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German Pages 164 [166] Year 2021
Eckard Lefèvre Martinus Schoockius: Encomium Surditatis – Lob der Schwerhörigkeit (1650)
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Joachim Hamm, Wilhelm Kühlmann, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 241
Eckard Lefèvre
Martinus Schoockius: Encomium Surditatis – Lob der Schwerhörigkeit (1650) Einführung, Text, Übersetzung, Kommentar
ISBN 978-3-11-073713-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073180-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-073188-0 ISSN 0934-5531 Library of Congress Control Number: 2021935164 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Frontispiz: Porträt von Martinus Schoockius, Kupferstich von Steven van Lamsweerde, 1654, Rijksmuseum, Amsterdam Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ
Vorwort Anläßlich der kommentierten Ausgabe von Jakob Baldes Solatium podagricorum (1661) beschäftigte sich der Verfasser mit der reichen Paradox-Enkomiastik der Humanisten, von der ihm bis dahin nur Erasmus’ geniales Moriæ encomium (1509) genauer bekannt war. Verlockende Titel ermunterten ihn zu weiterem Studium – wie Laus ebrietatis oder Encomium senis; andere schüchterten ihn ein – wie Encomium febris quartanae, Laus caecitatis oder Surditatis encomium. Allein das letzte zog ihn paradoxerweise auch wieder an, war er doch 1983 beim Abstieg vom Schlern in Südtirol vom Blitz getroffen worden, der ihm zusammen mit dem Donnerschlag einen erheblichen Teil seines Hörvermögens zerstörte. Wie der Titel besagt, hat Martin (Marten) Schoock nicht ein Werk der Trauer, gar des Selbstmitleids, nein: des Lobes und des Preises vorgelegt. Das riet ein weiteres Studium an. Welch ein Quell sprudelnder Einfälle zeigte sich: alles pointiert, teilweise überspitzt dargeboten, zudem voller Bildung und Eleganz – schließlich in einen Hymnus einmündend. So, wie Baldes Podagra-Gedichte auch den erfreuen, der selbst nicht an Gicht leidet, ist Schoocks Traktat geeignet, Betroffene wie Nichtbetroffene in seinen Bann zu ziehen. Das Surditatis encomium gehört zu der hochintellektuellen Paradox-Literatur der Humanisten, an die sie ihre gelehrten Kenntnisse, ihren Einfallsreichtum und ihre Kunst verschwendeten, um ihre Hörer bzw. Leser, zu denen auch die Kollegen gehörten, und natürlich sich selbst zu erfreuen. Deshalb ist es eine besondere Absicht des vorliegenden Kommentars, die Bezugnahmen nicht nur auf die bekannten, sondern vor allem auf die entlegensten Stellen der antiken Literatur aufzuspüren und das immer wieder angestrebte Artifizielle der Argumentation vorzuführen, die die Rezipienten – mit ihrem Einverständnis – herausfordert. Das als Frontispiz wiedergegebene Porträt von Martinus Schoockius aus dem Rijksmuseum (Amsterdam) wird von folgender Inschrift gerahmt: MARTINVS SCHOOCKIVS VLTRAIECTINVS IN ACADEMIA GRON. ET OMLANDIÆ LOG. et PHYS. PROF. ORDIN. [„Martinus Schoockius aus Utrecht, an der Universität von Groningen und Omlandia ordentlicher Professor der Logik und Physik“]. Das beschreibende Epigramm lautet: Patria quem stupuit, Daventria, nuncque Groninga, Schoockivs investi corpore conspicitur. Hujus at ingenio vestitum pingere vultum, Solius est Sophiæ maximus ille labor.
https://doi.org/10.1515/9783110731804-001
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Vorwort
Den die Heimat bewunderte, Deventer und nun Groningen, Schoockius, ist ohne Einkleidung (Ornat) zu sehen. Aber dessen Antlitz mit dem Geist bekleidet zu zieren, das ist allein der Weisheit sehr großes Werk.
