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. – Leipzig: C. G. Naumann 1900, S.  128 f. (129. Aphorismus: „Der angebliche Kampf der Motive“). 61  Vgl. Binding, Normen, S.  41: „Nun ist jede Veränderung in der Welt das Resultat eines siegreichen Kampfes einer Kraft über die andere, der die Gegenwart zerstörenden Elemente über die sie zu erhalten oder sie nach anderer Richtung fortzureissen bestrebten.“ 62  Kries, Möglichkeit, S.  107 [397]. 63  Gomperz, Wahrscheinlichkeit. 64  Vgl. Windelband, Willensfreiheit, S.  35: „Wo zwei Begierden allein im Gegensatz gegeneinander tätig sind, vorausgesetzt, daß alle Nebengedanken und Nebenmotive als ausgeschlossen gelten dürfen, da versteht es sich ganz von selbst, daß die Wahl für das stärkere Motiv ausfällt: für das stärkere allein, wenn beide sich in ihren Handlungen völlig ausschließen, für das stärkere zuerst, wenn es möglich erscheint, beide nacheinander zu befriedigen.“

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rische, diesen Anthropomorphismus akzeptieren kann.40) Nicht nur ist die Vorstellung von zwei „entgegengesetzt“ wirkenden „Kräften“ ein körperlich-räumliches Bild, welches nur bei solchen Vorgängen – speziell mechanischer und physikalischer Art41) – ohne Selbsttäuschung verwertbar ist, wo von zwei im physischen Sinne „entgegengesetzten“ Erfolgen der eine durch die eine, der andre durch die andre herbeigeführt werden würde. Sondern vor allem ist ein für allemal festzuhalten, daß ein konkreter Erfolg nicht als das Ergebnis eines Kampfes von einigen zu ihm hinstrebenden und anderen ihm entgegenstrebenden Ursachen angesehen werden kann, sondern daß die Gesamtheit aller Bedingungen, auf welche der kausale Regressus von einem „Erfolge“ aus führt, so und nicht anders „zusammenwirken“ mußte, um den konkreten Erfolg so und nicht anders zustande kommen zu lassen[,] und daß der Eintritt des Erfolges für jede kausal arbeitende empirische Wissenschaft nicht erst von einem bestimmten Moment an, sondern „von Ewigkeit her“ feststand.65 Wenn also von „begünstigenden“ und „hemmenden“ Bedingungen eines gegebenen Erfolges gesprochen wird, so kann damit nicht gemeint sein, daß bestimmte Bedingungen im konkreten Fall den schließlich herbeigeführten Erfolg vergebens zu hindern versucht, andere ihn jenen zum Trotz schließlich erreicht haben, sondern jene Wendung kann ausnahmslos und immer nur dies bedeuten: daß gewisse Bestandteile der dem Erfolg zeitlich vorangehenden Wirklichkeit, isoliert gedacht, nach allgemeinen Erfahrungsregeln generell einen Erfolg der betreffenden Art zu „begünstigen“, das heißt aber, wie wir wissen: ihn in der Überzahl der als möglich gedachten Kombinationen mit anderen Bedingungen herbeizuführen pflegen, gewisse andere generell nicht diesen, sondern einen anderen. Es handelt sich um eine isolierende und | generalisierende Abstraktion,66 nicht um Wiedergabe eines fak40) 41)

  Insoweit hat Kistiakowski a. a. O. durchaus recht.67   S[iehe] v. Kries a. a. O. S.  108.68 |

65  Im Sinne des Determinismus von Laplace, Wahrscheinlichkeiten (wie oben, S.  2, Anm.  8), S.  4, demzufolge wir „den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren Zustandes und andererseits als die Ursache dessen, der folgen wird, betrachten“ müssen. 66  Vgl. Einleitung, oben, S.  16 f. 67  Kistjakovskij, Russkaja sociologicˇeskja. Vgl. oben, S.  404, Fn.  15 mit Anm.  85, und S.  452, Fn.  31 mit Anm.  65. 68  Kries, Möglichkeit, S.  108 [398].

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tisch stattgehabten Ablaufs von Vorgängen, wenn wir z. B. Eduard Meyer von Fällen sprechen hören, wo (S.  27) „Alles auf einen bestimmten Erfolg hindrängt“:69 gemeint ist damit doch, logisch korrekt formuliert, lediglich, daß wir kausale „Momente“ feststellen und gedanklich isolieren können, zu welchen der erwartete Erfolg als im Verhältnis der Adäquanze stehend gedacht werden muß, weil relativ wenige Kombinationen jener isoliert herausgehobenen mit anderen kausalen „Momenten“ vorstellbar sind, von welchen wir nach allgemeinen Erfahrungsregeln ein anderes Ergebnis „erwarten“ würden. Wir pflegen in Fällen, wo die Sache für unsere „Auffassung“ so liegt, wie es E[duard] Meyer mit jenen Worten beschreibt, von dem Vorhandensein einer auf den betreffenden Erfolg gerichteten „Entwicklungstendenz“ zu sprechen.42) Dies, ebenso wie die Verwendung von Bildern wie: „Treibende Kräfte“ oder wie, umgekehrt: „Hemmungen“ einer Entwicklung, – z. B. des „Kapitalismus“, – nicht minder aber die Wendung, daß eine bestimmte „Regel“ des ursächlichen Zusammenhanges in einem konkreten Fall „aufgehoben“ sei durch bestimmte ursächliche Verkettungen oder (noch ungenauer) ein „Gesetz“ durch ein anderes „Gesetz“, – alle solche Bezeichnungen sind dann unbedenklich, wenn man sich ihres gedanklichen Charakters bewußt bleibt, wenn man also im Auge behält, daß sie auf der Abstraktion von gewissen Bestandteilen der realen ursächlichen Verkettung, auf der gedanklichen Generalisation der übrigen in Form objektiver Möglichkeitsurteile und auf der Verwendung dieser zur Formung des Geschehens zu einem ursächlichen Zusammenhang von bestimmter Gliederung beruhen.43) Und uns genügt dabei in diesem Falle nicht, daß man zugesteht und sich bewußt bleibt, daß alle unsere „Erkenntnis“ sich auf eine fkategorial geformtef Wirklichkeit bezieht, daß also z. B. die „Kausalität“ eine Kategorie „unse42) Die Unschönheit des Wortes ändert an der Existenz des logischen Sachverhaltes A 206 nichts. 43)  Nur wo dies vergessen wird, – wie es freilich oft genug geschieht, – sind die Bedenken Kistiakowskis a. a. O.70 betreffend des „metaphysischen“ Charakters dieser Kausalbetrachtung begründet.

e A: Adäquenz  f–f A: kategorialgeformte   69  Vgl. Meyer, Theorie, S.  27: „dass etwa die ganze Entwickelung auf ein Ereigniss hindrängt“. 70  Kistjakovskij, Russkaja sociologicˇeskja.

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res“ Denkens sei. Denn mit der „Adäquanz“g der Verursachung hat es in dieser Hinsicht noch seine besondere Bewandtnis.44) So wenig eine erschöpfende Analyse dieser Kategorie hier beabsichtigt ist, so wird es doch nötig sein, wenigstens dies in Kürze festzustellen, um zunächst die lediglich relative, durch den | jeweiligen konkreten Erkenntniszweck bedingte Natur des Gegensatzes „adäquater“ und „zufälliger Verursachung“ klarzulegen und weiterhin verständlich zu machen, wie der in zahlreichen Fällen nur höchst unbestimmte Inhalt der in einem „Möglichkeitsurteil“ enthaltenen Aussage mit ihrem trotzdem bestehenden Anspruch auf „Geltung“ und ihrer trotzdem bestehenden Verwertbarkeit zur Formung der historischen Kausalreihe zusammenstimmt.h  44)  Auch hierfür sind sowohl bei Kries a. a. O.71 wie z. B. bei Radbruch a. a. O.72 die entscheidenden Gesichtspunkte bereits teils ausdrücklich dargelegt, teils gestreift.

g A: „Adäquenz“  h  In A folgt: (Ein weiterer Aufsatz folgt.)73   71  Vgl. Kries, Möglichkeit. 72  Vgl. Radbruch, Verursachung. 73  Ein entsprechender Text ist nicht überliefert; vgl. den Editorischen Bericht, oben, S.  382.

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R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung

Editorischer Bericht I.  Zur Entstehung Max Webers Beitrag mit dem Titel „R. Stammlers ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ wurde Anfang 1907 in Heft 1 des 24.  Bandes des „Archiv[s] für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ publiziert.1 1896 war die erste Auflage des Buches „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung“ des Rechtsphilosophen Rudolf Stammler erschienen.2 1906 wurde die zweite, verbesserte Auflage dieser „sozial­philo­ sophische[n] Untersuchung“3 unter demselben Titel publiziert.4 Dieser zweiten Auflage widmete Weber eine Besprechung, in die er eigene methodologische Ausführungen einfügte. So entstand ein 58 Seiten langer „LitteraturAufsatz“,5 der allerdings nicht in der Rubrik „Literatur“, sondern in der Rubrik „Abhandlungen“ des „Archivs“ erschien. Weber war bereits zuvor wiederholt auf Stammler zu sprechen gekommen. Schon im „Grundriß“ zu seinen Vorlesungen zur Allgemeinen („theoretischen“) Nationalökonomie hatte er die erste Auflage von Stammlers Buch aufgeführt.6 In einer Karte an Edgar Jaffé vom 6. Januar 1904 schrieb er mit Bezug auf die Planung der nächsten Hefte des „Archivs“: „Wollen Sie übrigens nicht auch Lask (wegen R[ichard] Schmidt oder Stammler) u. Herkner (wegen Jastrow[)] mahnen bezw. anfragen, wann die Sachen kommen?“7 Es ist allerdings nicht bekannt, welchen Beitrag Emil Lask über Stammler hätte liefern sollen und ob es sich dabei gegebenenfalls um eine Besprechung von Stammlers „Wirtschaft und Recht“ hätte handeln können.8 Von Lask, einem Schüler Wilhelm 1  Weber, Stammler, unten, S.  487–571. 2  Stammler, Wirtschaft1. 3  So der Untertitel von Stammlers Buch. 4  Stammler, Wirtschaft2. 5  Brief von Max Weber an Oskar Siebeck vom 28. Sept. 1906, MWG II/5, S.  169. 6  Weber, Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, 89–117, hier S.  117. 7  Karte von Max Weber an Edgar Jaffé vom 6. Jan. 1904, MWG II/4, S.  195. 8  In einem Festschriftbeitrag kam Lask 1905 auf Stammler zu sprechen und zitierte zwei von dessen Werken: Stammler, Wirtschaft1, und Stammler, Lehre (wie oben, S.  398, Anm.  55). Vgl. Lask, Emil, Rechtsphilosophie, in: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, Band 2, hg. von Wilhelm Windelband. – Heidelberg: Carl Winter 1905, S.  1–50, hier S.  5, 9, 15, 28, 48.

482 R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung

Windelbands und Heinrich Rickerts, findet sich über Stammler jedenfalls nichts im „Archiv“. Ein erster Hinweis, daß sich Weber selbst intensiver mit Stammler befassen wollte, findet sich in einem Brief an Willy Hellpach vom 31. März 1905, in dem Weber zu einem Manuskript Hellpachs Stellung nahm.9 Dort heißt es: „Nun sind ‚teleologische‘, ‚normative‘ und ‚idiographische‘ ‚Richtung‘ 3 ganz heterogene Dinge. Es hat ferner Windelband (und Rickert) mit Stammler nichts zu thun.“10 Und weiterhin: „Berechtigt ist Ihr Bedenken gegenüber Stammler in einem bestimmten Sinn, den ich hier nicht näher erörtern will, da ich sein Buch wohl bald einmal (scharf ablehnend) besprechen werde.“11 Hellpach hatte sich bei seiner Behandlung von Stammler hauptsächlich auf die erste Auflage von „Wirtschaft und Recht“ bezogen.12 Am 5. April 1905 kam Weber gegenüber Hellpach noch einmal auf Stammler zu sprechen: „Wenn Sie Ihren Standpunkt zu Windelband, Stammler pp. dahin präcisieren, daß allen jenen Gelehrten gemeinsam sei die Negierung des Dogmas von der alleinseligmachenden Methode, zu welchem Sie sich bekennen, dann sind Sie allerdings ganz im Recht.“13 Auch in der Folge findet man immer wieder Hinweise, daß sich Weber mit Stammler auseinandersetzen wollte. In seiner redaktionellen Bemerkung zu Gustav Cohns Abhandlung „Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie“, die, angeregt durch Webers 1904 publizierte Abhandlung „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, 1905 erschien, merkte er in einer Fußnote an: „Auf die Kontroverse über ‚den wissenschaftlichen Charakter der N[ational]-Ö[konomie]‘ gehe ich hier natürlich nicht ein, hoffe vielmehr künftig – vielleicht schon im nächsten Winter – gelegentlich bei einer Auseinandersetzung mit Stammler und seiner ‚Schule‘ darauf zurückzukommen.“14 In einem Brief an Georg Jellinek vom 14. Oktober 1905 stellte Weber denn auch in Aussicht, daß er „im Lauf des nächsten Jahres auf die Methodenfragen unsrer Disziplin zurückkomme“.15 Im zweiten Teil seiner Abhandlung „Roscher und Knies“, der im Herbst 1905 erschien, findet sich eine Fußnote, in der Weber Rickerts „teleologische Begriffsbildung“ von 9  Hellpach, Willy, Sozialpathologie als Wissenschaft, in: AfSSp, Band 21, Heft 2, 1905, S.  275–307 (hinfort: Hellpach, Sozialpathologie). 10  Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 31. März 1905, MWG II/4, S.  442–444, hier S.  443. 11  Ebd., S.  444. 12  Hellpach, Sozialpathologie (wie oben, S.  482, Anm.  9), S.  287, nennt neben Stammler, Wirtschaft1, auch Stammler, Rudolf, Die Gesetzmäßigkeit in Rechtsordnung und Volkswirtschaft. Vortrag, gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 15. Februar 1902. – Dresden: Zahn & Jensch 1902. 13  Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 5. April 1905, MWG II/4, S.  449–453, hier S.  449. 14  Weber, Cohn, oben, S.  237. 15  Brief von Max Weber an Georg Jellinek vom 14. Okt. 1905, MWG II/4, S.  555.

Editorischer Bericht

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„den ‚Teleologen‘ vom Gepräge Stammlers“ abgrenzt.16 1906 merkte er im dritten Artikel dieser Abhandlung in einer Fußnote an: „Über das Verhältnis von ‚Telos‘ und ‚Causa‘ in der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis herrscht mehrfach, namentlich seit Stammlers geistvollen, aber manche Trugschlüsse enthaltenden Arbeiten eine erstaunliche Verwirrung.“17 In den ebenfalls Anfang 1906 publizierten „Kritische[n] Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“ hielt er Eduard Meyer vor, daß er sich „durch Ausführungen Stammler’s […] hätte verführen lassen“.18 Nun heißt es in einem Brief, den Paul Siebeck, der Verleger des „Archivs“, am 25. Januar 1906 an Jaffé schrieb: „Das Rezensionsexemplar von ‚Stammler‘ werde ich bei Veit & Co. reklamieren.“19 Damit war wahrscheinlich die zweite Auflage von „Wirtschaft und Recht“ gemeint. Ob Weber sie bestellt hatte, bleibt unklar. Jedenfalls ist in einem Brief Jaffés an Siebeck am 30. Juni 1906 die Rede von den „besondere[n] Schwierigkeiten“, die Weber der Druckerei mit seiner unleserlichen Handschrift und seinen fortwährenden Korrekturen eines Manuskripts bereitete, so daß Jaffé beschwichtigend hinzufügte: „auch glaube ich, daß Prof. Weber keine weiteren derartigen umfangreichen Extraberichte mehr liefern wird, da er sich nach Abschluß des Vorliegenden vor allem der Recension wichtiger Bücher widmen will“.20 In Webers Handbibliothek findet sich ein mit zahlreichen Marginalien, Anund Unterstreichungen versehenes Exemplar der zweiten Auflage von Stammlers „Wirtschaft und Recht“, das von Webers intensiver Vorarbeit für den edierten Besprechungsaufsatz zeugt.21 Am 28. September 1906 schrieb Weber an Oskar Siebeck, den Sohn des Verlegers Paul Siebeck: „Anbei, nach Vereinbarung mit Dr Jaffé, das Manuskript eines Litteratur-Aufsatzes für das Januar-Heft. Ich bin bis 22. November abwesend in Sizilien […]. Sehr gern hätte ich […] bei der Rückkehr hier einige Correkturen, da ich gern größere Partien hinter einander weg corrigieren möchte.“22 Auf Anfrage Jaffés nach dem Umfang des Manuskripts23 teilte Paul Siebeck am 19. Oktober 1906 mit: 16  Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  301, Fn.  39. 17  Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  355, Fn.  32. 18  Weber, Kritische Studien, oben, S.  398, mit Bezug auf Meyer, Theorie, S.  16, und Stammler, Lehre (wie oben, S.  398, Anm.  55), S.  177 ff. 19  Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 25. Jan. 1906, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 216. 20  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 30. Juni 1906, ebd. 21  Das Handexemplar findet sich in der Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München. Hinweise auf An- und Unterstreichungen sowie die Marginalien werden – wo geboten – in die Sachkommentierung einbezogen. 22 Brief von Max Weber an Oskar Siebeck vom 28. Sept. 1906, MWG II/5, S.  169. Weber reiste am 26. November nach Heidelberg zurück. Vgl. Brief von Max Weber an Helene Weber vom 24. Nov. 1906, MWG II/5, S.  181 f., hier S.  181. 23  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 17. Okt. 1906, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 216.

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„Eine einigermassen zutreffende Umfangberechnung zu geben, ist bei der Beschaffenheit des Manuskriptes unmöglich und deshalb wollen Sie sich damit, bitte, gedulden, bis die Fahnen vorliegen. Das Manuskript habe ich kürzlich in Satz gegeben, damit die Druckerei möglichst viel Zeit auf diese schwierige Arbeit verwenden kann.“24 Am 9. November 1906 sprach Paul Siebeck von einem Umfang von „56“ Seiten25 und meldete am 24. November 1906: „Heute ging Korrektur mit Manuskript an Herrn Professor Weber nach Heidelberg ab.“26 Von Weber gibt es eine weitere Äußerung in einem Brief an Paul Siebeck vom 5. Dezember 1906: „die Druckerei hat meinen Artikel für das Januarheft ganz vorzüglich gesetzt, und ich bitte, da ich vermuthe, daß ein Teil des Mscr. nicht ganz leicht war (ich konnte es beim besten Willen nicht mehr ändern vor der Abreise), dafür meinen verbindlichsten Dank aus­zu­ sprechen.“27 Am 20. Dezember 1906 informierte Paul Siebeck Jaffé, daß er die Druckerei angewiesen habe, „M. Weber sofort zu umbrechen“.28 Wie aus einem Brief Jaffés an Paul Siebeck vom 27. Januar 1907 hervorgeht, hatte Weber offenbar umfangreiche Korrekturen durchgeführt und dadurch die Kosten in die Höhe getrieben: „Was sodann die Frage der unverhältnismässig hohen Korrekturkosten anlangt, so bin ich mit Ihnen ganz der Meinung, dass diese nicht in ihrer Totalität von Ihnen getragen werden sollten, besonders wenn sie, wie ja auch diesmal, daher rühren, dass ein oder zwei Mitarbeiter sich in dieser Hinsicht keinerlei Rücksicht auferlegen wollen.“29 Jaffé fügte noch hinzu: „Auch was in meiner Macht als Redakteur stand habe ich getan, um derartige Ueberschreitungen zu verhindern und speziell habe ich daher mit Professor Weber arrangirt, dass er sämmtliche Korrekturkosten selber trägt“.30 Schließlich bat er, ihm „einen Auszug der Rechnung von Professor Weber per 1. Ja[n]uar d. J. zu senden“, damit er Siebeck „aus dem Prof. Weber zukommenden Redaktionshonorare eine Zuweisung zur teilweisen Deckung seiner Schuld bei Ihnen machen kann“.31 Am 29. Januar 1907 übersandte Paul Siebeck den gewünschten Rechnungsauszug.32 Webers Beitrag „R. Stammlers ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ erschien 1907 im Januarheft des „Archivs“, das laut 24  Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 19. Okt. 1906, ebd. Vgl. auch Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 2. Nov. 1906, ebd. 25  Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 9. Nov. 1906, ebd. 26  Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 24. Nov.1906, ebd. Vgl. auch Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 1. Dez. 1906, ebd. 27  Brief von Max Weber an Paul Siebeck vom 5. Dez. 1906, MWG II/5, S.  195–197, hier S.  195. 28 Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 20. Dez. 1906, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 216. 29  Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 27. Jan. 1907, ebd., K. 232. 30 Ebd. 31 Ebd. 32  Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 29. Jan. 1907, ebd.

Editorischer Bericht

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Heftumschlag am 11. Februar 1907 ausgegeben wurde.33 Er enthält einige Hinweise auf die geplante Fortführung34 und endet mit dem Hinweis: „(Ein weiterer Artikel folgt.)“35 Die überlieferten Teile dieser Fortführung wurden von Marianne Weber postum in den „Gesammelten Aufsätzen zur Wissenschaftslehre“ unter dem Titel „Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammlers ‚Ueberwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ publiziert.36 Die kritische Auseinandersetzung mit Stammlers Buch und dessen Grundpositionen setzt sich auch und vor allem im Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ fort, der ebenfalls postum im Beitrag „Wirtschaft und Gesellschaft“ veröffentlicht wurde,37 bis hin zu der letzten Bemerkung in den „Soziologischen Grundbegriffen“ über „das stark irreführende Buch von R. Stammler“ mit einem Hinweis auf die hier edierte Kritik.38

II.  Zur Überlieferung und Edition Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter dem Titel „R. Stammlers ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, hg. von Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé, Band 24, Heft 1, 1907, S.  94–151, erschienen ist (A). Zeitgenössische und Weber-spezifische Schreibweisen, wie z. B. „geberdet“ (S.  490, Fn.  1) oder „Wiederspiegelungen“ (S.  491 f., 521 f.), bleiben erhalten. Die Fußnoten-Zählung ist – einschließlich der Verwendung von Asterisken und der zusätzlichen Zählung von „a“ und „b“ – von der Edition übernommen worden,39 so daß der Arbeitsprozeß erkennbar bleibt. Webers ex­plizite Verweise (mit Seitenangabe) auf Stellen in Stammlers Buch werden vollständig dokumentiert.40 Im Fall von Zeilenangaben Webers werden die 33  Vgl. dagegen Weber, Marianne, Lebensbild, S.  369: „Erst im Sommer [1907] kann er wieder produzieren und zwar Schwieriges: Die logische Auseinandersetzung mit Stammler, deren erster Teil noch im Juliheft des Archivs erscheint.“ 34 Vgl. unten, S.  569 mit Anm.  62 (zu Stammlers Begriff der „Konventionalregel“); S.  570 mit Anm.  66 (zur Vermischung der Bedeutungen von „Sein“ und „Sollen“, „Begriff“ und „Begriffenem“). 35  Weber, Stammler, unten, S.  571. 36  Weber, Nachtrag zu Stammler, unten, S.  572–617. 37 Weber, Die Wirtschaft und die Ordnungen, MWG I/22-3, S.  192–247, vgl. dazu Gep­hart, Werner, Einleitung, ebd., S.  9–13. 38  Weber, Vorbemerkung zu den Soziologischen Grundbegriffen, MWG I/23, S.  147– 149, hier S.  148. 39 Vgl. unten S.  487, Asterisk; S.  531, Fn.  7a; S.  539, Fn.  8a; S.  540, Fn.  8b; S.  555, Fn.  12a; S.  558, Fn.  13a; S.  560, Fn.  14a. 40  Es handelt sich um folgende Seiten: Stammler, Wirtschaft2, S.  3, 5, 12–16, 18–19, 24, 26, 29–31, 37, 62–72, 84, 132–133, 136, 146.

486 R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung

entsprechenden Buchzitate mit * (für Zeilenanfang und -ende) kenntlich gemacht. Weiterhin werden die Stammler-Bezüge um Informationen aus dem überlieferten Handexemplar Webers ergänzt.41

41  Vgl. dazu oben, S.  483, Anm.  21.

R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung*).a

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Inhalt: 1. Vorbemerkungen. S.   487. – 2. Stammlers Darstellung des Geschichtsmaterialismus. S.  490. – 3. Stammlers „Erkenntnistheorie“. S.  501. – 4. Analyse des Begriffs der „Regel“. S.  530. – „Regel“ als „Regelmäßigkeit“ und als „Norm“. Begriff der „Maxime“[.] S.  531. – Spielregel[.] S.  547. – Rechtsregel. S.  553. – Juristische und empirische Begriffe[.] S.  556.

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Es ist ein mißliches Unternehmen, der „zweiten verbesserten Auflage“1 eines Buches, welches ganz unleugbar einen großen, überwiegend verwirrenden, daneben aber auch unzweifelhaft höchst anregenden Einfluß auf die Diskussion prinzipieller Fragen der Sozialwissenschaft geübt hat, nicht viel weniger als die wissenschaftliche Existenzberechtigung überhaupt abzustreiten. Wenn dies hier dennoch geschieht, und zwar mit rücksichtsloser Offenheit, so bedarf dies einerseits einiger Vorbehalte und dann einer vorerst nur ganz allgemeinen kurzen Begründung. Zunächst sei auf das bedingungsloseste anerkannt, daß in Stammlers Werk ein hohes Maß nicht nur von Belesenheit, Scharfsinn und idealistischem Erkenntnisstreben, sondern auch von „Geist“ entwickelt ist. Allein das Monströse an dem Buch ist grade das Mißverhältnis, in welchem die erzielten brauchbaren Ergebnisse zu den mit ungeheurer Ostentation aufgewendeten Mitteln stehen: es ist beinahe so, als wenn ein Fabrikant alle Errungenschaften der Technik, gewaltige *)  Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauf- A 94 fassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung. Zweite verbesserte Auflage. Leipzig, Veit & Co. 702 S.  80.2 |

a  In A folgt: Von MAX WEBER.   1  Die erste Auflage zu Stammler, Wirtschaft2, war bereits 1896 unter demselben Titel erschienen. Vgl. Stammler, Wirtschaft1. 2  Stammler, Wirtschaft2.

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Kapitalmittel und zahllose Arbeitskräfte in Bewegung setzte, um in einer mächtigen Fabrik allermodernster Konstruktion – atmosphärische Luft (gasförmige, nicht: flüssige!) zu produzieren. „Beinahe“ so, – damit ist, als zweiter Vorbehalt, schon gesagt, daß das Buch ganz zweifellos | einzelne dauernd wertvolle Bestandteile enthält, deren man sich freuen darf, und diese sollen gegebenen Orts nach bestem Gewissen herausgehoben und nach Möglichkeit unterstrichen werden. Allein, wie hoch man auch ihren Wert einschätzen möge, – im Verhältnis zu den gradezu maßlosen Ansprüchen, mit denen das Werk auftritt, sind sie, leider, doch von nur recht begrenzter Bedeutung. Sie hätten einenteils in einer Spezialuntersuchung etwa über die Beziehungen zwischen juristischer und ökonomischer Begriffsbildung, anderenteils in einer Spezialuntersuchung über die formalen Voraussetzungen sozialer Ideale Platz gefunden, die beide gewiß auch dauernd nützlich und anregend bleiben würden, aber freilich nicht so viel Aufsehens gemacht hätten, wie dies auf mächtigem Kothurn3 daherschreitende Buch. In diesem aber verschwinden sie in einem wahren Dickicht von Scheinwahrheiten, Halbwahrheiten, falsch formulierten Wahrheiten und hinter unklaren Formulierungen versteckten Nicht-Wahrheiten, von scholastischen Fehlschlüssen und Sophismen, welche die Auseinandersetzung mit dem Buche zu einem, schon des wesentlich negativen Ergebnisses wegen, unerfreulichen, dabei unendlich lästigen und höchst weitläufigen Geschäft machen. Und doch ist die Zergliederung einer größeren Anzahl auch von einzelnen Formulierungen ganz unerläßlich, wenn man einen Eindruck von der vollkommenen Nichtigkeit grade solcher Argumente gewinnen will, die bei Stammler mit der verblüffendsten Sicherheit vorgetragen werden. – Nun ist es sicherlich durchaus wahr: peccatur intra muros et extra.4 Man kann in den Arbeiten ausnahmslos aller Schriftsteller Punkte auffinden, wo das berührte Problem nicht zu Ende gedacht, die Formulierung nachlässig, nicht klar oder direkt falsch ist. Und 3  Von griech.: kóthornos, Schnürstiefel mit hohen Sohlen, die bei der Aufführung von antiken Tragödien getragen wurden. 4  Vgl. Horatius Flaccus, Die Episteln des Horatius Flaccus. Lateinisch und deutsch mit Erläuterungen von F. S. Feldbausch, Band 1: Die Episteln des ersten Buches. – Leipzig und Heidelberg: Winter 1860, S.  24 f.: „Seditione, dolis, scelere atque libidine et ira / Iliacos intra muros peccatur et extra.“ – „Durch Zwietracht, Hinterlist, Frevel, Sinneslust und Zorn wird in den Mauern Iliums gefehlt und außerhalb derselben.“

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dies ist zumal da der Fall, wo wir Nicht-Fachlogiker im sachlichen Interesse unsrer Spezialdisziplinen zu logischen Erörterungen genötigt werden. Es ist unvermeidlich, daß alsdann, besonders an solchen Punkten, die uns für unser jeweiliges konkretes Problem unwesentlich oder minder wesentlich waren, die Sicherheit in der Handhabung des Gedankenapparates der Fachlogik leicht versagt, mit dem wir eben nicht in jenem alltäglichen Verkehr uns befinden, der allein jene Sicherheit schaffen kann. Allein erstens will Stammler nun einmal grade als „Erkenntnistheoretiker“5 auftreten, ferner handelt es sich – wie sich ergeben wird – um solche Bestandteile seiner Argumentation, auf welche er selbst den Hauptnachdruck legt, und dann – nicht zu vergessen – haben wir es mit einer zweiten Auflage zu tun, an die wir doch wohl mit Recht durchaus andere Anforderungen stellen als an einen „ersten Wurf“. Daß Stammler uns eine solche in dem Zustand zu bieten sich gestattet, in welchem sie sich befindet, – dies eben ist es, was die allerschärfste Kritik direkt herausfordert. Nicht der Existenz des Buches, sondern der Existenz einer derartigen zweiten Auflage gilt die Schärfe der Ablehnung. Bei einem „ersten Wurf“, wie ihn die erste Auflage darstellte,6 | werden wir des Satzes gern eingedenk sein, daß Kritisieren einer Leistung stets leichter ist, als selbst etwas zu leisten. Bei einer nach fast einem Jahrzehnt erscheinenden zweiten „verbesserten“ Auflage7 verlangen wir aber vom Autor Kritik an sich selbst und finden es namentlich unentschuldbar, wenn bei logischen Erörterungen die Arbeiten der Fachlogiker an ihm so spurlos vorüber gegangen sind wie an Stammler. Und endlich noch Eins: Stammler tritt als Vertreter des „kritischen Idealismus“8 auf: sowohl auf ethischem wie auf erkenntnistheoretischem Gebiet 5  Stammler verwendet diese Bezeichnung nicht. 6  Stammler, Wirtschaft1. 7  Die erste Auflage war 1896, die zweite 1906 erschienen. 8  Stammler verwendet diese auf Kant zurückgehende Bezeichnung nicht, die darauf abzielt, die Gegenstände der äußeren und inneren Wahrnehmung nicht als Dinge an sich, sondern als Erscheinungen dieser jeweiligen Wahrnehmung zu bestimmen. Im sechsten Abschnitt der Antinomie der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant vom „transscendentalen Idealismus“, in den Prolegomena will er ihn „den kritischen genannt wissen“. Vgl. Kant, Kritik, S.  427–432 (B 519-B 525), S.  428, und ders., Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, hg. von Karl Schulz. – Leipzig: Philipp Reclam jun. [1888], S.  72; dort im Handexemplar (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) „transscendentalen Idealismus“ unterstrichen.

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wünscht er sich als echtesten Jünger Kants anerkannt zu sehen.9 Es wird nun nicht möglich sein, im Rahmen der folgenden Auseinandersetzung auch noch des Näheren zu erörtern, wo jene gröblichen Mißverständnisse der Kantschen Lehre liegen, auf welche er diesen seinen Anspruch stützt. Aber jedenfalls haben grade Anhänger des „kritischen Idealismus“ alle Ursache, diese Leistung von ihren Rockschößen zu schütteln. Denn ihre Eigenart ist nur zu sehr geeignet, den alten naturalistischen Glauben zu nähren, die Kritik der Erkenntnistheoretiker am naturalistischen Dogmatismus habe stets nur die Wahl zwischen zwei Arten der Beweisführung: „entweder ein faustdicker Trugschluß oder eine haarfeine Erschleichung“.10

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2. Stammlers Werk1) will, wie wiederholt darin betont ist, die „materialistische Geschichtsauffassung“ wissenschaftlich „überwinden“.11 Folglich fragt man vor allem anderen 1) nach der Art, wie er diese Geschichtsauffassung seinerseits wiedergibt, und alsdann weiter 2) an welchem Punkt sein wissenschaftlicher Dissens ihr gegenüber einsetzt. Um beides möglichst anschaulich festzustellen, lohnt es, einen kleinen Umweg einzuschlagen.12 A 96

1) Die nachfolgende Kritik geberdet sich, um in sich zusammenhängend zu sein, äußerlich so, als seien die teilweise sehr elementaren Ausführungen, die sie bringt, hier zum ersten Mal vorgetragen. Das ist natürlich bezüglich mancher Punkte absolut nicht

9  Stammler, Wirtschaft2, S.  17, formuliert, daß Kants „Erkenntniskritik“ für seinen Plan „von bestimmendem Einflusse gewesen“ sei. 10  Als Zitat nicht belegt. Zu „Erschleichung“ vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  215 mit Anm.  35. 11  Davon ist explizit nur an einer Stelle die Rede, und das indirekt bezüglich sogenannter „Revisionisten“, denen es „noch nicht geglückt“ sei, „den sozialen Materialismus wissenschaftlich zu überwinden und sich eine bessere und richtige andere Grundlage zu erwerben“. Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  636, Anm.  29. Die dort aufgestellte Aussage Stammlers, er habe durch seine Untersuchungen „verschiedene Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung zu weiteren Studien angeregt“, versieht Weber im Handexemplar mit einem Fragezeichen und dem Kommentar: „zu viel behauptet“. 12 Möglicherweise inspiriert durch das „Zwiegespräch“, das Stammler zwischen „Bürger“ und „Sozialist“ inszeniert. Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  51 ff. Darauf kommt Weber unten, S.  499, Fn.  2 mit Anm.  45, zu sprechen.

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Nehmen wir an, es träte demnächst – in unserer Zeit stark zunehmender Beachtung der Tragweite religiöser Momente für die Kulturgeschichte – ein Autor auf und behauptete: b„Die Geschichte ist nichts anderes als ein Ablauf religiöser Stellungnahmen und Kämpfe der Menschheit. In letzter Instanz bedingen religiöse Interessen und Stellungnahmen zum Religiösen schlechthin alle Erscheinungen des Kulturlebens, einschließlich insbesondere derjenigen des politischen und des Wirtschaftslebens. Alle Vorgänge auch auf diesen Gebieten sind letztlich Wiederspiegelungen bestimmter Stellungnahmen der Menschheit zu religiösen Problemen. Sie sind also in letzter Instanz nur Ausdrucksformen | religiöser Kräfte und Ideen und also auch erst dann überhaupt wissenschaftlich erklärt, wenn man sie auf diese Ideen kausal zurückgeführt hat. Eine solche Zurückführung ist zugleich die einzig mögliche Art, das Ganze der „sozialen“ Entwicklung nach festen Gesetzen als eine Einheit wissenschaftlich zu begreifen (S.   61 unten, 62 oben),13 so wie es die Naturwissenschaften mit der „natürlichen“ Entwicklung tun.“b – Auf den Einwurf eines „Empirikers“, daß doch aber zahlreiche konkrete Erscheinungen des politischen und des Wirtschaftslebens offenbar nicht die geringste Einwirkung relider Fall, wie, obwohl es der Kundige weiß, auch ausdrücklich bemerkt sei. Von der Stellungnahme früherer Kritiker Stammlers wird gelegentlich die Rede sein.14 | b–b  A: Bei Zitationen im fiktiven Zitat bleiben doppelte An- und Ausführungszeichen erhalten.   13  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  61 f.: „Entweder, man zeigt, daß die naturgesetzliche Entwicklung der ökonomischen Phänomene unserer Zeit im einzelnen eine andere ist, als die Marxisten sie angeben; man leugnet, daß das Wesen und die Tendenz unserer Wirtschaft und Produktionsweise die sei, sich zu sozialisieren, und daß deshalb die Kollektivierung der Produktionsmittel nicht unvermeidlich notwendig ist. Wer dieses tut, der nimmt die Grundgedanken des sozialen Materialismus als richtig hin und will nur dartun, daß dessen Anwendung auf unsere sozialen Zustände nicht unvermeidlich zum Sozialismus hindrängt. Oder, es wird die Lehre der materialistischen Geschichtsauffassung als begründetes Fundament der Sozialphilosophie in Zweifel gezogen und kritisch erörtert. Dieses letztere Verfahren ist an sich zweifellos das allein berechtigte. Man muß bis zu dem Punkte zurückgehen, wo sich die Ansichten wirklich spalten: das ist bis zur Scheidung des sozialen Materialismus vom sozialen Idealismus. Hängt eine Gesellschaftsordnung wirklich notwendig von der Entwicklung der ökonomischen Phänomene ab; und wie steht es mit dieser gesetzmäßigen Bedingtheit des näheren?“ Zum letzten Satz finden sich An- und Unterstreichungen im Handexemplar Webers sowie sein Randkommentar: „Gesetzmäßig und notwendig sind nicht identisch!“ und die Ergänzung von „allein“ hinter „Phänomene“. 14  Entsprechende Ausführungen sind nicht belegt.

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giöser Motive erkennen lassen, würde unser „Spiritualist“ – nehmen wir weiter an – antworten: c„Zweifellos ist nicht für jedes einzelne Vorkommnis nur eine einzige Ursache gegeben, und es sind daher ganz fraglos in der Kausalkette zahllose einzelne, jeden religiösen Charakters entbehrende Vorgänge und Motivationen als Ursachen eingeschaltet. Allein man kann den kausalen Regressus15 bekanntlich ins Unendliche fortsetzen, und dabei wird man (S.  67 Zeile 11)16 immer schließlich irgendwann auf den „maßgebenden“ Einfluß religiöser Motive auf die Art der menschlichen Lebensführung stoßen. Alle anderen Änderungen von Lebensinhalten gehen also auf Änderungen der Stellungnahme zum Religiösen in letzter Instanz zurück (S.  31, Zeile 26)17 und besitzen, da sie nur diese wiederspiegeln, gar keine selbständige reale Existenz (S.  30 Zeile 11 von unten).18 Denn jede Veränderung der religiösen Bedingungen hat eine entsprechende parallele (S.  24 Zeile 5)19 Änderung der c–c  (S.  493)  Bei Zitationen im fiktiven Zitat bleiben doppelte An- und Ausführungszeichen erhalten.   15  Vgl. Weber, Objektivität, S.  164 mit Anm.  65. Vgl. auch Einleitung, oben, S.  18. 16  Hier und im Folgenden wird stets der ganze Satz nachgewiesen, wobei die von Weber genannte Zeile jeweils durch * markiert wird. Vgl. Stammler , Wirtschaft2, S.  67: „Aber da jede ursachlich wirkende Erscheinung selbst wieder als Wirkung einer anderen Ursache erachtet werden muß, so käme man bei *solchem Regressus im sozialen Leben schließlich auf materielle* Bedingungen, auf denen im letzten Grunde, wie das einzelne Menschenleben, so auch das soziale Dasein der Menschen sich aufbaut.“ Im Handexemplar Webers sind „da“ (doppelt) sowie „als Wirkung“ und „materielle“ unterstrichen und mit dem Randkommentar versehen: „beweislos“. 17  Vgl. ebd., S.  31: „Aber es sind dieses nicht Faktoren, die aus einer eigenartigen und selbständigen Welt stammen, welche von der materiellen Welt der Art nach geschieden wäre und ihre eigenen kausalen Entwicklungsgänge besäße; sondern jene Ideen gehen in ihrer Ent*stehung auf die materielle Grundlage des sozialen Lebens zurück* und sind in ihrer Besonderheit durch die Art und Weise jener materiellen Basis notwendig bedingt.“ Im Handexemplar unterstreicht Weber die Passage „gehen … zurück“ und fügt den Kommentar an: „Das ist etwas Anderes als: ‚haben keine selbst[ändige] Existenz‘“. 18  Vgl. ebd., S.  30: „Denn da nach der materialistischen Geschichtsauffassung alle Ideen von Gerechtigkeit nur Spiegelbilder der wahren Realitäten *ökonomischer Zustände sind und eine eigene selbständige Existenz* gar nicht besitzen, so sind auch alle Rechtsänderungen, die im Namen der sozialen Gerechtigkeit gefordert oder durchgesetzt werden, in Wahrheit durch die unterliegenden Wirtschaftsverhältnisse bewirkt worden, für welche die angenommene Formel der sozialen Gerechtigkeit nur ein anderer Ausdruck ist; so zwar, daß die Wirtschaft die Realität, die Idee dagegen nur ein reflektiertes Abbild derselben ist.“ Im Handexemplar markiert Weber die Zeile von „ökonomischer … Existenz“ und kommentiert: „falsch formuliert“. 19  Vgl. ebd., S.  24: „Wenn daher in der sozialen Wirtschaft eines Menschenkreises bedeutsame Veränderungen vor sich gehen, so machen diese eine entsprechende

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Lebensführung auf allen Gebieten zur Folge. Jene sind eben die überall in Wahrheit allein treibenden Kräfte des sozialen Lebens wie auch – bewußt oder unbewußt – des einzelnen Menschendaseins, und bei vollständiger Kenntnis der Ursachenkette in ihrem „einheitlichen Zusammenhang“ gelangt man daher immer zu ihnen (S.  67, Zeile 20).20 Wie sollte es denn auch anders sein? Die politischen und wirtschaftlichen äußeren Formen des Lebens bestehen doch nicht als abgeschlossene Welten selbständig in eignen Kausalreihen (S.  26 Zeile 7 v. unten)21 für sich, sie sind doch überhaupt keine eignen Realitäten (S.  29, Zeile 8 v. unten),22 sondern können doch nur als unselbständige, lediglich im Wege der Abstraktion aus dem Ganzen der Einheit des Lebens gewonnene „Einzelbetrachtungen“ gelten (S.  68 Zeile 11).“c 23 Der „gesunde Menschenverstand“ unseres „Empirikers“ würde nun wohl geneigt sein, hiergegen geltend zu machen, daß man über c  (S.  492)–c  Bei Zitationen im fiktiven Zitat bleiben doppelte An- und Ausführungszeichen erhalten.   Umänderung der seitherigen Rechtsordnung nötig; wesentlich geänderte wirtschaftliche Verhältnisse bedingen notwendig *eine parallel gehende Reform des geltenden Rechtes. Und da das* […].“ Im Handexemplar sind „machen“ und „nötig“ unterstrichen und mit dem Kommentar versehen: „unrichtig!“; an das unterstrichene „parallel“ schließt sich der Kommentar: „was heißt das?“ 20  Vgl. ebd., S.  67: „Rollt man die Kette der Ursachen weiterhin auf und erkennt sie in ihrem ein*heitlichen Zusammenhange vollständig, so gelangt man schließlich* immer zu der Unterlage des sozialen Lebens, – zu der sozialen Wirtschaft.“ Im Handexemplar ist die zweite Satzhälfte mit einem doppelten Randstrich und dem Kommentar versehen: „beweislos!“ 21 Vgl. ebd., S.  26: „Dabei leugnet der materialistische Historiker keineswegs das Auftreten idealer Ziele in menschlichen Vorstellungen und Bestrebungen, noch auch die Tatsache, daß Rechtsänderungen im Namen der Gerechtigkeit gefordert und ererbte Institutionen bald als gut oder böse beurteilt werden; aber er stellt in Abrede, daß die *menschlichen Vorstellungen über Recht und Gerechtigkeit eine selb*ständige Existenz in einer abgegrenzten Welt für sich hätten, mit eigener Entstehung in einer zweiten und abgesonderten Kausalreihe; und er behauptet, daß nicht die Ideen die wahren Ursachen im gesellschaftlichen Leben seien, sondern daß sie als Widerschein bestimmter Sozialwirtschaft jeweils erst entständen.“ Im Handexemplar sind „Vorstellungen“, „in einer … hätten“ und „einer zweiten … Kausalreihe“ unterstrichen und mit dem Kommentar versehen: „wie stellt sich St[ammler] dazu?“ 22 Vgl. ebd., S.  29: „In dieser Weise lehrt der soziale Materialismus, daß die gemein*samen Geisteserscheinungen in der Menschengeschichte nichts als* widergespiegelte Abbilder der wirtschaftlichen Verhältnisse sind.“ 23  Vgl. ebd., S.  68: „Es kann das Recht als eine Form des sozialen Lebens nur in sehr relativer Selbständigkeit er*wogen werden, nämlich als eine Einzelbetrachtung, die ab*strahiert aus dem Ganzen der Einheit des sozialen Lebens herausgehoben ist.“ Im Handexemplar ist der 2. Satzteil markiert und mit der Randbemerkung versehen: „gewiß!“.

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die Art und das Maß der Bedingtheit „sozialer Erscheinungen“ verschiedener Gattungen unter einander a priori nichts Generelles aussagen könne. Die Tatsache und weiter die Art und das Maß der gegenseitigen Bedingtheit lassend sich zunächst nur am Einzelfall ausmachen. Es sei alsdann vielleicht möglich, durch Vergleichung wirklich (oder anscheinend) ähnlicher Fälle über die bloße Ermittlung des Maßes religiöser Bedingtheit einer einzelnen sozialen Erscheinung hinaus auch | zu generelleren „Regeln“ zu gelangen, – aber, wohlgemerkt, sicherlich nicht über die kausale Bedeutung „des Religiösen“ überhaupt für „das soziale Leben“ überhaupt, – das sei eine ganz verfehlte und vage Fragestellung, – sondern über die kausale Bedeutung ganz bestimmt zu bezeichnender Gattungen von religiösen Kulturelementen zu ebenso bestimmt zu bezeichnenden Gattungen anderer Kulturelemente unter ebenfalls bestimmt zu bezeichnendene Konstellationen.24 – Und er würde etwa noch hinzufügen: Die einzelnen „Gesichtspunkte“,25 unter die wir die Kulturerscheinungen rubrizieren: „politische“, „religiöse“, „ökonomische“ u. s. w., seien bewußt einseitige Betrachtungsweisen, die lediglich zum Zweck der „Ökonomie“26 der wissenschaftlichen Arbeit überall da vorgenommen werden, wo sie aus diesem Grunde praktisch wünschenswert seien. Die „Totalität“ der Kulturentwicklung im wissenschaftlichen Sinn jenes Wortes, d. h. also das „uns Wissenswerte“ an ihr, könne mithin doch nur durch eine Integration, durch den Fortschritt von der „Einseitigkeit“ zur „Allseitigkeit“ der „Auffassung“ wissenschaftlich erkannt werden, nicht aber durch den aussichtslosen Versuch, historische Gebilde als durch eine einzelne jener nur künstlich vereinzelten Komponenten allein determiniert und qualifiziert hinzustellen. Der kausale „Regressus“27 führe in dieser Hinsicht doch offenbar zu nichts: so weit man auch zurückgehe, bis in die früheste „Urzeit“,28 stets sei die Heraushebung der „religiösen“ Komponenten aus der Gesamtheit der Erscheinungen und das Abbrechen des Regressus grade bei ihnen die gleiche „Einseitigkeit“, wie in demjenigen d A: lasse  e A: bezeichnende   24  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  177 mit Anm.  9. 25  Vgl. ebd., oben, S.  189 mit Anm.  53 und 54. 26  Zur Denkökonomie vgl. ebd., oben, S.  202 mit Anm.  98. 27  Vgl. ebd., oben, S.  164 mit Anm.  65. 28  Vgl. ebd., oben, S.  177.

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geschichtlichen Stadium, von dem aus der Regressus begonnen worden sei. Die Beschränkung auf die Feststellung der kausalen Bedeutung „religiöser“ Momente könne im einzelnen Fall heuristisch vielleicht von größtem Wert sein: darüber entscheide nur der „Erfolg“ an neuer kausaler Erkenntnis. Aber die These von der Bedingtheit der Gesamtheit der Kulturerscheinungen „in letzter Instanz“29 nur durch religiöse Motive sei eine schon in sich haltlose, überdies mit feststehenden „Tatsachen“ nicht vereinbare Hypothese. Mit diesen Argumenten käme aber der „gesunde Menschenverstand“ bei unserem „Geschichtsspiritualisten“ übel an. Hören wir, was dieser entgegnen würde: f„Der Zweifel, ob das kausal entscheidende religiöse Moment auch überall erkennbar sei, müßte, wenn er ins Gewicht fallen sollte, das Ziel einer prinzipiellen Methode gesetzmäßiger Erkenntnis aus einem Gesichtspunkt überhaupt in Frage stellen (S.  66 Zeile 11).30 Alle wissenschaftliche Einzelbetrachtung steht aber unter dem Grundsatz des Kausalitätsgesetzes31 und muß daher als grundlegende Bedingung die durchgängige Verbindung aller Sondererscheinungen nach einem allgemeinen Gesetz annehmen: sonst hat ja die Behauptung einer gesetzmäßig geschehenen Erkenntnis gar keinen Sinn (S.  67 Zeile 5 v. unten).32 f–f  (S.  498)  Bei Zitationen im fiktiven Zitat bleiben doppelte An- und Ausführungszeichen erhalten.   29 Stammler verwendet diese Formulierung an einer Stelle. Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  64. 30  Vgl. ebd., S.  66: „In der Tat würde aber mit der Beschränkung auf derartige Einzelfragen und auf den Zweifel, ob das kausal bedeutsame und letztlich entscheidende Eingreifen wirtschaftlicher Momente überall erkennbar sei, ein verhängnisvoller Irrweg eingeschlagen sein, auf dem man zu einer rechten Würdigung der materialistischen Geschichtsauffassung niemals gelangen kann, vielmehr das Ziel einer prinzipi*ellen Methode gesetzmäßiger Erkenntnis des sozialen Lebens not*wendig verfehlen muß.“ Im Handexemplar Unterstreichung von „einer prinzipiellen … sozialen Lebens“ und Randkommentar: „das will aber nur ein so großer Geist wie Stammler!“. 31  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  52, Fn.  16 mit Anm.  59. 32 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  67: „Alle menschlichen Bestrebungen, alle Bewegungen der Gesellschaft, mögen sie auf Abänderung oder auf Beibehaltung bestehenden Rechtes gerichtet sein, oder sich sonst in Moral oder Religion, in erkennender Wissenschaft oder künstlerischem Gestalten äußern, sie alle müssen doch, wenn man ihre konkrete Bedingtheit nach bewirkenden Ursachen wissenschaftlich erforschen will, in Wirklichkeit in einem einheitlichen Ge*samtzusammenhange gedacht werden. Denn alle Einzelbetrachtung,* die unter dem Grundsatze des Kausalitätsgesetzes vollzogen wird, muß als grundlegende Bedingung die durchgängige Verbindung aller Sondererscheinungen nach einem allgemeinen Gesetze annehmen, welches Gesetz

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Das Postulat der Zurückführung aller | sozialen Erscheinungen auf religiöse Triebfedern denkt gar nicht daran, zu behaupten, daß der Regressus auf diese Triebfedern immer oder überwiegend oder überhaupt jemals wirklich ganz gelinge (S.  69, Zeile 10 v. unten).33 Denn es will ja nicht eine bloße Behauptung von Tatsachen, sondern eine Methode sein (S.  68 Zeile 6 v. unten),34 und der Vorwurf, als bedeute es nur eine zu weit getriebene Generalisation von einzelnen sozialgeschichtlichen Geschehnissen, ist deshalb schon begrifflich ganz verfehlt. Denn nicht durch solche Generalisationen, sondern a priori an der Hand der Frage: „mit welchem Recht wird überhaupt generalisiert?“ (S.  69 Zeile 3)[,]35 ist ja jenes Postulat gewonnen worden. Generalisieren setzt, als Methode zur Gewinnung kausaler Erkenntnis, einen letzten einheitlichen Gesichtspunkt voraus, der die letzte grundsätzliche Einheit des sozialen Lebens darzustellen unternehmen muß, da sonst ja alles kausale Erkennen ins Uferlose auseinanderstieben müßte. Jenes Postulat ist also eine systematische Methode dafür, in welcher all­ dann im einzelnen aufzuweisen ist.“ Weber kommt unten, S.  513 mit Anm.  7 und S.  521 mit Anm.  44, nochmals auf diese Passage zu sprechen. 33 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  69: „Wie häufig läßt auch sonst die Durchführung allgemeingültiger Grundsätze für Gewinnung gesetzmäßiger Erkenntnis *den Menschen schwach und unbefriedigt stehen! So kann es auch* in der Sozialwissenschaft für die Begründetheit der Methode gar nichts ausmachen, wenn bei einer einzelnen Gelegenheit ihre Verwirklichung nicht glücken will, und es nicht gelingen mag, die zusammenhängende Kette wirkender Einzelursachen von sozialen Veränderungen bis zu der untersten Grundlage des Gesellschaftslebens, bis zu bedingender sozialer Wirtschaft, in klarer Einsicht zu verfolgen und darzulegen.“ Im Handexemplar ist die Passage „So kann … gelingen mag“ mit einem dreifachen Randstrich und zwei Ausrufezeichen versehen. 34  Vgl. ebd., S.  68: „Man sieht, daß der Vorwurf ganz ungerecht ist, als ob die materialistische Geschichtsauffassung nichts weiter bedeute, als eine zu weit getriebene Generalisation von einzelnen sozialgeschichtlichen *Geschehnissen. Nein, sie will eine Methode sein, nach der über*haupt erst die Einzeldaten der Gesellschaftsgeschichte in wissenschaftlich begründeter Weise erforscht und recht gewürdigt, also unter einem obersten einheitlichen Gesichtspunkte für alles soziale Leben begriffen werden können.“ Im Handexemplar markiert Weber „Nein, sie will eine Methode sein“ mit doppeltem Randstrich und kommentiert: „die aber doch so formuliert, nicht ausschließen würde, daß man ‚bis auf andre‘ Elemente geht“. 35  Vgl. ebd., S.  68 f.: „Ihr Prinzip, das ich nannte und erläuterte, ist nicht gefunden und wird nicht bewiesen durch eine Verallgemeinerung von Einzelheiten sozialer Geschichte; – denn, wenn eine solche die grundlegende Methode liefern sollte, so müßte man doch *immer fragen: Mit welchem Rechte und nach welchem ein*heitlichen Grundgedanken wird denn ‚verallgemeinert‘?“ Im Handexemplar ist die Frage Stammlers mit doppeltem Randstrich markiert und mit dem Kommentar versehen: „Ganz unverständlich! Die gleiche Frage gälte doch auch f[ür] die Naturwissenschaft!“

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Handexemplar Max Webers zu Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht, 2.  Aufl., S.  69 Max Weber-Arbeitsstelle, Bayerische Akademie der Wissenschaften München (vgl. dazu S.  496–500)

Handexemplar Max Webers zu Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht, 2.  Aufl., S.  72 Max Weber-Arbeitsstelle, Bayerische Akademie der Wissenschaften München (vgl. dazu unten, S.  518)

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gemeingültigen Art und Weise die konkreten Vorgänge des Gesellschaftslebens überhaupt erst wissenschaftlich begriffen werden kön­ nen (S.   69 Zeile 14),36 also ein grundlegendes Formalprinzip (das[elbst] Zeile 26)37 der sozialen Forschung. Eine Methode aber kann man nicht an der Hand historischer Tatsachen angreifen oder „widerlegen“, denn für die Frage nach der prinzipiell rechten Art solcher Formalprinzipien macht es offenbar nicht das geringste aus, ob ihre Anwendung im besonderen Fall gelingt: oft läßt ja auch die Anwendung der zweifellos allgemeingültigsten Grundsätze der Gewinnung gesetzmäßiger Erkenntnis den Menschen unbefriedigt (S.  69, Zeile 10 von unten).38 Jenes grundlegende Prinzip ist von allem besondern Inhalt sozialen Geschehens mithin ganz unabhängig, es würde gelten, auch wenn keine einzige Einzeltatsache ihm entsprechend wirklich erklärt wurde: das läge dann eben an der besonderen Schwierigkeit, welche – wie keiner besonderen Ausführung bedarf (S.  70 oben)39 – die Erforschung des sozialen Lebens der Menschen nach dem Grundsatz der Kausalität, im Gegensatz zur „Natur“, bietet. Aber wenn anders man das Formalprinzip aller kausalen Erkenntnis auch auf das soziale Leben anwenden darf, muß jenem Postulat Genüge geschehen, und das ist nur durch die Reduktion aller sozialen Gesetzmäßigkeit auf eine „grundlegende Gesetzmäßigkeit“: die Abhängigkeit vom Religiösen, möglich. Folglich ist die Behauptung: – daß „in letzter Instanz“40 religiöse 36  Vgl. ebd., S.  69: „Der soziale Materialismus ist eine systematische Methode dafür, in welcher allgemeingültigen Art und Weise die kon*kreten Vorgänge des Gesellschaftslebens überhaupt erst wissen*schaftlich werden können.“ Im Handexemplar sind die kursiv gesetzten Passagen zusätzlich unterstrichen und mit einem Randstrich markiert. 37  Ebd.: „Bietet danach die materialistische Geschichtsauffassung die grundsätzlich begründete formale Methode für die gesetzmäßige Einsicht in konkretes gesellschaftliches Da*sein dar?*“ Der Satz beendet eine längere Passage, die Weber in seinem Handexemplar mit einem Randstrich markiert und dem Kommentar: „Hier die Metabase!“ versehen hat. 38  Vgl. bereits oben, S.  496 mit Anm.  33. 39  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  69 f.: „Daß auch die Verfolgung des sozialen Lebens der Menschen im besprochenen Sinne ganz besondere und weit größere Schwierigkeit für den nach dem Grundsatz der Kausalität wissen*schaftlich beobachtenden Forscher bietet, als die Erscheinungen äußerer Natur, bedarf keiner besonderen Ausführung.*“ Im Handexemplar ist der Schlußpassus ab „wissenschaftlich“ markiert und mit dem Randkommentar versehen: „Auch das ist falsch./ cf. meinen Aufsatz“, womit Weber, Objektivität, oben, S.  135–234, gemeint sein dürfte. 40  Vgl. oben, S.  495 mit Anm.  29.

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Triebfedern das soziale Leben bedingen und daß nur durch „Zurückführung“ aller Erscheinungen auf diese Bedingungen es als eine „nach mechanischen Gesetzen“ wissenschaftlich zu begreifende Einheit darzustellen ist, – überhaupt nicht auf dem Boden der „Tatsachen“ zu widerlegen; ebensowenig wie sie bloßer Generalisierung von Tatsachen entspringt (S.  69 Zeile 16).41 | Der Satz folgt vielmehr aus der Natur unseres Denkens, sofern dieses überhaupt auf die Gewinnung gesetzmäßiger Erkenntnis ausgeht, wie dies doch jede mit dem Gesetz der Kausalität arbeitende Wissenschaft tun muß. Wer also gegen jene Behauptung Widerspruch erheben will, der greift damit eben dies Erkenntnisziel selbst an. Er muß sich folglich auf den Boden der Erkenntnistheorie begeben und fragen: was ist und was heißt „gesetzmäßige“ Erkenntnis des sozialen Lebens? (S.  69, Zeile 22).42 Nur wenn der Begriff der „Gesetzmäßigkeit“ selbst zum Problem gemacht wird, kann man die erwähnte Methode der Zurückführung aller sozialen Erscheinungen auf einen einheitlichen Gesichtspunkt angreifen, und nur so könnte die Berechtigung der Behauptung, daß „in letzter Instanz“ religiöse Motive maßgebend sind, überhaupt in Frage gestellt werden. „Bisherg aber“ – unser Geschichtsspiritualist weiß offenbar noch nichts von Stammlers Auftreten – „hat das noch kein Mensch versucht, sondern es ist ein bloßer, über das Prinzip selbst gar nichts besagender Scharmützelkrieg (S.  63 Zeile 2 von unten)43 über Einzeltatsachen geführt worden“.“f Was wird der gesunde Menschenverstand unseres „Empirikers“ zu diesen Ausführungen sagen? Ich denke, wenn er Jemand ist, der

g  Anführungszeichen fehlt in A.   f  (S.  495)–f  Bei Zitationen im fiktiven Zitat bleiben doppelte An- und Ausführungszeichen erhalten. Das abschließende Ausführungszeichen fehlt in A und wird ergänzt.  41  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  69: „Dieses grundlegende *Prinzip ist von allem be­ sonderen Inhalte sozialer Einzelgescheh*nisse mithin ganz unabhängig.“ 42  Vgl. ebd., S.  69: „Was ist und heißt *überhaupt Gesetzmäßigkeit des sozialen Le­ bens der* Menschen?“ Der Satz ist im Handexemplar vollständig unterstrichen. 43 Vgl. ebd., S.  63, bzgl. der materialistischen Geschichtsauffassung: „Anstatt auf das Ganze zu gehen und dem Feinde in offener Feldschlacht entgegenzutreten, hat sie das Mittel des Schar*mützelkrieges gewählt, der mehr im einzelnen plagen kann, als daß* er das Gesamtschicksal des Kampfes entschiede.“ Weber unterstreicht im Handexemplar „Mittel des Scharmützelkrieges“ und kommentiert: „? Es wird dabei bleiben, daß eine Geschichtsauffassung an der Geschichte zu prüfen ist.“

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sich nicht „verblüffen“ läßt, so wird er sie als eine, sei es naive, sei es dreiste, scholastische Mystifikation44 behandeln und der Ansicht sein, daß man mit der gleichen „Logik“ auch das „methodische Prinzip“ aufstellen könnte, „soziales Leben“ sei „in letzter Instanz“ nur aus Schädel-Indices oder aus der Einwirkung von Sonnenflecken oder etwa aus Verdauungsstörungen abzuleiten und diese Ansicht dann so lange für unanfechtbar anzusehen, als nicht durch erkenntnistheoretische Untersuchungen der „Sinn“ der „sozialen Gesetzmäßigkeit“ anderweit festgestellt sei. – Ich persönlich würde dem „gesunden Menschenverstand“ darin recht geben. – Anders aber müßte offenbar Stammler denken. In den obigen absichtlich möglichst weitschweifig, ganz in Stammlers Stil, gehaltenen Ausführungen unseres „Geschichtsspiritualisten“ braucht man nämlich nur überall statt des Wortes „religiös“ das Wort „materiell“ (im Sinne von: „ökonomisch“) einzusetzen, – und man hat, wie jeder sich an den in Klammern beigesetzten Stellen von Stammlers Buch überzeugen kann, größtenteils wörtlich, immer aber sinngetreu, diejenige Darstellung der „materialistischen Geschichtsauffassung“, welche dort gegeben ist und – darauf allein kommt es uns hier an – die Stammler sich als schlechthin stichhaltig aneignet2), mit dem einzigen Vorbehalt, daßh nunmehr in ihm, Stammler, der Mann ge|kommen sei, der, indem er sich auf den Boden der „Erkenntnistheorie“ begab, diesen bis dahin von niemand bezwungenen Goliath „überwand“, d. h. aber nicht etwa als

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2) Man vergleiche S.  63 ff., wo unzweideutig Stammler selbst, und nicht der „Sozia- A 100 list“, den er S.  51 f. auftreten läßt, das Wort führt.45 |

h A: das   44  Mystifikation referiert einerseits auf die Mystik bzw. den Mystizismus der Scholastik, andererseits auf das Verb mystifizieren, das Weber im Folgenden wiederholt gebraucht. Vgl. Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, 4., gänzlich umgearbeitete Aufl., Band 11. – Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts 1888, S.  957: „Mystifizieren (frz., hinters Licht führen), d. h. jemand durch Benutzung seiner Leichtgläubigkeit zum besten haben, foppen; daher Mystifikation.“ Vgl. in diesem Sinne Balzac, Honoré de, Die Gefahr der Mystificationen, in: ders., Sämmtliche Werke, Band 17. – Quedlinburg und Leipzig: Gottfried Basse 1843. 45  In Stammler, Wirtschaft2, erstreckt sich das „Zwiegespräch“, das Stammler zwischen „Bürger“ und „Sozialist“ inszeniert, von S.  51 bis S.  55 und wird von S.  55 bis S.  62 diskutiert. Auf S.  63 beginnt der Abschnitt „Gegner der materialistischen Geschichtsauffassung“.

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sachlich „unrichtig“, sondern als „unfertig“46 erwies, – als „unfertig“ wiederum nicht im Sinn von „einseitig“, sondern im Sinn von „unvollendet“. Diese „Vollendung“ und „Überwindung“ geschieht dann in der Art, daß mittelst einer Reihe von gedanklichen Manipulationen demonstriert wird, daß „soziale Gesetzmäßigkeit“ im Sinn von „grundlegender Einheit“ des sozialen Lebens und seiner Erkenntnis (beides wird, wie wir sehen werden,47 konfundiert) als „Formalprinzip“48 lediglich in der „Welt der Zwecke“,49 als ein die „Form des gesellschaftlichen Daseins der Menschen“50 bestimmendes Prinzip, als ein „einheitlicher formaler Gedanke, der als Leitstern für alle empirischen sozialen Bestrebungen zu dienen habe“,51 sinnvoll denkbar sei. Uns interessiert hier nun vorerst nicht die Frage, ob Stammler die „materialistische Geschichtsauffassung“ richtig dargestellt hat. Diese Theorie hat vom „Communistischen Manifest“52 bis zu den modernen Epigonen sehr verschiedenartige Formen durchgemacht; – geben wir also hier a priori getrost als möglich und wahrscheinlich zu, daß sie auch in einer der von Stammler gewählten wenigstens ähnlichen anzutreffen sein mag3). Und wenn etwa nicht, dann könnte der Versuch einer eigenen Konstruktion der Form, die sie konsequenterweise „hätte haben sollen“, seitens ihres Kritikers immer noch seine Berechtigung haben. Hier aber befassen A 101

3) Über den Sinn von „materialistisch“ bei Marx s[iehe] Max Adler, Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft (aus den „Marx“-Studien, Band I) S.  108 Anm.  1 und S.  111 (richtig gegen Stammler), S.  116 Anm.  1 und öfter.53 |

46 Für Stammler, Wirtschaft2, S.19, wird sich zeigen, daß die materialistische Geschichtsauffassung „nach jeder Richtung hin unfertig und nicht ausgeführt ist; und daß daher vor allem genau zu fragen und zu bestimmen ist, was unter den von ihr sorglos verwendeten sozialen Grundbegriffen mit Fug allein verstanden und festgehalten werden kann“. 47  Unten, S.  501 ff. 48 Für Stammler, Wirtschaft2, S.  69, ist die „materialistische Geschichtsauffassung“ ein „grundlegendes Formalprinzip der sozialen Forschung“. Diese Aussage kommentiert Weber im Handexemplar mit: „Unglaublich!“ 49  Stammler verwendet diese Formulierung nicht. 50  Vgl. ebd., S.  115, 173, 212, 440, 544. 51  Vgl. ebd., S.  577: „Das soziale Ideal ist ein einheitlicher formaler Gedanke, der als Richtmaß und Leitstern für alle irgend welche empirisch erwachsenden Bestrebungen im sozialen Leben zu dienen hat“. 52  Marx/Engels, Manifest. 53  Vgl. Adler, Kausalität.

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wir uns nicht mit ihr, sondern mit Stammler. Und daher fragen wir hier nur, auf welchem Wege er denn jene „Erkenntnistheorie“, die er, sei es mit Recht oder Unrecht, ihr unterschiebt und die er für unanfechtbar oder doch nur vom Boden seiner eignen Auffassung aus korrigierbar ansieht, entwickelt und begründet. Vielleicht taten wir ihm Unrecht und identifiziert er sich in Wahrheit doch nicht so weit mit ihr, als wir prima facie annahmen? Sehen wir uns daraufhin die einleitenden, „erkenntnistheoretischen“ Abschnitte seines Buches an.

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Um Einsicht in die Eigenart von Stammlers Argumentationsweise zu gewinnen, ist es nicht zu umgehen, wenigstens einige Schlußketten aus diesem einleitenden Teil beispielshalber in extenso anzuführen. Nehmen wir zuerst gleich einmal den Anfang und gliedern ihn in eine Serie von Sentenzen, die wir dann unter einander vergleichen wollen. Auf den ersten Seiten (3–6) des Textes wird ausgeführt:54 Jede „genaue Einzelforschung“ bleibe wertlos und „zufällig“ 1) ohne „abhängigen | Zusammenhang mit“ einer „allgemeinen Gesetzmäßigkeit“, 2) ohne Leitung durch eine „allgemeingültige Richtlinie der Erkenntnis“, 3) ohne „Beziehung auf“ eine „grundlegende Gesetzmäßigkeit“,55 4) ohne Beziehung auf einen „einheitlichen unbedingten Gesichtspunkt“ (S.   3), 5) (S.   4) ohne Einsicht „in einen allgemeingültigen gesetzmäßigen Zusammenhang“, da ja 6) die Annahme jener Gesetzmäßigkeit „Voraussetzung“ sei, wo immer man über „die festgestellte Einzelbeobachtung als solche hinausgehen“ wolle.56 Die Frage sei dann aber 7)

54  Weber zitiert im folgenden aus dem 1. Kapitel „Idee einer Sozialphilosophie“ von Stammler, Wirtschaft2, S.  3–6, wobei er die Hervorhebungen der Vorlage zumeist nicht übernimmt, sondern durch eigene Hervorhebungen Akzente setzt. Diese Differenz wird nicht nachgewiesen, sondern nur Abweichungen im Inhalt. 55  Im Handexemplar von Weber mit der Randnotiz versehen: „πρ. ψ!“, einer Abkürzung für „proton pseudos“ (altgriech., erste Lüge, Grundirrtum), einem Begriff der aristotelischen Logik, der die erste falsche Prämisse bezeichnet, aus der dann weitere Fehlaussagen folgen. 56  Bei Stammler, Wirtschaft2, S.  4: „jedes Hinausgehen über festgestellte Einzelbeob­ achtung als solche“.

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(S.  5),57 ob sich „eine allgemeine Gesetzmäßigkeit im sozialen Leben der Menschen ebenso aufstellen“58 lasse, „wie die Gesetzmäßigkeit der Natur als Grundlage der Naturwissenschaften“59 es sei. Zu dieser Frage aber, bei der es sich 8) „um die Gesetzmäßig­ keit aller unserer Erkenntnisi von sozialen Dingen“ handle,60 sei man leider bisher nicht vorgeschritten. Die Frage aber 9)61 nach der „obersten Gesetzmäßigkeit, unter der das soziale Leben in Abhängigkeit (!) zu erkennen ist“, „mündet praktisch in die grund­ sätzliche Auffassung über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit sofort aus“ (!), und in der Tat: „das Ringen .. nach gesetzmäßi­ ger Ausgestaltung des gesellschaftlichen Lebens ist da …. es heißt: soziale Frage“. 10) „Durch die wissenschaftliche Einsicht in die für menschliches Gemeinschaftsleben überhaupt geltende Gesetzmä­ ßigkeit ist daher die Möglichkeit bedingt, das menschliche Zusammenleben …. gesetzmäßig zu gestalten“.62 Hiermit vorerst einmal genug. Man muß, angesichts dieses Weichselzopfs63 von Aufstellungen, die alle mit dem Begriff der „Gesetzmäßigkeit“ operieren, bedauern, daß Stammler seine eigene Bemerkung (S.  3):64 derjenige, der von „gesetzmäßigen Vorgängen“ spreche, müsse vor allen Dingen wissen, was er damit eigentlich sagen will“, sich selbst so ganz und gar nicht zu Herzen genommen hat. Denn während es doch wohl auf der Hand liegt, daß in fast jeder der obigen 10 Sentenzen von etwas anderem die Rede ist als in den übrigen, ergibt die Lektüre des Buchs ebenso zweifellos die allerdings erstaunliche Tatsache, daß Stammler sich vortäuscht, er rede beständig, nur in wechselnden Wendungen, von einem und demselben Problem. Dies wird ermöglicht durch die in einer mit solchem Aplombj auftretenden Arbeit wohl beispiellose i A: Erkenntnis“  j A: Applomb   57  Gemeint ist: ebd., S.  4 f. 58  Bei Stammler, ebd., S.  5, heißt es: „des sozialen Lebens“. 59  Stammler, ebd., verwendet den Singular „Naturwissenschaft“. 60  Bei Stammler, ebd., S.  4, heißt es: „in sozialen Dingen“. 61  Vgl. ebd., S.  6. 62  Ebd., S.  6. 63  Verfilzte Kopfhaare. In der Neuzeit noch in Mitteleuropa verbreitet; oft verbunden mit Entzündungen der Kopfhaut, neuralgischen Schmerzen und Neurosen. Vgl. Neumann, Wladyslaw, Über den sogenannten Weichselzopf. – Leipzig: Benno Konegen 1904. 64  Gemeint ist: Stammler, Wirtschaft2, S.  4.

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Verschwommenheit und Zweideutigkeit seiner Formulierungen. Sehen wir uns die obigen in den entscheidenden Punkten im Wortlaut herausgegriffenen Sentenzen daraufhin noch einmal etwas an, so ist Nr.  1 überhaupt dem Sinn nach dunkel; was ein „abhängiger Zusammenhang mit einer Gesetzmäßigkeit“ bedeuten kann,65 ist nicht einzusehen, es sei denn, daß gemeint wäre entweder, man könne sinnvoll nur Einzelforschung treiben, um allgemeine (generelle) Gesetzmäßigkeiten daraus zu abstrahieren (nomothetisches Er|kennen) oder aber: man könne Einzelzusammenhänge nicht ohne Verwendung genereller (Gesetzes-)Erkenntnisk kausal deuten (historisches Erkennen).66 Daß Eins von diesen beiden oder auch beides in der Tat gemeint sei, könnte man aus Nr.  767 zu entnehmen geneigt sein, wonach die „Hauptfrage“l die sein soll, ob – so wird man die wiederum sehr verschwommene Fassung zu deuten geneigt sein – Gesetze des „sozialen Lebens“ in gleicher Art wie „Naturgesetze“ für die „tote“ Natur sich ermitteln lassen. Aus Nr.  368 und Nr.  669 (Notwendigkeit der Beziehung auf eine „grundlegende Gesetzmäßigkeit“, welche „Voraussetzung“ auch jeder gültigen Erkenntnis einzelner „Tatsachen“ als „notwendiger“ ist) könnte man des weiteren schließen, daß jene Thesen durch Bezugnahme auf die universelle Geltung der Kategorie der Kausalität (im Sinn von „Gesetzlichkeit“) in allerdings ganz unzulänglicher Weise motiviert werden sollten. Allein Nr.  270 und Nr.  871 sprechen demgegenüber plötzlich nicht mehr von der „Gesetzlichkeit“ des zu erkennenden Geschehens, sondern von der „Gesetzlichkeit“ unseres Erkennens, nicht mehr also von „Gesetzen“, die das Erkannte, resp. zu Erkennende: die Welt der „Objekte“ (die „Natur“ oder das „soziale Leben“)[,] empirisch beherrschen und k A: (Gesetzes)-Erkenntnis  l A: „Hauptfrage“,   65  Vgl. ebd., S.  3. 66  Stammler verwendet weder Windelbands Unterscheidung zwischen nomothetisch versus idiographisch noch Rickerts Unterscheidung zwischen naturwissenschaftlich versus geschichtswissenschaftlich. Vgl. Windelband, Geschichte, S.  12; Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  38 f.; Rickert, Grenzen, S.  302 f. 67  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  5. 68  Vgl. ebd., S.  3. 69  Vgl. ebd., S.  4. 70  Vgl. ebd., S.  3. 71  Vgl. ebd., S.  5.

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die zu ermitteln Aufgabe der Induktion72 (des „Hinausgehens über die Einzelbeobachtung“: – Nr.  673 – , um „besondern Tatsachen den Charakter der Notwendigkeit beizulegen“: – S.  4 unten)74 wäre, sondern sprechen statt dessen von Normen, die für unser Erkennen gelten. Denn etwas anderes wird man unter „allgemeingültigen Richtlinien der Erkenntnis“m (Nr.  2)75 und unter „Gesetzmäßigkeitn aller unserer Erkenntnis von sozialen Dingen“ (Nr.  8)76 nicht wohl verstehen können. Hier verschwimmen also „Denknormen“ und „Naturgesetze“ miteinander. Aber damit nicht genug: die (nach Nr.  5)77 unentbehrliche Einsicht in den Tatsachen-Zusam­ menhang (Nr.  5)78 (ein Konkretum) wird nicht nur gänzlich vermischt mit derjenigen in die „Gesetzmäßigkeit“ (ein Abstraktum) – obwohl, wenn diese letztere als Naturgesetzlichkeit verstanden werden sollte, beides einander entgegengesetzte, wenn aber als Erkenntnis-„Norm“, überhaupt gegeneinander disparate logische Beziehungen sind, – sondern jener „gesetzmäßige Zusammenhang“ (Nr.  5)79 wird überdies auch noch mit dem Prädikat „allgemeingültig“ versehen. Daß es sich dabei nicht um die „Gültigkeit“ des empirisch-wissenschaftlichen Urteils über einen reinen „Tatsachen“-Zusammenhang handeln soll, deutet schon die an sich ganz unverständliche Formulierung in Nr.  380 an, wo von der Notwendigkeit der „Beziehung“ auf einen einheitlichen „Gesichts­ punkt“ die Rede ist, und zwar auf einen „unbedingten“ Gesichtspunkt. Sowohl das Einordnen von Tatsachen in einen konkreten Zusammenhang wie die Abstraktion von „Gesetzmäßigkeiten“ aus Tatsachen81 pflegen freilich beide jeweils unter besondern „Gesichtspunkten“ zu erfolgen: darauf beruht ja die Arbeitsteilung der meisten Spezialwissen|schaften unter einander. Aber von einem m  Ausführungszeichen fehlt in A.   n A: „Gesetzmäßigkeit“   72  Zu Induktion vgl. ebd., S.  8 f., 657. 73  Vgl. ebd., S.  4: „jedes Hinausgehen über festgestellte Einzelbeobachtung“. 74  Ebd.: „legt besonderen Tatsachen […] die Eigenschaft der Notwendigkeit bei“. 75  Vgl. ebd., S.  3. 76  Vgl. ebd., S.  5; vgl. dazu auch oben, S.  302 mit Anm.  60. 77  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  4. 78  Vgl. ebd. 79  Vgl. ebd. 80  Vgl. ebd., S.  3. 81  Gemeint ist die generalisierende Abstraktion. Vgl. Einleitung, oben, S.  16 f.

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„unbedingten“ Gesichtspunkt kann eben deshalb für die Gesamtheit der empirischen Disziplinen doch wohl keine Rede sein. Das Prinzip der Quantifikation und mathematischen Formung aber, an welches ebenfalls gedacht sein könnte, ist den im fachlichen Sinne sogenannten „Naturwissenschaften“ keineswegs durchweg gemeinsam, und die üblicherweise sogenannten „Geisteswissenschaften“ sind ja grade durch die Vielheit und Differenzierung der „Gesichtspunkte“ gekennzeichnet, unter denen sie die Wirklichkeit betrachten. Am allerwenigsten aber kann „einheitlicher Gesichtspunkt“ in diesem Sinn mit grundlegender „Gesetzmäßigkeit“ identifiziert und allen Wissenschaften zugeschrieben werden. Und selbst, wenn man schließlich die ihnen allen gleich konstitutive Kategorie der Kausalität einen „Gesichtspunkt“ nennen wollte – worüber später82 –, würde in den historischen Disziplinen, welche individuelle Objekte im kausalen Regressus aus anderen individuellen Objekten erklären,83 die „Gesetzlichkeit“ des Geschehens zwar in einem sehr speziellen Sinne, vielleicht als eine der allgemeinen „Voraussetzungen“, aber sicherlich nicht als das, worauf die „Einzelbetrachtung“ bezogen wird, bezeichnet werden können. Während also Stammler „Einheitlichkeit“, „Gesetzmäßigkeit“, „Zusammenhang“, „Gesichtspunkt“ mit größter Unbefangenheit durcheinanderwirbeln läßt, handelt es sich dabei doch um ganz offensichtlich grundverschiedene Dinge, und die ganze Größe der angerichteten Konfusion wird vollends deutlich, wenn man aus der Sentenz Nr.  984 ersieht, woran denn nun eigentlich bei jenem „Gesichtspunkt“ gedacht ist. Die „oberste Gesetzmäßigkeit“ des sozialen Lebens „mündet“ – wie es da, wiederum äußerst verschwommen, heißt – in die „grundsätzliche Auffassung über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit“ aus. Nehmen wir den Satz in seiner überaus liederlichen Formulierung so hin, wie er ist, so fragt sich nun offenbar: handelt es sich bei jener „Auffassung“ um die wissenschaftliche Erklärung der „faktischen“ Beziehungen des „Einzelnen“ zur „Gesamtheit“, oder aber wird hier ein salto mortale in die „Welt der Werte“,85 des Sein-Sollenden also, gemacht? Die 82  Unten, S.  514 ff. 83  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  177 mit Anm.  10. 84  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  6. 85  Stammler verwendet diese Formulierung nicht.

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Sentenz Nr.  10,86 wonach „die Einsicht in die für menschliches Gemeinschaftsleben geltende Gesetzmäßigkeit“ die „Möglichkeit seiner gesetzmäßigen Ausgestaltung“ bedingt, könnte an und für sich noch so verstanden werden, daß es sich um eine „Einsicht“ in Gesetze des Geschehens handele. In der Tat: wenn es möglich sein sollte, „Gesetze“ des sozialen Geschehens nach Art der „Naturgesetze“ zu finden – und die Nationalökonomie an ihrem Teil hat solche wieder und wieder gesucht87 –[,] dann ist, für die „zweckvolle“ Beherrschung des sozialen Geschehens und die Beeinflussung seines Verlaufs gemäß unsern Absichten, deren Kenntnis uns zweifellos ebenso wertvoll, wie die Kenntnis der Gesetze der „toten“ Natur es für deren technische Beherrschung ist. Allein wie schon die Bezugnahme auf die | „soziale Frage“ in der Sentenz Nr.  988 zeigt, könnte im Sinn dieses Satzes jedenfalls unter „gesetzmäßiger Ausgestaltung“ des sozialen Lebens nicht schon ein solches sozialpolitisches Vorgehen verstanden werden, welches lediglich die nach Art der Naturgesetze als faktisch geltend erkannten „Gesetze“ des Geschehens gebührend berücksichtigt, sondern offenbar nur eine den Gesetzen des Sein-Sollens, also praktischen Normen genügende „Ausgestaltung“. Und obwohl Stammler unter Umständen mit der größten Gemütsruhe dasselbe Wort in demselben Satz in zwei verschiedenen Bedeutungen braucht, so ist nach alledem doch wohl anzunehmen, daß auch das „Gelten“ der „Gesetzmäßigkeit“ hier imperativisch zu verstehen ist und die „Einsicht“ in sie mithin die Erkenntnis eines „Gebots“ und zwar des „höchsten“, „grundlegenden“ Gebots für alles soziale Leben sein soll. Der vermutete salto mortale ist also in der Tat gemacht worden, und wir stehen nun vorläufig einmal auf dem Gipfel dieser Verwirrung: Naturgesetze, Denk-Kategorien und Imperative des Handelns, „Allgemeinheit“, „Einheitlichkeit“, „Zusammenhang“ und „Gesichtspunkt“, Geltung als empirische Notwendigkeit, als methodisches Prinzip, als logische und als praktische Norm, – das

86  Vgl. Stammler, ebd., S.  6; dort heißt es: „Durch die wissenschaftliche Einsicht in die für menschliches Gemeinschaftsleben überhaupt geltende Gesetzmäßigkeit ist daher die Möglichkeit bedingt, das menschliche Zusammenleben in jeweils besonderer geschichtlicher Lage gesetzmäßig zu gestalten […]“. 87  So z. B. Roscher. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  49 f. 88  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  6.

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Alles und noch Einiges wird hier am Eingang des Buches89 in einer Art durcheinander geschoben, die denn doch für eine Erörterung, welche den Gegner auf dem Boden der „Erkenntnistheorie“ schlagen will, wahrlich keine gute Prognose ergeben kann. Aber vielleicht stellt sich Stammler hier nur so konfus! Sein Buch ist ja keineswegs frei von dem Wunsch, „Effekte“, namentlich „Spannungs“-Effekte,90 zu erzielen, und es könnte also sein, daß er sich auf den ersten Seiten absichtlich nur einer rund um ihn herrschenden Unklarheit des Ausdruckes angepaßt hätte, um dann, allmählich, logische Klarheit und gedankliche Ordnung vor dem nach Erlösung aus jenem wirren Dunkel lechzenden Leser erstehen zu lassen, bis dieser reif wird, das endgültige, erlösende, ordnende Wort zu vernehmen. – Bei der Weiterlektüre nimmt nun aber, wenigstens innerhalb der „Einleitung“ (S.  3–20), die Verwirrung vorerst nicht ab, sondern zu. Wir finden (S.  12 unten)91 wieder die Zweideutigkeit von Ausdrücken wie „soziale Lehren“ und „einheitliche Grundauffassung“ des sozialen Lebens benützt, um (S.  13, vorletzter Absatz) die „Einsicht“ in die „Gesetzmäßigkeit“ als einen „Leitfaden“ hinzustellen, [„]nach dem alle Einzelwahr­ nehmungen (NB.!) der sozialen Geschichte (NB.!)[“] „in über­ einstimmender Weise aufgefaßt, beurteilt und gerichtet werden können“, – wir finden also in den zuletzt gesperrten Worten offenkundig Wert-Beurteilung zum Ziel der „Sozialwissenschaft“ gemacht, während in dem Leser durch die beiden zuerst gesperrten4) der Ein|druck erweckt wurde, es handle sich um theoretisches Erkennen. Auf S.  14 aber, in dem folgenden, die Grundlage der „Sozialphilosophie“ (S.  13 unten) erläuternden Satz: – „Wer von Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens“ (zweideutig! s. o.), „von

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4) Die Sperrungen bei Zitaten aus Stammler rühren, wo nicht ein anderes gesagt ist, A 105 durchweg von mir her. |

89  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  3–6; vgl. dazu oben, S.  501 mit Anm.  54. 90  Stammler verwendet diese Formulierung nicht. 91  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  12 f.: „Wenn also soziale Lehren in ihrer Verallgemeinerung beweisende Kraft haben sollen, so müssen sie in formal einheitlicher Art und Weise, unter Verwendung allgemein zu grunde gelegter Begriffe und gestützt auf einheitliche Grundauffassung des sozialen Lebens und seiner Entwicklung auftreten.“ Im Handexemplar unterstreicht Weber „auffassung“ und „seiner Entwicklung“ und vermerkt am Rand: „? Begriff ?“.

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gesellschaftlicher Entwicklung“ (theoretisch), „von sozialen Schäden“ (normativ) „und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit“ (theoretisch5)) „ihrer Heilung“ (normativ) „spricht, wer die Gesetze der sozialökonomischen Phänomene“ (der Fassung nach theoretisch) „aufbringt“ (!), „von sozialen Konflikten“ (ebenso) „handelt und an einen Fortschritt“ (normativ) „im gesellschaftlichen Dasein der Menschen glaubt oder ihn leugnen“ (theoretisch5)) „will, ein solcher muß, bei Meidung irrelevanten (?) subjektiven“ (gilt nur für die Werturteile) „Geredes, vor allem über die Besonderheiten der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis“ (also nicht der sozialphi­ losophischen,92 von der bis dahin die Rede war) „sich Klarheit verschaffen“, – in diesem Satz pendelt, wie man sieht, die Erörterung innerhalb jedes einzelnen Satzteils zwischen TatsachenErkenntnis und Tatsachen-Bewertung hin und her. Wenn ferner (S.  15 unten) gesagt wird: „Die allgemeingültige (NB.!) Gesetzmä­ ßigkeit des in der Geschichte sich abrollenden sozialen Lebens“ (also „Gesetzmäßigkeit“ des Erkenntnis-Objektes) „bedeutet (!) einheitliche (?) und (?) allgemeingültige (NB.!) Art ihrer (NB.!) Erkenntnis“, – so liegt die Ineinanderschiebung von Gesetzlichkeit des Geschehens und Norm des Erkennens, der Erörterung von „Erkenntnisgrund“ und von „Realgrund“,93 ebenso auf der Hand, wie auf S.  16 in dem Satz, daß die „oberste Einheit für alle soziale Erkenntnis“ einerseits „als Grundgesetz für alles soziale Leben gelten“,94 andrerseits (einige Zeilen später) die „allgemeingültige Grundlage“ sein soll, „auf der sich die Möglichkeit gesetzmäßiger Beobachtung menschlichen Gemeinschaftslebens dann ergibt“,95 A 106

5) „Theoretisch“ nämlich, nachdem feststeht, welcher Zustand als „Heilung“ und „Fortschritt“ gelten soll. Denn alsdann ist die Frage, ob die Herstellung dieses Zustandes „möglich“ und ob eine Annäherung an ihn, also ein „Fortschritt“, zu konstatieren sei, natürlich eine rein faktische Frage, auf welche die empirische Wissenschaft (im Prinzip) Antwort geben kann. |

92  Dies entspricht Webers Randbemerkung im Handexemplar zu ebd., S.  14 oben. 93  Vgl. die Randbemerkung Webers zu ebd., S.  15 unten: „Realgrund u. Erkenntnis­ grund verwechselt“. Zu dieser Unterscheidung vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  53 mit Anm.  63. 94  Für Stammler, Wirtschaft2, S.  16, soll „diese Einheit, als Grundgesetz des gesellschaftlichen Daseins der Menschen, den obersten Gesichtspunkt für die Untersuchung des sozialen Lebens abgeben“. Diesen Passus versieht Weber im Handexemplar mit der Randbemerkung: „wieder etwas Andres!“. 95  Bei Stammler, ebd., heißt es: „Gesellschaftslebens im einzelnen dann ergibt“.

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Stammler sogar die Ineinandermischung von Naturgesetz, praktischer und logischer Norm geglückt ist. Dabei hat man bei aufmerksamer Lektüre unaufhörlich das fatale Gefühl, daß die Zweideutigkeit solcher Ausdrücke wie „Gesetzmäßigkeit“, „allgemeingültig“ e tutti quanti in seinem Sprachgebrauch Stammler keineswegs ganz unbewußt geblieben ist, und selbst die gegenüber der ersten Auflage96 vorgenommenen Streichungen und Zusätze sind oft geeignet, diesen Eindruck zu steigern: St[ammler] weiß in vielen Fällen unzweifelhaft, daß seine Ausdrucksweise verschwommen und zweideutig ist. Aus dieser, wie gesagt, schwerlich überall unbewußten Zweideutigkeit seiner Ausdrücke nun, die uns auf | Schritt und Tritt auffällt, St[ammler] einen in irgend einem noch so indirekten Sinn „sittlichen“ Vorwurf zu machen, liegt – wie ausdrücklich bemerkt sei – mir absolut fern: – nein, es ist jene eigentümliche, instinktive „Diplomatie“ des in eine von ihm, wirklich oder vermeintlich, neu entdeckte „Weltformel“ verbissenen Dogmatikers, für den es a priori feststeht, daß sein „Dogma“ und die „Wissenschaft“ sich unmöglich widersprechen könneno, und der deshalb aus dieser seiner Glaubensgewißheit heraus es mit der Sicherheit eines Nachtwandlers vermeidet, sich an bedenklichen Stellen seiner Argumentation durch Unzweideutigkeit „festzulegen“, sondern die Konfusion, die seine undeutliche und zweideutige Ausdrucksweise mit sich führt, getrost Gott anheimstellt, überzeugt, daß sie sich schon irgendwie der einmal erkannten „Formel“ anpassen und ihr entsprechend ordnen lassen müsse. Dem Unbefangenen freilich muß es höchst unwahrscheinlich erscheinen, daß, wenn man mit so leichtem Gepäck, mit einer solchen schülerhaften Vermengung der allereinfachsten Kategorien, wie wir sie bei St[ammler] schon auf den ersten Seiten fanden, die Fahrt beginnt, man zu irgend einem Verständnis dessen gelangen kann, was eine „empirische“ Disziplin, wie es die „Sozialwissenschaft“, in unserem Sinn,97 ist, überhaupt als Erkenntniszweck wollen kann und soll. Und es ist nun auch leicht verständlich, daß St[ammler] die oben parodierte98 – sei es angebliche oder wirkliche – Argumentation o A: könne   96  Stammler, Wirtschaft1. 97  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  174 mit Anm.  97. 98  Oben, S.  491 ff.

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des Geschichtsmaterialismus so, wie er es tut, wiedergeben und für (außer von seinem „erkenntnis-theoretischen“ Standpunkt aus) unwiderleglich halten kann: wem „Naturgesetze“ und logische „Normen“ ineinanderschwimmen, der ist eben Scholastiker im strikten Sinn des Worts und der ist deshalb auch gegen scholastische Argumentationen machtlos. Daß dies in Wahrheit der Grund ist, zeigt sich denn auch sehr deutlich schon auf S.  19, wo erstmalig das allgemeine wissenschaftliche Wesen des Geschichtsmaterialismus gekennzeichnet wird. Nachdem auf S.  18, Absatz 3 scheinbar ausdrücklich der empirische Charakter des Problems anerkannt ist, folgt darauf im Absatz 4 die Feststellung, daß der Geschichtsmaterialismus ein festes „Rangverhältnis“ unter den Elementen des sozialen Lebens zu ermitteln suche, – d. h. also, wenigstens dem Anschein nach, daß er die kausale Bedeutung jener „Elemente“ in ihren Beziehungen zu einander generell feststellen wolle. Allein im selben Absatz war bereits kurz vorher davon gesprochen worden, daß die dem Geschichtsmaterialismus eigne Auffassung dieses Punktes ein „methodisches Prinzip“ von „formaler Bedeutung“ sei, und auf S.  1999 schließt sich daran, in der bei St[ammler] üblichen Verschwommenheit, die weitere Behauptung, daß, der „Grundmeinung“ der „materialistischen Geschichtsauffassung“ gemäß – es wird nicht gesagt, ob dies die bewußte Ansicht ihrer Vertreter oder eine von Stammler ihnen imputierte „Konsequenz“ ihrer Ansicht sein soll – man zu unterscheiden habe zwischen den „erkannten | Einzelgesetzen“ und: der „allgemeinen formalen Gesetzmäßigkeit, das ist die grundlegende Art der reinen Synthesis von Tatsachen zu Gesetzen“.1 Nichts ist nun bekanntlich vieldeutiger als das Wort „formal“ und der Sinn des Gegensatzes: Inhalt – Form. Was darunter verstanden sein soll, bedarf in jedem einzelnen Fall einer ganz präzisen Feststellung. Da – nach Stammler selbst – die „Grundmeinung“ des Geschichtsmaterialismus dahin geht, daß durchweg die „ökonomischen Phänomene“ in ihrer Eigenart und Entwicklung es sind, welche für die Gestaltung aller übrigen historischen Vorgänge den Ausschlag geben, d. h. sie ursächlich eindeutig bestimmen, so mag man zwar die Unbe-

99  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  18 f. 1  Bei Stammler, ebd., S.  19, heißt es: „der rechten Synthesis“.

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stimmtheit des Begriffs „ökonomische Phänomene“2 rügen, sicher ist aber jedenfalls Eins: daß diese Behauptung eine sachliche, die Art des Kausalzusammenhangs des empirischen Geschehens betreffende ist, eine These mithin, die sich von der Behauptung: daß in einem oder mehreren konkreten Einzelfällen oder in bestimmten enger oder weiter gefaßten Gattungen von Fällen „ökonomische“ Ursachen ausschlaggebend seien, in durchaus gar nichts anderem als in ihrer größeren Allgemeinheit unterscheidet. Sie ist eine Hypothese, welche man z. B. versuchen kann, „deduktiv“ aus den allgemeinen faktischen Bedingungen des menschlichen Lebens wahrscheinlich zu machen und dann „induktiv“ immer erneut an den „Tatsachen“ zu verifizieren, – stets aber bleibt sie eine sachli­ che Hypothese. Daran ändert natürlich es auch ganz und gar nichts, wenn z. B. jemand erklärt, die geschichtsmaterialistische Theorie nicht als einen Lehrsatz, sondern als ein „heuristisches Prinzip“ anzuerkennen und damit eine spezifische „Methode“ der Durchforschung des geschichtlichen Materials „unter ökonomischen Gesichtspunkten“ zu statuieren sucht. Denn dies, wie die Erfahrung lehrt, bei sachgemäßem und nüchternem Vorgehen, unter Umständen höchst fruchtbare Verfahren bedeutet ja doch wiederum lediglich, daß jene generelle Behauptung von der Bedeutung der ökonomischen Bedingungen als sachliche Hypothese behandelt und an den Tatsachen auf ihre Tragweite und die Grenzen ihrer Richtigkeit hin geprüft werden soll. Es ist absolut nicht abzusehen, wie jene Hypothese dadurch oder überhaupt irgendwie ihren Sinn als einer generellen sachlichen Behauptung wechseln und einen „formalen“ Charakter gewinnen sollte, der sie mit einer gegenüber den „Einzelgesetzen“, – d. h.: Behauptungen oder Lehrsätzen, die weniger umfassende Generalisationen enthalten, – spezifischen logischen Dignität ausstattete, dergestalt, daß jene „besonderen Gesetze“ ihren „Geltungswert“ und ihre „wissenschaftliche Existenzberechtigung“ nunmehr logisch auf sie „stützen“.3 Es 2  Stammler bestimmt diesen Begriff im zweiten Abschnitt („Ökonomische Phänomene“) des dritten Buches („Monismus des sozialen Lebens“). Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  234 ff., hier S.  253: „Ein ökonomisches Phänomen heißt daher eine gleichheitliche Massenerscheinung von Rechtsverhältnissen.“ Im Handexemplar mit doppeltem Randstrich und einem großen Fragezeichen versehen. 3  Für Stammler, ebd., S.  19, strebt die materialistische Geschichtsauffassung danach, „das Ganze der sozialen Entwicklung als einen Naturprozeß darzutun, welchem man

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steht natürlich terminologisch frei und geschieht oft, daß die jeweilig letzten („höchsten“) Generalisationen einer Disziplin – so etwa der Satz von der „Erhaltung der Energie“4 – um deswillen als „formal“ bezeichnet werden, weil sie mit einem Maximum von | Geltungs-„Umfang“ ein Minimum von sachlichem „Inhalt“ – aber wohlgemerkt nicht etwa: keinen sachlichen Inhalt! – verbinden. Jede „höhere“ Generalisation überhaupt ist aber alsdann „formal“ im Verhältnis zu allen „niedrigeren“ d. h. weniger umfassenden. Alle „Axiome“ der Physik5 z. B. sind „höchste“ Generalisationen jener Art, d. h. Hypothesen von mathematischer „Evidenz“ und außerordentlich hohem Grade empirischer „Erprobtheit“ an den Tatsachen, der sich seither bei jeder Verwendung ihrer als „heuristischer Prinzipien“ gesteigert hatp (der aber trotzdem, wie z. B. die Radioaktivitätsdebatte zeigte, ganz und gar von der immer wiederkehrenden „Bewährung“ an den „Tatsachen“ abhängt). Allein schon ein Student der Logik im ersten Semester ist verpflichtet zu wissen, daß sie damit nicht den logischen Charakter „formaler“ Erkenntnisprinzipien im Sinn von erkenntnistheoretischen „Kategorien“ a priori erreicht haben und ihn auch nie und nimmer zu erreichen imstande sind. Es ist, wenn man denn einmal, wie St[ammler], als „Erkenntnistheoretiker“ aufzutreten beabsichtigt und sich dabei gar noch ausdrücklich auf Kant stützen will,6 natürlich ganz der gleiche unentschuldbar schülerhafte Fehler, wenn man „Axiome“, d. h. Sätze, welche Erfahrung „vereinfachen“[,] p A: hat,   seine Gesetze jeweils abzulauschen im stande ist“. Dabei unterscheidet er zwischen „besonderen Gesetze[n], welche für die einzelnen geschichtlichen Erscheinungen innerhalb eines sozialen Lebens Geltung haben“, wie z. B. „die der kapitalistischen Produktionsweise immanent innewohnenden Einzelgesetze, wie dasjenige der notwendigen Erzeugung von Mehrwert“; und dem „für alles irgendwelche soziale Leben geltende[n] formale[n] Grundgesetz der notwendigen Abhängigkeit alles gesellschaftlichen Daseins von der sozialen Wirtschaft“ – Weber unterstreicht im Handexemplar „formale“ und notiert am Rand dazu: „warum formale?“ –, worauf „dann jene Einzelgesetze, die unter besonderen empirischen Bedingungen gelten, ihren Geltungswert und ihre wissenschaftliche Existenzberechtigung stützen“ – Weber unterstreicht „stützen“ und setzt ein großes Fragezeichen an den Rand mit dem Kommentar: „absolut nicht“. 4  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  255 mit Anm.  54. 5  Vgl. Wundt, Axiome. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  342. 6  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  17; allerdings bezeichnet sich Stammler dort nicht als „Erkenntnistheoretiker“.

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zum Range einer „Kategorie“ erhebt, wie wenn man die „Kategorien“, deren formende Macht „Erfahrung“ erst sinnvoll „möglich“ werden läßt, zu generellen Erfahrungssätzen stempelt und z. B., weil wir, höchst ungenau, zuweilen vom „Kausalgesetz“7 reden, die einzelnen „Naturgesetze“ als das jeweils unter besonderen Bedingungen „wirkende“ Kausal-„Gesetz“, als dessen „Spezialfälle“ also, ansieht, das „Kausalgesetz“ selbst aber, dem entsprechend, als die umfassendste Tatsachen-Generalisation. Der zuletzt genannte Fehler ist ein Rückschritt hinter Kant bis (mindestens) auf Hume, der erstgenannte aber noch sehr viel weiter, nämlich bis in die Scholastik. Auf diesem Rückfall in die massivste Scholastik beruht aber Stammlers ganze Argumentation: man lese noch einmal die oben gegebene Parodie8 und überzeuge sich eventuell noch einmal, daß sie dem, was an den dort zitierten Stellen und auf S.  18 und 19 des Stammlerschen Buches gesagt ist, auch in der Tat entspricht. Den andern grade entgegengesetzten Fehler: Verwandlung der Kategorien in Erfahrungssätze, hat er zwar nicht „ausdrücklich“ begangen, – im Gegenteil: er bemüht sich ja, auf dem Boden der Kantschen Lehre zu stehen –; daß er ihn implicite ebenfalls macht, werden wir aber bald sehen9 und überdies, wenn wir die Schwächlichkeit und Inkonsequenz, mit der er die „Frage“ der Kausalität behandelt, später näher kennen lernen, uns überzeugen, daß es im praktischen Effekt nicht allzu viel ausmacht, ob man die „Axiome“ zu „Kategorien“ empor- oder die „Kategorien“ zu „Axiomen“ herabschraubt. Vollends die Erhebung rein methodo­ logischer „Grundsätze“ zum Range erkenntnistheoretisch verankerter „Formalprinzipien“, wie Stammler sie | in seiner eingangs (in parodierter Form) wiedergegebenen Darlegung der „materialistischen Geschichtsauffassung“ zum Besten gibt,10 ist – nur im umgekehrten Sinn – natürlich ganz dasselbe, wie die Verwandlung des Satzes vom Grunde11 in ein „heuristisches Prinzip“, d. h. aber: in eine an der Erfahrung zu erprobende Hypothese: – und solche Schnitzer tischt uns ein angeblicher „Jünger“ Kants auf! 7  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben. S.  52, Fn.  16 mit Anm.  59. Stammler verwendet diese Formulierung häufig; vgl. dazu z. B. oben, S.  495 mit Anm.  32. 8  Oben, S.  491 ff. 9  Unten, S.  517 f. 10  Vgl. oben, S.  497 und S.  500 mit Anm.  48. 11  Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  364 mit Anm.  49.

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Ein Weichselzopf12 all dieser und ähnlicher elementarer logischer Fehler endlich ist es, wenn Stammler die „Kategorien“ schließlich auch noch zu „Gesichtspunkten“ stempelt, „unter denen“ die Generalisationen erfolgen, wie er auf S.  12 unten tut. Dort erklärt er die stete Frage für unentbehrlich, „nach welchem einheitlichen Gesichtspunkt“ bei den „Generalisationen bestimmter Beobachtungen“ (NB!) verfahren worden sei: „Geschieht es im Sinne der Kausalität oder der Zweckidee; warum das eine oder das andere, und in welchem Sinn jedes des Nähern?“13 – Zunächst ist nun diese Alternative, wenn sie besteht, keineswegs eine ausschließliche. Der generelle Begriff „weiße Gegenstände“ z. B. ist weder unter „kausalen“ Gesichtspunkten noch unter dem Gesichtspunkt einer „Zweckidee“ gebildet, er ist nichts als eine logisch bearbeitete Allgemein-Vorstellung, ein einfacher klassifikatorischer Begriff.14 Aber auch wenn wir von dieser Unexaktheit des Ausdrucks absehen, bleibt vollständig offen, was eigentlich mit jener Alternative gemeint ist. Denn was heißt: „Generalisieren von Beobachtungen im Sinne der Zweckidee?“15 Wir wollen uns die Möglichkeiten dessen kurz vergegenwärtigen, da diese Betrachtung einigen späteren Erörterungen zu Gute kommen kann. Heißt es etwa die deduktive Erschließung von metaphysischen „Natur­ zwecken“ aus empirischen „Naturgesetzen“, – etwa in dem Sinn, in welchem E[duard] v. Hartmann gelegentlich aus dem sog. „zweiten Hauptsatz“ der Energielehre16 den „Zweck“ des endlichen Weltprozesses zu demonstrieren sucht?17 Oder heißt es die Verwen12  Vgl. oben, S.  502 mit Anm.  63. 13  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  12; im Handexemplar markiert Weber den hier zitierten Satz mit einem doppelten Randstrich und kommentiert: „Das hätte auch Stammler S.  3–8 beachten sollen“; das Wort „Zweckidee“ unterstreicht er und notiert am Rand: „was ist das?“. 14 Zur „classificatorischen Begriffsbildung“ vgl. Sigwart, Logik II (wie oben, S.  5, Anm.  31), S.  231 ff.; Rickert, Grenzen, S.  68 ff. 15  Vgl. dazu oben, S.  514 mit Anm.  13. 16 Vgl. Clausius, Robert, Über den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie. Ein Vortrag gehalten in einer allgemeinen Sitzung der 41. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Frankfurt a.  M. am 23. September 1867. – Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1867. Dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zufolge nimmt in einem abgeschlossenen System die Entropie zu. Ein Zustand der Ordnung geht von selbst in einen Zustand der Unordnung über. 17  Für Hartmann, Eduard von, Die Weltanschauung der modernen Physik. – Leipzig: Hermann Haacke 1902, S.  29 ff., bes. S.  33, beinhalten die Hauptsätze der Energieleh-

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dung „teleologischer Begriffe“, wie z. B. in der Biologie,18 als heuristischer Prinzipien zur Gewinnung von genereller Einsicht in die Zusammenhänge der Lebenserscheinungen? Im ersteren Fall soll metaphysischer Glaube durch Erfahrungssätze gestützt werden, im zweiten wird „anthropomorphe“ Metaphysik heuristisch verwendet, um Erfahrungssätze zu entbinden. Oder sollen damit Erfahrungssätze über die für gewisse, generell bestimmte „Zwecke“ generell „geeigneten Mittel“ gemeint sein? In diesem Fall würde es sich aber natürlich um einfache generelle kausale Erkenntnis handeln, welche in die Form eines praktischen Raisonnements gekleidet wäre. Der Satz z. B.: „die wirtschaftspolitische Maßregel x ist für den Zweck y dienlich“ ist lediglich eine Umstilisierung des empirischen, eine generelle Kausalverknüpfung behauptenden Lehrsatzes: „wenn x stattfindet, so ist y die generelle (und zwar entweder: die ausnahmslose, oder: die „adäquate“) Folge“.19 Den ersten der drei Fälle dürfte Stammler, der ja keine Metaphysik, | am wenigsten naturalistische, treiben will, schwerlich meinen, die beiden anderen würde er doch wohl als „Generalisationen im Sinn der Kausalität“20 anerkennen müssen. Oder sollte etwa die logische Bearbeitung genereller Werturteile und ethischer oder politischer Postulate gemeint sein? Der Satz: „der Schutz der Schwachen ist Aufgabe des Staates“,21 ist, – wenn wir hier einmal von der Verschwommenheit der Begriffe „Schutz“ und „schwach“ abstrahie-

re, daß „die Welt endlich sein“ muß; „ist aber die Welt endlich, so folgt aus dem zweiten Hauptsatz, dass auch ihr Prozess nach vorwärts hin endlich sein muss, dass er wenigstens immer schwächer wird und sich immer mehr einem ruhenden Gleichgewichtszustand nähert“. Im Anschluß daran kommt Hartmann, ebd., S.  40 f., auf eine „objektive Teleologie“ zu sprechen, derzufolge der alleinige „Daseinszweck der unorganischen Natur in der Hervorbringung des organischen Lebens“ bestehe. In Webers Handexemplar (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) ist „Daseinszweck“ unterstrichen, mit einem doppelten Randstrich und der Notiz versehen: „Umschlag in Meta­ physik“. 18 Vgl. Rickert, Grenzen, S.  455 ff. Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  359 f. 19  Zum Begriff der adäquaten Verursachung vgl. Einleitung, oben, S.  23. 20  Vgl. dazu oben, S.  514 mit Anm.  13. 21  In der Sozialpolitik des Deutschen Reiches verbreitete Formulierung. Vgl. sinngemäß z. B. Kautsky, Karl, Die Klassengegensätze von 1789. Zum hundertjährigen Gedenktag der großen Revolution. Separat-Abdruck aus der „Neuen Zeit“. Heft 1–4. – Stuttgart: J. H. W. Dietz 1889, S.  10 f. Stammler verwendet diese Formulierung nicht.

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ren, – eine „generelle“ praktische Maxime,22 deren WahrheitsGehalt im Sinn des Gelten-Sollens selbstverständlich auch der Diskussion fähig ist. Nur selbstredend in einem absolut andern Sinn als dem der Feststellung als empirischer Tatsache oder „Naturgesetz“. Enthält sie aber etwa eine „Generalisation von Beobachtungen“? oder ist die Auseinandersetzung über ihren Wahrheitsgehalt durch „Generalisationen von Beobachtungen“ zu Ende zu führen? Da ist zu unterscheiden. Der Maxime wird entweder direkt der Charakter eines gültigen „Imperativs“ bestritten: dann bewegt sich die Diskussion auf dem Gebiet der ethischen „Normen“. Oder es wird ihre faktische „Durchführbarkeit“ bestritten: dann handelt es sich um den oben erwähnten23 dritten Fall: es wird ein x gesucht, dessen Herbeiführung y (hier: den „Schutz der Schwachen“) zur generellen Folge haben würde[,] und diskutiert, ob es eine staatliche Maßregel gebe, welche dieses x sei: eine rein kausale Betrachtung unter Verwendung von „Erfahrungsregeln“. Oder endlich – der weitaus häufigste Fall –: es wird ohne direkte Anfechtung der Geltung der gedachten Maxime nachzuweisen gesucht, daß sie um deswillen kein Imperativ sein könne, weil ihre Befolgung in ihren unvermeidlichen Konsequenzen andre, als Imperative anzuerkennende Maximen in ihrer Durchführbarkeit gefährde. Zu diesem Behuf nun werden die Gegner des diskutierten Satzes zweifellos generelle Erfahrungssätze über die Folgen der Durchführung jener sozialpolitischen Maxime zu gewinnen trachten und[,] nachdem sie solche, sei es durch direkte Induktion oder durch Aufstellung von Hypothesen, die an der Hand anderweitig anerkannter Lehrsätze zu demonstrieren versucht werden, gewonnen haben oder gewonnen zu haben glauben, werden sie die „Gültigkeit“ der Maxime wegen einer im Fall ihrer Durchführung zu gewärtigenden Verletzung z. B. etwa der „Maxime“: daß es Pflicht des Staates sei, die physische Gesundheit der Nation und die Träger der ästhetischen und intellektuellen „Kultur“ vor „Degeneration“ zu „schützen“ (wir sehen auch hier von der Art der Formulierung natürlich ganz ab), bestreiten. Die Erfahrungssätze, welche ins Feld geführt werden, fallen dann wiederum unter den oben erwähnten24 „dritten“ 22  Zum Begriff „Maxime“ vgl. unten, S.  530 ff. 23  Oben, S.  515. 24 Ebd.

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Fall: sie sind durchweg generelle Urteile über Kausalzusammenhänge nach dem Schema: auf x folgt – immer, oder: der „Regel“ nach – y. Wo aber sind dabei Generalisierungen von Beobachtun­ gen „unter dem Gesichtspunkt der Zweckidee“ im | Gegensatz zu generellen Kausalsätzen vorgenommen? – Die beiden einander bekämpfenden Maximen selbst schließlich sind Werte, die letztlich gegeneinander „abgewogen“ und zwischen denen eventuell gewählt werden muß. Aber diese Wahl kann sicherlich nicht im Wege der „Generalisierung“ von „Beobachtungen“, sondern nur im Wege der „dialektischen“ Ermittlung ihrer „inneren Konsequenz“, d. h. also der „höchsten“ praktischen „Axiome“, auf die jene Maximen zurückgehen, begründet werden. Ganz so verfährt ja auch Stammler, wie wir später sehen werden, in seinen Deduktionen im letzten Kapitel seines Buchs.25 Und nicht nur bei dieser Gelegenheit hebt auch er durchaus zutreffend die absolute logische Disparatheit von kausaler „Erklärung“ und „Werturteil“, von Entwicklungsprognose und Sollen hervor, sondern schon im Verlauf der Darstellung des Geschichtsmaterialismus erläutert er diesen Gegensatz (S.  51–54)26 in einem „Dialog“ zwischen „Bürger“ und „Sozialisten“ in dankenswerter Anschaulichkeit. Beide Gegner „tummeln sich in getrennten Elementen“,27 weil der eine von dem spricht, was – nach (wirklich oder vermeintlich) feststehenden Erfahrungsregeln – unvermeidlich wird, der andere von dem, was, mit Rücksicht auf bestimmte (wirkliche oder angebliche) Kulturwerte, unbedingt nicht sein soll: „es ist“ – sagt Stammler „der Kampf des Bären mit dem Haifisch“.28 Gut! – aber sollte man es angesichts dessen für möglich halten, daß Stammler seinerseits es schon einige Seiten später fertig bringt, ganz in der uns schon mehrfach begegneten Art, beide, wie er doch selbst weiß, gänzlich verschiedenartigen Fragestellungen als mit einander identisch zu behandeln? – Oder geschieht dies etwa nicht, wenn er (S.  72) fragt: „welches ist denn nun das allgemeingültige …Verfahren, nach dem man Einzelwahr­ nehmungen (NB!) aus der Geschichte …. verallgemeinert (NB.!)

25  Vgl. den dritten Abschnitt („Sozialer Idealismus“) des fünften Buches („Das Recht des Rechtes“) in Stammler, Wirtschaft2, S.  560 ff. 26  Ebd., S.  51–55. 27  Ebd., S.  56. 28 Ebd.

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und als ‚gesetzmäßige‘ Erscheinungen erkennt und bestimmt?“29 – und gleich im selben Atem, ohne mit der Wimper zu zucken, fortfährt: „Wenn Jemand aber gar nicht weiß, was es überhaupt heißt: eine Erscheinung des Gesellschaftslebens rechtfertigen (NB.!), so hat es auch keinen Sinn, im Einzelnen darüber zu streiten, ob ein bestimmtes soziales Meinen und Streben gerechtfertigt (NB.!) sei oder nicht“.30 Wer hier nicht sieht, daß Stammler sich „in getrennten Elementen tummelt“ und es dabei wahrhaftig fertig bringt, „den Kampf des Bären mit dem Haifisch“31 sich in eine friedlich-milde konfuse Verbrüderung beider auflösen zu lassen, – der, scheint mir, will es nicht sehen. – Allein diese, wie jede Lektüre des Buches zeigt, auf Schritt und Tritt sich wiederholende Mystifikation des Lesers durch das beständige Jonglieren mit zwei heterogenen Fragestellungen ist bei weitem nicht die schlimmste unter jenen beständigen Tergiversationen,32 mit denen der „erkenntnistheoretische“ Unterbau der Stammlerschen „Kritik“ des | Geschichtsmaterialismus operiert. Was heißt denn eigentlich, wollen wir nachgerade einmal fragen, bei Stammler „sozialer Materialismus“, – derjenige Begriff, den er umschichtig mit „materialistischer Geschichtsauffassung“ braucht?33 „Materialistisch“ nennt oder, richtiger, nannte sich die von St[ammler] (angeblich) kritisierte „Auffassung“ deshalb, weil sie – so dürfen wir wohl, trotz allem, die „communis opinio“ ihrer Anhänger formulieren – die eindeutige Bedingtheit der „historischen“ Vorgänge durch die jeweilige Art der Beschaffung und Verwendung „materieller“, d. h. ökonomischer, Güter und insbesondere auch die eindeutige Determiniertheit des „historischen“ Handelns der Menschen durch „materielle“, d. h. ökonomische, Interessen behauptete. Das bereitwilligste nochmalige Zugeständ29  Vgl. ebd., S.  72. Den hier zitierten Passus hat Weber in seinem Handexemplar ab „verallgemeinert“ unterstrichen und mit dem Randkommentar versehen: „ein ganz unklarer Ausdruck!“. 30  Vgl. ebd. Weber unterstreicht im Handexemplar „rechtfertigen“ und „bestimmtes“ und fügt eine längere Randnotiz an: „Sprung in das Gebiet des Werthens! Unglaublich! Stammler spricht hier an sich selbst vorbei, er ist ‚Bürger‘ u. ‚Sozialist‘ in einer Person.“ 31  Vgl. oben, S.  517 mit Anm.  28. 32  Von frz., Ausflüchte. 33  Vgl. den ersten Abschnitt („Sozialer Materialismus“) des ersten Buches („Stand der Frage“) in Stammler, Wirtschaft2, S.  21 ff.

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nis an Stammler, daß alle einzelnen Begriffe, die zu dieser, hier rein provisorischen, Definition verwendet sind, Probleme enthalten und ihrem Inhalt nach höchst unbestimmt, ja vielleicht mit absoluter Schärfe gar nicht abgrenzbar[,] sondern flüssig sind, und die ausdrückliche (aber für jeden, der die Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit kennt, ganz selbstverständliche) Feststellung, daß es bei der Unterscheidung „ökonomischer“ von nicht-ökonomischen Determinanten des Geschehens sich stets um gedankliche Isolationen34 handelt, – dies alles ändert nicht das Mindeste daran, daß „ökonomische“ Interessen, „ökonomische“ Phänomene, „materielle“ Verhältnisse etc. dabei jedenfalls durchweg als ein sachlicher Teil der Gesamtheit der „historischen“ oder der „Kultur“-Erscheinungen, vor allem auch als ein Teil des „Gesellschaftslebens“ oder des „sozialen Lebens“ im Sinne von Stammlers Terminologie gedacht sind. Stammler selbst hatte (S.   18) anerkannt, daß der Geschichtsmaterialismus über das „Rangverhältnis“ eines „Elements“ des sozialen Lebens zu andren etwas Generelles aussagen wolle, und an andrer Stelle (S.  64–67) führt er selbst, ganz dieser, mit der üblichen Redeweise übereinstimmenden, Ansicht gemäß, Beispiele an und erläutert sie kritisch, welche das gegenseitige Kausalverhältnis „wirtschaftlicher“ („materieller“) und nicht „wirtschaftlicher“ Motive betreffen.35 Drei Seiten später aber (S.  70, vorletzter Absatz) heißt es plötzlich: „wenn man aber erst einmal den Begriff der Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens mit demjenigen des kausal erklärten Werdegangs sozialer Veränderungen identifiziert: wie will man dem Satze ausweichen, daß schließ­ lich einmal alle gesetzmäßig erkannten Vorkommnisse des Gesellschaftslebens auf die Grundlage der sozialen Wirtschaft in Abhängigkeit (!) zurückgehenq?“6) 36 | 6) Beispiel – auf S.  71 oben –: der „maßgebliche“ Einfluß „im letzten Grunde“ der A 113 wirtschaftlichen Bedingungen auf die Entwicklung der Architektur (ein an sich, beiläufig bemerkt, schwerlich überzeugender Fall, der aber überdies, da er auf sachliche Beweisgründe zu stützen versucht wird, in Widerspruch | mit dem angeblich „formalen“ A 114

q A: „zurückgehen   34  Vgl. Einleitung, oben, S.  16. 35  Stammler, Wirtschaft2, S.  64 f., nennt z. B. die Kreuzzüge. 36  Im Handexemplar hat Weber diesen Passus mit drei dicken Randstrichen und dem Kommentar: „Unglaublich!“ versehen.

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Man fragt sich vergebens, womit Stammler diese Argumentation, die im Ergebnis ja dem Geschichtsmaterialismus, wie man sieht, schlechthin alles gibt, was er braucht – und noch weit mehr – plausibel machen will. Denn wieso aus der Geltung des Satzes vom zureichenden Grunde37 für alles historische Geschehen und jede Erscheinung des Gesellschaftslebens folgen soll, daß alles historische Geschehen und jede Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens in letzter Instanz aus einem seiner Elemente allein müsse erklärt werden können, widrigenfalls ein Verstoß gegen die Kategorie der Kausalität vorliege, das ist denn doch wahrlich nicht einzusehen. Zwar halt! – wenn wir zwei Seiten zurückblättern, finden wir (S.  68) die Behauptung, es sei unmöglich, eine Mehrzahl von „grundlegenden Einheiten“ anzunehmen, „in denen ganz getrennte Kausalreihen neben einander herliefen“.38 Da auf dem Gebiet des Historischen kein Verständiger etwas derartiges annimmt, jedermann vielmehr weiß, daß der kausale Regressus jeder „Einzelerscheinung“ ins Unendliche auseinanderläuft39 und von „wirtschaftlichen“ Phänomenen – d. h. solchen, deren „wirtschaftliche Seiten“ im gegebenen Fall allein unser Interesse und Erklärungsbedürfnis erregen – ebenso auf Bedingungen politischer, religiöser, ethischer, geographischer etc. Art wie umgekehrt von politischen Phänomenen auf „wirtschaftliche“ und alle übrigen führt, so ist natürlich mit diesem Satz umsoweniger etwas für Stammlers These bewiesen, als er ja selbst sich gleich nachher darauf besinnt, daß jede BetrachCharakter des Prinzips steht). – Jene eigentümliche Diplomatie der Unklarheit, von der früher schon gesprochen wurde,40 macht sich auch hier bemerklich: „in Abhängigkeit zurückgehen“,41 „maßgeblicher Einfluß“,42 – das sind Ausdrücke, welche Stammler dem Wortsinn nach immer noch den Rückzug auf die Ausflucht gestatten würden, er habe ja nicht (wie dies der strikte „Materialist“ tut) von ausschließlich wirtschaftlicher Bedingtheit gesprochen. Aber das „im letzten Grunde“ ist doch zu echt geschichtsmaterialistisch formuliert, als daß er sich ihrer würde bedienen dürfen. | 37  Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  364 mit Anm.  49. 38 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  68. Im Handexemplar hat Weber die hier zitierten Passagen mit doppeltem Randstrich markiert, die Aussage „ganz getrennte Kausalitätsreihen“ unterstrichen und dazu am Rand vermerkt: „wer behauptet denn das?“. 39  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  177 mit Anm.  10. 40  Oben, S.  509. 41  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  70. 42 Ebd., S.  71. Im Handexemplar ist „maßgeblichen“ von Weber doppelt unterstrichen, mit doppeltem Randstrich, einem großen Ausrufezeichen und dem Kommentar versehen: „aber von ausschließlichem?“.

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tung einer einzelnen „Seite“ – also doch wohl auch der wirtschaftlichen – zum Zweck gesonderter Analyse, lediglich eine gedanklich vorgenommene Abstraktion aus dem „Allzusammenhang“43 bedeutet. Wir sind also über die Begründung des erwähnten Sentiments (S.  70) noch nicht klarer geworden. Blättern wir nun aber noch eine Seite weiter zurück (S.  67 unten)[,] so finden wir, daß da behauptet wird: „… alle Einzelbetrachtung, die unter dem Grundsatz des Kausalitätsgesetzes vollzogen wird, muß als grundlegende Bedingung die durchgängige Verbindung aller Sondererscheinungen nach einem (!) allgemeinen Gesetz annehmen, welches Gesetz dann im einzelnen aufzuweisen (?) ist.“44 Hier haben wir offenbar einen – wenigstens nach Stammlers Meinung – erkenntnistheoretischen Kernsatz des Geschichts­ mate­ rialis|mus, den er, wie seine nunmehr als Konsequenz daraus freilich sofort verständliche These auf S.  70, die uns hier beschäftigt, zur Evidenz zeigt, sich auch seinerseits bedingungslos aneignet. Fragt man, wie Stammler zu dieser Aufstellung gelangt ist, so sind dabei wahrscheinlich – denn Sicherheit ist aus dem Wirrwarr seines Buches nicht zu gewinnen – Trugschlüsse von unter sich verschiedener Provenienz im Spiel. Zunächst hat ihm – wie mehrfache entsprechende Äußerungen andeuten – wohl vorgeschwebt, daß die „exakten“ Naturwissenschaften mit dem Gedanken der „Reduktion“45 der Qualitäten auf Quantitäten, der Licht-, Ton-, Wärme- usw. Erscheinungen z. B. auf Bewegungsvorgänge qualitätsloser materieller „letzter“ Einheiten[,] arbeiten und deshalb die Vorstellung nähren, daß nur jene quantitativen Veränderungen der Materie wahre „Realitäten“, die „Qualia“46 aber deren „subjektive Wiederspiegelungen“ im Bewußtsein und also „ohne wahre Realität“ seien. So seien, meint er deshalb, nach der Lehre des Geschichtsmaterialismus im geschichtlichen Leben die „Materie“ (die wirtschaftlichen Verhält43  Möglicherweise von Gottl übernommen, der diesen Begriff häufig verwendet. Vgl. z. B. Gottl, Herrschaft, S.  128. 44  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  67. Im Handexemplar unterstreicht Weber „Kausalitätsgesetzes“ und „nach einem allgemeinen Gesetze“, versieht die erste Unterstreichung mit dem Randkommentar: „= gesetzes!“ und verbindet sie mit der zweiten durch ein Fragezeichen und die Frage: „ein anderes als eben das Causalgesetz?“. Vgl. dazu bereits oben, S.  495 f. mit Anm.  32. 45  Rickert konzipiert die naturwissenschaftliche Begriffsbildung im Sinne einer solchen Reduktion. Vgl. Rickert, Grenzen, S.  75 ff., 228 ff. 46  Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  346 mit Anm.  83.

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nisse und Interessen) und ihre „Veränderungen“ das allein Reale,47 alles andere nur ideologischer „Überbau“ und „Wiederspiegelung“.48 Es ist bekannt genug, daß diese grundschiefe und wissenschaftlich ganz wertlose Analogie tatsächlich noch immer die Köpfe mancher „Geschichtsmaterialisten“ beherrscht, – mit ihnen offenbar auch den unseres Autors. Aber dazu tritt bei Stammler nun vielleicht ein weiterer, ebenfalls nicht ungewöhnlicher Trugschluß, dem wir schon einmal begegneten.49 Weil wir, in ungenauer und zweifellos direkt irreführender Art, von Kausal„gesetz“ reden, so erscheint der „Satz vom Grunde“, wenigstens in seiner generalisierenden Wendung, recht leicht einfach als die höchste Verallgemeinerung, die innerhalb des empirischen Geschehens möglich ist, als der abstrakteste „Lehrsatz“ also der empirischen Wissenschaft, dessen, je für besondere „Bedingungen“ geltende, „Anwendungsfälle“ alsdann die „Naturgesetze“ seien. Nun sagt das so interpretierte „Kausalitätsgesetz“ als solches zwar schlechthin noch gar nichts über die Realität irgend welcher Wirklichkeit aus. Es muß aber – meint man dann leicht –, wenn man es nun auf die Wirklichkeit „anwendet“, doch jedenfalls ein erster, absolut allgemeingültiger Satz entstehen, ein „allgemeines Gesetz“, dessen sachlicher Gehalt nichts andres sein kann, als eben einfach das auf die allge­ meinsten und einfachsten „Elemente“ der Wirklichkeit angewendete, für sie geltende Kausal-„Gesetz“. Das wäre dann die kausale „Weltformel“, wie sie manche Adepten des Naturalismus erträumen.50 Die Einzelvorgänge der Wirklichkeit wären „in letzter 47  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  23: „Die gesellschaftliche Wirtschaft ist das Bestimmende und Befehlende; sie ist als Materie des sozialen Lebens das wahrhaft Reale, die wirkliche Substanz desselben.“ Im Handexemplar unterstreicht Weber „ist“ und „Materie“ und vermerkt am Rand: „= soll sein?“. 48  Vgl. ebd., S.  28 f.: „Das gesamte geistige Leben eines Volkes ist nach der materialistischen Geschichtsauffassung weiter nichts, als ein von der Materie der betreffenden Gesellschaft, der sozialen Wirtschaft derselben, hervorgebrachter und abhängiger Widerschein dieser sozialen Wirtschaft. […] In diesem Sinne bezeichnen die sozialen Materialisten alle geistigen Gesamtanschauungen, die einer gewissen Kulturepoche eigen sind, als einen ‚Überbau‘ der betreffenden gesellschaftlichen Wirtschaft.“ 49  Oben, S.  508 f. 50  Das Ideal einer „Weltformel“ wird dem mechanistisch-deterministischen Weltbild zugeschrieben. Ohne diese Bezeichnung zu verwenden, wurde es bündig formuliert in Laplace, Wahrscheinlichkeiten (wie oben, S.  2, Anm.  8), S.  3 f., und popularisiert durch Du Bois-Reymond, Grenzen (wie oben, S.  3, Anm.  16), S.  106 f. Die Bezeichnung „Weltformel“ findet sich z. B. in Windelband, Geschichte, S.  25, und Rickert, Grenzen, S.  508 ff.

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Instanz“51 das unter besonderen Bedingungen „wirkende“ Kausalgesetz, wie die Erdbahn ein „Fall“ der „Wirkung“ des Gravitationsgesetzes wäre. Stammler spricht diese Verwechslung von Naturgesetzen und „Kategorien“, die einem Jünger Kants ja freilich schlecht genug anstehen müßte, zwar – wie schon früher konstatiert52 | – nirgends mit ausdrücklichen Worten aus, – ja, wenn man sie ihm als seine Ansicht entgegenhält, wird er dagegen sehr wahrscheinlich protestieren. Allein dann frage ich, auf welche andre Art alsdann der „chemisch reine“ Unsinn, den er an den beiden hier besprochenen Stellen (S.  67 unten und S.  70, vorletzter Absatz)53 niedergeschrieben hat, in Verbindung mit seiner uns schon bekannten Vorstellung, daß der generellste Lehrsatz einer Wissenschaft ihr „formales“ Prinzip sei, und endlich mit der steten Verwechslung von „Gesichtspunkten“ und „methodischen Prinzipien“ mit (im Kantschen Sinne) transzendentalen und daher apriorischen „Formen“, d. h. logischen Voraussetzungen der Erfahrung, überhaupt zu erklären ist? – Wie dem nun sei, jedenfalls trägt der Satz von der Notwendigkeit eines allgemeinen Gesetzes, welches als einheitlicher Gesichtspunkt für die Gesamtheit aller überhaupt kausal zu erklärenden Erscheinungen der sozialen Wirklichkeit konstitutiv sein müsse, in Verbindung mit der Vorstellung, daß diese „höchste“ Allgemeinheit „Form“ des Seins und zugleich des Erkennens der sozialen Wirklichkeit, als der entsprechenden „Materie“ sei, alsbald seine verwirrenden Früchte.54 Dem Wort „Materie“ entspricht das Adjektivum „materialistisch“, und es läßt sich also ein Begriff einer „materialistischen“ Geschichtsauffassung konstruieren, deren Eigenart in der Behauptung gipfelt, daß die „Form“ des geschichtlichen oder, – was Stammler ohne weitere Erläuterung als damit synonym gebraucht, – des „sozialen“ Lebens durch die „Materie“ desselben bestimmt werde. Zwar hätte diese „Auffassung“ mit dem, was man gewöhnlich „Geschichtsmaterialismus“ nennt, und

51  Vgl. oben, S.  495 mit Anm.  29. 52  Oben, S.  512 f. 53  Vgl. oben, S.  495 mit Anm.  32, S.  519 mit Anm.  36, und S.  521 mit Anm.  44. 54 Zur Unterscheidung von Form und Materie vgl. §  22 („Form und Materie“) in Stammler, Wirtschaft2, S.  112 ff.

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was auch Stammler, wie wir sahen,55 wiederholt so genannt hat, ganz und gar nichts außer eben dem Namen gemein. Denn es ist klar, daß im Sinne dieser Terminologie alle einzelnen „Elemente“ (mit Stammler zu reden)56 des „Gesellschaftslebens“, also Religion, Politik, Kunst, Wissenschaft, ganz ebenso wie „Wirtschaft“ zur Materie desselben gehören, und daß also der gewöhnlich und bisher auch von Stammler so genannte Geschichtsmaterialismus, indem er die Abhängigkeit aller anderen Elemente von der „Wirtschaft“ behauptet, etwas über die Abhängigkeit eines Teils der „Materie“ von einem anderen Teil der Materie aussagt, keineswegs aber etwas über die Abhängigkeit der „Form“ des „sozialen Lebens“ – in dem nunmehr neu gewonnenen Sinn des Worts – von der „Materie“ desselben. Denn wenn die gewöhnlich so genannte „materialistische“ Geschichtsauffassungr gelegentlich wohl auch sich so ausdrückt, daß bestimmte Gegensätze von politischen oder religiösen Gedanken usw. „lediglich die Form“ seien, in der sich „materielle Interessenkonflikte“ äußern,57 oder wenn man die Erscheinungen des Lichts, der Wärme, der Elektrizität, des Magnetismus usw. etwa als verschiedene „Formen“ von „Energie“ bezeichnet,58 – so liegt es ja doch auf der Hand, daß hier das Wort „Form“ im grade umge|kehrten Sinn gebraucht ist, als in jenen Argumentationen Stammlers das Wort „formal“ verwendet wurde. Denn während dort, bei Stammler, als „formal“ das Einheitliche, Generelle, „grundlegend Allgemeine“ im Gegensatz zur Mannigfaltigkeit des „Inhalts“ bezeichnet wurde, ist hier die „Form“ ja r A: Geschichtsauffaßung   55  Oben, S.  510 f. 56  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  18. 57  Möglicherweise Anspielung auf Marx, Karl, Zur Kritik der Politischen Oekonomie, hg. von Karl Kautsky. – Stuttgart: J. H. W. Dietz Nachf. 1897, S.  XI f. Für Marx bilden die Produktionsverhältnisse die „ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Ueberbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen“. Bei der Betrachtung gesellschaftlicher Umwälzungen müsse man „unterscheiden zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatirenden Umwälzung in den ökonomischen Produktions­ bedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten“. 58 Wahrscheinlich bezieht sich Weber auf Riehl, Mayers Entdeckung (wie oben, S.  265, Anm.  89), S.  167, wonach „dieselbe ‚Energie‘ verschiedene Erscheinungsformen annehmen“ kann.

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grade das Wechselnde und Mannigfaltige der „Erscheinung“, hinter dem sich die Einheit des allein wahrhaft Realen verbirgt. Die wechselnden „Formen“ im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung sind hier also gerade das, was Stammler „Materie“ nennt. Man sieht eben, wie bedenklich es ist, mit solchen Kategorien, wie „Form – Inhalt“ ohne jeweils gänzlich unzweideutige Interpretation zu hantieren. Allein eben die Zweideutigkeit ist Stammlers eigentlichstes Element, grade sie und nur sie ermöglicht es ja seiner Scholastik, im gedanklich „Trüben“ zu fischen. Das alsbald beginnende Jonglieren mit den beiden grundverschiedenen Begriffen von „materialistisch“ allein ist es, welches Stammler die Möglichkeit bietet, auf Seite 37 die Abhängigkeit von Religion und Moral, Kunst und Wissenschaft, sozialen Vorstellungen u. s. w. vom Wirtschaftsleben,59 und ebenso auf S.  64 einerseits die Frage der ökonomischen Bedingtheit der Kreuzzüge, der Rezeption des römischen Rechts usw., andrerseits diejenige der politischen Bedingtheit des Bauernlegens60 als Beispiele, an denen die Richtigkeit der geschichtsmaterialistischen Konstruktion zu erhärten sei, anzuführen, dann aber auf S.  132 „das auf Bedürfnisbefriedigung“ (d. h. aber, nach S.  136, auf „Erzeugung von Lust und Abwehr von Unlust“) „gerichtete menschliche Zusammenwirken“ schlechthin als „Materie“ zu bezeichnen61 und in ihr „den empirischen Verlauf des Menschenlebens ohne Rest aufgehen“ zu lassen (S.  136, vorletzter Absatz), unter entschiedenster Verwerfung irgend einer Scheidung innerhalb dieser „Materie“ nach der „Art“ der Bedürfnisse, die befriedigt werden und (sofern nur ein „Zusammenwir59  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  37. Im Handexemplar unterstreicht Weber „Religion und der Moral“ „Kunst und Wissenschaft“ und notiert am Rand dazu: „Materie also“. 60  Das „Bauernlegen“ bezeichnet die Einziehung des gutszugehörigen Bauernlandes durch die Gutsherrschaft. „[D]er Bauer wird, damit er sich der Arbeit für den Gutsherrn nicht entzieht, unfrei; er wird […] ein frohnfähiger Bauer“. Vgl. Knapp, Georg Friedrich, Die Bauern-Befreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens. Erster Theil: Ueberblick der Entwicklung. – Leipzig: Duncker & Humblot 1887, S.  49. 61  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  136: „So ist das auf Bedürfnisbefriedigung gerichtete Zusammenwirken der Stoff, der durch eine äußere Regelung in seiner formalen Art bestimmt ist: – die Materie des sozialen Lebens.“ Im Handexemplar vermerkt Weber zum folgenden Anmerkungsindex: „cf. die Erschleichung hinten unter der Anmerkung“. Darin (ebd., S.  649 f.) beruft sich Stammler auf Natorp, Paul, Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft. – Stuttgart: Fr. Frommann 1899, was Weber wiederum kritisch kommentiert.

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ken“ stattfinde) nach den Mitteln, welche dafür verwendet werden (S.  143), – und dann sich einzubilden, ein Operieren mit diesem Begriff des „Materiellen“ (im Gegensatz zum „Formalen“) des sozialen Lebens könne zur „Widerlegung“ eines Geschichtsmaterialismus dienen, der mit einem gänzlich andern Begriff des „Materiellen“ (als dem Gegensatz in erster Linie zum „Ideologischen“) operiert. Allein wir haben hier etwas vorgegriffen. In den Bemerkungen auf S.  132 f., auf die wir exemplifizierten, hatte Stammler nämlich bereits längst wieder einen engeren Sinn des Gegensatzpaares: Inhalt – Form eingeführt, der, nach seiner Ansicht, speziell für das „soziale Leben“ Gültigkeit besitzt, ihm eigentümlich und für seinen Begriff konstitutiv ist. Wir werden uns ihm, und damit, nach so viel Kritik an Stammlers vorbereitenden Erörterungen, dem positiven Kern seiner Lehre nunmehr um so mehr zuzuwenden haben, als Stammler ja selbst (oder durch den Mund eines seiner Adepten)62 | vielleicht gegenüber allen bisherigen Feststellungen sagen könnte: „Ihr habt euch von mir mystifizieren lassen, indem ihr mich ernst nahmt! Ichs habe, notgedrungen, zunächst in der Begriffs-Sprache des Geschichtsmaterialismus geredet, – mein Zweck ist aber grade, diese Begriffs-Sprache ad absurdum zu führen, indem ich sie im Sumpfe ihrer eignen Konfusion ersticken lasse. Lest weiter, und ihr werdet die innere Selbstauf­ lösung dieser Auffassung und zugleich ihren Ersatz durch die neue, reine Lehre erleben! Ich, ihr Prophet, habe zunächst nur sozusagen incognito mit den Wölfen geheult.“ Freilich, die Imitation – wenn es eine solche sein tsollte –t wäre von verdächtiger Güte, aber mit der Möglichkeit, von St[ammler] bisher nur mystifiziert worden zu sein, müssen wir immerhin rechnen. Er vermeidet es, überall ganz unzweideutig erkennbar zu machen, wo der historische Materialismus aufhört und er anfängt zu sprechen. Und er schließt das bisher allein – soweit nötig – analysierte erste Buch seines Werkes63 mit einer feierlich-ernsten Vers A: ich  t–t A: sollte –,   62  Möglicherweise ist Wilhelm Eduard Biermann gemeint. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S.  355 f., Fn.  32 mit Anm.  22. 63  Das erste Buch trägt den Titel „Stand der Frage“ und enthält die Abschnitte „Sozialer Materialismus“ (Nr.  6–13) und „Gegner der materialistischen Geschichtsauffassung“ (Nr.  14–15). Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  21–62 und 63–74.

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weisung auf die „carmina non prius audita“,64 die uns nunmehr bevorstehen.65 Wohlan! Sehen wir uns die Bescherung an, die er uns bereitet. Aber es wird doch gut sein, wenn wir die Skepsis, welche die bisherigen Proben in uns erweckt haben, und die Erinnerung an die Art, wie grundverschiedene Kategorien des Erkennens durcheinander geworfen wurden bei Gelegenheiten, wo zweifellos Stammler selbst für sich und nicht als Mandatar des Geschichtsmaterialismus sprach, nicht ganz vergessen. – Ausgesprochener Zweck Stammlers ist, die „Wissenschaft vom sozialen Leben“ als eine von den „Naturwissenschaften“ schlechthin verschiedene dadurch zu erweisen, daß „soziales Leben“ als ein von der „Natur“ gänzlich verschiedenes Objekt der Betrachtung aufgezeigt und damit ein von der „naturwissenschaftlichen Methode“ verschiedenes Prinzip der Sozialwissenschaft als logisch unvermeidlich dargetan wird.66 Da der Gegensatz offenbar als eine exklusive Alternative gedacht wird, wäre von größter Wichtigkeit offenbar die eindeutige Feststellung dessen, was unter „Natur“, „Naturwissenschaften“, „naturwissenschaftlicher Methode“ verstanden sein, ihr entscheidendes Kriterium bilden soll. Daß dies letztere sich keineswegs etwa von selbst versteht, dürften die logischen Diskussionen der letzten Jahre – die Stammler freilich nicht oder doch nur ganz oberflächlich kennt – deutlich genug gezeigt 64  Wörtlich: „Lieder, die nie zuvor gehört waren“. Vgl. Des Quintus Horatius Flaccus Werke von Heinrich Voss in zwei Bänden, Band 1: Oden und Epoden, 3. Ausgabe. – Braunschweig: Friedrich Vieweg 1822, S.  117: „Odi profanum vulgus et arceo. Favete linguis: carmina non prius audita Musarum sacerdos virginibus puerisque canto.“ („Verhaßte Meng’ Unheiliger, fern hinweg! Seid still in Andacht. Frommen Gesang, wie vor Nie scholl, ein Musenpriester, sing’ ich Blühenden Knaben zugleich und Jungfraun.“) 65 Bei Stammler, Wirtschaft2, S.  70, findet sich dieses Horaz-Zitat nicht, wohl aber eine Anspielung auf Tacitus und ein Kant-Zitat. Im Handexemplar vermerkt Weber: „wie wichtig sich St[ammler] nimmt!“ 66  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  14: „Die Wissenschaft vom sozialen Leben der Menschen will von einer bloßen Erkenntnis der äußeren Natur verschieden sein. Es ist in jenem ein sicher empfundenes eigenes Objekt für menschliche Einsicht gegeben. Indem wir die allgemeinen Begriffe, die hier notwendig auftreten, nach ihrem Erkenntnisinhalte zergliedern, so werden wir demnach zuzusehen haben, durch welche begrifflichen Elemente die Möglichkeit einer sozialwissenschaftlichen Erkenntnis, gegenüber der bloßen Naturbetrachtung, überhaupt geliefert wird; welche von ihnen das soziale Leben als einen eigenen Gegenstand unserer Erkenntnis allererst begründen.“ Mit An- und Unterstreichungen im Handexemplar; zum ersten Satz bemerkt Weber: „vielleicht nur wie Physik u. Biologie!“; zum letzten: „also doch auch der Erfahrungs-Erkenntnis“.

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haben.67 Es ist dabei von vornherein zuzugeben, daß wir alle die Worte „Natur“ und „naturwissenschaftlich“ oft genug in unpräziser Sorglosigkeit brauchen, meinend, daß ihr Sinn im konkreten Fall unzweideutig sei. Aber das kann sich rächen, und für jemanden, der seine ganze Doktrin auf den unversöhnlichen begrifflichen Gegensatz der Objekte „Natur“ und „soziales Leben“ aufbaut,68 ist zum mindesten die Besinnung darauf, was denn unter „Natur“ verstanden sein soll, gradezu Lebensfrage. Nun pflegt man unter | „Natur“ schon im gemeinen Sprachgebrauch mehrerlei, und zwar entweder (1.) die „tote“ Natur oder (2.) diese und die nicht spezifisch menschlichen „Lebenserscheinungen“ oder (3.) diese beiden Objekte und außerdem auch diejenigen Lebenserscheinungen „vegetativer“ und „animalischer“ Art zu verstehen, die der Mensch mit den Tieren gemein hat, mit Ausschluß also der sog. „höhern“, „geistigen“ Lebensbetätigungen spezifisch menschlicher Art. Alsdann läge die Grenze des Begriffs „Natur“, je nachdem, ungefähr (denn ohne sehr starke Unpräzision geht es dabei keineswegs ab) da, wo (ad 1) die Physiologie (Pflanzen- und Tierphysiologie) oder wo (ad 2) die Psychologie (Tier- und menschliche Psychologie) oder endlich, wo (ad 3) die empirischen Disziplinen von den „Kultur-Erscheinungen“ (Ethnologie, „Kulturgeschichte“, im weitesten Sinn) ihr Objekt aus der Gesamtheit des empirisch Gegebenen herauszugrenzen beginnen.69 Stets aber wird hier „Natur“ als ein Komplex bestimmter Objekte gegen andere heterogene abgegrenzt. Ein zweiter[,] von diesem landläufigen logisch verschiedeneru[,] „Natur“-Begriff entsteht, wenn man die Untersuchung der empirischen Wirklichkeit auf das „Generelle“, die zeitlos geltenden Erfahrungsregeln („Naturgesetze“)[,] hin als „Naturwissenschaft“ der Betrachtung der gleichen empirischen Wirklichkeit auf das u A: verschiedenen   67  Zu Stammlers Rezeption der „modernen Logiker“, auf die sich Weber beruft, vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.   658, Anm.   126 (Rickert), S.   108, 642, Anm.   52, S.   644, Anm.  62 (Simmel), S.  665, Anm.  175 (Windelband). Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  45, Fn.  5, und ders., Objektivität, oben, S.  143, Fn.  1. 68  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  7 f.: „Denn das Gegenstück zur Natur, als dem Inbegriff der in Raum und Zeit uns gegebenen Erscheinungen, bildet nicht der Begriff des Rechtes, sondern das soziale Leben der Menschen.“ 69  Dieser dritte Punkt entspricht dem „materiale[n] Gegensatz von Natur und Kultur“, den Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S.  10, Anm.  62), S.  17, einführt. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  166 mit Anm.  71.

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„Individuelle“ in seiner kausalen Bedingtheit hin entgegensetzt: hier entscheidet die Art der Betrachtungsweise; der Gegensatz von „Natur“ ist dann „Geschichte“,70 und Wissenschaften wie die „Psychologie“, die „Sozialpsychologie“, „Soziologie“, v„theoretische Sozialökonomik“,v „vergleichende Religions-“w und „vergleichende Rechtswissenschaft“ gehören zu den „Naturwissenschaften“, während die dogmatischen Disziplinen ganz jenseits des Gegensatzes bleiben. Endlich7) entsteht ein dritter Begriff von „Naturwissenschaft“ und dadurch also indirekt auch von „Natur“, wenn man die Gesamtheit der eine empirisch-kausale „Erklärung“ erstrebenden Disziplinen denjenigen entgegenstellt, welche normative oder dogmatisch-begriffsanalytische Ziele verfolgen: Logik, theoretische Ethik und Ästhetik, Mathematik, Rechtsdogmatik, metaphysische (z. B. theologische) Dogmatiken. Hier entschiede der Gegensatz der Urteilskategorien („Sein“ und „Sollen“), und es fällt mithin auch die Gesamtheit der Objekte der „Geschichtswissenschaften“ einschließlich z. B. auch der Kunst-, Sitten-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte unter den Begriff der „Naturwissenschaft“, deren Umfang dann genau so weit reichte, als die Untersuchung mit der Kategorie der Kausalität arbeitet. Wir werden zwei fernere mögliche „Natur“-begriffe noch weiterhin kennen lernen und brechen hier vorerst einmal ab: die Vieldeutig|keit des Ausdrucks liegt zu Tage. Angesichts ihrer werden wir weiterhin stets zu beachten haben, in welchem Sinn Stamm­ ler, wo er von dem Gegensatz des „sozialen Lebens“ gegen die „Natur“ spricht, diesen letztern Begriff braucht. Zunächst fragen wir nunmehr aber, welche Merkmale denn für den von ihm ent-

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7) „Endlich“ nicht etwa in dem Sinn, daß hier eine auch nur annähernd erschöpfende A 119 Aufzählung der möglichen und faktisch verwendeten „Natur“-Begriffe gegeben wäre. S[iehe] auch weiter unten.71 |

v–v A: theoretische Sozialökonomik  w A: Religions“-   70  Für Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S,  10, Anm.  62), S.  19, entspricht dem „materialen Gegensatz von Natur und Kultur“ ein „formale[r] Gegensatz von naturwissenschaftlicher und historischer Methode“. Die naturwissenschaftliche Methode betrachtet die empirische Wirklichkeit auf das Generelle hin, wodurch diese Wirklichkeit „Natur“ wird; die kulturwissenschaftliche Methode betrachtet sie auf das Individuelle hin, wodurch sie „Geschichte“ wird (ebd., S.  38; vgl. Rickert, Grenzen, S.  255). Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  166 mit Anm.  71, und ders., Roscher und Knies 1, oben, S.  44 ff. 71  Unten, S.  542.

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deckten Gegenpol der „Natur“, also für „soziales Leben“ konstitutiv sein sollen, denn auf diesem Begriffe baut sich ja seine ganze Argumentation auf.

4. Das entscheidende Merkmal des „sozialen Lebens“, seine „formale“ Eigenart, ist, nach Stammler, daß es „geregeltes“ Zusammenleben ist, aus Wechselbeziehungen „unter äußeren Regeln“ besteht.72 Machen wir hier sofort Halt und fragen, ehe wir Stammler weiter folgen, was man sich alles unter den Worten: „geregelt“ und „Regel“ denken kann.73 Unter „Regeln“ können zunächst 1) generelle Aussagen über kausale Verknüpfungen verstanden sein: „Naturgesetze“. Will man dabei unter „Gesetzen“ nur generelle Kausalsätze von unbedingter Strenge (im Sinn der Ausnahmslosigkeit) verstehen, dann wird man (a) für alle Erfahrungssätze, die dieser Strenge nicht fähig sind, nur den Ausdruck „Regel“ beibehalten können. Nicht minder (b) für alle jene sog. „empirischen Gesetze“,74 denen umgekehrt zwar empirische Ausnahmslosigkeit, aber ohne oder doch ohne theoretisch genügende Einsicht in die für jene Ausnahmslosigkeit maßgebliche kausale Bedingtheit eignet. Es ist eine „Regel“ im Sinn eines „empirischen Gesetzes“ (ad b), daß die Menschen „sterben müssen“,75 es ist eine „Regel“ im Sinn eines generellen Erfahrungssatzes (ad a), daß einer Ohrfeige gewisse Reaktionen spezifischer Natur von seiten eines davon betroffenen Couleurstudenten „adäquat“76 sind. – Unter „Regel“ kann ferner 2) eine „Norm“ verstanden sein, an welcher gegenwärtige, vergangene oder zukünftige Vorgänge im Sinn eines Werturteils „gemessen“ werden, die generelle Aussage also eines (logischen, ethischen, ästhetischen) Sollens, im Gegensatz zum 72  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  84: „Soziales Leben ist äußerlich geregeltes Zusammenleben von Menschen.“ 73  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  179. 74  Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  59 mit Anm.  88, und ders., Roscher und Knies 3, oben, S.  360. 75  Weber bezieht sich bei der Wahl dieses Beispiels möglicherweise auf seine Kritik an Roscher, in der er bereits von empirischen Gesetzen spricht. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  79. 76  Möglicherweise Anspielung auf Kries. Vgl. Einleitung, oben, S.  23.

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empirischen „Sein“, mit dem es die „Regel“ in den Fällen ad 1 allein zu tun hat. Das „Gelten“ der Regel bedeutet im zweiten Fall einen generellen7a) Imperativ, dessen Inhalt die Norm selbst ist. Im ersten Fall bedeutet das „Gelten“ der Regel lediglich den „Gültigkeits“-Anspruch der Behauptung, daß die ihr entsprechenden faktischen Regelmäßigkeiten in der empirischen Wirklichkeit „gegeben“ oder aus ihr durch Generalisierung erschließbar seien. Neben diesen dem Sinne nach sehr einfachen beiden Grundbedeutungen des Begriffs: „Regel“ und „Geregeltheit“ finden sich nun aber andre, die nicht ohne weiteres glatt in einer jener beiden aufzugehen scheinen. Dahin gehört zunächst das, was man „Maximen“ des Han|delns zu nennen pflegt. Defoes Robinson z. B. – Stammler operiert mit ihm gelegentlich ganz ebenso,77 wie die theoretische Nationalökonomie es tut,78 wir müssen es daher auch tun – führt in seiner Isoliertheit eine, den Umständen seiner Existenz gemäß, „rationale“ Wirtschaft, und das heißt ohne allen und jeden Zweifel: er unterwirft seinen Güterverbrauch und seine Gütergewinnung bestimmten „Regeln“ und zwar spezieller: „ökonomischen“ Regeln. Wir ersehen daraus zunächst, daß die Annahme, die ökonomische „Regel“ könne begrifflich nur dem „sozialen“ Leben eignen: sie setze eine Mehrheit von ihr unterstellten, durch sie verbundenen Subjekten voraus, jedenfalls dann irrig ist8), wenn man überhaupt mit Robinsonaden etwas beweisen kann. Nun ist

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 Ob notwendig „generell“, lassen wir vorerst auf sich beruhen. | A 120  Für die „Regel“ im Sinn der sittlichen Norm versteht es sich von selbst, daß sie A 121 begrifflich nicht auf „soziale Wesen“ beschränkt ist. Auch „Robinson“ kann begrifflich „widersittlich“ handeln (z. B. etwa die im §  175x RStGB., zweiter Fall, zum Gegenstand eines Rechtsschutzes gemachte sittliche Norm).y 79 | 7a) 8)

x A: 275  y A: Norm.)   77  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  84, 105 f., 132, 186, 188, 238. 78  Vgl. Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S.  203, 236, dazu Mommsen, Einleitung, ebd., S.  26 f., und Weber, Objektivität, oben, S.  211 mit Anm.  29. 79 Gemeint ist §  175 (nicht: §  275) RStGB, dessen zweiter Fall die „Unzucht“ mit „Thieren“ regelt: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Vgl. Gesetz, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Fassung vom 15. Mai 1871, in: Reichsgesetzblatt, Band 1871, Nr.  24, S.  127–205, hier S.  161.

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Robinson gewiß ein sehr irreales Produkt der Dichtung, ein bloßes Begriffswesen, mit dem der „Scholastiker“ operiert, – allein einmal ist Stammler selbst ein Scholastiker und muß sich also gefallen lassen, daß seine Leser ihn ebenso bedienen wie er sie, und überdies: wenn denn einmal strikt „begriffliche“ Abgrenzungen in Frage stehen und der „Regel“-Begriff als logisch konstitutiv für „soziales Leben“ behandelt wird, und wenn ferner „ökonomische Phänomene“ als „begrifflich“ nur auf dem Boden „sozialer Regelung“80 denkbar hingestellt werden, wie dies bei Stammler geschieht, dann darf eben auch ein solches, ohne „logischen“ Widerspruch und – was nicht dasselbe ist – ohne absoluten Widerspruch gegen das nach Erfahrungsregeln überhaupt „Mögliche“,81 konstruiertes Wesen wie Robinson keine Bresche in den „Begriff“ schlagen können. Und es steht Stammler höchst übel zu Gesicht, wenn er, vorbeugend, hiergegen geltend macht (S.  84), ein Robinson sei eben kausal doch auch nur als Produkt „sozialen Lebens“, aus dem er durch Zufall hinausverschlagen worden, konstruierbar:82 er selbst hat ja, mit vollem Recht, aber mit einem auch hier wieder grade bei sich selbst sehr mangelhaften Erfolg, gepredigt, daß die kausale Herkunft der „Regel“ etwas für ihr begriffliches Wesen durchaus Irrelevantes sei. Wenn Stammler nun ferner (S.  146 und öfter) geltend macht, ein solches isoliert gedachtes Einzelwesen sei mit den Mitteln der „Naturwissenschaft“ zu erklären, da lediglich „die Natur und ihre technische (NB!) Beherrschung“ das Objekt der Erörterung bilde,83 so ist zunächst an die früher erörterte84 Viel­ 80  Stammler verwendet diese Formulierung häufig. Vgl. z. B. Stammler, Wirtschaft2, S.  117. 81  Kries, Möglichkeit, S.  6 [181 f.], nennt „das Eintreten eines Ereignisses unter gewissen ungenau bestimmten Umständen dann objectiv möglich, wenn Bestimmungen dieser Umstände denkbar sind, welche gemäss den factisch geltenden Gesetzen des Geschehens das Ereigniss verwirklichen würden“. Daher ist „in einer Aussage über objective Möglichkeit stets ein Wissen nomologischen Inhalts ausgedrückt“. Vgl. Einleitung, oben, S.  19 ff. 82  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  84: „Zwar ist es richtig, daß der vereinzelte Mensch, als ein isoliert lebendes Wesen vorzustellen ist. Denn dazu würde gehören, daß er niemals in geregelter Gemeinschaft gestanden hätte, daß er zu dem Erzeuger und der Mutter in keinem anderen Verhältnis wie das Tierjunge gestanden […].“ Im Handexemplar unterstreicht Weber die letzte Passage ab „in keinem“ und bemerkt am Rand: „also dies letztere steht in nicht geregelter Gemeinschaft?“ mit einem Pfeil nach oben zum „isoliert lebenden Wesen“. 83  Vgl. ebd., S.  134. 84  Oben, S.  527 ff.

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deutigkeit der Begriffe „Natur“ und „Naturwissenschaft“ zu erinnern: welche der verschiedenen Bedeutungen ist hier gemeint? Dann aber, und vor allem, daran, daß – wenn es denn einmal auf den Begriff der „Regel“ allein ankommen soll – „Technik“ doch grade | ein Verfahren nach „zweckvoll gesetzten“85 „Regeln“ ist. Das Zusammenwirken von Maschinenteilen z. B. erfolgt ganz in dem gleichen „logischen“ Sinne nach „menschlich gesetzten Regeln“,86 wie das Zusammenwirken gewaltsam zusammengekoppelter Zugpferde oder Sklaven oder endlich – dasjenige „freier“ menschlicher Arbeiter in einer Fabrik. Denn wenn in dem letzteren Fall richtig kalkulierter „psychischer Zwang“, – bewirkt durch den „Gedanken“ an die, im Fall des Abweichens von der „Arbeitsordnung“ geschlossene Tür der Fabrik, an den leeren Geldbeutel, die hungernde Familie etc., daneben vielleicht durch allerlei andere Vorstellungen, z. B. solche ethischer Art, endlich durch einfache „Gewohnheit“, – es ist, welcher den Arbeiter im Gesamtmechanismus festhält, bei den sachlichen Maschinenteilen dagegen ihre physikalischen und chemischen Qualitäten, – so macht das für den Sinn des Begriffs „Regel“ im einen und im andern Fall natürlich keinerlei Unterschied aus. Die Vorstellungen im Kopf des „Arbeiters“, sein Erfahrungswissen davon, daß seine Sättigung, Bekleidung, Erwärmung „davon abhängen“, daß er auf dem „Kontor“ gewisse Formeln ausspricht oder andre Zeichen von sich gibt (welche für einen von „Juristen“ sogenannten „Arbeitsvertrag“ üblich sind) und daß er sich alsdann jenem Mechanismus auch physisch einfügt, also bestimmte Muskelbewegungen vollzieht, daß er ferner, wenn er dies alles tut, periodisch gewisse spezifisch geformte Metallplatten oder Papierzettel zu erhalten die Chance87 hat, welche, in die Hände andrer Leute gelegt, bewirken, daß er Brot, Kohlen, Hosen etc. an sich nehmen kann und zwar mit dem Ergebnis, daß, wenn jemand ihm alsdann diese Gegenstände wieder wegnehmen wollte, auf sein Anrufen mit einer gewissen Wahrscheinlich-

85  Stammler verwendet diese Formulierung nicht. 86  Stammler verwendet diese Formulierung häufig. Vgl. z. B. Stammler, Wirtschaft2, S.  185, 245. Im Handexemplar kommentiert Weber S.  185: „Norm ist nicht Regel! was heißt das? braucht geschaffen? als Regel geschaffen?“, und S.  245: „immer der bedenkliche Ausdruck!“. 87  Zum Begriff „Chance“ vgl. Weber, Kritische Studien, oben, S.  472 mit Anm.  41.

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keit Leute mit Pickelhauben erscheinen und helfen würden, sie wieder in seine Hände zurückzulegen, – diese ganze hier nur möglichst grobschlächtig angedeutete Serie höchst komplizierter Vorstellungsreihen, auf deren Vorhandensein in den Köpfen der Arbeiter mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gezählt werden kann, werden vom Fabrikanten durchaus in der gleichen Art als kausale Bestimmungsgründe88 des Zusammenwirkens der menschlichen Muskelkräfte im technischen Produktionsprozeß in Betracht gezogen, wie die Schwere, Härte, Elastizität und andre physikalische Qualitäten der Stoffe, welche die Maschinen zusammensetzen und wie die physikalischen Qualitäten derjenigen, durch welche sie in Bewegung gesetzt werden. Die einen lassen sich ganz genau im logisch gleichen Sinn als kausale Bedingungen eines bestimmten „technischen“ Ergebnisses – z. B. der Entstehung von x Tonnen Roheisen aus y Tonnen Erzen innerhalb des Zeitraums z – ansehen wie die andren. Und bei den einen ist dabei das „Zusammenwirken nach Regeln“89 jedenfalls in logisch genau dem gleichen Sinn „Vorbedingung“ jenes technischen Erfolges wie bei den andren; daß dabei bei den einen „Bewußtseinsvorgänge“ in die Kausalkette ein|geschoben sind, bei den andern nicht, macht „logisch“ auch nicht den allermindesten Unterschied aus. Wenn also Stammler „technische“ und „sozialwissenschaftliche“ Betrachtung einander gegenüberstellt,90 so kann jedenfalls das Moment des Vorhandenseins einer „Regel des Zusammenwirkens“91 für sich allein noch nicht den ausschlaggebenden Unterschied konstituieren. Der Fabrikant setzt das Faktum, daß Leute vorhanden sind, welche Hunger haben und welche durch jene andern Leute mit den Pickelhauben daran gehindert werden, ihre physische Kraft zu benützen, um die Mittel, die zur Stillung ihres Hungers dienen könnten, einfach da zu nehmen, wo sie sie finden, in denen deshalb jene 88 Stammler verwendet diese Formulierung häufig. So ist z. B. in Stammler, Wirtschaft2, S.  71, von „kausalen Bestimmungsgründen“ die Rede, S.  278 von „Bestim­ mungsgründe[n] für soziales Handeln“. 89  Diese Formulierung verwendet Stammler nicht. Vgl. aber ebd., S.  99: „Soziale Regeln, als Normen eines äußeren Zusammenlebens und Zusammenwirkens“, und S.  84: „Soziales Leben ist außerlich geregeltes Zusammenleben von Menschen.“ 90  Ebd., S.  133, spricht Stammler vom „Gegensatz der technischen und der sozialen Betrachtungsweise“. 91  Diese Formulierung verwendet Stammler nicht. Vgl. aber die oben, S.  534, Anm.  89, zitierte Stelle.

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oben entwickelten Vorstellungsreihen entstehen müssen, ganz ebenso in seine Rechnung ein, wie ein Jäger die Qualitäten seines Hundes. Und ebenso wie der Jäger darauf rechnet, daß der Hund auf seinen Pfiff in bestimmter Art reagiert oder nach einem Schuß bestimmte Leistungen vollzieht, so der Fabrikant darauf, daß das Anschlagen eines in bestimmter Art bedruckten Papiers („Arbeitsordnung“) einen gewissen Erfolg mehr oder minder sicher hervorbringt. Ganz entsprechend dem „ökonomischen“ Verhalten Robinsons bezüglich der auf seinem Eiland vorhandenen „Gütervorräte“ und Produktionsmittel ist nun ferner auch – um noch ein Beispiel zu nehmen – die Art, wie ein Einzelindividuum der Gegenwart mit den „Geld“ genannten Metallplättchen verfährt, die es in seiner Tasche hat oder die es, nach seiner, begründeten oder unbegründeten, Ansicht, die Chance hat, durch bestimmte Manipulationen (z.  B. ein bestimmtes Kritzeln auf einem „Check“ genannten Papierfetzen oder das Abschneiden eines, „Coupon“ genannten, anderen und dessen Vorzeigung an einem bestimmten Schalter) in seine Tasche befördern zu können, und von denen es weiß, daß sie, in bestimmter Art und Weise verwendet, bestimmte Objekte in den Bereich seiner (faktischen) Verfügungsgewalt bringen, welche er hinter Glasfenstern, auf Restaurationsbüffets etc. bemerkt und von denen er – durch persönliche Erfahrung oder Belehrung durch andre – weiß, daß er sich an ihnen nicht ohne weiteres vergreifen könnte, ohne daß jene Leute mit den Pickelhauben kommen und ihn hinter Schloß und Riegel setzen würden. Wie es eigentlich kommt, daß jene Metallplättchen diese eigentümliche Fähigkeit entwickeln, davon braucht dies moderne Individuum so wenig einen Begriff zu haben, wie davon, wie seine Beine es machen, zu gehen: es kann sich begnügen mit der von Kindheit auf gemachten Beobachtung, daß sie dieselbe in jedermanns Hand mit ebensolcher Regelmäßigkeit entfalten, wie, ebenfalls im allgemeinen, jedermanns Beine gehen können und wie ein geheizter Ofen wärmt und der Juli wärmer ist als der April. Diesem seinem Wissen von der „Natur“ des Geldes entsprechend richtet es seine Art ihrer Verwendung ein, „regelt“ es dieselbe, „wirtschaftet“ es damit. Wie diese Regelung de facto von einem konkreten Individuum, wie | sie von Tausenden und Millionen seinesgleichen infolge der, selbst gemachten oder durch andre übermittelten, „Erfahrungen“ über die „Folgen“ der verschiedenen möglichen Arten von „Regelung“

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vorgenommen wird und wie sie je nach der Verteilung der Chancen, derartige Metallplättchen (oder entsprechend „wirkende“ Papierfetzen) künftig im Geldschrank zu haben und darüber verfügen zu können, zwischen verschiedenen unterscheidbaren Gruppen in einer gegebenen Menschenvielheit von jeder dieser Gruppen verschieden vorgenommen wird, – dies alles zu beobachten und, soweit nach Lage des Materials möglich, verständlich zu machen, müßte nach Stammler, da es sich jeweils um Erklärung des Verhaltens der Einzelindividuen handelt, ebenfalls Aufgabe „technisch“-naturwissenschaftlicher, nicht „sozialwissenschaftlicher“ Betrachtung sein. Denn jene „Regeln“, nach denen die Individuen verfahren, sind hier, durchaus wie bei Robinson, „Maximen“,92 welche in dem einen Fall ganz ebenso wie in dem andern, in ihrer das empirische Verhalten des Individuums kausal beeinflussenden Wirksamkeit gestützt werden durch entweder selbst gefundene oder von andren erlernte Erfahrungsregeln von dem Typus: wenn ich x tue, ist, nach Erfahrungsregeln, y die Folge. Auf der Basis solcher „Erfahrungssätze“ vollzieht sich das „geregelte Zweckhandeln“93 Robinsons, – auf der gleichen dasjenige des „Geldbesitzers“. Die Kompliziertheit der Existenzbedingungen, mit denen dieser zu „rechnen“ hat, mag im Verhältnis zu denen Robinsons eine noch so ungeheure sein: logisch ist ein Unterschied nicht vorhanden. Der eine wie der andre hat die erfahrungsmäßige Art des Reagierens seiner „Nichtichs“94 auf bestimmte Arten seines Verhaltens zu kalkulieren. Daß sich unter diesen im einen Fall Reaktionen von Menschen, im andern nur solche von Tieren, Pflanzen und „toten“ Naturobjekten befinden, macht für das „logische“ Wesen der „Maxime“ nicht das Mindeste aus. Ist Robinsons „ökonomisches“ Verhalten, wie Stammler will, „nur“ Technik und daher

92  Vgl. dazu auch unten, S.  549 mit Anm.  24. 93  Diese Formulierung verwendet Stammler nicht. 94  Dieser Begriff findet sich in Fichte, Johann Gottlieb, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre und Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen, 2., unveränderte Aufl. – Tübingen: J. G. Cotta 1802, S.  19: „Es ist ursprünglich nichts gesetzt als das Ich; und dieses nur ist schlechthin gesetzt. (§  1) Demnach kann nur dem Ich schlechthin entgegengesetzt werden. Aber das dem Ich entgegengesetzte ist = Nicht-Ich.“ Vgl. auch Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  29 f. Auch Marianne Weber, Fichte’s Sozialismus (wie oben, S.  33, Anm.  1), S.  26 f., war auf diesen Begriff zu sprechen gekommen.

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nicht Gegenstand „sozialwissenschaftlicher“ Betrachtung, dann auch nicht das Verhalten des Einzelnen zu einer wie immer gearteten Vielheit von Menschen, sofern es auf seine „Regelung“ durch „ökonomische“ Maximen und auf deren Wirkung hin untersucht wird. Die „Privatwirtschaft“ des Einzelnen wird – so können wir uns in der üblichen Sprache jetzt ausdrücken – von „Maximen“ beherrscht. Diese Maximen würden nach Stammlers Terminologie, als „technische“ Maximen zu bezeichnen sein. Sie „regeln“ das Verhalten des Einzelnen empirisch mit wechselnder Stetigkeit, aber sie können nach dem, was Stammler über Robinson gesagt hat,95 nicht die „Regeln“ sein, die er meint. Ehe wir uns diesen letztern zu nähern suchen, fragen wir nun noch: Wie verhält sich der Begriff der „Maxime“, mit dem wir so ausführlich operiert haben, zu den beiden einleitend erwähnten „Typen“ des „Regel“Begriffs: „empirische Regelmäßigkeit“ | einerseits, „Norm“ andrerseits?96 Das erfordert nochmals eine kurze allgemeine Betrachtung über den Sinn, den es hat, wenn ein bestimmtes Sich-Verhalten als „geregelt“ bezeichnet wird. Mit dem Satz: „meine Verdauung ist geregelt“[,] sagt jemand zunächst nur die einfache „Naturtatsache“ aus: sie vollzieht sich in bestimmter zeitlicher Abfolge. Die „Regel“ ist Abstraktion aus dem Naturverlauf. Aber er kann in die Notwendigkeit versetzt werden, sie seinerseits durch Beseitigung von „Störungen“ zu „regeln“, – und wenn er dann den gleichen Satz ausspricht, so ist der äußere Hergang zwar der gleiche wie vorher, aber der Sinn des „Regel“Begriffes ein anderer: im ersten Fall war die „Regel“ das an der „Natur“ Beobachtete, im zweiten Fall ist sie das für die „Natur“ Erstrebte. Beobachtete und erstrebte „Regelmäßigkeit“ können dabei nun de facto koinzidieren, und dies ist dann sehr erfreulich für den Betreffenden, – aber dem Sinn nach bleiben sie „begrifflich“ zweierlei: die eine ein empirisches Faktum, die andre ein erstrebtes Ideal, eine „Norm“, an der die Fakta „wertend“ gemessen werden. Die „ideale“ Regel ihrerseits aber kann in zweierlei Arten der Betrachtung eine Rolle spielen. Einmal 1) kann gefragt werden: welche faktische Regelmäßigkeit ihr entsprechen würde, dann aber auch 2) welches Maß faktischer Regelmäßigkeit durch 95  Vgl. oben, S.  531 mit Anm.  77. 96  Oben, S.  530 f.

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das Streben nach ihr kausal herbeigeführt ist. Denn das Faktum, daß z. B. Jemand jene „Messung“ an der hygienischen Norm vornimmt und sich nach dieser „richtet“, ist ja seinerseits eine der kausalen Komponenten der an seiner Physis zu beobachtenden empirischen Regelmäßigkeit. Diese letztere ist in dem vorausgesetzten Fall kausal beeinflußt durch eine unendliche Vielheit von Bedingungen,97 unter denen sich auch das Medikament befindet, welches er, um die hygienische „Norm“ zu „verwirklichen“, zu sich nimmt. Seine empirische „Maxime“ ist – wie man sieht – die Vorstellung von der „Norm“, als reales Agens des Handelns wirkend.98 Nicht anders steht es mit der „Geregeltheit“ des Verhaltens der Menschen zu Sachgütern und andren Menschen, insbesondere ihres „ökonomischen“ Verhaltens. Daß Robinson und die Geldbesitzer, von denen wir redeten,99 sich in bestimmter Art zu ihren Gütern bezw. Geldvorräten verhalten, dergestalt zwar, daß dies Verhalten als ein „geregeltes“ erscheint, kann uns veranlassen, die „Regel“, die wir jenes Verhalten, mindestens teilweise, „beherrschen“ sehen, theoretisch zu formulieren: als „Grenznutzprinzip“1 z. B. Diese ­ideale „Regel“ enthält dann einen Lehrsatz darüber, welcher die „Norm“ enthält, der entsprechend Robinson verfahren „müßte“, wenn er sich schlechthin an das Ideal „zweckmäßigen“ Handelns halten wollte. Sie läßt sich mithin einerseits als Wertungsstandard behandeln – nicht natürlich als „sittlicher“, sondern als „teleologischer“, der „zweckvolles“ Handeln als „Ideal“ voraussetzt. Andrerseits aber, und namentlich, ist sie ein heuristisches Prinzip, um das empi|rische Handeln Robinsons – wenn wir ad hoc einmal die reale Existenz eines solchen Individuums annehmen – in seiner faktischen kausalen Bedingtheit erkennen zu lassen: sie dient in letztrem Fall als „idealtypische“ Konstruktion, und wir verwenden sie als Hypothese,2 deren Zutreffen an den „Tatsachen“ zu „erpro-

97  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  184 mit Anm.  34. 98  Im Sinne psychophysischer Kausalität. Vgl. Rickert, Causalität (wie oben, S.  46, Anm.  31), S.  84, zum „Begriff des Wirkens“ hinsichtlich des „Zusam­men­hang[s] physischer und psychischer Vorgänge“. 99  Oben, S.  531 ff. 1  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  202 mit Anm.  99. 2  Vgl. aber ebd., oben, S.  203: „Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine ‚Hypothese‘, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen.“

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ben“ wäre und dazu hülfe, die faktische Kausalität seines Handelns und das Maß von Annäherung an den „Idealtypus“ zu ermitteln8a). Für die empirische Erkenntnis des Verhaltens Robinsons käme dabei jene „Regel“ zweckmäßigen Handelns in zweierlei sehr verschiedenem Sinn in Betracht. Einmal, möglicherweise, als Bestandteil der, das Objekt der Untersuchung bildenden „Maximen“ Robinsons, als reales „Agens“ seines empirischen Handelns. Zweitens als Bestandteil des Wissens- und Begriffsvorrats, mit dem der Untersuchende an seine Aufgabe geht: sein Wissen von dem ideell möglichen „Sinn“3 des Handelns ermöglicht ihm dessen empirische Erkenntnis. Beides ist logisch scharf zu scheiden. Auf dem Boden des Empirischen ist die „Norm“ eine zweifellose Determinante des Geschehens, aber eben nur eine, logisch betrachtet, ganz im selben Sinn wie bei der „Regelung“ der Verdauung der „normgemäße“ Konsum des Medikaments und also die „Norm“, welche der Arzt gab, eine, aber eben auch nur eine, der Determinanten des faktischen Erfolges ist. – Und diese Determinante kann in einem sehr verschiedenen Maß von Bewußtheit das Handeln bestimmen. Wie das Kind das Gehen, die Reinlichkeit, die Meidung gesundheitsschädlicher Genüsse „lernt“, so wächst es überhaupt in die „Regeln“ hinein, nach denen es das Leben andrer sich vollziehen sieht, lernt sich sprachlich „auszudrücken“, im „Geschäftsverkehr“ sich zu bewegen, teils 1) ohne alle subjektive gedankliche Formung der „Regel“, der gemäß es nun selbst – in sehr verschiedener Constanz – faktisch handelt, teils 2) auf Grund bewußter Verwertung von „Erfahrungssätzen“ des Typus: auf x folgt y, teils 3) weil ihm die „Regel“ als Vorstellung einer um ihrer selbst willen gesollten „Norm“ durch „Erziehung“ oder einfache Nachahmung eingeprägt und dann an der Hand seiner „Lebenserfahrung“ durch eigenes Nachdenken fortentwickelt wurde und sein Handeln mitbestimmt. Wenn man in den letztgenannten Fällen (ad 2 und 3) sagt, daß die betreffende, sittliche, konventionelle, teleologische, Regel „Ursa­ che“ eines bestimmten Handelns sei, so ist dies natürlich höchst 8a) Über den logischen Sinn des „Idealtypus“ s. meine Abhandlung im „Archiv“ A 126 Band XIX Heft 1 S.  64 ff.4 |

3  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  310 ff. 4  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  203 ff.

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ungenau ausgedrückt: nicht das „ideelle Gelten“ einer Norm, sondern die empirische Vorstellung des Handelnden, daß die Norm für sein Verhalten „gelten solle“, ist der Grund. Das gilt für die „sittlichen“ Normen ebenso wie für Regeln, deren „Geltensollen“ reine „Konventionssache“ oder „Weltklugheit“ ist: die Konven|tional­ regel5 des Grußes z. B. ist es natürlich nicht, welche in eigner Person meinen Schädel entblößt, wenn ich einen Bekannten treffe, sondern meine Hand tut es, – ihrerseits aber ist diese dazu veranlaßt, entweder durch meine bloße „Gewöhnung“ daran, nach einer solchen „Regel“ zu handeln, oder daneben durch das Erfahrungswissen darum, daß es von andern für unschicklich angesehen wird, es nicht zu tun[,] und deshalb Unfreundlichkeiten zur Folge hat: durch eine „Unlust“-Kalkulation also, oder endlich auch noch durch meine Ansicht, daß es sich für mich „nicht gezieme“, eine nun einmal allseitig befolgte und unschädliche „Konventionalregel“ ohne zwingende Veranlassung nicht zu beachten: durch eine „Normvorstellung“ also8b). Mit den letzten Beispielen waren wir schon bei dem Begriff der „sozialen Regelung“6 angelangt, d. h. einer „für“ das Verhalten der Menschen zu einander „geltenden“ Regel, also bei dem Begriff, an dem Stammler das Objekt: „soziales Leben“ verankert. Wir erörtern nun hier noch nicht die Berechtigung dieser Begriffsbestimmung Stammlers, sondern führen vorerst unsre Erörterung des „Regel“-Begriffes unabhängig von der Rücksicht auf Stammler noch eine Strecke weiter. Nehmen wir gleich das Elementarbeispiel, welches auch Stammler gelegentlich zur Veranschaulichung der Bedeutung der „Regel“ für den Begriff des „sozialen Lebens“ verwendet. Zwei, im übrigen 8b) Diese wie manche weiter folgende fast übermäßig triviale Bemerkung muß der Leser mit der Notwendigkeit, gewissen stark ad hominem gemachten Argumentationen Stammler’s von vornherein entgegenzutreten, entschuldigen. |

5  Stammler, Wirtschaft2, S.  121, unterscheidet zwischen „rechtlichen Satzungen“ und „Konventionalregeln“, d. h. der „Masse jener Normen, die in den Weisungen von Anstand und Sitte, in den Forderungen der Etikette und den Formen des geselligen Verkehres im engeren Sinne, in der Mode und den vielfachen äußeren Gebräuchen, wie in dem Kodex der ritterlichen Ehre uns entgegentreten“. Vgl. dazu auch den Abschnitt „Rechtsordnung, Convention und Sitte“ in: Weber, Die Wirtschaft und die Ordnungen, MWG I/22-3, S.  210–238, dort auch zur Konventionalregel, ebd., S.  219 mit Hg.Anm.  68 (mit Bezug auf Stammler). 6  Vgl. oben, S.  532 mit Anm.  80.

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außer jeder „sozialen Beziehung“ stehende Menschen: – also zwei Wilde verschiedener Stämme, oder ein Europäer, der im schwärzesten Afrika einem Wilden begegnet, und dieser letztere, „tauschen“ zwei beliebige Objekte gegeneinander aus.7 Man legt alsdann – und ganz mit Recht – den Nachdruck darauf, daß hier eine bloße Darstellung des äußerlich wahrnehmbaren Hergangs: der Muskelbewegungen also und eventuell, wenn dabei „gesprochen“ wurde, der Töne, welche sozusagen die „Physis“ des Hergangs ausmachen, dessen „Wesen“ in gar keiner Weise erfassen würde. Denn dies „Wesen“ bestehe ja in dem „Sinn“, den beide diesem ihrem äußern Verhalten beilegen, und dieser „Sinn“ ihres gegenwärtigen Verhaltens wiederum stelle eine „Regelung“ ihres künftigen dar. Ohne diesen „Sinn“ sei – so sagt man – ein „Tausch“ überhaupt weder real möglich noch begrifflich konstruierbar. Ganz gewiß! Der Umstand, daß „äußere“ Zeichen als „Symbole“ dienen, ist eine der konstitutiven Voraussetzungen aller „sozialen“ Beziehungen. Aber, fragen wir gleich wieder, nur dieser? Offenbar in gar keiner Weise. Wenn ich mir ein „Lesezeichen“ in ein „Buch“ lege, so ist das, was nachher von dem Resultat dieser Handlung „äußerlich“ wahrnehmbar ist, offenbar lediglich „Symbol“: der Umstand, daß hier ein Streifen | Papier oder ein andres Objekt zwischen zwei Blätter eingeklemmt ist, hat eine „Bedeutung“, ohne deren Kenntnis das Lesezeichen für mich nutz- und sinnlos und die Handlung selbst auch kausal „unerklärbar“ wäre. Und doch ist hier doch wohl keinerlei „soziale“ Beziehung gestiftet. Oder, um lieber wieder ganz auf den Boden der Robinsonade zu treten: wenn Robinson sich, da der Waldbestand seiner Insel „ökonomisch“ der Schonung bedarf, bestimmte Bäume mit der Axt „bezeichnet“, welche er für den kommenden Winter zu schlagen gedenkt, oder wenn er, um mit seinen Getreidevorräten „Haus zu halten“, diese in Rationen teilt, einen Teil als „Saatgut“ besonders verstaut, – in all solchen und zahllosen ähnlichen Fällen, die sich der Leser selbst konstruieren möge, ist der „äußerlich“ wahrnehmbare Vorgang auch hier nicht „der ganze Vorgang“: der „Sinn“ dieser ganz gewiß kein „soziales Leben“ enthaltenden Maßnahmen ist es, der ihnen erst ihren Charakter aufprägt, ihnen „Bedeutung“ gibt, im Prinzip ganz genau ebenso, wie die „Lautbedeutung“ den schwarzen Fleckchen, die 7  Vgl. z. B. Stammler, Wirtschaft2, S.  103.

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man in ein Faszikel von Papierblättern „gedruckt“ hat[,] oder wie die „Wortbedeutung“ den Lauten, die ein anderer „spricht“, oder endlich wie der „Sinn“, den jeder der beiden Tauschenden mit seinem Gebahren verbindet, dem äußerlich wahrnehmbaren Teil desselben. Scheiden wir nun, gedanklich, den „Sinn“, den wir in einem Objekt oder Vorgang „ausgedrückt“ finden, von den Bestandteilen desselben, die übrig bleiben, wenn wir von eben jenem „Sinn“ abstrahieren, und nennen wir eine Betrachtung, die nur auf diese letzteren Bestandteile reflektiert, eine „naturalistische“, – dann erhalten wir einen weiteren, von den früheren wohl zu unterscheidenden Begriff von „Natur“. Natur ist dann das „Sinnlose“, richtiger: „Natur“ wird ein Vorgang, wenn wir bei ihm nach einem „Sinn“ nicht fragen. Aber selbstverständlich ist dann der Gegensatz zur „Natur“ als dem „Sinnlosen“ nicht „soziales Leben“, sondern eben das „Sinnvolle“, d. h der „Sinn“, der einem Vorgang oder Objekt zugesprochen, „in ihm gefunden werden“ kann, von dem metaphysischen „Sinn“ des Weltganzen innerhalb einer religiösen Dogmatik angefangen bis zu dem „Sinn“, den das Bellen eines Hundes Robinsons bei Annäherung eines Wolfes „hat“. – Nachdem wir uns überzeugt haben, daß die Eigenschaft, „sinnvoll“ zu sein, etwas zu „bedeuten“, durchaus nichts dem „sozialen“ Leben Eigentümliches ist, kehren wir zu dem Vorgang jenes „Tausches“ zurück. Der „Sinn“ des „äußern“ Verhaltens der beiden Tauschenden kann dabei seinerseits in zweierlei logisch sehr verschiedenen Arten betrachtet werden. Einmal als „Idee“:8 wir können fragen, welche gedanklichen Konsequenzen in dem „Sinn“, den „wir“ – die Betrachtenden – einem konkreten Vorgang dieser Art zusprechen, gefunden werden können oder wie sich dieser „Sinn“ einem umfassenderen „sinnvollen“ Gedankensystem einfügt. Von diesem so zu gewinnenden „Stand|punkt“ aus können wir alsdann eine „Wertung“ des empirischen Ablaufs des Vorgangs vornehmen. Wir könntenz z. B. fragen: wie „müßte“ das „ökonomische“ Verhalten Robinsons sein, wenn es in seine letzten gedanklichen „Konsequenzen“ getrieben würde. Das tut die Grenznutzz A: konnten   8  Zum Begriff „Idee“ vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S.  71 f. Zum Zusammenhang von Idee und Idealtypus vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  202 ff.

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lehre.9 Und wir könntena dann sein empirisches Verhalten an jenem gedanklich ermittelten Standard „messen“. Und ganz ebenso können wir fragen: wie „müßten“ sich die beiden „Tauschenden“ nach äußerlichem Vollzug der Hingabe der getauschten Objekte von beiden Seiten nun weiter verhalten, damit ihre Gebahrung der „Idee“ des Tausches entspreche, d. h. damit wir sie den gedanklichen Konsequenzen des „Sinns“, den wir in ihrem Handeln fanden, konform finden könnten. Wir gehen also dann von der empirischen Tatsache aus, daß Vorgänge bestimmter Art mit einem gewissen, nicht im einzelnen klar durchdachten, sondern unklar vorschwebenden „Sinn“ vorstellungsmäßig verbunden[,] faktisch vorkommen, verlassen aber alsdann das Gebiet des Empirischen und fragen: wie läßt sich der „Sinn“ des Handelns der Beteiligten derart gedanklich konstruieren, daß ein in sich widerspruchsloses Gedankengebilde10 entsteht?9) Wir treiben dann „Dogmatik“ des „Sinns“. Und wir können auf der andern Seite fragen: war der „Sinn“, den „wir“ einem derartigen Vorgang dogmatisch zusprechen können, auch derjenige, den jeder der empirischen Akteurs desselben seinerseits bewußt in ihn hineinlegte[,] oder welchen andern legte jeder von ihnen hinein, oder schließlich: legten sie überhaupt irgend welchen bewußten „Sinn“ hinein? Wir haben dann zunächst weiter zweierlei „Sinn“ des Begriffes „Sinn“ selbst – nunmehr in empirischer Bedeutung, mit der wir jetzt allein zu tun haben – zu unterscheiden. Es kann, in unsrem Beispiel, damit gemeint sein, einmal: daß die Handelnden bewußt eine sie „verpflichtende“ Norm auf sich nehmen wollten, daß sie also der (subjektiven) Ansicht waren, daß ihr Handeln als solches einen sie verpflichtenden Charakter trage: es wurde eine „Norm-Maxime“ bei ihnen gestiftet10), | – oder aber es soll nur gemeint sein, daß

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9) Jeder Gedanke an eine „Rechts“-Ordnung ist vorerst noch ganz fern zu halten A 129 und selbstredend könnten ferner eventuell sehr wohl mehrere, ja viele untereinander verschiedene ideale „Sinne“ eines „Tausch“-Akts konstruierbar sein. 10)  Wenn man den „Sinn“ des Tauschaktes in dieser ersten der hier unterschiedenen Bedeutungen, derjenigen der „Norm-Maxime“, als eine „Regelung der Beziehungen“

a A: konnten   9  Gemeint ist die Lehre der von Menger, Böhm-Bawerk und Wieser geprägten österreichischen Schule der Nationalökonomie. 10  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  202 ff.

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jeder von ihnen mit dem Tausch bestimmte „Erfolge“ erstrebte, zu denen sein Handeln nach seiner „Erfahrung“ im Verhältnis des „Mittels“ stand, daß der Tausch einen (subjektiv) bewußten „Zweck“ hatte. Von jeder der beiden Arten von Maximen ist es in jedem einzelnen Fall natürlich zweifelhaft, in welchem Grade, von der „Norm-Maxime“ überdies auch, ob sie überhaupt empirisch vorhanden war. Fraglich ist: 1. wie weit waren sich die beiden Tauschenden unseres Beispieles der „Zweckmäßigkeit“ ihres Handelns wirklich bewußt? 2. wie weit haben sie andrerseits den Gedanken: daß ihre Beziehungen nun so „geregelt“ sein „sollen“, daß das eine Objekt als „Äquivalent“ des anderen gelten, daß jeder den nunmehr durch den Tausch eingetretenen „Besitz“ des anderen an dem früher in seinem eignen Besitz befindlich gewesenen Objekt „achten“ solle u. s. w. – zu ihrer bewußten „Maxime“ – zur „Norm-Maxime“ also[,] gemacht, wie weit also war die Vorstellung von diesem „Sinn“ 1) kausal bestimmend für das Zustandekommen des Entschlusses zu diesem „Tauschakt“ selbst und 2) wie weit bildet sie den Bestimmungsgrund11 ihres weiteren Verhaltens nach dem Tauschakt? Das sind offenbar Fragen, bei denen uns zwar zum Zweck der Hypothesenbildung,12 als „heuristisches Prinzip“, unser „dogmatisches“ Gedankenbild vom „Sinn“ des „Tausches“ sehr zu statten kommen muß, die aber andrerseits natürlich mit dem einfachen Hinweis darauf, daß eben „objektiv“ der „Sinn“ dessen, was sie getan haben, ein für allemal nur ein spezifischer, nach bestimmten logischen Prinzipien dogmatisch zu der Tauschenden zu einander, ihr Verhältnis als ein durch die ihnen vorschwebende „Norm“ für ihr künftiges Verhalten „geregelt“ bezeichnet, so ist alsbald festzustellen, daß hier die Worte „geregelt“ und „Regelung“ keineswegs notwendig eine Subsumtion unter eine generelle „Regel“ enthalten, außer etwa der: „daß Abmachungen loyal erfüllt werden sollen“, d. h. aber nichts andres als: „daß die Regelung eben als Regelung behandelt werden solle“. Die beiden Beteiligten brauchen vom generellen ideellen A 130 „Wesen“ der Tauschnorm ja gar | nichts zu wissen, ja wir können natürlich auch unterstellen, daß zwei Individuen einen Akt vollziehen, dessen von ihnen damit verbundener „Sinn“ absolut individuell und nicht – wie der „Tausch“ – einem generellen Typus subsumierbar ist. Mit andern Worten: der Begriff des „Geregelten“ setzt in keiner Weise logisch den Gedanken genereller „Regeln“ bestimmten Inhaltes voraus. Wir stellen diesen Sachverhalt hier nur fest und behandeln auch weiterhin, der Einfachheit halber, die normative Regelung durchweg als eine Unterstellung unter „generelle“ Regeln. |

11  Vgl. oben, S.  534 mit Anm.  88. 12  Vgl. oben, S.  538 mit Anm.  2.

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erschließender sein „könne“, ganz und gar nicht erledigt würden. Denn es wäre natürlich reine Fiktion, und entspräche etwa der Hypostasierung der „regulativen Idee“ vom „Staatsvertrag“,13 wenn man einfach dekretierte: die beiden haben ihre sozialen Beziehungen zu einander in einer, dem idealen „Gedanken“ des „Tauschs“ entsprechenden, Art „regeln“ wollen, weil wir, die Beobachtenden, diesen „Sinn“, vom Standpunkt der dogmatischen Klassifikation aus gesehen, hinein legen. Man könnte – logisch betrachtet – ebensogut sagen: der Hund, der bellt, habe, wegen des „Sinnes“, den dies Bellen für seinen Besitzer haben kann, die „Idee“ des Eigentumsschutzes verwirklichen „wollen“. Der dogmatische „Sinn“ des „Tauschs“ ist für die empirische Betrachtung ein „Idealtypus“, der, weil in der empirischen Wirklichkeit sich massenhaft | Vorgänge finden, welche ihm in einer mehr oder minder großen „Reinheit“ entsprechen, „heuristisch“ einerseits, „klassifizierend“ andrerseits, von uns verwendet wird. „Norm“-Maximen, welche diesen „idealen“ Sinn des Tauschs als „verpflichtend“ behandeln, sind zweifellos eine der verschiedenen möglichen Determinanten des faktischen Handelns der „Tauschenden“, aber eben nur eine, deren empirisches Vorhandensein im konkreten Akt Hypothese ebenso für den Beobachter wie auch, nicht zu vergessen, für jeden der beiden Akteurs hinsichtlich des anderen ist. Der Fall ist natürlich ganz gewöhnlich, daß einer von beiden oder auch beide Tauschenden den normativen „Sinn“ des Tausches, von dem ihnen bekannt ist, daß er als ideell „geltend“, d. h. als geltensollend behandelt zu werden pflegt, seinerseits nicht zu seiner „Norm-Maxime“ macht, daß dagegen jener eine oder auch jeder 13  Möglicherweise referiert Weber auf Kant. Vgl. Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig seyn, taugt aber nichts für die Praxis, in: ders., Sämmtliche Werke, hg. von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert, Siebenten Theils, Erste Abteilung: Kleine anthropologisch-praktische Schriften, hg. von Friedrich Wilhelm Schubert. – Leipzig: Leopold Voss 1838, S.  175–229, bes. S.  197–219, hier S.  207: „Allein dieser Vertrag […] ist keineswegs als ein Factum vorauszusetzen nöthig […], gleichsam als ob allererst aus der Geschichte vorher bewiesen werden müsste, dass ein Volk, in dessen Rechte und Verbindlichkeiten wir als Nachkommen getreten sind, einmal wirklich einen solchen Actus verrichtet, und eine sichere Nachricht […] davon, uns […] hinterlassen haben müsse, um sich an eine schon bestehende bürgerliche Verfassung für gebunden zu achten. Sondern es ist eine blosse Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelbare (praktische) Realität hat: nämlich, jeden Gesetzgeber zu verbinden, dass er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können“.

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von beiden auf die Wahrscheinlichkeit spekuliert, daß der andere Beteiligte es tun werde: seine eigene Maxime ist dann reine „Zweck“-Maxime. Daß der Vorgang in diesem Fall empirisch im Sinn der ideellen Norm „geregelt“ sei, die Akteurs ihre Beziehungen so geregelt haben, – diese Behauptung hat natürlich gar keinen empirischen Sinn. Wenn wir uns dennoch gelegentlich so ausdrücken, so ist das die gleiche Doppelsinnigkeit des Wortes „geregelt“, wie wir sie bei dem Mann mit der künstlich „geregelten“ Verdauung schon fanden14 und noch öfter wiederfinden werden. Sie ist unschädlich, wenn man sich stets gegenwärtig hält, was in concreto darunter verstanden ist. Dagegen vollends sinnlos wäre es natürlich, wenn man weiterhin die „Regel“, der sich (dem dogmatischen „Sinn“ ihres Verhaltens nach) die beiden Tauschenden unterstellt haben sollen, als die „Form“ ihrer „sozialen Beziehung“, also als eine „Form“ des Geschehens bezeichnen wollte.15 Denn jene dogmatisch erschlossene „Regel“ selbst „ist“ ja in jedem Fall eine „Norm“, welche für das Handeln ideell „gelten“ will, nimmermehr aber eine „Form“ von etwas empirisch „Seiendem“. Wer „soziales Leben“ als empirisch Seiendes erörtern will, darf natürlich nicht eine Metabase16 in das Gebiet des dogmatisch Seinsollenden vollziehen. Auf dem Gebiet des „Seins“ gibt es jene „Regel“ in unsrem Beispiel nur im Sinn einer kausal erklärbaren und kausal wirksamen empirischen „Maxime“ der beiden Tauschenden. Im Sinne des zuletzt entwickelten „Natur“-Begriffes17 würde man das so ausdrücken: auch der „Sinn“ eines äußeren Vorgangs wird dann im logischen Sinn „Natur“, wenn auf seine empi­ rische Existenz reflektiert wird. Denn dann wird eben nicht nach dem „Sinn“ gefragt, den der äußere Vorgang dogmatisch „hat“, sondern nach dem „Sinn“, welchen in concreto die „Akteurs“ mit ihm entweder wirklich verbanden oder etwa auch, nach den erkennbaren „Merkmalen“, zu verbinden sich den Anschein gaben. 14  Oben, S.  537 f. 15  Vgl. oben, S.  523 ff. 16  Als metábasis eis állo génos (griech. μετάβασις εἰς ἄλλο γένος) bezeichnet Aristoteles den Übergriff in eine andere Gattung bei der Beweisführung: „Folglich darf man auch Behufs eines Beweises, nicht in ein anderes Gebiet übergreifen; so darf z. B. das Geometrische nicht durch arithmetische Sätze bewiesen werden.“ Vgl. Aristoteles, Zweite Analytiken, oder: Lehre vom Erkennen. Uebersetzt und erläutert von J. H. v. Kirchmann. – Leipzig: Erich Koschny 1877, S.  16. 17  Oben, S.  542.

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– Ganz ebenso steht es nun natürlich im Speziellen mit der „Rechts­ regel“.18 | Ehe wir aber auf den Boden des „Rechts“ im üblichen Sinn des Wortes treten, wollen wir uns einige der bisher noch offen gelas­ senen Seiten unsres allgemeinen Problems noch an einem weiteren Beispiel verdeutlichen. Stammler selbst erwähnt gelegentlich auch die Analogie von „Spielregeln“,19 – wir müssen für unsere Zwecke diese Analogie wesentlich eingehender durchführen, und wollen dazu den Skat hier einmal gleich einer jener grundlegenden Komponenten der Kultur behandeln, von denen die „Geschichte“ kündet und mit denen sich die „Sozialwissenschaft“ befaßt. – Die drei Skatspielenden „unterwerfen sich“ der Skatregel, sagt man, und meint damit: sie haben die „Norm“-Maxime, daß nach gewissen Merkmalen bestimmt werden solle, 1) ob jemand „richtig“ – im Sinne von „normgemäß“ – gespielt habe, 2) wer als „Gewinner“ gelten solle. An diese Aussage können sich nun logisch sehr verschiedene Arten von Betrachtungen knüpfen. Zunächst kann die „Norm“: die Spielregel also, als solche zum Gegenstand rein gedanklicher Erörterungen gemacht werden. Dies wiederum entweder praktisch wertend: so wenn z. B. ein „Skat-Kongreß“, wie es seinerzeit geschah,20 sich damit befaßt, ob es nicht vom Standpunkt jener („eudämonistischen“) „Werte“, denen der Skat dient, angebracht sei, fortan die Regel aufzustellen: jeder Grand geht über Null Ouvert, – eine skatpolitische Frage. Oder aber dogmatisch: ob z. B. eine bestimmte Art des Reizens „konsequenterweise“ eine bestimmte Rangfolge jener Spiele im Gefolge haben „müßte“, – eine Frage der allgemeinen Skatrechtslehre in „naturrechtlicher“ Problemstellung. In das Gebiet der eigentlichen Skatjurisprudenz gehört sowohl die Frage, ob ein Spiel als „verloren“ zu gelten habe, wenn der Spieler sich „verworfen“ hat, wie alle Fragen darnach, ob in concreto ein Spieler „richtig“ (= normgemäß) oder „falsch“ gespielt habe. Lediglich empirischen und zwar näher: „historischen“

18  Stammler verwendet diese Formulierung häufig. 19  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  132 f. 20 Zwischen 1886 und 1907 fanden in Deutschland acht Skatkongresse statt. Auf dem ersten Kongreß in Altenburg wurde die Allgemeine Deutsche Skatordnung beschlossen, die auf den folgenden Kongressen verändert wurde. Wann man sich mit der von Weber aufgeworfenen Frage befaßte, ist nicht belegt.