Schoock wurde in Zaltbommel (nach anderen in Utrecht) geboren, erhielt 1638 in Deventer seine erste Professur und entfaltete ab 1640 in Groningen (Omlandia ist das Land um Groningen, ▸ S. 47 Anm. 204) als Professor Ordinarius für Logik und Physik eine über zweieinhalb Jahrzehnte währende gelehrte Tätigkeit. Es wird gesagt, daß Schoock nicht im offiziellen Ornat dargestellt ist (das hat er nicht nötig), sondern daß ihn allein das geistige Antlitz auszeichnet. Es könnte sich um eine bewußte Idealisierung seines Aussehens handeln, wie ein satirischer Seitenhieb von Jakob Balde vermuten lassen könnte (▸ S. 6–7). Unter dem Epigramm steht: Ioan. Steinbergivs. Ict. et Antecess. Der Verfasser des Epigramms ist Johannes Steinberg (1592–1653), ein bedeutender Jurist, auf dessen Tod Balde einen Nachruf veröffentlicht hat: Oratio funebris in obitum Joannis Steenbergii in Academia Groningana Antecessoris primarii (Groningen 1653). Ict. bzw. Ictus bedeutet ‚Rechtsgelehrter‘ (Iuris Consultus). Antecessor primarius ist ein Professor, der das Recht hat, bei öffentlichen Anlässen vor den anderen Professoren ‚voranzuschreiten‘ (▸ S. 4 zu Schoock in Frankfurt / Oder). Das Porträt ist also vor 1653 entstanden. In einer Reihe von Fällen hat es kundige Wegweiser gegeben, denen an dieser Stelle aufrichtig gedankt sei. Hier werden nur die Namen genannt, vor Ort kommen sie mit ihren mündlich oder elektronisch vermittelten Auskünften zu Wort. Sie werden dort ohne Quellenangabe zitiert. Zu nennen sind: allen voran Prof. Jan Bloemendal (Amsterdam), Kenner des niederländischen Humanismus, der entlegene Literatur genannt und zahlreiche wichtige Hinweise zum Verständnis des Textes gegeben hat, sowie Prof. Jochen Althoff (Mainz); Prof. Achim Aurnhammer (Freiburg); Prof. Lore Benz (Bielefeld); Prof. Jürgen Blänsdorf (Mainz); Prof. Dominik Burkard (Würzburg); Prof. Thorsten Burkard (Kiel); Prof. Klaus Döring (Bamberg / Freiburg); Prof. Wolfgang Ehrhardt (Freiburg); Dr. Stefan Faller (Freiburg); Dr. Jörg Fündling (Aachen); Prof. Felix Heinzer (Freiburg / Hamburg); Prof. Hans H. Hubert (Freiburg); Prof. Wolfgang Hübner (Münster); Prof. Detlef Liebs (Freiburg); Prof. Wolfgang Mieder (Burlington, Vermont); Prof. Eckart Olshausen (Stuttgart); Prof. Wilfried Stroh (München); Prof. Alois Winterling (Berlin). Herzlicher Dank gilt den Herausgebern der ‚Frühen Neuzeit‘ (besonders Prof. Dr. Achim Aurnhammer) für die Aufnahme der Abhandlung in die angesehene Reihe, der Stiftung ‚Humanismus heute‘ des Landes Baden-Württemberg, beson-
Vorwort
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ders ihrem Vorstandsmitglied Prof. Dr. Dr. h. c. Bernhard Zimmermann, für einen Zuschuß zu den Druckkosten, Robert Forke für bibliographische Hinweise und geduldige Betreuung des nach den Richtlinien der Reihe einzurichtenden Manuskripts sowie Florian Ruppenstein für die Erstellung der wie immer vorzüglichen Druckvorlage.