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Charakters ist dagegen die Frage, warum ein Spieler in concreto „falsch“ gespielt hat (wissentlich? versehentlich? usw.). Eine „Wertfrage“, die aber rein empirisch zu beantworten ist, ist sodann die: ob ein Spieler in concreto „gut“, d. h. zweckmäßig gespielt hat. Sie ist nach „Erfahrungsregeln“ zu entscheiden, welche z. B. angeben, ob die Chance, „die Zehn anzuschneiden“, durch ein bestimmtes Verhalten generell gesteigert zu werden pflegt oder nicht. Diese generellen Regeln der praktischen Skatweisheit enthalten also Erfahrungs-Sätze, welche an der Hand der „möglichen“ Konstellationen und daneben eventuell der Lebenserfahrung über die Art des wahrscheinlichen Reagierens der Mitspieler kalkuliert und zu einem verschieden hohen Grade von Stringenz erhoben werden können: „Kunstregeln“, an denen die Zweckmäßigkeit des Verhaltens des Skatspielers „gewertet“ wird. Endlich könnte das Verhalten der Spieler an „skatsittlichen“ Normen gemessen werden: unaufmerksames Spiel, welches den gemeinsamen | Gegner gewinnen läßt, pflegt der Mitspieler pathetisch zu rügen, – die „menschlich“ höchst verwerfliche Maxime, ein sog. „Opferlamm“ als dritten Mann behufs gemeinsamer Ausbeutung zu engagieren, pflegt dagegen von der empirischen Skatethik nicht allzu streng beurteilt zu werden. Diesen verschiedenen möglichen Richtungen von Wertungen entsprechend können wir auf dem Gebiet des empirischen Skats „Sittlichkeits“-, „Rechtlichkeits“-, „Zweckmäßigkeits“Maximen unterscheiden, welche gedanklich auf sehr verschiedenen Wertungsprinzipien ruhen und deren „normative“ Dignität daher, vom „Absoluten“ bis zur reinen „Faktizität“ herabsteigend, entsprechend verschieden ist. Das gleiche fand aber bei unsrem Tausch-Beispiel21 statt, und ebenso wie dort lösen sich hier, sobald wir das Gebiet der rein empirisch-kausalen Betrachtung betreten, die verschiedenen Orientierungspunkte der Maximen, welche die normative (skatpolitische, skatjuristische) Betrachtung als „ideell geltende“ behandelt, in faktische Gedankenkomplexe auf, welche das faktische Verhalten des Spielenden determinieren, entweder in Konflikt miteinander (sein Interesse kann z. B. gegen Innehaltung der „Rechtlichkeitsmaxime“ sprechen) oder, regelmäßig, in Kombination miteinander. Der Spielende legt sein As auf den Tisch, weil er infolge seiner „Deutung“ der „Spielregel“, seiner generel21  Vgl. oben, S.  540 ff.

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len „Skaterfahrung“ und seiner „ontologischen“22 Abschätzung der Konstellation dies für das adäquate Mittel dafür: den Tatbestand herbeizuführen, an den die ihm vorschwebende „Spielregel“ die Konsequenz knüpft, daß er als „Gewinner“ gelte, hält. Er kalkuliert als Erfolg seines Tuns z. B., daß der andere die Zehn dazu legen werde und daß dies in Verbindung mit einer Serie weiterer, von ihm erwarteter Ereignisse, eben jenen Enderfolg herbeiführen werde. Er zählt dabei einerseits darauf, daß die andern sich durch die auch ihnen gleichförmig vorschwebende „Spielregel“ in ihrem Handeln bestimmen lassen werden, da er der bestimmenden Kraft ihrer subjektiven „Rechtlichkeitsmaxime“ diese Konstanz zutraut, weil er sie generell als Menschen kennt, die nach „Sittlichkeitsmaximen“ zu handeln pflegen. Andrerseits zieht er die Wahrscheinlichkeit in Rechnung, welche nach seiner Kenntnis ihrer Skatqualifikation dafür besteht, daß sie teleologisch mehr oder minder „zweckmäßig“, ihren Interessen gemäß, handeln werden, daß sie also ihre „Zweckmäßigkeitsmaxime“ auch in concreto zu verwirklichen imstande sind. Seine, für sein Verhalten maßgebliche Erwägung kleidet sich also dabei in Sätze von der Form: wenn ich x tue, so ist, da die andren die Spielregel a nicht bewußt verletzen und zweckmäßig spielen werden, und da die Konstellation z vorliegt, y die wahrscheinliche Folge. Man kann nun zweifellos die „Spielregel“ als „Voraussetzung“ eines konkreten Spieles bezeichnen. Dann muß man aber darüber im Klaren sein, was dies für die empirische Betrachtung, bei der wir uns jetzt befinden, bedeutet. Die „Spielregel“ ist zunächst ein kau­ sales | „Moment“.23 Natürlich nicht die „Spielregel“ als „ideale“ Norm des „Skatrechts“, wohl aber die Vorstellung, welche jeweils Spielende von ihrem Inhalt und ihrer Verbindlichkeit haben, gehört zu den Mitbestimmungsgründen für ihr faktisches Handeln. Die Spielenden „setzen“ – normalerweise – voneinander „voraus“, daß jeder die Spielregel zur „Maxime“ seines Handelns machen werde:24 diese faktisch normalerweise gemachte Annahme, – wel-

22  Zu ontologischem Wissen vgl. Weber, Kritische Studien, oben, S.  461 mit Anm.  4. 23  Vgl. Kries, Möglichkeit, S.  21 f. [197]. 24  Möglicherweise Anspielung auf Kants kategorischen Imperativ: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hg. und

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che nachher empirisch mehr oder minder realisiert werden kann, – ist regelmäßige sachliche „Voraussetzung“ dafür, daß jeder von ihnen sich dazu entschließt, seinerseits sein Handeln durch die entsprechende Maxime – wirklich oder, wenn er ein Gauner ist, scheinbar – bestimmen zu lassen. Wer den Hergang eines konkreten Skatspiels kausal ergründen wollte, würde also natürlich beim kausalen Regressus die Spekulation jedes Spielers darauf, daß die andern einer faktisch üblichen „Regel“ folgen, also auch ihr „erlerntes“ Wissen von dieser „Regel“, als eine – normalerweise – ebenso konstant wirkende Determinante einzustellen haben, wie alle andern kausalen „Voraussetzungen“ des Gebahrens des Spielers. Es besteht insoweit keinerlei Unterschied zwischen ihr und den „Bedingungen“, deren der Mensch überhaupt zum Leben und bewußten Handeln bedarf. Einen wesentlich andern logischen Sinn hat es aber natürlich, wenn wir die Skatregel als die „Voraussetzung“ der empirischen Skat-Erkenntnis bezeichnen. Das heißt dann: sie ist – im Gegensatz zu jenen andern „allgemeinen“ sachlichen „Voraussetzungen“ des Geschehens – für uns charakteristisches Merkmal des „Skats“. Etwas umständlicher formuliert: solche Vorgänge, welche vom Gesichtspunkt einer üblicherweise als „Skatregel“ bezeichneten Spielnorm aus gesehen, als relevant gelten, charakterisieren uns einen Komplex von Hantierungen als „Skatspiel“. Der gedankliche Inhalt der „Norm“ ist also maßgebend für die Auslese des „Begriffswesentlichen“ aus der Mannigfaltigkeit von Zigarrenrauch, Bierkonsum, Auf-den-Tisch-schlagen, Raisonnements aller Art, in welcher sich ein echter deutscher Skat uns zu präsentieren pflegt, und aus dem zufälligen „Milieu“ des konkreten Spieles. Wir „klassifizieren“ einen Komplex von Vorgängen dann als „Skat“, wenn solche für die Anwendung der Norm als relevant geltende Vorgänge sich darin finden. Sie sind es ferner, deren kausale Erklärung sich eine „historische“ Analyse eines konkreten „Skats“ in seinem empirischen Verlauf zur Aufgabe stellen würde, – sie konstituieren das empirische Kollektivum eines „Skatspiels“ und den empirischen Gattungsbegriff „Skat“. In summa: die Relevanz vom Standpunkt

erläutert von J. H. von Kirchmann. – Berlin: L. Heimann 1870, S.  44 (Handexemplar, Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München).

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der „Norm“ grenzt das Untersuchungs-Objekt ab. Es ist klar, zunächst, daß der Sinn, in dem die Skatregel hier „Voraussetzung“ unserer empirischen Skat-Erkenntnis, d. h. spezifisches BegriffsMerkmal, ist, streng von dem Sinn, in welchem sie, d. h. ihre Kenntnis und Inrechnung|stellung seitens der Spieler, „Voraussetzung“ des empirischen Ablaufs von „Skatspielen“ ist, zu sondern ist, – ferner aber, daß dieser Dienst des Normbegriffs bei der Klassifikation und Objekt-Abgrenzung an dem logischen Charakter der empirisch-kausalen Untersuchung des mit ihrer Hilfe abgegrenzten Objekts nichts ändert. Vom Norminhalt aus ersehen wir – darauf beschränkt sich sein wichtiger Dienst – diejenigen Tatsachen und Vorgänge, auf deren kausale Erklärung sich ein eventuelles „historisches Interesse“25 konzentrieren würde: sie grenzen, heißt das, die Ansatzpunkte des kausalen Regressus und Progressus26 aus der Mannigfaltigkeit des Gegebenen heraus. Von diesen Ansatzpunkten aus aber ginge nun ein kausaler Regressus, – wenn jemand ihn an einem konkreten Skatspiel vornehmen wollte –, alsbald über den Kreis der vom Standpunkt der Norm aus „relevanten“ Vorgänge hinaus. Er müßte, um den Verlauf des Spiels zu „erklären“, z. B. die Veranlagung und Erziehung der Spieler, das Maß der ihre Aufmerksamkeit bedingenden „Frische“ im gegebenen Moment, das Maß des Bierkonsums jedes einzelnen in seinem Einfluß auf den Grad der Konstanz seiner „Zweckmäßigkeits“-Maxime etc. etc. feststellen. Nur der Ausgangspunkt des Regressus also wird durch die „Relevanz“ vom Standpunkt der „Norm“ aus bestimmt. Es handelt sich um einen Fall der sog. „teleologischen“ Begriffsbildung,27 wie er nicht nur auch außerhalb der Betrachtung des „sozialen“ Lebens, sondern auch außerhalb der Betrachtung „menschlichen“ Lebens sich findet. Die Biologie „liest“ aus der Mannigfaltigkeit der Vorgänge diejenigen „aus“, welche in einem bestimmten „Sinn“, nämlich von der „Lebenserhaltung“ her gesehen, „wesentlich“ sind. Wir „lesen“ bei Erörterung eines Kunstwerkes aus der Mannigfaltigkeit der Erscheinung diejenigen Bestandteile „aus“, welche vom Standpunkt der „Ästhetik“ aus „wesentlich“ – d. h. nicht etwa: ästhetisch 25  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  256 mit Anm.  57. 26  Vgl. Weber, Kritische Studien, oben, S.  411, Fn.  17 mit Anm.  13. 27  Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  300, Fn.  38 mit Anm.  96.

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„wertvoll“, sondern: „für das ästhetische Urteil relevant“ – sind, und zwar auch dann, wenn wir nicht eine ästhetische „Wertung“ des Kunstwerks, sondern die historisch-kausale „Erklärung“ seiner individuellen Eigenart oder seine Benutzung als Exemplar für die Erläuterung genereller Kausalsätze über die Entwicklungsbedingungen der Kunst – in beiden Fällen also rein empirische Erkenntnis – beabsichtigen. Unsre Auslese des Objekts, welches empirisch erklärt werden soll, wird „instradiert“28 durch die Beziehung auf ästhetische resp. biologische resp. (in unsrem Beispiel) skatrechtliche „Werte“, – das Objekt selbst „sind“ in diesen Fällen nicht künstlerische Normen, vitalistische „Zwecke“ eines Gottes oder Weltgeistes, oder Skatrechtssätze, sondern beim Kunstwerk die durch kausal (aus „Milieu“, „Anlage“, „Lebensschicksalen“ und konkreten „Anregungen“ usw.) zu erklärende seelische Verfassungen des Künstlers determinierten Pinselstriche desselben, beim „Organismus“ bestimmte physisch wahrnehmbare Vorgänge, beim Skatspiel die durch faktische | „Maximen“ bedingten Gedanken und äußeren Hantierungen der Spieler. Wiederum ein anderer Sinn, in welchem die „Skatregel“ als „Voraussetzung“ des empirischen Erkennens des Skats bezeichnet werden kann, knüpft an die empirische Tatsache an, daß die Kenntnis und Beachtung der „Skatregel“ zu den (normalen) empirischen „Maximen“ der Skatspielenden gehört, ihr Hantieren also kausal beeinflußt. Die Art dieser Beeinflussung und also die empirische Kausalität des Handelns der Spieler erkennen zu können, dazu hilft uns natürlich nur unsre Kenntnis des „Skatrechts“. Wir verwenden dieses unser Wissen von der ideellen „Norm“ als „heuristisches Mittel“, ganz ebenso wie z. B. der Kunsthistoriker seine ästhetische (normative) „Urteilskraft“ als ein de facto ganz unentbehrliches heuristisches Mittel benutzt, um die faktischen „Intentionen“ des Künstlers im Interesse der kausalen Erklärung der Eigenart des Kunstwerks zu ergründen. Und ganz entsprechendes gilt, wenn wir generelle Sätze über die „Chancen“ eines bestimmten Verlaufs des Spiels bei einer gegebenen Karten-Verteilung aufstellen wollen. Wir würden dann die „Voraussetzung“, daß 1) die ideale Spielregel (das „Skatrecht“) faktisch innegehalten und daß 28  Von ital. strada: Straße; gewöhnlich für „Soldaten in Marsch setzen“ oder „einen Weg festlegen“.

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2) streng rational, d. h. teleologisch „zweckmäßig“ gespielt werde, – so etwa, wie es in den „Skataufgaben“ (oder für das Schachspiel, den Schachaufgaben), welche die Blätter publizieren, unterstellt wird11), – dazu benützen, um, da erfahrungsgemäß generell eine gewisse „Annäherung“ an diesen „Idealtypus“ erstrebt und erreicht wird, die größere oder geringere „Wahrscheinlichkeit“, daß Spiele mit dieser Kartenverteilung den jenem Typ entsprechenden Verlauf nehmen, behaupten zu können. Wir haben also gesehen, daß die „Skatregel“ als „Voraussetzung“ in drei logisch ganz verschiedenen Funktionen bei der empirischen Erörterung eine Rolle spielen kann: klassifikatorisch und begriffskonstitutiv bei der Abgrenzung des Objekts, heuristisch bei seiner kausalen Erkenntnis, und endlich als eine kausale Determinante des zu erkennenden Objekts selbst. Und wir haben ferner schon vorher uns überzeugt, in wie grundverschiedenem Sinne die Skatregel selbst Objekt des Erkennens werden kann: skatpolitisch, skatjuristisch, – in beiden Fällen als „ideelle“ Norm, endlich empirisch, als faktisch wirkend und bewirkt. Daraus mag man vorläufig entnehmen, wie unbedingt nötig es ist, jeweils auf das sorgsamste festzustellen, in welchem Sinn man von der „Bedeutung“ der „Regel“ als „Voraussetzung“ irgend welchen Erkennens spricht, wie vor allem die stete Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des Empirischen mit dem Normativen auf das Maximum steigen muß, wenn man nicht sorgsam jede Zweideutigkeit des Ausdrucks vermeidet. | Gehen wir nun vom Gebiet der „konventionellen“ Normen des Skats und der Quasi-„Jurisprudenz“ des „Skatrechts“ zum „echten“ Recht über (ohne hier vorerst nach dem entscheidenden Unterschiede von Rechtsregel und Konventionsregel zu fragen) und nehmen wir also an, unser obiges „Tausch“-Beispiel29 bewege sich innerhalb des Geltungsbereichs eines positiven Rechts, welches auch den Tausch „regle“, dann tritt zu den bisher erörterten

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11) Sie30 entsprechen darin in logischer Hinsicht den „Gesetzen“ der theoretischen A 136 Nationalökonomie.31 |

29  Oben, S.  540 ff. 30  Die „Skataufgaben“, hier im Sinn der oben genannten „generellen Sätze über die ‚Chancen‘ eines bestimmten Verlaufs des Spiels“. 31  Weber nennt z. B. das „Grenznutzgesetz“. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  202 mit Anm.  99, und ders., Roscher und Knies 3, oben, S.  361, Fn.  35.

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scheinbar eine weitere Komplikation. Für die Bildung des empiri­ schen Begriffs „Skat“ war die Skatnorm begriffsabgrenzende „Voraussetzung“ im Sinn der Bestimmung des Umkreises des Objekts: die skatrechtlich relevanten Hantierungen sind es, welche einer empirisch-historischen Skatanalyse – wenn jemand sie unternehmen wollte – die Ansatzpunkte liefern. Das liegt nun hinsichtlich des Verhältnisses der Rechtsregel und des empirischen Ablaufs des menschlichen „Kulturlebens“12) anders, sobald ein vom Recht normiertes Gebilde Gegenstand nicht rechtsdogmatischer und auch nicht rein rechtshistorischer, sondern – wie wir uns vorerst einmal allgemein ausdrücken wollen – „kulturgeschichtlicher“ oder „kulturtheoretischer“ Betrachtung unterworfen wird, d. h. sobald – wie wir ebenfalls vorerst möglichst unbestimmt sagen wollen – entweder („historische“ Betrachtung) bestimmte, mit Beziehung auf „Kulturwerte“32 bedeutsame Bestandteile einer ideell auch vom Recht normierten Wirklichkeit in ihrem kausalen Gewordensein erklärt oder (kulturtheoretische Betrachtung) generelle Sätze über die kausalen Bedingungen des Entstehens solcher Bestandteile oder über ihre kausale Wirkung gewonnen werden sollen. Während bei der in den obigen Erörterungen unterstellten Absicht, eine empirisch-historische Ergründung des Verlaufs eines konkreten „Skatspiels“ vorzunehmen, die Formung des Objekts (des „historischen Individuums“)33 schlechthin an der Relevanz der Tatbestände vom Standpunkt der „Skatnorm“ aus hing, ist dies bei einer nicht rein rechts-, sondern „kultur“historischen Betrachtung A 137

12) Der hier verwendete „Kultur“-Begriff ist der Rickertsche. (Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, viertes Kapitel, Abschnitt II und VIII.)34 Absichtlich wird hier, vor der Auseinandersetzung mit Stammler, der Begriff „soziales Leben“ vermieden. Ich verweise im Übrigen auf meine verschiedenen Aufsätze in dieser Zeitschrift Band XIX und XXII.35

32  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  153 mit Anm.  43 und S.  166 mit Anm.  71. 33  Vgl. ebd., oben, S.  185 mit Anm.  40. 34  Vgl. Rickert, Grenzen. Das vierte Kapitel trägt die Überschrift „Die historische Begriffsbildung“ (S.  305 ff.), davon Abschnitt II. „Das historische Individuum“ (S.  336 ff.) und Abschnitt VIII. „Die historischen Kulturwissenschaften“ (S.  570 ff.). 35  Weber, Objektivität, oben, S.  135–234, und Weber, Kritische Studien, oben, S.  380– 480; beide – 1904 bzw. 1906 – im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienen.

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bezüglich der Rechtsnorm durchaus nicht so.12a) b Wir klassifizieren ökonomische, politische etc. Tatbestände auch nach andern als rechtlichen Merkmalen, auch rechtlich ganz irrelevante Tatsachen des Kulturlebens „interessieren“ uns historisch[,]36 und folglich ist es dann eine offene Frage, inwieweit im einzelnen Fall die vom Standpunkt eines ideell gelten|den Rechts und der demgemäß zu bildenden juristischen Begriffe aus relevanten Merkmalenc solcher Tatbestände es auch für die zu bildenden historischen oder „kulturtheoretischen“d Begriffe sind. In ihrer Stellung als „Voraussetzung“ der Bildung des Kollektivbegriffs scheidet die Rechtsnorm alsdann im Prinzip aus. Aber der Fall ist trotzdem um deswillen nicht einfach dahin zu erledigen, daß beide Arten von Begriffsbildung schlechthin nichts miteinander zu tun hätten, weil, wie wir sehen werden, ganz regelmäßig rechtliche Termini für Begriffsbildungen, z. B. ökonomische, verwendet werden, welche unter wesentlich abweichenden Gesichtspunkten relevant sind. Und dies wieder ist um deswillen nicht einfach als terminologischer Mißbrauch zu verwerfen, weil einmal der betreffende Rechtsbegriff, empirisch gewendet, sehr häufig als „Archetypos“37 des betreffenden ökonomischen Begriffs gedient hat und dienen konnte, und dann, weil selbstredend die „empirische Rechtsordnung“, – ein Begriff, von dem alsbald zu reden sein wird,38 – von (wie wir vorerst nur allgemein sagen wollen) sehr erheblicher Bedeutung z. B. auch für die unter ökonomischen Gesichtspunkten relevanten Tatbestände zu sein pflegt. Aber – wie später zu erörtern sein wird39 – beide koinzidieren schlechterdings nicht. Schon den Begriff des „Tauschs“ z. B. dehnt die ökonomische Betrachtung auf Tatbestände des allerheterogensten Rechtscharakters aus, weil 12a)  Genau das Gleiche würde natürlich der Skatnorm widerfahren, wenn wir einmal unterstellen, ein skatrechtlich normierter Tatbestand würde Bestandteil eines unter „welthistorischen“ Gesichtspunkten interessierenden Forschungsobjekts. |

b Index zu Fußnote 12a) fehlt in A; hier sinngemäß eingefügt.   c A: Merkmale   d A: „kulturtheoetrischen“   36 Zum historischen Interesse vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  256 mit Anm.  57. 37  Vgl. ebd., oben, S.  271 mit Anm.  7. 38  Unten, S.  561. 39  Unten, S.  559 f.

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die für sie relevanten Merkmale sich bei allen finden. Und umgekehrt erfaßt sie, wie wir sehen werden,40 sehr oft rechtlich durchaus irrelevante Merkmale und knüpft an sie ihre Distinktionen. Auf die daraus entstehenden Probleme werden wir weiterhin immer wieder zurückkommen. Hier vergegenwärtigen wir uns vorläufig nur noch, einerseits, daß die an unsrem Skatbeispiel demonstrierten Arten von logisch möglichen Betrachtungsweisen auf dem Gebiete der „Rechtsregel“ wiederkehren, und stecken, andrerseits, zunächst nur rein provisorisch, die Grenzen für diese Analogie ab, ohne jedoch an dieser Stelle schon eine endgültige und korrekte Formulierung des logischen Sachverhalts zu unternehmen13). Eingehender kommen wir erst darauf zurück, nachdem | wir weiterhin an Stamm­ lers Argumentationen gelernt haben werden, wie man mit diesen Problemen nicht umspringen darf. – Ein bestimmter „Paragraph“ des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann in verschiedenem Sinn Gegenstand des Nachdenkens werden. Zunächst rechtspolitisch: man kann von ethischen Prinzipien aus seine normative „Berechtigung“, ferner von bestimmten „Kulturidealen“ oder von politischen, – „machtpolitischen“ oder „sozialpolitischen“, – Postulaten aus seinen Wert oder Unwert für die Verwirklichung jener Ideen, oder vom „Klassen“- oder persönlichen Interessenstandpunkt aus seinen „Nutzen“ oder „Schaden“ für jene Interessen diskutieren. Diese Art von direkt wertender

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13) Es sei auf die eindringenden Bemerkungen verwiesen, welche G[eorg] Jellinek in der 2. Auflage seines „Systems der subjektiven öffentlichen Rechte“ Kap. III (S.  12 f., vgl. seine „Allgem[eine] Staatslehre“, 2.  Aufl., Kap. VI) zu unserm Problem gemacht hat.41 Ihn interessiert dasselbe unter dem grade umgekehrten Gesichtspunkt wie uns hier. Während er naturalistische Eingriffe in das rechtsdogmatische Denken abzuwehren hat, haben wir hier rechtsdogmatische Verfälschungen des empirischen Denkens zu kritisieren. Der einzige, der bisher dem Problem der Beziehungen zwischen empirischem und juristischem Denken vom Standpunkt des ersteren aus prinzipiell zu Leibe gerückt ist, ist F[riedrich] Gottl, dessen „Herrschaft des Worts“ darüber ganz vorzügliche Andeutungen – aber allerdings nur Andeutungen – enthält.42 Die Behandlung A 139 rechtlich geschützter Interessen („subjektiver | Rechte“) vom Standpunkt speziell des ökonomischen Denkens aus hat seiner Zeit, wie bekannt, v. Böhm-Bawerk in seiner Abhandlung „Rechte und Verhältnisse vom Standpunkt der volkswirtschaftlichen Güterlehre“ (1881) in konsequenter Klarheit entwickelt.43 |

40  Gemeint ist möglicherweise unten, S.  565. 41  Vgl. Jellinek, System2, S.  12 ff., mit Verweis (S.  12) auf das Kapitel VI. („Das Wesen des Staates“) von Jellinek, Staatslehre², S.  130 ff. 42  Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  101, 108, 112 ff., 172, 175 f. 43  Vgl. Böhm-Bawerk, Rechte, S.  36 ff.

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Erörterung der „Regel“ als solcher, die uns mutatis mutandis schon beim „Skat“ begegnet ist,44 scheiden wir hier vorerst einmal gänzlich aus, da sie logisch keine prinzipiell neuen Probleme bietet. Dann bleibt zweierlei. Man kann bezüglich des gedachten Paragraphen nun noch fragen, einmal: was „bedeutet“ er begrifflich? – und ein andres Mal: was „wirkt“ er empirisch? Daß die Beantwortung dieser beiden Fragen Voraussetzung einer fruchtbaren Erörterung der Frage des ethischen, politischen u. s. w. Wertes des Paragraphen ist, ist eine Sache für sich: die Frage nach dem „Wert“ ist deshalb natürlich doch eine durchaus selbständige, streng von diesen beiden letztgenannten zu scheidende. Sehen wir uns nun diese beiden Fragen auf ihr logisches Wesen hin an. In beiden Fällen ist grammatisches Subjekt des Fragesatzes: „er“, d.  h. der betreffende „Paragraph“, – und doch handelt es sich beide Male um ganz und gar verschiedene Gegenstände, die sich hinter diesem „er“ verstecken. In dem ersten Fall ist „er“, der „Paragraph“ nämlich, eine in Worte gefaßte Gedankenverbindung, die nun immer weiter als ein rein ideelles, vom juristischen Forscher destilliertes Objekt begrifflicher Analyse behandelt wird. Im zweiten ist „er“ – der „Paragraph“ – zunächst einmal die empirische Tatsache, daß, wer eines von den „Bürgerliches Gesetzbuch“ genannten Papierfaszikeln zur Hand nimmt, an einer bestimmten Stelle regelmäßig einen Aufdruck findet, durch den in seinem Bewußtsein nach den „Deutungs“Grundsätzen, die ihm empirisch anerzogen sind – mit mehr oder minder großer Klarheit und Eindeutigkeit – bestimmte Vorstellungen über die faktischen Konsequenzen, welche ein bestimmtes äußeres Verhalten nach sich ziehen könne, erweckt werden. Dieser Umstand hat nun weiter zur empirisch regelmäßigen – wenn auch keineswegs faktisch ausnahmslosen – Folge, daß gewisse psychische und physische „Zwangsinstrumente“ demjenigen zur Seite stehen, der gewissen, üblicherweise „Richter“ genannten, Per|sonen in einer bestimmten Art die Meinung beizubringen weiß, daß jenes „äußere Verhalten“45 in einem konkreten Fall vorgelegen habe oder vorliege. Er hat zur ferneren Folge, daß jeder auch ohne diese Bemühung jener, „Richter“ genannten[,] Personen, mit einem starken Maß von Wahrscheinlichkeit auf ein bestimmtes Verhalten 44  Oben, S.  547 ff. 45 Stammler verwendet diese Formulierung an einer Stelle. Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  574.

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andrer ihm gegenüber „rechnen“ kann, – daß er m. a. W. eine gewisse Chance hat, z. B. auf die faktisch ungestörte Verfügung über ein bestimmtes Objekt zählen zu können, und daß er nun auf Grund dieser Chance sich sein Leben gestalten kann und gestaltet. Das empirische „Gelten“ des betreffenden „Paragraphen“ bedeutet also im letzteren Fall eine Serie von komplizierten Kausalverknüpfungen in der Realität des empirisch-geschichtlichen Zusammenhangs, ein durch die Tatsache, daß ein bestimmtes Papier mit bestimmten „Schriftzeichen“ bedeckt wurde13a), hervorgerufenes reales Sich-Verhalten von Menschen zu einander und zur außermenschlichen „Natur“. Das „Gelten“ eines Rechtssatzes in dem oben zuerst behandelten „idealen“ Sinn bedeutet dagegen ein für das wissenschaftliche Gewissen desjenigen, der „juristische Wahrheit“ will, verbindliches gedankliches Verhältnis von Begriffen zu einander: ein „Gelten-Sollen“ bestimmter Gedankengänge für den juristischen Intellekt. Der Umstand andererseits, daß ein solches ideales „Gelten-Sollen“ eines bestimmten „Rechtssatzes“ aus bestimmten Wortverbindungen von solchen empirischen Personen, welche „juristische Wahrheit“ wollen, faktisch „erschlossen“ zu werden pflegt, ist seinerseits natürlich wieder keineswegs ohne empirische Konsequenzen, vielmehr von der allergrößten empirisch-historischen Bedeutsamkeit. Denn auch die Tatsache, daß es eine „Jurisprudenz“ gibt[,] und die empirisch-historisch gewordene Art der sie jeweils de facto beherrschenden „Denkgewohnheiten“ ist von der erheblichsten praktisch-empirischen Tragweite für die faktische Gestaltung des Verhaltens der Menschen schon deshalb, weil in der empirischen Realität die „Richter“ und andre „Beamte“, welche dies Verhalten durch bestimmte physische und psychische Zwangsmittel zu beeinflussen in der Lage sind, ja eben dazu erzogen werden, „juristische Wahrheit“ zu wollen und dieser „Maxime“ – in faktisch sehr verschiedenem Umfang – nachleben. Daß unser „soziales Leben“ empirisch „geregelt“, d. h. hier: „in Regelmäßigkeiten“, verläuft, in dem Sinne, daß z. B. alltäglich der Bäcker, der Metzger, der Zeitungsjunge sich einstellt u. s. w. u. s. w. – diese „empirische“ Regelmäßigkeit ist von dem Umstand, daß eine „Rechtsordnung“ empirisch, d. h. aber: als eine das Handeln von Menschen kausal mitbestimmende Vorstellung von etwas, das sein soll, als A 140

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 Wir vereinfachen hier künstlich! |

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„Maxime“ also, existent ist,46 natürlich auf das allerfundamentalste mit determiniert. Aber nicht nur jene empirischen Regelmäßigkeiten, son|dern auch diese empirische „Existenz“ des „Rechts“ sind natürlich etwas absolut anderes als die juristische Idee seines „Gelten-Sollens“. Das „empirische“ Gelten kommt ja dem „juristischen Irrtum“ eventuell in genau dem gleichen Maße zu wie der „juristischen Wahrheit“, und die Frage nach dem, was in concreto „juristische Wahrheit“ ist, d.  h. gedanklich nach „wissenschaftlichen“ Grundsätzen als solche „gelten“e solle oder hätte „gelten“ sollen, ist logisch gänzlich verschieden von der: was de facto empirisch in einem konkreten Fall oder in einer Vielheit von Fällen als kausale „Folge“ des „Geltens“ eines bestimmten „Paragraphen“ eingetreten ist. Die „Rechtsregel“ ist in dem einen Fall eine ideale gedanklich erschließbare Norm, im andren Fall ist sie eine empirisch, als mehr oder minder konsequent und häufig befolgt, feststellbare Maxime des Verhaltens konkreter Menschen. Eine „Rechtsordnung“ gliedert sich in dem einen Fall in ein System von Gedanken und Begriffen, welches der wissenschaftliche Rechtsdogmatiker als Wertmaßstab benützt, um das faktische Verhalten gewisser Menschen: der „Richter“, „Advokaten“, „Delinquenten“, „Staatsbürger“ u. s. w. daran, juristisch wertend, zu messen und als der idealen Norm entsprechend oder nicht entsprechend anzuerkennen oder zu verwerfen, – im andern Fall löst sie sich in einen Komplex von Maximen in den Köpfen bestimmter empirischer Menschen auf, welche deren faktisches Handeln und durch sie indirekt das anderer kausal beeinflussen. Soweit ist alles relativ einfach. Komplizierter aber steht es mit dem Verhältnis zwischen dem Rechtsbegriff „Vereinigte Staaten“ und dem gleichnamigen empirisch-histori­ schen „Gebilde“. Beide sind, logisch betrachtet, schon deshalb verschiedene Dinge, weil in jedem Fall die Frage entsteht, inwieweit das, was vom Standpunkt der Rechtsregel aus an der empirischen Erscheinung relevant ist, es auch für die empirisch-historische, politische und sozialwissenschaftliche Betrachtung bleibt. Man darf sich darüber nicht durch den Umstand täuschen lassen, daß beide sich mit dem gleichen Namen schmücken. – „Die Vereinigten Staaten sind, den Einzelstaaten gegenüber, zum Abschluß von Handelse A: ver„gelten“   46  Vgl. oben, S.  538 mit Anm.  98.

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verträgen zuständig.“ „Die Vereinigten Staaten haben demgemäß einen Handelsvertrag des Inhalts a mit Mexiko abgeschlossen“. „Das handelspolitische Interesse der Vereinigten Staaten hätte jedoch den Inhalt b erfordert.“ „Denn die Vereinigten Staaten exportieren von dem Produkt c nach Mexiko die Quantität d.“ „Die Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten befindet sich daher im Zustande x.“ „Diesf muß auf die Valuta der Vereinigten Staaten den Einfluß y haben.“ In den 6 Sätzen hat das Wort „Vereinigte Staaten“ einen jedesmal verschiedenen Sinn14). Hier also liegt ein Punkt, an | dem die Analogie mit dem „Skat“-Beispiel abbricht. Der empirische Begriff eines konkreten „Skats“ ist identisch mit den vom Standpunkt des Skatrechtes relevanten Vorgängen. Zu einem davon abweichenden Gebrauch von Skatbegriffen haben wir keinen Anlaß14a). Anders bei dem Begriff „Vereinigte Staaten“. Dies hängt eben offenbar mit der schon oben erwähnten Gepflogenheit,47 juristische Terminologien (z. B. den Begriff „Tausch“) auf andere Gebiete zu übertragen, zusammen. Machen wir uns auch hier in den allgemeinsten Zügen noch näher klar, wie dies den logischen Sachverhalt beeinflußt. – Zuerst einige Rekapitulationen. Was sich schon aus dem bisher Gesagten48 jedenfalls ergibt, ist, daß es sinnlos ist, die Beziehung der Rechtsregel zum „sozialen Leben“ derart zu fassen, daß das Recht als die – oder eine – „Form“ des „sozialen Lebens“ aufgefaßt werden könnte, welcher irgend etwas anderes als „Materie“ gegenüberzustellen sei und nun daraus „logische“ Konsequenzen ziehen zu wollen. Die Rechtsregel, als „Idee“ gefaßt, ist ja keine empirische Regelmäßigkeit oder „Geregeltheit“, sondern eine Norm, die als „gelten sollend“ gedacht werden kann, also ganz gewiß keine Form des Seienden, sondern ein Wertstandard, an dem das faktische Sein wertend gemessen wird, wenn wir „juristische Wahrheit“ wollen. Die Rechtsregel, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine „Form“ des sozialen Seins, wie  S[iehe] auch Gottl a. a. O. S.  192 Anm.  1 und folgende Seiten.49 |  Aus dem rein faktischen Grunde der geringen Tragweite der „Skatregel“ für das Kulturleben. | 14)

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f  Anführungszeichen fehlt in A.   47  Oben, S.  555. 48  Oben, S.  523 ff. 49  Vgl. Gottl, Herrschaft, S.  192 ff., mit Beispiel „Deutsches Reich“.

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immer das letztere begrifflich bestimmt werden möge, sondern eine sachliche Komponente der empirischen Wirklichkeit, eine, in mehr oder minder großer „Reinheit“, das empirisch zu beobachtende Verhalten eines in jedem einzelnen Fall unbestimmt großen Teils der Menschen kausal bestimmende, im Einzelfall mehr oder minder bewußt und mehr oder minder konsequent befolgte, Maxime. Der Umstand, daß die Richter erfahrungsgemäß die „Maxime“ befolgen, gemäß einer bestimmten Rechtsregel „Interessenkonflikte“ zu „entscheiden“, daß dann andre Leute: Gerichtsvollzieher, Polizisten etc. die „Maxime“ haben, sich nach dieser Entscheidung zu „richten“, daß ferner überhaupt die Mehrzahl der Menschen „rechtlich“ denkt, d. h. die Innehaltung der Rechtsregeln normalerweise zu einer der Maximen ihres Handelns macht, – dies alles sind Bestandteile, und zwar ungemein wichtige Bestandteile, der empirischen Wirklichkeit des Lebens, spezieller: des „sozialen Lebens“. Das „empirische Sein“ des Rechts als Maxime-bildenden „Wissens“ konkreter Menschen nannten wir hier: die empirische „Rechtsordnung“. Dies Wissen, diese „empirische Rechtsordnung“ also, ist für den handelnden Menschen einer der Bestimmungsgründe seines Tuns, und zwar, sofern er zweckvoll handelt, teils eines der „Hemmnisse“, | dessen er, sei es durch möglichst ungefährdete Verletzung ihrer, sei es durch „Anpassung“ an sie, Herr zu werden trachtet, – teils ein „Mittel“, welches er seinen „Zwecken“ dienstbar zu machen sucht, genau im gleichen Sinn wie sein Wissen von irgend einem andren Erfahrungssatz. Diesen ihren empirischen Bestand sucht er seinen „Interessen“ gemäß eventuell durch Beeinflussung andrer Menschen zu ändern in – logisch betrachtet – ganz dem gleichen Sinn wie irgend eine Naturkonstellation durch technische Benützung der Naturkräfte. – Will er z. B. – um ein gelegentliches Beispiel Stammlers zu gebrauchen50 – das Qualmen eines benachbarten Schornsteins nicht dulden, so befragt er sein eignes Erfahrungswissen oder das anderer (z. B. eines „Anwalts“) darüber, ob bei Vorlegung bestimmter Schriftstücke an einer bestimmten Stelle (dem „Gericht“) zu erwarten ist, daß gewisse, „Richter“ genannte, Leute nach Vornahme einer Serie von Prozeduren ein Schriftstück („Urteil“ genannt) unterzeichnen, welches zur „adäquaten“ Folge hat, daß auf gewisse Personen ein psychi50  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  133.

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scher oder eventuell physischer Zwang geübt wird, den betreffenden Ofen nicht mehr anzuheizen. Für den Kalkül darüber, ob dies mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, prüft er, oder sein „Anwalt“, natürlich vor allem auch die Frage, wie, nach dem „begrifflichen“ Sinn der Rechtsregel, die Richter den Fall entscheiden „müßten“. Aber mit dieser „dogmatischen“ Prüfung ist ihm nicht geholfen. Denn für seine empirischen Zwecke ist das noch so „unbefangene“ Ergebnis dieser Prüfung nur ein Posten in der Wahrscheinlichkeitsrechnung betreffend den zu gewärtigenden empirischen Verlauf: aus den verschiedensten Gründen kann es, wie er sehr wohl weiß, geschehen, daß, trotzdem nach gewissenhafter Prüfung des Anwalts die „Norm“, auf ihren idealen Sinn hin geprüft, zu seinen Gunsten sprechen würde, er dennoch vor Gericht „verspielt“, – wie der Volksmund bezeichnenderweise den Vorgang sehr charakteristisch benennt.51 Und in der Tat: der Prozeß weist die vollkommenste Analogie zum „Skatspiel“ auf, wie wohl keiner weiteren Erläuterung bedarf. Nicht nur ist die empirische Rechtsordnung hier „Voraussetzung“ des empirischen Hergangs, d. h. „Maxime“ der entscheidenden Richter, „Mittel“ der agierenden Parteien, und nicht nur spielt für die empirisch-kausale „Erklärung“ des faktischen Hergangs eines konkreten Prozesses die Kenntnis ihres gedanklichen „Sinns“, also ihrer dogmatisch-juristischen Bedeutung, als unentbehrliches heuristisches Mittel eine ganz ebenso große Rolle, wie bei einer „historischen“ Analyse eines Skats die Skatregel, sondern sie ist ferner auch konstitutiv für die Abgrenzung des „historischen Individuums“:52 die rechtlich relevanten Bestandteile des Vorgangs sind es, an welche das Interesse der „Erklärung“ sich knüpft, wenn wir einen konkreten Prozeß eben als Prozeß kausal erklären wollen. – Hier ist also die Analogie mit | der Skatregel komplett. Der empirische Begriff des konkreten „Rechtsfalls“ erschöpft sich – ganz ebenso wie der konkrete Skatfall – in den vom Standpunkt der „Rechtsregel“ – wie dort der „Skatregel“ – relevanten Bestandteilen des betreffenden Wirklichkeitsausschnitts. Aber wenn wir nun nicht eine „Geschichte“ eines konkreten „Rechtsfalls“ im Sinn der 51  Das Sprichwort lautet: „Kopf und Kragen verspielen“. Zu den Zufallsspielen der Wahrscheinlichkeitstheorie vgl. Weber, Kritische Studien, oben, S.   389, Fn.   3 mit Anm.  15. 52  Vgl. oben, S.  554 mit Anm.  33.

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Erklärung seines juristischen Ergebnisses als Aufgabe denken, sondern z. B. schon die „Geschichte“ eines so durch und durch von der Rechtsordnung beeinflußten Objekts, wie etwa des „Arbeitsverhältnisses“ in einer bestimmten Industrie, etwa der Textilindustrie Sachsens,53 so verschiebt sich dieser Sachverhalt. Das, worauf es uns dabei „ankommt“, ist keineswegs notwendig in denjenigen Bestandteilen der Wirklichkeit beschlossen, welche für irgend eine „Rechtsregel“ relevant sind. Daß die Rechtsregel die gewaltigste kausale Bedeutung für das „Arbeitsverhältnis“, welches auch immer der „Gesichtspunkt“ sein mag, unter dem wir es betrachten, besitzt, ist dabei selbstredend ganz unbestreitbar. Sie ist eine der allgemeinen sachlichen „Bedingungen“, welche bei der Betrachtung in Rechnung gestellt werden. Aber die, von ihr aus gesehen, „relevanten“ Tatsachen sind nicht mehr, wie bei der „Skatregel“ im Verhältnis zum konkreten Skat und der Rechtsregel zum Prozeß, notwendigerweise die Bestandteile des „historischen Individuums“, d. h. derjenigen „Tatsachen“, auf deren Eigenart und kausale Erklärung es uns „ankommt“, obwohl vielleicht für alle diese Tatsachen die Eigenart der konkreten örtlich-zeitlichen „Rechtsordnung“ eine der entscheidendsten kausalen „Bedingungen“, und das Vorhandensein einer „Rechtsordnung“ überhaupt ebenso unerläßliche, allgemeine (sachliche) „Voraussetzung“ ist wie das Vorhandensein von Wolle oder Baumwolle oder Leinen und deren Verwertbarkeit für bestimmte menschliche Bedürfnisse. Man könnte – was jedoch an dieser Stelle nicht geschehen soll – eine Serie von Gattungen möglicher Objekte der Untersuchung zu konstruieren suchen, bei der in jedem folgenden Beispiel die generelle kausale Bedeutung der konkreten Eigenart der „empirischen Rechtsordnung“ immer weiter zurücktritt, andre Bedingungen in ihrer Eigenart immer mehr an kausaler Bedeutung gewinnen, und so zu generellen Sätzen über das Maß der kausalen Tragweite empirischer Rechtsordnungen für Kulturtatsachen zu gelangen suchen. Hier begnügen wir uns, die prinzipielle Wandelbarkeit dieser Tragweite je nach der Art des Objekts generell festzustellen. Auch die künstlerische Eigenart der Sixtinischen Madonna z. B. hat eine sehr spezifische empirische „Rechtsord53  Vgl. z. B. Bein, Louis, Die Industrie des sächsischen Voigtlandes. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie, Zweiter Theil: Die Textil-Industrie. – Leipzig: Duncker & Humblot 1884.

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nung“ zur „Voraussetzung“, und der kausale Regressus, denken wir ihn uns erschöpfend durchgeführt, müßte auf sie als „Element“ stoßen. Und ohne irgend eine „Rechtsordnung“ als allgemeine „Bedingung“ wäre ihr Entstehen empirisch bis an die Grenze der Unmöglichkeit unwahrscheinlich. Aber die Tatsachen, welche das „historische | Individuum“: „Sixtinische Madonna“ konstituieren, sind hier rechtlich gänzlich irrelevant. Der Fachjurist freilich ist begreiflicherweise geeignet, den Kulturmenschen54 im allgemeinen als potentiellen Prozeßführer zu betrachten, in demselben Sinn, wie etwa der Schuster ihn als potentiellen Schuhkäufer und der Skatspieler ihn als potentiellen „dritten Mann“ ansieht. Aber der eine wie der andere ghätten natürlich ganz gleich Unrecht, wenn sie behaupten wollten,g daß der Kulturmensch nur insofern Gegenstand kulturwissenschaftlicher Erörterung sein dürfe oder könne, als er das eine oder das andere ist, wenn also der Jurist sozusagen den Menschen nur als potentiellen „Rechtsskat-Spieler“ ansehen wollte, indem er den Glauben hegte, ausschließlich die unter dem Gesichtspunkt eines eventuellen Prozesses relevanten Bestandteile der Beziehungen zwischen Menschen seien mögliche Bestandteile eines „historischen Individuums“. Das empirische Erklärungsbedürfnis kann an Bestandteile der Wirklichkeit und insbesondere auch des Sich-Verhaltens der Menschen zu einander und zu der außermenschlichen Natur anknüpfen, welche, vom Standpunkt der „Rechtsregel“ aus gesehen, schlechthin irrelevant sind, und dieser Fall tritt in der Praxis der Kulturwissenschaften fortgesetzt ein. Dem gegenüber steht nun die Tatsache, daß, – wie den früheren Bemerkungen55 über diesen Punkt ergänzend hinzuzufügen ist, – wichtige Zweige der empirischen Disziplinen vom Kulturleben: die politische und ökonomische Betrachtung insbesondere, sich der juristischen Begriffe nicht nur, wie schon hervorgehoben, terminologisch, sondern auch sozusagen als einer Vorformung ihres eignen Materials bedienen. Zunächst ist es die hohe Entwicklung des juristischen Denkens, welche diese Entlehnung zum Zweck einer provisorischen Ordnung der uns umgebenden Mannigfaltigkeit faktischer Beziehung–g  Zu erwarten wäre: hätte natürlich ganz gleich Unrecht, wenn er behaupten wollte, 54  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  189 mit Anm.  50. 55  Oben, S.  555, 560.

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gen bedingt. Aber eben deshalb ist es notwendig, stets darüber im Klaren zu bleiben, daß diese juristische Vorformung alsbald verlassen wird, sobald die politische oder die ökonomische Betrachtung nun ihre „Gesichtspunkte“ an den Stoff bringt und dadurch die juristischen Begriffe in Faktizitäten mit einem notwendig anderen Sinn umdeutet. Nichts aber steht dieser Erkenntnis mehr im Wege, als wenn man wegen jener wichtigen Dienste der juristischen Begriffsbildung die rechtliche Regelung zu einem „Formalprinzip“56 der das menschliche Gemeinschaftsleben betreffenden Erkenntnis erheben wollte. Der Irrtum liegt deshalb so nahe, weil die faktische Tragweite der empirischen „Rechtsordnung“ eine so bedeutende ist. Denn wenn, nach dem Gesagten, sobald die Sphäre der Betrachtung von Vorgängen, die nur ihrer rechtlichen Relevanz wegen als „interessant“ gelten, verlassen ist, damit zugleich auch die Bedeutung der „Rechtsregel“ als „Voraussetzung“ im Sinn des die Objektabgrenzung leitenden Prinzips schwindet, so ist andrerseits die Universalität der kausalen Bedeutung | der „Rechtsregel“ für jede Betrachtung des Verhaltens der Menschen zu einander – wenn wir z. B. wieder den Skat als Vergleich heranziehen – außerordentlich groß, weil sie als Rechtsregel empirisch normalerweise mit Zwangsgewalt ausgestattet und überdies von höchst universellem Geltungsbereich ist. In einen Skat braucht sich im allgemeinen niemand hineinziehen und damit den Wirkungen der empirischen „Geltung“ der Skatregel aussetzen zu lassen. Dagegen kann er es de facto unmöglich vermeiden, das Gebiet der vom Standpunkt von empirischen Rechtsordnungen aus „relevanten“ Tatbestände konstant – schon vor seiner Geburt – zu kreuzen und also – empirisch betrachtet – unausgesetzt „potentieller Rechtsskat-Spieler“ zu werden und also, sei es aus reinen Zweckmäßigkeits- oder sei es aus Rechtlichkeits-Maximen[,] sein Verhalten dieser Situation anpassen zu müssen. In diesem Sinn gehört gewiß, rein empirisch gesprochen, das Bestehen einer „Rechtsordnung“ zu den universellen empirischen „Voraussetzungen“ eines solchen faktischen Verhaltens der Menschen zu einander und zu den außermenschlichen Objekten, welches „Kulturerscheinungen“ erst möglich macht. Allein sie ist, in diesem Sinn, ein empirisches Faktum, wie z. B. etwa ein gewisses Mindestmaß von Sonnenwärme auch, und gehört also 56  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  69.

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wie diese einfach zu den kausalen „Bedingungen“, welche jenes Verhalten determinieren helfen. Und ähnlich wie mit der „objektiven Rechtsordnung“ im empirischen Sinn steht es mit dem Umstand, daß in einer konkreten örtlich-zeitlichen Situation ein bestimmter konkreter „Tatbestand“ zu den „rechtlich geordneten“ gehört, z. B. – um damit zu unsrem Beispiel von dem qualmenden Schornstein zurückzukehren57 – das Maß von Einwirkungen lästiger Rauchentwicklung, bei dessen Abwehr dem Nachbar die Unterstützung der „Rechtsordnung“ in Aussicht steht: er ein entsprechendes „subjektives Recht hat“.58 Dies letztere stellt dann für die ökonomische Betrachtung lediglich eine faktische Chance für ihn dar. Diese Chance aber, daß nämlich die „Richter“ 1) die Entscheidung „gemäß der Norm“ als „Maxime“ streng festhalten werden, – also unbestechlich und gewissenhaft sind –[,] und 2) daß sie den Sinn der Rechtsnorm ebenso „deuten“ wie der von jenem Schornstein Belästigte oder sein Anwalt, 3) daß es gelingt, ihnen diejenigen faktischen Überzeugungen beizubringen, welche die Anwendung jener „Norm“ nach ihrer Auffassung bedingen, 4) daß die faktische Erzwingung der Durchführung der normgemäßen Entscheidung erfolgt, – diese Chance ist „kalkulierbar“ im gleichen logischen Sinn wie irgend ein „technischer“ Vorgang oder ein Erfolg im Skat. Wird der erwünschte Erfolg nun erzielt, so hat dann zweifellos „die Rechtsregel“ kausal das künftige Nichtqualmen des Schornsteins beeinflußt – trotz Stammlers Protest gegen diese Möglichkeit –,59 natürlich nicht als ideales „Sollen“ („Norm“) gedacht, sondern als faktisch ein bestimmtes | Verhalten der beteiligten Menschen, z. B. der Richter, in deren Köpfen sie als „Maxime“ ihrer „Entscheidung“ lebendig war, und des Nachbarn oder der Exekutoren bewirkend. Und ebenso wirkt der „Regel“-Charakter der „empirischen Rechtsordnung“, d. h. der als Faktum feststellbare und als solches 57  Vgl. oben, S.  561 mit Anm.  50. 58  Vgl. dazu Jellinek, oben, S.  556, Fn.  13, mit Anm.  41. 59  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  133: „Wodurch der mir lästige Dampf und Ruß in einem nachbarlichen Betriebe verursacht wird […], das ist eine Betrachtung für sich; wenn ich aber frage, ob ich es zu dulden brauche oder Abstellung oder Entschädigung verlangen kann, so habe ich nicht etwa ein von der Rechtsordnung kausal beeinflußtes Qualmen in Gedanken, sondern eine geregelte Wechselbeziehung zum Nachbar. Und falls dieser danach seinen Fabrikbetrieb einzustellen genötigt würde, so hat nicht das Recht die Ursachen der Rauchentwicklung alteriert, – die bleiben nach wie vor dieselben und können vom Staatsgesetze nicht mediatisiert werden“.

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auch einer Vielheit von Menschen bekannte Umstand, daß die „Maxime“ der „Richter“ dahin geht, an gewisse generell bestimmte Tatbestände eine generell gleiche Entscheidung von Interessenkonflikten zu knüpfen und zu erzwingen, – der Umstand also, daß die „Rechtsnormen“ eben den Charakter generalisierter Sätze: „Rechtsregeln“, besitzen und in dieser Form als „Maximen“ in den Köpfen der Richter leben, – dieser Umstand wirkt teils direkt[,] teils indirekt zur Erzeugung empirischer Regelmäßigkeiten im faktischen Verhalten der Menschen zu einander und den Sachgütern mit. Kein Gedanke natürlich, daß die empirischen Regelmäßigkeiten des „Kulturlebens“ generell „Projektionen“ von „Rechtsregeln“ bildeten. Aber der „Regel“-Charakter des Rechts kann empirische Regelmäßigkeiten zur „adäquaten“ Folge haben. Er ist dann ein kausales Element für diese empirische Regelmäßigkeit neben andern. Daß er eine höchst wichtige Determinante in dieser Richtung ist, beruht natürlich darauf, daß die empirischen Menschen normalerweise „vernünftige“, d. h. (empirisch betrachtet) der Erfassung und Befolgung von „Zweckmaximen“ und des Besitzes von „Normvorstellungen“ fähige Wesen sind. Darauf beruht es, daß rechtliche „Regelung“ ihres Verhaltens unter Umständen mehr an empirischer „Regelmäßigkeit“ dieses letzteren zu erzwingen vermag, als die ärztliche „Regelung“ der Verdauung eines Menschen an physiologischer „Regelmäßigkeit“ zu erreichen imstande ist. Allein sowohl die Art wie das Maß, in welchem die empirisch (als „Maxime“ bestimmter Menschen) vorhandene „Rechtsregel“ als kausale Determinante empirischer Regelmäßigkeiten anzusprechen ist, wechselt – wo es überhaupt zutrifft – von Fall zu Fall und ist durchaus nicht generell bestimmbar. Sie ist für das empirisch „regelmäßige“ Erscheinen des Kanzlisten auf seinem Bureau in ganz andrer Art und ganz andrem Grade die entscheidende Ursache, wie für das empirisch regelmäßige Erscheinen des Metzgers, oder wie für die empirischen Regelmäßigkeiten in der Art der Disposition eines Menschen über Geld- und Gütervorräte, die er in seiner faktischen Verfügung hat, oder für die Periodizitäten der mit „Krisen“15) und „Arbeitslosigkeit“ bezeichneten Erscheinun15) Es wird hier von einer Analyse des empirischen Gehalts der diesen Begriffen A 147 entsprechenden Tatbestände abgesehen.60 |

60  Vgl. Sombart, Wirtschaftskrisen (wie oben, S.  139, Anm.  36).

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gen oder der „Preis“-Bewegungen nach den Ernten, oder für die Geburtenziffern bei steigendem „Vermögen“ oder steigender intellektueller „Kultur“ bestimmter Menschengruppen. Und da die | „Wirkung“ der Tatsache, daß ein bestimmter „Rechtssatz“ empirisch neu „geschaffen“ wird, d. h. aber, daß in einer spezifischen Art und Weise, welche eine empirische Vielheit von Menschen gewohnt isth, als die für die „Fixierung“ von Rechtsregeln übliche und für sie verbindliche anzusehen, ein diesen ihren Gewohnheiten entsprechender „symbolischer“ Vorgang sich vollzieht, – da die „Wirkung“ dieser Tatsache auf das faktische Verhalten dieser und anderer von ihneni in ihrem Verhalten beeinflußbarer Menschen der erfahrungsmäßigen „Kalkulation“ im Prinzip ganz ebenso zugänglich ist, wie die Wirkung beliebiger „Naturtatsachen“, so sind auch generelle Erfahrungssätze über diese „Wirkungen“ durchaus im gleichen Sinn wie andre Sätze nach dem Schema: auf x folgt y, möglich – und uns allen aus dem Alltagsleben der Politik geläufig. Diese empirischen „Regeln“, welche die adäquate „Wirkung“ der empirischen Geltung eines Rechtssatzes aussagen, sind, logisch betrachtet, natürlich die äußersten Antipoden jener dogmatischen „Regeln“, welche als gedankliche „Konsequenz“ ganz desselben Rechtssatzes, wenn er als Objekt der „Jurisprudenz“ behandelt wird, entwickelt werden können. Und dies, obwohl beide in gleicher Art von der empirischen „Tatsache“, daß eine Rechtsregel bestimmten Gehalts als geltend angesehen wird, ausgehen, weil eben beide alsbald gänzlich heterogene gedankliche Operationen mit dieser „Tatsache“ vornehmen. – Man kann nun eine „dogmatische“ Betrachtung „formal“ nennen, weil sie in der Welt der „Begriffe“ bleibt, – dann ist als Gegensatz dazu aber gemeint: „empirisch“ im Sinn der kausalen Betrachtung überhaupt. Nichts steht andrerseits im Wege, die empirisch-kausale „Auffassung“ der „Rechtsregeln“ eine „naturalistische“ zu nennen im Gegensatz zu ihrer Behandlung in der juristischen Dogmatik. Nur muß man sich darüber klar sein, daß dann als „Natur“ die Gesamtheit alles empirischen Seins überhaupt bezeichnet ist,61 daß also z. B. alsdann auch die „Rechtsgeschichte“, logisch betrachtet, eine h A: sind  i A: ihren   61  Zum Begriff Natur vgl. oben, S.  527 ff., 542 und 546.

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„naturalistische“ Disziplin ist, weil auch sie die Faktizität der Rechtsnormen, nicht ihren idealen Sinn, zum Objekt hat16). | Wir unterlassen es, hier auch noch die „Konventionalregel“, auf deren Begriffsbestimmung durch Stammler wir bald zu sprechen zu | kommen haben,62 zu analysieren und in ähnlicher Art zu den

A 149 A 150

16)  Die gedanklichen Operationen der „Rechtsgeschichte“ sind im übrigen zuweilen, A 148 wie nur beiläufig bemerkt sein mag, logisch keineswegs so einfach zu klassifizieren, wie es zunächst scheint. Was heißt es z. B., empirisch betrachtet, daß ein bestimmtes Rechtsinstitut in einer bestimmten Vergangenheit „galt“, da doch die Tatsache, daß das Prinzip sich mit Symbolen aus Druckerschwärze in einem als „Gesetzbuch“ überlieferten Faszikel aufgedruckt findet, zwar ein höchst wichtiges, aber nicht notwendig das allein entscheidende Symptom dafür ist, oft aber auch diese Erkenntnisquelle gänzlich fehlt, die überdies ja immer der „Interpretation“ und „Anwendung“ auf den konkreten Fall bedarf, deren Art wiederum problematisch sein kann? Es ließe sich der logische „Sinn“ jenes „Ge|goltenhabens“ im Sinn der Rechtsgeschichte wohl in dem hypothetischen A 149 Satze ausdrücken, daß, wenn damals ein „Jurist“ um die Entscheidung eines Interessenkonflikts nach Rechtsregeln bestimmter Art angegangen worden wäre, nach den uns, gleichviel aus welchen Quellen, als faktisch vorherrschend bekannten, juristischen Denkgewohnheiten eine Entscheidung bestimmten Inhaltes mit erheblicher Wahr­ scheinlichkeit zu erwarten gewesen wäre. Aber wir werden nur allzu leicht geneigt sein, die Frage zu stellen, nicht, wie „hätte“ der Richter wahrscheinlich faktisch entschieden? sondern: wie „hätte“ er gegebenenfalls entscheiden sollen? also eine dogmatische Konstruktion in die empirische Betrachtung hineinzutragen. Dies um so mehr, als 1) wir tatsächlich eine solche Konstruktion als „heuristisches Mittel“ gar nicht entbehren können: wir verfahren ja ganz regelmäßig unwillkürlich so, daß wir zuerst die historischen „Rechtsquellen“ unsrerseits dogmatisch interpretieren und alsdann erforderlichen- und möglichenfalls das historisch-empirische Gegoltenhaben dieser unsrer Interpretation an den „Tatsachen“ (überlieferten Urteilen etc.) „erproben“. Und 2) müssen wir, um überhaupt zu einer Feststellung des „Gegoltenhabens“ zu gelangen, sehr häufig, ja regelmäßig[,] unsre Interpretation als ein Darstellungsmittel benützen, indem sonst eine in sich zusammenhängende Wiedergabe historischen Rechtes gar nicht in verständlicher Form möglich wäre, weil ein fester eindeutiger und widerspruchsloser juristischer Begriff empirisch gar nicht entwickelt oder nicht allgemein akzeptiert war (man denke an die „Gewere“63 in gewissen mittelalterlichen Quellen). Wir werden in diesem letztgenannten Fall natürlich sorgsam zu konstatieren suchen, inwieweit die eine oder die mehreren von uns als möglich entwickelten „Theorien“ dem empirischen „Rechtsbewußtsein“ der Zeitgenossen entsprechen, – die eigene „Theorie“ dient uns nur als provisorisches Schema der Ordnung. Aber das „Rechtsbewußtsein“ der Zeitgenossen ist eben ganz und gar nicht notwendig etwas eindeutig, noch weniger etwas in sich widerspruchlos Gegebenes. In jedem Fall verwenden wir unsre dogmatische Konstruktion als „Idealtypus“ in dem von mir in diesem Archiv Band XIX, Heft 1 entwik-

62  Nicht belegt. 63 Vgl. [Art.] Gewere, in: Neues Konversations-Lexikon für alle Stände, Band 7. – Hildburghausen: Verlag des Bibliographischen Instituts 1858, S.  625: „Gewere (Gewehre, Gewäre, Gewähre, Were, warandia), in der ältern deutschen Rechtssprache der Schutz, welchen der Richter Jemandem in Beziehung auf Sachen gewährte, oder das von dem Richter geschützte Verhältniß einer Person zu einer Sache.” Vgl. auch Heusler, Andreas, Die Gewere. – Weimar: Hermann Böhlau 1872.

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faktischen „Regelmäßigkeiten“ in Beziehung zu setzen. „Regel“ im Sinn eines Imperativs und empirische „Geregeltheit“ sind hier ebenso himmelweit logisch verschiedene Dinge wie bei der „Rechtsregel“. Und für eine Betrachtung, welche empirische Regelmäßigkeiten zum Objekt hat, ist die „Konventionalregel“ ganz im gleichen Sinn eine der kausalen Determinanten, die sie in ihrem Objekt vorfindet, wie die „Rechtsregel“ und gleich wenig „Form“64 des Seins oder „Formalprinzip“65 des Erkennens wie diese. – Der Leser wird ohnedies unsrer umständlichen Darlegungen von absoluten Selbstverständlichkeiten – zumal ihre Formulierung vorstehend noch höchst grobschlächtig und wenig präzis, weil, wie gesagt, nur provisorisch ist, – längst satt sein. Aber er wird sich überzeugen müssen, daß die Sophismen des Stammlerschen Buchs eben leider zu diesen Distinktionen nötigen, weil alle paradoxen „Effekte“, die er erstrebt und erzielt, u. a. auch auf der steten Ineinandermischung von „regelmäßig“, „geregelt“, „rechtlich geregelt“, „Regel“, „Maxime“, „Norm“, „Rechtsregel“, – „Rechtsregel“ als Objekt begrifflich-juristischer Analyse, „Rechtsregel“ als empirische Erscheinung, d. h. kausale Komponente menschlichen Handelns, beruhen. „Sein“ und „Sollen“, „Begriff“ und „Begriffenes“ wirbeln dabei stets – wie wir es ja von ihm schon kennen – durcheinander, von der, wie sich zeigen wird,66 stets wiederholten Vermischung der verschiedenen Bedeutungen, in denenj die „Regel“ kelten Sinn.67 Ein solches Gedankengebilde ist nie Endpunkt der empirischen Erkenntnis, sondern stets entweder heuristisches oder Darstellungs-Mittel (oder beides). Ähnlich funktioniert nun, nach dem oben Entwickelten, eine rechtshistorisch, also für einen räumlich-zeitlichen Geschichtsausschnitt, als empirisch „geltend“ festgestellte „Rechtsregel“ ihrerseits wieder als „Idealtypus“ des faktischen Verhaltens der von ihr potentiell erfaßten Menschen: wir gehen von der Wahrscheinlichkeit aus, daß das fakti­ sche Verhalten der betreffenden Zeitgenossen ihr sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade angepaßt habe und „erproben“ erforderlichen- und möglichenfalls die Hypothese des Bestehens der entsprechenden „Rechtlichkeitsmaxime“ bei den Zeitgenossen an den „Tatsachen“. Eben daher rührt ja das so häufige Einstehen der „Rechtsregel“ für die empirische „Regelmäßigkeit“ und der juristischen Termini für ökonomische Tatbestände. | j A: dem   64  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  112 ff. 65  Vgl. ebd., S.  69. 66  Vgl. Weber, Nachtrag zu Stammler, unten, S.  592 ff. 67  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  203 ff.; 1904 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienen.

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„Voraussetzung“ ist, ganz zu schweigen. Stammler selbst freilich würde, bei etwaiger Lektüre dieser Zeilen, wahrscheinlich geneigt sein, mit Emphase darauf hinzuweisen, daß all das oder doch fast all das, was hier weitläufig auseinandergesetzt ist, sich an den verschiedensten Stellen seines Buchs als richtig zugestanden, manches ausdrücklich betont finde. Wiederholt habe er insbesondere sehr nachdrücklich gesagt, daß man selbstverständlich die „Rechtsordnung“ ebenso gut zum Gegenstand einer rein kausalen wie einer „teleologischen“ Fragestellung machen könne. Gewiß! – wir werden das selbst zu konstatieren haben. Aber, ganz abgesehen von den Halbheiten, die dabei, wie sich zeigen wird, mit unterlaufen, wird sich vor allem auch hier wieder ergeben: daß er selbst diese einfachen Wahrheiten mit ihren ebenso einfachen Konsequenzen an andren, und zwar grade an den entscheidenden Stellen seines Buchs vollkommen vergessen hat. Diese Vergeßlichkeit kam freilich dem „Effekt“ seines Buches sehr zustatten. Würde er nämlich z. B. von Anfang an klipp und klar gesagt haben, daß es ihm allein auf das Seinsollende ankomme, daß er ein „formales“ Prinzip aufzeigen wolle, welches dem Gesetzgeber auf die Frage de lege ferenda,68 dem Richter in den Fällen, wo an sein billiges „Ermessen“ appelliert ist, einen Wegweiser in die Hand geben solle, – dann hätte ein solcher Versuch, wie man auch über den Wert der gegebenen Lösung denken | möge, sicherlich ein gewisses Interesse erregt. Aber für die empirische „Sozialwissenschaft“ wäre er dann alsbald als absolut irrelevant kenntlich gewesen[,] und Stammler hätte, vor allen Dingen, jene breiten und dabei doch unpräzisen Auseinandersetzungen über das Wesen des „sozialen Lebens“ gar nicht zu schreiben Anlaß gehabt, deren Kritik wir uns nunmehr zuwenden, um dabei zugleich den bisher nur ganz provisorisch umrissenen Gegensatz empirischer und dogmatischer Betrachtungsweise weiter zu analysieren.k |

k  In A folgt: (Ein weiterer Artikel folgt.)69   68  Lat. (Rechtssprache): nach dem zu erlassenden Gesetz. 69  Ein weiterer Artikel Webers zu Stammler ist nicht im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienen. Ein „Nachtrag“ wurde postum von Marianne Weber veröffentlicht; vgl. Weber, Nachtrag zu Stammler, unten, S.  572–617.

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Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammler’s „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung

Editorischer Bericht I.  Zur Entstehung Max Webers Beitrag mit dem Titel „R. Stammlers ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ wurde Anfang 1907 in Heft 1 des 24.  Bandes des „Archiv[s] für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ publiziert.1 Er endet mit dem Hinweis: „(Ein weiterer Artikel folgt.)“2 Dieser weitere Artikel ist zu Webers Lebzeiten nicht mehr erschienen. Es fand sich aber im Nachlaß ein Manuskript, das im Zusammenhang damit entstanden sein dürfte3 und das von Marianne Weber in den „Gesammelte[n] Aufsätze[n] zur Wissenschaftslehre“ nach Webers Tod als „Nachtrag“ zu seiner Kritik an Stammler veröffentlicht wurde.4 1  Weber, Stammler, oben, S.  481–571. 2  Ebd., oben, S.  571. 3  Davon zeugen eine Reihe von Rückverweisen auf den veröffentlichten Aufsatz, vgl. dazu unten, S.  580 mit Anm.  14 („Diplomatie der Unklarheit“); S.  591 mit Anm.  61 („‚äußere‘ Normen“); S.  591 mit Anm.  62 („Spielregeln“); S.  592 mit Anm.  64 („‚Der Gegenstand der Sozialwissenschaft‘“); S.  593 mit Anm.  68 („Regel“); S.  597 mit Anm.  74 (nochmals: „Diplomatie der Unklarheit“); S.  598 mit Anm.  79 („‚Triebfeder‘“/„‚die Regel‘“); S.  599, Fn.  9 mit Anm.  84 (direkter Verweis mit Seitenblockade); S.  605 mit Anm.  6 („Satzungen“); S.  614 f. mit Anm.  31 („In den früheren Abschnitten“ und „Natur“Begriffe). Umgekehrt fanden sich im Stammler-Aufsatz Vorausverweise auf die Fortsetzung, vgl. dazu den Editorischen Bericht zu Weber, Stammler, oben, S.   485 mit Anm.  34. 4  Vgl. Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 556–579. – Während der Drucklegung zu diesem Band teilte Marianne Weber dem Verleger Werner Siebeck am 30. Juni 1922 mit: „Ich finde im Schreibtisch meines Mannes noch die einliegenden Blätter, eine Fortführung des methodologischen Aufsatzes gegen R. Stammler. Nach meiner Prüfung ist dieses Manuskript ganz gut zu setzen, besser als viele Teile von ‚Wirtschaft und Gesellschaft‘. Leider habe ich nicht rechtzeitig daran gedacht[,] die Sache zu prüfen – ich hatte sie ganz vergessen – so daß sie nun nicht mehr als unvollendete Fortführung des betr. Aufsatzes, wohl aber m. E.s am Schluß sämmtlicher Aufsätze als ‚Anhang‘ gedruckt werden kann. Das Manuskript enthält zweifellos noch wertvolle Gedanken, die man nicht verloren gehen lassen sollte.“ Vgl. Brief von Marianne Weber an Werner Siebeck vom 30. Juni 1922, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), A 0703, 29. Dankend antwortete Oskar Siebeck am folgenden Tag: „Es ist mir eine grosse Freude, dass der Sammelband durch diesen

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Der Briefwechsel Webers aus dem Jahr 1907 unterstützt diese Vermutung, daß es sich hier tatsächlich um einen Teil der im Stammler-Aufsatz angekündigten Fortsetzung handelt. Denn am 5. März 1907 teilte Oskar Siebeck Weber mit: „Herr Dr. Jaffé, der uns gestern besuchte, sagte mir, Sie hätten die Fortsetzung Ihrer Kritik des Stammler’schen Buches so gut wie fertig. Wie Sie wissen, kann sie ja leider erst im Juliheft des Archivs kommen. Im Einverständnis mit Herrn Dr. Jaffé möchte ich Sie aber doch schon jetzt bitten, uns Ihr Manuskript möglichst bald zu schicken, damit die Druckerei bei Zeiten darüber verfügen kann. Sie kann dann eher wieder einen guten Setzer hineinstellen.“5 Weber antwortete am 7. März 1907: „Es ist leider ein Irrtum, daß mein Mscr. (Stammler-Rezension) ‚so gut wie fertig‘ sei. Da ich sah, daß kein Platz sein würde, habe ich ganz andre Dinge getrieben. Es wird nicht vor Ende April möglich sein, das Mscr. zu liefern.“6 Am 9. März 1907 schrieb Oskar Siebeck an Weber: „Wenn das Manuskript für die Fortsetzung Ihrer Stammler-Recension bis Ende April in unseren Händen ist, haben wir immer noch reichlich Zeit, um es in Ruhe setzen zu lassen.“7 Doch Weber lieferte nicht. Daß er seine Kritik an Stammler gleichwohl fortsetzen wollte, geht aus zwei späteren Briefen hervor. Am 30. Oktober 1908 schrieb er Hermann Kantorowicz zu dessen Aufsatz über die Lehre vom richtigen Recht,8 „daß ich in der vorliegenden Frage durchaus Ihrer Ansicht bin und mich sehr freue, bei der Fortsetzung meiner Analyse von Stammler (an der ich durch Krankheit, dann durch andre Arbeiten gehindert wurde) nun der Aufgabe, den Unfug des ‚richtigen Rechts‘ auch noch totzuschlagen, durch die gründliche Arbeit eines Berufeneren enthoben bin“.9 Am 11. Mai 1909 teilte er Heinrich Herkner mit, daß er den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie auch darum nicht übernehmen könne, weil dieses Amt ihn zu „Rücksichten“ zwingen würde, die er zu nehmen „nicht bereit“ wäre: „Ich beabsichtige mich immer ausschließlicher der wissenschaftlichen Kritik zuzuwenden. Dabei muß ich wertvollen Fund, den Sie im Schreibtisch Ihres Mannes gemacht haben, eine derartige Bereicherung erfährt.“ Vgl. Karte von Oskar Siebeck an Marianne Weber vom 1. Juli 1922, ebd. Wenige Tage später meldete sich Werner Siebeck mit der Mitteilung: „[…] wie ich an Hand der Korrektur des Aufsatzes über Stammler nachgeprüft habe, ist der Nachtrag, den Sie mir zu diesem Aufsatz am vergangenen Samstag übersandten, in dem Aufsatz noch nicht enthalten.“ Vgl. Brief von Werner Siebeck an Marianne Weber vom 4. Juli 1922, ebd. 5  Brief von Oskar Siebeck an Max Weber vom 5. März 1907, ebd., K. 232. 6  Karte von Max Weber an Oskar Siebeck vom 7. März 1907, MWG II/5, S.  269. 7  Brief von Oskar Siebeck an Max Weber vom 9. März 1907, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 232. 8  Kantorowicz, Hermann, Die Lehre vom Richtigen Recht, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Band 2, 1908, S.  42–74. 9 Brief von Max Weber an Hermann Kantorowicz vom 30. Okt. 1908, MWG II/5, S.  690 f., hier S.  690.

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Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammler’s „Überwindung“

Leute wie Stammler, Ostwald, Lamprecht, Vierkandt, auch Simmel, mit der größten sachlichen Rücksichtslosigkeit angreifen, mit einer solchen, die – möge ich auch (was ich bei Stammler aus guten Gründen nicht that) die denkbar höflichste Form wählen, – hie und da Verstimmungen erzeugen kann, jedenfalls aber mich in jedem Fall als (methodisch-wissenschaftlichen!) Par­ teimann stempelt, der ich auch sein will.“10 Weber setzte sich auch weiterhin mit Stammler auseinander, was in seine Auffassung von Soziologie und in seine Rechtsoziologie einfloß.11 Hinweise auf die geplante Fortschreibung seiner Rezension finden sich allerdings keine mehr. 1914 erschien die dritte Auflage von Stammlers „Wirtschaft und Recht“,12 in der dieser in den Anmerkungen auch auf Webers „Rezension“ der zweiten Auflage zu sprechen kam.13 Nach kurzer Vorstellung und Entgegnung stellte Stammler fest: „Die besprochene Rezension bricht nach dem ersten Artikel ab. Sie ist unvollendet geblieben.“14 Als Weber am 8. November 1919 Paul Siebeck fragte, ob er „eine Sammlung der methodologisch-logischen Aufsätze für richtig“ halte, führte er auch seine „Auseinandersetzung“ mit „Stammler“ auf. Von einer Fortsetzung sprach er dabei nicht.15

10  Brief von Max Weber an Heinrich Herkner vom 11. Mai 1909, MWG II/6, S.  121– 123, hier S.  121 f. 11  Vgl. Gephart, Werner, Einleitung, in: MWG I/22-3, S.  1–133, hier S.  9 ff. 12  Stammler, Rudolf, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung. 3., verbesserte Auflage. – Leipzig: Veit & Comp. 1914 (hinfort: Stammler, Wirtschaft3). Die 4. Auflage erschien 1921, die 5. Auflage 1924. 13  Ebd., S.  670: „Der Leser dieser Rezension wird finden, daß sie kein Muster einer klaren Widerlegung ist.“ Tatsächlich hatten auch andere Probleme mit der Lektüre. Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S.  369: „Rickert findet den Aufsatz sehr schwer und sagt, es sei ein Jammer, daß Du Deine ganze Philosophie im Archiv ablagertest und es dem Leser so schwer machst, etwas davon zu haben. Siehst Du, alle sagen dasselbe.“ Wie ein Brief an Paul Natorp, dem „Wirtschaft und Recht“ zugeeignet war, erhellt, nahm Stammler Weber offenbar nicht ernst: „Die 3.  Aufl. […] wirst Du nun erhalten haben. Ich denke, Du wirst auch die Anmerkungen mit dem Behagen lesen, mit dem sie geschrieben worden sind und den zwischen den Zeilen steckenden Humor gerne begrüßen. Max Weber erweist sich bei näherem Zusehen als unfertiger Empirist durchschnittlichster Art, der von der kritischen Methode keine Ahnung hat“. Vgl. Brief von Rudolf Stammler an Paul Natorp vom 25. Mai 1914, UB Marburg, HS 831: 403. 14  Stammler, Wirtschaft3 (wie oben, S.  574, Anm.  12), S.  673. 15  Brief von Max Weber an Paul Siebeck vom 8. Nov. 1919, MWG II/10, S.  833 f., hier S.  833. Vgl. bereits Brief von Max Weber an Paul Siebeck vom 24. Mai 1917, MWG II/9, S.  648 f.

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II.  Zur Überlieferung und Edition Dem Abdruck liegt das Originalmanuskript Max Webers zugrunde, das sich im Deponat Max Weber, Bestand BSB München, Ana 446 (vormals Privatbesitz Wolfgang J. Mommsen, Düsseldorf),16 befindet (A). Es ist auf Blatt 1 von der Hand Marianne Webers mit der Überschrift „Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammler’s ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ versehen und diente als direkte Druckvorlage für den postumen Abdruck17 in: Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, [hg. von Marianne Weber]. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S.  556–579. Dort merkt die Herausgeberin auf S.  556 an: „Diese Fortsetzung des Aufsatzes fand sich im Nachlaß des Verfassers.“ Das Originalmanuskript umfaßt 23 Blätter, die von der Hand Marianne Webers ab Blatt 2 durchnummeriert sind. Die Blätter sind in einen Doppelbogen eingelegt, der nur auf der Vorderseite beschrieben ist. Unterhalb einer gestrichenen Textpassage Max Webers findet sich dort der Zusatz von der Hand Marianne Webers (mit blauem Stift): „Nachtrag zu Stammler / Ob schon gedruckt ist zu prüfen“. Die Manuskriptblätter sind von Max Weber vorderseitig mit schwarzer Tinte beschrieben, die Blätter 2 und 3 tragen auf der Rückseite gestrichene Textpassagen.18 Blatt 5 und Blatt 6 sind durch angeklebte Allongen erweitert. Der Text enthält viele Streichungen, Einfügungen und Ergänzungen, zumeist am linken Blattrand. Im Manuskript finden sich auch Zusätze von dritter Hand, wie „Fahnen!“ (auf Bl. 1), „Fahnen-Korr.?“ und „An den Schluss von 10 / In Fahnen liefern“ (auf der Vorderseite des Doppelbogens), oder auch einige Markierungen und Fragezeichen an schwer lesbaren Stellen, die belegen, daß das Originalmanuskript als direkte Satzvorlage für

16  Wolfgang J. Mommsen teilte in einem Schreiben an Horst Baier vom 4. Juli 1979 (Kopie Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) mit, daß er die „Manuskriptteile des Stammler-Aufsatzes“ – neben Korrekturfahnen zu „Wirtschaft und Gesellschaft“, der „Protestantischen Ethik“ sowie der „Vorbemerkung“ zu GARS I und „Teilen des Konfuzianismus“ – „vermutlich im Winter 1957“ bei einem Besuch bei Alfred Weber und Else Jaffé in Heidelberg erhalten habe. „Bei dieser Gelegenheit händigte mir Else Jaffé beim Weggehen in der Diele, gleichsam als Ersatz dafür, daß ‚hardware‘ für meine damaligen Fragen nicht zu haben war, einige Weber-Überreste aus“. – Die Witwe von Wolfgang J. Mommsen hat die Originale Ende 2015 dem Akademie-Deponat in der Bayerischen Staatsbibliothek übergeben. 17  Vgl. Brief von Werner Siebeck an Marianne Weber vom 4. Juli 1922, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), A 0703, 29: „Ich gebe das Manuskript sofort in Satz und lasse Ihnen davon Fahnenkorrektur zugehen.“ 18  Vgl. den Abdruck der gestrichenen Passagen im Anhang zum Editionstext, unten, S.  618 f.

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Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammler’s „Überwindung“

den postumen Druck diente.19 Die Veröffentlichung in den „Gesammelten Aufsätzen zur Wissenschaftslehre“ wird nicht berücksichtigt. Zur Orientierung werden aber die Seitenangaben des Erstdrucks unter der Sigle WL am Rand mitgeführt. Der Text Max Webers wird nach dem Manuskript wiedergegeben. Zeitgenössische, divergierende (z. B. „Causalität“ / „Kausalität“) und Weber-typische Schreibweisen (z. B. „allmählig“) bleiben erhalten. Die Blattzählung von Marianne Weber ist übernommen und als A (1), A 2 etc. sigliert, wobei in zwei Fällen die Vorderseiten als A 2r, A 3r in Abgrenzung zu den Rückseiten (A 2v, A 3v) ausgewiesen sind. Einfügungen Max Webers in den laufenden Text sind nicht ausgewiesen, jedoch werden Einschübe vom Blattrand textkritisch indiziert und Streichungen im textkritischen Apparat nachgewiesen. Die Fußnoten Max Webers, im Original mit Asterisken versehen, sind vom Editor mit arabischen Ziffern fortlaufend nummeriert. Von Weber nicht ausgefüllte Blockaden (Seitenverweise) werden als solche belassen und erläutert.20 Webers explizite Verweise (mit Seitenangabe) auf Stellen in Stammlers Buch werden vollständig dokumentiert.21 Im Fall von Zeilenangaben Max Webers werden die entsprechenden Buchzitate mit * (für Zeilenanfang und -ende) kenntlich gemacht. Weiterhin wird das von Weber intensiv bearbeitete Handexemplar22 herangezogen und auf Webers An- und Unterstreichungen sowie Randkommentare verwiesen.

19  Vgl. dazu die Mitteilungen in der Verlagskorrespondenz oben, S.  572, Anm.  4. 20  Vgl. unten, S.  599, Fn.  9 mit Anm.  84; S.  615 mit Anm.  31 und 32. 21  Es handelt sich um folgende Seiten: Stammler, Wirtschaft2, S.  52, 77, 83–94, 96– 102, 105–108, 321–322, 337, 339–347, 350–352, 355, 358, 368, 371–372, 374–375, 378–379, 641. 22 Das Handexemplar zu Stammler, Wirtschaft2, befindet sich in der Max WeberArbeitsstelle, BAdW München.

Manuskript Max Webers zum Stammler-Nachtrag Deponat Max Weber, Bayerische Staatsbibliothek München, Ana 446, Bl. 1

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Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammler’s „Überwindung[“] der materialistischen Geschichtsauffassunga

S.  3721 heißt es: „Sobald … die Verursachung menschlicher Handlungen zur Erwägung steht, so sind wir wieder in naturwissenschaft­ licher Betrachtung begriffen“, und im Anschluß daran (von Stamm­ ler gesperrt!): b„‚Ursachen‘ des Handelns giebt es nur in physiologischer Art“b.2 Und weiterhin wird dies näher dahin präzisiert, daß die „kausal bestimmenden Gründe des Handelns“ – „im Nervensystem liegen“. Diese Behauptung würde heute wohl kaum von irgend einer der verschiedenen Theorien über die Beziehungenc somatischer zu psychischen Vorgängen akzeptiert werden.3 Sie ist, entweder identisch mit „Materialismus“ im striktend Sinn des Wortes, – dies dann, wenn sie behauptet, daße dasf „Handeln“ aus physischen Hergängen ableitbarg sein müsse, um überhaupt causal erklärbar zu sein, hdaß eine solche Ableitung aber auch thatsächlich im Prinzip überall als möglich vorausgesetzt werdeni dürfeh – oder aber sie will dem Indeterminismus4 eine Hintertür lassen, indem sie das nicht „materiell“, d. h. aus physischen Hergängen, Ableitbare als überhaupt nichtk der causalen Betrachtung unterliegend hinstellt. lEine im Erfolg gleichartigel Zweideutigkeit findet sich aufm S.  339 (unten)[,] 340 (oben). Eignes Handeln, meint Stamma–a  Zusatz von der Hand Marianne Webers; in A folgt am linken Blattrand der Zusatz von dritter Hand: Fahnen!  b–b  An- und Ausführungszeichen fehlen in A.   c  〈von 〈psychi〉 bei〉  d  gröbsten > strikten  e  〈alle〉  f  〈Handels Handeln〉  g  〈sei und〉  h–h  Einfügung vom linken Blattrand.   i  〈müsse und〉  k  〈causal unter〉   l–l  Ganz dieselbe > Eine im Prinzip > Eine im Erfolg gleichartige  m  〈S.  339/40 in etwas anderer Richtung〉    1  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  372. 2 Ebd. Im Handexemplar Webers ist der Satz mit doppeltem Randstrich und dem Kommentar „‚Natur‘-Begriff“ versehen; vgl. auch das Exzerpt, unten, S.  618. 3  Weber könnte sich beziehen auf: Exner, Sigmund, Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen, 1. Theil. – Leipzig und Wien: F. Deuticke 1894 (Handexemplar, Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München), und Kries, Johannes von, Über die materiellen Grundlagen der Bewusstseins-Erscheinungen. – Tübingen und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1901 (Handexemplar, UB Heidelberg, M 1833_RES). 4  Vgl. unten, S.  585 mit Anm.  32.

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ler dort, könne man sich auf zweierlei verschiedene Art vorstellen: „entweder als causal bewirktes Geschehnis in der äußeren (NB!) Natur oder als von mir zu bewirkendes.5 Im ersteren Fall habe ich“ (? soll heißen: erstrebe ich) „eine nsichere naturwissenschaftlichen Erkenntnis bestimmter kommender Handlungen als äußerer (NB!) Vorgänge.o In der zweiten Möglichkeit fehlt die Wissenschaft (wessen?)p von der kausalen Notwendigkeit gerade dieser Handlung; die|selbe ist (NB!) in der Erfahrung möglich, aber an und für sich (?) nicht notwendig …“[.]6 Man sieht hier sofort, welcheq Unklarheit durch die ganz unmotivierte rEinschränkung des Begriffesr „Handlungen“ als lediglich „äußerer“ Vorgänge in die erste Hälfte der Alternative hervorgebracht wird. Die causale Betrachtung | beansprucht für sich auch die „innere“ Seite des Hergangs, auch die Vorstellung der Handlung als einer „zu bewirkenden“, die Abwägung der „Mittel“, endlich die Abwägungs ihres „Zweckes“: alle diese Vorgänge, und nicht nur die „äußeren“ Hergänge,t behandelt sie als strikt determiniert. Stammleru scheint das im folgenden Absatz (S.  340 Abs.  2)a selbstb so zu verstehen, indem erc von der Betrachtung „menschlichen Handelns als Naturereignis“d 7 und weiterhin (Abs.  3) davon spricht, daß der „Hungernde und Dürstende … Speise begehrt und Nahrungsmittele … kausal getrieben, zu sich nimmt“.8 fDenn dasf „Begehren“ ist jag etwas offenbar n–n  sicheres naturwissenschaftliches > sichere naturwissenschaftliche  o  〈“… Im zweiten Fall stelle ich mir dagegen „meine künftige Handlung als meine vor, die ohne mein Zutun nicht schon zufolge lediglicher Naturcausalität eintreten würde.“ Hier wäre so weit Alles in Ordnung, wenn nicht zwischen diesen beiden〉    p  〈oder das〉 〈des Handelnden (NB!)〉    q  daß die > welche  r–r  die durch das „in die Bezeichnung von > Einschränkung des Begriffes  s  〈der〉    t  〈betrachtet sie〉    u  〈selbst〉   a  〈zuzugeben, in〉   b  〈zu〉   c  〈davon spricht, daß〉   d  〈spricht,〉   e  〈,〉   f–f  Das sind doch offenbar „psychische“ > Denn das  g  〈nun〉 〈doch wohl〉    5  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  339. Im Handexemplar ist „kausal bewirktes Geschehnis“ einfach und „äußeren“ doppelt unterstrichen, mit einem doppelten Randstrich und dem Kommentar „Erschleichung! doch ganz unverständlich!“ versehen. 6  Vgl. ebd., S.  339 f. Im Handexemplar ist am Satzanfang „Falle habe ich“ unterstrichen und mit der Notiz versehen: „von meinen ‚Handlungen‘?“. Danach (S.  340 oben) notiert Weber am Rand: „cf hiermit S.  351“, und unterstreicht am Satzende „an und für sich“ und fügt dazu den Kommentar an: „was heißt das?“. 7  Vgl. ebd., S.  340: „menschliches Tun als Naturereignis“. Im Handexemplar unterstrichen und mit dem Randkommentar versehen: „also! Natur incl. menschl. Thuns.“. 8  Vgl. ebd. Im Handexemplar ist „kausal getrieben“ unterstrichen und mit dem Randkommentar versehen: „nicht nur in solche Vorgänge, sondern auch einfach in ‚Schmerz‘ u. ‚Trauer‘“.

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„Psychisches“,h also nichtsi „Äußeres“ und direkt „Wahrnehmbares“, sondern etwas aus „äußeren“ Wahrnehmungen erst zu „Erschließendes“.k Und die Beschaffung und Aufnahme der Nahrung istl – nach Stammlers eigner Terminologie –m in jedem Falle eine „Handlung“,n welche ihrerseits in sehr verschiedenem Grade auf Abwägung von „Mittel und Zweck“ beruhen okann. Vomo unreflektiertesten „Zugreifen“ bis zur raffiniertesten Zusammenstellung eines Menü’s aus einerp Speisekarte bei Véfourq 9 findet ein durch keinerlei scharfer Grenzscheide unterbrochener Übergang statts, selbstredend aber sind alle denkbaren Nüancen, vom völlig „triebmäßigen“ bis zum völlig „durchreflektierten“ Handeln, in genau dem gleichen Sinne Objekt causaler, mit der Voraussetzung restloser Determiniertheit arbeitender, Betrachtung. tStammler selbst weist S.   342/3 gegen Ihering dessen Unterscheidung „mechanischer“ und „psychologischer“,u d. h. durch Zweck­ vorstellungen bestimmter, Causalität zurück,10 da es keine ein­ deutige sachliche Grenze zwischen beiden gebe. Aber warum unterscheidet er selbsta dannt b | inc seinen eigenen Exemplifi-

h  〈und mit dem bloßen und〉    i  〈etwas〉    k  〈Stammler aber〉    l  〈eine „Zweckhandlung“〉    m  Gedankenstrich fehlt in A; sinngemäß ergänzt.   n  〈die mit auf einem sehr verschiedenem Maß rationaler Erwägung verknüpft sein〉    o–o  kann von „instinktmäßiger“, dergestalt zwar, daß vom rein ganz > kann. Vom  p  der > einer  q  Véfour’s > Véfour  r  〈Grenzlinie unterbrochene〉    s  〈stattfindet. Für Stammler dagegen 〈ist〉 gehört das Diner dem „Reich der Zwecke“, 〈das ein〉 die einfache „triebmäßige“ Stillung des Hungers dem an〉 〈Stammler führt nun aus, daß〉 〈Für jede konsequente Causalbetrachtung ist selbstverständlich das „Diner“ ganz ebenso〉 〈Selbstredend aber ist für die empirische Betrachtung der sämmtlichen 〈Fälle〉 möglichen Nüancen des Vorganges die〉 〈und〉  t–t Einfügung vom linken Blattrand.  u  〈durch〉    a  〈dann S[tammler] [?]〉    b  〈Oder liegt 〈etwa das〉 zwischen dem „Diner“ 〈als einem möglichen Bestandteil des〉 in einem „Reich der Freiheit“, 〈die〉 und der Nahrungsaufnahme eines Wilden oder eines Kindes oder eines Bettlers oder eines Asketen aber im „Reich der Natur“? Stammler entzieht sich einer〉 Auf der Blattseite A (2v) folgt eine auf dem Kopf stehende, gestrichene Notiz; vgl. die Wiedergabe, unten, S.  618.   c  〈seinen〉 〈den〉    9  Erstes Großrestaurant in Paris, 1784 von Antoine Aubertot als Café de Chartres eröffnet, 1820 von Jean Véfour als Le Grand Véfour fortgeführt. 10  Die Unterscheidung von mechanischer und psychologischer Kausalität findet sich in Jhering, Rudolf von, Der Zweck im Recht, Band 1. – Leipzig: Breitkopf & Härtel 1877, S.  4 ff. Im Zusammenhang mit psychologischer Kausalität spricht Jhering auch vom „Zweckgesetz“.

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kationen nur zwei Seiten vorher geflissentlich1) zwischen „rationalem“ und „triebhaftem“ Handeln?11 Ein Lapsus ist das nicht; vielmehrd | fällt er dabeie selbst völligf in die Ihering’sche Scheidung zurück[.]g Auf S.  340 heißt es (Absatz 4), daß 1) die „Vorstellung (NB!) eines zu stillenden menschlichen Hungers“12 sich dann in der Richtung „kausaler Naturerkenntnis bewege“, wenn „der Vorgang des Einnehmens der Nahrung als kausal notwendig aus instinktivem Triebleben heraus hingestellt“ (NB!) werde, – Beispiel: „Der Säugling an der Mutterbrust“ –, daß dagegen 2) „die Zurichtung und Erledigung“ (!)h „eines feinen Gastmahles –i … als ein Ereignis vorgestellt (NB!) wird, das durchaus nicht als ein unvermeidlich notwendiges erkannt“j (NB!) werde, „sondern erst von dem Handelnden selbst zu bewirken ist“.13 Hier liegtk wieder die uns schon bekannte „Diplomatie der Unklarheit“14 klar zu Tage:l mDern Satz ad 1 erweckt die Vorstellung, daß nur dieo Vorgänge des 1) p

 Und zwar obwohl Vorländer in den „Kant-Studien“ Band I ihn auf dasq „Misverständliche“r dieser Beispiele aufmerksam gemacht hatte. Wo V[orländer] „Misverständnis“ annimmt, liegt eben in Wahrheits ein ängstliches Vermeiden der Klarheit seitenst St[ammler]’s vor.15 |

d  〈Und warum〉    e  〈so gänzlich〉    f  etwa nicht > völlig  g  〈unzweideutigen Antwort. Darauf, warum er das eine Mal an dem einen, das andre Mal an dem andren exemplifiziert. Seine Ausführungen aber fallen gänzlich in die Ihering’sche Scheidung zurück.〉    h  〈(man beachte den höflichen Ausdruck)〉    i  〈nicht unter〉    j  erkannt, > erkannt“  k  〈zunächst〉    l  〈es ist geflissentlich〉 〈Einerseits ist nicht〉   m–m (S.   581) Einschub vom linken Blattrand.    n  Einerseits ist nicht > Der   o  〈„Instinkte“ und „Triebe〉    p  〈Trotzdem〉    q  〈(nach V[orländer]’s Ansicht)〉   r A: „Misverständliche 〈derartiger Verbreitung der〉    s  〈„Diplomatie der〉    t  von > seitens   11  Für Stammler, Wirtschaft2, S.  340, kann „jede kommende Handlung“ in „zweifacher Art“ vorgestellt werden: „als ein in seiner kausalen Notwendigkeit im einzelnen genau und sicher erkanntes Naturereignis, oder als ein von dem Handelnden zu beschaffender Erfolg“. Im Handexemplar unterstreicht Weber „Natur“ und bemerkt am Rand: „äu­ ßeres?“. Die Formulierung „rational“ verwendet Stammler nicht. 12  Vgl. ebd. Im Handexemplar vermerkt Weber am Rand: „Erschleichung“. 13  Ebd., S.  340. Im Handexemplar ist „zu bewirken“ von Weber unterstrichen und mit der Randbemerkung versehen: „was heißt das?“. 14  Vgl. Weber, Stammler, oben, S.  520, Fn.  6. 15  Dagegen Vorländer, Sozialphilosophie, S.  207: „Dies alles ist von Stammler mit solcher Klarheit und Entschiedenheit ausgesprochen, dass in der That ein Missverstehen kaum möglich erscheinen sollte. Die einzige Verbesserung, die meines Erachtens noch anzubringen wäre, betrifft etwas verhältnismässig Untergeordnetes, die Exemplifizierung.“

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„Trieblebens“ causaler Analyse unterliegen, – aber direkt gesagt wird es nicht. Und ebenso ist in Satz  2, der das „Diner“ als einen Bestandteil des „Reiches der Freiheit“16 behandelt,m sorgsam vermieden zu sagen, von wessen „Vorstellung“, „Erkenntnis“ etc.a eigentlich die Rede ist: ist es der Handelnde selbst, der sie im einen Fall hat und im andren nicht, oder sind „wir“, die Erkenntnissubjekte, es,b welche mit verschiedenen Arten von Fragestellungen an cdie Gebahrung des Handelnden alsc Objekt herantreten?d Es scheint, daß bei der „Vorstellung des zu stillenden Hungers“ unter No 1 von unserer, der Erkennenden,e Vorstellung, im Fall des „feinen Gastmahls“ dagegenf vong der Vorstellung desjenigen, der es (nach St[ammler]’s Ausdruck) zu „erledigen“17 begierig ist, geredet wird, – sonst wäre ja der Schlußsatz („zu bewirken ist“)18 sinnlos:h Wir haben also wieder einmal iein Beispiel deri bei Stammler beliebten Ineinandermengung von Objekt und Subjekt der Erkenntnis, durch die er präzisen Formulierungenk aus dem Wege geht. Diese Art von Confusion zieht sich aber durch das ganze Capitell „Causalität und Telos“ hinm.19 Für Alles, was in diesem Abschnitt des Buchs an Richtigem gesagt wird,n hätten die Ausführungen auf S.  374 Absatz 4 und S.  375 Absatz 2 vollkommen genügt.20 Die Frage, ob und aus welchen „Gründen“ eine, sei es empirisch-wissenschaftliche, sei es ethische oder ästhetische Einsicht ihrem

m  (S.  580)–m Einschub vom linken Blattrand.   a  〈hier〉    b  〈die im einen Fall 〈beide〉 beide Fälle unter〉    c–c  das > die Gebahrung des Handelnden als  d  〈Es scheint, daß bei dem ersten〉    e  〈Stellung〉    f  〈diejenige〉    g  〈derjenigen〉   h  〈– aber wie kann man dann zur〉    i–i  die > ein Beispiel der  k  Stellungnahmen > Formulierungen  l  〈von〉    m  〈; in dem wir vergebens nach einer wirklich unzweideutigen〉    n  〈hätte der〉    16 Stammler, Wirtschaft2, S.   33, zitiert Friedrich Engels: „Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“. 17  Vgl. ebd., S.  340: „Zurichtung und Erledigung eines feinen Gastmahles“. 18  Vgl. ebd.; vgl. dazu auch oben, S.  580 mit Anm.  13. 19  Es handelt sich um den ersten Abschnitt „Kausalität und Telos“ des vierten Buches „Soziale Teleologie“. Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  335–385. 20 Ebd., S.  374, markiert Weber im Handexemplar den Satz: „Die Erkenntnis einer möglichen wissenschaftlichen Wahrheit ist in ihrem Geltungswerte ganz unabhängig von der Frage, wie uns diese Erkenntnis geworden ist.“; und versieht ihn mit dem Randkommentar: „dieser Satz allein würde genügen!“.

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Inhalt nacho zu billigen ist, ist von der Frage,p wie[,] d. h. aus welchen „Ursachen“[,] sie causal entstanden ist, gänzlich zu trennen. |q Alleinr wenn es sich, | wie St[ammler] selbst hier ganz richtig sagt,21 um zwei gänzlich verschiedene Fragestellungen handelt, – was soll es dann heißen, wenn S.  375 alsbald wieder gesagt wird, „die letztere“ (die Frage der „systematischen Bedeutung“, d. h. der Geltung einer Einsicht) sei „die sachlich bevorzugte und ausschlaggebende“? Für wen denn? Und weiter:s das Recht streng empirischer Untersuchung der Genesis auch aller „ideellen“ Lebensinhaltet scheint zugestandenu[,] wenn (S.  374, Absatz 2) gesagt wird, daß bei „vollständiger“ Kenntnis der empirischen Bedingungen für das Vorhandensein einer „Idee“ es „möglich“ sei,22 daß „der empiri­ sche (von St[ammler] gesperrt!) Effekt – daß dieses oder jenes geschieht oder unterbleibt – sich daraus so sicher, wie irgend ein Vorgang der Natur, aus den gegebenen Bedingungen herausrechnen lassen würde“. Aber schon die Ausdrucksweise erscheint seltsam gewunden: trotz „vollständiger“ Kenntnis erscheint die Bewegung nur „möglich“, und ferner ist statt der einfachen Feststellung, daß die empirische Existenz dera „Idee“ selbst eindeutig determiniert sei, derb Begriff „empirischer Effekt“ eingeschoben und zweideutig erläutert.c Zweideutig deshalb, weil der Ausdruck an died schon zitierte Einschränkunge auf „äußere“ (physiologische) Vorgänge erinnert,23 und weil durch eine ganze Serie von Äußerungen des gleichen Capitels und ebenso der folgenden fdas mehrfach gemachte Zugeständnisf, daßg die streng empirische Fragestellung

o  〈„richtig“〉    p  〈ob sie〉    q  In A folgt auf der Blattrückseite A (3v) eine mit rotem Stift (von dritter Hand?) gestrichene Textpassage; vgl. die Wiedergabe, unten, S.  619.   r  In A geht voraus: 〈Auch die „Idee“ des „Guten“ 〈ist〉 entsteht ebenso wie jede ein­ zelne wissenschaftliche Einsicht empirisch 〈entstanden〉.〉    s  〈wenn die〉    t  〈(auf S.  374:〉    u  〈wird (S.  374, was soll es dann heißen, daß auf derselben Seite〉    a Fehlt in A; der sinngemäß ergänzt.   b  〈der empirische Effekt〉    c  〈Umso zweideutiger, als wir auf S.  273〉    d  〈oben〉    e  〈der〉    f–f  die mehrfach gemachte Anerkennung > das mehrfach gemachte Zugeständnis  g  〈auf ideengeschichtlich〉    21  Ebd., S.  374, werden „zwei Fragen“ unterschieden: eine „systematische“ und eine „genetische“. 22  Vgl. ebd. Im Handexemplar unterstreicht Weber „möglich“ und bemerkt am Rand: „nein notwendig!“. 23  Vgl. oben, S.  578.

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für das Gebiet der „Ideen“ genau so zu Recht besteht, wie für irgend welche anderen Wirklichkeitsausschnitte, immer wiederh in ähnlicher Weise verklausuliert und gelegentlich ganz zurückge­ nommen wird.i Die Äußerungen überk Sinn und Schranken empirisch-causaler Erkenntnis menschlichen Handelnsl leiden überdiesm aber durchweg an den unerträglichsten Unklarheiten und Widersprüchen.n Von der „Naturerkenntnis“ wird S.  355, letzter Absatz, behauptet, sie führe stets „von der einen Ursache“ zurück „auf eine höhere Ursache, von der die erstere die Wirkung ist“o,24 – es werdenp m.  a.  W. die Naturgesetze als „wirkende Kräfte“ hypostasiert.q Dagegen wird 3 Seiten vorher (S.  352) ausführlich erörtert,25 daß die Causalitätr nicht eine den Dingen „an und für sich“ zukommende Verknüpfung sei, sondern nurs „ein Denkelement, ein einheitlicher Grundbegriff innerhalb unsrer Erkenntnis“. Und während es auf S.  351 unten | von der „Erfahrung“ | heißt, daß sie lediglich den Inbegriff der „nach einheitlichen Grundsätzen (zum Beispiel“ – NB! – „dem Causalitätsgesetze) geordneten Wahrnehmungen … abzugeben“ vermöge,26 aund ebenso S.  371 die Kausalitätb als ein „Beispiel“c der die empirische Erkenntnis leitenden „sicheren allgemeinen Begriffe“ (!) bezeichnet ist,d a 27 – wird S.  368 gesagt, daß es keine andre wissenschaftliche Erkenntnis „konkreter

h  〈zurücknehmen und die〉     i  〈und〉     k  〈das〉     l  〈leiden durchweg〉     m  überhau[pt] > überdies  n  〈leiden.〉    o  〈Auf S.  353 Absatz 3 führt alle causale Erkenntnis der〉    p  wird > werden  q  hypostasiert, – vorher > hypostasiert.   r  Causalverknüpfung nur > Causalität  s  〈Bedingung〉    a–a  Einfügung vom linken Blattrand oben.   b  〈ebenfalls〉    c  〈S.  350 die Causalität eines〉    d  wird. > ist,   24  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  355. Im Handexemplar unterstreicht Weber „höhere“ und „Wirkung“, versieht die Passage mit einem doppelten Randstrich, einem Fragezeichen sowie den beiden Kommentaren: „soll heißen Gesetz? oder: Regression? oder Generalisierung?“ und „Anwendungsfall e[ines] Gesetzes“. 25  Weber zitiert im Folgenden ebd., S.  350 (nicht: S.  352). 26  Ebd., S.  351. Im Handexemplar unterstreicht Weber „zum Beispiel“ (doppelt) und „Erfahrung“ (einfach) und kommentiert am Rand: „also Erfahrung außerhalb des Causalitätsgesetzes!“. 27  Ebd., S.  371, vermerkt Weber im Handexemplar am Rand: „kein Allgemeinbegriff“.

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Erscheinungen“2) gebe, als eine causale. Womit es dann wieder ganz und gar nicht stimmt, daß auf S.  378 von einer „Zweckwissen­ schaft“ und S.  379 von „wissenschaftlich zu leitendene Zwecken der Menschen“f die Rede ist. Dieg „Zweckwissenschaft“ nun wird S.  378 der „Naturwissenschaft“ entgegengesetzt,h die also ihrerseits hier offenbar mit „causaler“ Erkenntnisi identisch sein müßte. Auf S.  350 wirdk die Causalität als Grundkategorie aller „Erfahrungswissenschaft“ behandelt,28 so daß also jenel „Zweckwissenschaft“ keine Erfahrungswissenschaft sein dürfte. Wie grenzt sich denn nun die „Zweckwissenschaft“ gegen die „Erfahrungswissenschaften“ ab? mWiederum erhalten wir, anstattm der einfachen Antwort: daß es sich um eine gänzlich andere Fragestellung handle[,] undn anstatt einer Darlegung und logischen Analyse derselbeno einen Wirrwarr schiefer und fast durchweg ganz unbrauchbarer Aufstellungen. Wir haben, heißt es S.  352, den „Gedanken von vorzunehmenden Wahlen, von zu bewirkenden Handlungen … im Inhalt unsrer Vorstellungen“. Gut.p Die Existenz solcherq Vorstellungen ist einer Thatsache der alltäglichen inneren Erfahrung, die kein Mensch bezweifelt. Was folgt nun daraus? „Weshalb soll dieser Inhalt eine Wahnvorstellung sein?“ fragt Stammler.29 sNun ist – schalten wir hier gleich ein – selbstredend jener „Inhalt“t vom Standpunkt desu Determinismus aus ganz und gar keine „Wahnvorstellung“. Es steht A 5  WL 560

2) Diea grundschiefe Formulierung erweckt den Anschein, als ob bdie eigentlichste Funktionb der Causalbetrachtung nicht generalisierendc sei, und als ob Werthurteiled sich nicht auf Individuelles beziehen könnten. |

e  〈nicht〉    f  〈im〉    g  Diese > Jene > Die  h  〈welche letztere nach S.  348, die ihrerseits〉    i  〈und mithin also (nach S.   350) mit „Erfahrungswissenschaft“〉   k  〈die〉    l  die > jene  m–m  Anstatt > Wiederum erhalten wir, anstatt   n  〈der〉   o  dieser Fragestellung [?] nehmen wir hier > derselben  p  〈Das〉 〈Diese〉    q  dieser > solcher  r  〈empirische Thatsa[che] zweifellose Erfa〉    s–s  (S.  585) Einfügung vom linken Blattrand unten nebst Allonge.   t  „Gedanke“ > Inhalt doch > „Inhalt“  u  〈strengsten〉    a  In A geht voraus: 〈Diese würde〉 〈Schief ist dies schon deshalb, weil es natürlich sowohl〉    b–b  das eigentlichste Gebiet > die eigentlichste Funktion  c A: generalisierend, 〈sondern individualisierend〉    d  〈ihrem Wesen nach generalisierend seien〉    28  Ebd., S.  350, heißt es: „Außerhalb dieser Funktion, eine grundlegende Bedingung möglicher Erfahrungswissenschaft zu sein, bedeutet der Begriff der Verursachung und Dependenz und das Kausalitätsgesetz gar nichts.“ Im Handexemplar unterstreicht Weber „Erfahrungs“ und bemerkt am Rand: „aber nicht nur Natur-W[issen­ schaft]“. 29  Vgl. ebd., S.  352; dort heißt es: „Weshalb soll dieser Gedankeninhalt…?“.

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empirisch absolut fest, daße die Fähigkeit des Menschen,f sein Verhalteng zum Gegenstand bewußter Erwägung zu machen, die allererheblichste Tragweite für die Art dieses seines Verhaltens selbst hat. Daß etwa der Handelnde, um handeln zu können, der Vorstellungh bedürfe,i 30 daß sein Handeln nicht „determiniert“ sei, – davon ist natürlich gar keine Rede.k Ebensowenig | davon, daß die Behandlung seines Verhaltens als eines eindeutig determinierten Vorgangs jene Vorstellung der „Wahl“ in eine „Illusion“31 verwandle:l Zwischen den ihmm als „Möglichkeiten“ bewußt gewordenenn Zweckvorstellungen hat ja, grade „psychologisch“ betrachtet, ein „Kampf“ statt­ gefunden.o Ebensowenigp endlich davon, daßq durch deterministische Überzeugungen der getroffenen oderr künftig zu treffenden Wahl der Charakter einer „eignen“s Handlung des Wählenden als „seiner Handlung“, d. h. – im empirischen Sinn – als eines auch seiner persönlichen „Eigenart“, seinen (empirisch) „constanten Motiven“[,] causal zuzurechnenden Vorgangs[,] genommen werde. Das Gebiet der „Illusionen“ würde umgekehrt erst betreten, wenn der Handelnde „indeterministische“ Metaphysik zu treiben begännet, d. h. für sein Handeln „Freiheit“ im Sinn von völliger oder teilweiser „Ursachlosigkeit“32 in Anspruch nähme.u Eine solche Metaphysik betreibt nun aber Stammler.s 33 e  〈der Umstand〉    f  〈sich die〉    g  〈zur〉    h  Überzeugung > Vorstellung    i  〈er handle〉 〈man könne von der Kategorie der Causalität „abstrahieren“〉    k  〈Ebensowenig davon〉 〈Daß〉 〈Wenn er wüßte, wie es determiniert 〈wäre〉 sei, wenn er also sein eignes Handeln 〈mit〉 wie ein allwissender Gott vorher „berechnen“ 〈(und das〉 könnte, – dann allerdings würde er sich die Mühe des „Erwägens“ sparen können.〉   l  〈Die〉    m  〈bewußt gewordenen Motiven〉    n  〈„Zwecken“.〉    o  stattgefunden, der > stattgefunden.  p  〈dann〉    q  〈dadurch〉    r  〈zu〉    s  „eignen“, als „seiner“ > „eignen“  t  beginnen > begänne  u  〈Derartiges thut allerdings Stammler.〉 〈Was es im Sinn der ethischen〉    s (S.  584)–s Einfügung vom linken Blatt­rand unten nebst Allonge.   30  Die nachfolgende Textpassage findet sich in etwas abgewandelter Formulierung auf der Rückseite zu Blatt 3, dort gestrichen. Vgl. den Abdruck im Anhang, unten, S.  619. 31 Stammler verwendet diese Formulierung nicht in diesem Zusammenhang. Vgl. aber Stammler, Wirtschaft2, S.  345: „Trug“, „Wahnvorstellung“, „Traum“, „Sinnestäuschung“, „geistige Abnormitäten“. 32 Stammler verwendet diese Formulierung nicht. Für Windelband, Zufall, S.  6, ist „Ursachlosigkeit“ nur durch Leugnung des „Satz[es] vom Grund“ im Sinne „absolute[r] Zufälligkeit“ denkbar. 33  Für Stammler, Wirtschaft2, S.  305 f., gibt es weder eine „zweite und selbständige Kausalreihe, welche neben der gewöhnlichen und für die Naturbetrachtung maßgeb-

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Eine „Wahn­vor­stel­lung“a 34 wäreb nämlich jene Vorstellung der „Wahl“, nach seinerc aus dden vorhergehenden Ausführungend (S.  351/2) ganz zweifelsfrei hervorgehendene Ansicht, dann, wenn die „zu bewirkenden Handlungen“ trotz des Vorhandenseins jener Vorstellung der „Wahl“ als determiniert gedacht würden. Das würde, heißt es schon S.  344, dem Begriff der „Wahl“ widersprechen, der „eine zwingende Kausalität“ ausschließt,35 f– eine Behauptung,g deren Unzweideutigkeit S.  345 oben wieder dahin eingeschränkt und verundeutlicht wird: daß es „keinem Zweifel“ unterliege, daß wir „in den weitaus meisten Fällen“h den „Erfolg“ zukünftigen menschlichen Thuns als einen solchen annehmen, „der auch unter­ bleiben kann“.f 36 iDiese Auffassung Stammlersi widerspricht, nach kseiner Ansichtk (S.  352), der unbedingten Geltung des Satzes vom Grunde37 für alle Erfahrung deshalb nicht, weil 1) jene Handlungen, | ja, solange zwischen ihnen „gewählt“ wird, noch keine Erfahrungsthatsachen, sondern „Möglichkeiten“ sind, l(was doch natürlichm dann für irgend einen „Naturvorgang“, etwa den Kampf zweier Tiere, solange der Ausgang nicht feststeht, ganz ebenso geltenn müßte)l[,] – 2) weil das Problem der „rechten“ Wahl, d. h. also: des Gesollten, kein Problem der „Naturforschung“ ist (daselbst).38 Die letztere These otrifft a  〈aber〉    b  〈sie,〉 〈der〉    c  〈seiner〉 〈Stammlers〉    d–d  dem Vorhergehenden > den vorhergehenden Ausführungen  e  〈Ansicht〉    f–f  Einfügung von Allonge am rechten Blattrand.   g  〈die〉    h  〈kann〉    i–i  Dies > Diese Behauptung > Diese Auffassung Stammlers  k–k  Stammler > seiner Ansicht  l–l  Einfügung vom linken Blattrand oben.   m  〈von〉 〈zur〉    n  gesagt werden > gelten  o–o (S.  587)  ist richtig > trifft völlig zu > trifft natürlich durchaus zu   lichen bestehen könnte“, noch eine „unbedingt freie Bestimmung im Entschließen und Handeln des Menschen“, wie es die „Lehre des Indeterminismus“ behauptet: „Hier ist […] überhaupt nicht mehr von dem Kausalitätsgesetze die Rede.“ Weil es sich nämlich „um einzelne Handlungen dreht, die in ihrer Äußerung als wirken wollende Regeln auftreten, so ist es unmöglich, diese Erscheinungen von dem für alle Erscheinungen allgemein geltenden Kausalitätsgesetze auszunehmen“. 34  Vgl. dazu die von Weber bereits oben, S.  585, zitierte Stelle mit Anm.  31. 35  An der zitierten Stelle, Stammler, Wirtschaft2, S.  344, vermerkt Weber im Handexemplar „? cf Gomperz“. 36  Vgl. ebd., S.  344 f.; bei Stammler heißt es: „könnte“. Im Handexemplar unterstreicht Weber „weitaus meisten“ und bemerkt am Rand: „nur in den meisten?“. 37 Stammler verwendet diese Formulierung nicht. An dieser Stelle (ebd., S.  352) spricht er von der „Herrschaft des Kausalitätsgesetzes“. 38  Vgl. ebd., S.  352. Im Handexemplar ist „Natur“ unterstrichen und mit dem Randkommentar versehen: „empirischer Forschung“.

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natürlich durchaus zuo, – aberp es stünde äußerst übel um sie, wenn ihre Richtigkeitq davon abhinge, daß Stammlersr übrige, mit dieser „Werthfrage“ nicht | im Mindesten zusammenhängende,s Argumentation inbetreffs des Vorgangs des „Wählens“ eines Handelndent und überu die Grenzen der Causalbetrachtung correkt wäre.a bSelbstredend ist das nicht der Fall. Ich kann einenc Sonnenuntergang „schön“ und einen Regentag „häßlich“ dfinden oderd eine Ansicht als „Trugschluß“e beurteilen, obwohl ich in allen drei Fällen von der causalen Determiniertheit des Hergangs überzeugt bin. Ich kann eine „instinktive“ Nahrungsaufnahme ganz fgenau ebensof wie ein raffiniertes Dinerg auf ihre hygienische „Zweckmäßigkeit“ prüfen, und ebenso wie bei irgend einer menschlichen „Handlung“h kann ich auch bei jedem Naturvorgang die Frage stellen: wie er (in der Vergangenheit) abgelaufen sei oder (in der Zukunft) ablaufen „müßte“, „damit“i der Erfolg das Ergebnisk gewesen sein oder werdenl sollte: – jeder Arzt hat (implicite) diese Frage in jeder Stunde zu stellen. Daß dem „rational“ Handelnden mehrere verschiedene Erfolge als, je nach seinemm eignen Verhalten, „möglich“ undn vielleicht fernero auch mehrere verschiedene „Maximen“39 als zur Wahl stehende Leitmotive des letzteren vorschweben,p qund daß dannq sein Handeln so lange „gehemmt“ ist, bis dieser innere „Kampf“40 so oder so geschlichtet ist, – dies ist für die empirische Betrachtung eine zweifellos grundlegendr wichtiges Modalität des „psychischen Geschehens“. Abert daß mit der Analyseu derartiger Vorgänge, bei denen unter den causalena Determinanten des Verhaltens eines Menschen die Vorstellung eines oder mehrerer möglicher „Erfolge“ sich findet – wohlgemerkt: stets nur als eine der p  〈gegenüber dem ad 1 angeführten Grund handelt es sich ganz 〈offenbar um eine〉 Metabase〉    q  〈von der〉    r  〈Argumentation von der Nichtgeltung des Satzes vom Grunde für 〈die〉 den〉    s  〈inbetreff der〉    t  〈abhinge-〉    u  〈und〉   a  〈Richtigkeit von〉 〈Selbstverständlich hat der „Wählende“, d. h. derjenige 〈der〉 welcher zu mehr〉    b–b (S.  588) Einfügung vom linken Blattrand.   c  den > einen   d–d A: finden, oder 〈aber〉    e  〈oder als „geniale Entdeckung“〉    f–f  ebensowohl > genau ebenso  g  „Schlemmen“ > Diner  h  〈auch〉    i  wenn > „damit“   k  〈sein sollte〉    l  sein > werden  m  dem > seinem  n  〈daß ihre verschiednen〉 〈daß ihre〉  o  und eventuell > ferner  p  〈können,〉    q–q  und > und daß dann   r  höchst > grundlegend  s  〈qualitative Modifikation〉    t  〈davon,〉    u  Betrachtung > Analyse  a  〈Bestandteilen〉    39  Vgl. Weber, Stammler, oben, S.  516 f., 531, 536 ff., 543 ff., 558 f., 561 f., 565 ff., 570. 40  Vgl. Weber, Kritische Studien, oben, S.  477 mit Anm.  60.

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Determinanten – ein Verlassen des Bodens der Causalbetrachtung stattfände, davon ist natürlich keine Rede.b Der Verlauf einer „Wahl“ zwischen mehreren als „möglich“ vorgestellten „Zwecken“b ist, sobald er zum Gegenstand empirischer Betrachtung gemacht wird, selbstredend von Anfang bis zu Ende, mit Einschluß aller rationalen Erwägungen und sittlichen Vorstellungen, die in dem Wählenden auftauchen[,] ganz ebenso streng determiniert zu denken wiec irgend ein „Naturereignis“.d 41 Stammler, der dies nirgends mit dürren Worten leugnet,e redet dennoch Seiten über Seiten darum herum. Bald spricht er davon, daß es „Freiheit im Vollbringen nicht gebe“ (S.  368),42 – giebt esf also (empirisch) Freiheit „im Wollen“? Bald wird „Erfahrung“ mit dem Inbegriff des „Wahrgenommenen“ identifiziert,43 – und da seelische Vorgänge nicht „wahrnehmbar“ sind, so bleibt der Leser überg | die Frage ihrer Determiniertheit im Unklaren,h zumal S.  341 ausdrücklich „der Gedanke von etwas zu Bewirkendem“44 als nicht in das auf S.   378 mit der „Natur“ identifizierte Reich der „Wahrnehmungen“45 gehörig bezeichnet wird3). Oder es wird – wie in | der eben 3) Dabei bleibt natürlich auchi wieder das uns sattsam bekannte Halbdunkel darüber, ob jener „Gedanke“ alsj unser Gedanke oder als ein empirisches Objekt gemeintk ist. Überdies ist natürlich gar nicht einzusehen, warum ein „Trieb“ sich jenem „Reich“

b  (S.  587)–b  Einfügung vom linken Blattrand.   b  〈seitens eines konkreten Menschen〉    c  〈etwa die Bewegung der Planeten〉    d  〈Stammler leugnet dies nirgends direkt, aber seine Äußerungen: Daß es ein ganz törichtes Vorurteil ist, wenn man den〉    e  〈meint,〉 〈sucht doch〉    f  〈aber etwa〉    g  〈ihr〉    h A: Unklaren. 〈Bald〉    i  〈in〉    j  〈ein solcher des Erkenntnissubjektes〉    k  anzusehen > gemeint   41  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  340. Weber folgt Kries, Möglichkeit, S.  4 f. [180 f.]. Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 2, oben, S.  275 ff. 42  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  368. Im Handexemplar markiert Weber die Aussage mit einem Randstrich und kommentiert: „Gegensatz?“. 43  Vgl. ebd., S.  346: „Erfahrung als menschliche Wissenschaft ist abhängig und bedingt von gegebenen Erscheinungen, deren Auftreten und Wahrgenommenwerden als solches den Charakter des Zufälligen […] trägt“; mit An- und Unterstreichungen im Handexemplar. 44  Vgl. ebd., S.  341: „Der Gedanke von etwas menschlich zu Bewirkendem fügt sich in die Einheit von Wahrnehmungen gar nicht ein.“. Im Handexemplar unterstreicht Weber „Gedanke“ und „Einheit von Wahrnehmungen“, versieht sie am Rand mit einem Doppelpfeil und notiert: „Gedanke – Wahrnehmungen“. 45 Stammler verwendet diese Formulierung an dieser Stelle nicht. Er spricht ebd., S.  378, von der „Naturwissenschaft“, die es mit dem „Reiche der Wahrnehmungen“ zu tun habe.

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erörterten Stelle S.  35246 –l damit argumentiert, daß „zukünftige“, als „möglich“ vorgestelltem Erfolge ja noch keine „Erfahrungsthatsachen“ seien.47 Ja, als ob der causale Progressus nicht dem logi­ schen Sinn nach ebensoweit reichte als der Regressus,48 wird direkt behauptet, ndaßo Erfahrung nur über vergangene Thatsachen mög­ lich sei (S.  346),p daß sie deshalb prinzipiell „unabgeschlossen“ und „unvollständig“ qbleibe.49 Damitq vermischt findet sich gesagt, daß Erfahrung nicht „allwissend“ sei,r daß sie ferners „das All menschlicher Vorstellungen nicht umspanne“ (a. a. O.),t 50 – eine Metabase51 vom Objekt ins Subjekt –, daß sie nur innerhalb ihrer „Formgesetze“ (?) gelte, alsou (S.  347) nicht „ewige Wahrheiten“ einfügt, ein „Gedanke“ aber nicht. vDenn „wahrnehmbar“ ist der „Trieb“ dochw so wenig wie der „Gedanke“. Und „hineinversetzen“a kann man sich natürlich nicht nur (wie S.  340 oben52 gesagt wird) in den „Trieb“, sondern erst recht in den „Gedanken“ eines Andren. Jene Äußerung über das Sich-Hineinversetzen in „Triebe“ hindert übrigens Stammler nicht, schon auf derselben Seite (unten) wieder nur von der causalen Bedingtheit „äußerer“ Ereignisse zu reden.v | Gedankenstrich fehlt in A; sinngemäß ergänzt.  m  〈Naturthatsachen l  od〉    n–n (S.  590)  Einfügung vom linken Blattrand.   o  In A geht voraus: 〈(in Widerspruch mit dem „in den meisten Fällen“ von S.  345〉    p  〈ferner〉    q–q  bleibe, nicht > bleibe. Daneben > bleibe. Damit    r  〈das〉    s  〈eine Metabase sei. –〉   t  〈nur〉    u  〈niemals〉    v–v  Einfügung von Allonge.    w  〈nicht〉    a  „in ihn hineinversetzen“ (S.  340 oben) > „hineinversetzen“   46  Oben, S.  584 ff. 47  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  352, wo von „Erfahrungstatsachen“, aber nicht von „zukünftigen“ Erfolgen die Rede ist (vgl. dazu ebd., S.  341, 344 f., 348, 356, 359, 367, 356). 48  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  164 mit Anm.  65. 49  Stammler, Wirtschaft2, S.  346, verwendet hier nicht die Formulierung „vergangen“, sondern formuliert: „Erfahrung kann demnach niemals die Totalität alles möglichen Bewußtseinsinhaltes bedeuten, nie in der Art abgeschlossen sein, daß in ihr absolut und ausnahmslos alle denkbaren Möglichkeiten kommenden Geschehens enthalten wären“. Im Handexemplar unterstreicht Weber „kommenden“ und notiert am Rand: „ebenso wenig vergangene u. gegenwärtige“. 50  Vgl. ebd., S.  346: „Ihr Reich [das der Erfahrung] ist nicht allumfassend, noch ihr Beherrscher allwissend.“ Und: „Soweit empirische Erkenntnis wirklich ist, so kann sie doch niemals behaupten, das unbedingte All menschlicher Einsicht in absoluter Vollständigkeit zu umspannen.“ 51  Vgl. Weber, Stammler, oben, S.  546 mit Anm.  16. 52  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  340 Mitte: „Ich kann mich in das Triebleben eines Hungernden und Dürstenden hinein versetzen […]“. Im Handexemplar unterstreicht Weber „hinein“ und kommentiert am Rand: „also inneres!“, zugleich verbindet er mit einem Pfeil „hinein“ mit dem von ihm nachfolgend zitierten „äußeren Ereignisse“, was er ebenfalls kommentiert: „nur? s. o.!“.

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von „unwandelbarer Geltung“ produziere, daß sie mithin keinen „absoluten Werth“ beanspruchen könne[.]b 53 Auf S.  345 oben hieß es dagegen, wie wir sahen,54 nur, daßc uns zukünftige Handlungen „meist“ alsd nicht notwendig eintretend geltene. Und so geht dies unklare Hin- und Herreden,f welches alle möglichen Probleme anschneidet,g um sie sämmtlich in einander zu wirren, immer weiter.n Dieh Möglichkeit, eine Handlung als eine „zu bewirkende“ zu „denken“ (NB!) – man weißi wiederum nicht: ob für den Handelnden oder fürk „uns“,l denen seine Handlung Erkenntnisobjekt ist – wirdm zwarn (nach S. o357 unten, 358 obeno) neben die Möglichkeit, sie als „causal bedingt“p aufzufassen, gestellt,55 –q gleichzeitig aber wird darauf verwiesen, daß diese letztere Möglichkeit dadurch beschränkt sei, daß „es noch kein einziges sicheres Naturgesetz gebe,r wonach die kausale Notwendigkeit kommender menschlichers Taten nach Art etwa des Gesetzes der Schwere eingesehent würde“, – | und würde diesu etwa „ausgebessert“ (!), so wäre doch noch nicht „alles demnächstige Thun von Menschen“ von diesem Gesetza „erfüllt“ (!). Als ob die „Totalität“ des (außermenschlichen) Naturgeschehens selbst bei absolutester Vollstän­ digkeit „nomologischer“ Erkenntnis56 jemals aus Gesetzen dedu­ b  〈und was dergleichen schwächliches 〈und leeres, ganz heterogene Probleme〉 inde­ terministisches Gerede 〈mehr ist.〉 – anschneidendes Hin- und Herreden mehr ist. Bald (S.  345) heißt es,〉   c  〈die〉   d  〈nicht〉   e  〈, S.  346〉   f  〈immer weiter〉   g  〈und〉   n (S.  589)–n  Einfügung vom linken Blattrand.   h  In A geht voraus: 〈Es〉 〈Dabei wird das Richtige: der Gegensatz von Willensobjekt und Erkenntnisobjekt, von aktueller Stellungnahme eines.〉 〈Überall wird so die Vorstellung erweckt, als ob die Möglichkeit von der „Zweckwissenschaft“〉 〈von Lücken der Causalerkenntnis〉    i  〈nicht〉   k  〈denjenigen, für〉    l  〈die Erkennenden, der die〉    m  steht > wird  n  〈neben〉   o–o  357/8 > 357 unten, 358 oben    p  〈anzusehen〉    q  〈aber〉    r  〈wonach〉   s  〈Handlungen〉    t  〈würde,〉    u  〈geschehen,〉    a  〈erfüllt“〉    53 In Stammler, ebd., S.  347, heißt es, daß „die Erfahrungswissenschaft unter den Formgesetzen unseres Bewußtseins“ stehe. „Menschliches Einzelwissen ist an Gesetz und Grenze einer möglichen Erfahrungswissenschaft überhaupt gebunden; ein davon unabhängiger absoluter Wert, eine ewige Wahrheit und unwandelbare Geltung kann ihm nie zukommen.“ Im Handexemplar versieht Weber „Formgesetze“ und „Gesetz“ mit einer Randbemerkung: „was hat das mit einander zu thun?“, und markiert „ewige Wahrheit“ mit Rotstift und dem Hinweis: „Simmel!“. 54  Oben, S.  586. 55  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  357 f., dort ist vom „kausalen Werden als notwendig erscheinend“ die Rede. Weber bemerkt (ebd., S.  358) bei „zu bewirkende“ am Rand: „soll die zweite suppletorisch eintreten?“. 56  Vgl. Weber, Objektivität, oben, S.  186 mit Anm.  41.

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zierbar und „berechenbar“ wäre!57 Von dem Verhältnis zwischen „Gesetz“ und „Geschehen“ undb überhaupt von der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Irrationalität des Wirklichen58 hat Stammler keinerleic noch so unvollkommene Begriffe.d Obwohl sich Stammler gelegentlich erinnert, daß einee noch so große fakti­ sche Lückenhaftigkeit der „Erfahrung“ für den logischen Sachverhalt gar nichts besagt, wird doch immer wiederf damit operiert und so das „Reich der Zwecke“59 immer wieder zum Lückenbüßer degradiert, während auf der andren Seite ihm ein erkenntnistheo­ retisch heterogener Charakter vindiziert wird. – Doch lassen wir es genug sein des grausamen Spiels und stellen wir kurz fest, was Stammler hätte meinen können. – | Wir müßteng uns also nach einem anderen „Natur“-Begriff umsehen, um den Gegensatz „naturwissenschaftlicher“ und „sozialwissenschaftlicher“ Erkenntnis hini Stammlers Sinn zu erfassen.60 Machen wir, ehe wir St[ammler]’s eignen Bemühungen weiter nachgehen, an der Hand der Ausführungen des vorigen Abschnittes zunächst einmal unsrerseits denk Versuch,l uns zu verdeutlichen, welche Möglichkeiten dazu vorliegen. – Diem „äußeren“h Normen gelten, wie wir schon sahen,61 Stammler als die „Form“, die „Voraussetzung“, die „erkenntnistheoretischen Bedingung“ u. s. w. des „sozialen Lebens“ und seiner Erkenntnis.o Wir haben schon früher, pan dem Beispiel der Spielregelp,62 b  〈insbesondre〉    c  〈deutliche Begriffe.〉    d  〈So sehr sich〉    e  die > eine   f  〈versucht, das „Reich der Zwecke“ auf dieser faktischen Lücke der „Unvollendetheit“ der Erfahrung zu errichten.〉    g  müssen > müßten  h–h Einfügung vom linken Blattrand.   i  In A geht am oberen Blattrand voraus: 〈in Stammlers Sinn zu erfassen.〉    k  einen > den  l  〈wie etwa〉    m  〈(rechtlichen und conventionellen)〉    n  allgemeine > „erkenntnistheoretische  o  〈Halten wir uns hier an die neutralste 〈dieser〉 der verschiedenen〉    p–p  bei Betrachtung der „Skatregel“ > an dem Beispiel der Spielregel   57  Vgl. ebd., oben, S.  177 mit Anm.  10. 58  Vgl. Rickert, Grenzen, S.  260, 321, 507 f., 511, 527, 651, hier S.  653: „Natürlich darf das Wort irrational nicht soviel wie antirational bedeuten sondern nur die Indifferenz des Seienden gegenüber dem Begriff zum Ausdruck bringen.“ Stammler verwendet die Formulierung „irrational“ nicht. 59  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  378. 60  Zu Webers Differenzierung des Naturbegriffs vgl. Weber, Stammler, oben, S.  527 ff., 542, 546. 61  Weber, Stammler, oben, S.  500. 62  Ebd., oben, S.  547 ff.

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die verschiednen Möglichkeiten, in diesenq in stets wechselnder Form sich wiederholendenr Aufstellungen einen vernünftigen Sinn zu finden, erörtert und ziehen nun einige Consequenzen.s Wir lassen dabei zunächst einmal die Möglichkeit, daß die „Erkenntnis“ des „sozialen Lebens“ etwa nach St[ammler]’s Ansicht, nurt als eine „werthende“ Betrachtung desselben, als Aufsuchung einesu „Ideals“ und ein „sozialpolitisches“ Messen seines empirischen Befundesa an dem so gefundenen Maßstab denkbar sein sollte, außer Betracht.b Wir nehmen vielmehr an, es solle das Objekt einer empirischen Wissenschaft abgegrenztc | werden, fürd welche die „äußeren“ (rechtlichen und „conventionellen“) Normen die Rolle einer „Voraussetzung“ spielen.e | fDas zweite Buchf des Stammler’schen Werkes, betitelt: „Der Gegenstand der Sozialwissenschaft“g 63 will, wie wir s. Z. schon sahen,64 einenh Begriff des „sozialen Lebens“, welcher dem (Rümelin’schen) „Gesellschafts“-Begriff und dem Staatsbegriff gemeinsam übergeordnet isein solli,k 65 an den Begriff der „Regel“ anknüp-

q A: diese  r  〈Aussagen〉    s A: Consequenzen, 〈indem wir die von Stammler selbst herangezogenen〉 〈Rechtliche und conventionelle Normen können als „Voraussetzungen“ in einer nicht „dogmatischen“, sondern empirischen Wissenschaft in verschiedner Art 〈zur〉 in Betracht kommen.〉    t  〈nun〉    u  〈Auffindung sozialpolitischen〉    a  Bestandes > Befundes  b A: Betracht, 〈– schon deshalb, weil eine solche Annahme ja von der 〈eine〉 Feststellung dessen, was gemessen werden soll, des Objektes „soziales Leben“ also,〉 〈schon gehören wir〉    c  gefunden > abgegrenzt  d  bei > für  e  〈Dies könnte dann – analog dem von St[ammler] selbst herangezogenen Spielregel-Beispiel – einen darin folgenden verschiedenen Sinn haben.〉    f–f  Der zweite Abschnitt des > Das zweite Buch  g  〈, beginnt, mit der〉 〈wie wir〉    h  den > einen  i–i  sei > sein soll  k  〈das〉    63  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  75–158. 64  In Weber, Stammler, oben, ist häufig vom sozialen Leben die Rede. 65 Zu Rümelin vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  79 ff., mit Bezug auf Rümelin, Gustav, Ueber den Begriff der Gesellschaft und einer Gesellschaftslehre, in: ders., Reden und Aufsätze, 3. Folge. – Freiburg i. B. und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1894, S.  248–277 (hinfort: Rümelin, Gesellschaft); ders., Statistik, in: Handbuch der Politischen Oekonomie, Band 3, 3.  Aufl., hg. von Gustav Schönberg. – Tübingen: H. Laupp 1891, S.  803–822. Für Rümelin, Gesellschaft, S.  277, sind Gesellschaft, Staat und Recht „drei getrennte und doch innig zusammenhängende Grundbegriffe […]: die Gesellschaft bietet und umfasst den gesamten Stoff und Inhalt aller Erscheinungen und Vorgänge des Menschenlebens, vermag ihnen aber die Ordnung, deren dieselben bedürfen, nicht aus eigenen Mitteln zu schaffen; der Staat ist die ordnende Gewalt; das Recht ist die positive, befehlende Norm, durch welche der Staat sowohl sich selbst als die Gesellschaft ordnet.“

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fen. Schon an der Stelle, wo dies zum ersten Male geschieht: (S.  83 Z.  15)66 beginnen aber bei St[ammler] die Zweideutigkeiten: Das Moment, welches „das soziale Leben als eignen Gegenstand unserer Erkenntnis“ konstituiere, heißt es dort, sei „die von lMenschen herrührendel Regelung“m (S.  85 noch deutlicher:n eine „von Menschen ausgehende Norm“)o 67 „ihres Verkehrs und Miteinanderseins“. Heißt dies nun I, daß diejenige „Regel“, an welcher der Begriff „soziales Leben“ verankert wird, von Menschen 1)p als „geltensollende“ Normq geschaffen sein oder 2)r als Maximen befolgt werden oder 3) daß beides der Fall sein müsse? sMuß siet also überhauptu „Maxime“ empirischer Menschen sein?a s Oder genügt (II) ein Sichzueinanderverhalten von räumlich-zeitlichb coexistenten Menschen,c welches „wir“d – die Betrachtenden – „begrifflich“e als einer „Regel“ unterstehend ansehenf, undg zwar 1) in dem Sinn, daß wir eine „Regel“ daraus „abstrahieren“ können, daß es m. a. W. empirisch geregelt abläuft? oder aber 2) in dem – wie wir weitläufig erörtert haben68 – davonh gänzlich verschiedenen Sinn, daß „uns“, den Betrachtenden, eine „Norm“i darauf – l–l  Menschen herrührende > Menschen herrührende  m  〈ihres Verkehrs und Miteinanderseins“, was〉    n  〈als〉    o  〈bezeichnet wird.〉    p  〈bewußt〉    q A: Normen  r  〈bewußt〉    s–s  Einfügung vom linken Blattrand.   t  〈also〉   u  〈(I.)〉 〈als Maxime, und zwar,〉    a  〈Von den 〈weiteren〉 im Bejahungsfall sich weiterhin ergebenden Möglichkeiten sehen wir hier ganz ab.〉    b  raum-zeitlich > räumlich-zeitlich  c  〈aus welchem〉    d  〈eine „Regel“ zu abstrahieren 〈in der〉 imstande sind? und zwar eine „Regel“ im Sinne〉    e  gedanklich > „begrifflich“   f  〈können?〉    g  〈wenn ja,〉    h  〈wir weitläufig〉    i  〈(welcher Art immer〉 〈Auch hier sehen wir von den Modalitäten der „Norm“ sittlich, rechtlich, „conventionell“ etc. noch ganz ab.〉    66  Hier und im Folgenden wird stets der ganze Satz nachgewiesen, wobei die entsprechende Zeile jeweils mit * gekennzeichnet wird. Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  83: „Hier hat das Merkmal einzutreten […], – dasjenige Moment, welches das soziale Leben als eigenen Gegenstand unserer Erkenntnis also konstituiert, daß es dem bloß physischen Nebeneinanderbestehen verschiedener Menschen in bleibender formaler Eigenart sicher gegenübertritt. *Dieses Moment ist die von Menschen herrührende Regelung* ihres Verkehrs und Miteinanderlebens. Die äußere Regelung des menschlichen Verhaltens gegen einander ermöglicht erst den Begriff eines sozialen Lebens als eines besonderen Objektes. Sie ist das letzte Moment, auf das formal alle soziale Betrachtung in ihrer Eigenart zurückzugehen hat.“ Im Handexemplar unterstreicht Weber in Zeile 15 „von Menschen“ und vermerkt am Rand: „πρ ψ!“, abgekürzt für: „proton pseudos“, vgl. dazu oben, S.  501, Anm.  55. 67  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  85; dort im Handexemplar von Weber unterstrichen und mit dem Randkommentar versehen; „was heißt das?“. 68  Weber, Stammler, oben, S.  530 ff.

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wohlgemerkt: „ideell“ – Anwendung finden zu können oder zu müssen scheint? | Den Fall ad II, 1 (empirische Geregeltheit) würde St[ammler] jedenfalls alsbald als selbstverständlich nicht von ihm gemeint ablehnen: k„Regel“ istl als „Imperativ“m zu verstehen, nicht als empirische Regelmäßigkeit.k Gegenübern einer Bemerkungo Kistiakowski’s behauptet er gradezu, sehr vom hohen Pferd herab, gar nicht darauf gefaßt gewesen zu sein, daß Jemand nach den Ausführungen seines Buchs diep Frage überhaupt an ihn richten werde4). Wirklich? Was soll es denn aber alsdann bedeuten, daß erq sich wieder und wieder so gebärdet, als ob das Miteinander der Menschen und ihre gegenseitige Beeinflussung für eine reinr empirisch-causale Betrachtung sich in ein „Getümmel“, ein „Chaos“, ein „Durcheinander“ und wie seine Ausdrücke alle | heißen5),s auflösen würde? Undt vollends, – angesichts jener Antwort an Kistiakowski, wonachu (S.  641) ausdrücklich die nicht amit dem Begriff dera „Regel“ als eines „Imperativs“ arbeitende Betrachtungb von Beziehungen zwischen Menschen keine Erörterung „sozialen Lebens“ in St[ammler]’s Sinne sein soll –, wie ist es für St[ammler] möglich zu behaupten (S.  84), den „sachlichen“ Gegensatz des „gesellschaftlichen“ Lebens bilde das isolierte Dasein des einzelnen, und zwar ganz ausdrücklich ceines gänzlich isoliertc 4) 5)

 Anm.  51 zu S.  88 (hiezu S.  641).69 |  Vergl. schon auf S.  91[.]70 |

k–k  Einfügung vom linken Blattrand.   l  〈also〉    m  〈gedacht〉    n  In A geht voraus: 〈Er behauptet, gradezu sehr vom hohen Pferd herab,〉    o  Bemerkung > entsprechenden Frage > Bemerkung  p  diese > die  q  〈als〉    r  rein > rein   s  〈u. s. w.〉    t A: und 〈was soll es〉    u  〈also wir ja doch〉    a–a  unter dem Gesichtspunkt der > mit dem Begriff der  b  〈des menschlichen der〉    c–c  des einzeln > eines gänzlich isoliert   69  Stammler, Wirtschaft2, S.  641, Anm.  51, zitiert Kistiakowski, Gesellschaft (wie oben, S.  228, Anm.  71), S.  75 f.: „Man kann Stammler fragen: ob Zusammenleben und Wechselwirkung zwischen den Menschen nicht mehr Gesellschaft bildet, wenn sie ohne Normen und Regeln gedacht werden.“ 70  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  91: „Bei einem […] nicht normierten Durcheinanderlaufen“. Von Weber im Handexemplar unterstrichen und kommentiert: „warum muß etwas nicht Normiertes ein Durcheinanderlaufen sein?“. Von „Getümmel“ und „Chaos“ ist an anderen Stellen die Rede.

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lebenden hypothetischen Urmenschen?71 – während doch ganz offenbar der Gegensatz nur (zunächst einmal ganzd unbestimmt formuliert) lauten könnte: „diee nicht unter f‚menschlich gesetzte Regeln‘f (im imperativischen Sinn des Wortes)g fallendenh Beziehungen von Menschen (zur ‚Natur‘ und) zu einander“i. kEs fälltl ferner auf,m gehört aber zu St[ammler]’s uns schon bekannter Manier, daßn an der angeführten Stelle plötzlich von „sachlichen“, nicht mehr von „begrifflichen“ oder „logischen“ Gegensätzen geredet wird, im Gegensatz zu S.  7772 u. sonst. Aber S.  87 (oben)73 bereits wirdo beides wieder identifiziert – pVerschiedenheit des Betrachtungszwecksp und Verschiedenheit der empirisch „vorgefundenen“ Thatbestände also –,q alsr Ein und Dasselbe behandelt. In Wahrheits k müßten wir offenbar, wenn es sich um die t„logische“ Abgrenzungt eines eigenen „Gegenstandesu unsres Erkennens“a durch Aufzeigung des spezifischen Sinnesb der Betrachtung handeln solltec,d von dem Gebiet des „sozialen Lebens“ in St[ammler]’s d  nur > ganz  e  nicht der > „die  f–f  Normen > ‚Regeln‘ > ‚menschlich gesetzte Regeln‘  g  〈fallenden substruierten Lebensverhältnissen der〉    h A: fallende   i  〈, – und zwar gar〉   k–k Einfügung vom linken Blattrand.   l  〈nun〉   m  〈und〉   n  〈hier〉    o  〈„logische“ und „sachliche“ Spreizung 〈Antithese〉 wieder identifiziert〉   p–p  Gesichtspunkte der Betrachtung > Verschiedenheit des Betrachtungszwecks   q Gedankenstrich und Komma fehlen in A; sinngemäß ergänzt.    r  〈gleich〉   s  〈muß〉    t–t  Feststellung > „logische“ Abgrenzung  u  〈des〉    a  〈nicht um die sachliche 〈Abgrenzung〉 Scheidung〉    b  Gesichtspunktes > Sinnes  c  soll > sollte   d  〈noch genauer sogar〉    71  Von einem solchen Urmenschen ist an dieser Stelle keine Rede. Stammler, ebd., S.  84, geht davon aus, daß der Mensch immer schon in Gemeinschaft lebt, der sich manche wie „Einsiedler“ oder „Robinson“ mehr oder weniger freiwillig „entziehen“: „Für das uns wissenschaftlich allein bekannte Leben der Menschen kenne ich […] kein treffenderes Wort, als die von Natorp einmal gebrauchte Wendung: ‚Der einzelne Mensch ist eigentlich nur eine Abstraktion, gleich dem Atom des Physikers.‘“ Ebd., S.  85, ist die Rede von „einer soziales Leben konstituierenden Regel“ „für den einzel­ nen […], als gänzlich isolierten Menschen gedacht“. Zum Urmenschen bzw. Naturmenschen vgl. ebd., S.  293, 296; zu einem „hypothetisch angenommenen isolierten Naturzustand“ vgl. ebd., S.  87. 72  Vgl. ebd., S.  77: „Welches ist das feste Merkmal, durch das der Begriff des sozi­ alen Lebens der Menschen als eigener Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung konstituiert wird?“. Im Handexemplar unterstreicht Weber „Begriff“ und kommentiert am Rand: „ein Begriff ist doch nicht Ausgangspunkt der Betrachtung!“. 73  Vgl. ebd., S.  86 f.: „Wir gehen lediglich sachlich davon aus: Es gibt soziales Leben der Menschen, und es läßt sich gänzlich isoliertes Existieren der einzelnen denken; – in welchem Kriterium wird sich der Inhalt der einen und der anderen dieser Vorstellungen in Sicherheit gegenständlich abgrenzen lassen?“. Im Handexemplar vermerkt Weber am Rand: „Kistiakowski hat ganz Recht!“.

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Sinn ausschließen: „alle“e Beziehungen (zur „Natur“ und) zu andern Menschen,f wenn sie von uns lediglichg in ihrer Faktizität, nicht aber als ideell mögliche Anwendungsfälle von „Regeln“ (im imperativischen Sinn)h betrachtet iwerden. Das hießei also: ein „soziales Leben“ gäbe es nicht für eine empirisch-causale, sondern nur für eine „dogmatische“ Wissenschaft.k Wenn es sich dagegen 2) um die „sachliche“ lHerausgrenzung von Bestandteilen der empirischen Wirklichkeitenl m, also aus der Welt dern thatsächlich gegebeneno „Objekte“p handeln soll, auf Grund | von qualitativen Differenzen, welche an jenen herauszugrenzenden Bestandteilenq empirisch vorfindbar sind, – dann würde der („sachliche“) Gegensatz zu St[ammler]’s Begriff „soziales Leben“ offenbar lauten müssen: „allesr menschliche Sichverhalten“s (zur „Natur“ und) zu andren | Menschen,t für dessenu Gestaltung faktisch die Menschen einea „Norm“b als geltensollend entweder nichtc „gesetzt“ haben (oben No I, 1)d oder für welches sie (No I, 2 u. 3) faktisch einee solche alsf „Maxime“ nicht befolgen.g Das hieße also: ob etwas ein „Naturvorgang“ oder eine Erscheinung des „sozialen Lebens“ isth, hängt davon ab, wie weit in concreto in betreff seiner entweder (I, 1)i einej „Satzung“k vereinbart worden war6)[,]l oder in wieweitm 6) Man beachte, daß auf S.  92 Abs.  4, 5 von Stammler „Verabredung“n im (freilich gänzlich schiefen) Gegensatz zum bloßeno „instinktiven Triebleben“ als Merkmal ein-

e  „diejenigen“ > „alle“  f  〈welche〉    g  nicht > lediglich  h A: Sinn). 〈„Wenn es sich dagegen〉    i–i A: werden“ (d. h. > werden“ Das hieße  k  Wissenschaft). > Wissenschaft.  l–l  Abgrenzung eines qualitativ eignen Ausschnitts aus der empirisch wirklich > Herausgrenzung von Bestandteilen der empirischen Wirklichkeiten   m  〈oder Möglichkeiten〉    n  der Faktizität > der  o  〈oder (wie z. B. die Robinsonade) als thatsächlich gegeben möglich vorstellbaren empirischen〉    p  〈handeln soll auf Grund der〉    q  〈de facto eigentümlich〉    r  〈Beziehungen〉    s Ausführungszeichen fehlt in A.   t  〈welchen – je nachdem – eines der oben ad I,1,2,3 oder aber 2 oder 3, oder ad II,2 bezeichneten Merkmale fehlt.“ welche: nicht – nur gemachten (s. o.) – (I,1) geltensollenden Normen – entweder (oben No I) – de facto nicht den Inhalt von Normen Objekt als geltensollend geprägter (oben I,1) oder als geltensollend befolgter (oben I,2) Norm-Maximen bilden, – oder (oben No II) – uns nicht als Inhalte möglicher Norm-Maximen (dogmatisch!) interessieren.“〉 〈mögliche Objekte von Normen interessieren.“ 〈– welche〉 〈für welche〉    u  〈Ablauf〉    a  〈geltensollende〉   b  〈nicht〉    c  〈als „geltensollend“ geschaffen bewußt [?] „damit“ aber geschaffen〉   d  〈oder (I, 2) nicht auch befolgen〉    e  keine > eine  f  〈Norm〉 〈solche – ob nun ausdrücklich gesetzt oder nicht –〉    g A: befolgen.“  h  〈in den Beziehungen von Mensch zu Mensch〉    i  〈(I,1)〉    j  〈ausdrückliche〉    k  〈, welche, nach den faktisch geschaffen war〉    l  In A folgt: (I, 1) 〈welche den betreffenden 〈Hergang〉 Vorgang nach der Vorstellung 〈seiner〉 der Schöpfer jener Satzung umfassen sollte, oder (I, 2) wie weit in concreto〉    m  〈je nachdem〉    n  〈eines der〉    o  „bloß > bloßen  

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außerdemp (I, 3)q seitens des oder der beteiligten Menschenr in concretos unter bewußter,t sei es positiver[,] sei es negativer Stellungnahme zu jenen „Satzungen“ gehandelt worden ist, oder endlich (I, 2)u inwieweit, trotz Fehlens einer ausdrücklichen „Satzung“, wenigstens subjektiv die Vorstellunga von geltensollenden Normen für das äußere menschliche Verhaltenb imc konkreten Falld das Handeln vone Menschen beeinflußt oder doch wenigstens begleitet hat.f | Vergebens würden wir Stammler selbst umg eindeutigen Aufschluß über diese Fragen angehen. Er entzieht sich der Pflichth[,] einen solchen zu geben, mit jener schon früher besprochenen eigenartigen „Diplomatie der Unklarheit“[,]74 und zwar in diesem Fall durch das sehr einfache Mittel, die „Regel“ zu personifizieren und lediglichi „metaphysisch“ zu reden. Auf S.  99 (oben)75 hören wir, die „äußere Regel“ sei k– in diesem Fall im Gegensatz zu der nach der „Gesinnung“ fragenden sittlichen Norm –k eine solche, welche „sich von den Triebfedern des Einzelnen, sie zu befolgen, ihrem Sinne (NB!) nach ganz unabhängig stellt“7), – also, wird jeder

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geschaltet ist, S.  94 von Menschensatzung gesprochen lwird – und nachl S.  94 ein „soziales Leben“ der Tierem dann als bestehend anzuerkennen sein würde, wenn bei Tiervereinigungen (z. B. im Bienenstaat) nachweislich von den betreffenden Tieren Regeln „aufgestellt“ worden wären, nach denen sie sich nun richteten. | 7) Die Scheidung von „Sittlichkeit“ einerseitsn, „Recht“o und „Convention“ ande- A 12 rerseits entspricht dem Üblichen.76 Daßp die Frage, aus welchen Gründen ein äußeres p  〈doch〉    q  〈ein〉    r  〈ein〉    s  〈in der〉    t  〈nach 〈auf Grund von Normvorstellungen〉 Zweckvorstellungen gehandelt worden ist, sei es, daß der „Zweck“ 〈(I,2) oder (I,3) bereits〉 der Fall war〉    u  〈in ihnen〉    a  〈„geltender“ Satzungen〉   b  〈eines konkreten Menschen dies letztere〉    c  in einem > im  d  〈dies letztere〉   e  eines > von  f  In A folgt die eigenhändige Anweisung mit Bleistift: (Absatz!) sowie die gestrichene Passage: 〈Nun ist zwar schon hier, in den Anfängen der Erörterung, Stammlers Zweideutigkeit so groß, daß er auf der einen Seite den Nachdruck darauf legt, daß die „gesetzte Norm“ eine neue „Triebfeder“ des Handelns bilde, | – A 12 wonach also die empirische Existenz dieser „Triebfeder“ als „Maxime“ das Entscheidende wäre, – während er auf der andren Seite mit größtem Nachdruck bemerkt, daß für〉    g  〈ganz〉    h  〈zur Klarheit〉    i  nun > nur > lediglich  k–k Einfügung vom linken Blattrand.   l–l  wird, – während freilich im Übrigen sich St[ammler] in seiner uns bekannten „Diplomatie“ sich weidlich vor so unzweideutigen Ausdrücken hütet. [Absatz] Nach > wird – und nach  m A: Triebe 〈(z. B. im Bienenstaat)〉   n  und > einerseits  o  〈(oder Convention〉    p  〈bei der〉 74  Weber, Stammler, oben, S.  520, Fn.  6. 75  Zum von Weber nachfolgend zitierten Satz vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  98 f. Im Handexemplar notiert Weber auf S.  98 unten: „welch ein Sprung!“. 76  Gemeint ist möglicherweise Stammler, Wirtschaft2, S.  96, 381 ff., 537 ff.

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die Metapher deuten: es handelt sich um ihreq ideelle, dogmatisch erschließbare „Geltung“, rum so mehrr, als im folgenden Abschnitt (Zeile 9)77 ausdrücklich gesagt ist, daß es „der Regel“ nicht „darauf ankomme“, ob „der Unterworfene sich | darüber (!) besinnt“ (also doch wohls auch: ob er sie überhaupt kennt, – oder etwa nicht?)t oder ob er ihr gemäß handelt aus „dumpfer Gewöhnung“ (die doch natürlich, vom Standpunktu einer empirisch scharfen Scheidung apragmatischen, normbewußtena Handelns von allem anderenb dem tierischen „Instinkt“ schlechthin gleichzusetzen wäre)c. Über den Fall des faktischen Nichtbefolgtwerdens der „Regel“ schweigt sichd St[ammler] klüglich aus, obwohl nur dann wirkliche Eindeutigkeit dese Gemeinten bestände, wenn auch für fdiesen Fallf unzweideutig seine Irrelevanz gegenüber der ideellen (dogmatischen) „Geltung“ der Regel festgestellt würde. Diese Unzweideutigkeit würde aber freilich die nun folgende echt scholastische Manipulation unmöglich gemacht haben: (S.  100)g weil die (personifizierte) Regel von den Triebfedern (NB!), die dem isolierten (!) Menschen eigen sind, sich unterscheidet (oben hieß esh: „sich unabhängig stellt“),78 tritt sie „als ein neuer, selbständiger Bestimmungsgrund (NB!) auf.“ Oben79 hörten wir, der (empirische) Bestimmungsgrund („Triebfeder“ hieß er dort) für das Verhalten einer Rechtsnorm nicht entspricht, aus welcher „Gesinnung“ insbesondre (dolus, culpa, bona fides, error etc.)80 eine bestimmte, fremde rechtlich geschützte Interessen verletzende Handlung hervorging, keineswegs rechtlich irrelevant ist, möge jedoch immer im Auge behalten werden, um die prinzipielle Schärfe dieser Scheidung nicht zu überschätzen. |

q  die > ihre  r–r A: umsomehr  s  〈auch〉    t  〈oder wo – im Fall der Constituierung eines dogmatisch betrachtet〉 In A folgt: oder ob er aus  u  〈der〉    a–a  teleologischen > pragmatischen, normbewußten  b  〈aus〉 〈aus gesehen〉 〈aus〉 〈in〉 〈dem〉    c  〈handelt〉 〈ihr gemäß handelt〉    d  〈der〉    e  〈unter dem 〈„Sinn“〉 Bestehen der Regeln〉    f–f  ihn > diesen Fall  g  〈weil (NB!)〉    h  〈von ihm „abstrahiert“〉    77  Vgl. ebd., S.  99; die von Weber nachfolgend zitierte Passage lautet vollständig: „Der äußeren Regel ist dieses gleichgültig. Es kommt ihr auch nicht darauf an, ob der Unterworfene überhaupt sich darüber besinnt, oder ob er in dumpfer Gewöhnung der äußeren Legalität frönt.“ 78  Oben, S.  597, zitiert Weber den Passus von Stammler, Wirtschaft2, S.  98 f.: „sich von den Triebfedern […] ganz unabhängig stellt“. 79  Weber, Stammler, oben, S.  496, 498. 80  Vorsatz, Schuld, guter Glaube, Irrtum etc.

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äußere Verhalten sei irrelevant, „die | Regeli“k – wie St[ammler] sich ausdrückte – „stelle sich unabhängig“ davon, das heißt also doch, des Metaphorischen entkleidet, wir abstrahieren8) bei normativer Bewertung von derl empirischen Motivation der Handelnden und fragen nur nach derm Legalität des äußeren Verhaltens, – hier wird plötzlich nicht nur der „isolierte“ Mensch als begrifflicher Gegensatz hineingeschmuggelt, sondern ebenso plötzlich die ideellen „Geltung“ einero Norm als eines Maßstabes der Bewertung, den wir, die Betrachtenden, anwenden, in peinen empirischen Bestimmungsgrundpq menschlichen Handelns umgedeutet und rdieser empirische Thatbestandr – also, deutlicher gesagt, dies auf S.  99 oben81 für gänzlich irrelevant erklärtet Möglichkeit, daß deru jener Norm (ideell) Unterworfenev sich ihr aus sittlicher oder formalrechtlicher Gesinnung heraus abewußt fügta – als das spezifische Merkmal „äußerlich geregelten Zusammenlebens“ hingestellt.82 Die Erschleichung9) ist ganz | offenbarb dadurch ermöglicht, daß

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 Der Ausdruck ist cbei St[ammler]c sorgsam vermieden.d 83 A 13 WL 568   Ich verweise auf meine Bemerkungen Band _ S. _84 und wiederhole, daß natürlich irgend ein „dolus“85 Stammler an durchaus keiner Stelle dieser Kritik imputiert wird. Die Sprache giebt unse aber keine anderen Bezeichnungen an die Handf für die „culpa lata“,86 welche (in einer zweiten Auflage!)g solche Sophismen nicht nur duldet, son8)

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i  In A geht voraus: 〈Die These Stammler’s wird durch die doppelte Erschleichung gestützt〉    k  〈kümmere sich – d. h. aber, da diese ja kein Lebenwesen〉    l  〈Causalität des〉    m  〈äußeren〉    n  ideell geltende > ideelle  o  der > einer  p–p  eine empirische Triebfeder > einen empirischen Bestimmungsgrund    q  〈gemacht〉   r–r  dieses empirische Faktum > dieser empirische Thatbestand  s  〈Thatsache,〉    t  〈These〉    u  〈der〉    v A: unterworfene  a–a  befolge > bewußt fügt   b  〈eben dadurch ermöglicht〉    c–c  klüglich > bei St[ammler]  d  vermieden, wie man sieht, – weil er die Zweideutigkeit ausschließen würde, 〈welche〉 in welcher die Fassung, daß „die Regel sich unabhängig stellt“, den 〈Leser〉 unaufmerksamen Leser beläßt. > vermieden.  e  〈aber〉    f  Hand, um > Hand  g  〈die Schaffung〉    81  Vgl. dazu oben, S.  597 mit Anm.  75. 82 Bei Stammler, Wirtschaft2, S.  99, heißt es: „So steht die äußere Regelung des menschlichen Zusammenlebens den Lehren der Moral gegenüber.“ 83 Tatsächlich verwendet Stammler diesen Ausdruck häufig. Vgl. z. B. Stammler, ebd., S.  85: „Die soziale Regel […] abstrahiert in ihrem formalen Auftreten von den Triebfedern, die dem einzelnen für sich eigen sind“. Das Sachregister, ebd., S.  681, führt an: Abstraktion, kritische und theoretische. 84  Wegen der nicht ausgefüllten Angaben vermutlich Verweis auf Weber, Stammler, oben, S.  489. Vgl. auch Weber, Objektivität, oben, S.  215 mit Anm.  35. 85 Vorsatz. 86  Grobe Fahrlässigkeit.

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der unaufmerksame Leser,h indemi davon geredet wird, daß „die Regel sich unabhängig stellt“,87 darüber im Unklaren belassen wird, daß wir – diek erkennenden Subjekte – es sind, welche, in dem Fall nämlich, daß wir „Dogmatik“ treiben und also „die Regel“ als ein ideelles Geltensollen behandeln, eine Abstraktion vollziehen, während im zweiten Fall, wo es sich um empirische Erkenntnis handelt, die, lzu unsreml Erkenntnisobjekt gehörigen, empirischenm Menschen vermittelst der Aufstellung neiner Regeln einen empirischen „Erfolg“ zu erzielen beabsichtigen und –o mit verschiedenem Grade von Sicherheit –p auch zu erzielen pflegen. Ja, umq jedes Eindringen von Klarheit in dies scholastische Halbdunkel abzuschneiden, personifiziert St[ammler] im folgenden Absatz (S.  100 rZ. 23r)88 als Parallele zurs „Satzung“ auch noch das „Naturgesetz“ und stellt der ersteren, welche ein bestimmtes Zusammenleben „herbeiführen will“, das letztere, also die empirische Regelmäßigkeit, als die „erkennende (sic!!) Einheit natürlicher Erscheinungen“ gegenüber. | Eine „wollende“ Regel ist wenigstens eine an sich erträgliche, wennschon in diesem Fall absolut unerlaubte Metapher, – eine „erkennende“ Regel aber istt einfach – Unsinn. Eine weitere Kritiku erübrigt sich wohl nach den weitläufigen Ausführungen im vorigen Abschnitt, und ebenso sei es uns erspart, noch besonders darauf aufmerksam zu machen, wiea aus dem „selbständigen“ (empirischen) „Bestimmungsgrund“ des Handelns der

dern sich überall auf sie, und sie allein, stützt.b Wenn ich diesec und ähnliche scharfe Ausdrücke brauche, so soll damit allerdings das Eine gesagt sein, daß, wenn die WL 569 Er|füllung wissenschaftlicher Pflichten „äußeren Regeln“ unterstellt würde, dann freilich St[ammler]’s Verfahrend in der That als „polizeiwidrig“ zu gelten hätte. | h  〈– und der eben vermittelst der obigen Fassung〉    i  〈von einer〉    k  〈Erkenntnis〉    l–l  zum > zu unsrem  m  〈Constituanten〉    n–n  der Norm > einer Regel   o  〈vielleicht〉    p  〈ihn erzielen〉    q  〈jede〉    r–r  Abs.  3 > Z. 23  s  〈„Regel“ (Norm)〉    t  〈eben〉    u  〈dieses Begriffes eines „erkennenden“ Naturgesetzes〉   a  〈S.  101 unten〉    b  〈Und〉    c  sie > diese  d  〈als mindestens〉    87  Stammler, Wirtschaft2, S.  98 f.; vgl. dazu oben, S.  598 mit Anm.  78. 88  Vgl. ebd., S.  100: „Die konstitutive Bedingung vom Begriffe des sozialen Lebens, als eines eigenartigen Gegenstandes, ist also ausschließlich der Gedanke einer äußeren Regelung des Verhaltens von Menschen gegeneinander; die von Menschen gesetzt ist, nicht im Sinne des Naturgesetzes, als einer nur erkennenden Einheit natürlicher Erscheinungen, *sondern als Satzung, die bestimmtes Zusammenleben herbeiführen will.*“ Im Handexemplar unterstreicht Weber „erkennenden“ und in Z. 23 „herbeiführen will“.

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S.  100 auf S.  101 unten wiedere ein f„formal bestimmendes Element“f eines Begriffes wird, daraus danng auf S.  102 eine „erkenntnistheoretische Bedingung“,89 unter welcher dieserh Begriff – des „sozialen Lebens“ nämlich – „möglich“ wird,i worauf dannk auf S.  105 – für Stammler selbst offenbar zu spät – die Mahnung folgt, man dürfe aus der logischen Funktion (!) der äußeren Regelung beileibe nicht etwa ein kausales Wirken machen,l 90 – was einige Seiten früher, wie wir sahen,91 durchm Stammler selbst geschehenn war. Aber die eigne Mahnung, logisch-begriffliche und empirisch-sachliche Beziehungen nicht zu verquicken – denn dies ist doch der allgemeino formulierte Sinn jener Scheidung – fruchtet bei St[ammler] selbst auch für den pgleich unmittelbar folgendenp Verlauf seinerq Erörterung nichts: schon im folgenden Absatz wirdr, | weil die beiden Begriffe „soziales Leben“ und (nach St[ammler]’s Ausdruck) „isoliertes“ Leben sich,s wie wir St[ammler] hier vorerst einmal glauben wollen, in der von ihm erstrebten Art scharf undt exclusiv gegenüberstellenu lassen, geschlossen, es könne auch in der empirischen Wirklichkeit keine Thatbestände geben, welche sich gegen die glatte Subsumierung unter einen von beiden sträubena, „es ist immer nur eines von beiden vorhanden (NB!), ein drittes ist ganz undenkbar“.92 Welches sind, wollen wir noch einmal eingehender fragen, die beiden allein „denkmöglichen“ Thatbestände? Auf der einen Seite „ein (NB!) gänzlich isoliert hausender (NB!) Mensch“, auf der andern Seite | „sein Leben unter äußeren e  〈zu dem〉    f–f  „formaler Bestimmungsgrund“ > „formal bestimmendes Element“   g  〈wird〉    h  der > dieser  i  〈und wie〉    k  〈, weil die „Begriffe“ wie zum Hohn nach all diesen Leistungen,〉    l  〈– wie zum Hohn nun nach all diesen Leistungen – fast unmittelbar vorher und nicht wieder unmittelbar nachher, wo (Abs. 3)〉    m  von > durch  n  〈ist〉    o A: allgemeine  p–p  weiteren > gleich unmittelbar folgenden  q  der > seiner  r  〈wieder〉    s  〈scharf〉    t  〈als〉    u  formulieren > gegenüberstellen  a  nicht fügen > sträuben   89  Vgl. ebd., S.  102: „erkenntniskritische Bedingung“. Im Handexemplar ist „erkenntniskritische“ von Weber doppelt unterstrichen und mit dem Randkommentar versehen: „plötzlich wieder in der Empirie“. 90  Hier fast wörtliche Wiedergabe von Stammler, ebd., S.  105. Im Handexemplar von Weber mit doppeltem Randstrich und dem Kommentar versehen: „wie St[ammler] selbst thut!“. 91  Oben, S.  596 f. 92  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  105. Im Handexemplar ist „vorhanden“ doppelt unterstrichen und von Weber mit dem Randkommentar versehen: „! πρ. ψ! Unterschiede des Gesichtspunktes in solche der Sache verwandelt. Erschleichung“.

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Regeln, verbunden mit anderen“.93 Die Alternative sei, meint St[ammler], so absolut erschöpfend, daßb auch eine „Entwicklung“ nur „innerhalb eines der beiden Zustände“c, nicht aber von einemd Zustand „isolierten“ zu einem solchen „sozialen Lebens“e hin möglich sei – „für unsre Betrachtung“, wie ganz beiläufig mit uns schon bekannter Diplomatie94 eingeschaltetf und – an derg Robinsonade10) illustriert wird. Die Erschleichung liegt hier darin, daß A 15 WL 570

10) Auch darüber, wie Stammler diese hier für sich nutzbar macht, ein Wort.95 Im „ersten Stadium“ – heißt es –h bestehti nur die „Technik seiner isolierten Wirtschaft (NB!).“ Von dem Augenblick an, wo er Freitag „zum Gefährten erhieltk, als (NB!) der junge Indianer auf seinen Nacken den Fuß des weißen Mannes setztel mit dem sichtlichen Zeichen dessen: du sollst mein Herr sein“ – bestand m„geregeltes Zusammen­ leben“m, weil nunmehr neben „technische“ Fragen eine zweite „Erwägung“ (NB!) „für sie beide“ (NB!) trat, „die soziale Frage“.n Also: ohne jenen symbolischen Akt (oder irgend einen anderen, dem empirisch gewollten Sinne nach entsprechenden), der nach dem (empirischo gewollten) „Sinn“ Unterwerfung ausdrücken „sollte“, bestände „soziales Leben“ nicht, – dann z. B. nicht, wenn R[obinson]p den geretteten Indianer[,] ähnlich wie ein humaner Hundebesitzerq einen in seine physische Gewalt geratenen Hund[,] eingesperrt, gefüttert und für seine (R[obinson]’s) Zwecke dressiert („angelernt“) hätte. Denn daß er sich dabei, um ihn möglichst nutzbar zu machen,r ihms durch Zeichen hätte „verständlich machen“, also mit ihm „verständigen“ müssen – das trifft im gleichen Sinn auch für die Beziehung des Menschen zum Hunde zu, – daß ferner diese seine Zeichen den „Sinn“ von „regelnden Befehlen“ gehabt hätten (cf. dazu St[ammler]’s Bemerkungen S.  86 oben),96 – das trifft ebenfalls im ganz gleichen Sinn auch für „Befehle“ an Hunde zu. Er würde es nun aber vermutlich auch für (in seinem,

b  〈für unsre Betrachtung〉    c  〈möglich〉    d  〈nicht äußerlich geregelten zu ein〉   e  〈zu einem solchen〉    f  〈mit diplomatischer Zweideutigkeit 〈an unscheinbar〉 ganz formlos eingeschaltet wird. „Sein Leben unter äußeren Regeln, worunter mit anderen“〉 〈Hier liegt die 〈Erschleichung〉 Zweideutigkeit zunächst in dem „unter“ Regeln〉 〈Heißt dies: daß „wir“, die Erkennenden, ideell Normen auf jenes gemeinsame Leben Mehrerer beziehen können? 1) daß dies „isoliert lebend“, welche alsbald noch ausdrücklich durch Bezugnahme〉    g  〈auf die〉    h  Gedankenstrich fehlt in A; sinngemäß ergänzt.   i  können wir > besteht  k  〈und (NB!) der〉    l  〈u. s. w.〉   m–m  „soziales Leben“, die bloße Coexistenz > „geregeltes Zusammenleben“   n  〈Offenbar〉    o  (empirisch > (empirisch  p  〈seinen Gefährten〉    q  Hundebesitzer ohne „symbolische > Hundebesitzer  r  〈mit〉    s  〈„verständigen“ mußte〉   93  Vgl. ebd. 94  Oben, S.  580 mit Anm.  14. 95  Weber referiert im Folgenden Stammler, Wirtschaft2, S.  105 f. 96 Vgl. ebd., S.  86: „Das von Familienmitgliedern in naturwüchsiger Arbeitsteilung vollzogene Zusammenwirken zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse kann ohne regelnde Befehle gar nicht vorgestellt, wenigstens nicht in den Begriff eines gemeinsamen Hauswesens und einer engen Verbindung in ausgedehnter Lebensgemeinschaft klar eingefügt werden.“ Im Handexemplar doppelte Unterstreichung von „regelnde Befehle“, „wenigstens“ und „klar“ sowie die Randbemerkung: „erschlichen!“.

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auch an dieser entscheidenden Stelle in dem Leser die Vorstellung erweckt wird, als komme als Gegensatz gegen die durcht „Satzungen“ – wie wiru der Unzwei|deutigkeit wegena mit dem sonst von St[ammler] gebrauchten Ausdruck sagen wollen – verbundene Mehrheit von Menschenb nur ein absolutc isoliertes Individuum in Betracht, während an den verschiedensten andren Stellen St[amm­ ler] selbst von mehreren coexistenten Individuen spricht, deren Verhältnisse zu einander nurd nicht durch „Satzungen“ geregelt

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R[obinson]’s, Interesse) nützlich gehalten haben,e ihm das Sprechen beizubringen, – was nun freilich beim Hunde nicht möglich ist.f Geschähe dies, dann würde, so scheint es nach St[ammler]’s Bemerkungen S.  96 unten,97 da die Sprache „primitive Convention“ sein soll, „Convention“ aber „geregeltes Zusammenleben“ ist,g „soziales Leben“h | jedesmal dann eintreten, wenn die beiden mit einander sprechen[,] und aufhören, wenn WL 571 dies nicht geschieht, – denn es ist ja doch im Übrigen Alles beim Alten geblieben. „Befehle“, „symbolischei Verständigungsmittel“ u. dgl. giebt es ja zwischen Mensch und Hund auch, und wenn Bräsig sagt: „Mang einen Menschen und einen Hund sind Prügel die beste Verbrüderung“,98 – so haben die Sklavenhalter, wie bekannt, dies Prinzip auch auf die Neger ausgedehnt. Der Leser entschuldigt diese lächerliche Casuistik vielleicht, wenn er (S.  106) liest, wiek St[ammler] triumphierend ausruft: „Von irgend einem Mittelding zwischen dem isolierten Zustand unseres Robinson undl dem geregelten (NB!) Zusammenlebenm mit seinem Freitag ist gar keine Rede; ein Zwischenstadium … ist undenkbar.“99 – Wirklich, einen etwas verständigeren Gebrauchn als unser Scholastiker hat die von ihm wegen ihrer Vorliebe für Robinson verspottete abstrakte Nationalökonomie1 doch immerhin vono Defoe’s unsterblicher Figur zu machen gewußt. | t  〈Norm〉 〈Norm〉    u  〈auch〉    a  〈sagen wollen〉 〈hier statt „Regel müßten〉   b  〈ein〉    c  absolut > absolut  d  〈durch „bloße Triebe“ oder „Instinkte“ causal bedingt werden, redet.〉    e  〈ihm, damit er seine Befehle〉    f  〈Dann würde allerdings〉    g  〈[??] ist〉    h  〈eingetreten sein〉    i  〈Zeichen“〉    k  daß > wie   l  〈seinem〉    m  〈ist〉    n  〈hat die von St[ammler]〉    o  〈ihm zu〉    97  Vgl. ebd., S.  96 f.: „Sobald diese Verständigung zu zusammenwirkendem Verhalten aber eingeführt wird, so ist der Begriff der äußeren Regelung des Zusammen­ lebens eingesetzt“. Im Handexemplar vermerkt Weber hinter „eingeführt wird“: „cf. die Thiere!“. 98  Gemeint ist Inspektor Bräsig, eine Figur des Mundartdichters Reuter, dessen Werke 1903 wieder aufgelegt wurden. Vgl. Reuter, Fritz, Olle Kamellen III: Ut mine Stromtid, 1. Theil, in: ders., Olle Kamellen III – Olle Kamellen IV. Sämmtliche Werke. Neue Volksausgabe in 8 Bänden, Band 5, 4.  Aufl. – Wismar: Hinstorff 1903, S.  1–208, hier S.  178. 99  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  106: „ein Zwischenstadium, das einen dritten selbständigen Begriff neben dem vereinzelten Dasein einerseits und dem gesellschaftlichen Leben zum andern Teile darstellt, ist nicht einsehbar“. Im Handexemplar versieht Weber die Passage mit einem doppelten Randstrich und zwei Fragezeichen sowie dem Kommentar: „Nur weil Robinson ein Begriff ist!“. 1  Gemeint ist möglicherweise die süffisante Bemerkung, ebd., S.  105: „Versenkt man sich dem gegenüber in die Lage des für die Jugend und die Nationalökonomie gleich unsterblichen Robinson“. Zu diesem Zusammenhang vgl. ansonsten Weber, Stammler, oben, S.  531 mit Anm.  77 und 78.

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und also diesep auch nicht als „Bestimmungsgrund“ ihres gegenseitigen Verhaltens anzusprechen seien. | Ein solcher Zustand würde also nach St[ammler] selbst dem „isoliert Hausen“2 begrifflich gleichstehen. Dabei findet dann aber alsbald eine zweite Erschleichung statt, indemq eine solche – von St[ammler] den Tierstaaten gleichgestellte – nicht durch „Satzungen“ geregelte Coexistenzr als „rein physisches“3 Zusammensein bezeichnets, t uund dadurchu der Leser zu der Vorstellung eines gänzlich beziehungslosena rein räumlich-zeitlichen Nebeneinander als desb einzig möglichen Gegensatzes zum „sozialen Lebenc“ veranlaßtd wird, –t während an anderen Stellene eingehend von der Herrschaft bloßer „Instinkte“, „Triebe“ u. s. w., also doch von „psychischen“ Constituenzienf eines solchen Beisammenseins gesprochen wird.4 Undg in dieser geflissentlichen Betonung des „Triebmäßigen“,h welche in dem Leser die Vorstellung dumpfer Unbewußtheit erweckt, liegt an den betreffenden Stellen wiederum eine Erschleichung:i Robinsons „Wirtschaft“k (S.  105 unten), von der ausdrücklich die Rede ist, gehört, obwohl sie bei Defoe keineswegs „instinktiv“, sondern grade teleologisch „rational“ gebildet wird, ja ebenfalls nach St[ammler] nicht in den Bereich desl „äußerlich geregelten Sichverhaltens“, sondern der „bloßen Technik“:m 5 also auch rationales Zweck-Handeln nund zwar,o wenn Stammler irgend consequent sein will, auch Zweckhandeln Andren „gegen-

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p  〈seien, sondern bei denen – dem Wesen nach – 〈wie〉 den Tiergemeinschaften entsprechend, lediglich durch „Triebe“ und „Instinkte“〉 〈also〉    q  〈behauptet wird, eine〉    r  〈sei wie eine〉    s  〈wird〉    t–t Einfügung vom linken Blattrand.   u–u  wodurch > und dadurch  a  〈Nebeneinander〉    b  der anderen Alternative > des    c  Lebens > Leben    d  verführt > veranlaßt    e  〈von〉    f  〈der〉   g  Aber auch > Und  h  〈welches einer solchen – nicht durch „Satzungen“〉   i  〈auch〉    k  〈s. Anm. auf S. )〉    l  〈satzungsmäßig〉    m  〈diese bildet hier plötzlich den 〈wie〉 den Gegegnsatz gegen〉    n–n (S.  605) Einfügung vom linken Blattrand.  o  〈auch wo einmal teleologisch zweckmäßig〉 〈zweckvoll〉    2  Stammler, Wirtschaft2, S.  105, ist von einem „gänzlich isoliert hausenden Menschen“ die Rede. 3 Für Stammler, ebd., S.  95, kann man „zwischen einem bloß physischen und zwischen einem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen unterscheiden“. Im Handexemplar „bloß physischen“ unterstrichen, mit doppeltem Randstrich und dem Kommentar: „Erschleichung!“ versehen. 4  Möglicherweise bezieht sich Weber auf ebd., S.  23: „Der Mensch ist ein mit sozialen Instinkten ausgerüstetes Lebewesen; mit Trieben versehen, die ihn zu einer andauernden Geselligkeit mit seinesgleichen bewegen“. 5  Zu beiden Zitaten vgl. oben, S.  602, Fn.  10.

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über“, d. h. mit | der bewußten Absicht, pihr Handeln planvollp zu beeinflussen[,]n gehörtq in dem Falle nicht in den Umkreis „sozialen Lebens“, wenn es nicht durch „Satzungen“r normiert ist. Die „logischen“ Consequenzen davon haben wir uns schon früher verdeutlicht,6 hier ist nur festzustellen, daß auch Stammler sie an einer Stelle (auf S.  100 unten, 101 oben)s tanerkennt.7 Freilich,t wieder an einer anderen Stelle (S.  97 unten,8 98 oben) macht er den Vorbehaltu, daß schon die Benutzung der Sprachea eine „conventionelleb Regelung“ menschlichen Verkehrs bedeute, also soziales Leben constituierec. dNun ist zwar jede Benutzung e„sprachlicher“ Mittele eine „Verständigung“,9 – aberf weder ist sie selbst eine Verständigung über Satzungen, nochg beruht sie auf „Satzungen“. Dies letztere behauptet zwar Stammler, weil –d die Sätze der Grammatik Vorschriften seien, deren „Erlernung“ ein bestimmtes Verhalten „bewirken solle“.10 Das ist im Verhältnis des Sextaners zu seinem Lehrer in der That richtig, und um diese Art der „Erlernung“ einer Sprache zu ermöglichen, haben in der That die „Grammatiker“ die empirischen Regelmäßigkeiten der Sprach­thätigkeit in ein System von Normen, deren Innehaltung mit dem Bakel11 erzwungen wird, p–p  sie > ihr Handeln planvoll  n (S.  604)–n Einfügung vom linken Blattrand.   q  〈dann〉    r  〈ganz〉    s  〈nur〉 〈offenbar〉    t–t  anerkennt und nur, da > anerkennt. Freilich,    u  〈macht〉    a  〈, da sie eine „Verständigung“ bedeute,〉   b  „äußere > „conventionelle  c  〈, weil in jeder Sprache eine〉    d–d Einfügung vom linken Blattrand.    e–e  der Sprache > „sprachlicher“ Mittel    f  〈doch〉   g  〈setzt sie〉    6  Weber, Stammler, oben, S.  536 f. 7  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  100 f.: „Vor allem kann der so in der Erfahrung konstituierte Begriff des sozialen Lebens durch die gesteigertste Verwertung ethischer Gesinnung bei den in gänzlicher Isoliertheit gedachten Menschen niemals hervorgebracht werden. Mag in diesen Gedankenbildern der eine dem andern gegenüber, und dieser auch für jenen vernunftgemäß wollen und nach gesetzmäßiger Erwägung wünschen, und in allgemeingültiger Rücksichtnahme auf die umgebenden anderen Isolierten ein jeder sein Begehren zügeln: immer bleiben sie isoliert. Es wird nicht eine Verbindung und ein gesellschaftliches Dasein geschaffen, welches über die Summe von lauter isoliert gedachten Einzelindividuen hinausgeht.“ 8  Vgl. ebd., S.  97 Mitte. 9  Vgl. ebd., S.  96: „Aber wie will man sich […] eine solche Gemeinschaft empirisch vorstellen ohne alle und jegliche Verständigung der einzelnen unter einander?“. Im Handexemplar ist die Passage mit einem doppelten Randstrich und dem Kommentar versehen: „plötzlich faktische Schwierigkeit! cf Tönnies“. 10  Vgl. ebd., S.  97. Stammler spricht an dieser Stelle nicht von „Satzungen“, sondern von „einer […] konventionalen Regelung“. 11 Rohrstock.

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bringen müssen. Aber St[ammler] selbst sagth S.  97 unten, daß ein „gänzlich isoliertes Nebeneinanderleben“ nur dann vorstellbar sei, wenn auch von eineri „Übereinstimmung“ in „Sprache und Gebärde“ (NB!) „abstrahiert“ werde.k 12 | Hierl rächt sich die Erschleichung, welche in der Antithese: m„satzungsmäßig geregeltes Zusammenleben“m – „gänzliche Isoliertheit“ liegt.n 13 Denn die zuletzt erwähnte Bemerkung ist richtigo[,] aus ihr ergiebt sich aber, daßp einerseits das Faktum der „Übereinstimmung“q, gleichviel wie es causal entstanden ist, ob durch „Satzung“ oder durch unwillkürlicher psychisches Reaktionen, „Reflexe“, „Ausdrucksbewegungen“, „Instinkt“ oder dergl.t[,] genügen muß[,] um „soziales Leben“ zu konstituieren, daß also andrerseits auch die Tiere, trotz allen Geredes von Stammler auf S.  87–94, nach seiner eignen Begriffsbestimmung nur dannu ein nicht soziales Lebena führen, wennb es ihnen an übereinstimmender „Gebärde“c d e– allgemeiner gesagt: ane „Verständigungsmitteln“, denn unter diesen Begriff fällt all Das, wovon hier die Rede ist –f gänzlich gebricht,d und daßg vollends die Menschen überall schon dannh ein soziales Leben führen, wenn faktisch „Verständigungsmittel“ welcher Art immeri nachweislich sind, mögen diese nunk | durch menschliche „Satzungen“ geschaffen sein oder nicht.l Dies kann aber nicht wohl Stammlers Ansicht sein. mDenn aufm S.  106 (zweiter Absatz) wirdn die damit unvereinbare, grade entgegengesetzte Ansicht, daß nur, wo eine „Satzung“o geschaffen worden seip, „soziales Leben“ existent werde, in folgendemq etwas h  〈sagt gem[äß]〉    i  〈(faktischen)〉    k  〈Hier wird also die Faktizität der Übereinstimmung gleichviel wie sie entstanden ist als genügend angesehen, um „soziales Leben“ zu constituieren.〉    l  Es > Hier > Hier  m–m  „soziales Leben“ > „satzungsmäßig geregeltes Zusammenleben“    n  〈Das〉    o  〈, und daraus〉    p  〈auch ein〉    q  „Übereinstimmung“ > „Übereinstimmung“  r  〈Reaktionen〉    s  〈Reflexe〉    t  〈muß Stammler〉 〈genügen〉    u  〈wirklich〉    a  〈führen in „bloßer Coexistenz“〉    b  〈die „Gebärden“ ihnen〉    c  〈(gemeint sind〉 〈differenziert〉   d–d Einfügung vom linken Blattrand.   e–e  d. h. in ihren > – allgemeiner gesagt: an  f  〈nicht überwiegend〉    g  〈also〉    h  〈und insoweit kein〉    i  〈bestehen〉   k  auf „Satzung“ beruhen > causal der > nun  l  〈Soviel〉 〈Die „Geltung“ der〉   m–m  Auf > Denn auf  n  〈nun aber so nachdrücklich wie möglich betont〉    o  〈em­ pirisch〉 〈empirisch〉    p  ist > sei  q  dem > folgendem   12  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  97: „Sobald […] jemand ein gänzlich isoliertes Nebeneinander von intellektuell und ethisch vorgeschrittenen Menschen in Gedanken vorstellen will, muß er auch von einer Übereinstimmung derselben in Sprache und Gebärden Abstand nehmen.“ 13  Vgl. oben, S.  601.

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naiven Satze ausdrücklich vertreten: „Wollte Jemand … seine Phantasie in eine Periode menschlicher Existenz … hineinversetzen, da allgemach (NB!) in den Gemütern … ein Drängen zu einem Aneinanderschließen unter äußeren Regeln sich entwickelte …: so käme doch alles (NB!) auf den Zeitpunkt der Neuentstehung (NB!) solcher Satzungen (NB!) an. Von da an haben wir soziales Leben, vorher nicht; ein Zwischenzustand … hat keinen Sinn“ (!)11).r Daß dems juristischen Scholastiker tdie Entwicklungt „sozialen Lebens“ nuru in der Form eines Staatsvertragsa möglichb erscheint, ist ja nichts cNeues. Wiec „echt“ aber die Scholastik ist, ersieht man auf S.  107 oben, wo „Entwicklung“ und „begrifflicher Übergang“d einander gleichgesetzte und also mit der logischen Unmöglichkeit des letzterenf –g die Wortverbindung: „begrifflicher Übergang“ ist in der That ja ein Ungedanke – auch die empirische Unmöglichkeit des andren alsh erwiesen angesehen wird. | Geradei wenn aber ein solcher „Übergang“ „undenkbar“ sein soll, wird nun die Frage doppelt brennend, welches denn das entscheidende Merkmal für die Neuentstehung oder, noch allgemeiner, für kdas Bestehenk einer „Satzung“ sein soll. lDa die Wilden keine Gesetzbücher zu besitzen pflegen, so könnte darauf doch wohl nur geantwortet werden: jenes Merkmal ist ein Verhaltenm der Menschen, welchesn juristisch geredet für das Bestehen der Norm „konkludent“o ist. Wann aber ist dies der Fall? pEtwa nurp dann, wenn sie inq der Vorstellung der Menschen lebt, wenn diese also subjektiv bewußt nach „Norm“-Maximen leben – oder sie

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11) „Hat keinen Sinn“ heißt natürlich, bei Licht besehen, nur: „paßt nicht in mein A 17 WL 573 (St[ammler]’s) begriffliches Schema.“ |

r  〈In der〉    s  für den > dem  t–t  der Übergang von „gänzlicher Isoliertheit“ zum > die Entwicklung  u  〈durch einen〉    a  〈(empirisch)〉    b  〈ist, das ist〉   c–c A: Neues, und wie > Neues, Wie  d  〈letzteres ein beiläufig bemerkt, logisch monströser 〈Ungedanke〉 Terminus〉    e  〈werden〉    f  einen > letzteren   g  〈schon〉    h  〈abgethan〉    i In A geht voraus: 〈Da die „Neuentstehung“ von „Satzungen“ aus einem vorhergegangenen gänzlich „satzungslosen“ Zustand durch einen 〈solchen〉 Vertrag nur in Robinsonaden vorkommt, 〈so ist es〉 – mit denen freilich, wie wir sahen, Stammler als Beweismittel operiert – 〈so ist es trotz Allem fraglich〉 so fragt sich unter allen Umständen: was soll das entscheidende Merkmal dafür sein, daß eine „Satzung“ empirisch neu entsteht, oder, 〈richtiger gesagt〉 allgemeiner ausgedrückt, daß sie „besteht, daß also ein bestimmtes äußeres Verhalten von Menschen〉    k–k  die Existenz > das Bestehen  l–l (S.   608) Einfügung vom linken Blatt­rand.   m  〈, welches〉    n  〈die〉    o  〈ist〉    p–p  Vielleicht > Etwa nur   q  Fehlt in A; in sinngemäß ergänzt.  

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auch verletzen, wissend aber, daß eben eine „Verletzung“ einer Norm vorliegt? Aber das subjektive innerliche Sich-Verhalten zur Rechtsnorm und überhauptr das Wissen von ihr soll jas doch, nach Stammler, für die Existenz der Norm irrelevant sein, „dumpfe Gewöhnung“ (s. o.)14 leistet nach ihmt ja Dasselbe wie eine bewußteu „Norm-Maxime“. Also käme es darauf hinaus, daß das Bestehen einer „Satzung“ daran erkennbar ist, daß die Menschen sich äußer|lich so verhalten, als ob eine Satzung bestände? Aber wann ist dies der Fall?a l Der Vorgang des bSäugens des Kindes durch die Mutterb ist vom „Preußischen Allgem[einen] Landrecht“, welches diese Leistung der Mutter gesetzlich anbefiehlt,15 zu einem Bestandteil des „sozialen Lebens“ in Stammler’s Sinn gestempelt.c Die preußische Mutter, welche ihr Kind säugte, wußte dvon dieser „Norm“d im Allgemeinen wohl ebensowenig wie ein Austral­ negerweib,e 16 welches die gleiche Leistung mit mindestens der gleichen Regelmäßigkeit vollzieht, davon etwas weiß, daß ihrf das Säugen nicht durch „äußere Regeln“ auferlegt worden istg und daß infolgedessen nach Stammler hdieser Vorgangh dort zu Lande offenbar nicht Bestandteil des „sozialen Lebens“ ist, auch nicht etwa in dem Sinn des Bestehens einer entsprechenden „conventionellen“i Norm, – es sei denn, daß man eine solche jganz einfachj schon da als kvorhanden ansähek, wo ein gewisses Maß rein empirischerl „Regelmäßigkeit“ des Verhaltens zu constatieren ist. Ganz gewiß „entwickeln“ sich – wieder auf die subjektive Seite gesehen – „conventionelle“ Normvorstellungenm empirisch sehr r  auch > überhaupt  s  〈grade〉    t  〈ja hier〉    u  〈Anpassung〉    a  〈Das Verhalten kann ja natürlich, physisch und „psychisch“, ganz das Gleiche sein, ob nun eine entsprechende „Satzung“ existiert oder nicht.〉    l (S.  607)–l Einfügung vom linken Blatt­rand.   b–b  Kindersäugens > Säugens des Kindes durch die Mutter  c  〈Dem Weibe des Naturmenschen schreibt ihn Niemand vor.〉    d–d  das > von dieser „Norm“  e  〈welches〉    f  〈diese von Niemand als rechtliche oder juristische Pflicht〉    g  〈, Soll nun das Kindersäugen〉    h–h A: diese Leistung > dieser Vorgang 〈damals〉    i  〈Pflicht〉    j–j  eben > ganz einfach  k–k  existent ansieht > vorhanden ansähe  l  empirischer > empirischer    m  〈und〉    14  Oben, S.  598 mit Anm.  77; Zitat aus Stammler, Wirtschaft2, S.  99. 15  Vgl. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten nebst den ergänzenden und abändernden Bestimmungen der Reichs- und Landesgesetzgebung. Mit Erläuterungen von H. Rehbein und O. Reincke, Reichsgerichtsräthen, Band 3, 5., verbesserte Aufl. – Berlin: H. W. Müller 1894, S.  143 (§  67): „Eine gesunde Mutter ist ihr Kind selbst zu säugen verpflichtet.“ 16  Vgl. Cunow, Heinrich, Die Verwandtschafts-Organisationen der Australneger. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Familie. – Stuttgart: J. H. W. Dietz 1894.

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oft aus rein faktischen Regelmäßigkeiten, aus einer unbestimmten Scheu, von dem überkommenen faktischen Verhalten abzuweichen, ausn dem Befremden und der daraus erwachsenden Abneigung, deneno eine solche Abweichung von dem faktisch seit längeren Zeiträumenp beobachteten Verhalten, wo sie vorkommt, bei Andern begegnet, oder aus derq Besorgnis, daß Götter oder Menschen, deren (rein egoistisch gedachte) Interessenr dadurch verletzt werden könnten, Rache üben möchten.s Und es kannt dann aus der Furcht voru „ungewohntem“ Verhalten die Vorstellung der „Pflicht“ zur Beobachtung des, rein faktisch, „Gewohnten“, aus der rein triebhaften oder egoistischen Abneigung gegen „Neuerungen“a und „Neuerer“ ihreb „Misbilligung“ werden. | Aber wann nunc dies subjektive Verhaltend im konkreten Fall den Gedanken dere „Satzung“f in sich enthält – das würdeg im Einzelfall sicherlich recht oft flüssig bleiben.h Wenn es aberi vollends auf denk „subjektiven“ Thatbestand, die „Gesinnung“, nach St[ammler] nicht ankommen soll, dann fehlt überhaupt jedes empirische Merkmal: das l„äußere“m Verhalten (Säugen) ist jan ganz dasselbe geblieben. Und wenn es sich unter dem Einfluß des Entstehens von „Norm“-Vorstellungen allmälig wandelt, dann ist es einfach Meinungssache, wann mano aus ihm die empirische Existenz einer „äußeren“ („conventionellen“ oder „rechtlichen“) Norm erschließen will.l | Da nun jenes in den „Gemütern“ der „gänzlich (NB!) isoliert lebenden“ Urmenschen entstehende zweck- und zielbewußte „Drängen“ nach „Satzungen“ in Stammler’s begrifflichem Sinn natürlich ein Unsinn istp,17 so bliebe, also, in seinem „Stil“ gedacht, n  〈der Misbilligung〉    o A: die    p  〈Geübten〉    q  〈weiterhin entstehenden Furcht,〉    r  Interessen > Interessen  s  〈Aber eben dies zeigt〉    t  〈können so auch〉    u  〈Änderung〉    a  〈Misbi ihre〉    b  〈sittliche oder〉    c  〈einer〉   d  〈den〉    e  〈„Rechtsnorm“ oder der〉    f  〈konkludent〉    g  ist > würde   h  〈Und〉    i  〈Aber daß nun irgendwann eine ausdrückliche „Satzung“ über das, was künftig als „Norm“ gelten solle, eintritt, ist〉    k  das > den  l–l Einfügung vom linken Blattrand.   m  In A geht voraus: 〈„äußere“ Verhalten〉    n  〈vielleicht ganz〉 〈einfach〉    o  〈es unter den Begriff „conventionell“ oder „rechtlich“〉 〈Aber keineswegs führen〉    p A: und 〈St[ammler] vermutlich sicherlich〉 〈wie gesagt, Stammler selbst die Unterstellung, er glaube an die Möglichkeit seiner Realität, wenngleich aber freilich keineswegs sicher, weit von sich weisen würde〉    17  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  106, wo vom „isolierten Zustande unseres Robinson“ die Rede ist.

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für die –q von St[ammler] selbst ja ausdrücklich angeschnittene – Frage, wie man sich denn alsdann die empirische Entstehung von „sozialem Leben“ aus einem tierartigen Aggregat überhaupt rirgendwie vorstellenr könne, schließlich nur dies Antwort:t sie ist schlechthinu nicht als empirischer Vorgang in der Zeit denkbar: das „soziale Leben“ ist sozusagen, „transtemporal“12), weil mit dem Begriff „Mensch“ gegeben,a eine Auskunft, die freilich eben – keine Antwortb auf eine empirische Fragestellung wäre, sondern eine Mystifikation.c 18 Und doch istd sie die unvermeidlichee Rückzugspfortef, wenn mang aus der gedanklichen Möglichkeit,h einen bestimmteni „Begriff“ kdes „sozialen Lebens“k aufzustellen, auf die faktische Unmöglichkeit schließt, daß ein diesem Begriff entsprechender empirischer Thatbestand in der Wirklichkeit nichtl anders zu stande gekommen sein könne, alsm so, daß dien empirischen Menscheno just die Aufgabe der „Verwirklichung“ jenes „Begriffes“p als das Ziel ihres Handelns betrachtet hätten. – Denn wenn man von dieser qnaiven Pragmatikq rAbstand nimmtr, sos bietet natürlich die hypothetische Vorstellung eines „allmälichen“ Erwachenst von „Norm-Vorstellungen“, des Glaubensu also, daß gewisse (mit Stammler’s eignen Worten zu reden) „in dumpfer Gewöhnung“a 19 durch endlose Zeiträume hin ohne jeglichen Gedanken an ein A 19  WL 575

12) Es scheint mir kaum zweifelhaft, daß F[riedrich] Gottl’s (Die Grenzen der Geschichte)b Dem entsprechende Behauptungc 20 für das „historische“ Leben irgendwie durch den Einfluß Stammler’scher Aufstellungend mit beeinflußt ist. St[ammler] selbst braucht den Terminus nicht[.] |

q  〈hier von〉    r–r  denken > irgendwie vorstellen  s  folgende > die  t  〈Entweder〉    u  〈unter〉    a  〈Oder? D[a] das eben keine Antwort ist, d. h. sie erfolgte〉 〈Ich bezweifle, daß Stammler was〉    b  〈wäre〉    c  〈Denn wir erleben nun einmal den〉 〈die freilich aber〉    d  〈jene 〈Antwort〉 Antwort〉    e  〈Consequenz davon ist,〉   f  〈ist〉    g  〈„begrifflich“〉    h  〈für gewisse menschliche Lebensbeziehungen〉   i  〈„begrifflichen“〉    k–k  von menschlichem Sichverhalten > des „sozialen Lebens“  l Fehlt in A; nicht sinngemäß ergänzt.   m  〈dadurch〉    n  〈an 〈jenem〉 diesem Thatbestand beteiligten〉    o  〈sich〉    p  〈sich zur〉    q–q  〈scholastischen〉 emanatistischen Voraussetzung > naiven Pragmatik  r–r  absieht > Abstand nimmt  s  〈macht〉 〈fallen natürlich alle Schwierigkeiten fort〉    t  〈der Vorstellung, daß gewisse〉    u  Gedankens > Glaubens  a  〈geübte〉    b  〈ganz〉    c  〈in durch St[ammler]〉    d  Gedanken > Aufstellungen   18  Vgl. Weber, Stammler, oben, S.  499 mit Anm.  44. 19  Vgl. oben, S.  598 mit Anm.  77. 20  Gottl, Grenzen, S.  142.