Inhalt Vorwort VIII A. Einführung 1 I. Der Autor 1 II. Das literarische Genus 9 1. Antike 9 2. Frühe Neuzeit 11 a) Überblick 12 b) Du Bellay: Hymne de la surdité – ein Vorgänger 13 c) Passerat: De cæcitate oratio – eine Parallele 14 d) Schoock: Laus fumi – ein zweites Paradoxenkomium 16 III. Die Quellen 29 1. Griechische Quellen 29 2. Römische Quellen 29 3. Humanistische Quellen 29 4. Umgang mit Quellen 32 IV. Die Zeugen 33 1. Antike Zeugen 33 2. Neuere Zeugen 35 V. Die Form 35 1. Titel 35 2. surdus und surdaster 36 3. Redecharakter 37 4. Adressaten 37 5. Überlegene Ironie 38 6. Irreale Erwägungen 39 VI. Der Gehalt 40 1. Relativer Wert der Ohren 40 2. Absoluter Wert der surditas 41 3. Beherrschte Männer und schwatzhafte Frauen 43 4. Göttlicher Ursprung der surditas 45 5. Persönliche Wurzel? 46 VII. Der Text 47 B. Original und Übersetzung 50/51 C. Interpretation 84 D. Literatur 146
A. Einführung „Als vielseitig gebildeter Mann, dessen Feder nur selten ruhte, ist er den scharfsinnigsten Gelehrten seiner Zeit beizuzählen.“1
I. Der Autor Martin Schoock / Martinus Schoockius gehört in die stattliche Reihe niederländischer Humanisten, die im 16. und 17. Jahrhundert eine gewichtige Sektion des europäischen Geisteslebens gebildet haben. Ungeachtet seines vielseitigen gelehrten Schrifttums und seiner angesehenen Wirkungsstätten und Ämter hält sich die Forschungsliteratur zu ihm in Grenzen. Zu nennen sind vor allem mehrere Überblicksartikel: Jöcher 1751 (Bd. 4), Sp. 330–331; van der Aa 1874, S. 396–403; van Slee 1891, S. 324–325; Knipscheer 1937, S. 889–891; Haitsma Mulier / van der Lem 1990, S. 368–369; Krop 2003, S. 890–895; Verbeek 2015, S. 668–669. Hinzu treten für die letzten Lebensjahre in Frankfurt / Oder Noack / Splett 2001, S. 433.2 Zu der im folgenden behandelten Schrift Surditatis encomium ist überhaupt nur eine – mehr darstellende als erklärende – Behandlung zu nennen: Sari Kivistö in dem Buch Medical Analogy in Latin Satire.3 Aus den genannten Quellen ergibt sich folgendes Bild. Die Lebensdaten sind 1614–1669.4 Geburtsort ist wahrscheinlich Zaltbommel (nach anderen Utrecht).5 Der Vater der Mutter, Antony van Voorst, ein gelehrter Mann, war der erste Lehrmeister.6 Besuch der Hieronymusschule in Utrecht und Studium ab 1629 in Franeker, ab 1632 in Leiden und bald darauf in Utrecht verschiedener Fächer: Recht,7 Literatur, Philosophie und Theologie. 1636 erwarb Schoock, als die hohe Schule
1 Van Slee 1891, S. 325. 2 Neuere Literatur gibt es vor allem zu der Auseinandersetzung mit Descartes, die Aufsehen erregt hatte: ▸ S. 3. 3 2009, S. 120–127. 4 Wohl irrtümlich Kivistö 2009, S. 120: 1667. 5 Van Slee 1891, S. 324; Krop 2003, S. 890. Über die Vorfahren ausführlich Knipscheer 1937, S. 889. 6 Jöcher 1751, Sp. 331. 7 Hierzu weiß Jöcher 1751, Sp. 331 zu berichten: „Seine Freunde, welche eiffrige Remonstranten waren, wolten einen Juristen aus ihm haben, und schickten ihm daher lauter juristische Bücher nach Franecker; er vertauschte sie aber alle heimlich gegen theologische Bücher, und legte sich von seinem 15 Jahre an mit allem Ernst auf die Theologie.“ Immerhin nennt ihn van Slee 1891, S. 324 u. a. einen ‚Juristen‘. https://doi.org/10.1515/9783110731804-002
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A. Einführung
zu einer Universität erhoben wurde, als erster den Doktorgrad für Philosophie.8 16389 wurde er außerordentlicher Professor Historiarum, Eloquentiae, Linguae graecae, Geographiae in Deventer. In demselben Jahr erschien die erste große theologische Streitschrift, und zwar gegen den von Libertus Fromondus10 herausgegebenen Augustinus des verstorbenen Jansenius:11 Desperatissima causa Papatûs, nuper misere prodita, nunc turpiter deserta a Cornelio Jansenio, Episcopo Iprensi; et postremo magno auctario locupletata a Liberto Fromondo: auctore M. Schoockio (Amsterdam 1638).12 Mehrere Jahre später legte Schoock noch einmal nach: Auctarium ad desperatissimam causam Papatûs, seu Responsio ad Epistolam Fromondi (Utrecht 1645).13 In Deventer kam es überdies zu Streitigkeiten mit dem Kollegen Gijsbrecht ab Isendoorn (1601–1657),14 bezüglich deren Isaac Vossius (1618–1689) ein ungünstiges Urteil über Schoock fällte.15 Während der längsten kontinuierlichen Tätigkeit war Schoock 1640–1666 Professor Ordinarius für Logik und Physik in Groningen (als Nachfolger von Franciscus Meijvart). Zweimal war er Rector magnificus der Universität (1643–1644 und 1654–1655). Hier wurde er in den Streit zwischen dem niederländischen reformierten Theologen Gijsbert Voet / Gisbertus Voetius (1589–1676), bei dem Schoock in Utrecht studiert hatte,16 und dem französischen Philosophen René Descartes / Renatus Cartesius (1596–1650) hineingezogen – vor allem durch die Schrift Philosophia Cartesiana, sive admiranda methodus novæ philosophiæ Renati Des Cartes (Utrecht 1643),17 zu der Voetius eine Vorrede schrieb.18 Schoock
8 Van Slee 1891, S. 325. 9 Veerbek 2015, S. 668. 10 Libert Froidmont (1587–1653). 11 Cornelius Jansen(ius) (1585–1638), niederländischer katholischer Theologe, der in seinem Hauptwerk Augustinus (postum, drei Bände, Löwen 1640) eine lange umstrittene, stark augustinisch orientierte Gnadenlehre vertrat. Von ihm ging der sog. Jansenismus aus. 12 Van der Aa 1874, S. 398. 13 Van der Aa 1874, S. 398. Diese Schrift wurde später in Rom auf den Index gesetzt: ▸ weiter unten S. 4. 14 Krop 2003, S. 890. 15 Knipscheer 1937, S. 890. 16 Van Slee 1891, S. 324. Nach Knipscheer 1937, S. 890 war Schoock einer der eifrigsten, doch folgsamsten von Voetius’ Studenten; der 47jährige Professor und der 20- bis 22jährige hätten zusammen gekämpft („een der ijverigste, tevens volgzaamste van Voetius’ leerlingen. Samen bestreden zij, de 47-jarige professor en de 20 à 22-jarige“). 17 Van der Aa 1874, S. 398; Krop 2003, S. 893. 18 Zu diesem Komplex: Van Slee 1891, S. 325; Krop 2003, S. 890, ferner detailliert Verbeek 2015, S. 668–669 (dort ein ausgewogenes Urteil über Schoocks Kritik an Descartes).