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„Sollen“ oder gar eine „Satzung“ „triebhaft“ geübte Handlungen „Pflichten“ seien, deren Unterlassung irgend einene unbestimmt gefürchteten Nachteil bringen könne,f keinerlei sachliche Schwierigkeiten, – auchg der Hund hat „Pflichtgefühl“ in diesem Sinn.21 Freilich, die Vorstellung, daß solcheh „Pflichten“i, wie Stammler will,k auf „menschlicher Satzung“l beruhten, daß sie ferner, im Gegensatz zur „Ethik“, „nur äußere Legalität“22 beanspruchten u. s. w., – dieser Stammler’sche Begriffskram fehlt | selbst bis an die Schwellem unsrer, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, „historischen“ Kunde. nHält man dieo Notwendigkeit des (empirischen) Bestehens einer „Satzung“ für einen Vorgang aus der | Welt des menschlichen Handelns fest, dann hat sich der dadurch umschriebene Umfang des „sozialen Lebens“ constant durch ganz allmälichen Übergang reiner Faktizitäten in „äußerlich geregelte“ Vorgänge verschobenp, und wir können, zumal wenn man (wie St[ammler] thut) die „Convention“ einbezieht, diesen Vorgang fortgesetzt beobachtenq. St[ammler]’s vorsorglich offen gehaltene Ausflucht (S.   106 unten), daß dies nur eine Entwicklung des „Inhalts“ des sozialen Lebens bedeute, dessen Existenz aber schon vorausgesetzt werde, besagt natürlich zum Beweise der Undenk­ barkeit eines „Übergangs“ schon deshalb nichtsr, weil für keinen Bestandteil dessen, was St[ammler] heute zum „sozialen Leben“s rechnen würde, eine ähnliche Entwicklung ausgeschlossen werden kann.23 Überdies aber ist auch der Begriff „äußerlicher Normen“ als Merkmal des „sozialen“ Lebens im Gegensatz zum „sittlichen“t für die empirische Betrachtung ganz unbrauchbar.n 24 Einerseits verlangt auch alleu „primitive“ Ethik grade „äußere“ Legalität und istv von „Recht“ und „Convention“ empirischa nirgends scharf zu scheiden[,] andrerseitsb sind die primitiven „Normvorstellungen“[,]

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e  〈unbekannten〉    f  〈nicht die geringsten Schwierig〉 〈nicht den Schatten einer Schwierigkeit und dann〉    g  schon > auch  h  diese > solche  i  〈zwar nicht〉   k  〈auf〉 〈durch〉    l  〈, wohl aber durch göttlichen Willen als „Normen“〉    m  〈der〉   n–n Einfügung vom linken Blattrand.   o  〈Stammler’sche〉    p  erweitert > verschoben  q A: beobachtet  r A: nicht  s Ausführungszeichen fehlt in A.   t  〈für historische〉    u  die > alle  v  〈ein〉    a  〈nicht〉    b  〈ist ihr das „Recht“ nicht etwas menschlich〉    21  Anspielung auf das Hundebeispiel, oben, S.  602, Fn.  10. 22  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  85 („äußere Legalität“), 98, 101, 129. 23  Vgl. ebd., S.  106 f. 24  Vgl. oben, S.  599 mit Anm.  82.

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die „Normen“ gerade nicht „menschliche“c, sondern[,] wenn die Frage nach dem woher?d der Norm überhaupt auftritt,e regelmäßig göttliche „Satzungen“. Schwierigkeiten würdef demg Ethnographen dieh Frage, wie die einzelnen Componenten unseres heutigen Begriffesi z. B. von „Recht“ und „Rechtsnormen“ kentstanden sein könntenk, wahrlich in Hülle und Fülle bereitenl[,] und faktisch bleibtm ihm eine historischn zuverlässige Kenntnis vielleicht dauernd versagt, – aber sicherlicho würde er sich nicht in die lächerliche Rolle des juristischen Scholastikers begeben, der gegenüberp den Erscheinungen des Lebens primitiver Völkerq immer wiederr nur die einfältige Frages stellen müßtet: bitteu,a gehört dieser Vorgang nunb unter die Kategorie: äußerlich, das heißt durch menschliche Satzung geregeltes Verhalten (im Sinnc von Stammlers Werk über „Wirtschaft und Recht“ Seited 77 ff.)[,] odere gehört er unter: rein triebhaftes Zusammenleben (im Sinn von S.  87 ff.)? – eines von beiden muß erf unbedingt sein, sonst könnte ich mit meinem Schema ihn nichtg begrifflich klassifizieren, – undh er wäre folglichi – schrecklich genug – für mich „undenkbar“. –k Genug dieser Auseinandersetzungen mit einer Doktrin, welche, weil sie den „Sinn“ der Begriffsbildung misversteht[,] fortwährendl den Erkennenden undm das Erkannte in einander schiebt, | wie nzum Schluß nochn folgender schöne Satz (S.  91) über den „uns in der Erfahrung (NB!) entgegentretenden (!) Begriff (NB!) des sozialen Lebens“ ozeigen mögeo: „… Dieses empirisch gegebene (NB!) c  〈Satzungen〉    d  〈aus〉    e  〈zumeist〉    f  macht > würde  g  〈Culturhistoriker nur〉    h  〈Erforschung〉 〈Untersuchung,〉    i  〈: „Recht“〉    k–k  entstanden sind > zu entstehen pflegen > entstanden sein könnten  l  〈aber auch ihre Bewältigung ist lohnender als die Construktionen eines windigen Scholastikers wie Stammler, der mit seiner angesichts dieses〉    m  〈es〉    n  〈zuversichtliche〉    o  〈allerdings nicht die „Schwulitäten“ eines〉    p  〈den Sitten〉    q  〈ausschließlich und〉    r  〈die Frage bereit hätte〉 〈wieder und〉    s  〈zu stellen〉    t  wüßte > müßte  u A: „bitte  a  〈ist dies〉    b  〈eine Satzung? 〈im äußern〉 – nicht: Regelung〉    c  〈von〉 〈meines Werkes〉    d  〈Seite〉    e  〈nicht? – ist er gänzlich isoliertes Zusammen〉   f A: es > er 〈sein,〉    g  〈unter〉    h  〈mein schöner〉    i  〈denkunmöglich〉   k  〈Der Vorgang des〉 〈Der ganze Begriff „soziales Leben“ ginge in die Brüche! denn er paßte ja dann nicht in mein begriffliches Schema.〉 〈gegenüber〉 〈Säugens des Kindes durch die Mutter gehört im Preußischen Landrecht, welches diese〉 〈für diese [?]〉 〈Daß die Mutter ihr Kind säugt, ist, nach〉 〈Leistung der Mutter zur Pflicht macht, zu den „äußerlich geregelten“. Daß es bei der〉 〈Stammler’s Terminologie, ein „soziales Verhältnis“ zweifellos unter dem Preuß[ischen] Allg[emeinen] Landrecht, welches ihr diese Thätigkeit gesetzlich vorschreibt.〉    l  〈Begriffe〉    m  〈Begriffenes〉    n–n  z. B. > zum Schluß noch  o–o  recht hübsch zeigt > zeigen möge  

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soziale Leben ruht“25 (empirisch, kann das doch wohl nur heißen) „auf äußerer Regelung“ (zweideutig, wie wir wissen), „die es“p (doch wohl: jenes Faktum) „als besondren Begriff (!) und eigenen Gegenstand begreiflich“ (also: ein „Begriff“, der „begreiflich“ wird!) macht; weil wir in ihr (der „Regelung“ nämlich: zweideutig) „die Möglichkeit sehen,q … eine Verbindung unter den Menschen zu begreifen (NB!), dier von der bloßen Feststellung (!) der natürlichen Triebfedern des einzelnen an sich unabhängig ist“s 26 (also: ein empirisches Faktum: eine „Verbindung von Menschen“, – welchest vonu unsrer Erkenntnis gewissera andrer empirischer Thatsachen empirisch „unabhängig“ ist). | Nochmals, genugb von diesem Wirrwarr:c man müßte,d wollte man alle Fäden dieses Netzes von Sophismen, welches Stammler seinen Lesern, aber vor Allem auch sich selbst, über den Kopf geworfen hat,e lösen, im wörtlichsten Sinn des Wortes jeden Satz des Buchs nehmen und ihn auf seine Widersprüche mit sich selbst oderf mit andern Sätzen desselben Buchs hin analysieren. gHierh sei nur noch festgestellt, iauf welchem Irrtumi denn eigentlich die törichte Behauptung von der „Undenkbarkeit“ jenes „Übergangs“ beruht.27 Ein solcher, jeden „Übergang“ ausschließender Gegensatz besteht in der Thatk dann, wenn man das „ideelle“ Geltensollenl einer „Norm“ irgend einem rein „faktischen“ Thatbestand gegenüberstellt, z. B. dem faktischen Handeln empirischer Menschen. Dieser Gegensatz ist freilichm gänzlich unversöhnlich, und ein „Übergang“n isto begrifflich „undenkbar“, – aber aus dem höchst einfachen Grunde, weil es sich in diesem Fall um p  〈(das [?] zu Begreifende〉 〈das〉    q  〈über die den einzelnen als solchen〉    r  〈(nämlich „Verbindung“) nicht eine empirisch (nämlich) bestimmenden Triebfedern hinauszugehen nach allen „Normen“ der Grammatik〉 〈Die〉 〈Diese Verbindung, welche〉   s  〈also nicht ein zusammen〉    t  〈„unabhängig“ ist davon, daß wir, die wir sie erkennen wollen,〉    u  〈der〉    a  〈„Triebfedern“〉    b  〈davon〉    c  〈es ist nicht möglich,〉    d  〈um alle〉    e  〈zu〉    f  〈um〉    g–g (S.  614)  Einfügung vom linken Blattrand.  h In A geht voraus die eigenhändige Anweisung: Absatz!  i–i  wo­ rauf > auf welchem Irrtum  k  〈, wenn man〉    l  〈der „Regel“ jedem faktischen〉   m  in der That > freilich  n  〈dazwischen〉    o  〈nicht denkbar〉    25  Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  91. Im Handexemplar doppelte Unterstreichung von „ruht“ und Webers Randkommentar: „faktisch? begrifflich?“. 26 Ebd. heißt es: „Feststellung des natürlichen Trieblebens“. Im Handexemplar ist „Feststellung“ doppelt unterstrichen, mit einem doppelten Randstrich und dem Kommentar versehen: „! Erkenntnis-Sache!“. 27  Vgl. oben, S.  603, Fn.  10 mit Anm.  99 und S.  607, 611.

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ganzp verschiedene Fragestellungen und Richtungen unsres Erkennens handelt: in einem Fallq dogmatische Betrachtung einer „Satzung“ auf ihren ideellen „Sinn“ hinr und „werthende“ Messung des empirischen Handelns an ihr, – im andren Fall Feststellung des empirischen Handelns als „Thatsache“ und causale „Erklärung“ desselben. Diesen logischen Sachverhalt, daß es zwei derart verschiedene „Gesichtspunkte“ der Betrachtung für unser Erkennen giebt, projiziert nun Stammler in die empirische Wirklichkeit. Dadurch entsteht auf Seiten der letzteren jeners Unsinn der „be-| grifflichen“ Unmöglichkeit eines „Übergangs“.t Und auf der Seite der Logik ist die angerichtete Confusion nicht geringer: hier werden umgekehrt die beiden logisch absolut heterogenen Fragestellungen constant vermischt. Durch eben diese Vermischung hatu Stammlera seiner selbstgestelltenb Aufgabe: Abgrenzung des Gebiets und der Probleme der „Sozialwissenschaft“, unübersteigliche Hindernisse geschaffen. Dies wird sofort erkennbar, wenn wirg jetztc unsere Aufmerksamkeit den abschließenden Betrachtungen am Schluß des ersten Abschnitts dieses (zweiten) Buchs zuwenden (S.  107 f.).28 Hierd kommt Stammler auf das Prinzip seiner Problemstellung zu sprechen. Die „Sozialwissenschaft“ müsse in ihrer grundlegenden Eigenart gegenüber „der (!) Wissenschaft von der Natur“ „ausgeführt“,e das heißt offenbar: ihr gegenüber abgegrenzt werden. Den „Bestand“f (! – soll heißen: „Gegenstand“ im Sinn von „Wesen“) der „Naturwissenschaft“g hält Stammler (a. a. O. Absatz 3)29 für „philosophisch gesichert“. Wirklich? Bekanntlich ist in den logischen Erörterungen der letzten 10 Jahre schlechthin nichts so bestritten, alsh eben diese Frage.30 In den früheren p  〈heterogene〉    q  〈Betrachtung einer〉    r  〈, im〉    s  der > jener  t  〈Auf〉   u  will > hat  a  〈an eine〉    b  eignen > selbstgestellten  g (S.  613)–g Einfügung vom linken Blattrand.   c  In A geht voraus: 〈Wir werden ohnehin noch meh­ rere Male auf die oben bespro[chenen]〉 〈zu solchen Analysen genötigt sein, wenden aber〉    d  〈heißt〉    e  〈(!) soll heißen: also doch〉    f  〈(!) soll doch wohl auch ihr〉   g  〈– soll offenbar zweifellos heißen: ihr Wesen und ihren Gegenstand –〉    h  〈aber〉    28  Die Überschriften lauten: „Zweites Buch. Der Gegenstand der Sozialwissenschaft“, „Erster Abschnitt. Soziales Leben der Menschen“ und (zum Schluß) „21. Über Möglichkeit und Notwendigkeit des sozialen Lebens“, Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S.  107– 111. 29  Ebd., S.  107. 30  Möglicherweise Bezug auf die Kritik, die Mach im Anschluß an Gustav Kirchhoff an der mechanistisch-deterministischen Physik übt, deren realistische Ontologie er durch

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Abschnitteni haben wir bereits nicht weniger als vierk möglichel Arten von „Natur“-Begriffen kennen gelernt (S. _ _ _).m 31 Kein einziger davonn aber wäre als Gegensatzo des Stammler’schen „äußerlich geregelten Zusammenlebens“ verwerthbar.p 32 | Diejenigen Naturbegriffe (S. __), welcheq einen Teil der empirisch gegebenen Wirklichkeit in einen Gegensatz zu einem andern, in letzter Linie zu den sog. „höheren“ Funktionen des Menschen, stellen, passen schon deshalb nicht, weil z. B. das ganze Gebietr der „nur“ ethischen, das „innere“ Verhalten betreffenden, Normen von Stammler als außerhalb seines Begriffs liegend ausgeschieden wurde. sAus dem gleichen Grunde ist auch der Gegensatz von „Natur“ als dem „Sinnlosen“ gegenübert einem auf seinen „Sinn“ hinu angesehenen Objekt nicht verwerthbar, weila keinesfalls allesb „Sinnvolle“, nicht einmal alles „sinnvolle“c menschliche Handeln, unterd St[ammler]’s Begriffe des „äußerlich Geregelten“ fallen würde.s Der logische Gegensatz von „naturwissenschaftlicher“ Erkenntnis als der generellenf (nomothetischen) gegenüber der individuellen (historischen)g bleibt ganz außerhalb von St[ammler]’s Gesichtskreis.33 Der Gegensatz vonh „naturalistischer“ im Sinn von „empirischer“,i also nicht „dogmatischer“k Erkenntnis und ein entsprechend zu | umgrenzender „Natur“-Begriff bliebe von den

i  Erörterungen > Abschnitten  k  5 > fünf > vier  l  〈Begriffe von〉    m  〈, drei rein sachlich, nach den Classifikationen empirischer Erscheinungen, abgegrenzte (Seite _)〉    n  〈ist〉    o A: Alternative > Gegensatz 〈gegen〉    p  〈Folglich müßte eine sechste gefunden werden〉 〈1) Die „tote“ Natur nicht, weil auch die Tiere nach St[ammler] außerhalb seines Begriffes fallen, 2) die nicht menschliche Natur schon deshalb nicht, weil nach St[ammler] z. B. 〈auch ein〉 „Robinson“ 〈nicht äußerlich geregelt zusammenlebt〉 draußen bliebe, 3) die tote und lebende Natur einschließlich der 〈repetitiv-animalischen〉〉    q  〈bestimmte Bestandteile des „Seins“〉    r  〈des Ethischen ja, wie wir sahen,〉    s–s  Einfügung vom linken Blattrand.   t  〈einer〉 〈der auf den „Sinn“ hin betrachtet〉 〈der Betrachtung eines Objektes〉    u  〈nicht verwerthbar, da〉   a  〈nicht〉    b  〈seinen〉    c  〈Handeln〉    d  〈den〉    e  〈fallen würde〉    f  〈und〉   g  〈Erkenntnis ferner〉    h  〈dogmatischer „naturalistischer“〉    i  〈zu〉 〈und im Gegensatz zu „historischer“〉 〈dogmatischer Erkenntnis〉    k  〈(normativ werthender)〉    eine phänomenologische, auf dem Prinzip der Denkökonomie basierende, ersetzen will. Vgl. Mach, Principien2 (wie oben, S.  4, Anm.  21), S.  362, 403. Vgl. auch Weber, Objektivität, oben, S.  175 mit Anm.  1 und S.  202 mit Anm.  98. 31  Weber, Stammler, oben, S.  527 ff., 542, 546. 32  Vgl. oben, S.  591 ff. 33  Vgl. Weber, Stammler, oben, S.  503 mit Anm.  66.

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bisher erörterten möglichenl Bedeutungen dieses Wortes also anscheinend allein übrig.m Da aber die St[ammler]’sche „Sozialwissenschaft“ ja nicht Jurisprudenz sein solln,o und natürlich auch nicht etwa einep Wissenschaftq, welche,r im Unterschieds zur Jurisprudenz, auch die „conventionellen“ Regeln nach Art dert dogmatischen Jurisprudenz erörtertu, – so ist offenbar auch dieser Gegensatz nicht von Belang.a | „Sozialpolitisch“ (in weitestem Sinn des Worts) würdenb alle die cpraktischen Problemec heißen, dbei denend gefragt wird: wiee soll f äußeres menschliches Verhalten „rechtlich“ oder „conventionell“g normiert werden?h Wenn wir nun einei empirische Wissenschaft so abzugrenzen versuchen würden, daß sie das genaue Pendant zuk jenem Complexl praktischer Probleme bildete, und sie alsdann, Stammler zu Liebe[,] „Sozialwissenschaft“, ihr Objekt aber „soziales Leben“ taufen würden, so müßtem der Bereich des letzteren wohln dahin definiert werden: „Zumo sozialen Leben“p gehören alle diejenigen empirischen Vorgänge, derenq „äußerliche“ Normierungr durchs „menschliche Satzungen“ „prinzipiell“t, d. h. ohne

l  〈Naturbegriffen〉    m  〈Obgleich da ganz offenbar nicht alle „dogmatische“ (norma­ tive) Erkenntnis von St[ammler]〉 〈Natürlich aber würde, da eine „dogmatische“ Erkenntnis der „äußerlichen“ Regeln 〈das〉 nur eine der verschiednen dogmatischen Disziplinen〉 〈Natürlich wäre der Gegensatz einer „Dogmatik“ der „äußeren“ Regelung des menschlichen Zusammenlebens gegen die Naturwissenschaften nicht 〈erschöpfend〉 〈exclusiv〉 erschöpfend, da 〈eine〉 bekanntlich die „äußere“ Regelung 〈natürlich〉 nicht das einzige Objekt dogmatischer Wissenschaften ist, – aber der erkenntnistheoretische Ort der St[ammler]’schen „Sozialwissenschaft“ wäre doch wenigstens gefunden. 〈sei er〉 〈Dieser〉 Da aber dieser erkenntnistheoretische Ort 〈befindet sich nun aber〉 ist nun aber fataler Weise schon durch die Jurisprudenz besetzt ist〉    n  will > soll  o  〈so kann auch dieser und – soviel bisher ersichtlich – nur kein andrer〉 〈ähnlich〉    p  〈„dogmatische“〉    q  〈von den Rechts- und〉    r  〈außer〉    s  〈auch〉   t  〈Rechtsdogmatik auf ihren normativen „Sinn“ hin〉    u  〈– das wäre ja eine Wissenschaft von der „Form“ des „sozialen Lebens“, und nicht von seiner Materie –〉 〈– denn um eine solche zu〉    a  〈Die rechtlichen und conventionellen〉    b  würde als ein Complex > würden  c–c  praktisches Problem > praktischen Probleme  d–d  wenn > bei denen  e  〈müßte〉    f  〈(oder: wie „müßte“) ein〉    g  〈geregelt〉    h  〈damit〉 〈wenn es 〈sich〉 bestimmten „Idealen“ entsprechen soll. Eine〉    i  〈theoretische〉   k  〈jenen〉   l  Umkreis > Complex   m  〈dann〉   n  〈folgend〉   o  „Das > „Zum   p  〈bilden〉    q  〈rechtliche, aber〉 〈Unterstellung unter〉    r  〈durch menschliche, rechtliche oder konventionelle, Satzungen〉    s  〈menschliche〉    t  〈denkbar ist〉   

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sachlichen Widersinn, denkbar ist,u agehörtb innerhalb der empirischen Wirklichkeit Alles, was denkmögliches Objektc rechtlicher oder konventioneller Normen ist.d a eOb eine solche Abgrenzungf des Begriffs „soziales Leben“ irgend welchen wissenschaftlichen „Werth“ haben würde, – darnach fragen wir gan dieser Stelle keineswegsg. Es genügt hier, daß sie ohne Widersinn und ohne dem rein empirischen Wesen des Objekts: „soziales Leben“ etwas zu vergeben, hvollziehbar wäreh und zugleich doch dem Sinn inach Dasi, was Stammler, wenn er sich selbst „richtig“ verstände,k allenfalls wollen könnte: die Abgrenzung des Objekts vom Standpunkt derl „äußeren Regel“, und zwar der Regelm nicht als empirischer Faktizität, sondern als „Idee“, aus, logisch und sachlichn wenigstens möglich omachen würdeo, indemp das Ineinanderfließen von ideeller „Geltung“ und qempirischem „Sein“q der „Regel“ beseitigtr und zugleich dies unglückselige Vorstellung, als ob in dem so ab­gegrenzten Gebiet eine eigne „Welt der Zwecke“34 oder überhaupt irgend etwas nicht der causalen Betrachtung Unterliegendes, dennoch aber empirisch Existentes gegeben sei, tabgeschnitten wäret.e |

u A: ist,“ > ist“. In A folgt: 〈Eine 〈Regelung〉 „Normierung“ 〈des Erdumlaufs〉 der Erdbahn, des Verlaufs einer Krankheit, der „psychischen Reaktion“ 〈auf einen Menschen〉 auf ein Kunstwerk, 〈eine wie auf〉 durch 〈Gesetz〉 menschliche Satzung ist ein ebenso widersinniger Gedanke wie〉 〈Eine „Normierung“ der gesundheitlichen Wirkung bestimmter Wohnungszustände oder〉 〈Ein „sachlicher Widersinn“ beginnt da, wo〉 〈Eine rechtliche oder konventionelle „Normierung“ (im Sinn des „Geltensollens“) nicht〉    a–a Einfügung vom linken Blattrand.    b  〈Alles〉    c  〈äußerlich〉   d A: ist.“  e–e Einfügung vom linken und unteren Blattrand.  f  〈eines〉   g–g  hier nicht > an dieser Stelle keineswegs  h–h  möglich ist > vollziehbar wäre   i–i  dessen > nach Das  k  〈will〉 〈wollen kann, am nächsten kommt〉    l  〈„Welt der äußeren Normen“ und〉    m  〈natürlich〉    n  〈möglich macht.〉    o–o  machte > machen würde  p  〈sein〉    q–q  empirische Existenz > empirischem „Sein“   r  beseitigte > beseitigt  s  〈ganz〉    t–t  abschneide > abgeschnitten wäre   34  Stammler verwendet diese Formulierung nicht.

Anhang Fragmente zum „Nachtrag“ Es handelt sich um drei gestrichene Passagen auf dem Vorblatt des Manuskriptkonvoluts und auf den Rückseiten zu Blatt 2 und 3.

1. Vorblatt (ohne Paginierung); betrifft die Ausführungen am Ende des Nachtrags, oben, S.  615.

Ganza schlimmb wird die Sache nun aber erst, wenn man, um zur Klarheit über den Gegensatz des „sozialen Lebens“ zur „Natur“ zu gelangen, das Stammler’sche Buch selbst systematisch daraufhin ansiehtc, was der Verf[asser] seinerseitsd sich denn eigentlich da, wo er von „Natur“ oder „Naturwissenschaft“ spricht,e unter diesen für seine Erörterungenf gdoch offenbarg hgrundlegend wichtigenh Begriffen gedacht hat.i |

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2. Rückseite von Blatt 2; vgl. dazu das Parallelzitat am Anfang des „Nachtrags“, oben, S.  577.

Sobaldj … die Verursachung menschlicher Handlungenk zur Erwägung steht, so sind wir wieder in naturwissenschaftlicher Betrachtung begriffen Auf Seite 372 heißt es: Ursachen des Handelns giebt es nur in physiologischer Art. |

a Es geht voraus der Zusatz von dritter Hand: Fahnen-Korr[ektur]?   b  〈, sieht〉   c  durchliest > ansieht  d  selbst > seinerseits  e  〈darunter gedacht hat.〉  f  begrifflichen Abgrenzungen > Erörterungen  g  so > doch offenbar  h  grundlegenden > grundlegend wichtigen  i  Es folgt von der Hand Marianne Webers: Nachlaß Stammler / Ob schon gedruckt ist zu prüfen Es folgt von dritter Hand: An den Schluss von 10 / In Fahnen liefern  j  〈wir〉  k  Handels > Handlungen  

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3. Rückseite von Blatt 3; vgl. dazu die Ausführungen oben, S.  585.

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Daßl sein Handeln nichtm determiniert sei, davon ist natürlichn gar keine Rede. Ebensowenig davon, daß die Behandlung seines Handelns als determinierteno Geschehens jenen Vorgang der „Wahl“ in eine „Illusion“ verwandle, oderp der getroffenen Wahl den Charakter einer „eigenen“ Handlung des Wählenden, d. h. einer ihmq in seiner persönlichen Eigenart causal zuzurechnenden nehme. Eine „Illusion“r – und überdies eine sinnlose Behauptung – wäre es nur, wenn er fürs jene „Wahl“,t auf die Frage nach demu Grundv seines Verhaltens,w in Anspruch nähme, daß siex „frei“ in dem Sinne von „ursachlos“ erfolgt wäre, – d. h. wenn er indeterministische Metaphysiky auf dem Boden des Empirischen treiben wollte. Das thut Stammler mit seiner vorhin zitierten pathetischen Frage.

l Es geht voraus: 〈(S.  347〉  m  〈causal〉  n  〈ein Wahn〉  o  〈seine〉  p  〈ihm den〉 〈den Ausschlag〉    q Fehlt in A; ihm sinngemäß ergänzt.    r  〈wäre〉   s  〈sich〉    t  〈bei〉    u  ihrem > dem    v  〈ihres〉    w  〈als eine〉    x  〈ohne〉   y  〈zu treiben begänne〉  

Anhang

I. Die „Nervi“-Notizen Im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz findet sich ein Bestand mit wissenschaftlichen Notizen, die sich in Briefumschlägen mit dem Aufdruck „Schickert’s Parc-Hôtel Italia Nervi“ befanden und von Max Weber mit entsprechenden inhaltlichen Stichworten versehen sind (GStA PK, IV. HA, Nl. Max Weber, Nr.  31, Bd.  6, Bl. 12–27, 53–160 = A).1 Weber hielt sich vom 19. Dezember 1902 bis Anfang Januar 1903 in Nervi, einem Winterkurort der ligurischen Riviera nahe Genua, auf. Wegen des vermeintlichen Abfassungsortes und der Überlieferungslage sind Webers Aufzeichnungen als „Nervi“-Notizen bekannt. Es handelt sich um Notizen, Exzerpte und ausformulierte Sätze zu Themen, die in einem engen inhaltlichen Zusammenhang zu den in diesem Band edierten Texten stehen. Sie können als Vorbereitungsarbeiten, aber auch weiterführende Aufzeichnungen zu Fragen der Methodologie gelesen werden. Zugleich illustrieren sie Webers Arbeitsweise und seine begriffssystematische Erschließung von Sachverhalten. Die Notizen finden sich auf Blättern unterschiedlicher Größe und Qualität. Die auf den Briefumschlägen vermerkten Stichworte werden hier als Überschriften verwendet. Die Notizen sind in der Regel mit Bleistift geschrieben; Textpassagen mit schwarzer Tinte sowie die von dritter Hand abgefaßten Exzerpte werden textkritisch indiziert. Die Blattzählung des Archivs wird übernommen und gegebenenfalls um die eigene Seitenzählung Max Webers ergänzt, z. B. A 13 (1). Einschübe sind durch diakritische Zeichen kenntlich gemacht; Streichungen werden im textkritischen Apparat nachgewiesen. Erschlossen werden unvollständige Literatur­ angaben.

Rickerts „Werth“ |

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Wenn R[ickert] sagt: –a so istb vielmehr zu sagen, daß an die Stelle einer Reihe von freilich trivialen, aber durchaus verständlichen Termini ein höchst bedenklich schillernder, vieldeutiger und zu Misverständnissen gradezu a  In A folgt ein Anführungszeichen und eine Auslassungslücke.  b  〈Dem entgegenzuhalten,〉   1 Die weiteren Notizen betreffen die Agrarverhältnisse in Sizilien (Bl. 1–8); Catania und De Felice (Bl. 9–11); Robert Barclay „Apology“ (Bl. 28–42) sowie die HaverfordNotizen über die Quäker (Bl. 43–49), beides erwähnt in MWG I/9, S.  239–241; „Neger“ in Amerika (Bl. 50–52); Leo Tolstoj (Bl. 161–166) und Johann Gottlieb Fichte „Die Anweisung zum seligen Leben“ (Bl. 168–172).

A 12 A 13 (1)

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

auffordernder Ausdruck gesetzt wird. Man setze doch der Probe halber einmal an allen Stellen, wo R[ickert] von „Werth“ spricht, die Ausdrücke „ “c ein. Ein großer Teil seiner Ausführungen wird dann eine |:äußerlich wesentlich:| trivialere Färbung annehmen, aber wenn die Philos[ophie]d die „W[issenschaft] v[om] Selbst­ verst[ändlichen]“ ist (Windelband), so hat sie die ausdrückl[iche] Constatierung des Selbstverst[ändlichen] als solchen auch in der Form nicht zu scheuen[.] | So sehr man R[ickert]’s |:Begriff:| „Werth“ in der S.e gegebenen Bedeutung schütteln mag, es fällt nichts Andres heraus alsf |:die Bedeutung „wissenswerth“[,] u. also bedeutet die Notwendigkeit der Beziehung auf einen Werth nichts andres als der scheinbar recht triviale:| Satz: daß die Geschichte aus der empirischen Wirklichkeit das Wissenswerthe darstellen solle. Daraus allein ergiebt sich schon, daß R[ickert]’s |:mindestens in der Formulierung:| scharfe Grenz­ linieg zwischen „historischen“ Individuen (hden auf Werthe bezogenenh) u. andren thatsächlich |:nicht nur historisch und individuell:| flüssig igedacht werdeni muß, sondern daß vor Allem diej unendliche Abstufung des Maßesk, in dem die einzelnen WirklichkeitsBestandteile wissenswerth sind, nicht ignoriert werden darf.l | Auf diesen, |:in ihrerm Abstufung:| stets im Fluß befindlichen, Differenzen des Interesses, welches ndie Einzelnen, das jeweilige Publikum des Historikers[,]n den einzelnen Bestandteileno der empirischen Wirklichkeit zuwenden, und nicht nur auf dem Grade der Allgemeinheit |:oder etwa gar der Normgemäßheit:| dieses Interessesp ruht |:in der Wirklichkeit:| jene Auswahl, welche |:dabei:| |:angesichts der Schranken unsres Aufnahmevermögens:| nach dem „Princip der [Wirt]schaftlichkeit“[,] qd. h. der Befriedigung zuerst des intensivsten Interesses[,]q verfährt. Der Grundr des Interesses aber kann eins |:wenn nicht:| gradezu unendlicht, so doch praktisch c Auslassungslücke in A.   d  Logik > Philos.  e In A folgt eine Auslassungs­ lücke.  f  In A folgt: der  g  Scheidung > Grenzlinie  h–h  den 〈wert〉 Werthes > den auf Werthe bezogenen  i–i  sein > gedacht werden  j  eine > die  k  Grades der > Maßes  l  〈Durch die Lust am Fabulieren 〈ist die Geschichte entstanden und〉 |:und in der Befriedigung der rein menschl. Neugier:| ist die Auslese des Historischen ursprünglich bedingt worden〉  m  〈nur〉  n–n  wir > die Einzelnen, das jeweilige Publikum des Historikers   o  Fragen > Bestandteilen   p  〈oder etwa auf dem Umstand, daß〉  q–q  verfahrend das jeweils Interessierende heraushebt > d. h. der Befriedigung zuerst des intensivsten Interesses    r  Quell > Grund    s  der > ein   t  〈vieles〉  

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„Nervi“-Notizen zu Heinrich Rickert Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nl. Max Weber, Nr.  31, Band 6, Bl. 13 (zum Abdruck vgl. S.  623 f.)

„Nervi“-Notizen zu Heinrich Rickert Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nl. Max Weber, Nr.  31, Band 6, Bl. 14 (zum Abdruck vgl. S.  624)

Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

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unerschöpflichu verschiedener sein, – auch auf dem Gebiet der Culturerscheinungen, von dem Interesse des Briefmarken- und Pantoffelsammlers bis zu dem Höchsten, was unser Herz bewegt. | Daß jeweilsv angesichts derw Schranken unsres Aufnahmevermögens und der Unendlichkeit der Mannigfaltigkeit der Welt nach Befriedigung der dringlichsten Fragenx das Interesse an den weiter möglichen sich – ziemlich rasch – dem Nullpunkt nähert und für die faktisch mögliche wissenschaftl[iche] Arbeit ihr praktisch |:durchaus:| gleichkommt, ändert daran ynur in dem Sinn etwas, in welchem dery Satz vom „Umschlagen“ der Quantitäten in Qualitäten annehmbarz ist. – | aDasb |:faktische:| Bestehen allgemeinen Interesses an cmanchen Teilenc der Wirklichkeit u. das Fehlen, auch das |:faktisch:| allgemeine Fehlen e[ines] solchen an dem überwiegenden anderen Teil derselben[,] ist |:als Thatsache:| psychologisch drecht leichtd zu erklären, |:ebenso wenigstens in ihren allgemeinen Zügen,:| die |:jeweilige:| eGradabstufung. |:Dere Versuch aber:| – Normen f– insbesonderef für die letztere gzu formuliereng, führt m. E. nicht nur in die Metaphysik –h[.]a | Sobald man aberi hinter den faktisch vorfindlichen jeweiligen Schranken des historischen Interesses inj ihrer faktisch vorfindlichen Abstufung noch etwas Anderes, Objektives ksuchen willk, betritt man das Gebiet der Nor­ men, d. h. man sucht dann nach eineml Princip, aus welchem deduziert werden könnte, |:nicht etwa nur:| wofür |:überhaupt:| wir uns | |:ein für allemal:| interessieren sollten, |:sondern, in welchem Grad­ verhältnis unsere Interessenahme an den einzelnen Teilen der Wirklichkeit s[ich] abzustufen habe.:| Nur diesm kann ja |:schließlich:| der ins Triviale übersetzte Sinn jenern „Werthmetaphysik“ sein, oin die R[ickert] ausmündeto. An dieser Stelle muß es genügen, den Zweifel in die Möglichkeit einer inhaltlichen Erfassung u  〈viele〉  v  〈|:bei Überschreitung:| an bestimmten Punkten〉  w  〈Endlichkeit u.〉  x  Interessen > Fragen  y–y  nichts, wenn man nicht den > nur 〈dann〉 in dem Sinn etwas, in welchem der  z  anwenden will richtig > annehmbar  a–a  Text von Blatt 4a entsprechend des Hinweises von Max Weber hier eingefügt.   b  In A gehen vier bis fünf gestrichene Zeilen voran.   c–c  gar immer einem Teil > manchen Teilen  d–d  wohl > recht leicht  e–e A: Gradabstufung ist 〈schon wesentlich schwerer [??]〉 der  f–f  aber, wenigstens > – insbesondere  g–g  zu finden dürfte > abzuleiten > zu formulieren  h  In A folgt: das ist  i  neben über > aber  j  und > in  k–k  sucht > suchen will  l  〈dauernd geltenden〉  m  daß, das > dies   n  einer > jener  o–o  wie sie R. für unentbehrlich hält > anstrebt > in die R. ausmündet  

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A 19

Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

derartiger Normen auszusprechen u. pnur hinzuzufügen, daßp ein |:solcher:| Zweifel sehr wohl |:auch:| mit einer Auffassung vereinbar wäreq, welche in der „absoluten Gültigkeit“ bestimmter „Werthe“r (wir würden sagen: „Interessen“) mehr als einen bloßen Grenzbegriff sieht: sDie logische Möglichkeits |:einer „formalen“:| Ethik zeigt |:jedenfalls:|, daß tin dem Begriff vont Normenu |:fürv eine unendliche Mannigfaltigkeit des normierten Objektesw:| nicht schon die Sicherheit [inhaltlicher]x Formulierbarkeit liegt[.] | Welche Rolle spielt das „Interesse“ in den Naturwissenschaften? Sollen etwa alle allgemeinen Wertbedeutungen, nur weil sie „allgemein“ sind, erfaßt werden? (Offenbar: ja). |

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„Neue Wissenschaften“ |

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G[e]g[en]stände treten in das Reich des Wissenswerthen ein dadurch, daß sie Probleme werden, neue Fragen entstehen Dadurch[,] daß wir erkennen, daß wir etwas nicht wissen Auf „Werth bezogen“ war das Ökonomische auch im Altertum. Aber anicht alsa Problem erfaßt. |

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„Persönlichkeiten“ |

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Persönlichkeit Spezifisch schöpferisch geht sie in die Geschichte grade in dem uns Verständlichen ein: Gedanken. Das „Irrationale“, Dumpfe, Triebhafte ist nicht irrationaler als irgend ein Naturvorgang. Darin, in dem „Rätsel“ ihre |:eigenartige:| Bedeutung suchen, ist versteckter Naturalismus, romantische Form des Naturalismus | Nicht daß sie Rätsel, sondern daß nur sie verständlich ist

A 22v

p–p  Dieser Zweifel kommt. Es ist > nur hinzuzufügen, daß  q  ist > wäre  r  Interessen > „Werthe“  s–s  Das Beispiel der > Die logische Möglichkeit  t–t Textverderbnis in A; [??] auch > in dem Begriff von  u  〈eine für unser Erkennen lediglich formale〉  v  derart > für  w  〈gelten könne, daß〉  x Textverderbnis in A.   a–a  kein > nicht als  

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

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macht Größe der Persönlichkeit aus u. den Werth aller Geschichte |

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Individuum Der Knies’sche Persönlichkeitsbegriff verwechselt Einzigartigkeit u. deshalb Einheit des Individuums und Einheitlichkeit (im natur­ wis[senschaftlichen] Sinn, wie die Atome – Atome oder Monaden?[)] cf. über das Individuum Rickert S.  3431 |

A 23

Streng zu scheiden  historische Bedeutung einer Persönlichkeit   kraft ader Tragweitea dessen, was sie thut.  Beurteilung der Person, Messen an ethischen u. a. Maßstäben (Gladstone, Miquel) Die Geschichte ist kein Weltgericht Bestreben die verschiedenen Imperative   mit einander zu verschmelzen  ist auch Rationalisierung. Welt ist auch darin irrational,   daß der Kampf ewig ist,  auch im Menschen   auch zwischen Zweck u. Mittel Hier: Autonomie des Einzelnen „Ausleben“ = Ausleben des Werthvollen. |

A 24r

Die „histor[ische] Bedeutung“ färbt natürlich stets auf unser mensch[liches] Urteil ab – es bleibt stets ein Rest jener naiven Auffassung zurück, welche in den Fürsten |:u. Großen der Erde:| qua­ litativ höher organisierte Wesen erblickt, während in Wahrheit die Anforderungen, die wir an ihre menschl[iche] Qualität stellen, um davon befriedigt zu sein, weit geringer sind als das[,] was wir vom Durchschnittsmenschen verlangen. |

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a–a  ihrer Position > der Tragweite   1  Rickert, Grenzen, S.  343.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

Geschlossene Persönlichkeiten | Jene |:geschichtlichen:| Persönlichkeiten, die uns als „geschlossene“ Einheiten erscheinen, tragen diesen Stempel bmindestens zum Teilb nicht als Mitgift ihrer Natur, |:sondernc:| empfangen ihn dvom Lebensd Stocke alse religiöse |:oder politische:| Überzeugungenf, dieg wie eine objektive Gewalt sich ihrer bemächtigen, |:oder:| eine weltgeschichtliche Aufgabe, der sie sich gegenübergestellt fühlen und die sie |:hinreißt und:| über sich selbst erhebt, geben ihrer Lebensführung jenen überallh mitschwingenden Oberton, iden wiri als das geheimnisvolle Erzeugnisj ureigenster Kräfte der Persönlichkeit empfinden. |

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Gesetze als das einzig Wissenswerthe |

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Sybel. Über die Gesetze des histor[ischen] Wissens   Vortr[äge] u. Aufs[ätze]a S.  192 |:(die Naturwiss[enschaft]) Sie weiß:|, bdaß, wasb nicht auf gesetzl[icher] Regel beruht u. nicht zur Erkenntnis gesetzl[icher] Regel führt, dem Wesen der Wissenschaft fremd ist. (f[ür] Naturw[issenschaft] und Geschichte nach S[ybel]) |

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Gottl |  ottl muß erwarten, daß Gottl No 2 erwächst, der ihn vollständig G versteht u. mit dem er wissenschaftl[iche] Zwiesprache pflegt. ------G[ottl] müßte auf den Standpunkt aristotelischer Naturphilosophie zurückgelangen.   Wundt |:II.:| S.  277/783 | b–b  zumeist > mindestens zum Teil   c  〈als [??],〉    d–d  von den Schicksalen des Lebens > vom Lebens  e  Fehlt in A; als sinngemäß ergänzt.   f  Aufgaben > Überzeugungen  g  〈sich ihrer bemäch〉    h  stets > überall   i–i  der uns > den wir   j  Werk > Erzeugnis  a  〈I〉  b–b  daß, Was > daß, was   2  Sybel Heinrich von, Vorträge und Aufsätze. – Berlin: A. Hofmann & Co. 1874. 3  Wundt, Wilhelm, Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, Band II: Methodenlehre, 1. Abt.: Allgemeine

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

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Unrichtig, daß Staat etc.   = Conglomerat v[on] Handlungen Das Seina ist der gesetzte Zweck,  der Gedanke der Institution (Sonst: cf. Max Dreyer’s Blasenspannungstheorie) | Gottl’s „Erscheinungen“ u. „Erlebungen“ erinnern an die „Welt als Wille u. Vorstellung“ Nur ist hier das |:im G[e]g[en]satz zur Erscheinung, unmittelbare Selbst-:|Gegebensein |:des Subjekts:| als Wille zur Grundlage grade der Erfahrungs-Erkenntnis gemacht. ------„Erleben“ nichts Eindeutiges Man muß „erleben“ lernen z. B. Propaganda e[ines] Gedankens auf versch[iedene] Weise:  |:direkt d[urch]:| logisch zwingende Macht oder d[urch] Auslese inf[olge] des Milieus. |

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Auch bei Gottl immer: Einteilung der Wissenschaften nach dem Objekt ------G[e]g[en] Gottl’s Werten das unter dem Einfluß der Knappheit der Sachgüterwelt wirkende „Werte[n]“ das ökonomische. Hier faktisch die spezif[ische] Aufgabe. Die Culturwirkungen dieses „Wertens“ nicht das in der Schranke unsrer Kräfte liegende. |

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Einf[aches] |:geschichtl[iches]:| „Erlebnis“ giebt es nicht in G[ottl]’s Sinn. Stets schon Sinn u. Zweck darin enthalten Von Kindesbeinen an sehen wir ordnende Principien darin, so lernen wir „erleben“ Nur so geschichtl[iche] Erinnerungsbilder Anders nur Bauern u. Unmündige, die noch nicht denken gelernt haben

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a  Unsichere Lesung.   Methodenlehre. Logik der Mathematik und der Naturwissenschaften, 2., umgearbeitete Aufl. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1894, S.  277 f.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

Überall sehen wir Gedanken u. suchen nach ihnen. Unser „Erleben“ ist vom Sprechen u. dem Werten gar nicht mehr zu trennen. Erinnerungsbilder gliedern s[ich] gedanklich, Sprache nicht gleichgültig | A 59v

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„Erleben“ (Gottl)b | welcherc |:die Geschichte:| „erlebt“, so wie wir sie darstellen, wäre kein Einzelner, sondern ein Ideal-Collektiv-Bewußtsein. |

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cDerjenige

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Gottl Nicht nur der „Alltag“ Gegenstand  auch die Haupt- u. Staatsaktionen   selbst die allerpersönlichsten Nicht der ganze „Alltag“,   sondern ein kleiner Ausschnitt G[ottl] mag einmal einen seiner Alltage analysieren  wieviel davon nat[ional-]ök[onomisch] erörtert wird Aber auch den des Arbeiters.  Nur wenige bedeutungsvolle „Seiten“ oder Momente. --------Menschliches „Handeln“   „Handeln“ bereits ein Begriff  nach best[immten] Principien wird die „Handlung“ abgegrenzt. |

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Gottl Gottl ein Versuch, das Princip der Auslese aus dem Stoff selbst abzulesen, um es so der |:sonst angebl[ichen] unvermeidl[ichen] Willkür zu entziehen: | Dieser Versuch muß scheitern. ----------G[ottl]’s Formel f[ür] das „Werthen“ ist e[ine] deformierended Formulierung des „Grenznutzgesetzes“ Sie ist irreal,  wenn sie behauptet, daß unser Handeln wirklich |:durchweg:| bewußte d[urch] sie bestimmt werde b  In A folgen zwei gestrichene Zeilen über Kopf; nicht lesbar.   c–c  Der wer > Derjenige welcher  d  Unsichere Lesung.   e  In A doppelt unterstrichen.  

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

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Sie bedeutet f[ür] die verschiedenen Teile des Handelns ganz ver­ schiedenes  u. gilt daher in ganz verschiedenem Grade F[ür] Befriedigung unserer religiösen Bedürfnisse gilt sie nicht. F[ür] Verdauung, f[ür] Schlaf, Spazierengehen All dies gehört zum „Alltag“ | Gottl Fortschritt bei G[ottl] daß von gegebener |:konkret bestimmter:| Situation ausgegangen wird – Endlichkeit des Könnens – statt von psycholog[ischen] Abstraktionen In der That dies die einzig mögliche Fortbildung Menger’s, nicht Bonar – Johnf S.  90 f.4 Das Erlebte |:(Handeln):| durchschauen wir unmittelbar Schlecht, Das Naturgeschehen nicht, darein bringen wir cf. gut (d[urch] Ursache u. Verallgemeinerung) dagegen Zusammenhang. Rickert. (wir erleben die Zusammenhänge nicht „unmittel bar“).  Wegen der „Begreifbarkeit“ könnte das Handeln – S.  94 auch das „arthafte“ Handeln – nicht in „ursächliche Ketten eingefügt werden“.  Zustand – Entwicklung als Denkkategorie des „art­ haften“ Geschehens | NB! „Arthaftes“ u. nicht „arthaftes“ Handeln sind doch nicht objektiv geschieden, sondern das aller-„arthafteste“ Handeln wird „historisch“, wenn es in Beziehung zu etwas uns Wichtigem tritt. (z. B. daß Jemand heirathete u. Kinder zeugte oder daß er starb. Das kann Jeder!)g |

f  〈Begriff des Nützlichen verwendet?〉    g  Nachfolgende Textpassage in A auf dem Kopf geschrieben und entsprechend des Hinweises von Max Weber Zu S.  4 auf Blatt 4 (A 63r) verschoben.   4  Die Seitenangaben (von hier bis S.  636) beziehen sich auf: Gottl, Herrschaft.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

Gottl S.  94 Das Denken eines Zustandes wandelt den wirklichen Fluß des Geschehens in etwas als verharrend Gedachtes S.  95 Eine Wiederkehr im Handeln giebt es nur f[ür] unser Denken. (Doch auch im Naturgeschehen!). Gute Bemerkungen über die complicierten Vorgänge, S.  96/7 welche „Entwicklung“ genannt werden (F[ür] Gottl sind „Handlungen“ die Moleküle des Geschehens. | hDaher identifiziert er eine „erkaltende“ Freundschaft mit den einzelnen Symptomen u. Äußerungen des Erkaltens. Die bewußte Empfindungsbeziehung ist aber doch identisch geblieben. – (sonst: Begriff der Identität?)h | Insofern ist er Comtist. Das Äußere ist das Wirkliche.) „Entwicklung“ ist stets ein denkend erfaßtes „Geschehen“ Wo Zustand, da auch Entwicklung Beides nur Denkprozesse, Denkgebilde. „Wiederkehr“ ebenfalls unter bestimmten Voraussetzungen Denkprodukt S.  99   (z. B. Neckar)   in welchen Sinn ist er uns eins u. identisch?   (zeitlich-räumliche Continuität)  anschauliche Einheit, deshalb Einheit | Die Abgrenzung dieser Denkgebilde aus dem Allzusammenhang wäre willkürlich, wenn nicht thatsächi S.  104 lich ein engerer Zusammenhaltj in ihrem Inneren bestünde Die Zahl der Mittelglieder muß geringer sein (Aber hier ist schon eine Vereinfachung vorgenommen. Was heißt: Mittelglieder   – dies nur subjektiv!

h–h  Textpassage entsprechend des Hinweises von Max Weber S. Rückseite der vorigen Seite von Blatt 3 (A 62v) und des dortigen Hinweises Zu S.  4 hierhin verschoben.  i  In A geht voraus: 〈S.  102 an〉 〈S.  103 unten〉    j  〈zwischen ihnen〉   

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Was heißt: Determinanten?) Mindestens ein Kern zusammenhängender Handlungen S.  106 Dieser Kern ist uns gesetzt, nicht von uns denkend geschaffen (? das ist eben die Frage)k Wo das Geschehen so gegliedert abläuft, daß seine Wiederkehr verbürgt ist, – wennschon fortwährend modifiziert, doch ohne daß der Faden abreißt,  da schafft unser Denken ein solches Gedankengebilde, wie Staat, Unternehmung etc. Dies sind dann die Träger der Entwicklung, die Inbe­ griffe sind real | S.  108 „Zuständl[iches] Gebilde“ ist denkende Umformung des Erlebten lDag[e]g[en] S.  117 Es sei „nichts als eitel Geschehen“l S.  110 Das Handeln einer Person ist ihr Leben S.  111 Geschichte u. Nat[ional-]Ök[onomie] sind Voraussetzungen der „Psychologie“ (im uneigentl[ichen] Sinn), nicht umgekehrt. G[ottl] über „Gesetze“ S.  119 Nicht unbedingt zutreffend cf. meine Bemerkung S.  119 S.  122 f. Unmöglichkeit wirklicher All-Erkenntnis u. Notwen­ digkeit einer Auslese auch nach G[ottl] (S.  121 Über die Art des |:wissenschaftl[ichen]:| Interesses in den Naturwissenschaften Bemerkungen, die nicht unbedenklich sind.) S.  127 G[e]g[en] Rickert’s „Werth“ als Auslese-Merkmal (nur Tautologie) S.  128 Sondern: doppelte Möglichkeit der Behandlung 1) Auslese – durch Handlungen, die an den Linien des dichtesten Zusammenhanges liegen Berichtende Wissenschaft 2) Gedankliche Bewältigung   d[urch] Gedankengebilde: Zustand u. Entwicklung.

k  〈Das Geschehen nützt〉    l–l Textpassage von der Blattmitte entsprechend der Markierung Max Webers hier eingefügt.  

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

Schildernde Wissenschaft (Ist damit etwas f[ür] die Auslese gewonnen?[)] | Nach G[ottl] (u. richtig) S.   130  Das „überpersönliche“ Handeln (zuständliche Gebilde vertretend) dient als Wegweiser der Auslese. Dahinter liegen faktisch stets die „dichteren Zusammenhänge.“  (was sind diese? die auf Wichtiges, nach R[ickert] „Werthvolles“ bezüglichen, doch nicht die real „dichten“– G[ottl] ist hier Sklave seines Bildes!)m S.   132  Ebenso: „wichtigstes Geschehen“ als Aufgabe der Geschichte. Im Übrigen aber gutn veranschaulicht. Histor[isches] Ereignis ist stets gedankliche Umformung. S.  135 Die Welt des Handelns hat keine „Seiten“ u. „Gebiete“, sie ist Eins. Es sind nur Unterschiede der Erkenntnis vorhanden S.   136  Nur e[in] andrer Gesichtspunkt – so zwischen „Geschichte“ u. „Ungeschichte“ – u. zwar ein dem Stoff selbst entnommener (also doch objektiver? – sehr schlecht formuliert!) Ethik nicht |:davon:| zu trennen. „Dem Allzusammenhang selber entsteigen Weisungen“. (Unsinn![)] | Gottl S.  139 Nur die „berichtende“ u. „schildernde“ Wissenschaft seien echte Erfahrungswissenschaften Die Rechtsgeschichte u. die Kunstgeschichte z. B. entnehmen ihr Ausleseprinzip fremden Gesichtspunkten (!) ------S.  140 G[e]g[en] das „wirtschaftliche Princip“ als Grenzregulator – nicht alles gut (in der That auch nur eine jener Abstraktionen, welche dem Quantifizierbarkeitsstreben der Geldwirtschaft entspringen)

m A: 〈)〉    n  〈formulier〉   

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Es sei Willkür, das spezifisch „Wirtschaftliche“ einer Handlung herauszuklügeln ------S.  146 ff. Die schildernde Wissenschaft (Nat[ional-]Ök[onomie]) ist der Natur ihres Stoffes nach (Zustand u. Entwicklung) arthaft, verwendet Begriffe – daher Anschein, als sei sie eine systematische Wissenschaft. S.  149 Aber nur Anschein. In Wahrheit sind die Allgemein­ begriffe nur Requisit, Mittel zum Zweck der Erkenntnis des Besonderen. Dies S.  148 zu deduzieren versucht (diese Deduktion nicht glücklich) Daher gar kein Begriffs-System nach Art der Naturwiss[enschaft] möglich! | In der Welt des Handelns ist der Begriff stets vor den Begriffen da S.  149 Die Artbegriffe des „unzerfällenden“ Denkens sind nicht Artbegriffe nach Art der naturwissenschaftlichen |:Merkmalscomplexe:| Sie sind |:selbst schon:| denkende Umformung des Erlebten, dem Handeln entwachsen: Sie brauchen nicht gegen einander d[urch] „Merkmals“-Feststellung von außen her abgegrenzt zu werden. Sie können sogleich je einzeln von der Wurzel aus durchdacht werden. Also: schildernd auflösen (man kann doch nicht o„Freund“ in ähnlicher Methodeo definieren wollen wie „Elefant“) (NB! das schlechthin Gegebene findet sich in allen Wissenschaften, nicht nur in der vom Handeln und – wie G[ottl] S.  154 zugiebt – in der Biologie) ------Daß die schildernde Wissenschaft nur mit dem Menschheitsleben als G[e]g[en]stand denkbar sei – wie G[ottl] bis zum Überdruß behauptet – so S.  161 – beweist er nicht ------S.  166  Nach G[ottl] die Scheidung des „Wirtschaftlichen“ „nur der Bequemlichkeit“ wegen, nicht e[ine] Auslese, zu der die [„]Forschung selberp hingedrängt“ werde

o–o A: „Freund“ ähnlich > „Freund“ in ähnlicher Methode  p  selbst > selber  

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

 (Gewiß: in dem Sinn, in dem man auch Eisenbah­ nen „zur Bequemlichkeit“ baut)   Vergl[eiche] meine Randbemerkungen S.  166 ff q | Gottl Lücke der Alltagskenntnis: die „strebigen“, „technischen“ Zusammenhänge im Handeln An diesen hängt die Struktur derselben S.  184 Diese ist denkende Umformung  Streben u. Erfolg dagegen schon Eingriffe unsres Denkens Wir erleben sie nicht (?) S.  199 Grundlegende Bedeutung der Wiederkehr vom Handeln f[ür] die Begreiflichkeit desselben S.  203 Über Willensfreiheit S.  205 wieder über das „Strebige“ (Morphologie)  Dies will G[ottl] absolut ausscheiden, da es nicht „erlebt“ wird, sondernr Gedankengebilde sei,s nicht das individuelle Handeln unmittelbar determiniert (dies ist offenbar Sinn der sehr vielen Worte, die G[ottl] hier macht) S.  206/7 Naturwüchsigkeit der Gliederung des Handelns, der Folge seiner Wiederkehr Eine solche Gliederung, welche die Gewähr der Andauer der Wiederkehr verbürgt. |:Objektiv gegeben sind die entsprechenden Gebilde:| S.  208 Daraufhin |:die:| Formel f[ür] „Gesellen“ formuliert: S.  209 f.: Ausgleich von Dauerstreben, derart, daß Handeln so gegliedert abläuft, daß Gewähr f[ür] seine Andauer besteht tMan nennt dies sonst „Angepaßtheit“t als Formel f[ür] „Haushalten“  Diese Formel, meint G[ottl], stehe f[ür] jegliches Gebilde in Kraft, also f[ür] alles „Handeln“ Bei Unterordnung unter den Erwerbszweck: „Unternehmen“ | q  [??] > 166 ff   r  auch bloßes > sondern   s  〈welches〉  t–t  Zusatz am linken Blattrand, durch geschweifte Klammer mit Text verbunden.

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Ziel der „Theorie“: Emancipation des nationalökonomischen vom „urwüchsigen“  Denken  Herrschaft über den Stoff   Ausgehen von Problemen statt von Werten G[ottl] ein Versuch, dasjenige Gattungsmäßige auf Formeln zu ziehen, welches in allem Handeln steckt u. mit dem wir stets wirtschaften Natürlich mit der Formel f[ür] Haushalten nichts „erklärt“ Wir durchschauen nichts besser Nur anderer Ausdruck f[ür] Angepaßtheit Denn eben wie die Gewähr f[ür] die Andauer erzielt wird, ist das Problem (Naturwiss[enschaftliche] Begriffsbildung!) |

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Zu Knies, Analogie Aufsuchung der Gleichheit  (Relig[ions-]Wissensch[aft])u geradezu Züge der Jugend der Disziplin ------Deutung d[urch] Gefühl vprovisor[ische] Mittel der Ordnung  1)      als [nichts] logisch Definitivesv w  2) Darstellungsmittel Evidenzw xSimmel. Individuelle Causalität S.  70 Anm.x 5 |

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„schöpferisch“   Regen auf das Kornfeld Mensch fühlt hier sein Thun als |:bloße:| „Bedingung“ Gott als Ursache Nil-Überschwemmung. Kommt im religiösen sich-Verhalten zum Ausdruck |

u Unsichere Lesung.   v–v Textverderbnis; unsichere Lesung.   w–w Textverderbnis; unsichere Lesung.   x–x  Textpassage am rechten Blattrand in schwarzer Tinte.   5  Simmel, Geschichtsphilosophie2, S.  70, Anm.  1; die Anmerkung geht bis S.  72.

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Historische Weltanschauung |

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das Merkmal „positiver“ Kritik an |:einem:| gegebenen Kosmos von Institutionen im Wesentlichena, daßb |:die Kritik selbst |:auf:| einem:| Gedanken-Kosmos ruhe |:(vulgär: „nicht niederreißen ohne aufzubauen“):| – ein wie man sieht – in Wahrheit formales Princip. Was Rickert mit dem Satze:c sagen will, dscheint mird vorerst |:von ihm:| noch nicht |:genügend:| aufgeklärt zu sein: so wie er da steht, könntee er den wie fmir wohl bekannt ist, von R[ickert] nicht im Entferntesten beabsichtigtenf Schein einer Conzession an die heute herrschende konservative Modephrase machen. Die Historiker vollends sind, wie hinlänglich bekannt, |:ebenso:| weit davon entfernt, sich die Beseitigung aller |:von:| normativen Vorauss[etzungen] ausgehenden Urteile über histor[ische] Persönlichkeiten u. Vorgänge als ein wenn auch noch so schwer erfüllbares Ideal vorzustellen, wie vong irgend einer hnoch so annäherungsweisen Einmütigkeit über die principiellen Grundlageni h Derj Ausschluß aller Werthurteile aus dem Bereich der Aufgaben der Geschichtswissenschaft |:soll:| nach Ottokar Lorenz (Geschichtswiss[enschaft] in Hauptricht[ungen] u. Aufg[aben] I S.  56)6 „wissenschaftlich nicht beachtlich“ seink,l Bernheim |:(Lehrb[uch] der hist[orischen] Methode)m |:verweist:| zwar die Erörterung der „Werthmaßstäbe“ in die Geschichtsphilosophie (2.   Aufl. S.   439), aber auch ohne nseine gelegentlichenn Ausfälle gegen den Materialismuso (|:Vorrede:| S. VI a. a. O.),7 worunter hier offenbar nicht nur a–a  „positiv“ sein müsse, die Absolutheit zu dem rein formalen Princip, > ist das Merkmal „positiver“ Kritik an |:einem:| gegebenen Kosmos von Institutionen im Wesentlichen  b  〈[ein] Kosmos〉    c  In A folgt eine Auslassung.   d–d  ist > scheint mir   e  macht > könnte   f–f  ich völlig überzeugt bin, unberechtigten > mir wohl bekannt ist, von R. nicht im Entferntesten beabsichtigten   g  〈einer〉    h–h  Einfügung vom linken Blattrand.   i  Ausgangsquellen > Grund­lagen  j  In A geht voraus: 〈Während die Vertretung der „Voraussetzungslosigkeit“ im Sinne der Beseitigung aller [??]〉   k  〈soll〉    l  〈auch〉 〈[??]〉    m  〈2.  Aufl.〉 〈weit davon entfernt ist, den Begriff der „Auffassung“ etwa auf 〈das zu〉 die Auswahl des historisch bedeutsamen zu beschränken (cf. |:[einerseits]:| seine Polemik gegen die Postulate der Görres-Gesellschaft〉 〈versteht es sich〉 〈versteht sich die Ablehnung des Schlosser’schen formalen Rationalismus〉   n–n  die Ausführung der > seine gelegentlichen   o  〈in der Vorrede (S. VI a. a. O.)〉   6  Lorenz, Geschichtswissenschaft (wie oben, S.  215, Anm.  34). 7  Bernheim, Ernst, Lehrbuch der historischen Methode, 2. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1884.

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die ökonomische Geschichtsbetrachtung verstanden ist, würden die Erörterungen über die „Auffassung“ (S.  441/2) zeigen, daß er im Wesentlichen mit Lorenz einig pist. Dieser stelltp S.  75 |:ff:| |:unter Berufung auf die Nationalökonomie:| das Postulat aufq, daß die Geschichte „ihre Werthe“ |: – u. zwarr objektive, nach Art der sokratischen |:Tugend:| lehrbare Werthe methodisch:| „selber auf eigenem Grund u. Boden finden“ solles u. |:verweist:| als Beispiel solcher „autonomer“ |:historischer:| Werthe auf diejenigen |:politischen Werth-:|Maßstäbe, welche Treitschke seinen temperamentvollen Urteilen zu Grunde legt.t Während |:allgemein betont wird, wie völlig:| dasu |:„Schulmeistern“ der Geschichte an der Hand:|v formaler Ethik des Rationalismus nach Schlosser’s Artw durch Rankex überwunden seiy, stelltz dennoch Sybel ain seinera Besprechung Niebuhrs (in den „Vorträgen u. Aufsätzen“) der Geschichte als ihre „eigentliche“ Aufgabe, durchb Erschließung des „geistigen Zusammenhangs“ der Thatsachen „zu ihrer sittlichen Würdigung[“] zu gelangen | Am congenialsten würde Roscher |:darnach:| wohlc died eigentümliche Combination evon Ethik und Geschichtee gewesen sein, wie sie demjenigen ethischen Relativismus eignet,f welcher einerseits die gEthik Kantsg wegen ihres (angeblich!) rein formalen Charakters ablehnt, dennoch aber auf ethische Principien von heiner den Normen des Denkens gleichstehendenh Dignität nicht verzichten will und deshalb zui emanatistischen Aufstellungen jgedrängt wirdj. Der höchst entwickelte Typus dieser ist dask ethische Princip Fichtes[,] welches sich etwa in die Form des Imperatives kleiden ließe: „werde lwerthvoll alsl Glied einesm werthvollen Ganzen“[.] p–p  ist, welcher > ist. Dieser stellt   q  aufstellt > auf   r  〈nicht〉    s  〈u. zwar〉   t  legt, verweist. > legt.   u  die > das   v  〈rationale〉    w  〈und〉    x  〈endgültig〉    y  ist > sei   z  zeigt > stellt   a–a  bei > in seiner   b  〈Erkenntnis des inneren Gehaltes〉    c  〈die〉 〈jene |:in ihrer wissenschaftlichen Formulierung:| die auf Fichte zurückgehende〉    d Fehlt in A; die sinngemäß ergänzt.   e–e  |:emanatistisch-:|ethischer und historisch-relativistischer Gesichtspunkte > von Ethik und Geschichte  f  In A folgen mehrere gestrichene Zeilen.   g–g  formal-rationalistische Begründung der ethischen Postulate in der Fassung des kategorischen Imperativs > Ethik Kants   h–h  normativer > einer den Normen des Denkens gleichstehenden   i  〈|:verhüllt oder unverhüllt:| emanatistischen metaphysischen〉    j–j  seine Zuflucht nimmt > gedrängt wird   k  〈emanatistische〉    l–l  unentbehrliches nützliches > werthvoll als   m  〈|:absolut:|〉   

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

Währendn die |:consequenten:| philosophischen Vertreter dieser emanatistischen Ethik unweigerlich zuo |:bestimmten metaphysischen Aufstellungen,p mindestens zur:| Annahme der Absolutheit des Werthes jener Totalität, in welche der Einzelne eingegliedert werden soll, gedrängt werden – so |:jetzt:| Rickert –, pflegen qAndre, darunter die meistenq Historiker, diese metaphysische Consequenz zu ignorieren. Bei Class (Untersuch[ungen]r z[ur] Phänom[enologie] u. Ontol[ogie] des menschl[ichen] Geistes)s | S[iehe] die Ausführungen Simmels a. a. O.8 S.  75. 76 über das Verhältnis von Werthsetzung und Zwecksetzung in der Geschichte. Sie sollten nur Selbstverständliches enthalten – allein wie weit sind sie thatsächlich davon entfernt! Die Bemerkungen Simmels a. a. O. S.  76 unten waren hier bereits weniger misverständlich als Rickerts „Werthe“ es sein konnten. Über den teleologischen Charakter des Begriffes der „historischen Notwendigkeit[“] s[iehe] Simmel a. a. O. S.  77 | g[e]g[en] Lask Ethische |:formale:| Normen so wenig inhaltsleer wie |:logische:| Denkgesetze. Nicht Analogie mit abstrakten Begriffen. Kateg[orischer] Imperativ ist nicht abstrakt! | Gefahr der Herausdrängung des Weltanschauungsmäßigen aus dem erdrückenden Kosmos der Wissenschaft, tSich-selbst-Präsentationt des Impresario: Vordringlichkeit der subjectiven wissenschaft[lich] |:gleichgültigen:| Werthe des Schriftstellers | Neigung der histor[ischen] Methode zu e[iner] histo­ r[ischen] Weltanschauung derselben Fehler wie die „naturwiss[enschaftliche] W[elt-]A[n­schauung]“ Man darf s[ich] nicht zum Sklaven seiner Methode u. seiner Begriffe machen. | n  In unvollkommener > Während   o A: zur  p  〈insbesondre〉    q–q  die > Andre, darunter 〈zum〉 die meisten   r  Phäno > Untersuch.   s  〈verblaßt die Absolutheit bei seiner Forderung, daß die Kritik historischer Gebilde〉  t–t A: SichSelbst-Präsention   8  Simmel, Geschichtsphilosophie1.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

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Knies über Prakt[ische] Probleme |

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Knies II Knies bzgl. prakt[ischer] Probleme 1) Es giebt die Frage „was soll sein“ 1.a (Rez[ension] v[on] Roscher – Widerspruch mit folgendem Satz!) 2) Es giebt e[ine] Theorie des Sollens in der N[ational-]Ö[ko­ nomie] u. diese ist nicht eine nicht wirtschaftliche 2. (II S.  521)9 cf. No 8 3) Sein-sollen und Entwicklungsziel identifiziert 3. (Roscher Rezens[ion] u. II S.  42/3) 4)  „Sozialer Gebrauchswerth“ (notwendig ein sein-sollendes) mit wirtschaft[lichem] Werth vermengt 4. („Geld“ u. II S.  517) Ebenso 8: „soziale Wirtschaftlichkeit“ 5) Grundsätze der Pflichtencollision anwendbar auf ökono­ m[ische] Fragen. Daher Wichtigkeit f[ür] christl[iche] Moral, dies höchste Gebot klarzustellen Ib S.  30310 (also hier noch:c alle Gebote sittl[iche] Gebote) | 6) Compromiß zw[ischen] Gesammt-Interessen u. Einzelinteressen – oder vielmehr Kenntnis v[on] beidem ist nur Mittel f[ür] das Andre 6. IId S.  299 7) Normative Entscheidung des Staates zw[ischen] Freihandel u. Schutzzoll Principiell ersterer f[ür] letzteren Beweislast 7. Ie S.  316 8) Trotz der Bemerkung S.  30 (I) ist bei Knies „Theorie“ immer auch = Prinzipienlehre der V[olks-]W[irt]sch[afts-]Politik | a  Die Ziffern beziehen sich auf die nach­folgenden Exzerpte; sie sind hier und im Folgenden vom Editor durch Fettdruck hervorgehoben.   b  In A doppelt unterstrichen.   c  〈alles〉    d Ziffer mit geschweifter Klammer nach unten und mit ? versehen.   e  In A doppelt unterstrichen.   9  Webers Angabe „II“ bezieht sich hier und im Folgenden auf Knies, Oekonomie2. 10  Webers Angabe „I“ bezieht sich hier und im Folgenden auf Knies, Oekonomie1.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

Stellung prakt[ischer] Fragen.f | 1g hIch bin der Meinung, dass die Frage: was soll sein? keineswegs als eine für die Nationalökonomie nach geschichtlicher Methode ungehörige betrachtet werden kann. (S.  42.)11h | „Sollen“ u. Volksw[irtschafts]-Lehre.i | 2)j kWenn wir also auf eine seinsollende Beachtung des wirthschaftlichen Wohles Anderer in den Einzelnen hinweisen, so verlassen wir damit keineswegs das Gebiet der „allgemeinen“ oder „theoretischen“ Volkswirthschaftslehre und ebensowenig bauen wir dieselbe auf ein Princip nicht wirthschaftlichen Verfahrens. (S.  521.)12k | Stellung prakt[ischer] Fragen Histor[ische] Ideale.l | 3)m noKnies glaubt p(in der cit[ierten] Rezension Roschers)p[,] daß die historisch-relativistisch orientierten Nationalökonomen im Gegensatz zu den Vertretern „absoluter Lösungen“o „aufq die Frage: Was soll sein? von und auf den Grundlagen des positiv Gegebenen und mit den Mitteln, deren reelles Vorhandensein die Erfahrung bekräftigt, rauf Ziele hinweisen könnenr, die wir, wie die bereits gewonnenen Formen der Gegenwart, als Punkte in einer stetig sich bewegenden Entwicklung sansehen“. „Und jedenfallss tfügt er u(Pol[itische] Ök[onomie] 2.u  Aufl. S.  42/43) hinzu –t „mussv f  Quer zur Schreibrichtung am rechten Blattrand: II; am linken Blattrand: 1  g Ziffer von der Hand Max Webers.   h–h Exzerpt von dritter Hand.   i Quer zur Schreibrichtung am rechten Blattrand: II; am linken Blattrand: 1  j  Ziffer von der Hand Max W ­ ebers.   k–k  Exzerpt von dritter Hand; in A geht am oberen Blattrand von der Hand Max Webers voraus: 1.  l Quer zur Schreibrichtung am rechten Blatt­rand: II; am linken Blattrand: 1    m Ziffer von der Hand Max Webers.   n–n (S.  643)  Exzerpt von dritter Hand mit Ergänzungen und Korrekturen von der Hand Max Webers in schwarzer Tinte.   o–o  Während wir > (von der Hand Max Webers:) Knies glaubt […] Lösungen“   p–p  im Gegensatz > (in der cit. Rezension Roschers)   q  Anführungszeichen von Max Weber eingefügt.    r–r  Von Max Weber eigenhändig unterstrichen.   s–s An- und Ausführungszeichen von Max Weber eingefügt.   t–t Einfügung Max Webers.   u–u  [??] (2. > Pol. Ök. 2. Korrektur mit Bleistift.   v  Anführungszeichen von Max Weber eingefügt.   11  Knies, Oekonomie2, S.  42. 12  Ebd., S.  521.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

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man sich doch auch bei der Untersuchung, wie etwas geworden ist“, das vorher Gewesene als das zu seiner Zeit Seiende und sich Verändernde vorhalten. Da ist es doch nur echt „geschichtlich“, dass man auch das jetzt Seiende bezüglich der an ihm erkennbaren Entwicklung auf eine Veränderung hin möglichst genau in Betracht nimmt. (S.  42/43.)13n | „Sozialer“ u. „individueller“ Gebrauchswerth. Nur letzterer Sache der Volksw[irtschaft] Aber nur über ersteren festzustellen wCollectiv-Normw | 4)x yWenn es also auch beispielsweise – wie ich in meinem Buche über das Geld gegen Marx darzulegen suchte – der soziale Gebrauchtswert der wirtschaftlichen Güter ist, dem die Volkswirthschaftslehre ihre specifischen Erörterungen anschliesst, so ist doch das Wesen dieses sozialen Gebrauchtswertes nur durch eine Ausgangserörterung über den individuellen Gebrauchtswert zu kennzeichnen. (S.  517.)14y |

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Pflichtencollisionz | 5)a bDer gewissenhafte Mensch wird sich darin so entscheiden, dass er der höheren, wichtigeren, sittlichen Pflicht Raum giebt; dadurch bleibt sein Handeln sittlich, obwohl er zugleich dabei gegen ein anderes sittliches Gebot verstossen muss. So kann jede moralische Pflicht von dem sittlichen Menschen hintangesetzt werden müssen, nur das überhaupt höchste sittliche Gebot wird in jeder Pflichtencollision gewahrt bleiben; daraus ergiebt sich das

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n(S.  642)–n  Exzerpt von dritter Hand mit Ergänzungen und Korrekturen von der Hand Max Webers in schwarzer Tinte.   w–w  Über Kopf geschrieben; quer zur Schreib­ richtung am rechten Blattrand: II; am linken Blattrand: 1  x Ziffer von der Hand Max Webers.   y–y  Exzerpt von dritter Hand.   z Quer zur Schreibrichtung am rechten Blattrand: I  a  Ziffer von der Hand Max Webers.   b–b  Exzerpt von dritter Hand.   13  Ebd., S.  42 f. 14  Ebd., S.  517.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

grosse Interesse auch der christlichen Moral, das höchste sittliche Gebot der Religion klarzustellen. (S.  303.)15b | A 83v A 83r

A 84v A 84r

cPrakt[ische]

Problem[e]c Compromiß zwischen Einzelinteressen u. Gesammtinteressen | 6)d eUnd so ist es denn eben auch für die neue Periode der politischen Oekonomie bezeichnend, dass nicht die wirthschaftlichen Einzelhaushaltungen nur als Mittel für den „Reichtum des Landes“[,] für die Zwecke des „Staats-Ganzen“ und für Aufgaben der allgemeinen Staatsgewalt in Betracht kommen – aber ebensowenig die letzteren nur in dem Schutz und zur Förderung der Einzelnhaushaltungen ihre Bestimmung finden. (S.  299.)16e | Allg[emeine] Theorie über Freihandelf | 7)g hDass der Streit über die beiden erwähnten Systeme der Handelspolitik, welcher weder hinsichtlich des Ganzen, noch hinsichtlich einzelner Kreise, der ökonomisch producirenden Thätigkeiten, weder in Beziehung auf alle Entwicklungsstufen der Volkswirthschaft, noch in Beziehung auf alle Länder und Situationen durch allgemein giltige Sätze zu entscheiden ist, unter den für die gegenwärtige Stufe der ökonomischen Entwicklung bei den modernen Culturvölkern massgebenden Bedingungen im Allgemeinen dahin zu lösen sein wird, dass das freie Schaffen und Walten der Privatthätigkeiten in dem Verkehr mit dem Auslande als das Gesunde und als die Regel anzusehen, die Begründung der Ausnahme und Ausnahmen aber auch von der Theorie als dem Sachverhältniss nach berechtigt anzuerkennen wäre. (S.  316.)17h |

c–c  Quer zur Schreibrichtung am linken Blattrand.   d  Ziffer von der Hand Max Webers.  e–e  Textpassage von dritter Hand geschrieben.    f  Quer zur Schreibrichtung von der Hand Max Webers: I  g  Ziffer von der Hand Max Webers.   h–h Exzerpt von dritter Hand.   15  Knies, Oekonomie1, S.  303. 16  Knies, Oekonomie2, S.  299. 17  Knies, Oekonomie1, S.  316.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

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„Individuelle“ u. „soziale“ Wirtschaftlichkeiti | 8)j kEs ist auch zwischen individueller und sozialer Wirtschaftlichkeit zu unterscheiden. Diese Unterscheidung muss für sehr allgemeine Fragen gehandhabt werden. So ergiebt sich z. B. dass die Forderungen des Comte’schen „Altruismus“ und die communistische Organisation der Volkswirtschaft gegen die soziale Wirtschaftlichkeit in der Production der Güter verstossen. (S.  520.)18k |

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Zu Knies I Knies über mathemat[ische] Abstraktionen |

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Die Unmöglichkeit, psychische „Faktoren“ wie den „Eigennutz“ zu isolieren, die (vermeintliche) Nicht-Zerlegbarkeit des Individuums also, ist bei Knies der entscheidende Grund gegen die Möglichkeit exakter |:wirtschaftlicher:| „Gesetze“a. Kn[ies] hat dies in der 2ten Auflage des Näheren[,] namentlich in einer Erörterung der „mathematischen“ Methode[,] darzulegen gesucht. Der Sinn seiner Ausführungen läßt sich etwa dahin resumieren: Das Handeln des Individuums ist stets nur als ein einheitlich motiviertes verständlich. Versucht man nun, aus diesem qualitativ einheitlichen psychischen Vorgang einzelne „Seiten“ der Motivation zu isolieren u. baut darauf eine Rechnung auf, so hat man dabei qualitativ, |:u. das heißt in diesem Fall: unberechenbar,:| wirkende Momente außer Betracht gelassen, die man nachher nicht, um von der Abstraktion zur Wirklichkeit zurückzukehren, in die Rechnung wieder einfügen kann, da sie sich nicht in Quantitäten umsetzen lassen | Dieb Anwendbarkeit von Gleichungen findet |:aber überhaupt:| ihre Schranke am Qualitativen (|:2. A[uflage]:| S.  506/7).19c

i  Quer zur Schreibrichtung von der Hand Max Webers am rechten Blattrand: II; am linken Blattrand: 1  j  Ziffer von der Hand Max Webers.   k–k  Exzerpt von dritter Hand.  a  Formeln > „Gesetze“   b  In A geht voraus: 〈NO 4 Kn[ies]〉    c  〈hier kann daher d[urch] Verwendung der mathematischen Faktoren〉    18  Knies, Oekonomie2, S.  520. 19  Ebd., S.  506 f.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

Qualitativ Neue Ergebnissed können nie d[urch] |:einfache:| Rechnung gewonnen werden |:u. eine Weglassung qualitativ wirkender Faktoren ist kein einfaches rechnerisches Vereinfachungsverfahren:| Ein Tausch ist ein Vorgang zwischen „wollenden u. überlegenden Menschen“, deren Interessen dabei qualitativ bestimmt sind, diese Interessen lassen s[ich] nie, |:wie Walras versucht:| nach Art von Wärmeerscheinungen in einfache Zahlenverhältnisse auflösene, es ist die Gleichsetzung beider keine Abstraktion, sondern ein sachlicher Irrtum (|:2. A[uflage]:| S.  504)20 Eine Unvollständigkeit der |:Faktoren der:| Rechnungf kann nie aus ihr selbst erkannt werden. Die |:abstrakte:| Rechnung kann stimmen u. dennoch keinerlei Brücke |:von ihr:| zur Wirklichkeit |:des Lebens:|g zu finden sein (|:2. A[uflage]:| S.  503. 507/8)21 Kn[ies] weist dies näher nach im Anschluß an die Selbstkritik, welche v. Thünen in derh zweiten Auflage seines „Isolierten Staats“ an seiner eignen Methode geübt hatte. -------Zu Knies Ii Die auf den Egoismus aufgebauten „Gesetze“ sind |:daher:| auch nicht etwa j„Versuchen im luftleeren Raum“j zu vergleichen (|:2. A[uflage]:| S.  504/5)22 dennk es wird nicht nur von zufälligen Wid[er]ständenl abstrahiert, sondern etwas qualitativ ganz Andres u. Eigenartiges untergeschoben. | Diese nicht eben sehr durchsichtigen Ausführungen wollen im Wesentlichen wohl nur besagen, daß es von durch isolierende Abstraktionm gewonnenen Begriffen und Gesetzen keinen Weg zur Wirklichkeit zurück giebt, diese niemals aus Begriffen dedu­ ziert werden könne. Indessen, so gefaßt, würde der Satz auf alle Abstraktion ohne Ausnahme, auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, zutreffen. Das Verhältnis zwischen „Gesetz“ und Wirklichkeit und das d  Qualitäten > Ergebnisse   e  〈(gg. Walras)〉    f  〈in qualitativer Hinsicht〉    g  〈zu bestehen〉    h  〈Vorrede zu〉    i  〈(No 3 Kn.)〉    j–j „den im „luftleeren Raum vorgestellten“ Versuchen > „Versuchen im luftleeren Raum“  k  – Grund (sagen wir): > denn  l  Unsichere Lesung.   m  〈keinen〉    20  Ebd., S.  504. 21  Ebd., S.  503, 507 f. 22  Ebd., S.  504 f.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

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Problem der Irrationalität sind hier, – wie sich weiterhin noch zeigen wird, nicht ganz klar erfaßt. nFür Knies ergab sich dern an die Spitze der 2ten Auflage seines Buches |:(S.  7):|23 |:gestellte:| Satz: daß die „exakte“ naturwissenschaftliche Methode nur auf die |:Erkenntnis der:| Körperwelt anwendbar sei, – was |:freilich nur:| bei Beschränkung des Begriffes „exakt“ auf die Aufstellung von Causalgleichungen unzweifelhaft zutrifft.o | [Kn]ies S.  321f24 Das Denken verarbeitet nur, ersetzt aber nicht die Thatsachen |

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Knies Ricardo’s Wahrheiten gleichenp künstlerischen Wahrheiten im Vergleich z[ur] Wirklichkeit S.  340 (I)25 | Comte glaubt an allgemeine Quantifizierbarkeit Knies dagegen S.  518 II26 |

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qAbschluß

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v[on] Knies I über Theorieq Knies über die mathemat[ische] Methode U[nd] doch hat selbst Knies die principielle Tragweite der Irrationalität der Wirklichkeit doch nicht zutreffend erfaßt. Es ist bei ihm stets Folgendesr, worin diese Irr[ationalität] |: – f[ür] die Wirtschaftswiss[enschaft] – :| besteht: diess Hineinspielen nicht ökonomischer Momente, diese haben ökonomische Relevanz, – und diet Unmöglichkeit |:von diesen and­ ren Momenten:| zu abstrahieren, ohne unwirklich zu werden.

n–n  Knies seinerseits 〈hält〉 schließt aus seinen Ausführungen, daß stets > Für Knies ergab sich der   o A: zutrifft, 〈bei jeder anderen Formulierung des selben aber |:freilich:|〉 〈un〉zutreffend sein würde.   p  sind > gleichen   q–q Zusatz am oberen rechten Blattrand.   r  [??] > Folgendes   s  In A geht voraus: 〈1)〉    t  In A geht voraus: 〈2)〉    23  Ebd., S.  7. 24  Knies, Oekonomie1, S.321 f. 25  Ebd., S.  340. 26  Knies, Oekonomie2, S.  518.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

Ferner: die Unterschiede in den Naturbedingungen der mensch­ l[ichen] Wirtschaft, welche sich |:faktisch:| nie ganz beseitigen lassen u. eine allgemeine Theorie nie als ein Abbild der Wirklichkeit erscheinen lassen. uGrade an diese Punkte, deren Richtigkeit ausdrücklich zugestanden wirdu[,] knüpft nun Menger an, um die Möglichkeit u.v Notwendigkeit e[iner]w abstrakten Theoriex trotz ihrer, sogar grade wegen ihrer, abzuleiten |

Zu Knies II.

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Knies Knies über methodischer Entwicklungsgesetze Gesammtstandpunct Analogiegesetze cf. II Gattungsmäßigkeit S.  2427 | Knies G[e]g[en] Roscher: Naturgesetze so fassen, daß jede künftige Thatsache hineinpaßt. S.  33128 | Knies S.  348 (I)29 Prinzip der Analogie: Gleichheiten und Verschiedenheiten feststellen Dann: Ausnahme in Regel verwandeln |:so Fortschritt der Erkenntnis:| --------Gesetz g[e]g[en] die „große Zahl“: auf das Verh[alten] des Einzelnen zu einander kommt es an. | Knies II S.  20330 rein jurist[ische] Eigentums-Definition u–u  Hier > Grade an diese Punkte, deren Richtigkeit ausdrücklich zugestanden wird  v  〈sogar〉    w  der > e.   x  〈gerade〉   27  Ebd., S.  24. 28  Knies, Oekonomie1, S.  331. 29  Ebd., S.  348. 30  Knies, Oekonomie2, S.  203.

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 S.  210 213:31 Identität der jurist[ischen] u. ökonomischen Begriffe   faktisch stets   cf. die confusen Bem[erkungen] über „Besitz“ S.  212 oben32 Als Beispiel f[ür] gattungsmäß[ige] Begriffsbildung bezeichnet Kn[ies] seinen Creditbegriff (II 499)33 | „Offenbar beruht der eigentümliche Charakter der einzelnena geschichtlichen Perioden hauptsächlich eben darauf, daß sich bestimmte Ideen u. geistige Strömungen Bahn brechen, die Herrschaft über die Gemüther zu erringen u. zu behaupten vermögen“ (1.  Aufl. S.  106)34 |

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Knies über Gesetze (1. Auflage)35 1) Begriff der Analogie 1, 1b S.  346    G[e]g[en]satz g[e]g[en] Causalgleichungen     1, 1 S.  346   Das Gleiche dabei das Wesentliche     1, 3 das. 2) Notwendigkeit des Aufsuchens v[on] Parallelismen     2, 1 S.  347    Faktisch große Bedeutung des „Gattungsmäßigen“ im Völkerleben     3. S.  116 3) Jede „Ausnahme“ allmälig als Anwendungsfall eines neuen „Gesetzes“ zu erkennen.    So ein Netz von Begriffen u. Gesetzen über die Wirklichkeit ausbreiten     4. S.  347/8   Neue Thatsachen formen die Theorie um

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a  〈Völker〉    b Alternative Lesung: 2; Hervorhebung der Ziffern in Fettdruck hier und im Folgenden durch den Editor.   31  Ebd., S.  210, 213. 32  Ebd., S.  212. 33  Unklar, ob Knies, Oekonomie2, S.  499. 34  Knies, Oekonomie1, S.  106. 35  Es handelt sich hier um eine Übersicht zu den Exzerpten aus Knies, Oekonomie1, unten, S.  650–654.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

  Stets nur provisorisch     5. S.  327 4) Gesetze können nur Entwicklungsgesetze sein     6. S.  345 5) Arbeitsteilung als rother Faden     7. S.  265 |   Sinn der Entwicklung b[ei] Knies 6) keine Theodizee     8. S.  209 7) Fortschritt in ethischer Hinsicht     9. S.  294 | Ziemlich lahme Bemerkungen über Darwinismus, welcher die Macht des Guten, des Gewissens pp. nicht auf dem Wege der Anpassungstheorie finden könne. (2.  Aufl. S.  351/2)36 | Kn[ies] S.  499 II37 No 2 Abstraktion |:u. Begriffsbildung:| sei unentbehrlichc Nur müssen „Gesetze“, dderen Formulierung aufd Abstr[aktion] beruht, an der Erfahrung nachgeprüft werden, ehe sie als „geltend“ behandelt werden. | Gesetze der Analogie Gattungsgesetze.e | gWenn es sich somit um Erscheinungen und um Gesetze 1)f  der Erscheinung handelt, bei welchem eine Gleichheit und eine Verschiedenheit zugleich in Betracht kommt, 1)h so können wir nur eine Analogie, nicht eine Identität der ökonomischen Erscheinungen erwarten; es können

c  〈([??] Aufl.?)〉    d–d  die auf abstrakten > deren Formulierung auf   e  Quer zur Schreibrichtung auf unterer Blatthälfte: I  f Ziffer von der Hand Max Webers.   g–g (S.  651) Exzerpte von dritter Hand; mit Unterstreichungen von Max Weber.   h  Ziffer von der Hand Max Webers.   36  Knies, Oekonomie2, S.  351 f. – kein direkter Bezug auf Darwin. 37  Ebd., S.  499.

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

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nur Gesetze der Analogie gewonnen werden, nicht Gesetze absolut gleicher Causalwirkungen. (S.  346.)38 Unter analogen Erscheinungen wird man also solche zu verstehen haben, welche bis auf einen gewissen Punkt 2)i hin eine Gleichheit und Uebereinstimmung erkennen lassen, über denselben hinaus dagegen Abweichungen von einander zeigen. (S.  346.) Das, worin sie sich gleich sind, macht ihren Gattungsbegriffj aus und ist ebendeshalbk dann in allen analogen Erscheinungen als ldas Wesentlichel zu erfassen. (S.  346.)g | Parallelismen, um das Gesetzmäßige zu erkennen. | 2)m nEs tritt deshalb zu der Forderung, die Thatsachen des geschichtlichen Lebens genau festzustellen, um sie als Grundlage der Erkenntniss und des Raisonnements zu verwenden, die andere hinzu, für jedes einzelne Problem möglichst viele von derselben Gattung zusam1)o  menzustellen, um den Vergleich auf möglichst umfassender Basis möglich zu machen, eine Forderung, welche ohne das geschichtliche Studium des Lebens der Völker in alter und neuer Zeit kein Genüge geleistet werden kann. (S.  347.) Es ist entschieden Verzicht darauf zu leisten, nach Art der Erforschung naturgesetzlicher Wirkungen in der realen Welt, aus einer einzigen Thatsache das Gesetz der Erscheinungen kennen lernen, blosslegen zu können. Das Prinzip der Analogie, die Methode zur Gewin2)p nung der Gesetze der Analogie ist von dem grössten Werthe, selbst für die reine und die angewandte Mathematik, weil für sie dadurch die Beziehungen festgestellt

A 103v A 103r

i  Ziffer von der Hand Max Webers.   j  Unterstreichung von Max Weber.   k Unterstreichung von Max Weber     l–l Unterstreichung von Max Weber   g(S.  650)–g Exzerpte von dritter Hand; mit Unterstreichungen von Max Weber.   m Ziffer von der Hand Max Webers.   n–n (S.   652) Exzerpte von dritter Hand.   o  Ziffer von der Hand Max Webers.   p  Ziffer von der Hand Max Webers.   38 Hier und im Folgenden (bis S.  654) Exzerpte aus Knies, Oekonomie1, entsprechend der Übersicht von S.  649 f.

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A 105v A 105r

A 106v A 106r

Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

werden, welche zwischen speciellen Sätzen und den mit ihnen correspondierenden allgemeinen stattfinden. In der Nationalökonomie lehrt die Erforschung der Analogie nicht nur das Gesetzmässige in den Erscheinungen zuerst erkennen, sondern es ist dieser auch der Weg, auf welchem unrichtige Formulierungen bereits erkannter u. festgestellter Gesetze verbessert werden. (S.  347.)n |

Gleichheiten Constanz der Menschen-Naturq | 3)r sWie stark diese t|:…..:|t Analogie in der völkergeschichtlichen Entwicklung ist, läßt sich schon daraus ersehen, daß Manche u|:……:|u in allen späteren Zeiten nichts als eine ewige Wiederholung des bereits Dagewesenen zu erblicken vermögen. (S.  116)s | Allmäl[ige] Vermehrung der „Gesetze“v | xSondern es kann auch eine Vergrösserung der Basis, 4)w  eine Vermehrung der in Vergleich kommenden Thatsachen und Erscheinungen von derselben Gattung zur Erkenntniss eines neuen Gleichartigen in der erst durch die neu hinzugewonnenen Thatsachen überwiegenden Menge von Erscheinungen hinleiten, indem sich teils die Gegensätze des Verschiedenen und des Gleichartigen verändert gruppieren, teils auch in dem, was früher, nach Beobachtung einer geringeren Anzahl von Erscheinungen gleichsam als frei und regellos als Ausnahme und specielle Eigenthümlichkeit in den einzelnen Thatn (S.  651)–n Exzerpte von dritter Hand.   q Quer zur Schreibrichtung auf unterer Blatthälfte: I  r Ziffer von der Hand Max Webers.   s–s Exzerpt von der Hand Marianne Webers; mit Korrekturen und Streichungen von der Hand Max Webers.   t–t  Auslassungszeichen von der Hand Max Webers eingefügt; in A folgt die von Max Weber gestrichene Passage: 〈auf dem erwähnten Fundamente beruhende〉   u–u  Auslassungszeichen von der Hand Max Webers eingefügt; in A folgt die von Max Weber gestrichene Passage: 〈hauptsächlich wegen des in der Geschichte Sichgleichbleibens der menschlichen Natur〉    v Quer zur Schreibrichtung auf unterer Blatthälfte: I   w  Ziffer von der Hand Max Webers.   x–x  (S.  653)  Exzerpt von dritter Hand.  

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sachen erschien, später ein allgemeines Gesetz der Erscheinung erkannt und, sobald man in den Stand gesetzt ist, grössere Combinationen anzustellen. (S.  347/348.)x | 5

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Provisor[ischer]y Charakter der Theorie aber doch Theorie. | a„Wer nicht darauf gefasst ist“ – sagt irgendwo Hum5)z  boldt – „Thatsachen anzuerkennen, die aller Theorie widersprechen, ist kein Sprachforscher“ – das gilt in dem Sinne auch für die Nationalökonomie, dass einesteils die Thatsachen des Lebens das Fundament der Theorie bilden, andererseits durch neue Thatsachen des Lebens die vorhandene Theorie einer Verbesserung zugeführt werden kann, oder sagen wir lieber, einer solchen Gestalt, dass auch die Aufnahme der neu gewonnenen Erfahrungen Platz finden kann. (S.  327/328.)a |

A 107v

Entwicklungsgesetze statt Zustandsgesetzeb | dUnd wenn eine Gesetzmässigkeit der in unserem Sinne 6)c  wirthschaftlichen Thatsachen festgestellt werden soll, so können nur solche Gesetze in Frage kommen, welche Gesetze der Entwicklung und Bewegung sind, nicht Gesetze, welche stationäre Zustände zu ihrer notwendigen Voraussetzung haben. (S.  345.)d |

A 108v

Arbeitsteilung Grundlage. | fBehält man gleichzeitig die Bedingungen im Auge, von 7)e  denen die Entfaltung der Arbeitsteilung getragen wird, so kann man sie als den rothen Faden bezeichnen, welcher sich immer bezeichnend durch alle Stufen der Entwicklung hindurchzieht. (S.  265.)f |

A 109v

x (S.  652)–x  Exzerpt von dritter Hand.   y  In A geht voraus, quer zur Schreibrichtung: I  z Ziffer von der Hand Max Webers.   a–a  Exzerpt von dritter Hand.   b Quer zur Schreibrichtung am linken Blattrand: I  c Ziffer von der Hand Max Webers.  d–d Exzerpt von dritter Hand.   e Ziffer von der Hand Max Webers.   f–f  Exzerpt von dritter Hand.  

A 107r

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654 A 110v A 110r

A 111v

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keine Theodizee | hDie nach Zeit und Ort ungleichen Belohnungen glei8g  cher Anstrengungen lassen keine Beweisführung durch die Analogie aufkommen, und machen schon den ersten Ansatz zu einer Theodicee auf diesem Grunde haltlos. (S.i 209.)h | Ethischer Fortschritt bei Kniesj Fortschritt zur Ethik | kDenn nur auf den untersten Stufen der politisch-moralischen Entwicklung, und so lange der ökonomische Egoismus die einzige oder die vorwiegende Triebfeder in den Gliedern des Gemeinwesens ist, kann jener Gegensatz zum Zustande des friedlichen Krieges der Einen gegen die Anderen führen; bei vorschreitender öffentlicher Sittlichkeit wird er zum kittenden Bande zwischen Allen, indem er zur Einsicht von der Nothwendigkeit einer allseitigen Rücksichtnahme und eines Compromisses zwischen den ökonomischen Einzelinteressen führt, und die Unterwerfung des materiellen Eigennutzes der Einzelnen unter die Forderungen des Gesammtinteresses der sittlichen und politischen Pflicht nahe legt. (S.  294.)k |

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Knies I Normen u. Ethik |

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

Knies Zu Knies I (Normen) Prakt[ische] Aufgaben keine Therapeutik. Denn: Arzt hat identische Exemplare Nat[ional-]Ök[onomie]: verschiedene. Aber: nicht nur das. Es steht das Ziel nicht fest. aGött[ingische] Gel[ehrte] Anz[eigen] 1855 St[ück] 9. 10a 39 | g  Ziffer von der Hand Max Webers.   h–h  Exzerpt von dritter Hand.   i  S. von der Hand Max Webers nachkorrigiert.   j In A folgt quer zur Schreibrichtung: I   k–k  Exzerpt von dritter Hand.   a–a  Zusatz am linken Blattrand.   39  Knies, Roscher.

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Roscher in später Auflage Gesch[ichte] N[ational-]Ö[konomie] macht Reformvorschläge   weist conkretes Bedürfnis nach, –    nicht, daß etwas absolut besser seib |

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Knies Zu Knies I (Normen) Aufg[abe]c der Nat[ional-]Ök[onomie] g[e]g[en]über Ethik: S.  351 (I)40 daß nur Erreichbares erstrebt werde |

A 115

Knies Zu Kn[ies] I (Normen) G[e]g[en] List’s Stufen: Jägervölker giebt es nicht Handel schon in der Urzeit S.  235 f.41 nicht alle waren Nomaden (wenigstens unwahrscheinlich) (welche Seite?) Autarkie nicht immer died tiefere Stufe |

A 116

Knies Kn[ies] I Mengers |:Festhalten an der:| Heteronomie auf prak[tischem] Gebiet Conflikte mite Interessen andrer Gebiete unvermeidlich. S.  318 (I)42 |

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Knies  S.  209 (I)43 Zu Knies I Ethik Jede nicht rein beschreibende Theorie hat subjektive Voraussetzungen (es handelt s[ich] aber wohl um prakt[ische] Probleme.) |

A 118

b  Unsichere Lesung.   c  〈f.〉    d  das > die   e  〈Interessen〉    40  Knies, Oekonomie1, S.  351. 41  Ebd., S.  235 f. nichts über Nomaden, aber über verschiedene Theorieansätze zur Wirtschaftsentwicklung (Physiokraten; Smith etc.). 42  Knies, Oekonomie1, S.  318. 43  Ebd., S.  209.

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Soziologie |

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Knies enger Begriff des Wirtschaftlichen: S.  215:44 äußere Güter f[ür] Bedarf des menschlich-persönlichen Lebens |

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Auch bei Knies zwar immer diea Bedingtheit der Wirtschaft d[urch] den allgemeinen Zusammenhang, nicht aber das Umgekehrte betont, daß auch die gesammte Cultur d[urch] die Wirtschaft bedingt ist. |

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Man will wissen, wie der Mensch der „typischen“ Periode dazu kam, sich „nur[“] als Exemplar der Gattung zu fühlen. Nicht umgekehrt dies als bekannt voraussetzen u. daraus dedu­ zieren (das wäre wie Roscher’s „Altern“ u. „Sterben“ der Völker[)] |

A 123

  a) Giebt es e[ine] Geschichte nur überhaupt v[on] allem Geschehen       oder auch e[ine] Wirtsch[afts]-Geschichte?          (d.  h. muß es e[ine] solche geben)       M[enger] scheint unsicher.   b) Aufgabeb in der Geschichte.  Menger glaubt offenbar an das „Abbild“ der Wirklich     ?  keit – unmöglich, Auslese nötig      Daher: „Collektiv“erscheinungen     Offenbar nach s[einer] Ansicht = das allgemein Bedeut­ same     Auch dies geht auf Knies zurück. cIn Wahrheit: Auslese des Bedeutsamen    Rickert daher dann hier zu erörternc    c) Damit zus[ammen]hängend Frage nach der Bedeutung der

a  〈d[urch] d〉    b  Begriffe > Aufgabe   c–c  Einfügung am linken Blattrand.   44  Knies, Oekonomie2, S.  215.

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      Begriffe in der Geschichte.      Schon Wundt betonte, daß es nicht nur Gattungsbegriffe gebe       sondern auchd Beziehungsbegriffe       (der richtige G[e]g[en]satz wäre „Dingbegriffe“)        auch Beziehungen können gattungsmäßig angesehen werden     Auch Schmoller empfindet offenbar den Mangel e[ines]      Begriffssystems als logischen Mangel[,] der provisorisch sei. | Der Gedanke, den Gesammtzusammenhang inf eine Darstellung aufzunehmen, ist logisch unsinnig.     Entweder:  Wirtschaft als das behandelt, wonachf sich der Hergang vollzieht Ist dies        Dann:g die Veränderungen  möglich?     jede einzeln nach ihrer Verursachung           Wirtschafts-Geschichte     Oder:    die Einwirkungen bestimmter ausgelesener so Schmoller       wichtiger Culturelemente auf die Wirt schaft u. Roscher 

A 124

    Oder:   Ein[wirkung] der Wirtschaft auf die großen Culturerscheinungen          diese das, was von einem Faktor          – der Wirtschaft – Einflüsse erfährth |

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Histor[ische] Causalität Möglichkeit – Bedingung – Ursache „Faktoren“ | Wirtschaftl[iches] Verh[alten] wirkte auslesend auf menschl[iches] Zweckstreben. – Histor[ische] Personen bedürfen materieller Mittel. – Schildern nicht nur was sie wollen d  〈Relations〉    e  〈die〉  f Unsichere Lesung.   g  〈Einwirkungen〉    h In A folgen drei gestrichene Zeilen am unteren Rand, über Kopf geschrieben, nicht lesbar.  

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sondern wiefern sie es erreichen können Einwirkung der äußeren Bedingungen auf das histor[ische] Streben: Form der Auslese. Nicht bloß (Below): Schaffung von Möglichkeiten – sondern positiv auslesend. | 5

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Bedeutung der Wirtschaft wechselnd. |:Was heißt das?:| 1)   Etwa Kirchl[iche] Interessen ohne materielle Mittel?   Nein – sondern: materielle Mittel nicht als Zweck, sondern als Mittel z[um] Zweck erscheinend. 2)   bei stabilen w[irtschaftlichen]a Zuständen Wirtschaft minder    bedeutendes Glied in der Kette des Zus[ammen]hangs   logische Formel:    nicht Ursache, sondern |:nur:| Bedingung best[immter]     histor[ischer] Eigenart e[ines] Zeitalters Bedenklich Below’s Formulierung: „immer“ nur Bedingungen | Irrtum bei der psychol[ogischen] Fundierung: Wie immer der Mensch psychol[ogisch] sein mag, er muß s[ich] anpassen an wirtschaftl[iche] Notwendigkeiten. Diese das prius. Von ihnen ausgehen Zwingende Verhältnisse. (nicht absolut determinierend) g[e]g[en] Menger |

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Geistiges Verstehen in der Geschichte | 30

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Grade das Wichtigste, Motive nur d[urch] geistiges Verständnis möglich. anicht durch „reine“ Empiriea Das Eigenheit des histor[ischen] Faches. |

a  Unsichere Lesung; alternativ: m[ateriellen]  a–a  Zusatz am linken Blattrand.  

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Unmittelbares Erleben der Schwerkraft bietet keine Schwierigkeit – als Bedingung unserer ganzen Existenz uns selbstverständlich. Aber jedes s[ich] Entsinnen daran d[urch] wissensch[aftliche] Analyse beseitigt das „Verständliche“ |:Aber: Davon[,] daß wir die Erde „anziehen“[,] spüren wir psy­ chisch nichts. – „Anziehungskraft“ = Anthropomorphismus:| bBegriff „psychisch“ nicht eindeutig. „Psych[isch] bedingt“ massenhafte körperl[iche] Vorgänge. Gebiet des Bewußtseins das Entscheidende.b B[elow] menschl[iche] Handlungen umgekehrt. |

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Es giebt nichts Verständlicheres als das Wirken des VaterlandsGefühls. Erst seit man aus gesundem Menschenverstand e[ine] „Psychologie“ gemacht hat – auch Schmoller – problematisch. Gewiß: Wissen[schaft] macht alles Selbstverständ[liche] z[um] Problem aber sie darf nicht Sklavin ihrer Fragestellung sein auf Gebieten, wo keine Probleme sind |

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Verständlichkeit u. „Erlebbarkeit“ der Wirklichkeit im wiss[enschaftlichen] Sinn nur d[urch] Gedanken, die wir hineintragen u. daran erproben (g[e]g[en] Gottl) Dies – anders formuliert – Leistungc Rickerts, nachgewiesen zu haben. |

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Verständlichkeit der Geschichte | Ganz unvorgreiflichd der Antwort auf die Frage, ob die „psychischen“ Vorgänge uns „unmittelbar gegeben“ sind als die „physischen“ – wie Dilthey will – oder ob beide in ganz dem gleichen Sinn „Bewußtseinsinhalt“ sind – wie Rickert ausführt – wird es doch dabei wohl bleiben, daße jedenfalls |:der Ablauf:| menschlicher Gedankenf uns in einem qualitativ andern Sinn „verständlich“ b–b  Textpassage auf der unteren linken Blatthälfte.   c  Werth > Leistung   d  unbeschadet > unvorgreiflich   e  〈diejenigen Vorgänge und Zusammenhänge, welche wir bewußt in uns selbst nach­zubilden vermögen, uns〉    f  〈-Vorgänge〉   

A 134v A 134r

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

ggemacht

werden kanng als irgend einh Gebilde, welches nicht unter diese Kategorie fällt, gleichviel ob es als „physisch“ oder „psychisch“ anzusprechen wäre. Gewiß ist es – wie Simmel ausführt – wahr, daß wir fremdei Gedankenj stets erst durch Interpre­ tation unter den Motiven eines Geschehens aufdecken können, – aber eben daß |:überhaupt:| die Möglichkeit einer nicht bloß formelmäßigen, sondern verständlichen Interpretation |:des unmittelbar Gegebenen:| |:besteht,:| ist das, was menschlichen Motivzusammenhängenk ihre |:auch von der Logik nicht zu ignorierende:| Eigenart verleiht. Bei jenen Controversen ist „Anschaulichkeit“ u. „Verständlichkeit“ identifiziert. | A 135

A 136 A 137

Simmel als der Versuch,   Gesetzesbegriff aufzugeben Individuelle Gedanken durchzuführen Eine Institution als Träger in ihrer Tragweite analysieren. Aber allerdings: Gattungsmäßigkeit u.   Analogie beider. Feststellen: logisches Wesen der Analogie Bei Simmel die Psychologische Seite als die irrationale, nicht systematisierbare behandelt. Die Institution zu Grunde gelegt. Nur „Verständlichkeit“ nicht „Gesetzlichkeit“ der psycholog[ischen] Vorgänge. |

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„Kosmos“ |  ie Verständlichkeit – anicht = Anschaulichkeita – darf den D histor[ischen] Begriffen nicht verloren gehen – sie dürfen nicht Formeln werden Wo die Grenze ist, flüssig. g–g  sind > gemacht werden kann   h  〈Vorgang〉    i  die > fremde   j  〈uns〉   k Alternative Lesung: Motivenzusammenhängen  a–a Passage mit geschweifter Klammer nach oben markiert und mit einem ? versehen.  

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Nur sicher da, wo hinter der Wirklichkeit etwas Atom-artiges suggeriert wird („Triebe“, etc. = psych[ische] Atome) |

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„(Werthganze“ | Ein „|:Werth-:|Ganzes“ in Lask’s Sinn ist der nationale Staat wie der internat[ionale] Petroleumtrust, die Familie wie ein Bordell, die Maffia wie der Jesuitenorden. | Nat[ur-]Wissenschaft v[om] Generellen Nat[ur-]Wissenschaft v[on] Collektiven? – Beide würden weit auseinanderstreben So nach Menger. | Windelbands emanatistische Ethik. Cultur – Ethik -------Die einzelnen Cultur-Kosmoi  Auslese-Produkt. Auslese |:rhythmisch-:|zweckmäßiger Handlungen d[urch] conkrete Sachlagen Vollständig durchschaubar    daher nicht emanatistisch zu formulieren, als ob die „Cultur“ das Einzelhandelnb aus sich gebären könne (cf. Ranke: es sei dunkel, wie die Ideen in die Menschen kommen) Ranke ein durch das Gewissen des Forschers in rudimentären Grenzen gehaltener Emanatist. |

„Entwicklung“ | Kosmos u. Charakter der menschl[ichen] Institutionen  Auslese der Zweckstreben der Individuen in der Richtung objektiver Zweckmäßigk[eit] die Grundlage. Jeder Kosmos ist begriff[liche] Analyse   nach naturwiss[enschaftlicher] Art zugänglich

b  Einzel[??] > Einzelhandeln  

A 138v A 138r

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 Nur darf kein Begriffs-Realismus – Mystik – daraus werden. Auch |:nie der Begriff das wissensch[aftlich] Endgültige.:| Aber hier haben die Archetypen ihren Platz in der Welt des Sei­ enden. Das im Typen-Sinn Sein-Sollende wird ausgelesen.  aWir wollen u. könnenb das Werden u. Wirken des Kosmos innerlich durchschauen (Gottl)a | A 143v A 143r

A 144v A 144r

A 145v A 145r (1)

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Entwicklung | Dasjenige, an welchem |:wir:| die „Entwicklung“ sich vollziehen |:lassen:|, ist ein Gedankengebilde. | Entwicklung – subjektiv | Es ist aber nötig, sich immer gegenwärtig zu halten, daß „Entwicklung“ in dem obigen Sinn, aufc soziale Institutionen angewendet, dein Begriffd ist, den wir an den Stoff heranbringen[,] vorziehene als Princip der Auslese des „Wesentlichen“f aus dem Chor der ursächlichen Zusammenhängeg und als Form derh Gliederung und Darstellung derselben |:da:| zu benutzen, |:wo dies nach Lage der Verhältnisse zweckmäßig und unschädlichi erscheint.:| – nicht aber ein jhinter dem hist[orischen] Geschehenj verborgenes Agens desselben, welches nun überall und ausnahmslos aufzuspüren und aus dem Stoff herauszudestillieren unsre eigentlichste Aufgabe wäre. Ob wir den Begriff anwenden sollen, ist methodisch nur von Fall zu Fall |:und in jedem Fall nur nach Lage unsres Materials:| zu beantworten, und zwar kann ein Fortschritt der Erkenntnis uns in jedem Fall ebensowohl dazu führen, empirisch beobachtete Thatsachen in einer Entwicklungsreihe gegliedert vorzuführen, wie umgekehrt dazu, eine Entwicklungsconstruktion als überholt zu Gunsten einer klassifikatorischen Stoffgliederung aufzugeben. | Entwicklung Below/ E[duard] Meyer | |:Uns ist es – aus Gründen, die hier zu weit abführen würden – nicht sicher[,] ob es angezeigt ist, hier den Entw[icklungs-]Begriff a–a  Zusatz quer zur Schreibrichtung.   b  〈sein〉    c  〈geschichtliche〉    d–d  ein Gedanke > ein Begriff   e  〈und als Form 〈der〉 seiner Gliederung, |:und:|〉    f  〈sowohl unter den darzustellenden Objekten wie unter den〉    g  〈benutzen〉    h  〈Darstellung〉    i  〈methodisch zulässig〉    j–j [??] > hinter dem hist. Geschehen  

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zu verwenden.:| Was |:aber:| v. Below hier |:gegen Ed[uard] Meyer:| einwirft, schließt |:m. E.:| die Anwendung des Begriffs der „Entwicklung“, falls die sonstigen Bedingungen dafür vorliegen, nicht aus. Auch die „Entwicklung“ des keimenden Lebensk – hier dürfte auch v. B[elow] die Anwendbarkeit des Begriffes nicht bezweifeln, – kann ihr Ziel infolge „zufälliger“ Störungen verfehlen, die „Entwicklung“l jedes Organismus überhaupt vor der „Reife“ geknickt werden. Es handelt sich |:auch:| hier – was v. B[elow] verkennt – nicht um den Gegensatz von „zufällig“ und „notwendig“, sondern |:um den logisch wesentlich abweichenden:| von „zufällig“ und „adaequat“[.] mWas E[duard] M[eyer] meint, ist: wirm betrachten |:nun einmal:| die Entstehung eines deutschen Staatswesens in irgend einer Form heute als adäquate Folge der einmal gegebenen |:geschichtlichen Gesammt-:|Situation, wie wirn das Vollausreifen eines Fötus oals das „Normale“ anseheno, und wir behandeln eine Störung dieses „natürlichen“ Hergangs als „Zufälligkeit“. Daß pdiese Behandlungsweisep eine von uns |:aus „subjektiven“ Bedürfnissen heraus:| vorgenommene Synthese ist, trifft völlig zu, allein v. B[elow] selbst hat |:– wie unzählige Andre vor und nach ihm –:| sehr richtig hervorgehoben, daßq derartige Synthesen für das historische Erkennen schlechthin unentbehrlich sind. | Wir „erkennen“ die rintensive Unendlichkeit der gesch[ichtlichen] Zusammenhänger, indem wir |:– darin besteht die „Subjektivität“ der Geschichte –:| |:wieder und immer wieder:| „Gedanken“ in sie hineintragen unds – darin besteht ihret „Objektivität“u – an der Hand des Stoffes |:wieder u. immer wieder:| gewissenhaft prüfen, ob diese Gedanken ein „adäquates“ Bild resp. welche Gedankenform |:und Gedankencombination von mehrerenv denkbaren:| das adäquatest-mögliche Bild des Vorgangs darstellen. Es ist ganz richtig, daß die Geschichte auf diese Art |:gewissermaßen:| aus einer Kette von „vaticinationes post eventum“ besteht.w

k  〈kann durch〉    l  〈eines〉    m–m  Wir > was E. M. meint, ist: wir   n  〈das Gleiche bezüglich〉    o–o  thun > als das „Normale“ ansehen  p–p  dieser Gesichtspu > diese Behandlungsweise  q  〈eine〉    r–r  Geschichte > intensive Unendlichkeit der gesch. Zusammenhänge   s  〈an ihr erproben〉    t  die > ihre   u  〈dieses Erkennens – an dem gegebenen Stoff daraufhin erproben, ob sie uns eine andre〉   v  〈möglichen〉    w  In A folgt eine Markierung Max Webers zur Einfügung von Blatt 2a (A 147).  

A 146 (2)

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A 146 (2)

A 147v A 148

Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

xyAllein

es ist dochy nicht an dem, daß der Gedanke der adäquaten Entwicklung sich lediglich als Garnitur des irgendwie eingetretenen |:faktischen:| Erfolgs einstellte. Im Gegenteil: Wenn |:z. B.:| Ed[uard] Meyer in geistvoller Weisez die Tendenzen zur Theokratisierung des Hellenentums aufdeckt, welche der Perserherrschaft vorarbeitete und – wie das Beispiel der Juden zeigt – deren politischen Maximena entsprach, so haben wir es hier mit einer „Entwicklung“ zu thun, bei welcher es |:thatsächlich:| „anders gekommen“ ist. Sie ist |:„entwicklungsgeschichtlich“ gesprochen,:| durch die welthistorische „Zufälligkeit“ der Schlacht bei Marathon geknickt undb andren Entwicklungskeimen die Bahn frei gehalten worden.c dDie |:sei es ausdrückliche, sei es stillschweigende,:| Verwendung des Begriffes der „Entwicklungstendenz“d scheint mir hier |:gradezu:| das einzige Mittel, die grandiosee Bedeutung jener unscheinbaren Prügelei ins Licht zu stellen. Daß wir jene Bedeutung als so gewaltig ansehen, geschiehtf subjektiv |:vom Standpunkt unsrer Culturschätzung aus:| und insoweit |:ist es:| natürlich auchg jene ganze „Auffassung“h. Aber diesx | isti so lange unschädlich, als wir uns bewußt bleiben, was an der Darstellung der Geschichte unser Eigentum ist, – j wenn wir |:freilich, häufig genug,:| [–] die Sklaven unsrer eignen Begriffe und Gedanken werden |:und diese als Realitäten zu canonisieren beginnen:|, dann bedarf es |:– aber nicht nur in der Geschichte –:| eines advocatus diaboli, wie ihnk die Jurisprudenz z. B. in E[rnst] I[mmanuel] Bekker lbesitzt und wie erl für die Historie |:in:| v. Belowm erstanden ist. (cf. seine Bemerkungen Hist[orische] Z[eit]schr[ift]n)45 | [??]geno | Der Unterschied der Dinge, an dem s[ich] das Geschehen vollzieht, von den naturwiss[enschaftlichen] „Atomen“[,] ist das für das |:Wesen der:| Geschichte entscheidende x–x  Text entsprechend der Markierung Max Webers hier eingefügt.   y–y  Übrigens ist es > Allein es ist doch   z  〈auf〉    a  〈adäquat war〉    b  〈einer〉    c  〈sollen wir deshalb darauf verzichten, 〈die〉 jene Ansätze unter dem oben erwähnten〉   d–d  Ist deshalb die Verwendung des Entwicklungsbegriffs > Die |:…:| Verwendung des Begriffes der „Entwicklungstendenz“   e  großartige > grandiose   f  ist > geschieht  g  〈die〉    h  〈, die aus diesem〉    i In A geht voraus: Dies  j  〈erst〉   k  es für > ihn   l–l  erstanden ist, während > besitzt, und wie er   m  〈diese Funk­ tion in〉    n  In A folgt eine Lücke.   o  In A Wort überklebt und daher unleserlich.   45  Below, Methode.

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 er Charakter dieser Dinge (Individuen) ist es, der auf die FraD gen Pauls Antwort giebt: wie ist Entwicklung trotz Gesetzen möglich.   Individuen „entwickeln“ sich   Atome nicht. Aus diesem Grund auch dauernd kein Begriffssystem mit letztem Begriff, aus dem deduziert werden könnte. (g[e]g[en] Schmoller) | Entwicklung Hergenommen der Begriff e[ines] Organismus   e[inem] best[immten] Ziel zustrebend Erklärung aus diesem Ziel u. Gesammtzweck. Also: logische = method[ische] Frage im   Einzelnen, ob anwendbar ob e[in] Complex v[on] Vorgängen so am besten u. zugleich rich­ tigsten zu veranschaulichen |:(adäquate Form des WirklichkeitsBildes):| daß e[in] best[immter] Zustand oder Ziel, dem pe[ine] Masse causaler Bedingungenp zustrebt, zu Grunde zu legen ist. Princip der Ordnungq u. Auslese der unendlichen Reihe v[on] Ursachen | Maximum Erklärung der Erreichung des Ziels d[urch] |:lauter:| adäquate Ursachen „Es konnte auch anders kommen“ kein Einwand (Below) Auch bei natürl[icher] Entwicklung Fehlgeburt möglich. (Z. B. Primat des Pabstes – kann klerikal metaphysisch mis braucht werden (Gregor)) | Entwicklung stets teleolog[ische] Begriffe – Ursache – Auslese. wo diejenigen Ursachen, die wir unter allgemeine Begriffe bringen, wesentlich sind. Deshalb kann die Entwicklung selbst – d. h. das Princip, nach welchem der betreffende als Entw[icklungs]-|:Ziel:| aufzufasp–p  e. causale Reihe > e. Masse causaler Bedingungen   q  〈der〉  

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

sende Zustand, oder das Objekt, an dem die E[ntwicklung] s[ich] vollzieht, doch individuell sein. Individuelles Objekt, indiv[idueller] Zustand desselben, beruhend auf Zusammenwirken „typischer“ Ursachen |

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„Typus“ u. „typisch“ | Gegen Jellinek:   Gegensatz von Typen u. klassifikatorischen Begriffen Erstere nicht „Durchschnitt“   cf. typische Zahl, Kries Übertragbar bis zu einem gewissen Grade auf Begriffe, die nicht kalkulierbar Selbst e[ine] wirkende Ursache muß nachweisbar sein Hellas: militär[ischer] Charakter + Stadtstaat + Sclaverei cf. Jellinek selbst S.  26446 | Typus. N[ational-]Ö[konomie] wirtschaftet mit e[inem] Typen-Begriff   der weder e[in] Vorbild noch e[in] Durchschnitt ist Anklang an Wahrscheinl[ichkeits]-Rechnung trotz principieller Differenzen Wenn man einmal den stets irrationalen Ursachen-Complex zu gliedern u. Ursachen auszulesen strebt, deren Begriffe: Möglichkeit – Bedingung – Ursache    Dem Begriff der „Möglichkeit“ (Below)   entspricht nichts in der Wirklichkeit. Da, wo wir die gegebenen wirtsch[aftlichen] Bedingungen als Ursache des Handelns begreifen, sind sie f[ür] uns „Ursache“ Stets e[ine] Rationalisierung des menschl[ichen] Handelns Die heut[ige] W[irtschafts]-Ordnung als ein Kosmos mit adäquaten Verursachungen, verknüpften Einzelerscheinungen, der sich durchsetzt oder durchzusetzen strebt u. im Kampf mit andren Principien liegt | 46  Jellinek, Staatslehre (wie oben, S.  91, Anm.  26), S.  264.

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Wesen der Irrationalität Gesetz u. Wirklichkeit |

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Die Irrationalität des Geschehens erfährt auch in der Unendlich­ keit keine Aufhebung oder Abschwächung. Es findet keine Annäherung (auch keine „asymptotische“) an rein gesetzliche Symmetrien statt Jedes Conkrete, welches aus weiteren Ursachen auftaucht, ist genau so conkret wie jedes vorhergehende. |

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Was heißt: „entwicklungsgeschichtl[ich] notwendig“ – -------a Unendlichkeit der Ursachen: S[iehe] Continentalsperre, Abhängigkeit davon, daß Vorfahren Napo­leons im 10ten Glied s[ich] in Corsika lieben lernten -------Erziehung zum „Erleben“-Können Zweck der Geschichtslogik -------In wiefern können die wirtschaftl[ichen] Gesetze als Form des Geschehens, welches s[ich] von conkreten Inhalten |:als das Material des Geschehens:| findet, aufgefaßt werden? (cf. Astronomie im Verh[ältnis] zu mathemat[isch]-physikal[ischen] Gesetzen) Denkgesetz – mathemat[isches] „Gesetz“ – „Naturgesetz“ –  wirtschaftl[iches] Gesetz e[ine] Stufenleiter? |

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Vorstellung, daß s[ich] das Individuelle |:restlos:| überwinden lasse d[urch] Subsumtion |:des conkreten Falles:| unter stets steigende Vielheit der „Gesetze“ |:deren „Ausdruck“ sie sei:|. –b Lösung nur in der Unendlichkeit. Unendlich viele Gesetze aber sind = unendlich viele Einzelheiten Vorstellung nicht vollziehbar. Also |:diese:| Lösung |:– der intensiven Irrationalitätc – im G[e-] g[en]satz zur zeitlich extensiven:| principiell unmöglich. Dies erkennbar, sobald Ernst gemacht mit dem Gedanken der „causalen Verknüpfung von Allem mit Allem“. |

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a  In A geht voraus: 〈Intensive〉    b  〈Bedeutng nur〉    c  Überwindung > Irrationalität  

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Anhang I:  Die „Nervi“-Notizen

Alle Menschen müssen sterben – Hier e[ine] „Kraft“ oder „Anlage“ allgem[einer] Art v[on] Weismann angenommen Wir nehmen „müssen“ an, trotzdem keine rationale Formulierung möglich. -------B[ei] astronom[ischem] Gesetz oft die Illusion, das Irrationale verblasse in der Richtung nach der Unendlichkeit hin, es ließe s[ich] auf weniger conkrete Gestaltungen zurückführen Davon keine Rede | Gäbe es „Gesetze der Geschichte“, so wäre dennoch die Feststellung des Irrationalen, Individuellen, an dem sie sich vollziehen, e[ine] selbst[ändige] Aufgabe, |:ohne deren Lösung die Wirklichkeit nicht erkannt wird.:| Denn das Gesetz produziert den Einzelfall nicht, es gilt für ihn, vollzieht s[ich] and individuellen Fällen. Der Allgemein-Begriff ist aber ärmer als die Wirklichkeit So schon in der Astronomie. | „In rationaler Welt kann Niemand handeln“ Auch in vollkommen irrationaler Welt könnte niemand han deln –e |:Zukunftsberechnung notwendig obwohl unmöglich:| Beides falsch. Richtig nur, wenn beides auch vom Individuum erkannt u. stets gegenwärtig gehalten Rickert’sf Satz nur deshalb richtig, weil dann der Einzelne auch sich selbst als determiniertg empfinden u. berechnen müßte. Ob er s[ich] rational oder irrational determiniert empfindet, ist egal, das Gefühl des Determiniertseins wäre das Entscheidende Man kann handeln, weil man s[ich] nicht determiniert fühlt, weder d[urch] Gesetze, |:d[urch]:| die man einer rationalen | noch d[urch] e[ine] |:nicht gesetzliche:| Causalität, d[urch] die man einer irrationalen, unbekannten Zukunft entgegengetrieben würde |

d  〈den〉    e  〈1)〉    f  In A geht voraus: 〈2)〉    g  In A doppelt unterstrichen. 

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II. Anmerkungen der Redaktion des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (1906–1908)

Das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ ging aus dem „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“, dem sogenannten Braunschen Archiv, hervor. Dieses wurde von Edgar Jaffé gekauft und ab 1904 unter dem neuen Namen im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) weitergeführt. Jaffé wählte Werner Sombart und Max Weber zu seinen Mitherausgebern. Sie formulierten ihre Herausgeberpolitik in einem „Geleitwort“, das sie als Gesamtheit verantworteten.1 Max Weber beteiligte sich zunächst intensiv an der Redaktion der Zeitschrift und nutzte sie vor allem zur Publikation eigener Artikel. Er klagte zwar immer wieder über die Arbeitslast, äußerte gelegentlich auch Überdruß und sogar Austrittsabsichten. Aber er blieb bis zu seinem Tod dabei. Die Beiträge, die Weber im eigenen Namen in der Zeitschrift veröffentlichte, sind, einschließlich des „Geleitworts“, auf verschiedene Bände verteilt und in der Max Weber-Gesamtausgabe ediert. Doch wirkte er nicht nur am „Geleitwort“, sondern wohl auch an den „Anmerkungen der Redaktion“ zu einzelnen Beiträgen mit. Jedenfalls läßt sich dies nicht ausschließen. Deshalb werden diese „Anmerkungen der Redaktion“ in der Folge mitgeteilt, ohne daß freilich im Einzelnen festgestellt werden könnte, ob und wieweit Weber daran beteiligt war. Zum Abdruck gelangen nur solche „Anmerkungen der Redaktion“, die nicht rein technischer Natur sind. Aufgenommen werden zudem die „Anmerkungen der Redaktion“ nur bis zum Jahre 1908, denn zu diesem Zeitpunkt änderte sich die Redaktionszuständigkeit. Jaffé wollte einerseits die Einheitlichkeit der Redaktion sichern, andererseits seinen Mitherausgebern Sombart und Weber eine größere Unabhängigkeit vom „Archiv“ gewähren. Deshalb schlug er eine Änderung des Vertrags von 1904 zwischen den Herausgebern untereinander und mit dem Verlag vor. Dieser sollte, wie es in einem Brief an Sombart vom 24. April 1907 heißt, vier Punkte berücksichtigen: „1) Weber und Sie werden von jeder Verpflichtung zur redaktionellen Mitarbeit entbunden, und stehen mir nur bei Festsetzung der grossen Richtlinien freundschaftlich zur Seite; 2) Die ganze formale Redaktionsarbeit wird von mir übernommen, was vielleicht auf dem Titelblatt dadurch zum Ausdruck zu bringen wäre, dass man sagen würde: ‚in 1  [Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort, oben, S.  120–134.

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Anhang II:  Anmerkungen der Redaktion des „Archivs“

Verbindung mit W. S. und M. W. herausgegeben von E. J.‘[;] 3. An die Stelle des jetzigen Anteils am Redaktions-Honorar würde für Weber und Sie eine feste Remuneration pro Jahr treten, die allerdings wohl niedriger zu bemessen sein würde, als der jetzige Anteil, einmal um die sehr starke Belastung des Archivs mit Honoraren zu verringern, und zweitens mir zu gestatten, einen ständigen Redaktionsassistenten anzustellen; 4. Weber und Sie würden nur die Verpflichtung übernehmen, Ihre für eine wissenschaftliche Zeitschrift passenden Aufsätze in erster Linie dem Archiv anzubieten, und das Archiv würde seinerseits die Verpflichtung übernehmen, diesen Aufsätzen den Vorrang vor den Beiträgen aller anderen Mitarbeiter, sowohl was die Annahmen wie den schnellen Abdruck anlangt, einzuräumen“.2 In diesem Sinne wurde dann auch tatsächlich verfahren. Der 28.  Band des „Archivs“ aus dem Jahre 1909 führt nur noch Jaffé als Herausgeber – „in Verbindung mit Werner Sombart und Max Weber“ –, während Emil Lederer als ständiger Redaktionsassistent eingestellt wurde.

Anmerkungen der Redaktion des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ 1. Du Bois, W. E. Burghardt, Die Negerfrage in den Vereinigten Staaten, in: AfSSp, Band 22, Heft 1, 1906, S.  31–79, Anm. der Redaktion zum Beitragstitel, S.  31. *)

Anm. d. Red. Die nachfolgende, ebenso wie eine Reihe anderer neuerer Publikationen von Negern und über die Neger in den Vereinigten Staaten werden in einem der nächsten Hefte von einem der Herausgeber kritisch besprochen werden und es wird sich damit wohl Anlaß ergeben, auch auf einige sachliche Seiten des Problems einzugehen. Inzwischen freuen wira uns, einem der hervorragendsten wissenschaftlichen Vertreter der amerikanischen Neger Gelegenheit zur Äußerung geben zu können.

a A: wird   2  Brief von Edgar Jaffé an Werner Sombart vom 24. April 1907, GStPK, VI HA, Nl. Werner Sombart Nr.  17, Bl. 83r+v, 84.

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Anhang II:  Anmerkungen der Redaktion des „Archivs“

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2. Flesch, Karl, Das Wohnen und das Recht. Zum Entwurf eines preußischen Gesetztes zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse, in: AfSSp, Band 22, Heft 2, 1906, S.  524–533, Anm. der Redaktion zum Beitragstitel, S.  524. *)

5

Anm. d. Red. Vgl. hierzu den Aufsatz von Rudolf Eberstadt: Der Entwurf eines preußischen Wohnungsgesetzes, seine Vorgeschichte und seine Bedeutung, im XIX. Bande dieses Archivs. – Da dort das Hauptgewicht auf die volkswirtschaftliche Bedeutung des Entwurfs gelegt wird, so hielten wir es für angemessen, an dieser Stelle aus sachkundiger Feder eine Würdigung der rechtlichen Seite des Problems zu bringen.

3. Peter, Heinrich, Zur Lage der Kellnerinnen im Großherzogtum Baden, in: AfSSp, Band 24, Heft 3, 1907, S.  558–612, Notiz der Redaktion am Ende des Beitrags, S.  612.

Notiz.

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Die Redaktion ließ in einem Heft zu dem Thema „Kellnerinnenfrage“ zwei Referenten zu Wort kommen. Denn es bot sich die günstige Gelegenheit, den Forderungen des Statistikers das Urteil der Leiterin der Rechtsschutzstelle zu Heidelberg gegenüberzustellen.3 Beide Verfasser behandeln das gleiche Problem und doch kommen sie zu Forderungen, die in wichtigen Punkten auseinandergehen. Ein Beweis dafür, wie notwendig es ist, diese Frage von verschiedenen Seiten zu betrachten, um sie der Lösung näher zu bringen.

4. Lagardelle, Hubert, Die syndikalistische Bewegung in Frankreich. Erster Artikel, in: AfSSp, Band 26, Heft 1, 1908, S.  96–143, Anm. der Redaktion zum Terminus „Arbeitsbörse“, S.  97. 3  Gemeint ist der nachfolgende Beitrag von: Jellinek, Camilla, Kellnerinnenelend, in: AfSSp, Band 24, Heft 3, 1907, S.  613–629.

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Anhang II:  Anmerkungen der Redaktion des „Archivs“

*)

Anm.: Die Arbeitsbörsen sind lokale Vereinigungen der am gleichen Orte befindlichen Gewerkvereine der verschiedenen Gewerbe; die nationalen Gewerkschaftsverbände umfassen dagegen die Vereine des gleichen Berufszweiges im ganzen Lande. (Anm. d. R.)

5. Macrosty, Henry W., Die Vorgeschichte des englischen Streikgesetzes von 1906. (Trade Disputes Act.), in: AfSSp, Band 26, Heft 2, 1908, S.  405–428, Anm. der Redaktion zum Beitragstitel, S.  405. 1)

Bekanntlich besitzt England zwei Quellen des geltenden Rechtes: 1. das durch die Gesetzgebung geschaffene („Statute law“) und 2. das durch richterliche Entscheidungen gültig ausgelegte Ge­wohnheitsrecht („Common law“). – Die rechtsschaffende Kraft des Richters übt aber auch einen ungemein starken Einfluß auf die Gestaltung des Statute Law insofern als die durch richterliche Entscheidung geschaffene Auslegung desselben Gesetzeskraft behält, bis sie eventuell durch eine spätere Entscheidung umgestoßen und ersetzt wird. Daher die fortwährende Zitierung älterer Entscheidungen bei allen gesetzgeberischen und juristischen Diskussionen. Die höchste Instanz für richterliche Entscheidungen bildet das House of Lords. Wenn also ein englischer Schriftsteller den Ausdruck „law“ (Gesetz) braucht, so kann er – wie es auch in der vorliegenden Abhandlung geschieht – damit ebensowohl ein bestimmtes Gesetz (Statute law) meinen, als auch die durch richterliche Entscheidung festgelegte Auslegung desselben oder endlich das auf gleiche Weise festgelegte Gewohnheitsrecht. (Anm. d. R.)

6. Zimmermann, Kazimierz, Literatur zur Ostmarkenfrage, in: AfSSp, Band 26, Heft 2, 1908, S.  521–533, Anm. der Redaktion zum Beitragstitel, S.  521. 1)

Anm. d. Red. zum Titel. Es schien uns in mehrfacher Hinsicht wertvoll, bevor wir eine Besprechung des Bernhardschen Werkes4

4  Gemeint ist: Bernhard, Ludwig, Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat. – Leipzig: Duncker & Humblot 1907.

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Anhang II:  Anmerkungen der Redaktion des „Archivs“

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aus deutscher Feder bringen, einer polnischen Stimme Gelegenheit zu geben, sich darüber vom polnischen Standpunkte aus zu äußern, und dadurch das Material zur Beurteilung der zahlreichen wichtigen Fragen zu vervollständigen, die das Bernhardsche Buch aufwirft. Eine Besprechung der Schrift von einer deutschen Seite, die den polnisch-deutschen Nationalitätenkampf gleichfalls aus der Nähe hat beobachten können, werden wir in einem späteren Hefte bringen.

7. Vandervelde, Emil, Der Generalstreik, in: AfSSp, Band 26, Heft 3, 1908, S.  539– 558, Anm. der Redaktion zum Beitragstitel, S.  539. 1)

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Dieser Aufsatz erscheint gleichzeitig in der Revue du Mois, Paris. Wir freuen uns dem Führer der sozialistischen Partei Belgiens Gelegenheit geben zu dürfen, sich über die inhaltsreichen Fragen des Generalstreiks und der syndikalistischen Bewegung zu äußern, deren weitere Entwicklung im gleichen Hefte von Prof. H[ubert] Lagardelle, Paris, dem Herausgeber des Mouvement Socialiste vom Standpunkt der französischen Syndikalisten aus geschildert wird.5 (Anm. der Redaktion.)

5 Gemeint ist: Lagardelle, Hubert, Die syndikalistische Bewegung in Frankreich. II. Die gegenwärtige Lage des Syndikalismus, in: AfSSp, Band 26, Heft 3, 1908, S.  606–648.

Verzeichnisse und Register

Personenverzeichnis

Dieses Verzeichnis berücksichtigt die von Max Weber in den Schriften genannten Personen, mit Ausnahme allgemein bekannter Persönlichkeiten. Die Einträge folgen der Schreibweise Max Webers.

Äschylos; Tl. (griech.): Aischylos (525/4–456/5 v.Chr.). Athenischer Tragiker. Führte den Auftritt mehrerer Schauspieler sowie bühnentechnische Innovationen ein. Neben Fragmenten sind sieben seiner Tragödien erhalten, darunter die 458 v. Chr. entstandene „Orestie“. Avenarius, Richard (19.11.1843–18.8.1896). Philosoph. Buchhändlerlehre, 1868 Promotion zum Dr. phil. in Leipzig, anschließend Studien- und Bildungsreisen durch Südeuropa, 1876 Habilitation in Leipzig, 1877 als Nachfolger von → Wilhelm Windelband o. Professor für Philosophie in Zürich. Entwickelte eine Theorie der „reinen Erfahrung“, den sog. Empiriokritizismus. Bashkirtseff, Marie; Tl. (russ.): Baschkirzewa, Maria Konstantinowna (24.11.1860–31.10.1884). Malerin. Seit 1877 in Paris Schülerin von Tony Robert-Fleury und Jules Bastien-Lepage, dessen naturalistischer Stil ihr Werk prägte. Postum veröffentlichte Tagebücher und Briefe. Below, Georg von (19.1.1858–21.10.1927). Historiker. 1883 Promotion in Bonn, 1886 Habilitation in Marburg, Privatdozent ebd., 1888 Privatdozent in Königsberg, 1889 a. o. Professor ebd., 1891 o. Professor für Mittlere und Neuere Geschichte in Münster, 1897 in Marburg, 1901 in Tübingen, 1905– 1924 in Freiburg i. Br. Arbeiten zur mittelalterlichen Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte und zu Methodenproblemen der Geschichtswissenschaft. Bernheim, Ernst (19.2.1859–3.3.1942). Historiker. 1873 Promotion zum Dr. phil. in Straßburg, 1875 Habilitation in Göttingen, 1883 a. o. Professor, 1889–1921 o. Professor für Mittlere und Neuere Geschichte sowie historische Hilfswissenschaften in Greifswald, 1891–97 auch Mitarbeiter der „Monumenta Germaniae Historica“. Biermann, Wilhelm Eduard (16.5.1878–16.12.1937). Nationalökonom. 1901 Promotion zum Dr. phil. in Leipzig, 1910 a. o. Professor ebd., 1919 o. Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften in Greifswald. Binding, Karl (4.6.1841–7.4.1920). Jurist. 1863 Promotion zum Dr. jur. in Göttingen, 1864 Habilitation in Heidelberg, 1866 o. Professor für öffentli-

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Personenverzeichnis

ches Recht in Basel, 1870 in Freiburg i. Br., 1872 in Straßburg, 1873–1913 in Leipzig. Verdienste auf dem Gebiet der Strafrechtsdogmatik. Böcklin, Arnold (16.10.1827–16.1.1901). Schweizer Maler. 1845–47 Schüler des Landschaftsmalers Johann Wilhelm Schirmer in Düsseldorf, 1847 Aufenthalte in Brüssel und Antwerpen, 1848 in Paris, 1850–57 in Rom, 1860–62 Professor an der Weimarer Akademie, 1866–71 in Basel, 1871–74 in München, 1874–85 in Florenz, 1885–92 in Zürich, ab 1892 häufige Aufenthalte in Fiesole bei Florenz, 1895 dauerhafte Niederlassung ebd. Boeckh, August (24.11.1785–3.8.1867). Altphilologe. 1807 Promotion zum Dr. phil. in Halle a. S., Habilitation in Heidelberg und a. o. Professor für Klassische Philologie ebd., 1809 o. Professor ebd., ab 1811 in Berlin. Setzte sich für die Stärkung der Philologie als Wissenschaft ein. Böhm-Bawerk, Eugen Ritter von (12.2.1851–27.8.1914). Österreichischer Nationalökonom und Politiker. 1875 Promotion zum Dr. jur. in Wien, Studien bei → Karl Knies, → Wilhelm Roscher und → Bruno Hildebrand in Heidelberg, Leipzig und Jena, 1880 Habilitation in Wien, 1881–84 a. o. Professor ebd., 1884–89 o. Professor in Innsbruck; 1889–95 Ministerialrat, 1895 kurze Zeit Sektionschef des Finanzministeriums, 1895, 1897/98, 1900–04 Finanzminister; 1904 o. Professor in Wien, 1911 Präsident der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Neben → Carl Menger und Friedrich von Wieser Begründer der österreichischen Schule der Nationalökonomie (Grenznutzenschule); bekannt durch seine Arbeiten über Kapital und Kapitalzins und eine umfassende Kritik der marxistischen Wertlehre. Bonar, James (27.9.1852–18.1.1941). Politischer Ökonom. 1874 M. A. in Glasgow, 1877 in Oxford, 1877–80 University Extension Lecturer in London. 1881–1907 Examiner in der Civil Service Commission, 1907–19 Deputy Master des Ottowa Branch of Royal Mint, 1898 Präsident der ökonomischen Sektion der British Association, mehrfach Vizepräsident der Royal Statistical Society. Bortkiewicz, Ladislaus von (7.8.1868–15.7.1931). Nationalökonom und Statistiker polnischer Herkunft. Studium der Rechts- und Staatswissenschaft in St. Petersburg, 1893 Promotion zum Dr. phil. bei Wilhelm Lexis in Göttingen, 1895 Habilitation in Straßburg, 1899–1901 Dozent am St. Petersburger Alexander-Lyzeum, 1901 a. o., 1920–31 o. Professor für Nationalökonomie und Statistik in Berlin. Mitglied des „Vereins für Socialpolitik“. Beschäftigte sich vornehmlich mit Problemen der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Statistik. Braun, Heinrich (23.11.1854–8.2.1927). Sozialpolitiker und Publizist. 1881 Promotion zum Dr. phil. in Halle a. S.; seit 1883 zusammen mit Karl Kautsky und Wilhelm Liebknecht Mitbegründer der „Neuen Zeit“, 1888–1903 Her-

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ausgeber des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik“ („Brauns Archiv“), das er 1903 an → Edgar Jaffé verkaufte, 1892–95 Herausgeber des „Sozialpolitischen Centralblattes“, 1905–07 der „Neuen Gesellschaft“ und 1911–13 der „Annalen für Sozialpolitik und Gesetzgebung“. 1903–04 MdR für die SPD; Mitglied des „Vereins für Socialpolitik“. Breysig, Kurt (5.7.1866–16.6.1940). Historiker. 1889 Promotion zum Dr. phil. bei → Gustav Schmoller in Berlin, 1892 Habilitation ebd., 1896 a. o. Professor für Neuere Geschichte in Berlin, 1923–34 o. Professor für Gesellschaftslehre und allgemeine Geschichtswissenschaft ebd. Pläne zu einer Universalgeschichte. Bücher, Karl Wilhelm (16.2.1847–12.11.1930). Nationalökonom. 1870 Promotion zum Dr. phil. in Bonn, 1872–78 Gymnasiallehrer in Dortmund und Frankfurt a. M., 1878–80 Redakteur für Wirtschafts- und Sozialpolitik bei der „Frankfurter Zeitung“; 1881 Habilitation für Nationalökonomie in München, 1882 o. Professor für Statistik in Dorpat, 1883 in Basel, 1890 an der TH Karlsruhe, 1892–1917 o. Professor für Nationalökonomie und Direktor der vereinigten staatswissenschaftlichen Seminare in Leipzig, 1916 Gründung des Instituts für Zeitungswissenschaft in Leipzig. 1901–03 mit Albert Schäffle Herausgeber der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“, 1904–23 alleiniger Herausgeber. Seit 1874 Mitglied des „Vereins für Socialpolitik“. Besonders bekannt durch seine Theorie der Wirtschaftsstufen. Bunsen, Robert Wilhelm (30.3.1811–16.8.1899). Chemiker. 1831 Promotion zum Dr. phil. in Chemie in Göttingen, 1833 Habilitation mit einer Arbeit zur organischen Chemie ebd., 1836 als Nachfolger Friedrich Wöhlers an das Polytechnikum in Kassel berufen, 1839 nach Marburg versetzt, 1851 Professor in Breslau, 1852–89 in Heidelberg, dort auch Direktor des chemischen Laboratoriums. Bedeutende Entdeckungen in der organischen Chemie und bei der Darstellung neuer Elemente mittels der von ihm entwickelten Spektralanalyse. Burckhardt, Jacob (25.5.1818–8.8.1897). Schweizer Kultur- und Kunsthi­ storiker. 1843 Promotion zum Dr. phil., 1844 Habilitation für Geschichte in Basel, Kunstreisen nach Belgien, Frankreich und Italien, Aufenthalte in Rom, 1846–55 Dozent und a. o. Professor ebd., 1855–58 o. Professor für Kunstgeschichte am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, 1858–93 für Geschichte und Kunstgeschichte in Basel. Begründer der wissenschaftlichen Kunstgeschichte. Busch, Wilhelm (15.4.1832–9.1.1908). Dichter und Zeichner. Populär durch seine satirischen Bildgeschichten. Gaius Iulius Caesar (13.7.100–15.3.44 v. Chr.). Römischer Politiker, Feldherr und Schriftsteller. Ließ sich, nachdem er durch den Bürgerkrieg gegen

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Pompeius zur Alleinherrschaft in Rom gelangt war, 44 v. Chr. zum Dictator auf Lebenszeit ernennen, was zu seiner Ermordung durch Verschwörer aus Kreisen des Senats führte. Calkins, Mary Whiton (30.3.1863–26.2.1930). Amerikanische Psychologin und Philosophin. Absolventin des Smith College in Northampton, 1886 Europareise, 1887 Tutorin für Griechisch am Wellesley College, 1889/90 Dozentin für Griechisch und 1891–94 für Psychologie ebd., Gründung eines psychologischen Laboratoriums ebd., 1892–95 Zusammenarbeit mit → Hugo Münsterberg und → William James in Harvard, dort 1895 Verweigerung des Doktorgrads aufgrund ihres Geschlechts, 1898–1929 Professorin für Philosophie und Psychologie am Wellesley Frauencollege. 1891 Gründerin des ersten psychologischen Laboratoriums an einem Frauencollege in den USA. Calvin, Johannes (eigentlich: Jean Cauvin) (10.7.1509–27.5.1564). Reformator. Nach humanistischen, juristischen und theologischen Studien in Frankreich kam er in Berührung mit den Schriften Martin Luthers; sein Bekenntnis zu den protestantischen Ideen zwang ihn zur Emigration in die Schweiz; nach 1536 wirkte vor allem in Genf. Sein theologischer Einfluß, insbesondere seine Prädestinationslehre, prägte die reformatorische Entwicklung in weiten Teilen Europas. Cohn, Gustav (12.12.1840–17.9.1919). Nationalökonom. 1866 Promotion zum Dr. phil. in Leipzig, 1869 Habilitation in Heidelberg, 1869 Dozent, 1871 Professor am Baltischen Polytechnikum in Riga, 1875 Professor am Polytechnikum in Zürich, 1884–1918 o. Professor in Göttingen. Mitbegründer des Vereins für Socialpolitik und Mitglied in dessen Ausschuß, 1892/93 Mitglied der Börsenenquetekommission. Verstand die Nationalökonomie als ethische Wissenschaft; verschiedene Aufsätze zur Börsenreform in England und Deutschland; besonders bekannt durch seine Schriften zur englischen Eisenbahnpolitik. Comte, Auguste (19.1.1798–5.9.1857). Französischer Philosoph. 1816 Studium an der École Polytechnique in Paris, 1817–24 Schüler und Sekretär von Claude-Henri de Saint-Simon; zeitweilig Repetitor für Mathematik an der École Polytechnique, 1829–46 öffentliche Vorlesungen, die den Grundstock seines „Cours de philosophie positive“ (6 Bände, 1830–1842) bildeten, mit dem er auch die Soziologie begründete (Bände 4–6). Entwicklung einer positiven Philosophie und Politik im „Système de politique positive“ (4 Bände, 1851–1854) und Begründer der „Religion de l’Humanité“. Constant, Benjamin Henri de Rebecque (25.10.1767–8.12.1830). Französischer Schriftsteller und Politiker. Studium in Oxford, Erlangen und Edinburgh. Anhänger der Girondisten in der Französischen Revolution, 1799– 1802 Mitglied des Tribunats unter dem Konsulat Napoleon Bonapartes.

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Gehörte zum Kreis von Madame de Staël in Coppet. 1819–22 und 1824–30 Vertreter der liberalen Opposition in der Abgeordnetenkammer. Croce, Benedetto (25.2.1866–20.11.1952). Italienischer Philosoph, Historiker, Literaturwissenschaftler und Politiker. 1902 Gründer und Herausgeber der philosophischen Zeitschrift „La Critica“. 1910 Senator, 1920/21 Unterrichtsminister, 1943–47 Vorsitzender der Liberalen Partei Italiens, 1947–48 Minister ohne Portefeuille in Rom. Vertrat eine idealistische Philosophie im Anschluß an Hegel und zugleich einen antiklerikalen Intellektualismus. Cˇuprov, A. A. → Tschuprow, Alexander A. Defoe, Daniel (eigentl.: Daniel Foe) (1660?–26.4.1731). Englischer Schriftsteller. Ausbildung an einer Akademie für nonkonformistische Pfarrer, Kaufmann ohne Erfolg; Herausgeber u. a. von „The Review“ (1703–13). Verfaßte Romane, aber auch politische, soziale und volkswirtschaftliche Abhandlungen. Bekannt durch seinen ersten Roman „The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe” (1719/20). Dilthey, Wilhelm (19.11.1833–1.10.1911). Philosoph und Historiker. 1856 theologisches Examen in Wiesbaden und Lehrerexamen in Berlin, 1856–58 Lehrer ebd., 1864 Promotion zum Dr. phil. in Berlin und Habilitation für Philosophie ebd., 1866 o. Professor für Philosophie in Basel, 1868 in Kiel, 1871 in Breslau, 1882–1905 o. Professor für Philosophie und Ästhetik in Berlin. Begründer der Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften, Weiterentwicklung ihrer Methode der Hermeneutik und verstehenden Psychologie. Gehörte zum Berliner Freundeskreis von Max Weber sen. Diocletian (eigentl.: Gaius Aurelius Valerius Diocletianus). Römischer Kaiser (17.11.284–305, im Osten seit 286). Stellte durch umfassende Verwaltungs-, Militär- und Wirtschaftsreformen das römische Reich auf neue, durch verstärkte Zentralisierungstendenzen geprägte Grundlagen. Sicherte die Reichsgrenzen gegen die Germanen und Perser. Behielt in der 293 zusammen mit Maximilian, Constantinus I. und Galerius gebildeten Tetrarchie die Oberherrschaft. Legte als Begründer des sog. „Dominats“ (Th. Mommsen), der göttlichen Verehrung des Kaisers, die Basis für den späteren byzantinischen Kaiserkult; verantwortlich für die schlimmsten Christenverfolgungen. Dippe, Karl Alfred (1853–nach 1915). Pädagoge. Promotion zum Dr. phil., Lehrer in Soest, Schriften über Philosophie, Naturphilosophie und Energetik. Vertrat einen dualistisch-teleologischen Standpunkt (ähnlich wie → Johannes Reinke). Drews, Arthur (1.11.1865–19.7.1935). Philosoph. 1889 Promotion zum Dr. phil. in Halle a. S., 1896 Habilitation für Philosophie in Karlsruhe, 1899 a. o. Professor für Philosophie ebd.

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Droysen, Johann Gustav (6.7.1808–19.6.1884). Historiker und Politiker. 1831 Gymnasiallehrer in Berlin, 1831 Promotion bei → August Boeckh in Berlin, 1833 Habilitation für klassische Philologie und 1835 a. o. Professor ebd., 1840–51 o. Professor für Geschichte in Kiel, 1851–59 in Jena, 1859– 1884 in Berlin. 1848/49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung. Bedeutsam für die moderne Geschichtswissenschaft durch seine hermeneutische Methodik und die Begründung der quellenkritischen Methode. Dschingis Khan; Tl.: Cˇinggis Qan (1155/67–18.8.1227). Krieger und Mongolenfürst. Seit 1206 Herrscher der Mongolen (Khan). Begründete das nach den Prinzipien des Nomadentums organisierte mongolische Großreich, das bei seinem Tod vom Chinesischen Meer bis an die Grenzen Europas reichte. Du Bois-Reymond, Emil Heinrich (7.11.1818–26.12.1896). Mediziner und Physiologe. 1843 Promotion zum Dr. med. in Berlin, 1846 Habilitation ebd., 1855 a. o., 1858 Professor für Physiologie ebd., gleichzeitig Leiter des Physiologischen Instituts. 1872 hielt er seine Rede „Über die Grenzen der Naturerkenntnis“. Düntzer, Heinrich (12.7.1813–16.12.1901). Literaturhistoriker. 1835 Promotion zum Dr. phil. in Berlin, 1837 Habilitation für klassische Philologie in Bonn, 1846 Bibliothekar in Köln. Veröffentlichte u. a. die „Erläuterungen zu den deutschen Klassikern“ (86 Bände, 1855–1885). Ebbinghaus, Hermann (23.1.1850–26.2.1909). Psychologe. 1873 Promotion zum Dr. phil. in Bonn, 1880 Habilitation für Philosophie in Berlin, 1886 a. o. Professor für Psychologie und Ästhetik ebd., 1894 o. Professor für Psychologie in Breslau, 1905 in Halle a. S., 1890–1910 Mitherausgeber der „Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane“. Begründer der experimentellen Lern- und Gedächtnispsychologie. Elsenhans, Theodor (7.3.1862–3.1.1918). Psychologe, Theologe und Philosoph. 1885 Promotion zum Dr. phil. in Tübingen, 1891 Stadtpfarrer in Riedlingen; 1902 Habilitation in Heidelberg, 1908 o. Professor für Philosophie und Pädagogik an der TH Dresden. Arbeiten über die Erkenntnistheorie in Auseinandersetzung mit dem Werk Immanuel Kants. Eulenburg, Franz (29.6.1867–28.12.1943). 1892 Promotion zur Dr. phil. bei → Gustav Schmoller in Berlin, 1899 Habilitation bei → Karl Bücher in Leipzig, 1899–1905 Privatdozent ebd., 1905–17 a. o. Professor ebd., 1917 o. Professor für Nationalökonomie an der TH Aachen, 1919 in Kiel, 1921–35 an der Handelshochschule in Berlin. Mitglied des „Vereins für Socialpolitik“. Gehörte zum engeren Kollegenkreis Max Webers.

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Fichte, Johann Gottlieb (19.5.1762–29.1.1814). Deutscher Philosoph des Idealismus. 1784–94 nach Abbruch des Studiums der Theologie und Jurisprudenz Tätigkeit als Hauslehrer u. a. in Leipzig und Warschau. 1794 Professor für Philosophie in Jena, 1799 Privatdozent in Berlin, 1805 Gastprofessor in Erlangen, 1807 o. Professor in Königsberg und im selben Jahr Rückkehr nach Berlin, 1810 o. Professor ebd. und erster gewählter Rektor der Universität. Bedeutender Vertreter des deutschen Idealismus und leidenschaftlicher Verfechter der nationalen Idee. Seine „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre“ (1794) bildete das Kernstück seines philosophischen Systems. Sein „Geschlossener Handelsstaat“ (1800) enthält eine organisch-staatssozialistische Gesellschaftskonzeption, die er in seiner „Rechtslehre“ (1812) weiterentwickelte. Friedrich II., der Große (24.1.1712–17.8.1786). König von Preußen (1740– 1786). Führte Preußen in einer Reihe von Kriegen (u. a. Schlesische Kriege 1740–42, 1744/45 und Siebenjähriger Krieg 1756–63) zu seiner Stellung als Großmacht in Europa. Betrieb eine Wirtschaft, Verwaltung, Recht und Erziehung umfassende Reformpolitik im Geiste des aufgeklärten Absolutismus. Zugleich Förderer der Wissenschaften und Künste mit enger Beziehung zur höfischen Kultur in Frankreich. Friedrich Wilhelm IV. (15.10.1795–2.1.1861). König von Preußen (1840– 1858). Lehnte die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung zugedachte Kaiserkrone ab; verantwortlich für die Revision der Verfassung von 1848. Gervinus, Georg Gottfried (20.5.1805–18.3.1871). Historiker, Literaturwissenschaftler und Politiker. 1827–30 Lehrer in Frankfurt a. M. und Heidelberg, 1830 Promotion und Habilitation bei → Friedrich Christoph Schlosser, 1832/33 Italienreise, 1835 a. o. Professor in Heidelberg, 1836 o. Professor für Geschichte und Literatur in Göttingen, 1837 als Mitglied der „Göttinger Sieben“ wegen Protests gegen die Aufhebung der hannoverschen Verfassung durch König Ernst August des Landes verwiesen, 1839–44 Privatgelehrter in Heidelberg, 1844 Honorarprofessor ebd. 1848 Vertrauensmann der Hansestädte im Siebzehnerausschuß des Bundestages und Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung. 1847 Mitherausgeber der „Deutschen Zeitung“. Mit dem Großvater Max Webers, Friedrich Fallenstein, befreundet, wohnte 1848–62 in dessen Heidelberger Haus und unterrichtete Webers Mutter Helene. Gierke, Otto (seit 1911) von (11.1.1841–10.10.1921). Jurist und Rechtshi­ storiker. 1860 Promotion zum Dr. jur. in Berlin, 1865 Gerichtsassessor in Stettin, 1867 Habilitation und Privatdozent in Berlin, 1871 a. o. Professor ebd., 1872 o. Professor des Rechts in Breslau, 1884 für deutsches Recht in Heidelberg, 1887 in Berlin. Grundlegende Werke zum deutschen Genossenschaftsrecht; Gegner der positivistischen Staatsrechtsauffassung. Akademischer Lehrer von Max Weber.

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Gomperz, Heinrich (18.1.1873–27.12.1942). Philosoph. 1896 Promotion zum Dr. phil. in Wien, 1900 Habilitation für Philosophie in Bern, 1905 Privatdozent in Wien, 1920 a. o. Professor und 1924 o. Professor für Philosophie ebd., 1934 vorzeitige Emeritierung und Emigration nach Amerika, 1935 Gastprofessor an der University of Southern California in Los Angeles, 1939/40 in Oregon, 1941/42 in Illinois. Gottl-Ottlilienfeld, Friedrich Edler von (bis zur Nobilitierung des Vaters 1907: Friedrich Gottl) (13.11.1868–19.10.1958). Nationalökonom. 1897 Promotion zum Dr. phil. bei → Karl Knies und Bernhard Erdmannsdörffer in Heidelberg, 1900 Habilitation ebd., 1902 a. o., 1904 o. Professor an der TH Brünn, 1908 an der TH München, 1919 Lehrstuhl für Theoretische Nationalökonomie in Hamburg, 1924 in Kiel, 1926–36 in Berlin. Beiträge zur Wissenschaftstheorie, Terminologie und Methodologie der Nationalökonomie. Gustav II. Adolf (19.12.1594–16.11.1632). Schwedischer König (seit 1611) und Heerführer. Griff seit 1630 auf der Seite der evangelischen Reichsfür­ sten als Kontrahent Wallensteins in den Dreißigjährigen Krieg ein. Hampe, Karl (3.2.1869–14.2.1936). Historiker. 1893 Promotion zum Dr. phil. bei Paul Scheffer-Boichorst in Berlin, ab 1893 Mitarbeiter der „Monumenta Germaniae Historica“, Studienreisen nach England und Frankreich, 1898 Habilitation in Bonn, 1903–34 o. Professor für Mittlere und Neuere Geschichte in Heidelberg. Hannibal (247/46–183 v. Chr). Karthagischer Feldherr. Oberbefehlshaber im Zweiten Punischen Krieg (218–201 v. Chr.), Sieger in der Schlacht bei Cannae (216 v. Chr.). Hartmann, Eduard von (23.2.1842–5.6.1906). Philosoph. Nach autodidaktischem Studium der Philosophie Privatgelehrter mit vielbeachteten Schriften zur „Philosophie des Unbewussten“ (Berlin 1869). Angebotene Professuren in Leipzig, Göttingen und Berlin schlug er wegen einer Knieverletzung, die ihm nur das Arbeiten im Liegen erlaubte, aus. Hartmann, Ludo Moritz (2.3.1865–14.11.1924). Österreichischer Historiker und Politiker. 1887 Promotion zum Dr. phil. in Berlin, 1889 Habilitation, 1889 Privatdozent für Römische und Mittelalterliche Geschichte in Wien, 1918 a. o. Professor, 1922 o. Professor ebd. Seit 1901 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, 1918–20 erster österreichischer Gesandter in Berlin, 1918 Mitglied der Konstituierenden Nationalversammlung Österreichs und 1920 des Bundesrates. 1893–1900 Mitherausgeber der „Zeitschrift (später Vierteljahresschrift) für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (27.8.1770–14.11.1831). Philosoph. Studium der Theologie und der Philosophie in Tübingen, 1790 Magister der

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Philosophie, 1793 theologisches Konsistorialexamen; 1793–99 Hauslehrer in Bern und Frankfurt a. M.; 1801 Privatdozent in Jena; 1802–03 Herausgeber des „Kritischen Journals der Philosophie“ (zusammen mit Schelling), 1807 Herausgeber der „Bamberger Zeitung“; 1808 Gymnasialdirektor in Nürnberg; 1816 Professor in Heidelberg und seit 1818 in Berlin als Nachfolger → Fichtes. Denker eines objektiven Idealismus und eines emanatistischen Bewegungsgesetzes in Geschichte und Gesellschaft. Hellpach, Willy (26.2.1877–6.7.1955). Mediziner, Psychologe und Politiker. 1899 Promotion zum Dr. phil. bei → Wilhelm Wundt in Leipzig und 1903 zum Dr. med. bei Emil Kraepelin in Heidelberg, 1904–22 Nervenarzt in Karlsruhe, 1906 Habilitation in Karlsruhe. 1911 a. o., 1920 o. Professor für angewandte Psychologie ebd. und Direktor des Instituts für Sozialpsychologie. 1922–25 Minister für Kultus und Unterricht, 1924/25 zugleich badischer Staatspräsident, 1928–30 MdR für die DDP, nach dem Tod Friedrich Eberts 1925 Kandidat für das Amt des Reichspräsidenten. Helmholtz, Hermann (seit 1883) von (31.8.1821–8.9.1894). Mediziner und Physiker. 1842 Promotion zum Dr. med. 1843–48 Militärarzt in Potsdam, 1849 a. o., 1851 o. Professor für Physiologie in Königsberg, 1855 für Anatomie und Physiologie in Bonn, 1858 für Physiologie in Heidelberg, 1871 für Physik in Berlin und Vorstand des Physikalischen Instituts. 1888 Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Charlottenburg. Wegweisende Arbeiten auf den Gebieten der Physik, insbesondere der musikalischen Akustik und Hörphysiologie. Helmolt, Hans Ferdinand (8.7.1865–19.3.1929). Historiker und Publizist. Studium u. a. bei → Karl Lamprecht und Friedrich Ratzel in Bonn und Leipzig, 1893/94 Mitarbeiter Lamprechts bei der Herausgabe der Rheinischen Urbare, 1894–1906 Verlagsredakteur am Bibliographischen Institut in Leipzig, 1908 Journalist in Dresden und politischer Schriftleiter der „Münchner Neuesten Nachrichten“, 1912–17 Chefredakteur der „Weserzeitung“ in Bremen, während des Ersten Weltkriegs Pressechef im Reichsamt des Inneren, 1922–29 Chefredakteur der „Frankfurter Nachrichten“. Herausgeber einer mehrbändigen „Weltgeschichte“ (9 Bände, 1899–1907) und ergänzend dazu der „Vierteljahreshefte für Weltgeschichte“ (1894–1919). Helvetius, Claude Adrien (26.1.1715–26.12.1771). Französischer Steuerpächter und Philosoph. Unterhielt einen Salon in der Rue Sainte-Anne in Paris, verkehrte im Salon von Baron Paul-Henri Thiry d’Holbach. Sein Werk „De l’esprit“ (1758) wurde wegen der „Angriffe auf Regierung und Politik“ verbrannt. Reisen nach England und Preußen, wo er zur Philosophenrunde um → Friedrich den Großen zählte. Herbart, Johann Friedrich (4.5.1776–14.8.1841). Philosoph und Pädagoge. 1797–1800 Hauslehrer in der Schweiz, 1802 Promotion und Habilitation für

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Philosophie und Pädagogik in Göttingen, 1805 a. o. Professor für Philosophie ebd., 1808 o. Professor für Philosophie und Schulrat in Königsberg, 1833 o. Professor in Göttingen. Hermann, Friedrich Benedikt Wilhelm von (5.12.1795–23.11.1868). Nationalökonom und Statistiker. 1817 Leiter einer Privatschule in Würzburg, 1821 Gymnasiallehrer in Erlangen, 1823 Promotion und Habilitation für Kameralwissenschaft in Erlangen, 1827 a. o. Professor für Technologie und Staatswissenschaft in München, 1833 o. Professor ebd., 1839–68 Direktor des Bayerischen Statistischen Bureaus, 1845 Ministerialrat im bayerischen Innenministerium, 1848 Mitglied der Zentrumsfraktion im Frankfurter Parlament, 1849–55 Abgeordneter des Bayerischen Landtags. Bedeutendster deutschsprachiger theoretischer Nationalökonom in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hildebrand, Bruno (6.3.1812–29.1.1878). Nationalökonom und Statistiker. 1836 Promotion und Habilitation für Geschichte in Breslau, 1839 a. o. Professor in Breslau, 1841 o. Professur für Staatswissenschaften in Marburg, 1847 wegen Majestätsbeleidigung suspendiert, 1848 freigesprochen. 1848/49 Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung, 1848–50 im Kurhessischen Landtag, 1851 Professor für Nationalökonomie in Zürich, 1856 in Bern, dort Gründung des ersten Statistischen Bureaus in der Schweiz, 1861 o. Professor in Jena, 1864 Direktor des Statistischen Bureaus der thüringischen Staaten. 1862 alleiniger, ab 1873–78 mit Assistenz seines Schülers Johannes Conrad Herausgeber der „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“. 1872 maßgeblich an der Gründung des „Vereins für Socialpolitik“ beteiligt. Mitbegründer der sog. älteren Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie. Hinneberg, Paul (16.3.1862–20.6.1934). Historiker. 1888 Promotion zum Dr. phil. in Halle a. S., 1885 Mitarbeiter → Leopold von Rankes und nach dessen Tod Herausgeber des 7.  Bandes seiner „Weltgeschichte“ (1886), 1892– 1923 alleiniger Herausgeber der „Deutschen Literaturzeitung“ und ab 1906 der auf 40 Bände angelegten Enzyklopädie „Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre Ziele“. Hintze, Otto (27.8.1861–25.4.1940). Historiker. 1884 Promotion zum Dr. phil. bei Julius Weizsäcker in Berlin, 1887–1910 Mitarbeiter an der „Acta Borussica“, 1895 Habilitation bei → Heinrich von Treitschke und → Gustav Schmoller in Berlin, 1899 a. o. Professor für Geschichte und 1902–20 o. Professor für Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte und Politik ebd. Hoffmann, Hans (27.7.1848–11.7.1909). Schriftsteller. 1871 Promotion zum Dr. phil. in Halle a. S., 1872–79 Gymnasiallehrer in Stettin, Privatlehrer in Rom, Reisen durch Italien und Griechenland, danach Gymnasiallehrer in

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Stolp, Danzig und Berlin. Ab 1882 freischaffender Schriftsteller, 1884–86 Leiter der „Deutschen Illustrierten Zeitung“ in Berlin, 1902 Ernennung zum Generalsekretär der Deutschen Schillerstiftung in Weimar. Hume, David (26.4.1711–25.8.1776). Schottischer Philosoph, Ökonom und Historiker. 1734–37 Studienaufenhalt in Frankreich; eine Berufung an die Universität Edinburgh scheiterte am Widerstand der Geistlichkeit; als Gesandtschaftssekretär in Wien und Turin und 1763–66 in Paris. Nähe zur schottischen Ökonomenschule (u. a. → Adam Smith); Vertreter des Empirismus. Husserl, Edmund (8.4.1859–27.4.1938). Philosoph. 1882 Promotion zum Dr. phil. bei Leo Königsberger in Wien, 1886 Habilitation in Halle, 1887 Privatdozent ebd., 1894 a. o. Professor, 1901 o. Professor in Göttingen, 1916–33 o. Professor in Freiburg i. Br. Begründer der Phänomenologie. Ihering, Rudolf (seit 1868) von (22.8.1818–17.9.1892). Rechtswissenschaftler. 1840/41 Promotion zum Dr. jur. und Habilitation in Berlin, 1845 o. Professor in Basel, 1846 in Rostock, 1849 in Kiel, 1852 in Berlin, 1868 in Wien, ab 1872 in Göttingen. Herausgeber der „Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts“. Einerseits vom römischen Recht ausgehend theoretischer Begründer der sog. Begriffsjurisprudenz, andererseits in seinem Spätwerk „Der Zweck im Recht“ (2 Bände, 1877–83) leidenschaftlicher Kritiker der begriffsjuristischen Methode und Vorbereiter der rechtssoziologischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Freirechtsschule und der Interessenjurisprudenz. Jacobi, Friedrich Heinrich Ritter (seit 1813) von (25.1.1743–10.3.1819). Kaufmann und Gelehrter. Unterhielt auf seinem Landgut in Pempelfort bei Düsseldorf (Jacobihaus) einen Treffpunkt für politisch und literarisch Gebildete, 1760–63 Aufenthalt in Genf, 1764 Übernahme des väterlichen Handelshauses, 1772 Mitglied der Hofkammer des Herzogtum Berg, 1779 Ruf ins bayerische Innenministerium für Zoll- und Wirtschaftsfragen, 1784 Rückkehr nach Hamburg, 1807–12 erster Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Jaffé, Edgar (14.5.1866–29.4.1921). Kaufmann und Nationalökonom. 1888–98 kaufmännischer Teilhaber der von seinem Vater gegründeten Textilexportfirma in Manchester, 1901 Promotion zum Dr. phil. in Heidelberg, 1904 Habilitation und 1909 a. o. (Titular-)Professor ebd., 1910 o. Professor für Geld- und Kreditwesen an der Handelshochschule München, 1914 wissenschaftlicher Sachverständiger beim Generalgouvernement in Brüssel, 9.11.1918–17.3.1919 bayerischer Finanzminister im Kabinett von Kurt Eisner. Seit 1903 Eigentümer und seit 1904 mit → Werner Sombart und Max Weber Herausgeber des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (vormals: „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“, hg. von → Hein-

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rich Braun), 1916 Herausgeber der „Europäischen Staats- und Wirtschaftszeitung“. Seit 1902 mit Elsé Jaffé, geb. von Richthofen, verheiratet und zum Freundeskreis von Max und → Marianne Weber gehörend. James, William (11.1.1842–26.8.1910). Amerikanischer Philosoph und Psychologe. Hörte bei → Emil Du Bois-Reymond in Berlin, bei → Hermann von Helmholtz und → Wilhelm Wundt in Heidelberg, 1869 Abschluß des Medizinstudiums in Harvard, seit 1872 Professor ebd., zunächst für Anatomie und Physiologie, dann für Psychologie, schließlich für Philosophie. Gilt als Begründer der amerikanischen experimentellen Psychologie und zusammen mit Charles Sanders Peirce als Begründer des amerikanischen Pragmatismus. Max Weber lernte James 1904 auf seiner USA-Reise persönlich kennen. Jellinek, Georg (16.6.1851–12.1.1911). Staats- und Völkerrechtslehrer. 1872 Promotion zum Dr. phil. in Leipzig, 1874 zum Dr. jur. in Wien, 1874–76 Tätigkeit in der österreichischen Staatsverwaltung, 1879 Habilitation und Privatdozent für Rechtsphilosophie in Wien, 1882 auch für Allgemeines Staatsrecht und Völkerrecht, 1883 a. o. Professor für Staatsrecht ebd., nach Austritt aus dem österreichischen Staatsdienst und Anerkennung der Habilitation durch die Juristische Fakultät Berlin 1889 o. Professor für Staatsrecht in Basel, 1890–1911 für Staatsrecht, Völkerrecht und Politik in Heidelberg. Leitete mit seinem philosophischen und rechtsvergleichenden Forschungsansatz eine Neuorientierung der positivistischen Staatsrechtslehre in Deutschland ein. Seit Mitte der 1890er Jahre enger wissenschaftlicher und persönlicher Kontakt zu Max Weber. Jhering, Rudolf → Ihering, Rudolf John, Vincenz (7.11.1838–6.4.1900). Österreichischer Statistiker und Nationalökonom. Promotion zum Dr. jur. in Prag, 1881 Privatdozent für Nationalökonomie und Statistik in Bern, 1884 in Prag, 1885 a. o. Professor für Statistik und politische Ökonomie in Czernowitz, 1888 a. o. Professor für Statistik und Verwaltungslehre in Innsbruck, 1890–1900 o. Professor ebd. Justinian (eigentl.: Petrus Sabbatius) (482–11.11.565). Oströmischer Kaiser (527–565), der große Teile des westlichen Reiches zurückeroberte. Der Konsolidierung des von ihm wiederhergestellten Imperium Romanum diente u. a. die Kodifizierung des römischen Rechts. Initiator der großen Rechtskompilation des „Corpus Iuris Civilis“. Karjejew, Nikolai Iwanowitsch; Tl. (russ.): Kareev, Nikolaj Ivanovicˇ (6.12. 1850–18.2.1931). Russischer Historiker. 1884 Promotion in Geschichte in Moskau, Studienaufenthalte in Europa, Dozent für moderne europäische Geschichte in Warschau, dann in St. Petersburg, 1910 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, 1929 der

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Sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Vertreter einer „semipositivistischen“ Geschichtsauffassung und eines an Kant angelehnten ethischen Individualismus. Übersetzte Webers „Die Stadt“ ins Russische (1923). Kautz, Gyula (auch: Julius) (5.11.1829–27.3.1909). Ungarischer Nationalökonom, Bankier und Politiker. 1849 Promotion zum Dr. jur., 1851 Studienassessor an der Kgl. Rechtsakademie in Preßburg, 1853 a. o. Professor für österreichische Finanzwissenschaft an der Rechtsakademie in Großwardein, 1857 o. Professor an der TH Ofen, 1863 o. Professor in Pest. 1883 Vizegouverneur, 1892 Generalgouverneur der Österreichischen-Ungarischen Bank. 1865–1883 Mitglied des ungarischen Reichstags, 1885 im Magnatenhaus. Kistiakowski, Theodor A.; Tl. (russ.): Kistjakovskij, Bogdan Aleksandrovicˇ (4.11.1868–28.4.1920). Russischer Jurist und Sozialphilosoph. 1898 Promotion in Straßburg, 1901–03 und 1905/06 Studium u. a. bei → Georg Jellinek und → Wilhelm Windelband in Heidelberg und bei → Georg Simmel in Berlin, 1903 Habilitation in Moskau, 1906–09 Dozent für Rechtswissenschaft an der Moskauer Handelshochschule, 1909–11 Privatdozent für öffentliches Recht in Moskau, 1911–17 Lehrer am Demidovskij-Lyceum in Jaroslavl, 1918–20 Professor für Staatsrecht in Kiew. Mitglied der Partei der Konstitutionellen Demokraten, Herausgeber des „Kriticˇeskoe Obozrenie“ (Kritischer [Literatur-]Beobachter) und von 1911–17 des „Juridicˇeskij Vestnik“ (Juristische Rundschau), Mitautor der „Vechi“ (Wegzeichen, 1909). Seit Anfang 1905 in engem Kontakt mit Max Weber. Klinger, Max (18.2.1857–4.7.1920). Maler, Graphiker und Bildhauer. Studium an der Kunstschule in Karlsruhe und an der Berliner Kunstakademie bei Ludwig des Coudres und Karl Gussow, 1878 erste Ausstellung in Berlin. 1884 Mitglied der Akademie der Schönen Künste in Berlin, 1883–85 Aufenthalte in Brüssel und Paris, 1888–93 in München und Rom. 1893–1920 niedergelassen in Plagwitz bei Leipzig, 1895 Ablehnung eines Rufs an die Wiener Akademie. Max und → Marianne Weber besaßen einige seiner Radierungen. Knies, Karl (29.3.1821–3.8.1898). Nationalökonom und Statistiker. 1844 Lehrerlizenz für höhere Schulen, 1846 Promotion zum Dr. phil. in Marburg sowie Habilitation und Privatdozentur für Geschichte und Staatswissenschaften in Heidelberg, 1849–51 Dozent am Polytechnikum in Kassel mit Lehrtätigkeit in Marburg, 1852–55 Geographie- und Geschichtslehrer an der Kantonsschule in Schaffhausen, 1855 o. Professor für Kameralwissenschaften in Freiburg i. Br., 1862–65 Direktor des badischen Oberschulrates für Mittel- und Volksschulen, 1865–96 o. Professor für Staatswissenschaften in Heidelberg, 1861 Abgeordneter der Zweiten Badischen Kammer, 1882 Vizepräsident der Ersten Badischen Kammer. Zusammen mit → Wilhelm

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Roscher und → Bruno Hildebrand einer der Begründer der sog. älteren Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie. Max Weber übernahm 1897 seinen Lehrstuhl in Heidelberg. Kries, Johannes von (6.10.1853–30.12.1928). Physiologe. 1874 Staatsexamen, 1876 Promotion zum Dr. med., 1875/76 Militärarzt, 1876/77 am Physiologischen Institut von → Hermann von Helmholtz in Berlin, 1878 Habilitation für Physiologie in Leipzig, 1880 a. o. Professor und 1883–1924 o. Professor für Physiologie in Freiburg i. Br. Neben Arbeiten zur Physiologie auch Studien zur Erkenntnistheorie und Logik (Urteilslehre, Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit), die Max Weber sehr schätzte. La Fontaine, Jean de (8.7.1621–13.4.1695). Französischer Schriftsteller. In Frankreich Klassiker und berühmt durch seine Fabeln. Lamprecht, Karl (25.2.1856–10.5.1915). Historiker. 1878 Promotion zum Dr. phil. in Leipzig bei → Wilhelm Roscher und Carl von Noorden, 1880 Habilitation und Privatdozentur in Bonn, 1885 a. o. Professor in Bonn, 1890 o. Professor für Mittelalterliche und Neuere Geschichte in Marburg, 1891– 1915 in Leipzig, 1909 Eröffnung des Kgl. Sächsischen Instituts für Kulturund Universalgeschichte an der Universität Leipzig, 1881 Mitbegründer der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde (der ersten deutschen landesgeschichtlichen historischen Kommission), schuf mit der zwölfbändigen „Deutschen Geschichte“ (1891–1909) eine Gesamtdarstellung, die in der Geschichtswissenschaft einen Methodenstreit (den sog. „Lam­prechtStreit“) auslöste. Lask, Emil (25.9.1875–26.5.1915). Philosoph. 1902 Promotion zum Dr. phil. bei → Heinrich Rickert in Freiburg i. Br., 1905 Habilitation in Heidelberg, Privatdozent ebd., 1911 etatmäßiger a. o. Professor für Philosophie, 1915 als Kriegsfreiwilliger in Galizien gefallen. Freundschaftliche Beziehungen zu Max und → Marianne Weber. Lazarus, Moritz (15.9.1824–13.4.1903). Philosoph. 1849 Promotion zum Dr. phil. in Berlin. Privatgelehrter ebd., 1860 Honorarprofessor in Bern, hier 1862–66 o. Professor auf dem ersten Schweizer Lehrstuhl für Völkerpsychologie, 1868–72 Dozent an der Preußischen Kriegsakademie, 1873 o. Professor für Philosophie in Berlin. 1869 und 1871 Präsident der ersten und zweiten israelitischen Synode. 1860–90 zusammen mit → Heymann Stein­ thal Herausgeber der „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“. Gilt zusammen mit Steinthal als Begründer der Völkerpsychologie. Liepmann, Moritz (8.9.1869–26.8.1928). 1891 Promotion zum Dr. jur. in Jena, 1896 Promotion zum Dr. phil. in Halle a. S., Schüler Franz von Liszts, 1897 Habilitation ebd., 1902 o. Professor für Strafrecht, Rechtsphilosophie

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und Völkerrecht in Kiel, 1919 für Strafrecht und strafrechtliche Hilfswissenschaften in Hamburg. Lipps, Theodor (28.7.1851–17.10.1914). Philosoph und Psychologe. 1874 Promotion zum Dr. phil. in Bonn, Haus- und Gymnasiallehrer, 1877 Habilitation für Philosophie ebd., 1884 a. o. Professor ebd., 1890 o. Professor für Philosophie in Breslau, 1894–1913 in München, wo er das Psychologische Institut begründete. Verfaßte auch Arbeiten zur Ästhetik. Gilt als Vordenker der Spiegelneuronentheorie. Liszt, Franz Ritter von (7.3.1851–21.6.1919). Straf- und Völkerrechtler. 1873 Promotion zum Dr. jur. in Wien, 1875 Habilitation in Graz, 1879 o. Professor in Gießen, 1882 in Marburg, 1889 in Halle, 1899 in Berlin. 1889 Mitbegründer der „Internationalen Kriminalistischen Vereinigung“. Seit 1908 MdprAH, seit 1912 MdR für die Freisinnige (später Fortschrittliche) Volkspartei. Begründer der „modernen“ Schule der Kriminalpolitik, in der soziologische und sozialpsychologische Erkenntnisse als erfahrungswissenschaftliche Grundlagen kriminalpolitischer Forderungen galten; bedeutend sein Lehrbuch „Das Völkerrecht“ (1898). Mach, Ernst (18.2.1838–19.2.1916). Österreichischer Physiker und Philosoph. 1859/60 Promotion zum Dr. phil., Privatlehrer, 1861 Habilitation für Physik, 1864 o. Professor für Mathematik in Graz, 1867 für Physik in Prag, 1895–1901 für Philosophie in Wien. Vertreter eines Phänomenalismus. Malthus, Thomas Robert (13.2.1766–29.12.1834). Englischer Theologe und Politischer Ökonom. 1791 Pfarrer, 1793–1804 Fellow am Jesus College, 1805 Professor für Geschichte und Politische Ökonomie am Kollegium der Ostindischen Kompanie in Haileybury. Einer der führenden Theoretiker der klassischen Nationalökonomie; bekannt und umstritten wegen seiner 1798 zunächst anonym veröffentlichten Streitschrift „An Essay on the Principles of Population“ über den Zusammenhang von Bevölkerungszuwachs und Nahrungsmittelspielraum. Mandeville, Bernard de (15.11.1670–21.1.1733). Niederländischer Mediziner und Philosoph. Lebte seit 1696 in England. In seiner 1714 zuerst und anonym erschienenen „Bienenfabel“ entwickelte er die für die Nationalökonomie weichenstellende Vorstellung, daß „public benefits“ durch „private vices“ erzeugt werden. Meinecke, Friedrich (30.10.1862–6.2.1954). Historiker. 1886 Promotion zum Dr. phil. bei Reinhold Koser in Berlin, 1892–1901 Archivar im Geheimen Staatsarchiv Berlin, 1896 Habilitation in Berlin, 1901 o. Professor für Neuere Geschichte in Straßburg, 1905–14 in Freiburg i. Br., 1914–28 in Berlin. 1896–1935 Herausgeber der „Historischen Zeitschrift“.

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Menger, Carl (23.2.1840–26.2.1921). Österreichischer Nationalökonom. 1867 Promotion zum Dr. jur. in Krakau, 1872 Habilitation für Politische Ökonomie in Wien, 1873 a. o. Professor ebd., 1876–78 Privatlehrer des Kronprinzen Rudolf von Habsburg, 1879–1903 o. Professor für Politische Ökonomie und Statistik in Wien. Begründer der österreichischen Schule der Nationalökonomie (Grenznutzenschule). Sein Werk „Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften“ (1883) löste den Methodenstreit in der Nationalökonomie aus. Merkel, Adolf (11.1.1836–30.3.1896). Rechtsphilosoph. 1858 in Gießen ohne Dissertation zum Dr jur. promoviert, 1862 Habilitation für Rechtswissenschaft ebd., 1862 o. Professor in Gießen, 1868 in Prag, 1872 in Wien und 1874 in Straßburg. Meyer, Eduard (25.1.1855–31.8.1930). Althistoriker. 1875 Promotion zum Dr. phil. in Leipzig, 1875–77 Hauslehrer in Konstantinopel und Bournemouth, 1879 in Leipzig, Privatdozent ebd., 1884 a. o. Professor ebd., 1885 o. Professor in Breslau, 1889 in Halle a. S., 1902–23 in Berlin, 1909/10 Aufenthalt in den USA. Seine Arbeiten galten der Geschichte der gesamten mittelmeerisch-vorderasiatischen Antike; gilt als einer der letzten Althistoriker, die die gesamte Antike behandelten. Michailowski, Nikolai Konstantinowitsch; Tl. (russ.): Michajlovskij, Nikolaj Konstantinovicˇ (27.11.1842–10.2.1904). Russischer Publizist und Soziologe. Seit Beginn der 1880er Jahre Mitglied in der „Narodnaja Volja“; Herausgeber der „Otecˇestvennye Zapiski“ (1869–1894) und des „Russkoe Bogatstvo“ (seit 1894). Führender Theoretiker des Narodnicˇestvo (Volkstümlerbewegung), das politische und ökonomische Reformen anstrebte. 1882 erschien sein soziologisches Werk über Helden und Masse. Mill, John Stuart (20.5.1806–8.5.1873). Englischer Philosoph. Ausbildung durch seinen Vater, den Ökonomen James Mill. 1823–58 für die East India Company in London tätig, 1824–26 Forschungsassistent von Jeremy Bentham, 1856 Mitglied der American Academy of Arts and Sciences,1865–68 Mitglied des Unterhauses für die Liberale Partei. Seine erstmals 1848 veröffentlichten „Principles of Political Economy“ galten als das Standardlehrbuch der klassischen Nationalökonomie; ebenfalls sehr einflußreich war sein „System der deduktiven und induktiven Logik“ (engl. 1843, dt. 3 Bände, 1872–1873). Moltke, Helmuth (seit 1870) Graf von (16.10.1800–24.4.1891). Preußischer Generalfeldmarschall (seit 1871). Chef des Generalstabs im DeutschDänischen Krieg (1864), Preußisch-österreichischen Krieg (1866) und Deutsch-Französischen Krieg (1870/71).

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Müller, Adam Heinrich (seit 1826) Ritter von Nitterdorf (30.6.1779– 17.1.1829). Österreichischer Staatstheoretiker und Ökonom. 1802 Referendar der Kurmärkischen Kriegs- und Domänenkammer, anschließend Hauslehrer in Polen, ab 1806 in Dresden, dort 1808 mit Heinrich von Kleist Herausgeber des „Pöbus“, 1813 Landeskommissar in Tirol, 1815 österreichischer Generalkonsul in Sachsen, 1827 nach Wien zurückberufen und in der Hof- und Staatskanzlei tätig. Im 19. Jahrhundert Hauptvertreter einer romantischen Staatsauffassung. Münsterberg, Hugo (1.6.1863–16.12.1916). Psychologe. 1885 Promotion zum Dr. phil. bei → Wilhelm Wundt in Leipzig und 1887 zum Dr. med. in Heidelberg, 1887 Habilitation für Philosophie in Freiburg i. Br., 1888 Privatdozent für Philosophie und Psychologie ebd., 1891 a. o. Professor für Psychologie ebd., 1892–95 Professor für experimentelle Psychologie an der Harvard-University, wo er das von → William James begründete psychologische Labor leitete, 1895/96 Rückkehr nach Freiburg i. Br., 1897–1916 Professor für Experimentelle Psychologie in Harvard. Kollegiale Beziehungen zu Max Weber. Bewirkte 1904 als Mitorganisator dessen Einladung zum International Congress of Arts and Science in St. Louis. Napoleon III. (20.4.1808–9.1.1873). Kaiser der Franzosen (1852–70). Natorp, Paul (24.1.1854–17.8.1924). Philosoph und Pädagoge. 1876 Promotion zum Dr. phil. in Straßburg, 1881 Habilitation und Privatdozentur in Marburg, 1885 a. o. Professor, 1893–1922 o. Professor in Marburg. Einer der Hauptvertreter des Marburger Neukantianismus. Nero (37–68 n. Chr.). Römischer Kaiser (54–68). Verfolgte bis 59 eine maßvolle Politik, danach übersteigertes Geltungsbedürfnis und skrupelloses Vorgehen, z. B. gegen Grundbesitzer in Afrika und nächste Angehörige; für den Brand Roms 64 machte er die Christen verantwortlich und ließ sie verfolgen; bekämpfte erfolgreich die seit 65 vermehrt gegen ihn gerichteten Verschwörungen, bis er durch den Aufstand des Vindex in Gallien 68 abgesetzt wurde; letzter Vertreter der julisch-claudischen Dynastie; beendete sein Leben durch Selbstmord. Neumann, Carl (1.7.1860–9.10.1934). Kunsthistoriker. 1880–82 Mitarbeiter der „Monumenta Historica Germaniae“ in Berlin, 1882 Promotion zum Dr. phil. in Heidelberg, 1894 Habilitation für Geschichte und Kunstgeschichte ebd., 1897 a. o. (Titular-)Professor ebd., 1903 etatmäßiger a. o. Professor in Göttingen, 1904–11 o. Professor für Kunstgeschichte in Kiel, 1911–29 in Heidelberg. Wesentliche Anregungen von → Jacob Burckhardt. Seit den 1890er Jahren freundschaftliche Beziehungen zu Max und → Marianne Weber.

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Niebuhr, Barthold Georg (27.8.1776–2.1.1831). Historiker und Politiker. 1796–1800 Privatsekretär des dänischen Finanzministers Graf Schimmelmann und Bibliothekar, 1798–99 Studium der Agrar- und Naturwissenschaften in London und Edinburgh, 1803 Leitung des dänischen Ostindienhandels, ab 1804 zusätzlich Leitung der Staatsbank, 1806–10 Direktor der Preußischen Seehandlung, 1810–12 Dozent für Römische Geschichte an der Universität Berlin; 1813–16 wieder im Staatsdienst für die preußischen Reformen tätig, 1816 Gesandter bei der päpstlichen Kurie in Rom. Führte die philologisch-historische Quellenkritik in die Geschichtswissenschaft ein. Paul I.; Tl. (russ.): Pavel I. Petrovicˇ (1.10.1754–24.3.1801). Kaiser von Rußland (seit 1796), Sohn von Katharina II. und Peter III. Trat nach dem Tod seiner Mutter 1796 die Herrschaft an, gegen deren Führungsanspruch er sich nicht hatte behaupten können; führte zur Absicherung der Rechte der männlichen Thronerben 1797 die Primogenitur ein; hob die von seiner Mutter erlassenen Adelsprivilegien wieder auf, was zum Zerwürfnis mit dem Adel führte; ließ sich durch eine Adelsverschwörung nicht zur Abdankung bewegen und wurde daraufhin ermordet. Quetelet, Adolphe (22.2.1796–17.2.1874). Belgischer Astronom und Stati­ stiker. 1814 Mathematiklehrer in Gent, 1819 Promotion ebd. und Mathematiklehrer in Brüssel, 1826 Einrichtung des Brüssler Observatoriums, 1834 Sekretär der Académie des Sciences, 1836 Lehrer für Astronomie und Geodäsie an der École militaire und 1841 Präsident der Statistischen Zentralkommission für Belgien. Rabelais, François (um 1494–9.4.1553). Französischer Humanist und Schriftsteller. Zeitweise Ordensbruder, seit 1530 Studium der Medizin, Arzt, Sekretär und Leibarzt seines Gönners Kardinal Jean du Bellay, zuletzt 1551 Kanoniker in Meudon. Hauptwerk ist der satirische Romanzyklus über die Riesen „Garganua und Pantagruel“ (5 Bände, 1532–1564). Rachfahl, Felix (9.4.1867–15.3.1925). Historiker. 1890 Promotion zum Dr. phil. in Breslau, 1893 Habilitation in Kiel, 1898 a. o. Professor für Neuere Geschichte in Halle a. S., 1903 o. Professor für Mittelalterliche Geschichte in Königsberg, 1907 für Mittelalterliche und Neuere Geschichte in Gießen, 1909 in Kiel, 1914 in Freiburg i. Br. Verfaßte 1909/10 Kritiken zu Max Webers Abhandlung „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“. Radbruch, Gustav (21.11.1878–23.11.1949). Jurist und Politiker. 1902 Promotion zum Dr. jur. bei Franz von Liszt in Berlin, 1903 Habilitation in Heidelberg, 1910 a. o. Professor in Heidelberg, 1914 in Königsberg, 1919 o. Professor in Kiel, 1926–33 in Heidelberg, 1933 Entlassung aus politischen Gründen. 1920–24 MdR für die SPD, 1921/22 und 1923 Reichsjustizmini­ ster. Gehörte zum engeren Bekanntenkreis von Max und → Marianne Weber.

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Ranke, Leopold (seit 1865) von (20.12.1795–23.5.1886). Historiker. 1817 Promotion in klassischer Philologie, 1818 Gymnasiallehrer in Frankfurt/ Oder, 1824 Habilitation und a. o. Professor ebd., 1834–71 o. Professor für Geschichte in Berlin. 1841 zum Historiographen des preußischen Staates ernannt. Abhandlungen zur europäischen Staatengeschichte in der frühen Neuzeit, darunter u. a. eine „Englische Geschichte“ (7 Bände, 1859–1868). Nach 1871 widmete er sich der Herausgabe seiner „Sämtlichen Werke“ und seit 1875 der Arbeit an einer „Weltgeschichte“. Gilt als Begründer der modernen Geschichtswissenschaft und führender Vertreter des Historismus. Rau, Karl Heinrich (23.11.1792–18.3.1870). Staatswissenschaftler. 1812 Promotion zum Dr. phil. und Habilitation in Erlangen, 1816 a. o., 1818 o. Professor für Kameralwissenschaften ebd., zugleich Universitätsbibliothekar, 1822–30 o. Professor für Staatswissenschaften in Heidelberg. 1831–39 Abgeordneter der Badischen Ersten Kammer, 1848 des Frankfurter Vorparlaments. 1835–53 Herausgeber des „Archivs der politischen Ökonomie und Polizeiwissenschaft“. 1826–37 erschien sein dreibändiges „Lehrbuch der politischen Ökonomie“. Anhänger von → Adam Smith und der Freihandelsschule. Reinke, Johannes (3.2.1849–25.2.1931). Botaniker und Naturphilosoph. 1870/71 Promotion zum Dr. phil., 1872 Habilitation in Bonn, 1873 a. o. Professor für Pflanzenphysiologie in Göttingen und 1879 o. Professor und Rektor des pflanzenphysiologischen Instituts ebd., 1885 o. Professor für Botanik und Direktor des Botanischen Gartens in Kiel. Mitglied der preußischen Kommission zur Erforschung der deutschen Meere. 1894–1918 Mitglied des preußischen Herrenhauses. Rickert, Heinrich (25.5.1863–25.7.1936). Philosoph. 1888 Promotion zum Dr. phil. bei → Wilhelm Windelband in Straßburg, 1891 Habilitation in Freiburg i. Br., 1891 a. o., 1896 o. Professor für Philosophie ebd., 1915–32 in Heidelberg. Neben Wilhelm Windelband Begründer der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. Mit Max und → Marianne Weber befreundet. Ritschl, Otto (26.6.1860–28.9.1944). Evangelischer Theologe. 1885 Promotion zum Dr. theol. und Habilitation in Halle, Privatdozent ebd., 1889 a. o. Professor für systematische Theologie in Kiel, 1894 als Nachfolger von Ernst Troeltsch a. o. Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte in Bonn, 1897–1930 o. Professor ebd. Ritter, Heinrich (21.11.1791–3.2.1869). Philosoph. 1817 Promotion zum Dr. phil. in Halle a. S. und Habilitation in Berlin, 1823 a. o. Professor ebd., 1833 o. Professor in Kiel, 1837 in Göttingen.