I. Der Autor
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bezichtigte Descartes geradezu des Atheismus,19 worauf der Angegriffene eine Klage auf Ehrenerklärung bei der Groninger Stadtregierung einreichte. Schoock wurde zum Widerruf seiner Anklage gezwungen. Er behauptete jedoch, mehrere Descartes verletzende Stellen in seiner Abhandlung seien durch einen Schüler von Voetius gefälscht worden.20 Zwar veröffentlichte er später die vermittelnde Schrift Deductio causæ Cartesiano-Voetianæ (Groningen 1646),21 doch war das freundschaftliche Verhältnis mit Voetius beendet. Der Fehde mit Descartes wurde in neuerer Zeit wieder Aufmerksamkeit zuteil. Hier sind vor allem drei Untersuchungen zu nennen: Theo Verbeek: La Querelle d’Utrecht. René Descartes et Martin Schoock (Paris 1988); Johannes A. van Ruler: Descartes and Schoock. An analysis of Cartesian natural philosophy in the face of an Aristotelian critique (Utrecht 1988)22 sowie René Gude: Schoock versus Descartes. De bruikbaarheid van het Cogito (Diss. Utrecht 1990). Die Auseinandersetzung mit Voetius ging weiter,23 insofern Schoock diesem gegenüber bei den Meinungsverschiedenheiten, die sich in Utrecht über den Besitz der Kapitelgüter herausgebildet hatten, behauptete, nicht die Kirche, sondern die weltliche Obrigkeit sei der rechtmäßige Besitzer derselben. Zwei Schriften sind diesem umstrittenen Thema gewidmet, deren zweite im Titel auf die erste Bezug nimmt: Liber de bonis vulgo Ecclesiasticis dictis, itemque de canonicis atque speciatim Ultrajectinis […] (Groningen 1651),24 sowie: Dissertatio politico-historica de bonis, vulgo Ecclesiasticis dictis, in genere: sive apologia pro persona Martini Schoockii ejusque libro […] (ebenfalls Groningen 1651).25 Nach diesen Querelen ist es nicht verwunderlich, daß Veröffentlichungen Schoocks in Rom auf den Index gesetzt wurden.26 Es handelt sich um folgende Schriften:27 1. Tractatus de pace: speciatim de pace perpetua, quæ fœderatis Belgis singulari Dei munere contigit: expendens hujus tum prospera, tum adversa
19 “What one finds in Descartes would be a particular brand of atheism (‘subtle atheism’), which consists in presenting usually weak arguments for the existence of God, while doing everything to undermine religion” (Verbeek 2015, S. 668). 20 Van Slee 1891, S. 324–325. 21 Van der Aa 1874, S. 398. 22 Von diesem Autor ist zu den Auseinandersetzungen ferner zu vergleichen: The Crisis of Causality. Voetius and Descartes on God, Nature and Change (Leiden 1995). 23 Van der Aa 1874, S. 397; van Slee 1891, S. 324–325; Haitsma Mulier, van der Lem 1990, S. 368– 369; Krop 2003, S. 890–891. 24 Van der Aa 1874, S. 399 (ungenau zitiert). 25 Van der Aa 1874, S. 399 (ungenau zitiert). 26 Van der Aa 1874, S. 402. Dominik Burkard werden wertvolle Hinweise verdankt. 27 Zu 1–3 ist Reusch 1885, S. 94, zu 3 auch Wolf 2010, S. 707–708 zu vergleichen.
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A. Einführung
(Amsterdam 1650):28 verboten 1662.29 2. Auctarium ad desperatissimam causam Papatûs, seu Responsio ad Epistolam Fromondi (Utrecht 1645):30 verboten 1700.31 3. Dissertatio singularis de Maiestate ad disputandum publicè in Academia Groningæ & Omlandiæ (Groningen 1659): verboten 1709. Überdies werden ‚Opera omnia‘ genannt: verboten 1661.32 Schließlich gab es noch eine Wende33 in Schoocks akademischem Leben, insofern er durch den Großen Kurfürsten zum Hofhistoriographen sowie Honorarprofessor an der Universität Frankfurt / Oder bestellt wurde. Ein ehemaliger Schüler, der Brandenburgische Hofprediger Johann Kunsch von Breitenwald (1620–1681) hatte ihn dem Großen Kurfürsten als Hofhistoriographen empfohlen.34 Seine Aufgabe bestand vor allem darin, eine „richtige und vollkommene Historie der Churfürsten und Marggrafen zu Brandenburg“ zu verfassen. Somit wurde Schoock 1666 zum Kurfürstlichen Rat und Honorarprofessor an der Universität Frankfurt / Oder ernannt. Verbunden mit diesem Amt war das Recht, „an allen Fakultäten lesen zu dürfen und zu öffentlichen Anlässen den Vorrang zu allen anderen Professoren beanspruchen zu können“35 – nach mancherlei Querelen ein besonders ehrenvoller Abschluß der langen Karriere. Die Handbücher und allgemeinen Darstellungen nennen kein Datum für den Beginn der Kontakte zwischen Schoock und dem Kurfürstentum Brandenburg. Hier sei hingewiesen auf die sorgfältig abgefaßte Widmung der zweiten Auflage der Schrift Tractatus de Butyro von 166436 an Otto Graf von Schwerin (1645–1705), der Kurbrandenburgischer Geheimer Rat und Sohn des gleichnamigen Otto Graf von Schwerin (1616–1679) war, des ersten Ministers und Ober-
28 Krop 2003, S. 894. 29 Also schon zu Schoocks Lebzeiten. 30 Van der Aa 1874, S. 398. 31 Zu diesem Verbot teilt Dominik Burkard mit: „Die Frage nach dem Grund drängt sich auf, weil Jansenius’ ‚Augustinus‘ ja selbst auf dem Index stand. Ich sehe zwei Möglichkeiten: Schoock wurde entweder indiziert, weil man in seiner Schrift tatsächlich ebenfalls zu beanstandenden Inhalt fand, oder weil er gegen das generelle Verbot verstieß, über die heftig umstrittene Gnadenfrage zu publizieren.“ 32 So der Index librorum prohibitorum, Romae 1948 / 1966 (Nachträge). Sowohl die ‚Liste‘ (1948) als auch der tabellarische ‚Index Librorum Prohibitorum‘ (1966) führen von Schoock ‚Opera Omnia‘ (1661) auf. 33 Über den Weggang aus Groningen ist allerlei Gerede überliefert. In der neuesten Publikation zu diesem Thema heißt es: “plagued by financial problems and a deserved reputation of alcoholism, he fled to Frankfurt on the Oder to become professor of history” (Verbeek 2015, S. 668). 34 So Noack / Splett 2001, S. 433. 35 Noack / Splett 2001, S. 433. 36 Zu dieser ▸ unten S. 8.
I. Der Autor
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präsidenten des Wirklichen Geheimen Rates der Kurmark Brandenburg. Der von 1663 stammenden Widmung ist zu entnehmen, daß der 18jährige Sohn in diesem Jahr nicht ganz sechs Monate bei Schoock in Groningen studiert, jedenfalls mit ihm Umgang gepflogen hat und dieser sich bedankt, daß er dem jungen Mann ‚Dienste‘ (officia) leisten durfte – darauf vertrauend, daß seine ‚Ermahnungen‘ (monita) so beschaffen gewesen seien, daß sie auch in reiferem Alter nützen könnten (ut maturiori quoque ætate prodesse queant).37 Es handelt sich offenbar unter anderem um Ethik-Unterricht (auch in einer persönlichen Form?). Der junge Graf setzte seine Studien bzw. Bildungsaufenthalte, wie man wohl besser sagen muß, nach Heidelberg, Leiden und Groningen in Frankfurt / Oder fort. Es ist klar, daß in der Begegnung von 1663 die 1666 erfolgte Berufung Schoocks nach Frankfurt ihre primäre Wurzel hat. Schoock starb schon bald, 1669, in dem neuen Wirkungsort. Sein Sohn Isaac Schoock (1650 / 1651–1681) wurde später daselbst ebenfalls Universitätsprofessor,38 und zwar „der practischen Philosophie ordentlicher und der Natur-Geschichte außerordentlicher Professor.“39 Schoocks reiches Berufsleben war mit einer breiten Bildung und Praxis verbunden. Er war ein unruhiger Geist und erwies sich „zwar als ein höchst gelehrter, zugleich aber auch anmaßender, leicht gereizter und streitsüchtiger Mann, was ihm viele Verdrießlichkeiten zuzog.“40 Vossius nannte ihn eine impudentissima