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Roland, Jeanne-Marie (auch: Manon) de la Platière, geb. Phlipon (17.3.1754–8.11.1793). Politisch einflußreiche Frau während der Französischen Revolution. Seit 1780 mit dem 20 Jahre älteren Politiker Jean-Marie Roland de la Platière verheiratet; verfaßte politische Artikel unter seinem Namen; eröffnete 1791 den ersten politischen Salon in Paris, in dem die führenden Köpfe der Revolution, u. a. Robespierre, verkehrten; als Anhängerin der Girondisten nach deren Sturz 1793 hingerichtet. Romulus. Der sagenhafte Gründer und erste König Roms (traditionell 753– 717 v.Chr.). Röntgen, Wilhelm Conrad (27.3.1845–10.2.1923). Physiker. 1868 Diplom in Maschinenbau am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, 1870 Promotion bei August Kundt in Physik in Zürich, 1873 Habilitation in Straßburg, 1875 o. Professor für Mathematik und Physik an der Landwirtschaftlichen Akademie in Hohenheim, 1876 a. o. Professor in Straßburg, 1879 o. Professor in Gießen, 1888 in Würzburg, 1900–20 in München. 1888 Nachweis des sog. Röntgenstroms, 1895 Entdeckung der X- oder sog. Röntgenstrahlen, dafür 1901 den erstmals verliehenen Nobelpreis für Physik. Roscher, Wilhelm (21.10.1817–4.6.1894). Nationalökonom und Historiker. 1838 Promotion zum Dr. phil. in Göttingen, 1840 Habilitation für Geschichte und Staatswissenschaften ebd., 1843 a. o., 1844 o. Professor für Geschichte und Staatswissenschaften ebd., 1848–94 in Leipzig. Seit 1854 erschien sein immer wieder aufgelegtes fünfbändiges Werk „System der Volkswirthschaft“. Zusammen mit → Bruno Hildebrand und → Karl Knies Begründer der älteren Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie. Rümelin, Gustav von (26.3.1815–28.10.1889). Sozialwissenschaftler und Politiker. 1848/49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung; 1856–61 Leiter der württembergischen Kultusverwaltung; 1861 Leiter des württembergischen statistisch-topographischen Büros; 1867 Privatdozent für Statistik und Philosophie in Tübingen; 1870 Kanzler der Universität. Bedeutender Theoretiker und Praktiker der Sozialstatistik, insbesondere der Bevölkerungsstatistik. Rümelin, Max (seit 1905) von (15.2.1861–22.7.1931). Jurist. 1886 Promotion zum Dr. jur. in Tübingen und Habilitation in Bonn bei Ernst Conrad Zitelmann, 1886–89 Privatdozent und 1889 a. o. Professor ebd., 1893 o. Professor in Halle a. S., 1895–1931 o. Professor für Römisches Recht und Zivilrecht in Tübingen. Wegbereiter der Interessenjurisprudenz; viele Einzelpublikationen zur Methodenlehre. Savigny, Friedrich Carl von (21.2.1779–25.10.1861). Jurist, Rechtshistoriker und Staatsmann. 1800 Promotion zum Dr. jur. in Marburg, 1803 a. o. Professor der Rechte ebd., 1808–10 o. Professor für Römisches Privatrecht

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in Landshut, 1810–42 o. Professor für Römisches Recht in Berlin. Seit 1817 Mitglied der Justizabteilung des preußischen Staatsrates, 1819 am Revisionshof für die rheinischen Provinzen, 1826 Mitglied der Gesetzesrevisionskommission in Berlin, 1842 Staatsminister für Gesetzesrevision, 1847 Präsident des Staatsrats und des Ministeriums, Rücktritt nach der März-Revolution. Gilt als Begründer der historischen Rechtsschule. Hauptwerke: „Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter“ (6 Bände, 1815–1831) und das „System des heutigen römischen Rechts“ (8 Bände, 1840–1849). Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel (21.11.1768–12.2.1834). Evangelischer Theologe und Philosoph. 1785–90 Studium der Theologie, Philosophie und der alten Sprachen in Halle; 1790–93 Hauslehrer; 1794–96 Hilfsprediger in Landsberg/Warthe, 1796 Prediger an der Charité, in Berlin Kontakt zu Friedrich Schlegel und im Salon von Henriette Herz; 1804–06 Professor der Theologie und Universitätsprediger in Halle; 1806 Hofprediger in Stolp, 1809 Prediger in Berlin; 1810 Professor für Theologie an der Universität Berlin, deren Gründung er zusammen mit Wilhelm von Humboldt vorbereitet hatte, 1811 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Vertreter einer romantischen Religionsauffassung; Begründer einer allgemeinen Hermeneutik. Schlosser, Friedrich Christoph (17.11.1776–23.9.1861). Historiker. 1809 Promotion zum Dr. phil. in Gießen, 1800–17 Lehrer und Bibliothekar in Frankfurt a. M., 1817 o. Professor für Geschichte in Heidelberg, wo er mit Ludwig Häusser einen „Historischen Kreis“ gründete, dem auch Georg Friedrich Fallenstein, der Großvater Max Webers, angehörte. Zwischen Aufklärung und Historismus stehend, forderte er eine Geschichtsschreibung, „die gründliche Kenntnis des Einzelnen“ verlangte. Schmidt, Conrad (25.11.1863–14.10.1932). Ökonom, Philosoph und Journalist. 1887 Promotion zum Volkswirt in Leipzig. Freundschaft mit Friedrich Engels, 1890 Redakteur der „Züricher Post“, 1895 Rückkehr nach Berlin, 1908–30 Mitarbeiter des „Vorwärts“ und der „Sozialistischen Monatshefte“. Nach 1918 Professor mit Lehrauftrag für Sozialismus und politische Ökonomie an der TH in Berlin. Schmoller, Gustav Friedrich (seit 1908) von (28.6.1838–27.6.1917). Nationalökonom. 1861 Promotion zum Dr. oec. publ. in Tübingen, 1864 ohne Habilitation a. o. Professor, 1865 o. Professor für Staatswissenschaften ebd., 1872 in Straßburg, 1882–1912 in Berlin. Seit 1884 Mitglied des preußischen Staatsrates, seit 1899 als Vertreter der Berliner Universität Mitglied des preußischen Herrenhauses. Als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften Leiter der „Acta Borussica“. Seit 1881 Herausgeber des „Jahrbuchs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“ („Schmollers Jahrbuch“). Haupt der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie. 1872 Mitbegründer und 1890–1917 Vorsit-

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zender des „Vereins für Socialpolitik“. In den 1880er Jahren Hauptakteur im Methodenstreit der Nationalökonomie. Schopenhauer, Arthur (22.2.1788–21.9.1860). Philosoph. 1804–07 Ausbildung und Tätigkeit als Kaufmann; 1809 Medizinstudium, 1811 Studium der Philosophie in Berlin, u. a. bei → Friedrich Schleiermacher; 1813 Promotion zum Dr. phil. mit seiner Erstlingsarbeit „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“, seit 1813 in Weimar, dort Kontakt zu Goethe und Auseinandersetzung mit dessen Farbenlehre in „Über das Sehen und die Farben“ (1815); 1820 Habilitation und (bis 1831) Privatdozent in Berlin. Hauptwerk: „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (1818). Simmel, Georg (1.3.1858–26.9.1918). Philosoph und Soziologe. 1881 Promotion zum Dr. phil. in Berlin, 1885 Habilitation ebd., 1901 a. o. Professor ebd., seit 1914 o. Professor für Philosophie in Straßburg. Schriften zur Soziologie, Kulturphilosophie und Ästhetik. Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Gehörte zum Freundeskreis von Max und → Marianne Weber. Smith, Adam (5.6.1723–17.7.1790). Schottischer Nationalökonom und Philosoph. 1737–46 Studium der Philosophie in Glasgow und Oxford bei Francis Hutcheson, 1751 Professor für Logik, 1752–64 für Moralphilosophie in Glasgow, 1764–66 Reisebegleiter und Erzieher eines jungen Grafen in Frankreich und der Schweiz, danach vornehmlich in seinem Geburtsort Kirkcaldy, ab 1778 Mitglied der obersten Zollbehörde Schottlands. Mit seinem Werk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ (1776) begründete er die klassische Nationalökonomie. Innovativ waren die Entwicklung einer Markt- und Preistheorie sowie die Hervorhebung der Arbeit als wertschöpfendem Faktor neben Kapital und Boden. Sombart, Werner (19.1.1863–18.5.1941). Nationalökonom und Soziologe. 1888 Promotion zum Dr. phil. bei → Gustav Schmoller in Berlin, Syndikus bei der Handelskammer Bremen, 1890–1906 a. o. Professor für Staatswissenschaft in Breslau, 1906 o. Professor an der Handelshochschule Berlin, 1917–31 o. Professor der wirtschaftlichen Staatswissenschaften an der Universität Berlin. Mitglied des „Vereins für Socialpolitik“; 1904–20 zusammen mit → Edgar Jaffé und Max Weber Herausgeber des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“. Seit den 1880er Jahren enger Kontakt zu Max Weber. Spann, Othmar (1.10.1878–8.7.1950). Österreichischer Ökonom und Sozialphilosoph. 1903 Promotion zum Dr. rer. pol. bei Friedrich Julius Neumann in Tübingen, 1903–07 Tätigkeit bei der Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt a. M., 1907 Habilitation bei → Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld an der TH Brünn, 1908 Vizesekretär der Statistischen Zentralkommission in Wien, 1909 a. o. und 1911 o. Professor für Volkswirtschaftslehre und Stati­

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stik, 1919–38 o. Professor für Volkswirtschaftslehre und Gesellschaftslehre in Wien. Spencer, Herbert (27.4.1820–8.12.1903). Englischer Philosoph. Autodidaktische Studien, Lehrer, Eisenbahningenieur, Journalist und Privatgelehrter. 1848–53 Mitherausgeber des „Economist“, danach freier Journalist. Entwicklung eines vielbändigen Systems der Synthetischen Philosophie. Wandte die Evolutionstheorie auf gesellschaftliche Vorgänge an und gilt als einer der Begründer der Soziologie. Stammler, Rudolf (19.2.1856–25.4.1938). Sozial- und Rechtsphilosoph. 1877 Promotion zum Dr. jur. in Gießen, 1879 Habilitation für Römisches Recht in Leipzig, 1882 a. o. Professor in Marburg, 1884 o. Professor in Gießen, 1885–1916 in Halle a. S., 1916–21 in Berlin. Begründete 1913 die „Zeitschrift für Rechtsphilosophie“. Stand dem Marburger Neukantianismus nahe und strebte auf dieser Grundlage eine Erneuerung der Rechtsphilosophie an. Stein, Charlotte von, geb. von Schardt (25.12.1742–6.1.1827). Hofdame. Seit dem 15. Lebensjahr im persönlichen Dienst der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach. Seit 1775 Freundschaft mit Goethe, 1776– 1788 nahezu täglicher Briefwechsel, Zerwürfnis nach dessen „Italienischer Reise“, verarbeitete dies im Trauerspiel „Dido“ (1794). Steinthal, Chajim Heymann (16.5.1823–14.3.1899). Sprachwissenschaftler. 1847 Promotion zum Dr. phil. in Tübingen, 1849 Habilitation in Berlin, danach Privatdozent für Allgemeine Sprachwissenschaft und Mythologie ebd., 1852–55 Studium der Sinologie in Paris, 1862–93 a. o. Professor für Allgemeine Sprachwissenschaft in Berlin. 1860–90 zusammen mit → Moritz Lazarus Herausgeber der „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“; 1872–93 Mitglied des Kuratoriums der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Stieve, Felix (9.3.1845–10.6.1898). Historiker. 1867 Promotion zum Dr. phil. in Breslau, 1875 Habilitation in München, 1875–98 Privatdozent, 1885–98 o. Professor für Geschichte an der TH München. Taine, Hippolyte (21.4.1828–5.3.1893). Französischer Historiker und Geschichtsphilosoph. 1852 Lehrer in Nevers und Poitiers, 1853 Promotion an der Sorbonne, Paris, 1857 ständiger Mitarbeiter der „Revue des Deux Mondes“. 1864–70 Professor für Ästhetik und Kunstgeschichte an der École des Beaux-Arts in Paris. 1878 Mitglied der Académie française. Teresa von Ávila (eigentl.: Teresa Sánchez de Cepeda y Ahumada) (28.3.1515–4.10.1582). Mystikerin und Kirchenlehrerin. Einer jüdisch-se­ phardischen Familie entstammend trat sie 1535 in den Karmelitinnen-Or-

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den in Avila ein, 1538–42 schwere Erkrankung, 1554 und 1560 spirituelle Erlebnisse, autobiographische Aufzeichnungen, 1562 Neugründung der „Unbeschuhten Karmelitinnen“. 1617 zur Schutzpatronin von Spanien ernannt und 1622 heiliggesprochen. Themistokles (um 524–um 459 v. Chr.). Athenischer Feldherr und Staatsmann. Bekannt für seine Flottenpolitik, die in der Schlacht bei Salamis 480 v. Chr. den Sieg über die Perser ermöglichte. Gilt als Wegbereiter der attischen Demokratie. Thomas von Aquin (Tommaso d’Aquino; 1225/26–7.3.1274). Dominikanermönch, führender Theologe und Philosoph des Hochmittelalters. 1239 Studium in Neapel; ca. 1244 Eintritt in den Dominikanerorden; vermutlich schon 1245–48 Studium bei Albertus Magnus in Paris und 1248–52 in Köln. Lehrte 1252–59 in Paris, 1259–69 in Orvieto; 1265–68 Regens des Studienhauses in Rom, 1268–72 wieder in Paris und seit 1272 in Neapel, Viterbo und Rom. 1323 Heiligsprechung. Verband den tradierten Augustinismus mit den erst zu seiner Zeit bekannt gewordenen Lehren des → Aristoteles zu einem einheitlichen System und wurde zum wirkungsmächtigsten Lehrer der Scholastik. Thukydides (spätestens 455–ca. 400 v. Chr.). Griechischer Geschichtsschreiber. Verfasser der „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“, welche durch ihre nüchtern-wissenschaftliche Beschreibung der Gründe und Ursachen des Krieges einzigartig gewesen ist. Vielfach als der bedeutendste Vertreter der antiken Historiographie betrachtet. Tolstoi, Leo Graf; Tl. (russ.): Tolstoj, Lev Nikolaevicˇ (28.8./9.9.1828– 7./20.11.1910). Russischer Schriftsteller. Lebte zumeist auf dem väterlichen Gut Jasnaja Poljana im Gouvernement Tula. Weltruhm erlangte er durch seine Romane „Krieg und Frieden“ (1867/69) und „Anna Karenina“ (1877), in seinem Spätwerk Hinwendung zu einem radikal gedeuteten Christentum und einer einfachen Lebensweise. Selbstzeugnis des Wandels: „Meine Beichte“ (1882). Treitschke, Heinrich von (15.9.1834–28.4.1896). Historiker und Publizist. 1854 Promotion zum Dr. phil. bei → Wilhelm Roscher in Leipzig, 1858 Habilitation für Staatswissenschaften ebd., 1863 a. o. Professor in Freiburg i. Br., wo er 1866 aus Protest gegen die badische Regierungspolitik sein Amt niederlegte, 1866 o. Professor für Geschichte in Kiel, 1867 in Heidelberg, seit 1874 als Nachfolger → Leopold von Rankes in Berlin; 1871–84 MdR, zunächst für die Nationalliberale Partei, ab 1879 fraktionslos. Seit Rankes Tod 1886 Historiograph des preußischen Staates; 1866–89 Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher“. Gehörte zum Bekanntenkreis von Max Weber sen.

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Tschuprow, Alexander Alexandrowitsch; Tl. (russ.): Cˇuprov, Aleksandr Aleksandrovicˇ (6.2.1874–19.4.1926). Russischer Statistiker und Nationalökonom. 1896 Promotion an der mathematisch-physikalischen Fakultät in Moskau über Wahrscheinlichkeitstheorie, danach Studium der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland, 1901 Promotion zum Dr. rer. pol. bei Georg Friedrich Knapp in Straßburg, 1902–17 Professor und Leiter der statistischen Abteilung am Polytechnischen Institut in St. Petersburg, 1917–20 in Stockholm, 1920–25 Privatgelehrter in Dresden. Vierkandt, Alfred (4.6.1867–24.4.1953). Philosoph und Soziologe. 1890– 1900 Hilfs- und Oberlehrer für Erdkunde an der TH Braunschweig, 1892 Promotion zum Dr. phil. in Physik in Leipzig, 1894 Habilitation in Geographie in Braunschweig, 1900 Privatdozent für Völkerkunde in Berlin, 1921 a. o., 1925–34 o. Professor für Soziologie und Philosophie ebd. Vischer, Friedrich Theodor (seit 1868) von (30.6.1807–14.9.1887). Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. 1832 Promotion in Theologie, 1836 Habilitation in Tübingen, 1837 a. o. Professor, 1844 o. Professor für Ästhetik und deutsche Literatur in Tübingen, 1845–47 wegen Pantheismus in seiner Antrittsvorlesung suspendiert, 1848/49 Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung, 1855 o. Professor für Ästhetik und deutsche Literatur an der Universität und am Polytechnikum Zürich, 1866 Rückkehr auf den Tübinger Lehrstuhl, 1869–77 Lehrtätigkeit am Stuttgarter Polytechnikum. Vorländer, Karl (2.1.1860–6.12.1928). Philosoph und Pädagoge. Ab 1883 Tätigkeit als Lehrer, 1883 Promotion zum Dr. phil. in Marburg, 1887 Schulprofessor und Schulinspektor in Solingen, 1919 Honorarprofessor an der Universität Münster. Herausgeber der Werke Immanuel Kants. Strebte nach einer Verbindung von einem ethisch-idealistischen Sozialismus mit dem Marburger Neukantianismus. Voßler, Karl → Vossler, Karl Vossler, Karl (6.9.1872–18.5.1949). Romanist und Literaturhistoriker. 1895/96 Aufenthalte in Rom und Freundschaft mit → Benedetto Croce. 1897 Promotion zum Dr. phil. in Heidelberg, Lektor für Italienisch, 1900 Habilitation für romanische Philologie, 1902 a. o. Professor ebd., 1909 o. Professor für Romanistik in Würzburg, 1911–37 und 1945–47 o. Professor in München. Zahlreiche Schriften zur italienischen und spanischen Literaturgeschichte sowie über Sprachwissenschaft. Gehörte zum engeren Heidelberger Bekanntenkreis Max Webers. Wagner, Richard (22.5.1813–13.2.1883). Komponist. 1833 Kapellmeister in Würzburg, 1834 in Magdeburg, 1837 in Riga, 1843 Hofkapellmeister in Dresden; nach seiner Beteiligung am Mai-Aufstand 1849 Flucht in die Schweiz; wechselnde Aufenthalte in Europa; 1864 Übersiedlung nach Mün-

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chen und finanzielle Förderung durch König Ludwig II.; 1872 Übersiedlung nach Bayreuth. Gehörte zu den wirkungsreichsten Musikern des 19. Jahrhunderts, der in seinen Opern die Idee eines musikalischen Gesamtkunstwerks zu verwirklichten suchte. Weber, Marianne, geb. Schnitger (2.8.1870–12.3.1954). Repräsentantin der Frauenbewegung und Schriftstellerin. 1894–97 Studien bei → Heinrich Rickert in Freiburg i. Br., ab 1897 in Heidelberg Gasthörerin bei → Wilhelm Windelband, → Emil Lask und → Karl Jaspers. 1897 Gründung und Leitung der Heidelberger Abteilung des „Vereins Frauenbildung-Frauenstudium“, Vorstandsmitglied und 1919–21 Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine, 1919 Mitglied der verfassunggebenden Badischen Nationalversammlung für die DDP. 1922 Ehrendoktortitel der Universität Heidelberg für ihr Buch „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“ (1907) und die Herausgabe der Werke von Max Weber, mit dem sie seit 1893 verheiratet war und dessen Biographie sie 1926 veröffentlichte. Wechßler, Eduard → Wechssler, Eduard Wechssler, Eduard (19.10.1869–29.1.1949). Romanist und Sprachwissenschaftler. 1893 Promotion zum Dr. phil. in Halle a. S., weitere Studien in Berlin und Paris, 1895 Habilitation ebd., 1904 a. o. Professor in Marburg, 1909 o. Professor für Romanistik ebd., 1920 in Berlin. Weismann, August (17.1.1834–5.11.1914). Zoologe und Evolutionsbiologe. 1858 Dr. med., 1863 Privatdozent für Zoologie in Freiburg i. Br., seit 1865 apl. Professor und 1873–1912 o. Professor für Zoologie als erster Inhaber des Lehrstuhls ebd.; Veröffentlichungen zu Vererbungserscheinungen und zur Darwinschen Selektionstheorie; gilt als einer der Begründer des Neodarwinismus. Er lehnte die Lamarcksche Theorie von der Vererbung erworbener Eigenschaften ab und hob die Bedeutung der Selektion als entscheidenden Evolutionsfaktor hervor. Wellhausen, Julius (17.5.1844–7.1.1918). Theologe. 1870 Promotion und Habilitation in Göttingen, 1872 o. Professor für Altes Testament und orientalische Sprachen in Greifswald, auf eigenen Antrag Entlassung aus der Professur und Privatdozent für semitische Sprachen in Halle a. S., 1882 a. o. Professor ebd., 1885 o. Professor in Marburg, 1892–1913 in Göttingen. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von (22.12.1848–25.9.1931). Philologe. 1870 Promotion zum Dr. phil. in Berlin, 1872–74 Aufenthalt in Italien, 1875 Habilitation und Privatdozentur für klassische Philologie in Berlin, 1876 o. Professor in Greifswald, 1883 in Göttingen, 1897–1922 in Berlin. Schüler von Friedrich Nietzsche. Als Schwiegersohn Theodor Mommsens gehörte er zur weiteren Verwandtschaft Max Webers.

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Winckelmann, Johann Joachim (9.12.1717–7.6.1768). Altertumswissenschaftler. Seit 1748 Privatsekretär und -bibliothekar bei Heinrich von Bünau, wo er Urkunden und Chroniken als Vorarbeiten für eine „Teutsche Kayserund Reichs-Historie“ exzerpierte, 1754 Konversion zum Katholizismus und Reise nach Rom, 1757/58 Bibliothekar und Custos der Antikengalerie des Kardinals Albani, 1763 Aufsicht über alle Altertümer in Rom. Windelband, Wilhelm (11.5.1848–22.10.1915). Philosoph. 1870 Promotion zum Dr. phil. in Göttingen, 1873 Habilitation in Leipzig, 1876 o. Professor in Zürich, 1877 in Freiburg i. Br., 1882 in Straßburg und 1903–15 in Heidelberg. Schüler von Kuno Fischer, bei dem er in Jena studierte. Neben → Heinrich Rickert Hauptvertreter der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. Wundt, Wilhelm Maximilian (16.8.1832–31.8.1920). Psychologe, Mediziner und Philosoph. 1855 Promotion zum Dr. med. in Heidelberg, 1857 Habilitation ebd., hier 1858–63 Assistent am Physiologischen Institut bei → Hermann von Helmholtz; 1864 a. o. Professor ebd., 1874 o. Professor für Induktive Philosophie in Zürich, 1875 Berufung auf einen Lehrstuhl für Philosophie nach Leipzig, dort gründete er 1879 das erste Institut für experimentelle Psychologie. Zola, Emile (2.4.1840–29.9.1902). Französischer Schriftsteller. Seit 1862 in Paris, dort als Buchhändler, Journalist tätig und in Kontakt zu den Impressionisten. Bekannt durch seinen Romanzyklus „Die Rougon-Macquart“ und sein öffentliches Eintreten für den prodeutschen, jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus mit der Schrift „J’accuse…“ (1898).

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Aufgenommen sind alle Titel, auf die Weber in den Schriften mit einer – sei sie noch so minimalen – bibliographischen Angabe referiert. Fehlende Angaben zu diesen Titeln wurden erschlossen. Handexemplare Max Webers sind mit * gekennzeichnet. In Klammern stehen die vom Editor verwendeten Kurztitel.

Adler, Max, Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft. Separatabdruck aus den „Marx-Studien“, I. Band. – Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung Ignaz Brand 1904. (Adler, Kausalität) Aischylos, Orestie (Griechische Tragoedien. Übersetzt von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Band 2). – Berlin: Weidmann 1900. (Aischylos, Ore­ stie) Aristoteles, Politik in acht Büchern: der Urtext nach Imm. Bekkers Texterecension auf’s Neue berichtigt und in’s Deutsche übertragen, so wie mit vollständigem kritischen Apparate und einem Verzeichnisse der Eigennamen versehen von Dr. Adolf Stahr, 2 Bände. – Leipzig: Carl Focke 1839. (Aristoteles, Politik) Below, Georg von, Die neue historische Methode, in: Historische Zeitschrift, Band 81 (N. F., Band 45), Heft 2, 1898, S.  193–273. (Below, Methode) Bernheim, Ernst, Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte, 3. und 4., völlig neu bearbeitete und vermehrte Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1903. (Bernheim, Lehrbuch) Biermann, Wilhelm Eduard, Natur und Gesellschaft, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 82 (3. Folge, Band 27), Heft 5, 1904, S.  681–687. (Biermann, Natur) –, Sozialwissenschaft, Geschichte und Naturwissenschaft, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 83 (3. Folge, Band 28), Heft 5, 1904, S.  592–607. (Biermann, Sozialwissenschaft) –, W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaft, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 80 (3. Folge, Band 25), Heft 1, 1903, S.  50–64. (Biermann, Wundt)

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Binding, Karl, Die Normen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts, Band 1, 1. Abt.: Normen und Strafgesetze. – Leipzig: W. Engelmann 1872. (Binding, Normen) Böhm-Bawerk, Eugen von, Rechte und Verhältnisse vom Standpunkte der volkswirthschaftlichen Güterlehre. Kritische Studie. – Innsbruck: Wagner 1881. (Böhm-Bawerk, Rechte) Bortkiewicz, Ladislaus von, Eine Entgegnung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 73 (3. Folge, Band 18), Heft 2, 1899, S.  239– 242. (Bortkiewicz, Entgegnung) –, Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 72 (3. Folge, Band 17), Heft 2, 1899, S.  230–244. (Bortkiewicz, Grundlagen) –, Die Theorie der Bevölkerungs- und Moralstatistik nach Lexis, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 82 (3. Folge, Band 27), Heft 2, 1904, S.  230–254. (Bortkiewicz, Theorie) Breysig, Kurt, Die Entstehung des Staates aus der Geschlechterverfassung bei Tlinkit und Irokesen, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hg. von Gustav Schmoller, N. F., 28. Jg., Heft 2, 1904, S.  45–89 [S.  483–527]. (Breysig, Entstehung) Bücher, Karl, Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. – Tübingen: Laupp 1893. (Bücher, Entstehung) –, Wilhelm Roscher †, in: Preußische Jahrbücher, Band 77, Heft 1, 1894, S.  104–123. (Bücher, Roscher) Calkins, Mary Whiton, Der doppelte Standpunkt in der Psychologie. – Leipzig: Veit & Comp. 1905. (Calkins, Standpunkt) Cohn, Gustav, Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 20, Heft 3, 1905, S.  461–478. (Cohn, Nationalökonomie) Croce, Benedetto, Aesthetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Linguistik. Theorie und Geschichte, nach der 2., durchgesehenen Aufl. übersetzt von Karl Federn. – Leipzig: E. A. Seemann 1905. (Croce, Aesthetik) –, Logica come scienza del concetto puro. – Napoli: Accademia Pontoniana 1905. (Croce, Logica)

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Cˇuprov, Aleksandr Aleksandrovicˇ, Nravstvennaja statistika, in: Enciklopedcˇeskìj slovar Brokgauza i Efrona, tom 61, 1897, S.  403–408. (Cˇuprov, Nravst­ vennaja statistika) → auch: Tschuprow, Alexander A. Defoe, Daniel, The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pirates. – London: Printed for W. Taylor 1719. (Defoe, Robinson) Dilthey, Wilhelm, Beiträge zum Studium der Individualität. Vorgetragen am 25. April 1895, in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1896, Stück XIII, ausgegeben am 12. März. – Berlin: Verlag der Königlichen Akademie der Wissenschaften 1896, S.  295–335. (Dilthey, Individualität) –, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Band 1. – Leipzig: Duncker & Humblot 1883. (Dilthey, Einleitung) –, Die Entstehung der Hermeneutik, in: Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage 28. März 1900. – Tübingen, Freiburg i. B. und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, S.  185–202. (Dilthey, Hermeneutik) –, Grundlegung → Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften –, Ideen über beschreibende und zergliedernde Psychologie. Vorgetragen am 22. Februar und am 7. Juni 1894, in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1894, 2. Halbband, Juni bis December – Berlin: Verlag der Königlichen Akademie Wissenschaften 1894, S.  1309–1407. (Dilthey, Ideen) –, Individualität → Beiträge zum Studium der Individualität –, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Vorgetragen am 2. März 1905, in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1905, Stück XIV, ausgegeben am 23. März. – Berlin: Verlag der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften 1905, S.  322–343. (Dilthey, Grundlegung)

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Dippe, Alfred, Untersuchungen über die Bedeutung der Denkform Idee in der Philosophie und Geschichte. – Jena: Ant. Kämpfe 1892. (Dippe, Unter­ suchungen) Drews, Arthur, Reinkes „Einleitung in die theoretische Biologie“, in: Preußische Jahrbücher, Band 110, Heft 1, 1902, S.  101–120. (Drews, Reinke) Elsenhans, Theodor, Die Aufgabe einer Psychologie der Deutung als Vorarbeit für die Geisteswissenschaften. Vortrag gehalten auf dem Kongreß für experimentelle Psychologie zu Gießen am 21. April 1904. – Gießen: J. Ricker (Alfred Töpelmann) 1904. (Elsenhans, Deutung) Engels, Friedrich → Marx, Karl und Engels, Friedrich Eulenburg, Franz, Gesellschaft und Natur. Akademische Antrittsrede. Gehalten am 15. Juli 1905 in der Universität Leipzig, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 21, Heft 3, 1905, S.  519–555. (Eulen­ burg, Gesellschaft) –, [Rez.] Friedrich Gottl, Die Herrschaft des Wortes. Untersuchungen zur Kritik des nationalökonomischen Denkens. Einleitende Aufsätze, in: Deutsche Litteraturzeitung, 24. Jg., Nr.  7, 14. Februar 1903, Sp.  425–429. (Eulen­ burg, Gottl) –, [Rez.] Ludo Moritz Hartmann, Über historische Entwickelung, in: Deutsche Literaturzeitung, 26. Jg., Nr.  24, 17. Juni 1905, Sp.  1500–1505. (Eulen­ burg, Hartmann) Gervinus, Georg Gottfried, Grundzüge der Historik, in: G. G. Gervinus Leben. Von ihm selbst. 1860. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1893, S.  353– 396. (Gervinus, Historik) Gierke, Otto, Das Wesen der menschlichen Verbände. Rede bei Antritt des Rektorates am 15. Oktober 1902 gehalten. – Leipzig: Duncker & Humblot 1902. (Gierke, Verbände) Goethe, Johann Wolfgang, Faust. Erster Teil. Mit Einleitung und Anmerkungen von Erich Schmidt (ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, hg. von Eduard von der Hellen, Band 13). – Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta Nachf., o. J. [1903]. (Goethe, Faust I) –, dass. Zweiter Theil. Mit Einleitung und Anmerkungen von Erich Schmidt (ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, hg. von Eduard von der Hellen, Band 14). – Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta Nachf., o. J. [1906]. (Goethe, Faust II)

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Gomperz, Heinrich, Über die Wahrscheinlichkeit der Willensentscheidungen. Ein empirischer Beitrag zur Freiheitsfrage (Separatabdruck der Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Band 149, 3. Abh.). – Wien: In Kommission C. Carl Geroldt Sohn 1904, S.  1–17. (Gomperz, Wahrscheinlichkeit) Gottl, Friedrich, Die Grenzen der Geschichte. – Leipzig: Duncker & Humblot 1904. (Gottl, Grenzen) –, Die Herrschaft des Wortes. Untersuchungen zur Kritik des nationalökonomischen Denkens. Einleitende Aufsätze. – Jena: Gustav Fischer 1901. (Gottl, Herrschaft) Hampe, Karl, Geschichte Konradins von Hohenstaufen. – Innsbruck: Wagner 1894. (Hampe, Konradin) Hartmann, Ludo Moritz, Über historische Entwickelung. Sechs Vorträge zur Einleitung in eine historische Soziologie. – Gotha: Friedrich Andreas Perthes 1905. (Hartmann, Entwickelung) Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert. Festschrift der Universität zur Zentenarfeier ihrer Erneuerung durch Karl Friedrich, Band 1. – Heidelberg: Carl Winter 1903. (Heidelberger Professoren) Hellpach, Willy, Grundgedanken zur Wissenschaftslehre der Psychopathologie. I. Gegenstand der Psychopathologie, in: Archiv für die gesamte Psychologie, Organ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Band 7, 1906, S.  143–226. (Hellpach, Wissenschaftslehre) Helmolt, Hans F., Der Begriff Weltgeschichte, in: ders. (Hg.), Weltgeschichte, Band 1: Allgemeines. – Die Vorgeschichte. – Amerika. – Der Stille Ozean. – Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut 1899, S.  1–20. (Hel­ molt, Weltgeschichte) Hildebrand, Bruno, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, Band 1. – Frankfurt am Main: Literarische Anstalt (J. Rütten) 1848. (Hilde­ brand, Nationalökonomie) Hinneberg, Paul, Die philosophischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift, Band 63 (N. F., Band 27), Heft 1, 1889, S.  18–55. (Hinneberg, Grundlagen) Hintze, Otto, Roschers politische Entwickelungstheorie, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hg. von Gustav Schmoller, N. F., 21. Jg., Heft 3, 1897, S.  1–45 [S.  767–811]. (Hintze, Roscher)

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Hoffmann, Hans, Der eiserne Rittmeister. Roman, Band 2. – Berlin: Gebrüder Paetel 1890. (Hoffmann, Rittmeister II) Humboldt, Wilhelm von, Über die Aufgabe des Geschichtschreibers, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus den Jahren 1820–1821. – Berlin: Georg Reimer 1822, S.  305–322. (Humboldt, Geschichtschreiber) Husserl, Edmund, Beilage. Aeußere und innere Wahrnehmung. Physische und psychische Phänomene, in: ders., Logische Untersuchungen, 2. Theil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. – Halle a. S.: Max Niemeyer 1901, S.  694–715. (Husserl, Beilage) –, Logische Untersuchungen, 2. Theil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. – Halle a. S.: Max Niemeyer 1901. (Husserl, Untersuchungen II) Jaffé, Edgar → Weber, Max [zusammen mit Edgar Jaffé und Werner Sombart Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre (Das Recht des modernen Staates, 1.  Band), 2., durchgesehene und vermehrte. Aufl. – Berlin: O. Häring 1905. (Jellinek, Staatslehre2) –, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. durchgesehene und vermehrte Aufl. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1905. (Jellinek, System2) Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 4. Original-Ausgabe mit einem Vorwort von J. F. Herbart. – Leipzig: Immanuel Müller 1833. (Kant, Anthropologie) *–, Kritik der reinen Vernunft, hg. und mit einer Einleitung sowie einem Personen- und Sachregister versehen von Karl Vorländer. – Halle a. S.: Otto Hendel 1899. (Kant, Kritik) –, Metaphysik der Sitten in 2 Theilen und Pädagogik (ders., Sämmtliche Werke, hg. von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert, 9. Theil). – Leipzig: Leopold Voss 1838. (Kant, Metaphysik der Sitten) Kautz, Julius, Theorie und Geschichte der National-Oekonomik, Propyläen zum volks- und staatswirthschaftlichen Studium, 1. Theil: Die NationalOekonomik als Wissenschaft. – Wien: Carl Gerold’s Sohn 1858. (Kautz, Theo­rie I)

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Kistjakovskij, Bogdan A., Russkaja sociologicˇeskja škola i kategorija vozmožnosti pri reˇšenii social’no-e˙ticˇeskich problem, in: Problemy idealizma. Sbornik statej pod redakciej P. I. Novgorodceva. – Moskva: Moskovskoe psichologicˇeskoe obšcˇestvo 1903, S.   297–393. (Kistjakovskij, Russkaja sociologicˇeskja) Anonymus [Knies, Karl], Das heutige Credit- und Bankwesen, in: Die Gegenwart. Eine encyklopädische Darstellung der neuesten Zeitgeschichte für alle Stände, Band 11, 1855, S.  417–466. (Anonymus [Knies], Bankwe­ sen) Knies, Karl, Geld und Credit. Erste Abteilung: Das Geld. Darlegung der Grundlehren von dem Gelde, insbesondere der wirtschaftlichen und der rechtsgiltgen Functionen des Geldes, mit einer Erörterung über das Kapital und die Übertragung der Nutzungen, 2., verbesserte und vermehrte Aufl. – Berlin: Weidmann 1885. (Knies, Geld und Credit I 2) –, dass., Zweite Abtheilung. Erste Hälfte: Der Credit. – Berlin: Weidmann 1876. (Knies, Geld und Credit II,1) –, dass., Zweite Abtheilung. Zweite Hälfte: Das Wesen des Zinses und die Bestimmungsgründe für seine Höhe. Wirkungen und Folgen des Creditverkehres. Die Creditinstitute. – Berlin: Weidmann 1879. (Knies, Geld und Cre­ dit II,2) –, Die nationalökonomische Lehre vom Wert, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Band 11, Heft 3/4, 1855, S.  421–475, 644–648. (Knies, Wert) –, Die politische Oekonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode. – Braunschweig: C. A. Schwetschke und Sohn (M. Bruhn) 1853. (Knies, Oekonomie1) –, dass., Neue, durch abgesonderte Zusätze vermehrte Aufl. der „Politischen Oekonomie vom Standpuncte der geschichtlichen Methode“. – Braunschweig: C. A. Schwetschke und Sohn (M. Bruhn) 1883. (Knies, Oekonomie2) –, [Rez.] Wilhelm Roscher, System der Volkswirthschaft, Band 1, in: Göttingische gelehrte Anzeigen, Band 1, 9. Stück, 15. Januar 1855; 10., 11. Stück, 18. Januar 1855, S.  81–101. (Knies, Roscher) –, Wert → Die nationalökonomische Lehre vom Wert –, Die Wissenschaft der Nationalökonomie seit Adam Smith bis auf die Gegenwart, in: Die Gegenwart. Eine encyklopädische Darstellung der neu-

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esten Zeitgeschichte für alle Stände, Band 7, 1852, S.  108–155. (Anonymus [Knies], Wissenschaft) Kries, Johannes von, Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Jg. 12, 1888, S.  179–240, 287–323, 393–428. (Kries, Mög­ lichkeit [ ]) –, dass., Separatdruck aus der „Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie“ XII. Band. – Leipzig: Fues (R. Reisland) 1888. (Kries, Möglich­ keit) –, Die Principien der Wahrscheinlichkeits-Rechnung. Eine logische Untersuchung. – Freiburg i. B.: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1886. (Kries, Princi­ pien) *Lamprecht, Karl, Deutsche Geschichte. Erster Ergänzungsband: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, 1.  Band: Tonkunst – Bildende Kunst – Dichtung – Weltanschauung. – Berlin: R. Gaertner (Hermann Heyfelder) 1902. (Lamprecht, Geschichte E1) –, Herder und Kant als Theoretiker der Geschichtswissenschaft, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 69 (3. Folge, Band 14), Heft 2, 1897, S.  161–203. (Lamprecht, Herder) –, Was ist Kulturgeschichte? Beitrag zu einer empirischen Historik, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Vierteljahreshefte, 17. Jg. (N. F., 1. Jg.), 1896/97, S.  75–150. (Lamprecht, Kulturgeschichte) *Lask, Emil, Fichtes Idealismus und die Geschichte. – Tübingen und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1902. (Lask, Fichte) Lessing, Gotthold Ephraim, Laokoon, hg. und erläutert von Hugo Blümner, 2., verbesserte und vermehrte Aufl. – Berlin: Weidmann 1880. (Lessing, Laokoon) Liepmann, Moritz, Einleitung in das Strafrecht. Eine Kritik der kriminalistischen Grundbegriffe. – Berlin: O. Häring 1900. (Liepmann, Strafrecht) Lipps, Theodor, Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, 1. Teil: Grundlegung der Ästhetik. – Hamburg und Leipzig: Leopold Voss 1903. (Lipps, Ästhetik) Mach, Ernst, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältniss des Physischen zum Psychischen. – Jena: Gustav Fischer 1886. (Mach, Analyse)

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Anonymus [Mandeville, Bernard], The Fable of the Bees: or, Private Vices Publick Benefits. – London: Printed for J. Roberts, near the Oxford Arms in Warwick Lane 1714. (Mandeville, Fable) Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie, Band 1., Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals, 2., verbesserte Aufl. – Hamburg: Otto Meissner 1872. (Marx, Kapital) –, ders. und Engels, Friedrich, Das Kommunistische Manifest, 6., autorisierte deutsche Ausgabe. Mit Vorreden von Karl Marx und Friedrich Engels (Sozialdemokratische Bibliothek, Band 23). – Berlin: Expedition des „Vorwärts“, Berliner Volksblatt (Th. Glocke) 1894. (Marx/Engels, Manifest) Meinecke, Friedrich, Erwiderung, in: Historische Zeitschrift, hg. von Friedrich Meinecke, Band 77 (N. F., Band 41), Heft 2, 1896, S.  262–266. (Mei­ necke, Erwiderung) –, Friedrich Wilhelm IV. und Deutschland, in: Historische Zeitschrift, hg. von Friedrich Meinecke, Band 89 (N. F., Band 53), Heft 1, 1902, S.  17–53. (Meinecke, Friedrich Wilhelm IV.) Menger, Carl, Die Irrthümer des Historismus in der Deutschen Nationalökonomie. – Wien: Alfred Hölder 1884. (Menger, Historismus) –, Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften, und der Politischen Oekonomie insbesondere. – Leipzig: Duncker & Humblot 1883. (Menger, Untersuchungen) *Meyer, Eduard, Geschichte des Alterthums, Band 1: Geschichte des Orients bis zur Begründung des Perserreichs. – Stuttgart: J. G. Cotta 1884. (Meyer, Geschichte I) *–, dass., Band 2: Geschichte des Abendlandes bis auf die Perserkriege. – Stuttgart: J. G. Cotta Nachfolger 1893. (Meyer, Geschichte II) *–, dass., Band 3: Das Perserreich und die Griechen. Erste Hälfte: Bis zu den Friedensschlüssen von 448 und 446 v. Chr. – Stuttgart: J. G. Cotta Nachfolger 1901. (Meyer, Geschichte III) *–, dass., Band 4: Das Perserreich und die Griechen. Drittes Buch: Athen (vom Frieden von 446 bis zur Capitulation Athens im Jahre 404 v. Chr.). – Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta Nachfolger 1901. (Meyer, Geschichte IV) *–, dass., Band 5: Das Perserreich und die Griechen. Viertes Buch: Der Ausgang der griechischen Geschichte. – Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta Nachfolger 1902. (Meyer, Geschichte V)

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–, Zur Theorie und Methodik der Geschichte. Geschichtsphilosophische Untersuchungen. – Halle a. S.: Max Niemeyer 1902. (Meyer, Theorie) Mill, John Stuart, System der deductiven und inductiven Logik. Eine Darlegung der Grundsätze der Beweislehre und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. Mit Genehmigung und unter Mitwirkung des Verfassers übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Theodor Gomperz, Band 2 (ders., Gesammelte Werke, Band 3). – Leipzig: Fues (R. Reisland) 1872. (Mill, System II) Milton, John, Das verlorene Paradies. Ein Gedicht in zwölf Gesängen. Deutsch von Adolf Böttger (Reclams Universal Bibliothek Nr.  2191/2192). – Leipzig: Philipp Reclam jun. o. J. [1. Aufl. 1883–1886]. (Milton, Paradies) Münsterberg, Hugo, Grundzüge der Psychologie, Erster Band. – Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1900. (Münsterberg, Psychologie) –, The Position of Psychology in the System of Knowledge, in: Psychological Review. Series of Monograph Supplements, Vol. 4, 1903, S.  641–654 und Faltblatt. (Münsterberg, Position) Neumann, Carl, Rembrandt. – Berlin und Stuttgart: W. Spemann 1902. (Neumann, Rembrandt) Radbruch, Gustav, Die Lehre von der adäquaten Verursachung (Abhandlungen des kriminalistischen Seminars an der Universität Berlin, hg. von Franz v. Liszt, N. F., 1.  Band, 3. Heft). – Berlin: J. Guttentag 1902, S.  325–408 [S.(1)–(84)]. (Radbruch, Verursachung) Ranke, Leopold von, Ueber die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik, in: ders., Sämmtliche Werke, Band 24: Abhandlungen und Versuche. Erste Sammlung. – Leipzig: Duncker & Humblot 1872, S.  280–293. (Ranke, Verwandtschaft) Rau, Karl Heinrich, Lehrbuch der politischen Oekonomie, 1.  Band: Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, 4. vermehrte und verbesserte. Aufl. – Heidelberg: Akad. Verlagsbuchhandlung von C. F. Winter 1841. (Rau, Lehr­ buch) –, Über den Nutzen, den gegenwärtigen Zustand und die neueste Literatur der Nationalökonomie, in: Archiv der politischen Oekonomie und Polizeiwissenschaft, hg. von Karl Heinrich Rau, Band 1, 1835, S.  1–43. (Rau, Nutzen) Rickert, Heinrich, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. – Tübingen und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1902. (Rickert, Grenzen)

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–, [Rez.] Hugo Münsterberg, Grundzüge der Psychologie, in: Deutsche Litteraturzeitung, 22. Jg., Nr.  14, 6. April 1901, Sp.  841–846. (Rickert, Mün­ sterberg) –, Les quatre modes de „l’universel“ dans l’histoire, in: Revue de synthèse historique, tome 2, janvier à juin, 1901, S.  121–140. (Rickert, Quatre modes) Ritschl, Otto, Die Causalbetrachtung in den Geisteswissenschaften (Bonn, Programm zur Gedächtnisfeier Friedrich Wilhelms III.). – Bonn: A. Marcus und E. Weber 1901. (Ritschl, Causalbetrachtung) Roscher, Wilhelm, Geistliche Gedanken eines National-Oekonomen, 2.  Aufl. – Dresden: v. Zahn & Jaensch 1896. (Roscher, Gedanken) –, Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, hg. von der Historischen Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Band 14: Geschichte der Nationalökonomik). – München: Oldenbourg 1874. (Roscher, Geschichte) –, Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirthschaft. Nach geschichtlicher Methode. – Göttingen: Dieterich 1843. (Roscher, Grundriß) –, Ideen zur Politik und Statistik der Ackerbausysteme, in: Archiv der politischen Oekonomie und Polizeiwissenschaft, hg. von Karl Heinrich Rau und Georg Hanssen, Band 8 (N. F., Band 3), 1845, S.  158–234. (Roscher, Ideen) –, Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides. Mit einer Einleitung zur Aesthetik der historischen Kunst überhaupt (Klio. Beiträge zur Geschichte der historischen Kunst, Band 1). – Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1842. (Roscher, Thukydides) –, Politik: Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, 2.  Aufl. – Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger 1893. (Roscher, Politik) –, System der Volkswirthschaft. Ein Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende, Band 1: Die Grundlagen der Nationalökonomie enthaltend. – Stuttgart und Tübingen: J. G. Cotta 1854. (Roscher, System I1) –, dass., 2., vermehrte und verbesserte Aufl. – Stuttgart und Augsburg: J. G. Cotta 1857. (Roscher, System I 2) –, dass., 23., vermehrte und verbesserte Aufl., bearbeitet von Robert Pöhl­ mann. – Stuttgart: J. G. Cotta Nachf. 1900. (Roscher, System I 23)

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–, Thukydides → Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides –, Vorlesung über das Verhältniss der Nationalökonomie zum klassischen Alterthume (18. Mai Oeffentliche Sitzung zur Feier des Geburtstages seiner Majestät des Königs), in: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-Hi­ storische Classe, Band 1. – Leipzig: Weidmann 1849, S.  115–134. (Roscher, Verhältniss) Rousseau, Jean-Jacques, Rousseaus Bekenntnisse, 2 Bände. – Hildburghausen: Bibliographisches Institut 1870. (Rousseau, Bekenntnisse) Schmeidler, Bernhard, Über Begriffsbildung und Werturteile in der Geschichte, in: Annalen der Naturphilosophie, hg. von Wilhelm Ostwald, Band 3, 1904, S.  24–70. (Schmeidler, Begriffsbildung) Schmidt, Conrad, [Rez.] Marxstudien. Blätter für Theorie und Politik des wissenschaftlichen Sozialismus, hg. von Adler, Max und Hilferding, Rudolf, Band 1, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 20, Heft 2, 1905, S.  396–411. (Schmidt, Adler) Schmoller, Gustav, [Rez.] Karl Knies, Die politische Oekonomie vom geschichtlichen Standpunkte, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich, hg. von Gustav Schmoller, N. F., 7. Jg., Heft 4, 1883, S.  287–290 [S.  1383–1386]. (Schmoller, Knies¹) –, Karl Knies (1883), in: ders., Zur Litteraturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften. – Leipzig: Duncker & Humblot 1888, S.   204–210. (Schmoller, Knies²) –, Zur Methodologie der Staats- und Sozialwissenschaften, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich, hg. von Gustav Schmoller, N. F., Jg. 7, Heft 3, 1883, S.  239–258 [S.  975–994]. (Schmoller, Methodologie) –, Wilhelm Roscher (1888), in: ders., Zur Litteraturgeschichte der Staatsund Sozialwissenschaften. – Leipzig: Duncker & Humblot 1888, S.  147–171. (Schmoller, Roscher) Simmel, Georg, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie. – Leipzig: Duncker & Humblot 1892. (Simmel, Geschichtsphilosophie¹) *–, dass., 2., völlig veränd. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1905. (Sim­ mel, Geschichtsphilosophie²)

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Sombart, Werner → Weber, Max [zusammen mit Edgar Jaffé und Werner Sombart Spann, Othmar, Zur soziologischen Auseinandersetzung mit Wilhelm Dilthey, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 59. Jg., Heft 2, 1903, S.  193–222. (Spann, Dilthey) –, Untersuchungen über den Gesellschaftsbegriff zur Einleitung in die Soziologie. [Dritter Artikel], in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 61. Jg., Heft 2 und Heft 3, 1905, S.  302–344 und 427–460. (Spann, Gesellschaftsbegriff III) Stammler, Rudolf, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung. – Leipzig: Veit & Comp. 1896. (Stammler, Wirtschaft¹) *–, dass., 2., verbesserte Aufl. – Leipzig: Veit & Comp. 1906. (Stammler, Wirtschaft²) Stieve, Felix, Herzog Maximilian von Baiern und die Kaiserkrone, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Band 6, Jg. 1891, Band II, S.  40–77. (Stieve, Maximilian) Tschuprow, Alexander A., Die Aufgaben der Theorie der Statistik, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hg. von Gustav Schmoller, Jg. 29, Heft 2, 1905, S.  11–70 [S.  421– 480]. (Tschuprow, Aufgaben) → auch: Cˇuprov, Aleksandr Aleksandrovicˇ Vorländer, Karl, Eine Sozialphilosophie auf Kantischer Grundlage, in: Kantstudien. Philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft, 1. Jg., Heft 2, 1897, S.  196–216. (Vorländer, Sozialphilosophie) Voßler, Karl, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft. Eine sprach-philosophische Untersuchung. – Heidelberg: Carl Winter 1904. (Voßler, Positivismus) –, Die Sprache als Schöpfung und Entwicklung. Eine theoretische Untersuchung mit praktischen Beispielen. – Heidelberg: Carl Winter 1905. (Voßler, Sprache) Weber, Max, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 19, Heft 1, 1904, S.  22–87 (in diesem Band, oben, S.  142–234). (Weber, Objektivität)

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–, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. Erster Artikel, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hg. von Gustav Schmoller, 27. Jg., Heft 4, 1903, S.  1–41 [S.  1181–1221] (in diesem Band, oben, S.  41–101). (Weber, Roscher und Knies 1) –, dass., II. Knies und das Irrationalitätsproblem, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hg. von Gustav Schmoller, 29. Jg., Heft 4, 1905, S.  89–150 [S.  1323–1384] (in diesem Band, oben, S.  243–327). (Weber, Roscher und Knies 2) –, dass., Dritter Artikel. II. Knies und das Irrationalitätsproblem (Fortsetzung), in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hg. von Gustav Schmoller, 30. Jg., Heft 1, 1906, S.  81–120 (in diesem Band, oben, S.  328–379). (Weber, Roscher und Knies 3) –, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 22, Heft 1, 1906, S.  143–207 (in diesem Band, oben, S.  384–480). (Weber, Kritische Studien) –, [zusammen mit Edgar Jaffé und Werner Sombart,] Geleitwort, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 19, Heft 1, 1904, S. I–VII (in diesem Band, oben, S.  125–134). ([Jaffé, Sombart, Weber,] Geleitwort) Wechssler, Eduard, Giebt es Lautgesetze?, in: Forschungen zur romanischen Philologie. Festgabe für Hermann Suchier zum 15. März 1900. – Halle a. S.: Max Niemeyer 1900, S.  349–538. (Wechssler, Lautgesetze) Windelband, Wilhelm, Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rectorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg gehalten am 1. Mai. 1894. – Strassburg: J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mündel) 1894. (Windel­ band, Geschichte) –, Die Lehren vom Zufall. – Berlin: F. Henschel 1870. (Windelband, Zufall) –, Über Willensfreiheit. Zwölf Vorlesungen. – Tübingen und Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1904. (Windelband, Willensfreiheit) Wundt, Wilhelm, Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Causalprincip. Ein Capitel aus einer Philosophie der Naturwissenschaften. – Erlangen: Ferdinand Enke 1866. (Wundt, Axiome) –, Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, Band I: Erkenntnislehre, 2., umgearbeitete Aufl. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1893. (Wundt, Logik I)

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–, dass., Band II: Methodenlehre, 2. Abt.: Logik der Geisteswissenschaften, 2., umgearbeitete Aufl. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1895. (Wundt, Logik II,2) –, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, 1.  Band: Die Sprache, 2 Theile. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1900. (Wundt, Völkerpsychologie I,1 und I,2)

Personenregister

Gerade gesetzte Zahlen verweisen auf die Texte Max Webers, kursiv gesetzte Zahlen auf die Herausgeberrede. Familiennamen, legendäre und literarische Figuren finden sich im Sachregister. Max Weber wird im Zusammenhang mit seinen Schriften aufgeführt.

Adler, Max 300, 500, 704 Aischylos 427, 439, 677, 704 Aldenhoff-Hübinger, Rita 10 Althoff, Friedrich 100 Ammon, Otto 170 Aristoteles 6, 18, 80, 180, 439, 501, 546, 628, 704 Äschylos → Aischylos Ast, Friedrich 17 Aubertot, Antoine 579 Augustinus 321 Avenarius, Richard 308, 677 Babeuf, François Noël 34 Bachofen, Johann Jakob 178 Baier, Horst 575 Balzac, Honoré de 499 Barclay, Robert 623 Baschkirzewa, Maria Konstantinowna → Bashkirtseff, Marie Bashkirtseff, Marie 423, 677 Bastiat, Frédéric 42 f. Bauer, Stephan 121, 137–139 Becker, Karl Ferdinand 223 Bein, Louis 563 Bekker, Ernst Immanuel 664 Below, Georg von 4, 9, 15, 74, 139, 250, 386, 395, 401, 402, 446, 475 f., 658 f., 662–666, 677, 704 Bergman, Torbern Olof 152 Bergson, Henri 180 Berlepsch, Hans Frhr. von 236 Bernhard, Ludwig 672 f.

Bernheim, Ernst 275, 283, 300, 322, 327, 353, 638, 677, 704 Bernstein, Eduard 74, 122, 136 Biermann, Wilhelm Eduard 309, 355–357, 526, 677, 704 Binding, Karl 476, 477, 677 f., 705 Bismarck, Otto von 48, 130, 352, 393, 405 f., 418, 431, 447–450, 468, 470 Black, Joseph 152 Bloch, Iwan 318 Blumenthal, Leonhard Graf von 353 Böcklin, Arnold 50, 678 Bodin, Jean 54 Boeckh, August 64, 307, 445, 678 Boenigk, Otto Frhr. von 41 Boese, Franz 235 Böhm, Franz 13 Böhm-Bawerk, Eugen von 210 f., 343, 543, 556, 678, 705 Boltzmann, Ludwig 4, 24 Bonar, James 344, 631, 678 Bonn, Moritz Julius 122, 136, 138 Bortkiewicz, Ladislaus von 452, 678, 705 Bortkiewitsch, Ladislaus von → Bortkiewicz, Ladislaus von Braun, Heinrich 13 f., 102, 105, 107, 115, 123, 125, 126 f., 128, 130 f., 138, 143 f., 154, 157, 159, 240, 253, 300, 316, 338, 340, 349, 361, 381, 669, 678 f. Braun-Vogelstein, Julie 123, 125 Brentano, Lujo 121 f., 136, 231

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Personenregister

Breysig, Kurt 405, 409–412, 424, 679, 705 Bryce, James 216 Buchenberger, Adolf 229 Bücher, Karl 44, 51 f., 82, 203, 217, 221, 679, 705 Bunsen, Robert Wilhelm 317, 679 Burckhardt, Jacob 25, 353, 354, 679 Buri, Maximilian von 476 Busch, Wilhelm 336, 450, 466, 679 Bütschli, Otto 180 Cabanis, Pierre-Jean-Georges 54 Gaius Iulius Caesar 262, 320, 321, 456, 679 f. Calkins, Mary Whiton 298, 680, 705 Calvin, Jean 74, 212, 680 Cantor, Moritz 317 Castellio, Sebastian 250 Class, Gustav 640 Claß, Gustav → Class, Gustav Clausius, Robert 514 Cohn, Gustav 26, 29, 34, 235 f., 237, 238, 482, 680, 705 Cohn, Jonas 25 Coleridge, Samuel Taylor 93 Comte, Auguste 8, 43, 645, 647, 680 Constant, Benjamin 223, 224, 680 f. Croce, Benedetto 26, 309, 316, 331–334, 348, 350 f., 424, 428, 463, 681, 705 Crusius, Christian August 53 Cumberland, Richard 472 Cunow, Heinrich 608 Cˇuprov, Aleksandr Aleksandrovicˇ 452, 706 → auch: Tschuprow, Alexander A. Dahlmann, Friedrich Christoph 56, 64 Darwin, Charles 163, 169, 196, 265, 650 Debus, Heinrich 317 De Felice Giuffrida, Giuseppe 623 Defoe, Daniel 531, 603 f., 681, 706

Dehmel, Richard 50 Deichen, Fritz 236 Descartes, René 17, 68 Diederichs, Eugen 326 Dietzel, Heinrich 161 Dilthey, Wilhelm 4, 44, 45, 57, 59, 61, 89 f., 175, 178 f., 194, 245, 259, 281, 283, 307–310, 659, 681, 706 Diocletian (römischer Kaiser) 435, 681 Dippe, Karl Alfred 72, 681, 707 Dirichlet, Lejeune 397 Doyle, Arthur Conan 337 Drews, Arthur 93, 681, 707 Dreyer, Max 629 Driesch, Hans 4, 180, 376 Droysen, Johann Gustav 4, 72, 249, 283, 682 Dschingis Khan 260 f., 682 Du Bois, W. E. B. 670 Du Bois-Reymond, Emil Heinrich 3, 6, 79, 83, 169, 176 f., 522, 682 Düntzer, Heinrich 429, 682 Ebbinghaus, Hermann 307, 682 Eberstadt, Rudolf 121 f., 136, 671 Eichhorn, Karl Friedrich 52 f. Elsenhans, Theodor 308, 345, 348 f., 682, 707 Engels, Friedrich 108, 167–169, 192, 266, 500, 581, 712 Eulenburg, Franz 15, 18, 241, 272, 273, 309, 390, 430, 447, 682, 707 Exner, Sigmund 577 Faulds, Henry 405 Fechner, Gustav Theodor 361 Federn, Karl 331, 701 Fester, Richard 71 Feuerbach, Ludwig 188, 213 Fichte, Immanuel Hermann 364 Fichte, Johann Gottlieb 4, 33 f., 54 f., 62, 176, 197, 282, 288, 536, 623, 639, 683

Personenregister

Fischer, Kuno 33, 70 Flesch, Karl 671 Freud, Sigmund 420 Friedrich II. (deutscher Kaiser) 321 Friedrich II., der Große (König von Preußen) 279, 431, 447, 450, 683 Friedrich Wilhelm IV. (König von Preußen) 280, 291, 319, 359, 394, 409, 412–414, 683 Fuchs, Carl Johannes 10, 33, 36 Fuchs, Christian Josef 307 Fuchs, Conrad Heinrich → Gauss, Carl Friedrich Galilei, Galileo 2, 17 Galton, Francis 203 f., 405 Gauss, Carl Friedrich 397 Gephart, Werner 28, 485, 574 Gerlach, Andreas Christian 307 Gerlach, Ernst 317 Gervinus, Georg Gottfried 25 f., 64, 71 f., 77, 148, 187, 190, 202, 217, 227, 317, 385, 431, 448, 463, 683, 707 Gierke, Otto von 91 f., 216, 237, 683, 707 Gladstone, William Ewart 627 Glaser, Julius 462 Goethe, Johann Wolfgang von 67, 88, 95, 152, 156, 227, 233 f., 305, 326, 346, 352, 416–423, 427, 429, 431, 436, 460, 707 Goldfriedrich, Johann 71 Gomperz, Heinrich 453, 477, 586, 684, 708 Gossen, Hermann Heinrich 202 Gothein, Eberhard 109 Gottl, Friedrich 15, 26 f., 45, 57 f., 63, 90, 147, 190, 207, 241, 283, 308–310, 312–319, 323–325, 333 f., 339, 342–344, 360, 380, 385, 521, 556, 560, 610, 628–637, 659, 662, 684, 708 Gottl-Ottlilienfeld, Friedrich von → Gottl, Friedrich

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Graetz, Victor 111 Gregor VII. (Papst) 665 Gregorovius, Ferdinand 25 Gumplowicz, Ludwig 170, 256 Gustav Adolf von Schweden 260, 684 Haebler, Konrad 438 Haeckel, Ernst 169 Hampe, Karl 459, 684, 708 Hannibal 447, 450, 684 Hardy, Edmund 446 Harnack, Adolf 213 Hartmann, Eduard von 514, 515, 684 Hartmann, Ludo Moritz 272 f., 276, 390, 399, 684, 708 Hasbach, Wilhelm 16, 34 Hausrath, Adolf 38 Hayek, Friedrich August von 15 Hecker, Justus Friedrich Karl 297 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 62, 64, 66–71, 72, 80, 89, 91, 92, 100 f., 197, 364, 377, 379, 684 f. Hegesias von Magnesia 227 Hellpach, Willy 27, 107, 123, 241, 253, 291, 335, 346, 381 f., 454, 463, 482, 685, 708 Helmholtz, Hermann von 3, 19, 25, 217, 247, 258, 341, 463 f., 473, 685 Helmolt, Hans F. 261, 401, 424, 438, 458, 459, 685, 708 Helvetius, Claude Adrien 87, 372, 685 Hensel, Paul 33 Herbart, Johann Friedrich 54, 84 f., 684 f. Herder, Johann Gottfried 170, 306 Herkner, Heinrich 36, 105, 481, 573 f. Hermann, Friedrich Benedikt Wilhelm von 43, 86, 200, 686 Herschel, William James 405 Hertz, Eduard 476 Heusler, Andreas 569 Hildebrand, Bruno 42, 176, 244, 386, 686, 708

722

Personenregister

Hinneberg, Paul 249, 686, 708 Hintze, Otto 74, 83, 686, 708 Hobbes, Thomas 17 Hoffmann, Hans 202, 217, 322, 686 f., 709 Holberg, Ludvig 432 Homer 416 Honigsheim, Paul 5 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 488, 527 Hübinger, Gangolf 13, 26, 102, 112, 120, 135, 247 Hüfner, Carl Gustav 180 Humboldt, Alexander von 180 Humboldt, Wilhelm von 4, 54, 71, 72, 148, 187, 202, 222 f., 317, 653, 709 Hume, David 513, 687 Husserl, Edmund 290, 323, 332–334, 687, 709 Ihering, Rudolf von 579 f., 687 Ingram, John Kells 34 Jacobi, Friedrich Heinrich von 69, 686 Jaffé, Edgar 1, 13 f., 28 f., 102 f., 105 f., 107, 111–114, 115, 116, 118, 119, 120–124, 126, 128, 129–134, 135–140, 142, 143–145, 148, 149 f., 152, 154, 156 f., 159, 160, 163, 165, 167, 170, 181, 224, 240, 253, 300, 316, 338, 340, 349, 361, 381, 481, 483 f., 573, 669 f., 687 f., 717 Jaffé, Else 575 James, William 392, 688 Jastrow, Ignaz 111, 121, 236, 481 Jellinek, Camilla 671 Jellinek, Georg 91, 109, 203, 205, 214, 216 f., 224, 301, 302, 303, 482, 556, 566, 666, 688, 709 Jevons, William Stanley 17, 202 Jhering, Rudolf von → Ihering, Rudolf von John, Vincenz 344, 631, 688

Justinian (oströmischer Kaiser) 435, 688 Kant, Immanuel 4, 62, 70 f., 85, 117, 215, 226, 258, 271–273, 341, 489, 490, 512 f., 523, 527, 545, 549, 639, 709 Kantorowicz, Hermann 573 Kareev, Nikolaj Ivanovicˇ → Karjejew, Nikolai Iwanowitsch Karjejew, Nikolai Iwanowitsch 404, 688 f. Karl von Anjou 459 Katharina die Große (Kaiserin von Rußland) 395 Kautsky, Karl 75, 515 Kautz, Gyula (Julius) 98, 689, 709 Kautzsch, Rudolf 326 Kepler, Johannes 59 Kessler, Harry Graf 25 Kessler, Johannes 224 Key, Ellen 25 Kirchhoff, Gustav 4, 175, 285, 614 Kistiakowski, Theodor A. 228, 404, 449, 452, 478 f., 594, 595, 689, 710 Kistjakovskij, Bogdan Aleksandrovicˇ → Kistiakowski, Theodor A. Klinger, Max 50, 689 Kluge, Friedrich 9 Knapp, Georg Friedrich 179, 525 Knies, Karl 12 f., 26 f., 37–40, 41–43, 45, 51, 57, 59, 70, 73, 82, 84 f., 87, 176, 191, 202, 240–242, 243–250, 253, 271, 273 f., 328, 368–374, 375, 376–379, 380 f., 386, 627, 637, 641 f., 643 f., 645–650, 651, 654–656, 689 f., 710 f. Konradin von Hohenstaufen 459 Krieken, Albert Theodor van 216 Kries, Johannes von 18–24, 26 f., 93, 171, 186, 275 f., 278, 340, 343, 353, 360, 381, 389, 448, 451–454, 456 f., 461 f., 470–473, 475–478, 480, 530, 532, 549, 577, 588, 666, 690, 711 Krüger, Paul 337

Personenregister

La Fontaine, Jean de 428, 690 Lagardelle, Hubert 671, 673 La Mettrie, Julien Offray de 74 Lammasch, Heinrich 476 Lamprecht, Karl 4, 50, 73, 77 f., 175, 257, 264, 296, 380, 388, 401, 405, 424, 574, 690, 711 Lange, Ernst 159 Laplace, Pierre Simon 2, 7, 19–21, 26, 176 f., 258, 275, 406, 448 f., 478, 522 Lask, Emil 62, 63, 68, 241, 381, 481, 640, 661, 690, 711 Lassalle, Ferdinand 54 Laveleye, Emile de 178 Lazarus, Moritz 54, 55, 148, 429, 690 Lederer, Emil 110, 670 Leibniz, Gottfried Wilhelm 46, 255, 338 Lepsius, M. Rainer 13, 26, 102, 112, 120, 135 Lessing, Gotthold Ephraim 66, 707, 711 Lexis, Wilhelm 179, 218 f., 244, 253 Lichtenberg, Georg Christoph 419 Liebig, Justus von 180 Liepmann, Moritz 392, 452, 690 f., 711 Lipps, Theodor 26, 309, 316, 328–331, 333, 341, 691, 711 List, Friedrich 655, 691 Liszt, Franz Ritter von 452, 691 Lorenz, Ottokar 215, 283, 638 f. Lotze, Hermann 41, 247, 362

Mach, Ernst 4, 45, 175, 202, 272, 276, 308 f., 313, 314, 614 f., 691, 711 f. Macrosty, Henry W. 672 Malapert, Paulin 252 Malthus, Thomas Robert 42, 49, 691 Mandeville, Bernard de 87 f., 372, 691, 712

723

Marx, Karl 66, 151, 163, 168, 211, 221, 266, 423, 426 f., 429, 431, 500, 524, 643, 712 Mayer, Julius Robert 2, 19, 191, 255, 257, 265 Mayo-Smith, Richmond 179 McKeen Cattell, James 268 Meinecke, Friedrich 249, 280, 319, 359, 691, 712 Meineke, August 416 Menger, Carl 4 f., 8, 15–17, 24, 27, 44, 45, 53, 59, 60, 91, 146, 174, 197–200, 202, 211, 245, 320, 343 f., 347, 361, 386, 399, 543, 631, 648, 655 f., 658, 661, 692, 712 Merkel, Adolf 451, 692 Messer, Jacob 177 Meumann, Ernst 335 Meyer, Conrad Ferdinand 191, 371 Meyer, Eduard 27, 45, 48, 73, 169, 171, 177, 190, 253, 283, 289, 334, 339, 340, 353, 380–382, 384–398, 400–405, 407–409, 411–417, 421 f., 423, 424–427, 429, 433–441, 442, 443–450, 457, 461 f., 470, 474 f., 479, 483, 662–664, 692, 712 f. Michailowski, Nikolai Konstantinowitsch 404, 692 Michajlovskij, Nikolaj Konstaninovicˇ → Michailowski, Nikolai Konstantinowitsch Miquel, Johannes von 627 Mill, John Stuart 194, 208 f., 452 f., 476, 477, 692., 713 Milton, John 87, 713 Mischler, Ernst 159 Mohl, Robert von 224 Moivre, Abraham de 472 Molière 467 Moltke, Helmuth von 353, 692 Mommsen, Theodor 100, 227, 435 Mommsen, Wolfgang J. 1, 4, 27, 531, 575

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Personenregister

Montesquieu, Charles Louis de Secondat 54 Morris, William 326 Müller, Adam Ritter von 55 f., 693 Müller, Friedrich Max 446 Müller, Johannes 180 Müller, Karl Otfried 64 Münsterberg, Hugo 26, 45, 189, 241, 273, 281, 282–295, 298 f., 303 f., 305, 306–313, 323–326, 329, 333, 336, 346, 347, 350, 365, 381, 424, 693, 713

Peter, Heinrich 671 Pflug, R. 134 Pisani, Pietro 101 Platon 33 f., 71 f., 80, 224, 320 Ploetz, Alfred 171 Pöllnitz, Gottlob Ludwig von 322 Proksch, Karl Johann 318 Pufendorf, Samuel von 185 Pütz, Hermann 307

Napoleon Bonaparte 252, 467 f., 667 Napoleon III. 471, 693 Natorp, Paul 290, 525, 574, 595, 693 Nero 288, 693 Neumann, Carl 348, 353 f., 693, 713 Neumann, Friedrich Julius 59, 179 Neumann, Wladyslaw 502 Newton, Isaac 2, 59, 170 Nicolai, Friedrich 18 Niebuhr, Barthold Georg 64, 79, 80, 639, 694 Nietzsche, Friedrich 96, 155, 196, 203, 205, 232, 266, 446, 477 Nordau, Max 25

Rabelais, François 423, 694 Rachfahl, Felix 280, 319, 694 Radbruch, Gustav 185 f., 452, 454, 480, 694, 713 Ranke, Leopold von 4, 64, 69–72, 88, 96, 148, 153, 202, 233, 317, 321, 397, 436, 464. 639, 661, 695, 713 Rankine, William John Macquorn 265 Ratzel, Friedrich 434 Ratzenhofer, Gustav 170 Rau, Karl Heinrich 42, 43, 49, 51, 86 f., 200, 372, 695, 713 Rauchberg, Heinrich 159 Reinke, Johannes 4, 92 f., 306, 695 Reumont, Alfred von 280 Reuter, Fritz 603 Rheticus, Georg Joachim 68 Ricardo, David 4, 17, 42, 197, 231, 647 Rickert, Heinrich 4, 6, 8–13, 15, 18, 24, 26, 33–35, 38 f., 44, 45, 46 f., 49, 52 f., 57 f., 62 f., 68, 75, 109, 117, 126, 133, 143, 144 f., 150, 152–154, 166, 169, 170–172, 174 f., 177 f., 182, 184 f., 187–190, 192, 196, 217, 223 f., 227, 232, 254–257, 259 f., 265, 270 f., 283, 284, 286, 287, 289, 294, 300 f., 307–309, 314 f., 332, 334, 338, 342, 347, 349, 350, 354, 356, 360, 365–367, 380 f., 390, 402, 406, 409,

Ohm, Martin 277 Oldenberg, Karl 34 Oncken, Hermann 34 Oppenheim, Heinrich Bernhard 244 Ostwald, Wilhelm 292, 574 Panofsky, Erwin 24 Pascal, Blaise 315 Paul I. (Kaiser von Rußland) 395, 398 f., 694 Paul, Hermann 223, 665 Pauli, Reinhold 296 Pavel I. Petrovicˇ → Paul I. (Kaiser von Rußland) Pearson, Karl 209 Peirce, Charles Sanders 346

Quesnay, François 34 f. Quetelet, Adolphe 93, 94, 694

Personenregister

412 f., 414, 418, 420, 422, 425, 429 f., 433, 436, 437, 442, 444, 452, 454, 460, 463, 482, 503, 514 f., 521 f., 528 f., 538, 554, 574, 591, 623–625, 627, 631, 633 f., 638, 640, 656, 659, 668, 695, 713 f. Rickert, Sophie 34 Riegl, Alois 25 Riehl, Alois 6, 9, 33, 207, 232, 265, 524 Ritschl, Otto 365, 695, 714 Ritter, Heinrich 64, 695 Rochau, August Ludwig von 130 Roland, Jeanne-Marie de la Platière 423, 696 Romulus (König von Rom) 435, 696 Röntgen, Wilhelm Conrad 410–412, 696 Roscher, Wilhelm 5, 12 f., 37–40, 41–44, 49–52, 54–58, 63–101, 107, 145, 163, 176, 240, 243 f., 246, 248, 313, 370, 372 f., 376 f., 379, 386, 401, 506, 530, 639, 641 f., 648, 655–657, 696, 714 f. Rousseau, Jean-Jacques 420, 423, 715 Rümelin, Gustav 179, 188, 592, 696 Rümelin, Max von 451, 696 Sacher-Masoch, Leopold von 224 Savigny, Friedrich Carl von 52, 53, 696 f. Say, Jean Baptiste 42 Schäffle, Albert Eberhard Friedrich 56, 99 Schanz, Georg 126 Scheitlin, Peter 307 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 93, 172, 180 Scherr, Johannes 419 Schiele, Wolfgang 337 Schiemann, Theodor 395 Schiller, Friedrich 88 Schleicher, August 223 Schleiermacher, Friedrich 91, 307, 697

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Schlosser, Friedrich Christoph 215, 639, 697 Schluchter, Wolfgang 26, 28 Schmeidler, Bernhard 342, 430, 715 Schmidt, Conrad 221, 300 f., 697, 715 Schmidt, Richard 481 Schmoller, Gustav von 4 f., 9, 12–16, 26, 28 f., 37 f., 40, 42, 44, 51, 60, 80, 85, 107, 125, 140, 146, 167, 169, 176, 179, 200, 211, 226, 238, 240 f., 245, 248, 249, 368, 386, 398 f., 403, 409, 452, 463, 657, 659, 665, 697 f., 715 Schöll, Fritz 12, 37 f., 42 Schopenhauer, Arthur 54, 59, 269, 288, 289, 327, 364, 391, 698 Schuler, Fridolin 159 Schulze-Gaevernitz, Gerhart von 10, 33, 36 Schuppe, Wilhelm 283 Schurtz, Heinrich 261 Seager, H. R. 161 Seeck, Otto 170 Seligman, Edwin R. A. 382 Senior, Nassau William 42 Shakespeare, William 95, 466 Siebeck, Oskar 481, 483, 572 f. Siebeck, Paul 102 f., 105–107, 112 f., 118–121, 123, 136–138, 140 f., 483 f., 574 Siebeck, Werner 572 f., 575 Sigwart, Christoph 5 f., 9, 25, 41, 59, 148, 169, 203, 209, 228, 301, 308, 310, 315 f., 320, 365, 461, 514 Simmel, Georg 26, 45, 143, 161, 174, 228, 253, 267, 269, 279–281, 288, 308–312, 314, 315 f., 320–322, 339, 348, 352, 413, 528, 536, 574, 590, 637, 640, 660, 698, 715 Smith, Adam 5, 42, 49, 87, 88, 95, 195, 655, 698 Sokrates 639 Sombart, Werner 1, 14, 28 f., 59, 87, 102 f., 105 f., 112–114, 115, 116–118, 119, 120–126, 128, 129–134,

726

Personenregister

135–139, 142, 143–146, 148, 149 f., 152, 154, 156 f., 159, 160, 163, 165, 167, 170, 172, 181, 210, 221, 235, 237, 240, 463, 567, 669 f., 698, 717 Sommerfeld, Theodor J. 118 Spahn, Martin 100 f. Spann, Othmar 308, 310, 316, 698 f., 716 Spencer, Herbert 43, 172, 699 Spinoza, Baruch de 77, 186, 338 Stahl, Julius 224 Stallo, Johann Bernhard 3 Stammler, Rudolf 27 f., 30, 59, 106, 148, 152, 191, 237, 283, 301, 309, 355, 356, 357, 363, 398, 481–486, 487–491, 492 f., 495–497, 498–502, 503 f., 505–507, 508, 509 f., 511, 512–515, 517–527, 528, 529–532, 533, 534, 536 f., 540, 541, 547, 554, 556, 557, 561, 565, 566, 569–571, 572–576, 577–582, 583, 584–589, 590, 591–619, 699, 716 Stein, Charlotte von 417 f., 420, 423 f., 426 f., 440, 699 Steinthal, Heymann 54, 429, 699 Stieve, Felix 188, 249, 699, 716 Sybel, Heinrich von 628, 639 Tacitus 527 Taine, Hippolyte 170, 369, 699 Terentianus Maurus 244 Terentius (Publius Terentius Afer) 150 Teresa von Ávila 423, 699 f. Thackeray, William Makepeace 306 Themistokles 321, 410, 700 Thomas von Aquin 34, 210, 700 Thukydides 56, 64, 67, 70, 76, 700 Thünen, Johann Heinrich von 43, 646 Tiedge, Christoph August 306 Tocqueville, Alexis de 1, 12, 194 Tolstoi, Leo Graf 423, 623, 700 Tolstoj, Lev Nikolaevicˇ → Tolstoi, Leo Graf

Tönnies, Ferdinand 105, 121 f., 136, 605 Traumüller, Friedrich 317 Treitschke, Heinrich von 250, 362, 639, 700 Troeltsch, Ernst 18, 349 Tschuprow, Alexander Alexandrowitsch 452 f., 701, 716 → auch: Cˇuprov, Aleksandr Aleksandrovicˇ Turgot, Anne Robert Jacques 35 Ulrici, Hermann 176 Usener, Hermann 221 Vandervelde, Emil 673 Véfour, Jean 579 Vierkandt, Alfred 80, 270, 574, 701 Vischer, Friedrich Theodor von 233, 701 Vorländer, Karl 580, 701, 716 Voßler, Karl → Vossler, Karl Vossler, Karl 299, 428, 467 f., 701, 716 Wagner, Richard 50, 701 f. Wagner, Rudolf 397 Wallenstein (Waldstein), Albrecht Wenzel Eusebius von 260 Walras, Léon 15, 24, 646 Weber, Alfred 26, 241, 575 Weber, Helene 137–140, 187, 354, 483 Weber, Marianne 9–13, 18, 28 f., 33–35, 36, 38–40, 101 f., 104, 123 f., 137–140, 170, 215, 241, 354, 485, 536, 571–576, 702 Weber, Max –, Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen (1904) 240 –, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie (Vorlesungen 1894–98) 1 f., 9, 43, 59, 94, 108, 118, 202, 343, 531

Personenregister

  –, E  rstes Buch. Die begrifflichen Grundlagen der Volkswirtschaftslehre 202 –, Beitrag zur Werturteildiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik (1913) 473 –, „Energetische“ Kulturtheorien (1909) 292 –, Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter (1894) 172 –, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922) 28, 485, 572, 575 f. –, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter (1889) 268 –, Geschichte der Nationalökonomie (Vorlesung 1896) 34, 145, 210 –, Die Grenznutzlehre und das „psychophysische Grundgesetz“ (1908) 202 –, Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie (1898) 5, 9, 106, 108, 179, 481 –, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (Antrittsrede 1895) 106, 176 –, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus (1904/05) 26, 149, 194, 240, 251, 291 –, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920) 575 –, The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science (Vortrag St. Louis 1904) 240 –, Rezension von: Adolf Weber, Die Aufgaben der Volkswirtschaftslehre (1909) 175 –, Die römische Agrargeschichte (1891) 250

727

–, Separatvotum betr. Besetzung des philosophischen Ordinariats (7. Dez. 1895) 9 –, Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft 316 –, Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung (1904) 241 –, Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie (1920) 575 –, Wirtschaft und Gesellschaft 485, 572 –, D  ie Wirtschaft und die Ordnungen 485, 540 –, Wirtschaft und Gesellschaft (1919/20) 575 –, S  oziologische Grundbegriffe 191, 307, 485 –, Wissenschaft als Beruf (1917/19) 317 Wechßler, Eduard → Wechssler, Eduard Wechssler, Eduard 299, 702, 717 Weierstraß, Karl 317 Weininger, Otto 25 Weismann, August 668, 702 Weiß, Johannes 28 Wellhausen, Julius 403, 404, 702 Wieser, Friedrich von 202, 343, 347, 361, 543 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 3, 446, 702 Wilde, Oscar 224 Wilhelm II. (Kaiser) 337 Wille, R. 121, 134, 136, 140 Winckelmann, Johann Joachim 445, 703 Winckelmann, Johannes 28 Windelband, Wilhelm 4, 6–8, 10, 19 f., 25, 45, 50, 57, 71, 74, 93, 117, 126, 143, 171, 177, 179, 181 f., 186 f., 207, 209, 228, 251, 272, 275, 278, 280,

728

Personenregister

282 f., 286, 300, 315, 356, 369, 389, 391, 396, 412, 454, 461, 463, 472 f., 477, 481 f., 503, 522, 528, 585, 624, 661, 703, 717 Wundt, Wilhelm 4, 16, 22, 26, 41, 45, 46, 199, 253, 254, 257–262, 263, 264, 268, 270–272, 299, 309, 335, 338,

342, 357, 361, 428, 512, 628, 657, 703, 717 f. Zabarella, Jacopo 17 f. Zimmermann, Kazimierz 672 Zola, Emile 326, 703

Sachregister

Gerade gesetzte Zahlen verweisen auf Webers Text, kursiv gesetzte Zahlen auf die Herausgeberrede. Das Register erfaßt Begriffe sowie Sach- und geographische Angaben, mythische, rein legendäre und literarische Personen. Die Schreibweise fremdsprachlicher Ausdrücke erfolgt in der Regel nach der von Max Weber verwendeten. Die im Band zitierten Schriften Max Webers sind im Personenregister unter seinem Eintrag aufgeführt.

Abbild, abbilden 68, 71, 98, 198, 206, 226, 232, 287, 308, 326, 334, 338, 492 f., 648, 656 Abstraktion, abstrakt 5, 8, 15–17, 22, 44, 50 f., 55, 58, 60 f., 63 f., 67 f., 70 f., 78, 80 f., 86 f., 90, 94, 185–187, 197, 199 f., 203, 206, 211, 217, 219, 224, 259, 271, 275, 277, 285, 293–295, 301, 303, 314, 331, 336, 344, 346, 348, 365–367, 370, 396, 404, 412, 425, 431, 454, 457, 460, 463, 465, 476, 478 f., 493, 504, 521 f., 537, 595, 599, 600, 631, 635, 640, 645 f., 650 –, generalisierende 16, 23, 44, 81, 195, 314, 336, 366, 420, 463, 478, 504 –, isolierende 16 f., 22 f., 84, 86, 200, 334, 373, 420, 463, 476, 478 adäquate Verursachung → Verursachung, adäquate Afrika, afrikanisch 439, 541 Ägypten 435 Akrobat (Seiltanz) 328–330 Aktualität 189, 282, 285 f., 289, 311, 341 Allgemeines – und Besonderes 8, 10–11, 64, 338, 401, 404 –, vier Arten des 62–63, 289 Allzusammenhang 58, 90, 147, 375, 521 Altertum 27, 73, 75, 77 f., 183, 390,

401, 423–440, 445–447, 626 → auch: Antike, antik Altertumskunde 422, 445–447 Altruismus 645 amechanisch 323 Amerika → Vereinigte Staaten von Amerika Analogie, analog 5, 22 f., 52, 54, 55 f., 57, 58, 63, 65, 67 f., 71, 73, 76 f., 81, 83, 93, 99, 172, 199, 259, 317, 322, 325, 339, 345, 360 f., 376, 407, 414, 446, 451, 464, 468, 473, 476, 522, 547, 556, 560, 562, 592, 640, 649–651, 654 Analyse 16 f., 57, 81, 83, 86, 91, 107, 116, 155, 165, 168, 173 f., 181, 183, 195, 201, 202, 209, 221, 228, 230, 251, 263, 267, 269 f., 272, 278, 285, 290 f., 305, 308, 313, 325, 331 f., 337, 340, 343, 344, 348–350, 358 f., 361, 373, 376, 394 f., 396, 397, 399, 410, 415, 417, 420, 425–430, 443 f., 460, 462, 465, 467 f., 471, 480, 521, 551, 554, 557, 562, 567, 570, 581, 584, 587, 614 –, elementare 16 –, empirische 269 f., 348 f. –, kausale 16, 267, 303, 349, 359, 397, 428, 465, 581 analytisch 16 f., 24, 27, 63, 70, 177, 197, 282, 286, 292, 351, 372, 460, 465, 477, 529

730

Sachregister

analytisch-compositive Methode → Methode, analytisch-compositive analytisch-synthetische Methode → Methode, analytisch-synthetische Anempfindung 349 Anfangsbedingung → Bedingung Anpassung 265–267, 276, 344, 373, 375, 399, 561, 608 Anschauliches, Anschaulichkeit, anschaulich 46–49, 52, 53, 55–57, 61, 63, 67, 75, 80 f., 156, 175, 187, 190, 198, 207, 220, 227 f., 265, 294, 299, 313 f., 323, 326, 329 f., 333, 340–343, 348, 351, 390, 442, 463, 464, 660 Antezedenz → Bedingung Anthropologie, anthropologisch 85, 118, 131, 170, 305, 328, 364, 377, 379, 403 Anthropomorphismus, anthropomorphistisch 90, 330, 452, 478, 515, 659 anthropozentrisch 256, 296, 453 antideterministisch 398, 459 Antike, antik 24, 76, 195, 223 f., 288, 435, 438 f., 445–447, 488 → auch: Altertum; Ideenlehre Arbeit, kausale 443 f., 451, 478, 498 Arbeiterfrage 126, 159, 169 Archetypos (Archetypus) 271, 555, 662 Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik (Braunsches Archiv) 13, 18, 26–29, 102 f., 105, 107, 112, 115, 120, 123, 125–132, 143, 157, 159, 240, 669 → auch: Jaffé-Braunsches Archiv Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 14, 102, 107 f., 110, 112, 116–118, 120 f., 123 f., 129, 133 f., 135–138, 140, 142, 144, 145, 146, 149 f., 154–161, 163, 165 f., 168, 170, 221, 225, 235, 241, 380, 382, 430, 481–484, 539, 554, 569, 570–574, 669 f., 671, 672 f. → auch: Jaffé-Braunsches Archiv

Aristoteliker (Schule von Padua) 17 Ästhetik, ästhetisch 24 f., 65 f., 164, 215, 228, 262, 306, 309, 325, 328–331, 346, 349–352, 397, 424, 428, 516, 529 f., 551 f., 581 Astronomie, astronomisch 3, 68, 167, 176–178, 391, 403, 668 Athen 426 Atom, atomistisch 55, 75, 366, 390, 595, 627, 661, 664 f. Auflösung, schildernde 207 Auslese 47, 55, 61, 288, 314 f., 347, 352, 399, 406, 411, 415, 453, 455, 550, 552, 624, 629 f., 634 f., 656–658, 661 f., 665 Auslösung 18 f., 191, 257, 265–267 Axiom, axiomatisch 80 f., 149, 152, 155 f., 198, 200, 255, 322, 342, 391, 459, 512 f., 517 Azteken 437 f. Band –, kausales 452 – zwischen Ursache und Effekt 365 Bedeutung, kausale 186, 251, 257, 353, 364, 393 f., 398, 411, 413, 415, 427, 431, 434, 437, 440, 444, 448, 469 f., 476, 494 f., 510, 563, 565 Bedingtheit, kausale (kausal bedingt) 52, 66, 92, 106, 175, 261, 529 f., 538, 589 f., 603 Bedingung (Anfangsbedingung, Antezedenz) 2, 3, 6 f., 16, 20–23, 59, 129, 164, 172 f., 176, 179, 186, 218, 247 f., 260 f., 263, 264 f., 275, 288 f., 293–297, 303, 318, 347, 362, 389, 392, 394 f., 403, 406, 416, 419 f., 427, 449 f., 453, 457 f., 460–462, 468, 471, 472, 473–478, 492, 495, 498, 511– 513, 519 f., 522 f., 524, 534, 536, 538, 550, 552, 554, 563 f., 566, 582 f., 666 Bedingungskonstellation 288 Bedürfnis, kausales → Kausalbedürfnis

Sachregister

Begriff, Begriffe –, scharfe 26, 142, 206, 211, 219, 226–228, 230, 600 – und Begriffenes 101, 225 – und Wirklichkeit 62, 69, 133, 197, 379 → auch: Ding-; Entwicklungs-; Gattungs-; Gesellschafts-; Gesetzes-; Kausalitäts-; Kollektiv-; Relations-; Typen-; Wertbegriff Begriffsbildung 10 f., 24, 45, 49, 57, 61, 66, 68, 110, 201, 206, 225, 292, 297, 301 f., 306, 337, 354 f., 410, 412, 439, 468, 488, 555, 565, 612 –, gattungsmäßige 184 –, genetische 208 –, historische 55, 66, 154, 166, 190, 192, 308, 315, 368, 433, 442, 554 –, idealtypische 15, 211, 214, 219, 222, 358 –, juristische 301–303, 555, 560, 564 f., 569 f. –, kausale 301 –, klassifikatorische 514 –, naturwissenschaftliche 8 f., 12, 15, 45, 260, 354, 430, 521, 554 –, nomothetische 315 –, teleologische 192, 300, 301, 307, 353, 515, 551, 640, 665 –, theoretische 194 Begriffsstenographie 208, 209 Begünstigung, begünstigen 22 f., 279, 462, 472–475, 478 Belgien 132, 673 Beobachtung, beobachten 16, 22, 57, 64, 77, 127, 148, 161, 171, 173, 177, 180, 197 f., 200, 203, 205 f., 208, 226, 247, 267, 273, 275, 289, 291, 294, 344, 391, 457, 468, 497, 501, 504, 508, 514, 516 f., 535–538, 548, 561, 609, 611, 652, 662, 673 Berechenbarkeit, berechenbar 274, 279, 391 f., 591 Berlin 413

731

Berliner Märztage/Märzrevolution 450, 470, 475 f. Beschreibung 4, 170, 175, 184, 206, 285, 289, 304, 311, 326, 386, 413, 655 besondert → Gesichtspunkte; Wirklichkeit, besonderte Bestimmungsgründe, kausale 534 Betrachtung –, kausale → Kausalbetrachtung –, wertanalysierende 426 Bewegungsgesetz 7, 80 Bewerten, bewerten 251, 259, 270, 284, 286, 290, 298, 323, 332, 350, 397, 422, 431, 508, 599 Beziehung – auf Werte → Wertbeziehung –, kausale → Kausalbeziehung Bibel(zitate) 68, 153, 188, 423 Biographie 393, 416, 422, 436 Biologie, biologisch 56, 58, 69, 74, 77, 80, 83, 90, 92, 118, 131, 167, 169, 170, 171, 196 f., 265, 267, 272, 276, 282, 289, 296, 307, 320, 321, 344, 377, 379, 390, 515, 527, 551 f., 635 Braunsches Archiv → Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) 556 f. Calvinismus 74 causa aequat effectum 2, 10, 46, 255, 265 cessante causa cessat effectus 342 Chance 147, 149, 277, 302, 343, 358, 449, 472, 533, 535 f., 548, 553, 558, 566 Chemie, chemisch 7, 83, 92, 152, 179 f., 254, 259 f., 274, 282, 291, 316 f., 372, 411, 430, 463, 523, 533 Chronik 77, 110, 193, 385, 448 compositio 17

732

Sachregister

Dämon, Dämonen 169 –, Laplacescher 20 f., 176, 406, 449 Darstellung, darstellen 11, 15, 46, 50, 60, 100, 143, 150, 174, 181, 184, 187, 200, 203, 205–207, 209, 212–214, 217, 225, 227, 231, 255, 297, 304 f., 315, 317, 321, 328, 337, 338, 342, 346 f., 350, 353, 367, 372, 387 f., 392, 394, 412, 415 f., 420, 426 f., 434–437, 444, 448, 453, 456, 459, 463, 465, 468, 477, 570, 624, 630, 657, 662–664 –, empirisch-historische 350 –, geschichtliche/historische 50, 206, 214, 217, 305, 337, 347, 353, 415 f., 434, 437, 448, 453, 459, 463, 465 –, idealtypische 214 –, künstlerische 227, 455 f. –, wissenschaftliche 297, 304, 388, 420 Darwinismus 99, 650 Deduktion, deduktiv 16, 51, 60, 64, 171, 201, 226, 511, 514, 517 Deduzierbarkeit, deduzierbar 53, 63, 82, 152 f., 171, 176 f., 194, 199, 254, 288 deduzieren 60, 67 f., 168, 180, 199, 201, 373 Definition –, genetische 203, 207 – nach genus proximum und differentia specifica 207 Denken, denken 7 f., 17, 19, 23, 56, 58, 61, 62, 63 f., 68 f., 79, 146, 148, 154– 157, 160, 175, 183, 188, 191–193, 206 f., 224, 227, 229, 231, 234, 266 f., 269, 271, 277, 283, 288, 299–301, 303, 311, 313, 314, 320, 322, 323, 325, 329, 333–335, 343, 345, 353, 361, 371, 392, 405, 422–424, 427, 432, 439, 456 f., 460–462, 465, 467, 469, 472, 476, 480, 498, 539, 556, 563 f., 588, 590, 595, 610, 633, 635, 647

–, (formal-)juristisches 191, 303, 556, 564 –, (national-)ökonomisches 343, 556, 637 –, teleologisches 299–301, 303 denkende Ordnung der Wirklichkeit 148, 154–156, 160, 183, 232 Denkgesetz 318 f., 322, 339, 667 Denknormen 504 Denknotwendigkeit 342 f. Denkökonomie 202, 336, 494, 615 Dependenz –, kausale 300 –, teleologische 300, 400, 434 Determinante 172, 247, 276, 305, 432, 448, 455, 470, 472, 519, 539, 545, 553, 567, 570, 587 f., 633 Determination, determinieren 457, 472, 548, 566, 658 –, kausale 260 f., 268 Determiniertheit, determiniert 200, 248, 258, 261, 268, 358, 362, 397, 401, 494, 518, 552, 559, 578 f., 582, 585–588, 619, 668 Determinismus, deterministisch 2, 4, 6, 19 f., 26, 276, 343, 368, 391 f., 448, 459, 478, 522, 584 f., 614 Determinist 393 Deutsches Reich, Deutschland, Deutscher 3, 126, 132, 158 f., 260, 303, 326, 336, 337, 369, 394, 402 f., 409, 418 f., 429, 432, 443, 466, 468, 475 f., 515, 560, 569, 663, 673 Deutung, deuten 26, 54, 58, 63, 82, 148, 150, 155, 171, 173, 214, 243, 268, 280–282, 287, 290, 292, 294, 298 f., 304–313, 316 f., 319, 321–325, 328, 334–341, 344–346, 348–355, 358–361, 363 f., 367 f., 393, 395, 399 f., 404, 410, 412 f., 417, 419 f., 422, 425, 427–429, 438, 442, 444, 452, 454, 469, 503, 548, 557, 566, 598, 637

Sachregister

–, kausale 279, 305, 339, 349, 352 f., 360, 410, 412, 417, 419, 428 f., 454, 503 –, metaphysische 79, 91 –, teleologische 321, 359 Diapason 77, 374 Differentialgleichungen 2, 4 Dingbegriff 48, 315, 331–333, 390, 657 diskursives Erkennen → Erkennen, diskursives Disziplinen –, dogmatische 207, 529, 596 –, empirische 146, 264, 272, 290, 366, 505, 509, 528, 564 –, empirisch-historische 197 –, empirisch-kausale 302 –, normative 301 f., 304, 350 → auch: Jugendlichkeit von Disziplinen Dogmatik, dogmatisch 153, 168 f., 200, 207, 301 f., 490, 509, 529, 542–547, 554, 556, 559, 562, 568 f., 571, 592, 596, 598, 600, 614–616 Dollart (Einsturz) 191, 260, 273, 318 Dominanten 4, 83, 92, 93, 180 Durchschnitt 203, 204, 218 f., 321, 666 Durchschnittsmensch 627 Durchschnittstypus 218 Durchsichtigkeit, kausale 59 Effekt 253, 255, 324, 336, 356, 365, 395, 456, 466, 474, 507, 513, 570 f., 582 Eigenart, eigenartig 47, 57 f., 125–127, 129, 142, 157, 160, 162 f., 165, 174, 182, 184, 194 f., 203–205, 210, 219 f., 224, 227, 230 f., 252, 254, 258, 261, 288, 301, 305 f., 315, 321 f., 326, 346–348, 352, 354, 361, 385, 398, 404, 412, 414, 418–422, 427–429, 431, 435 f., 437, 438, 441–443, 445 f., 490, 492, 510, 530, 552, 563, 585, 593, 600, 614, 619, 626, 646, 658, 660

733

–, historische 129, 224, 418, 438, 658 –, individuelle 47, 57, 182, 252, 411, 420–422, 436, 552 –, logische 57 f., 354, 398 Eigennutz 85–89, 199, 370–372, 654 Eigenwert 251, 256 f., 393, 415, 439, 444 Einfühlen, Einfühlung, einfühlen 287, 290, 294, 299, 304, 323, 328–330, 335, 341 f., 348, 351, 354, 367 Einheit, teleologische 150, 291, 301 Einheitlichkeit, einheitlich 53 f., 78, 90, 129, 131, 171, 185, 204 f., 253, 263, 298, 370–376, 378, 410, 430, 493, 495, 496, 498, 500 f., 504–508, 514, 523 f., 583, 627, 645 Einleben 299, 344 Einwirkung → Wirkung Einzigartigkeit, einzigartig 169, 185, 217, 251, 282, 309, 320 f., 366, 422, 430, 431 f., 446, 458, 627 Emanatismus, emanatistisch 62, 67 f., 79, 81, 94, 100, 328, 364, 377, 379, 610, 640, 661 Empirie 4, 197, 601 –, reine 658 Empirisches 188, 195, 214, 222, 231, 363, 365, 424, 539, 543, 553, 619 → auch die Einträge zu: Analyse; Disziplin; Erkennen; Erkenntnis; Geltung; Gesetz; Handeln; Rechtsordnung; Tatsachen; Wirklichkeit; Wissenschaft empirisch-geschichtlich/historisch 197, 213, 220, 302, 350, 554, 558 f. empirisch-kausal 302, 529, 548, 551, 562, 568, 583, 594, 596 empirisch-psychologisch 268 f. empirisch-statistisch 100, 281 empirisch-wissenschaftlich 396, 504, 581 Energetik, energetisch 292 Energie 2, 92, 255, 265, 292, 342, 411, 512, 514, 515, 524

734

Sachregister

–, potenzielle 264 f., 342 → auch: Fallkraft –, psychische/geistige 77, 262, 268, 270, 272, 292 England, englisch 132, 252, 296 f., 336, 337, 398, 672 Entelechie 180 Entwicklung 14, 44, 74 f., 77, 93 f., 105–110, 127, 129 f., 148 f., 159 f., 164, 170, 171, 178, 191–193, 195, 197, 211, 219 f., 221, 231, 247, 263, 266, 320, 356 f., 370, 385, 386, 388, 392, 399, 402–405, 410, 413, 417 f., 421 f., 426 f., 433 f., 446, 449, 458 f., 461, 467 f., 470, 475, 477, 479, 491, 507, 508, 510 f., 519, 552, 564, 602, 607, 611, 631–633, 635, 642–644, 650, 652–654, 661–665 –, kausale 465, 492 Entwicklungsbegriff 390, 402 f., 407, 664 Entwicklungsgeschichte, entwicklungsgeschichtlich 153, 165, 410, 664, 667 Entwicklungsgesetz 49, 53, 64, 73, 75, 80, 82, 94, 98, 221, 269, 403, 648, 650, 653 Entwicklungskeim 664 Entwicklungskonstruktion 220 f., 662 Entwicklungsprinzip 145, 196 Entwicklungsprognose 517 Entwicklungsregeln 446 Entwicklungsstufen 388, 407, 644, 653 Entwicklungstendenz 172, 237, 479, 664 Entwicklungsziel 641, 650, 665 Ereignis 2, 7 f., 19, 21, 65, 164, 169, 184, 261, 273, 276, 297, 309, 318, 340, 353, 365, 382, 389, 392, 400, 403, 409, 434, 448, 450 f., 453, 455 f., 459, 468, 471, 475, 479, 532, 549, 578, 580, 588 f. –, historisches 164, 400, 409, 450 Ereigniswissenschaft 8

Erfahrung 2, 20, 24, 58, 66, 74, 169, 186 f., 198, 252, 267, 279, 282, 285, 293, 310, 316, 322, 323, 325, 329, 332 f., 335–337, 339 f., 342, 345 f., 348, 353, 358, 367 f., 371, 374, 429, 441 f., 511–513, 523, 527, 535, 548, 578, 583, 586, 588 f., 591, 605, 612, 629, 642, 650, 653 –, innere 58, 61, 175, 259, 323 f., 393, 584, 586 Erfahrungsregel 279, 329, 335, 339 f., 355, 357 f., 399, 460–462, 469 f., 475 f., 478 f., 516 f., 528, 532, 536, 548 Erfahrungssatz 252, 295, 336, 471 f., 513, 515 f., 530, 536, 539, 544, 548, 561, 568 Erfahrungswahrheit 154, 336, 353, 441 f. Erfahrungswissen 142, 152 f., 160, 231, 276, 340, 462–464, 466, 470, 533, 540, 561 Erfahrungswissenschaft(en) 8, 89, 146, 150, 153, 205, 214, 251, 292, 359, 397, 584, 590, 634 Erkennen –, diskursives 41, 63, 69 f., 81, 89, 98, 209 –, empirisches 289, 552 –, kausales 68, 186, 191, 312, 336, 353, 428, 469, 495–497, 515, 553, 583 f., 590 Erkenntnis –, astronomische 176 f. –, begriffliche 63, 67, 300 –, biogenetische 180, 339 –, biologische 321 –, deutende 355 –, empirische 324, 354, 539, 552, 570, 583, 600, 615 –, empirisch-historische 349 –, empirisch-kausale 583 –, generalisierende 335 –, gesetzlich-begriffliche 84

Sachregister

–, gesetzliche 60, 199, 222 –, gesetzmäßige 495, 497 f. –, geschichtliche/historische 76, 130, 164, 197, 199, 251, 309, 315, 317, 321 f., 334, 339, 354, 397, 419, 426, 464 –, kausale 186, 191, 353, 469, 495–497, 515, 553, 580, 584 –, kulturwissenschaftliche 191 –, naturwissenschaftliche 305, 442, 578, 591, 615 –, nomologische 590 –, objektive 311 –, „objektivierende“ 286, 307, 312 –, sozialwissenschaftliche 107, 160, 202, 232, 355, 508, 591 –, theoretische 130, 142 –, wissenschaftliche 128 f., 144, 158, 174, 270, 326, 447, 464, 583 → auch: Kultur-; Natur-; Tatsachenerkenntnis Erkenntnisgrund 53, 253, 305, 409, 411, 456, 465, 508 Erkenntniskritik 117, 133, 490 Erkenntnismittel 180 f., 286, 308, 348, 358, 412–414, 416–419, 421 f., 426, 438, 446, 456, 468 Erkenntnistheorie 117, 133, 251, 283, 342, 385, 488, 498 f., 501, 507 Erkenntniswert 58, 61, 106, 200, 232 f., 267, 331, 338, 348, 360, 410, 459 Erkenntnisziele 8, 57 f., 63, 174, 281, 335, 364, 366, 385, 443, 498 Erklärung, kausale 4, 6–8, 17, 27, 60, 79, 89, 91 f., 168, 175, 177, 180, 181, 183–186, 252, 264, 270, 275 f., 284, 285, 290, 297, 302, 339 f., 344, 367, 386, 397, 401, 429, 437, 441, 455, 468, 517, 519, 523, 529, 541, 546, 550–552, 562 f., 577, 614 Erleben, erleben 45, 83, 90, 198, 282, 284 f., 306 f., 313 f., 315, 320 f., 323, 325 f., 329–331, 334, 339, 349, 362,

735

365, 428, 441, 467, 593, 606, 610, 629–631, 636, 659, 667 Erlebnis 285, 294, 304, 313–315, 320, 323, 326, 328, 330, 332, 334, 340, 347 f., 418–423, 440 f., 465, 467, 477, 629 erraten 317, 464 Ethik, ethisch 5, 14, 26, 85, 95, 98 f., 106, 118, 131, 145 f., 150, 153–155, 215, 262, 271, 272, 282, 306, 346, 349, 351, 356, 370, 372, 395–398, 424, 434, 454, 489, 515 f., 520, 529 f., 533, 548, 556 f., 581, 585, 605 f., 611, 615, 626 f., 634, 639 f., 650, 654 f., 661 Europa, Europäer 260, 261, 412, 437 f., 541 Evidenz, evident 46, 57, 63, 80, 198, 273, 280, 323, 328, 333, 340–343, 352, 354 f., 360, 512, 521 Evolutionismus 88, 98 f., 145, 404 Exemplar (einer Gattung) 47, 57, 63, 185, 208, 293, 321, 367, 413, 421, 438, 552, 654, 656 Existenzialurteil 184, 285, 311, 334 Experiment, experimentell 211, 281, 283, 290, 292 f., 317, 347, 411 Experimentalpsychologie, experimentalpsychologisch 283, 290, 292, 346 Experimentierkunst 317 Explosion 7, 19, 191, 265, 390 Fallkraft 265 → auch: Energie, potenzielle Faust (literar. Figur) 88, 95, 182, 227, 233 f., 305, 350, 424, 427, 432, 443 Fels 275–279, 367 forma formans 93, 443 forma formata 93 Formgesetz 589, 590 Fortschritt 68, 88, 100, 116, 118, 146, 196, 225, 232, 263, 271, 305, 344,

736

Sachregister

389, 405, 411, 436, 464, 494, 508, 650, 654 Fragestellung(en) 142, 291, 301, 394, 444, 448, 469 f., 494, 517 f., 571, 581 f., 584, 610, 614, 659 Frankreich, französisch 132, 432, 470 f., 671, 673 Freihandel, Freihandelsargument 231, 641 Freihandelsschule 244 Freiheit – des Willens → Willensfreiheit – und Notwendigkeit 391, 401, 448, 581 Gattungsbegriff 17, 47 f., 50, 55, 57, 68, 94, 186 f., 217–219, 222 f., 308, 337, 367–369, 378, 410, 420 f., 425, 431 f., 550, 649 Gattungstypus 218 Gedächtnis 294, 332 f. Gedankenbild 202, 204, 207 f., 225, 294, 460, 544, 605 Gedankenexperiment 211 Gedankengebilde 48, 200, 205, 211 f., 226, 302, 314, 322, 334, 341, 343, 359, 432, 460, 463, 543, 570, 633, 662 Gefühlswert 306 Geisteswissenschaften 17, 45, 58, 61, 90, 175, 179, 245, 247, 249, 253, 274, 282, 288, 308, 310, 365, 367, 411, 424, 444, 463, 505 Gelten-Sollen, gelten sollend 216, 516, 540, 545, 558–560, 593, 596 f., 600, 613, 617 Geltung 47, 60–62, 65, 67, 82, 100, 144, 146, 150, 154, 156, 160, 187, 195, 199 f., 214, 221, 227, 232, 251, 264, 267 f., 270, 276, 278, 289, 302, 305, 311, 326, 328, 334 f., 338, 340–342, 347, 349–351, 353 f., 360 f., 376, 398, 409, 424, 442, 445, 462, 465, 469, 480, 503, 506, 511 f., 516,

520, 553, 565, 568, 581, 582, 586 f., 590, 598 f., 606, 617 –, empirische/empirisch geltend 199, 214, 222 f., 278, 335, 341, 360 f., 558 f., 565, 568, 570 Gemeinsinn 85–87, 89, 94, 370 genetisch 106, 203, 207 f., 218, 221, 226, 396, 420, 438, 582 Geographie, geographisch 54, 173, 248, 254, 276, 459, 520 Geregeltheit, geregelt 191, 530 f., 532, 534, 536–538, 544, 546, 558, 560, 566, 570, 593 f., 599, 602–604, 606, 611 f., 615 f. Gesamtkausalität 356 Gesamtkultur, gesamte Kultur 83, 425 Geschehen, Fluß/Strom des 632 Geschichte 4, 5, 27, 42, 43, 50, 52, 56 f., 62, 64, 69–72, 76 f., 79, 82, 88 f., 98, 149, 153, 167, 197 f., 207, 209 f., 213, 220–222, 225, 227, 244, 247, 249, 251, 257, 263–265, 270, 272, 288, 296 f., 300, 316, 318, 319, 322, 331–334, 343, 355, 371, 378, 388, 390, 401, 404, 409, 411, 416, 421, 434, 435 f., 438–442, 446–448, 456, 458, 491, 493, 497 f., 507 f., 529, 545, 563, 626 f., 630, 640, 652, 656, 663 f., 668 Geschichte (i. S. von Geschichtswissenschaft) 6, 9, 27, 37, 44 f., 65 f., 70 f., 72, 73 f., 100, 108, 145, 154, 165, 166, 167, 173, 190, 192, 197, 207, 224 f., 250 f., 253, 257, 260, 272, 282–284, 287–289, 291 f., 295–297, 299, 302, 305 f., 309, 318 f., 322, 324, 326 f., 331 f., 334, 338, 341, 348 f., 350, 353, 354, 364, 366 f., 384–388, 391, 393–401, 403, 405, 407–409, 411, 413–417, 419, 421, 424–426, 430, 433 f., 438–440, 442 f., 444 f., 448, 451, 453–455, 459, 464, 470,

Sachregister

473 f., 528 f., 547, 569, 624, 628, 633 f., 639, 656 f., 658 f., 663 → auch: Entwicklungs-; Kultur-; Kunst-; Universal-; Weltgeschichte Geschichtsdarstellung 436 → auch: Darstellung, geschichtliche/ historische Geschichtsinterpretation 164, 168, 171, 173, 318 Geschichtsmaterialismus, geschichtsmaterialistisch 488, 510 f., 517–527 Geschichtsordnung 99 Geschichtsphilosophie 84, 192, 342 f., 443, 444, 638 Geschichtswissenschaft(en) 4–6, 8, 25, 27, 42, 45, 48 f., 179, 186, 190, 247, 250, 296, 356, 386, 396, 398, 405, 503, 529, 638 → auch: Geschichte (i.S. von Geschichtswissenschaft) Gesellschaft, gesellschaftlich 4, 48, 75, 91, 96, 107, 109, 118, 127, 129, 143, 159, 165, 167, 169 f., 172, 194, 199, 201–205, 210, 219 f., 237, 263, 266, 281, 292, 375, 419, 421, 427, 473, 491, 493, 495 f., 500, 502, 512, 522, 592, 594, 605 Gesellschaftsbegriff 310, 592 Gesellschaftsleben 108, 405, 497, 508, 518–520, 524, 594, 603 f. Gesellschaftsordnung 159, 165, 491 Gesellschaftstheorie, organische 56, 91 Gesellschaftswissenschaften 91, 109, 302, 405 Gesetz, gesetzlich 2, 5–8, 10, 17, 19 f., 22, 25, 27, 46 f., 49–52, 58–61, 65, 68 f., 74, 77 f., 81, 84, 86 f., 90 f., 100, 115, 116, 130, 132, 156, 172, 175–177, 179–188, 195–197, 199, 201 f., 218 f., 221 f., 248, 256, 262–265, 274 f., 281 f., 284–286, 288 f., 292–295, 297, 299, 306, 314, 315 f., 317, 330, 336 f., 339 f., 342,

737

344, 354–356, 359–361, 363, 365, 368, 372, 378, 388, 390, 401 f., 403, 404, 406, 411, 428, 430, 447, 454, 460, 467 f., 479, 491, 495, 498, 503, 505–507, 510 f., 512, 513, 521–523, 530, 532, 545, 549, 553, 590 f., 608, 612, 617, 628, 633, 645, 649 f., 652, 667 f. – der großen Zahl 78, 93, 278 f., 648 – der historischen Relationen 263 – der historischen Resultanten 263 – der Kausalität → Kausalitätsgesetz – des Wachstums der psychischen Energie 262, 270, 272 –, empirisches 59, 79, 198, 360, 530 → auch: Bewegungs-; Denk-; Entwicklungs-; Form-; Grenznutz-; Kausal-; Natur-; Zweckgesetz Gesetzesbegriff 27, 50, 53, 60, 181 f., 196, 294, 660 Gesetzeswissenschaft, gesetzeswissenschaftlich 8, 44, 45, 47, 57, 75, 282, 293, 294, 296, 410, 467 Gesetzgebung, gesetzgeberisch 110, 115 f., 127–129, 132, 143 f., 151, 156, 163, 165, 192, 571 Gesetzmäßigkeit, gesetzmäßig 16, 20, 24 f., 51, 54, 67 f., 152, 175, 179, 196, 197 f., 248 f., 281, 309, 398, 402, 491, 495, 496, 497–510, 518 f., 605, 651, 653 Gesichtspunkt(e) 49, 63, 79, 127 f., 131, 133, 142 f., 145, 161–164, 166–168, 170 f., 173 f., 183, 185, 189 f., 192–197, 204 f., 224–227, 230–234, 245 f., 254 f., 269, 275, 293, 295, 299, 309, 315, 319, 328, 337, 349, 387, 413 f., 417, 420, 426, 429–431, 437, 442, 451, 455, 466, 480, 494–496, 498, 501, 504–506, 508, 511, 514, 517, 523, 550, 555 f., 563–565, 594 f., 601, 614, 634 –, besonderte 189, 194, 232

738

Sachregister

gewertet 411, 423, 429, 432, 434, 436, 438, 441, 548 Gewertetes 321 Gewißheit 323, 325, 326, 342 f., 354, 509 Glaube(n), glauben 44, 70 f., 74, 82, 88, 91, 94, 97, 99, 150–152, 154, 158, 167 f., 170, 191, 195 f., 201, 212, 216, 231 f., 271, 314, 321, 357, 363, 367–369, 373, 376, 472, 490, 509, 515, 564, 610 Gleichungen 645 Glied, kausales 412, 453 Goliath 499 Göttinger Gelehrte Anzeigen 243, 654 Grenznutzen 202 Grenznutzenschule 4 Grenznutzgesetz, Grenznutzprinzip 202, 218, 361, 538, 553 Grenznutzlehre, Grenznutztheorie 202, 344, 542 f. Grund, zureichender 2, 54, 364, 391, 453, 520 Grundsatz – der Kausalität 497 – des Kausalitätsgesetzes 521 Handeln, handeln 58, 63, 70, 84, 89, 92, 146–148, 150, 153, 179, 193, 198, 200, 202, 232, 243, 247–257, 273–275, 278–281, 283 f., 289–291, 296 f., 299, 301, 302, 306, 310, 312 f., 314, 315–322, 325, 328, 335 f., 340 f., 343 f., 352–355, 357–364, 367–369, 373 f., 388, 391, 393, 395–400, 403, 449, 453 f., 465 f., 506, 518, 531, 534, 536, 538–540, 543–546, 549 f., 552, 558 f., 561, 570, 577–581, 583, 585, 586, 587, 590, 597–600, 604 f., 610 f., 613–615, 618 f., 630–636 –, empirisches 373, 539, 614 –, historisch-empirisches 400 – Kausalität des 552

Handlung, 26, 66, 69, 77, 164, 192, 216, 251 f., 271, 272, 277, 290 f., 295, 300, 304, 314, 316, 319, 339, 345, 358, 364, 370, 392, 394–396, 398 f., 433, 453 f., 463, 466 f., 469, 477, 541, 577–580, 584–587, 590, 598, 611, 618 f., 629, 632, 635 Haupt- und Staatsaktionen 314, 630 Hellas 666 Hellentum 664 hiatus irrationalis 62, 90 Historikertag (1903) 309 Historische Juristenschule, Historische Rechtsschule 52 f., 72, 197, 369 Historische Schule der Nationalökonomie –, ältere 5, 13, 28, 42, 176, 197, 200, 226, 386 –, jüngere 4, 5, 176, 244 historisches Individuum → Individuum, historisches Historismus 4, 85, 272 homme moyen 93 Hunger nach sozialen Tatsachen/ Theorien 133 Hypothese, hypothetisch 169, 181, 199, 203, 220, 226, 258, 282, 292, 317, 319 f., 323, 339, 341, 345, 349, 358–360, 364, 367, 400, 465, 495, 511–513, 516, 538, 544 f., 569 f., 595, 610 Ideal, ideal 22, 24 f., 41, 46 f., 51, 60, 66, 79, 87, 95 f., 98, 100, 106, 128, 146, 149 f., 152, 154–158, 161, 176, 188, 205, 208–210, 214 f., 217, 220, 222, 229–231, 232, 265, 267, 288, 292, 302, 305, 338 f., 344, 356, 363, 365, 367, 400 f., 405 f., 427, 442, 449, 451, 453, 469, 488, 492, 500, 522, 537 f., 543, 545, 549, 552, 558 f., 562, 566, 569, 592, 616 Idealbild 202, 204 f., 217, 220, 322, 460

Sachregister

Idealgrund 53 Idealisierung 25 Idealismus, idealistisch 4, 50, 51, 92, 99, 169, 197, 282, 356, 487, 489 f., 491, 517 Idealtypus, idealtypisch 24, 26, 29, 203–224, 226–228, 231, 303, 322, 341, 343, 354, 358–361, 373, 385, 399, 420, 454, 460, 538 f., 542, 545, 553, 570 Idee 24, 65, 69, 72, 80–82, 85, 91 f., 94, 148–150, 152, 159, 182, 184, 188–190, 193, 202–206, 210–216, 222, 227, 229 f., 232 f., 254, 273, 321, 388, 431, 439, 443, 463, 491–493, 514, 517, 542 f., 545, 556, 559 f., 582 f., 617 – Zeichnung einer 204 f. ideell 158, 230, 266, 313, 539 f., 544–546, 548, 552–555, 557, 582, 594, 596, 598–600, 602, 613 f., 617 Ideenlehre –, antike 24, 71, 72 –, historische 71, 148, 152, 202 idiographisch 8, 10, 181, 315, 482, 503 Ignorabimus-Streit 3, 79 Indeterminismus, indeterministisch 328, 367, 577, 585, 586, 590, 619 Individualität 61, 62–63, 150, 185, 190, 275, 289, 308, 321, 352 f., 392, 402, 403, 405, 414, 455 Individuum 54, 62, 76, 249, 256, 288, 312, 320, 329, 344, 370–374, 377, 379, 440 f., 443, 454, 535 f., 538, 603, 627 –, historisches 185, 194, 217, 321, 350, 352, 355, 411, 430, 432, 437 f., 554, 563 f., 624 –, teleologisches 150 Induktion, induktiv 16, 64, 148, 175, 208, 226, 282, 463, 504, 511, 516 Inkas 437 f. Interesse –, erkenntnistheoretisches 283

739

–, historisches 193, 255–257, 270, 297, 308, 321, 333, 341, 395, 408 f., 411, 414, 432 f., 443, 447, 455, 458, 551, 555, 625 –, kausales 355, 401, 468 –, methodisches 219 –, philosophisches 14, 133 –, wertbedingtes 182, 184, 205, 319, 438 –, wertendes 437 –, wissenschaftliches 47, 128, 154, 156, 173, 178, 189, 196, 414, 420, 437, 446 → auch: Klassen-; Kultur-; Wertinteresse Interpretation 164, 168, 171, 173, 201, 221, 259, 262, 266, 278, 280 f., 292, 305, 309 f., 325, 422–425, 427 f., 445, 454, 525, 569, 660 –, kausale 252, 302, 329, 364 –, teleologische 266 –, wertbeziehende 349 Introjektion, introjizieren 283, 285, 304, 312, 324, 346 Intuition, intuitiv 25, 81, 331, 332, 334 f., 348, 463 f. Irrationalität, irrational 26, 29, 41, 53, 62, 66, 86, 90, 233, 243, 248 f., 252, 274 f., 278–280, 283, 308, 320, 328, 352, 361–363, 367, 369, 378, 391, 393, 398–400, 474, 591, 626 f., 647, 667 f. Isolierung (Isolation), isoliert 17, 175, 200, 257 f., 314, 325, 334, 338, 373, 420, 460, 463, 465, 468, 471, 474, 476, 478 f., 519, 531 f., 594 f., 598–607, 609, 612, 630 Jaffé-Braunsches Archiv 253, 300 f., 316, 338, 340, 349, 361, 381 → auch: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik; Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik

740

Sachregister

Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (Schmollers Jahrbuch) 12 f., 26, 28 f., 37 f., 74, 83, 107, 125, 240 f., 398 f., 403, 409, 452, 463 Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik (Conrads Jahrbücher) 125, 165, 353, 452 Juden 664 Jugendlichkeit von Disziplinen 222, 224, 637 Jurisprudenz, juristisch 22, 24, 52, 108, 186, 191, 266, 301–303, 444, 451 f., 454–456, 475 f., 487 f., 524, 547 f., 553, 556–560, 562–565, 568–570, 607 f., 612, 616, 664, 672 Juristenschule (auch: Rechtsschule), deutsche historische 52, 197 Kant-Laplace-Theorie 258 Kapitalismus, kapitalistisch 14, 74, 86 f., 126 f., 129 f., 159, 173, 180, 204 f., 217, 220, 238, 371, 437, 479, 512 Kategorie, Kategorien – der adäquaten Verursachung 467 – der Möglichkeit 343, 404, 407, 461 – der objektiven Möglichkeit 187, 208, 453, 465, 469 –, formale 307 –, logische/der Logik 265, 384, 465 – von „Mittel“ und „Zweck“ 353, 355, 357, 361, 394 → auch: Kausalitätskategorie Kathedersozialismus 125, 244 Kausalbedürfnis, kausales Bedürfnis 3, 169, 251, 275 f., 278–280, 396, 468 Kausalbetrachtung, kausale Betrachtung 6, 52, 58, 207, 255, 355, 365, 384, 396, 397, 447, 452, 469, 477, 516, 548, 568, 577–579, 584, 587 f., 594, 617

Kausalbeziehung, kausale Beziehung 16, 89, 254, 258, 301, 365, 413, 457, 468, 472, 476 Kausalgesetz(e) 10, 52, 59, 255, 365, 513, 522 f., 583 Kausalgleichung 10 f., 46, 191, 255, 256–258, 332, 365 f., 647, 649 Kausalität, kausal 18, 22 f., 26, 27, 44, 51 f., 59, 77, 81, 84, 172, 185, 248, 256, 258, 264, 271, 282–284, 288, 299–301, 305, 309, 312, 346, 348, 355–357, 359, 365, 389, 394, 399, 406, 408, 411, 413, 415, 421 f., 425, 435, 437–439, 442, 444 f., 452–454, 456, 465, 470, 472–476, 495, 513–515, 532, 538 f., 544, 550, 552, 554, 559–561, 563, 566–568, 571, 577 f., 580, 582 f., 591, 599, 606, 637, 668 – als Fiaker 288 f. – der Qualia 346 – der Quanta 346 – des Handelns 552 – durch Freiheit 271 f. – Grundsatz der 497 –, historische 11, 18, 52 f., 171, 254 f., 365, 394, 400, 657 –, mechanische 250, 579 –, metaphysische 41, 92 –, naturwissenschaftliche 11, 53, 255 –, psychische 259 f., 300 –, psychologische 579 –, psychophysische 538 – nach Gesetzen der Natur 271 – und Gesetzlichkeit 299, 378, 503 – und Telos 581 –, zufällige 472 –, zwingende 586 → auch: empirisch-kausal; Gesamt-; Natur-; Subjektskausalität; sowie die Einträge zu: Analyse; Arbeit; Band; Bedeutung; Bedingtheit; Begriffsbildung; Bestimmungsgründe; Dependenz; Determina-

Sachregister

tion; Deutung; Durchsichtigkeit; Entwicklung; Erkennen; Erklärung; Glied; Grundsatz; Handeln; Interesse; Interpretation; Komponente; Moment; Notwendigkeit; Problem; Progressus; Rationalisierung; Regressus; Relevanz; Untersuchung; Verbindung; Verstehen; Weltformel; Werden; Wirkendes; Wirkung; Wissenschaft; Zufall; Zurechnung; Zurückführung Kausalitätsbegriff 18, 434 Kausalitätsgesetz 495, 498, 522, 584, 586 Kausalitäts-/Kausalkategorie, Kategorie der Kausalität 284, 290, 300 f., 328, 364–366, 403, 479, 503, 505, 520, 529, 584 f. Kausalitätstheorie 18, 29, 453, 477 Kausalkette 7, 271, 417, 421, 426, 456, 492, 534 Kausalnexus 368, 449 Kausalprinzip 52 f., 196, 261, 264 f., 365 Kausalregeln 300, 304, 366 Kausalreihe 271, 293, 395, 397, 400, 416, 421, 480, 493, 520, 585 Kausalsätze, generelle 517, 530, 552 Kausalungleichung 11, 18, 46, 254, 255, 257, 273 Kausalurteil, historisches 465 Kausalverhältnis 211, 248, 270, 468, 519 –, historisches 52, 364, 414, 416 f., 462 f. –, individuelles 330, 468 Kausalzusammenhang/-zusammenhänge, kausaler Zusammenhang 11, 53, 60, 92, 149, 179, 185 f., 193, 200, 255, 296, 338, 355, 378, 409, 410, 413, 418, 511, 517 –, kulturgeschichtlicher 419 –, wirkliche und unwirkliche 476

741

Kenntnis (Erkenntnis), nomologische → Wissen, nomologisches Klasseninteresse 151 f., 172, 230 Klassifikation, klassifizieren 46, 49, 78, 79, 179, 208, 218, 221, 299, 347, 432, 444, 514, 545, 550 f., 553, 555, 569, 612, 666 Klassische Schule der Nationalökonomie 4, 17, 41 f., 49, 51, 86 f., 197, 211, 372 – Klassiker der 84, 97, 100 Klassizismus (Epoche) 25, 445 kleine Ursachen, große Wirkungen 11, 257 Kollektiv, kollektiv 77, 83, 164, 228, 247 f., 303, 375, 377, 421, 550 Kollektivbegriff 222, 228, 231, 303, 418, 555 Kollektivindividuum 97 Komponente, kausale 261, 389, 450, 464 f., 471, 538, 570 Königgrätz (Schlacht) 353 Konstellation 165, 168, 173, 177, 180 f., 248, 252 f., 256, 264, 266 f., 288, 291, 293, 295, 320, 340, 359, 363, 368, 391, 406, 411, 427, 429, 450, 456, 466, 468, 474, 494, 548 f., 561 Konstruktion 50, 74, 77, 80, 100, 203, 205 f., 209, 217, 219–225, 233, 263, 272, 287 f., 319, 342–344, 351, 359–361, 371 f., 377, 460, 463, 465, 488, 500, 525, 538, 569 Körperwelt 75, 341, 460, 647 Korsika 667 Kreislauf 73, 76, 377 Kreislauftheorie 94, 379 Kultur, Kulturen 151, 159, 164, 166, 170, 182, 184, 188, 190, 193 f., 201, 204 f., 224 f., 232 f., 271, 297, 374 f., 414, 419, 435, 439, 443, 445 f., 528 f., 547, 554 – der Inkas und Azteken 438

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Sachregister

– des Altertums 183, 423, 435, 438, 445 f. – des 18. Jahrhunderts 422 –, christlich-kapitalistisch-rechtsstaatliche 437 –, griechische/hellenistische 350, 435, 438–440, 458, 475 –, heutige (Gegenwartskultur) 437 f., 440 –, intellektuelle 568 –, kapitalistische 205 –, moderne 208 –, nationale 97 –, ottocentistische 421 –, politische 158 –, theokratisch-religiöse 458 –, unsere 159, 165, 178, 183, 205, 438, 445 → auch: Gesamt-; Weltkultur Kulturanalyse 173, 209, 290 Kulturarbeit 369 Kulturauffassung 159 Kulturäußerung 53, 374 Kulturbedeutung 14, 126, 130, 152, 162, 164, 166, 169, 174, 179–181, 183, 185, 189, 191 f., 201, 205 f., 208, 213, 219, 233, 406 Kulturbedingtheit 201 Kulturbedingung 419 Kulturbedürfnis 164 Kulturbestandteile 434 f., 440, 445 Kulturdasein 126 Kultureigenart 210, 230 Kultureinfluß 230 Kultureinwirkung 53 Kulturelement 61, 168, 201, 494 kulturell, kulturlich 410 Kulturentwicklung 62, 73, 78, 80, 110, 211, 268–270, 339, 371, 438, 457, 494 Kulturepoche 77, 153, 348, 420, 442, 522 Kulturerkenntnis 164, 176, 189, 194

Kulturerscheinung 60, 66, 131, 163 f., 168, 171, 173, 180–182, 185, 189, 193, 205–207, 209, 217, 219, 263, 337, 345, 374 f., 494 f., 519, 528, 565, 625 Kulturformen 154 Kulturforscher 414 Kulturfragen 151 Kulturgebiete 75, 164 Kulturgebilde 221 Kulturgemeinschaft 129 Kulturgeschichte, kulturhistorisch 251, 272, 297, 299, 318, 324, 345, 413, 419, 438, 491, 528, 554 Kulturgut 53, 374 Kulturideal 146, 153, 230, 305, 556 Kulturindividuum, gewertetes 441 Kulturinhalte/Kulturgehalte 153 f., 191, 225, 227, 315, 415, 438 f., 446 Kulturinstitution 145 Kulturinteresse 189 Kulturlage 434 Kulturländer 107, 110, 116, 132 f., 165 Kulturleben 94, 144, 148, 155, 162, 166, 167, 172–174, 178, 183, 190, 204, 247, 296, 417, 427, 434, 444, 491, 554 f., 560, 564, 567 Kulturmächte 371 Kulturmensch 189, 564 Kulturnationen 73, 166 Kulturnorm 446 Kulturobjekt 166, 442, 444 Kulturpessimismus 80 Kulturphilosophie 379 Kulturproblem 165 f., 173, 194, 225, 234 Kulturprodukt 375 Kulturpsychologie 420 Kulturschöpfung 439, 443 Kulturstaaten 110 Kulturstufen 56, 75, 79 Kulturtatsache 564 Kulturtheorie, kulturtheoretisch 271, 438, 554 f.

Sachregister

Kulturträger 55 Kulturvölker 75, 82, 270, 439, 445, 644 Kulturvorgang 145, 154, 163, 166, 168, 170 f., 182, 186–188, 415, 422 Kulturwelt 128, 180 Kulturwert 145, 152, 153, 154, 166, 190, 230, 261, 297, 319, 423, 437 f., 458, 517, 554 Kulturwertgesichtspunkt 349 Kulturwertidee 184 Kulturwirklichkeit 58, 173 f., 176, 189, 194, 412 Kulturwirkungen 435 Kulturwissenschaft(en), kulturwissenschaftlich 4, 9–11, 15, 26 f., 29, 154, 155, 166, 175, 179, 181, 182, 186–188, 190 f., 193 f., 201, 222, 223, 225, 232 f., 257, 282, 289, 294, 306, 315, 319, 325, 356, 366, 384 f., 412, 420, 430, 432, 444, 454, 529, 564 Kulturziel 88 Kulturzusammenhang 109, 164, 251, 257 Kulturzustand 178 Kunst, künstlerisch 25, 42, 65, 67, 75 f., 77, 162–164, 227, 263, 317, 326, 331 f., 334, 412, 423–425, 430, 432, 445, 446, 455, 463, 464 f., 495, 524 f., 548, 552, 563 Kunstepochen 344 Kunstgeschichte, kunsthistorisch 77, 305, 415, 529, 552 Kunstlehre 195, 197, 353 Künstler 25 f., 67, 176, 227, 233, 305, 322, 345, 347, 349, 552 Kunststück 353 Kunstwerk 77, 305, 322, 345, 348, 397, 415, 433, 442, 551 f. Lamprecht-Streit 4 Laokoon 66 Laplacescher Dämon → Dämon, Laplacescher

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Lebensführung 212, 220, 418 f., 492 f., 628 Lissabon (Erdbeben) 313, 314 Logik 2, 5, 9, 15 f., 24, 26, 41, 59, 62, 70, 117, 143, 178, 185, 189, 203, 207 f., 215, 245, 305 f., 316, 332, 339 f., 369, 377, 384 f., 389, 406, 414, 420, 429, 444, 452, 465, 467, 489, 499, 501, 512, 528, 529, 614 Mannigfaltigkeit 22, 46, 48 f., 55 f., 61, 173 f., 184, 186, 199, 223, 270, 291, 299, 333, 367, 370, 388, 423, 430, 437, 524, 550 f., 564, 625 Marathon (Schlacht) 416, 458, 461 f., 465, 475, 664 Marxismus 78, 213, 221 Masse –, (physikalisch) 19, 46 –, (soziologisch) 50, 89, 159, 164, 193, 219, 226, 230, 249, 252 f., 371, 388, 473, 511 Materialismus, materialistisch 27, 29, 54, 167 f., 169, 191 f., 266, 292, 356, 357, 488, 490, 491–493, 495–498, 499 f., 510 f., 513, 517–527, 577, 638 Mathematik, mathematisch 46, 58, 63 f., 67, 80, 151, 179, 195, 267, 317, 333, 341 f., 365, 396 f., 464, 476, 505, 512, 529, 651, 667 → auch: Methode, mathematische Maxime 27, 53, 95, 128, 191, 200, 204, 210, 212, 363, 386, 399, 418, 487, 516 f., 531, 536–539, 543–546, 548, 550, 552, 558 f., 561 f., 566 f., 570, 587, 593, 596 f., 664 → auch: Norm-; Rechtlichkeits-; Zweckmaxime Mechanik, mechanisch, mechanistisch 2, 11, 46, 48, 74 f., 175, 177–179, 250, 258, 272, 275, 289, 323, 332, 354, 390, 442, 478, 498, 522, 579

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Sachregister

Metaphysik, metaphysisch 24, 41, 53 f., 58, 62 f., 68–72, 76, 79, 91–93, 100 f., 155, 172, 195, 222, 263, 271 f., 305, 307, 309, 351, 365, 368 f., 376 f., 389, 431, 452, 479, 514 f., 519, 529, 542, 585, 597, 619, 625, 640 → auch: Staats-; Wertmetaphysik Methode, Methoden 144, 148, 161, 165, 168, 193, 247, 272, 296, 317, 356, 387, 458, 495–497, 511 –, abstrakt-deduktive 16 –, abstrakt-theoretische 15, 197, 199–202, 211, 302, 344, 359, 361, 372, 603, 648 –, analytisch-compositive 15, 197 –, analytisch-synthetische 15–17, 24, 27, 197, 460, 465 – der Chemie 463 – der Geometrie 463 – der historischen Deutung 267 – der historischen Juristenschule 52 f. – der Medizin 97, 145 – der Parallelismenbildung 68 – der Philosophen 64 – der systematischen Kulturwissenschaften 444 – der Zurückführung 498 –, exakte 75, 197 –, geisteswissenschaftliche 90 –, historische 41–43, 49, 67, 82, 99, 244 f., 398, 405, 529, 640 –, historisch-induktive 16 –, historisch-physiologische 73 –, idealistische 51 –, klassische 372 → auch: Nationalökonomie, klassische –, kritische 574 –, kulturwissenschaftliche 529 –, mathematische 645, 647 –, naturwissenschaftliche 9, 63, 527, 529 –, objektivierende 282

–, philologische 444 f. –, philosophische 51 –, subjektivierende 282 –, universelle 171 Methodenstreit – (Nationalökonomie) 1 f., 4 f., 9, 12, 14–16, 130, 144, 161, 245, 353, 386, 689, 690, 695 – (Physik) 4 Methodik, methodisch 1, 12, 15, 17, 24, 26–28, 38, 41–45, 48–50, 52, 58, 60, 82–84, 94, 96, 101, 106, 109 f., 117, 131, 142, 155, 170, 173 f., 186, 192, 194, 197, 199, 219, 222, 233, 246, 250, 268, 307, 315, 339, 368 f., 372, 384, 397, 400, 414, 433, 499, 506, 510, 523, 639 Methodologie, methodologisch 12, 14, 26 f., 38, 42, 117, 133, 143, 185, 220, 222, 243, 244, 247, 249, 251, 253, 273, 275, 283, 299, 308, 322, 368, 373, 377, 385–387, 398, 408, 433, 447, 451 f., 459, 513 Mexiko 560 Milieu 170, 252, 293, 395, 404, 418, 427 f., 550, 552 Mittelalter, mittelalterlich 76, 203, 211 f., 220, 268, 402, 437, 569 Mittelwert 218 modern 56, 69, 74, 76, 80, 86, 88, 92, 129, 143, 165 f., 169, 171, 189, 195 f., 203 f., 208, 215, 226, 243, 266, 322, 326, 328, 364, 369, 401, 405, 423, 437, 445, 454, 458, 488, 500, 528, 535, 644 Möglichkeit –, nomologische 279 –, objektive 18–23, 29, 148, 181, 187, 205, 208, 278 f., 340 f., 343, 353, 358, 360, 384, 447, 451, 453, 458–462, 464–467, 469–474, 532, 548, 582, 585–589, 596, 666 → auch: Kategorie der objektiven Möglichkeit

Sachregister

Möglichkeitsurteil 459–461, 464 f., 467, 469–471, 476, 479 f. Moment, kausales/ursächliches 22–24, 164, 171 f., 251, 253 f., 277, 400, 448, 455, 456, 457, 462, 469 f., 474, 479, 491, 495, 549 Monade 627 Monismus, monistisch 169, 195 f. Motiv, Motivation 26, 51, 63, 69 f., 77, 86, 88, 115, 156, 163, 171–173, 179, 199, 201, 205, 247, 251–254, 269 f., 272, 278 f., 281, 291, 310, 312, 319, 358, 360 f., 364 f., 367 f., 392 f., 395, 396, 397, 399, 466, 477, 492, 495, 498, 503, 519, 578, 585, 587, 599, 660 Motivenforschung 395, 399, 401 Mouvement Socialiste 673 Nachahmung 328 f., 468, 539 Nacherleben, nacherleben 149, 178, 201, 251, 278, 286 f., 290, 297, 299, 304, 307, 319 f., 331, 335, 340, 344 f., 347, 348, 365, 443, 464 Nationalökonomie, nationalökonomisch 1 f., 4–6, 8 f., 13–15, 45, 49–51, 53, 63, 67, 77, 81, 83, 148, 161, 195, 197, 200, 210, 215, 218, 246 f., 250, 282, 289, 296, 309, 313, 316, 360, 370, 444, 506, 633, 637, 639, 642, 652 f. –, ethische 5, 14, 26, 145 f., 150 –, historische 8, 41, 49, 84, 198, 243 → auch: Historische Schule der Nationalökonomie (ältere und jüngere) –, klassische 17, 42–43, 86, 197, 211 → auch: Klassische Schule der Nationalökonomie –, theoretische (abstrakte) 8, 12, 198, 320, 363, 372, 531, 543, 553, 603 → auch: Österreichische Schule der Nationalökonomie

745

→ auch: Methodenstreit (Nationalökonomie); Volkswirtschaftslehre Natur 2, 4, 7, 20, 24–26, 54, 58, 59, 63, 68, 70, 78, 79, 86, 88–90, 92 f., 99, 108, 161, 166, 175, 188, 190, 191, 198, 208, 209, 231, 243, 247–250, 254, 256, 258–260, 263, 274 f., 278–280, 281, 288, 292, 295, 303–305, 313, 314, 318 f., 321, 322, 329 f., 335, 339 f., 343, 354, 362–365, 368, 370, 372, 375, 390, 392, 397 f., 400 f., 403, 410 f., 451, 467, 472, 497 f., 502 f., 506, 511, 515, 527–530, 531, 532 f., 535–537, 542, 546, 558, 561, 564, 568, 577, 578–580, 582, 586–591, 595 f., 600, 602, 613, 615, 618, 652 Naturalismus, naturalistisch 4, 11, 48, 58, 98, 197, 200, 209, 219, 252, 272, 332, 337, 343, 362, 369, 379, 490, 515, 522, 542, 556, 568 f., 615, 626 Naturerkenntnis 178, 313, 322, 580, 583 Naturgesetz, naturgesetzlich 2, 6–8, 20, 46, 50, 51, 57, 59, 68, 69, 79, 90, 96, 97, 100, 145, 181, 209, 248, 255, 271, 276, 359 f., 364, 368, 386, 491, 504, 506, 509 f., 513 f., 516, 522 f., 528, 530, 583, 590, 600, 648, 651, 667 Naturkausalität 578 Naturphilosophie 93, 172, 180, 255, 292, 342, 628 Naturrechtslehre, organische 389 Naturwissenschaft(en), naturwissenschaftlich 3 f., 6, 8 f., 10 f., 15, 18, 25, 44 f., 48, 53, 57–59, 62 f., 66, 68, 74 f., 99, 151, 153, 170, 176, 177, 178, 179 f., 182, 187, 195 f., 199 f., 245, 247, 249, 255, 260, 282 f., 289, 292, 294, 297, 300, 305, 306, 310, 313, 314 f., 316 f., 323, 329, 332, 337, 338, 354, 356, 360, 364, 385, 390, 412, 430, 442, 444, 455, 463 f., 491, 496,

746

Sachregister

502, 503, 505, 521, 524, 527–529, 532 f., 536, 554, 577 f., 584, 588, 591, 614–616, 618, 626, 633, 635, 637, 646 f., 661, 664 → auch die Einträge zu: Begriffsbildung; Erkenntnis; Kausalität; Methode Naturzwecke, metaphysische 514 Neckar 632 Nervi (Kurort nahe Genua) 13, 29, 39, 240, 623 Neukantianismus, Südwestdeutscher 6, 117, 175, 356 Nil 637 nil fit ex nihilo, nil fit ad nihilum 342 nomologisches Wissen → Wissen, nomologisches nomothetisch 8, 10, 181, 292, 315, 412, 421, 503, 616 Norm, normativ 27, 41, 51, 68, 92, 95 f., 99 f., 144–146, 150, 152–154, 162 f., 167, 174, 192 f., 203, 205, 209, 212, 214, 216, 222, 231, 264, 267–269, 270, 271, 298, 301 f., 304, 396, 408, 423, 428, 446, 454–456, 487, 504, 506, 508–510, 516, 529–531, 533 f., 537–540, 543–556, 559 f., 562, 566 f., 569 f., 591–593, 594, 595–600, 602 f., 605, 607–613, 615–617, 625 f., 640 f., 643 Normalmensch 320 Normen des Denkens 193, 269, 639 Norm-Maxime 543–545, 547, 566, 596, 607 f. Notwendigkeit 6 f., 21, 51, 65, 68, 70, 79–81, 88, 90, 106, 117, 148, 202, 247, 276, 340, 342 f., 367, 368, 377, 391, 448, 453, 503 f., 506, 523, 537, 611, 614 –, ausnahmslose 79 –, geschichtliche 402 –, gesetzliche 6 f., 81, 503, 523 –, kausale 578, 580, 590 –, zeitlose 7

→ auch: Freiheit und Notwendigkeit Notwendigkeitsurteil 276 f., 279, 336, 358, 367, 453 objektiv möglich, objektive Möglichkeit → Möglichkeit, objektive Objektivität 72, 142, 146, 153, 154, 157, 161, 194, 232, 238 f. Okkultismus 364 ökonomisch bedingt 108, 163 f., 166, 171, 173 ökonomisch relevant 162–164, 166 Ontologie, ontologisch 20, 57, 90, 186, 275, 283, 293, 303, 313, 354, 389, 406, 449, 453, 461, 462, 472, 549, 614 → auch: Wissen, ontologisches Ordnung –, denkende → denkende Ordnung der Wirklichkeit –, geltende 205 –, gesellschaftliche 129 – Gottes 79 f. → auch: Geschichts-; Gesellschafts-; Rechts-; Staats-; Wirtschaftsordnung Organismus, organisch 55 f., 78, 80, 83, 89–94, 97, 100, 129, 146, 172, 180, 222, 259, 265, 322, 370, 375–377, 515, 552, 663, 665 → auch die Einträge zu: Gesellschaftstheorie; Naturrechtsrechtslehre; Staatslehre; Staatsmetaphysik Österreich 132, 279, 314, 343 f., 353, 394, 470 Österreichische Schule der Nationalökonomie 343, 344, 543 Pädagogik, pädagogisch 292–295, 466 Panlogismus, panlogisch 70, 197, 378 Papst 665 Parallele 57, 59, 61, 65, 68, 73 f., 80, 82, 374, 600, 649

Sachregister

Perser, Perserherrschaft 475, 664 Perserkriege 416, 457 Persönlichkeit 26, 48, 50, 70, 91, 150, 190, 214, 224, 249–251, 253 f., 271, 273 f., 283, 287, 291, 306, 312, 314, 320, 321, 333 f., 339, 344 f., 348, 352, 354, 358 f., 361–364, 369 f., 374, 376, 378, 388, 392–395, 398 f., 413, 415–418, 431, 442, 447 f., 464, 469, 626–628, 638 Peruzzi (Familie) 268 Pferd, krankes (fehlerhaftes) 322 Phantasie 64, 91, 186, 187, 192, 205, 208 f., 227, 279, 281, 294, 317, 329, 331, 336, 362, 396, 460, 462, 464, 469, 474, 607 Phantasiebild 460 Philologie, philologisch 167, 169, 222 f., 298 f., 331, 344, 416, 424–426, 440, 442, 444–446 Philosophie → Geschichts-; Natur-; Sozialphilosophie Photographie 204, 457, 467 Physik, physikalisch 3–5, 7, 17, 22, 24, 92, 180, 199, 254, 258, 260, 263, 282, 291, 295 f., 317, 332, 342, 411, 430, 478, 512, 527, 533, 534, 595, 614 Physiologie, physiologisch 3 f., 18 f., 25, 50, 57, 73, 265, 267, 274, 282, 392, 428, 451, 455, 528, 567, 582 Polen, polnisch 673 Preußisches Allgemeines Landrecht 608 Prinzip – der Äquivalenz der Ursachen 10 – der Äquivalenz von Ursache und Effekt 10 – der Auswahl (Auslese) 153 f., 166, 190, 192, 301, 314, 415 – der Erhaltung der physischen Energie → Satz der Erhaltung der Energie – der Heterogenität der Zwecke 262

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– der historischen Begriffsbildung 166 – der schöpferischen Synthese 261, 268 – der teleologischen Dependenz 300, 400, 434 – des zureichenden Grundes 2 Problem, kausales 454 Progressus, kausaler 18, 411, 551, 589 Psychoanalyse 335 Psychologie, psychologisch 4, 41, 45, 50, 51, 54, 68, 84, 87, 99, 158, 179, 200 f., 213, 257, 258 f., 261–264, 265, 267–269, 271–273, 282 f., 286–289, 291, 293–298, 300, 303 f., 306–309, 311 f., 314, 315, 317, 325, 328 f., 333–335, 337 f., 340 f., 344–346, 351 f., 354, 357 f., 361, 365, 368, 371–374, 396 f., 410, 420, 428, 443, 444, 464 f., 468, 528 f., 579, 585, 625, 633, 658, 660 → auch: Experimental-; Kultur-; Sozial-; Völker-; Vulgärpsychologie Psychologismus 272, 315, 331 Psychometrie, psychometrisch 268, 324, 347 Psychophysik 19, 265, 290, 292, 295 Punischer Krieg, zweiter 447 Puritanismus, puritanisch 87, 371 Qualia, Kausalität der 346 Qualität, qualitativ 46 f., 59, 69, 131, 162 f., 170, 173, 178, 183, 191, 201, 229, 254–256, 258 f., 262 f., 265, 270, 272, 278, 281, 288, 293, 305, 315, 320–322, 340 f., 346, 354 f., 365 f., 377, 386, 394 f., 406, 418, 432, 452, 455, 521, 533–535, 587, 596, 625, 627, 645 f. Quantifikation, quantifizierend 337, 346 f., 365, 505 Quantifizierbarkeit 58, 179, 191 Quantität, quantitativ 18, 46, 60, 161, 178 f., 199, 255, 258, 265, 275, 337,

748

Sachregister

340 f., 346, 392, 458, 521, 560, 625, 645 Quetelets Methode 93 Rationalisierung 219, 355, 359, 361 –, kausale 355 Rationalismus, rationalistisch 55, 80, 87, 195, 215, 377, 445 Rationalität, rational 26, 63, 69, 92, 179, 202, 218, 248, 261, 278 f., 284, 299, 314, 319 f., 328, 344, 358, 360, 362 f., 369–371, 373, 399 f., 405, 449, 531, 553, 580, 587 f., 604 Raum –, luftleerer 65, 646 –, pseudosphärischer 341, 360 Realgrund 53, 81, 93, 253, 305, 308, 375, 409, 410, 412 f., 456, 508 Realtypus 198 Rechtlichkeitsmaxime 548 f., 565, 570 Rechtsnorm 192, 302, 454, 555, 566 f., 569, 598, 609, 612 Rechtsordnung 159, 302, 543, 556, 558 f., 561, 563–566, 571 –, empirische 555, 561–563, 565 f. Rechtsregel 487, 547, 553 f., 556, 559–570 Rechtswissenschaft → Jurisprudenz Regel 17, 27, 59, 68, 83, 167, 179 f., 187, 191, 210, 223, 256, 268, 277, 279–281, 284, 291, 294, 297, 300, 304, 335–337, 339 f., 355, 357 f., 360, 365–367, 369, 385 f., 389, 399, 401, 404, 407 f., 420, 446, 460–464, 468–470, 475 f., 478 f., 487, 494, 516 f., 525, 528, 530–541, 543 f., 546–550, 553 f., 556 f., 559, 560–570, 591–603, 605, 607 f., 613, 616 f. –, teleologische 539 Regelloses 66 Regelmäßigkeit 50, 57, 81 f., 179, 186 f., 198, 226, 298, 487, 531, 535, 537 f., 558–560, 567, 570, 594, 600, 605, 608 f.

Regressus, kausaler 18, 164, 185, 252, 263, 275, 277, 296, 340, 394, 411, 429, 437 f., 440 f., 465, 470, 478, 492, 494, 505, 520, 550 f., 564, 589 Relationsbegriff 47 f., 60, 315 f., 330, 332, 390 Relevanz, kausale (kausal relevant) 22 f., 415 Religion, religiös 44, 69–71, 74, 79 f., 85 f., 88, 91, 97, 99 f., 153, 162, 164, 169, 172 f., 189, 215, 221, 254, 262, 269, 290 f., 294, 346, 349, 368, 370, 423, 425, 430, 434, 458, 461, 491 f., 494–499, 520, 524 f., 542, 628, 631, 637, 644 Religionskunde/Religionswissenschaft 446, 529 Renaissance 17, 24 resolutio 17 Rom 456 Robinson (literar. Figur) 531 f., 535–539, 541 f., 595, 603 f., 609 Robinsonaden 211, 531, 541, 602 Röhren, kommunizierende 315, 315–316 Romantik, romantisch 362, 376, 464, 626 Röntgenstrahlen 410, 411 f. Roschers Methode → Methode, historische Russische Soziologenschule 404 Sachsen 563 Satz – der Erhaltung der Energie, Energiegesetz 2, 92, 255, 262, 265, 342, 411, 512 – der Kausalität 368 – des zureichenden Grundes 54, 391, 520 – vom Umschlagen der Quantitäten in Qualitäten 625 Schilderung, schildern 44, 64, 66, 207, 313, 315, 318, 346, 348, 357, 635, 657

Sachregister

Schmollers Jahrbuch → Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich Scholastik, scholastisch 62, 69, 211, 226, 255, 283, 488, 499, 510, 513, 525, 532, 598, 600, 603, 607, 610, 612 schöpferische Synthese → Synthese, schöpferische Schule von Padua (Aristoteliker) 17 Sein und Sollen 75, 99, 145, 205, 211, 214, 217, 292, 356, 506, 529, 546, 570 f., 641, 662 Seinsollendes → Sein und Sollen Sixtinische Kapelle 427 Sixtinische Madonna 273, 563 f. Skatregel 547, 550–553, 562 f., 565, 591 sozial (Begriffsbedeutung) 166, 168 Sozialanthropologie, sozialanthropologisch 118, 131 Sozialismus, sozialistisch 95, 157, 186, 213, 673 → auch: Kathedersozialismus Sozialökonomik, sozialökonomisch 109, 161–167, 173, 179, 183, 201, 231, 432, 508, 529 Sozialphilosophie, sozialphilosophisch 149, 155, 491, 501, 507 f. Sozialpolitik, sozialpolitisch 5, 14, 110 f., 115 f., 125, 128–130, 142 f., 151, 156–158, 166, 228, 237 f., 458, 459, 506, 515, 516, 556, 592, 616 Sozialpsychologie, sozialpsychologisch 58, 78, 118, 131, 201, 292, 316, 337 f., 420, 529 Sozialwissenschaft(en), sozialwissenschaftlich 1, 4, 14 f., 24, 26–28, 107, 109, 117, 128, 130, 131, 142 f., 152, 155, 158–160, 162, 167, 172, 174, 178, 192, 202, 209, 219, 225, 232 f., 245, 343, 355 f., 385, 404, 452, 487,

749

496, 507–509, 527, 534, 536 f., 547, 559, 571, 591 f., 614, 616 –, empirische 571 Soziologie, soziologisch 28, 109, 131, 161, 256, 267, 310, 529 → auch: Russische Soziologenschule „Soziologen“ 56, 253, 260 Spanien, spanisch 398 Spielraum 20 f., 198, 471–473 Spielregel 487, 547–549, 552, 591 f. → auch: Skatregel Spieltrieb 266 Spinozismus, spinozistisch 76 f. Staat 49, 80, 85, 145, 167, 443, 515 f., 641, 644 –, antiker 223 f. – Begriff des 163, 216, 230, 430, 592, 629, 633 –, moderner 129 –, nationaler 661 –, parlamentarischer 71 → auch: Kultur-; Tierstaaten Staatenbildung 409 f. Staatsform(en) 55, 82 Staatslehre, Staatstheorie –, allgemeine 118, 131, 216 –, organische 91, 216, 223 –, rationalistische 87 Staatsmetaphysik, organische 216 Staatsordnung 159 Staatsraison 269 Statistik, statistisch 14, 93 f., 96, 100, 108, 132, 165 f., 192, 197, 218, 233, 268, 279, 281, 297, 346, 452 Steigerung 203, 217, 270, 280, 322, 346 Stellungnahme, Stellung nehmen 9, 156, 158, 188 f., 237, 256, 271, 282–284, 286 f., 292, 298 f., 304–307, 310 f., 323–325, 342, 351, 353, 423, 431, 441, 448, 491 f., 581, 590, 597 Stenographie 209, 347 Stoffauswahl 51, 190

750

Sachregister

→ auch: Auslese Strom des Geschehens 193 f., 233 f. Subjektskausalität 329 Südwestdeutscher Neukantianismus → Neukantianismus, Südwestdeutscher Syllogismus 6 f., 17, 20, 207 Synthese 17 f., 24, 133, 154, 202, 203, 207, 212 f., 216, 224 f., 282, 303, 314, 349, 460, 464 –, deutende 306 –, schöpferische 243, 254, 257, 261–263, 268, 270, 272 –, zurechnende 465 Tagliacozzo (Schlacht) 459 Takt 463 f. Tatsache, Tatsachen 14, 62, 73, 79, 82 f., 94, 126, 128, 132 f., 143, 149, 154, 156 f., 175, 183 f., 203, 206, 220, 223–225, 233, 247, 249, 267, 275, 281 f., 284, 288, 290, 297, 304, 322, 324 f., 332, 339, 341, 343, 350, 359, 366 f., 373, 378, 386, 392–396, 400, 404, 407, 409–414, 416–419, 421, 425 f., 433–438, 440–443, 450, 454, 460–464, 475, 494–498, 503 f., 508, 510–513, 516, 537 f., 543, 551 f., 555, 557 f., 563 f., 568–570, 589, 647, 649, 651–653 –, empirische 341, 350, 516, 543, 552, 557, 568, 613 Tatsachenerkenntnis 508 Teleologie, teleologisch 27, 72, 150, 187, 192, 266, 279, 291, 299–301, 307, 314, 322, 355, 356, 358–560, 363, 373, 394, 399, 463, 515, 549, 553, 571, 581, 598, 604 Tendenz 22 f., 72, 106, 121, 123, 128 f., 131, 136, 142, 159 f., 172, 222, 237 f., 262, 462, 479, 491, 664 Theorie –, abstrakte → Methode, abstrakttheoretische

–, organische 78, 373 – und Geschichte 209, 221, 356 → auch: Erkenntnis-; Gesellschafts-; Grenznutz-; Kant-Laplacesche -; Kausalitäts-; Kreislauf-; Kultur-; Staats-; Wahrscheinlichkeits-; Werttheorie Thermodynamik → Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik Tierstaaten 604 Typenbegriff 217, 219 Typus, typisch 57, 73, 75–78, 79, 83, 93 f., 96 f., 126, 176, 196, 198, 203, 214, 217–219, 221, 265, 276, 322, 331 f., 371, 388, 397, 409 f., 412, 418 f., 422, 425, 442, 446, 475, 536 f., 539, 544, 553, 639, 656, 662, 666 –, idealer 25 Umwertung 232 Unberechenbarkeit, unberechenbar 62, 249, 274–276, 278, 280, 363, 369, 391, 398, 645 Universalgeschichte 437 Untersuchung, kausale 551 unterwerten 171 Unwert 283, 292 Ursache(n) 2, 7, 10 f., 18 f., 22 f., 46, 47, 52, 59, 61, 64, 67, 89, 108, 164, 167, 169, 171–173, 175, 179, 184–186, 192, 220, 237, 248, 252 f., 254 f., 257, 260, 263, 265, 271, 276, 301, 302, 308, 318, 338, 340, 342, 350, 357, 364, 365, 376, 378, 389 f., 393, 396, 400 f., 410 f., 414, 419, 422, 433 f., 437–441, 447, 452–456, 462, 468, 476–479, 492 f., 495 f., 511, 539, 566, 567, 577, 582 f., 618, 631, 666 f. –, adäquate → Verursachung, adäquate – zwei Arten von 7, 19 f. Ursachlosigkeit 369, 390 → auch: Zufall, absoluter

Sachregister

Urteil 10, 17, 46, 65, 68, 143 f., 184, 203, 215, 217, 218, 227 f., 232, 260, 264, 267, 275–277, 279, 290, 305, 311, 320, 323, 324–329, 332, 334, 336, 338, 340, 344, 346, 351, 358, 367, 392, 396, 399, 403, 450, 453, 458–467, 469–471, 473–476, 479 f., 504, 517, 529, 552, 569, 638 → auch: Werturteil Utopie 203–206 Venetien 470 Veranschaulichung, veranschaulichen 78, 143, 149, 156, 203 f., 206, 278, 336, 348, 352, 385, 399 Verbindung, kausale 59, 66 f., 300, 396, 437, 454, 515, 530, 558, 583, 667 Verein für Sozialpolitik 102, 111, 235 f., 237–239, 244 Vereinigte Staaten von Amerika 410, 559 f., 670 Vergesellschaftung 161, 192, 272 Vergleich, vergleichen 57, 61, 65, 74, 75, 214 f., 220 f., 295, 314, 325, 334, 363, 400, 406 f., 422, 438, 446, 474, 494, 501, 529, 565 Verknüpfung, kausale → Verbindung, kausale Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 105, 115, 119, 133 Verstehen, verstehen 26, 28, 84, 94, 149, 174, 178, 183, 193, 198, 201, 206, 210, 215, 251, 265, 278, 281, 286 f., 289, 297–299, 304, 307 f., 310–312, 319–322, 325, 327, 329 f., 340, 349, 352 f., 355, 365, 367, 395, 405, 410, 423 f., 428, 437, 455, 463 –, kausales 192, 307, 388, 455 Verursachung –, adäquate 23, 171, 186 f., 208, 279, 337, 384, 447, 452 f., 466 f., 475, 480, 515, 561, 567 f., 663, 665 f.

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–, zufällige 23, 171, 186, 462, 466, 467, 472, 475 f., 480 Vitalismus, vitalistisch 93, 180, 269, 376, 552 Völkerpsychologie 54, 55, 257, 299, 428, 467 Volkswirtschaft, volkswirtschaftlich 51, 55 f., 57, 73, 79, 82 f., 90, 93, 95 f., 97, 197 f., 203, 221, 228, 375 f., 644 f., 671 Volkswirtschaftslehre 87, 116, 199, 378, 556, 642 f. → auch: Nationalökonomie Voraussetzungslosigkeit, voraussetzungslos 99 f., 128, 144, 182, 184, 206, 269, 413, 457 Vorurteil, naturalistisches 200, 209, 219, 252 Vulgärpsychologie, vulgärpsychologisch 294, 325, 337 Wahrheit 63, 65, 69, 71, 128, 144, 151, 154 f., 160, 168, 193, 231 f., 266, 267, 270, 298, 304, 370, 432, 455, 465, 488, 516, 558–560, 571, 581, 589, 590, 647 Wahrnehmung, wahrnehmen, wahrnehmbar 19, 25, 63, 126, 148, 184, 282, 283 f., 287, 303, 324, 345, 346, 417, 434, 454, 489, 507, 517, 541 f., 552, 579, 583, 588f, Wahrscheinlichkeit, wahrscheinlich 2, 4, 19–23, 26, 93, 171, 218, 229, 317, 343, 389, 392, 403, 420, 451, 461, 469, 471 f., 473, 474 f., 500, 511, 533 f., 546, 548 f., 553, 557, 562, 564, 569 f. Wahrscheinlichkeitsrechnung (-theorie) 343, 389, 451, 471–474, 476, 562, 666 Wahrscheinlichkeitsurteil 279, 392 Wechselwirkung 90, 223, 258, 301, 373, 594 Weltanschauung, historische 638

752

Sachregister

Weltanschauung, weltanschaulich 11, 75, 99, 146 f., 149, 151–153, 156, 168 f., 195, 231, 249, 272, 398, 439, 640 Weltbild, mechanistisch-deterministisches 3, 6, 19, 522 Weltformel 3, 7, 509, 522 –, kausale 522 Weltgeschichte 72, 88, 456, 458, 459 – Helmolts 424, 458, 459 f. Weltkultur 475 Welträtsel 79, 83 Werden, kausales 591 Wert, Werte 11, 106, 147 f., 150, 152 f., 154, 156, 158, 166, 189, 191, 195, 206, 214, 219, 229, 231, 232, 262, 264, 269 f., 272, 283, 286, 289, 292, 308, 315, 328, 342, 343, 345, 350 f., 362, 393 f., 396 f., 411, 425, 427 f., 430, 432, 438, 440, 442, 454, 517, 547, 552, 556 f., 590, 623 f., 626, 633, 639 f. –, allgemeiner 62, 150, 174, 185, 256 –, geistige 148, 232 –, objektiver 232 –, praktischer 262 –, wirtschaftlicher 210 f., 215, 228, 641 –, wissenschaftlicher 155, 335, 361, 617 –, zeitloser 271 – Verwirklichung von 341 – Welt der 286, 505 Wertanalyse 350 f., 425–427, 429, 443 Wertaxiom 156 Wertbedeutung 397, 626 Wertbegriff 12, 182, 306, 443 Wertbestimmung 182, 261 Wertbeurteilung 8, 269, 270, 394, 507 Wertbeziehung, Beziehung auf Werte 15, 62, 154, 166, 189, 214, 217, 228, 251, 254, 256, 258 f., 261, 269, 273, 290, 300 f., 305, 307, 309, 314, 321, 342, 349 f., 352, 368, 406, 423, 425,

430–433, 438 f., 441, 443 f., 463, 624, 626 wertempfindlich 424 Werten, werten 14, 154, 157 f., 214 f., 217, 271, 282, 286 f., 290, 299, 305 f., 311, 325, 342, 351, 422 f., 428, 431, 437, 439 f., 518, 547, 556, 559, 561, 592, 614, 630 Wertfrage 548, 587 Wertfreiheit, wertfrei 14, 286 f. Wertganzes 661 Wertgefühl 182, 257, 259, 260 f., 309, 310, 346, 348 Wertgeltung 424, 445 → auch: Geltung der Werte Wertgesichtspunkt 189, 195–197, 233, 254, 275, 315, 437 Wertidee 152, 159, 182, 188–190, 193, 205 f., 227, 229 f., 232 f., 254, 273, 321, 439, 443 Wertinhalt 308 Wertinteresse 439 Wertinterpretation 422, 443 wertlos 187, 257, 424, 428, 501, 522 Wertmaßstab 75, 107, 149, 152, 154, 156, 272, 428, 559, 638 Wertmetaphysik (Rickerts) 625 Wertobjekt 427 Wertsetzung 192 Wertsteigerung 270 Werttheorie (wirtschaftliche) 344 Wertung 155 f., 253 f., 256, 259, 269, 305, 307, 308, 333, 341, 347, 352 f., 355, 358, 396, 422 f., 441, 443, 446, 542, 548, 552 –, teleologische 353, 358, 538 Wertungleichung 255, 257, 270 Wertungsprinzipien 548 Wertungsstandard 538, 561 Werturteil 95, 100, 106, 128, 142, 144–146, 149 f., 152, 154, 156, 160, 214 f., 252, 259, 261, 264, 270, 272 f., 305, 310, 319, 321 f., 351, 393, 397,

Sachregister

422, 430 f., 441, 508, 515, 517, 530, 585, 638 Wertvolles, wertvoll 50, 91, 150, 173, 179, 185, 187–191, 201, 214, 231, 269, 286, 291, 294, 306, 345, 436, 439, 447, 456, 488, 506, 522, 634 Wertwandel 256, 270 f. Willensfreiheit 70, 79, 243, 247–249, 272, 274, 280, 356, 362 f., 367, 369, 391, 393, 396–398, 400, 477, 588, 636 Willenshandlung 290 f., 300 Wirkendes (kausal) 436, 438, 441, 452, 546 Wirklichkeit 5, 10, 14, 22, 24, 41, 43 f., 46–49, 52, 57 f., 60, 62 f., 65, 67–69, 81 f., 90, 94, 133, 148, 150, 154, 156, 160, 166, 168, 171, 173–177, 179 f., 182–197, 199 f., 203–206, 208–212, 214–216, 218–222, 224–226, 227, 231–233, 252, 254–256, 259, 263, 266, 269–271, 274, 282 f., 285 f., 288 f., 293 f., 299, 301 f., 306–308, 310, 312–314, 316, 319, 323 f., 326, 334, 338, 340, 342, 343 f., 355, 356, 359, 361, 366, 389, 396, 404, 412 f., 430, 431, 433, 436 f., 442, 448 f., 451, 455, 460, 463, 478 f., 505, 522 f., 528, 529, 531, 545, 554, 561–564, 583, 596, 601, 610, 614 f., 617, 624 f., 646–649, 656, 659, 661, 665–668 –, besonderte 255 –, empirische 5, 10, 44, 46, 52, 60, 81, 148, 154, 156, 160, 182, 205, 212, 216, 218, 222, 232, 254, 269, 271, 338, 356, 359, 361, 528, 529, 531, 545, 561, 596, 601, 614 f., 617, 624 –, empirisch-verständliche 60 – Umbildung der 224 f., 334 Wirklichkeitswissenschaft 44, 45, 174, 187, 286, 294, 338, 413 Wirkung(en) 2, 10 f., 18, 22, 46, 47, 52, 53, 59, 61, 83 f., 87, 89 f., 127, 131, 162, 164, 173, 177–179, 186, 196,

753

199, 201, 208, 212, 223, 248, 252 f., 254 f., 257, 258, 263, 265, 271, 273 f., 279 f., 296, 301, 302, 338, 340, 342, 348, 366, 373, 376, 400 f., 403, 410 f., 413–415, 417, 419, 426, 433–435, 440, 454, 459, 478, 491, 492, 499, 523, 537, 554, 565 f., 568, 583, 594, 617 –, kausale 263, 273, 366, 536, 554, 601 Wirtschaft 78, 199, 248, 492, 656–658 Wirtschaftsleben 49, 83, 86, 90, 93, 96, 126, 129, 163, 191, 210, 237, 491, 525 Wirtschaftsordnung 666 Wirtschaftspolitik 94–97, 515 Wissen –, nomologisches 23, 186, 205, 274–276, 278, 288, 293, 297, 300, 339, 358, 361, 364, 406, 461–463, 532, 590 –, ontologisches 186, 275, 389, 406, 449, 453, 461, 462, 549 Wissenschaft –, empirische 78, 149, 264, 272, 287, 312, 333, 397, 448, 454, 478, 508, 522, 592, 616 –, kausale 596 –, nomologische 329 –, schildernde 313, 315, 634 f. – Wert der reinen 269 → auch: Ereignis-; Erfahrungs-; Geistes-; Geschichts-; Gesellschafts-; Gesetzes-; Kultur-; Natur-; Rechts-; Religions-; Sozial-; Wirklichkeitswissenschaft; sowie die Einträge zu: Darstellung; Erkenntnis; Interesse; Wert Wissenswertes, wissenswert 47 f., 61, 76, 175, 182, 185, 199, 624, 626, 628 Würfel, würfeln 21–23, 278 f., 343, 389, 451, 471–473 – mit exzentrischem Schwerpunkt 22 f., 472

754

Sachregister

Zahlenwert 21, 218 Zufall, zufällig 2, 25 f., 44, 46–48, 50 f., 74, 171 f., 176, 178, 183, 195, 204, 217, 218, 227, 256, 290, 297, 301, 322, 333, 335, 348, 352, 369, 388–391, 393, 395, 397, 399 f., 402, 411, 450, 459, 462, 466, 472, 474, 476, 501, 532, 550, 588, 664 –, absoluter 348, 369, 389, 471, 473, 585 – kausaler Begriff des 389 –, relativer 389 – teleologischer Begriff des 389 – und freier Wille 388, 390 f., 400 zufällig versus adäquat 476, 663 zufällig versus notwendig 476, 663 zufällige Verursachung → Verursachung, zufällige

Zufallsspiele 21–23, 171, 278, 343, 389, 451, 472, 563 Zurechnung, kausale 173, 185 f., 256, 278 f., 291, 302, 306, 337, 349, 352, 363 f., 367, 393, 395, 407, 428, 444, 454, 457, 465, 467, 585, 619 Zurückführung, kausale 164, 170, 394, 491 Zuyder See 318 Zweckgesetz 579 Zweckidee 514, 517 Zweck-Maxime 546, 549, 567 Zwecksystem 89 Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik 24, 514, 515

Seitenkonkordanzen

Die Seitenkonkordanzen beziehen sich auf die bisher gebräuchlichen Voreditionen. Es handelt sich für die Texte in diesem Band um: GAWL1 Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Marianne Weber, 1. Auflage. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922. GAWL 2 Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 2. durchgesehene und ergänzte Auflage. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1951. GAWL3 Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 3., erweiterte und verbesserte Auflage. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1968. GAWL4 Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 4., erneut durchgesehene Auflage. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1973. GAWL5 Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 5., erneut durchgesehene Auflage. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1982. GAWL6 Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 6., erneut durchgesehene Auflage. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1985. GAWL7 Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 7. Auflage (UTB für Wissenschaft, 1492). – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1988.

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Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. (Erster Artikel) 41 42 43 44 45 46 47 48 49

1 1/2 2/3 3 3/4 4/5 5 6 6/7

1 1/2 2/3 3 3/4 4/5 5 6 6/7

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50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61

7/8 8/9 9 9/10 10 10/11 11 11/12/13 12/13 13 13/14 14/15

7/8 8/9 9 9/10 10 10/11 11 11/12/13 12/13 13 13/14 14/15

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Seitenkonkordanzen

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62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101

15 15/16 16 16/17 17/18 18/19 19 19/20 20/21 21/22 22 22/23 23 23/24 24 24/25 25/26 26 26/27 27/28 28/29 29 29/30 30/31 31/32 32/33 33 33/34 34/35 35 35/36 36/37 37 37/38 38/39 39 39/40/41 40/41 41/42 42

15 15/16 16 16/17 17/18 18/19 19 19/20 20/21 21/22 22 22/23 23 23/24 24 24/25 25/26 26 26/27 27/28 28/29 29 29/30 30/31 31/32 32/33 33 33/34 34/35 35 35/36 36/37 37 37/38 38/39 39 39/40/41 40/41 41/42 42

Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis 142 146/147 146/147 143 146/147 146/147 144 147/148 147/148 145 148 148 146 148/149 148/149 147 149/150 149/150 148 150/151 150/151 149 151 151 150 151/152 151/152 151 152/153 152/153 152 153/154 153/154 153 154 154 154 154/155 154/155 155 155/156 155/156 156 156/157 156/157 157 157/158 157/158 158 158/159 158/159 159 159/160 159/160 160 160 160 161 160/161 160/161 162 161/162 161/162 163 162/163 162/163 164 163/164 163/164 165 164/165 164/165 166 165 165 167 165/166 165/166 168 166/167 166/167 169 167 167 170 167/168 167/168 171 168 168 172 168/169 168/169 173 169/170 169/170 174 170/171 170/171 175 171 171 176 171/172 171/172 177 172 172 178 172/173 172/173 179 173/174 173/174

757

Seitenkonkordanzen

MWG I/7

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180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219

174 174/175 175/176 176/177 177/178 178 178/179 179/180 180 180/181 181/182 182 182/183 183/184 184/185 185/186 186 186/187 187 187/188 188/189 189/190 190 190/191 191/192 192 192/193 193/194 194/195 195 195/196 196/197 197/198 198 198/199 199/200 200/201 201 201/202 202/203

174 174/175 175/176 176/177 177/178 178 178/179 179/180 180 180/181 181/182 182 182/183 183/184 184/185 185/186 186 186/187 187 187/188 188/189 189/190 190 190/191 191/192 192 192/193 193/194 194/195 195 195/196 196/197 197/198 198 198/199 199/200 200/201 201 201/202 202/203

220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234

203/204 204/205 205/206 206 206/207 207/208 208/209 209 209/210 210/211 211/212 212/213 213 213/214 214

203/204 204/205 205/206 206 206/207 207/208 208/209 209 209/210 210/211 211/212 212/213 213 213/214 214

Roscher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie. (Zweiter Artikel) 243 42 42 244 42 42 245 42/43 42/43 246 43/44 43/44 247 44 44 248 44/45 44/45 249 45/46 45/46 250 46/47 46/47 251 47/48 47/48 252 48 48 253 48/49 48/49 254 49/50 49/50 255 50 50 256 50/51 50/51 257 51/52 51/52 258 52 52 259 52/53 52/53 260 53/54 53/54 261 54/55 54/55 262 55/56 55/56 263 56 56 264 56/57 56/57

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Seitenkonkordanzen

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265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301 302 303 304

57 57/58 58/59 59/60 60/61 61 61/62 62/63 63/64 64/65 65 65/66 66/67 67/68 68/69 69/70 70 70/71 71/72 72/73 73/74 74 74/75/76 75/76 76/77 77/78 78 79 79/80 80/81 81/82 82/83 83/84 84/85 85 85/86 86/87 87/88 88 88/89

57 57/58 58/59 59/60 60/61 61 61/62 62/63 63/64 64/65 65 65/66 66/67 67/68 68/69 69/70 70 70/71 71/72 72/73 73/74 74 74/75/76 75/76 76/77 77/78 78 79 79/80 80/81/82 81/82 82/83 83/84 84/85 85 85/86 86/87 87/88 88 88/89

305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327

89/90 90/91 91/92 91/92/93 92/93 93/94 94/95 95 95/96 96 96/97 97/98 98 98/99 99/100 100/101 101 101/102 102/103 103 103/104 104/105 105

89/90 90/91 91/92 91/92/93 92/93 93/94 94/95 95 95/96 96 96/97 97/98 98 98/99 99/100 100/101 101 101/102 102/103 103 103/104 104/105 105

Roscher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie. (Dritter Artikel) 328 105/106 105/106 329 106/107 106/107 330 107/108 107/108 331 108 108 332 108/109 108/109 333 109/110 109/110 334 110/111 110/111 335 111 111 336 111/112 111/112 337 112/113 112/113 338 113/114 113/114 339 114/115 114/115 340 114/115 114/115 341 115/116 115/116

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Seitenkonkordanzen

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342 343 344 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379

116/117 117/118 118 118/119 119/120 120/121 121 121/122 122/123 123/124 124/125 125 125/126 126/127 127/128 128/129 129/130 130 130/131 131/132 132/133 133 133/134 134/135 135/136 136/137 137 137/138 138/139 139 139/140 140/141 141/142 142/143 143 143/144 144/145 145

116/117 117/118 118 118/119 119/120 120/121 121 121/122 122/123 123/124 124/125 125 125/126 126/127 127/128 128/129 129/130 130 130/131 131/132 132/133 133 133/134 134/135 1357136 136/137 137 137/138 138/139 139 139/140 140/141 141/142 142/143 143 143/144 144/145 145

Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik 384 215 215 385 215/216 215/216 386 216/217 216/217 387 217/218 217/218 388 218/219 218/219 389 219/220 219/220 390 220 220 391 220/221 220/221 392 221/222 221/222 393 222/223 222/223 394 223 223 395 223/224 223/224 396 224/225 224/225 397 225 225 398 225/226 225/226 399 226/227 226/227 400 227/228 227/228 401 228/229 228/229 402 229 229 403 229/230 229/230 404 230/231 230/231 405 231 231 406 231/232 231/232 407 232/233 232/233 408 233/234 233/234 409 234 234 410 234/235 234/235 411 235/236 235/236 412 236/237 236/237 413 237/238 237/238 414 238/239 238/239 415 239/240 239/240 416 240 240 417 241 241 418 241/242 241/242 419 242/243 242/243 420 243/244 243/244 421 244/245 244/245

760

Seitenkonkordanzen

MWG I/7

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GAWL1

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422 423 424 425 426 427 428 429 430 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461

245/246 246 246/247 247/248 248/249 249/250 250/251 251/252 252 252/253 253/254 254/255 255 255/256 256/257 257/258 258/259 259 259/260 260/261 261/262 262/263 263/264 264 264/265 265/266 266/267 267/268 268 268/269 269/270 270 270/271 271/272 272/273 273 273/274 274/275 275/276 276

245/246 246 246/247 247/248 248/249 249/250 250/251 251/252 252 252/253 253/254 254/255 255 255/256 256/257 257/258 258/259 259 259/260 260/261 261/262 262/263 263/264 264 264/265 265/266 266/267 267 267/268 268/269 269/270 270 270/271 271/272 272/273 273 273/274 274/275 275/276 276

462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473 474 475 476 477 478 479 480

276/277 277 277/278 278/279 279/280 280/281 281/282 282/283 283 283/284 284/285 285 285/286 286/287 287/288 288 288/289 289/290 290

276/277 277 277/278 278/279 279/280 280/281 281/282 282/283 283 283/284 284/285 285 285/286 286/287 287/288 288 288/289 289/290 290

R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung 487 291 291 488 291/292 291/292 489 292/293 292/293 490 293/294 293/294 491 293/294 293/294 492 294/295 294/295 493 295 295 494 295/296 295/296 495 296 296 496 296/297 296/297 497 297/298 297/298 498 298 298 499 298/299 298/299 500 299/300 299/300 501 300 300 502 300/301 300/301 503 301/302 301/302 504 302/303 302/303 505 303/304 303/304

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506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543 544 545

304 304/305 305/306 306/307 307/308 308/309 309 309/310 310/311 311 311/312 312/313 313/314 314/315 315/316 316 316/317 317/318 318/319 319 319/320 320/321 321 321/322 322/323 323/324 324 324/325 325/326 326/327 327/328 328/329 329/330 330 330/331 331/332 332/333 333/334 334/335 335/336

304 304/305 306/306 306/307 307/308 308/309 309 309/310 310/311 311 311/312 312/313 313/314 314/315 315/316 316 316/317 317/318 318/319 319 319/320 320/321 321 321/322 322/323 323/324 324 324/325 325/326 326/327 327/328 328/329 329/330 330 330/331 331/332 332/333 333/334 334/335 335/336

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336 336/337 337/338 338/339 339/340 340/341 341/342 342/343 343/344 344 344/345 345/346 346/347 347/348 348/349 349/350 350/351 351/352 352/353 353/354 354/355 355/356 356/357 357/358 358 358/359

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Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammler’s „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung 577 360 556 578 360/361 556/557 579 361 557 580 361/362 557/558 581 362 558 582 362/363 558/559 583 363/364 559/560 584 364 560 585 364/365 560/561 586 365 561 587 365/366 561/562

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Seitenkonkordanzen

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588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602

366/367 367 367/368 368 368/369 369 369/370 370 370/371 371 371/372 372/373 372/373 373/374 374

562/563 563 563/564 564 564/565 565 565/566 566 566/567 567 567/568 568/569 568/569 569/570 570

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374/375 375 375/376 376/377 377 377/378 378/379 379 379/380 380/381 381 381/382 382/383 383 383

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Aufbau und Editionsregeln der Max Weber-Gesamtausgabe Abteilung I: Schriften und Reden

1.  Aufbau der Gesamtausgabe In der Max Weber-Gesamtausgabe werden die veröffentlichten und die nach­ gelassenen Texte Max Webers mit Ausnahme seiner Exzerpte, Marginalien, ­Anstreichungen oder redaktionellen Eingriffe in die Texte anderer wiedergegeben. Berichte anderer über Webers Reden, Diskussionsbeiträge und Vorlesungen werden nur dann wiedergegeben, wenn ein autoreigener Zeuge nicht überliefert ist. Liegen mehrere Fassungen eines Textes vor, so werden alle mitgeteilt. Editionen der Texte Webers, die er nicht selbst zum Druck gegeben hat, werden nur dann berücksichtigt, wenn dem betreffenden Herausgeber Manuskripte vorlagen, die uns nicht mehr überliefert sind. Jedem Band ist eine Konkordanz mit den bisher gebräuchlichen Ausgaben beigegeben. Die Max Weber-Gesamtausgabe gliedert sich in drei Abteilungen:       Abteilung I: Schriften und Reden       Abteilung II: Briefe       Abteilung III: Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften

2. Aufbau der Abteilung I: Schriften und Reden Die Abteilung I umfaßt Max Webers veröffentlichte und nachgelassene Schriften und Reden, unter Einschluß seiner Diskussionsbeiträge und Stellungnahmen. Ebenso werden Paralipomena, Entwürfe und andere Vorarbeiten mitgeteilt. Einzelne Äußerungen sind uns nur durch Zeitungsberichte, Sitzungsprotokolle, Kongreßprotokolle und ähnliches überliefert. Solche Ersatzzeugen werden dann in die Ausgabe aufgenommen, wenn sie in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der betreffenden Rede oder Stellungnahme Webers entstanden. Außerdem sind Texte wiedergegeben, die er zusammen mit anderen Personen verfaßte oder unterzeichnete. Für die Verteilung der Texte auf die Bände werden zwei Kriterien verwendet: der Sachzusammenhang und die Chronologie. Dadurch werden thematisch und zeitlich nahestehende Texte zu Bänden vereinigt und die Schwerpunkte des Werkes in ihrer zeitlichen Folge und ihrem Nebeneinander sichtbar gemacht. Jeder Bandtitel enthält deshalb eine thematische und eine zeitliche Angabe. Für die thematische Angabe wird entweder ein Titel von Weber verwendet oder, wo dies wegen der Vielfalt der Texte nicht möglich ist, ein seinem Wortgebrauch nahestehender Titel neu gebildet. Jedem Bandtitel ist ferner eine Zeitangabe

764

MWG Abteilung I: Aufbau und Editionsregeln

zugeordnet. Dabei bezieht sich die erste Jahreszahl auf das Datum der Veröffentlichung des ersten, die zweite auf das Datum der Veröffentlichung des letzten in den Band aufgenommenen Textes. Bei Texten aus dem Nachlaß ist das Ent­ stehungsjahr maßgebend. Dies gilt sowohl für Texte, die uns im Original vorliegen, als auch für solche, von denen wir nur noch eine Edition aus dem Nachlaß besitzen, weil das Original inzwischen verloren ist. Wo das Datum der Entstehung auch nicht annähernd ermittelt werden kann, wird der Text am Ende des Bandes eingeordnet, dem er thematisch nahesteht. Bände mit einem oder mehreren nachgelassenen Texten tragen als zweite Jahreszahl 1920, Webers Todesjahr, wenn wir Hinweise haben, daß er an diesen Texten bis zu seinem Tode ­arbeitete. Für die Bandfolge ist das Chronologieprinzip maßgebend. Über die Stellung eines Bandes in der Bandfolge entscheidet das Datum des ersten darin abgedruckten Textes. Abweichend davon sind die „Gesammelten Aufsätze zur Reli­ gionssoziologie“ und das Textkonvolut „Wirtschaft und Gesellschaft“ an das Ende der Abteilung gestellt. Dies ergibt sich aus der besonderen Überlieferungslage. Die Abteilung I hat folgenden Aufbau: Band 1:  Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter Schriften 1889 – 1894



Hg. von Gerhard Dilcher und Susanne Lepsius; 2008

Band 2: Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. 1891



Hg. von Jürgen Deininger; 1986 (Studienausgabe 1988)

Band 3:  Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. 1892



Hg. von Martin Riesebrodt; 2 Halbbände, 1984

Band 4:  Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik Schriften und Reden 1892 – 1899



Hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff; 2 Halbbände, 1993

Band 5:  Börsenwesen Schriften und Reden 1893 – 1898



Hg. von Knut Borchardt in Zusammenarbeit mit Cornelia Meyer-Stoll; 2 Halbbände, 1999, 2000

Band 6:  Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums Schriften und Reden 1893 – 1908

Hg. von Jürgen Deininger; 2006

MWG Abteilung I: Aufbau und Editionsregeln

Band 7:  Zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften Schriften 1900 – 1907

Hg. von Gerhard Wagner in Zusammenarbeit mit Claudius Härpfer, Tom Kaden, Kai Müller und Angelika Zahn; 2018

Band 8:  Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik Schriften und Reden 1900 – 1912



Hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Peter Kurth und Birgitt Morgenbrod; 1998 (Studienausgabe 1999); Ergänzungsheft 2005

Band 9:  Asketischer Protestantismus und Kapitalismus Schriften und Reden 1904 – 1911



Hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube; 2014

Band 10:  Zur Russischen Revolution von 1905 Schriften und Reden 1905 – 1912



Hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Dittmar Dahl­mann; 1989 (Studienausgabe 1996)

Band 11:  Zur Psychophysik der industriellen Arbeit Schriften und Reden 1908 – 1912



Hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Sabine Frommer; 1995 (Studienausgabe 1998)

Band 12:  Verstehende Soziologie und Werturteilsfreiheit Schriften und Reden 1908 – 1917



Hg. von Johannes Weiß in Zusammenarbeit mit Sabine Frommer; 2017

Band 13:  Hochschulwesen und Wissenschaftspolitik

Schriften und Reden 1895 – 1920



Hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Heide-Marie Lauterer und Anne Munding; 2016



Band 14:  Zur Musiksoziologie Nachlaß 1921

Hg. von Christoph Braun und Ludwig Finscher; 2004

Band 15:  Zur Politik im Weltkrieg Schriften und Reden 1914 – 1918



Hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger; 1984 (Studienausgabe 1988)

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MWG Abteilung I: Aufbau und Editionsregeln

Band 16: 

Zur Neuordnung Deutschlands Schriften und Reden 1918 – 1920



Hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Wolfgang Schwentker; 1988 (Studienausgabe 1991)



Band 17: 

Wissenschaft als Beruf 1917/1919  –  Politik als Beruf 1919



Hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod; 1992 (Studienausgabe 1994)



Band 18: 



Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus/ Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus Schriften 1904 – 1920 Hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube; 2016



Band 19: 

Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus Schriften 1915 – 1920



Hg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko; 1989 (Studienausgabe 1991)



Band 20:



Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus 1916 – 1920



Hg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Golzio; 1996 (Studienausgabe 1998)

Band 21: 

Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum Schriften und Reden 1911 – 1920



Hg. von Eckart Otto unter Mitwirkung von Julia Offermann; 2 Halbbände, 2005 (Studienausgabe 2009)



Band 22: 

Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaft­ lichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß 22-1: Gemeinschaften



Hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Michael Meyer; 2001 (Studienausgabe 2009)

22-2: Religiöse Gemeinschaften Hg. von Hans G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit Petra Schilm unter Mitwirkung von Jutta Niemeier; 2001 (Studienausgabe 2005)

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22-3: Recht

Hg. von Werner Gephart und Siegfried Hermes; 2010 (Studienausgabe 2014)

22-4: Herrschaft



Hg. von Edith Hanke in Zusammenarbeit mit Thomas Kroll; 2005 (Studienausgabe 2009)

22-5: Die Stadt Hg. von Wilfried Nippel; 1999

Band 23: 

Band 24: 

Band 25: 



(Studienausgabe 2000)

Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie Unvollendet 1919 – 1920 Hg. von Knut Borchardt, Edith Hanke, Wolfgang Schluchter; 2013 (Studienausgabe 2014)

Wirtschaft und Gesellschaft. Entstehungsgeschichte und Dokumente Dargestellt und hg. von Wolfgang Schluchter; 2009

Wirtschaft und Gesellschaft. Gesamtregister Bearbeitet von Edith Hanke und Christoph Morlock; 2015

3.  Aufbau der Bände Jeder Band enthält eine Einleitung des Herausgebers, die historisch-kritisch bearbeiteten Texte Webers, denen jeweils ein Editorischer Bericht vorangestellt ist, Verzeichnisse und Register. Innerhalb der Bände sind die Edierten Texte chronologisch geordnet. Bei von Weber veröffentlichten Texten ist das Datum der Veröffentlichung, bei nachgelassenen Texten das Datum der Entstehung maßgebend. Äußerungen Webers, über die wir nur Ersatzzeugen besitzen, werden im zweiten Teil eines Bandes zusammengefaßt und nach dem Datum der Äußerung wiederum chronologisch angeordnet. Einzelnen Bänden sind Anhänge beigegeben. Darin finden sich zunächst Texte, die Weber mit anderen Personen zusammen verfaßte oder unterzeichnete, ge­gebenenfalls Hinweise auf verlorene Texte sowie auf Dokumente.

4. Bandeinleitung Die Einleitung des Herausgebers informiert über die Anordnung, die thematischen Schwerpunkte und über den wissenschaftsgeschichtlichen und zeitgeschichtlichen Hintergrund der Texte. Enthält ein Band mehrere Texte, geht die Einleitung außerdem auf deren Zusammenhang ein. Die Rezeptions- und Wir-

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kungsgeschichte sowie die Geschichte von Nacheditionen dagegen bleiben in der Regel außer Betracht. Die Einleitung berichtet ferner über bandspezifische Editionsfragen, z. B. über sprachliche Eigentümlichkeiten Webers und deren editorische Behandlung. Alle textspezifischen Informationen geben die Editorischen Berichte.

5.  Editorische Berichte Jedem Text ist ein Editorischer Bericht vorangestellt, der über dessen Entstehung, Entwicklung und Überlieferung sowie über editorische Entscheidungen informiert. Er ist in die Abschnitte „Zur Entstehung“ und „Zur Überlieferung und Edition“ gegliedert. 5.1  „Zur Entstehung“ Dieser Abschnitt skizziert die historisch-politischen, wissenschaftlichen und biographischen Zusammenhänge, in denen ein Text steht. Er stellt ferner seine Entstehung und Entwicklung dar. Sofern mehrere Fassungen eines Textes vorliegen, wird deren Verhältnis zueinander beschrieben. 5.2  „Zur Überlieferung und Edition“ Dieser Abschnitt informiert über Textbefund und Überlieferungslage. Liegen mehrere Fassungen eines Textes vor, wird dargelegt, welche der Fassungen Edierter Text und welche Variante ist. Ferner werden alle weiteren editorischen Entscheidungen begründet. Dazu gehört unter anderem auch die Behandlung textspezifischer Eigentümlichkeiten.

6. Texte Bearbeitung und Präsentation der Texte folgen der historisch-kritischen Methode. Dies geschieht mit Hilfe von drei Apparaten: dem Korrekturen- und dem Variantenapparat, die zum textkritischen Apparat zusammengefaßt sind, und dem Erläuterungsapparat. 6.1  Textkritischer Apparat Der textkritische Apparat hat in erster Linie zwei Aufgaben: Aufweis der Textentwicklung und Nachweis der Texteingriffe.

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6.1.1 Textentwicklung Liegt ein Text in mehreren autorisierten Fassungen vor, ist eine Fassung zum Edierten Text bestimmt. Dies ist in der Regel die Fassung letzter Hand. Jede zur Variante bestimmte Fassung wird im textkritischen Apparat mitgeteilt, in der Regel mit Hilfe eines negativen Apparats. Wo es die Sachlage erfordert, insbesondere bei umfangreichen Varianten, ist der positive Apparat oder die ­synoptische Darstellung gewählt. Die früheste oder einzige Fassung eines Textes trägt die Sigle A. Spätere Fassungen sind in chronologischer Folge mit B, C usw. bezeichnet. 6.1.2 Texteingriffe Texteingriffe sind auf ein Minimum beschränkt. Sie werden bei Textverderbnissen vorgenommen. Als verderbt gelten Textstellen, die den Sinnzusammenhang ­zerstören. Der Eingriff wird dadurch nachgewiesen, daß die verderbte Stelle im textkritischen Apparat mitgeteilt wird. Läßt sich eine unklare Stelle nicht eindeutig als verderbt erkennen, so wird sie unverändert gelassen. Je nach Sachlage bietet der Apparat dann Lesarten in Voreditionen oder andere Verständnishilfen an. Nicht als Textverderbnis gelten Spracheigentümlichkeiten, einschließlich regelwidriger, aber nicht sinnentstellender grammatischer Konstruktionen, nicht mehr gebräuchlicher Lautstand, veraltete Orthographie und Interpunktion. In ­folgenden Fällen werden Texteingriffe ohne Nachweis im textkritischen Apparat vorgenommen: a) Bei der Gestaltung von Überschriften, Zwischentiteln, anderen Gliederungsmerkmalen (z. B. Paragraphen) sowie Hervorhebungen: Sie werden typographisch vereinheitlicht. b) Bei Umlauten: Sie werden – soweit sie Folge der zu Webers Zeit üblichen Drucktechnik sind – der heutigen Schreibweise angeglichen (Ä statt Ae). Die Schreibweise ss für ß wird zu ß vereinheitlicht. c) Bei Abkürzungen: Sie werden, sofern sie schwer verständlich und heute nicht mehr üblich sind, in eckigen Klammern ausgeschrieben. d) Bei offensichtlichen Druckfehlern: Sie werden korrigiert (z. B. „Erleicherung“, „aucht“). e) Bei Interpunktionsfehlern: Sie werden bei der Reihung von Hauptsätzen, Aufzählungen, Relativsätzen und „daß“-Sätzen korrigiert. In allen anderen ­ Fällen werden eingefügte Satzzeichen durch eckige Klammern kenntlich ­ gemacht. f) Bei der Numerierung von Anmerkungen: Sie werden text- oder kapitelweise durchgezählt. Entsteht dadurch eine Abweichung gegenüber Webers Zählung, so wird dies im Editorischen Bericht vermerkt. g) Bei der Einfügung von Titeln und Zwischenüberschriften: Sie werden in eckige Klammern gesetzt und im Editorischen Bericht begründet

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6.2 Erläuterungsapparat Der Erläuterungsapparat dient dem Nachweis, der Ergänzung oder der Korrektur der Zitate und der Literaturangaben sowie der Sacherläuterung. 6.2.1 Zitate Webers Zitate werden überprüft. Sind sie indirekt, unvollständig oder fehlerhaft, gibt der Apparat den richtigen Wortlaut wieder. Hat Weber ein Zitat nicht belegt, wird es im Apparat nachgewiesen. Ist uns der Nachweis nicht möglich, so lautet die Anmerkung: „Als Zitat nicht nachgewiesen“. 6.2.2 Literaturangaben Webers Literaturangaben werden überprüft. Sind sie nicht eindeutig oder fehlerhaft, werden sie ergänzt oder berichtigt, wenn möglich, unter Verwendung der von Weber benutzten Ausgabe. Es wird dafür ein Kurztitel verwendet. Die vollständigen bibliographischen Angaben finden sich im Verzeichnis der von Weber zitierten Literatur. Verweist Weber ohne nähere Angaben auf Literatur, so ist sie, wenn möglich, im Apparat nachgewiesen. Literaturangaben des Herausgebers werden beim ersten Auftreten vollständig aufgeführt, bei Wiederholungen wird ein Kurztitel verwendet. 6.2.3 Sacherläuterung Erläutert werden Ereignisse und Begriffe, deren Kenntnis für das Verständnis des Textes unerläßlich erscheint. Informationen über Personen finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Bandes. Erfordert eine Textstelle darüber hinaus­ gehende Informationen über eine Person, so bietet sie der Apparat. Sachliche Fehler Webers werden im Apparat berichtigt. Für Wörter aus fremden Schriftsystemen verwendet der Editor in seinen Erläuterungen die Transliteration nach den heute gültigen Richtlinien. 6.3 Präsentation Um die Benutzung der Ausgabe zu erleichtern, erscheinen Webers Text und die dazugehörigen Apparate in der Regel auf derselben Seite. Edierter Text und Varianten sind gleichwertig. Die Varianten werden so präsentiert, daß der Leser die Textentwicklung erkennen kann. Kleine lateinische ­Buchstaben verbinden den Edierten Text mit dem textkritischen Apparat. Sie ­stehen hinter dem varianten oder emendierten Wort. Bezieht sich die textkritische A ­ nmerkung auf mehr als ein Wort, so markiert ein gerade gesetzter Index ­den Anfang und ein kursiv gesetzter Index das Ende der fraglichen Wortfolge (amit Amerikaa). Die Ersatzzeugen von Webers Äußerungen, auf die wir zurückgreifen müssen, stimmen nicht immer überein. In solchen Fällen sind sie alle ohne Wertung auf­ einanderfolgend oder synoptisch wiedergegeben.

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Zeitungsberichte enthalten in der Regel einen redaktionellen Vorspann, Zwischentexte oder Nachbemerkungen; Sitzungs- und Kongreßprotokolle geben auch Beiträge anderer Redner wieder. Wenn diese Texte in unmittelbarem sach­ lichen Zusammenhang mit Webers Äußerungen stehen, werden sie entweder in Form eines Regests, wörtlich in kleinerer Drucktype oder im textkritischen Apparat mitgeteilt. Die historisch-kritisch bearbeiteten Texte Webers und die Erläuterungen des Heraus­gebers sind durch arabische Ziffern ohne Klammern miteinander verbunden. Um die Herausgeberrede von Webers Text abzuheben, ist sie in anderer Schrifttype gesetzt.

7.  Verzeichnisse und Register Dem Band sind folgende Verzeichnisse und Register beigefügt: 1. Ein Inhaltsverzeichnis. 2. Ein Verzeichnis der Siglen, Zeichen und Abkürzungen. 3. Ein Literaturverzeichnis: Es enthält die von Weber zitierte Literatur vollständig bibliographisch erfaßt. Auf den Titel folgt in Klammern der vom Editor in seinen Erläuterungen gebrauchte Kurztitel. 4. Ein Personenverzeichnis: Aufgenommen sind alle Personen, die Weber erwähnt, mit Ausnahme allgemein bekannter (z. B. Bismarck, Wilhelm II.) und in Literaturangaben genannter Personen. Es liefert die wichtigsten Lebensdaten, gibt die berufliche oder politische Stellung an und führt ggf. die verwandtschaftlichen oder persönlichen Beziehungen zu Weber auf. Das Personenverzeichnis hat den Zweck, den Erläuterungsapparat zu entlasten. 5. Ein Personenregister: Es verzeichnet sämtliche von Weber und vom Editor erwähnten Personen einschließlich der Autoren der von Weber und vom Editor zitierten Literatur. 6. Ein Sachregister: Es enthält alle wichtigen Begriffe und Sachbezeichnungen. Ist ein Begriff für einen Text thematisch, werden nur zentrale Stellen und besondere Bedeutungen verzeichnet. Es verzeichnet ferner alle geographischen Namen, mit Ausnahme der Verlagsorte in Literaturangaben und der Archivorte. Es werden die Namen benutzt, die im deutschen Sprachraum vor 1920 üblich waren oder amtlich gebraucht wurden. Kann ein Ort nicht als bekannt vorausgesetzt werden, wird zur Erläuterung die Verwaltungseinheit nach dem Gebietsstand von 1920 (z.B. Kreis, Regierungsbezirk) und ggf. auch der heute amtliche Name beigefügt. Personen- und Sachregister erfassen Webers Texte und die Herausgeberrede. Gerade gesetzte Zahlen verweisen auf Webers Text, kursiv gesetzte Zahlen auf die Herausgeberrede. Einem Band können weitere Verzeichnisse, wie z. B. Glossare, Konkordanzen, Maß- und Gewichtstabellen sowie Karten beigefügt sein.

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8.  Indices und Zeichen Folgende Indices werden verwendet: a) Arabische Ziffern mit runder Schlußklammer (1), 2), 3) ...) kennzeichnen Webers eigene Anmerkungen. b) Arabische Ziffern ohne Klammern (1, 2, 3 ...) und in von a) abweichender Schrift markieren die Erläuterungen des Editors. c) Kleine lateinische Buchstaben (a, b, c ...) kennzeichnen eine textkritische Anmerkung. Folgende Zeichen werden verwendet: d) Das Zeichen  gibt die Stelle des Seitenwechsels nach der ursprünglichen Paginierung einer Textfassung wieder. e) Das Zeichen [  ] markiert Hinzufügungen zum Text durch den Editor.

Bandfolge der Abteilung II: Briefe

Band 1: Briefe 1875–1886

Hg. von Gangolf Hübinger

in Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards und Uta Hinz; 2017

Band 2: Briefe 1887 –1894

Hg. von Rita Aldenhoff-Hübinger

in Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards und Sybille Oßwald-Bargende; 2017

Band 3: Briefe 1895 –1902

Hg. von Rita Aldenhoff-Hübinger

in Zusammenarbeit mit Uta Hinz; 2015

Band 4: Briefe 1903 –1905

Hg. von Gangolf Hübinger und M. Rainer Lepsius

in Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards und Sybille Oßwald-Bargende; 2015

Band 5: Briefe 1906 –1908

Hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen

in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön; 1990

Band 6: Briefe 1909 –1910

Hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen

in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön; 1994

Band 7: Briefe 1911 –1912

Hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen

in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön; 1998

Band 8: Briefe 1913 –1914

Hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen

in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön; 2003

Band 9: Briefe 1915 –1917





Hg. von Gerd Krumeich und M. Rainer Lepsius in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön; 2008

Band 1 0: Briefe 1918 –1920





Hg. von Gerd Krumeich und M. Rainer Lepsius in Zusammenarbeit mit Uta Hinz, Sybille Oßwald-Bargende und Manfred Schön; 2012

Band 1 1: Nachträge und Gesamtregister

Bandfolge der Abteilung III: Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften

Band 1: Allgemeine („theroretische“) Nationalökonomie. Vorlesungen 1894 –1898 Hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Cristof Judenau, Heino H. Nau, Klaus Scharfen und Marcus Tiefel; 2009

Band 2: Praktische Nationalökonomie. Vorlesungen 1895 –1899 Band 3: Finanzwissenschaft. Vorlesungen 1894 –1897 Hg. von Martin Heilmann in Zusammenarbeit mit Cornelia Meyer-Stoll; 2017

Band 4: Arbeiterfrage und Arbeiterbewegung. Vorlesungen 1895 –1898 Hg. von Rita Aldenhoff-Hübinger in Zusammenarbeit mit Silke Fehlemann; 2009

Band 5: Agrarrecht, Agrargeschichte, Agrarpolitik. Vorlesungen 1894 –1899 Hg. von Rita Aldenhoff-Hübinger; 2008

Band 6: Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Mit- und Nachschriften 1919/20 Hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Joachim Schröder; 2011

Band 7: Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie). Unvollendet. Mit- und Nachschriften 1920 Hg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Andreas Terwey; 2009