37 Schoock 2008, S. XXII. In ebenso brillanter wie unbescheidener Weise formuliert Schoock seinen werbenden Dank, indem er einen längeren Passus aus Ciceros Brief Ad familiares 2, 1, 2 (53 v. Chr.) an Gaius Scribonius Curio († 48 v. Chr.) wörtlich zitiert: te rogo, ut memineris, quantaecumque tibi accessiones fient et fortunae et dignitatis, eas te non potuisse consequi, nisi meis puer olim fidelissimis atque amantissimis consiliis paruisses. quare hoc animo in nos esse debebis, ut aetas nostra iam ingravescens in amore atque in adulescentia tua conquiescat [„Ich bitte dich, daß du, wie großes Glück und Ansehen dir auch zuwachsen werden, dessen eingedenk sein wirst, daß du das nicht hättest erreichen können, wenn du als Jüngling nicht einst meinen höchst getreuen und teilnehmenden Ratschlägen Folge geleistet hättest. Daher wirst du von der Gesinnung gegen mich sein müssen, daß mein schon beschwerlich werdendes Alter in deiner Liebe und Jugend Ruhe findet“]. Das ist eine versteckt-offene, indirekt-direkte Bewerbung! Am Ende der Widmung spielt Schoock auf die Herkunft von dem berühmten Vater an und bezeichnet den Sohn als Διογενής (‚von Zeus abstammend‘), ja Διοτρεφής (‚von Zeus erzogen‘: bei Homer Beiwort der Könige und der Vornehmsten, weil diese unter Zeus’ besonderem Schutz standen)! 38 Zu Isaac Schoock ▸ Noack / Splett 2001, S. 433–439. Das VD 17 nennt eine reiche Palette von Veröffentlichungen (▸ auch die nächste Anm.). 39 Zedler 1743, Sp. 994. 40 Van Slee 1891, S. 324.
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A. Einführung
bestia.41 Auch sein Privatleben war nicht immer geordnet. „Nach dem Tode seiner ersten Gattin, Angelica van Merck, von welcher er sieben Söhne und eine Tochter hatte, gerieth er in Geldnöte. Er ging jetzt eine zweite Ehe ein mit einer Wittwe, welche er, wie sie ihn, für reich gehalten hatte, worin sich beide betrogen.“42 Schoocks Schrifttum ist weitläufig, die verschiedensten Themen aufgreifend.43 Van der Aa betont „het overgroot aantal werkjes, welke zijn naam dragen, de meest uit een loopende onderwerpen betreffen; het pausdom zoowel als eijeren, haring, boter, kaas, den Munsterschen vrede enz.“44 Das ist eine bunte Reihe von Sachgebieten, die fast komisch klingt. Aber es handelt sich fast durchweg um hochwissenschaftliche Abhandlungen. Zudem wird hier ein wichtiger Grund für die Themenvielfalt genannt: Es waren vielfach laufende Verpflichtungen, die Schoock von Amts wegen auf sich nehmen mußte.45 Selbst im Alter sollte sich das nicht ändern. So hat er etwa in der Frankfurter Zeit zwei Trauerschriften über hochgestellte Frauen verfaßt, die 1666 und 1667 veröffentlicht wurden.46 Ein ebenso wertvolles wie merkwürdiges Zeugnis für Schoocks offenbar auffälliges Aussehen könnte eine zeitgenössische Anspielung von Jakob Balde sein,47 der im Torvitatis encomium48 (1658) 22, 8–11 folgende Feststellung trifft, mit der er zugleich den Stil charakterisiert:49
41 Van der Aa 1874, S. 398. 42 Van Slee 1891, S. 325. Insgesamt hatte Schoock von Angelica van Merck eine beträchtliche Anzahl Kinder; da nicht alle überlebten, differieren die Angaben. Knipscheer 1937, S. 891 spricht von 11 Söhnen und 4 Töchtern, von denen 5 Söhne und 3 Töchter noch lebten, als Angelica van Merck starb. Schoock selbst erwähnt in der 1664 erschienenen Diatriba de aversatione casei (▸ S. 8) am Ende des ersten Kapitels, daß von seinen Kindern durch Gottes Segen noch 8 überleben (Schoock 2008, S. 107–108). 43 Allein “from the period between 1646 and 1651 no less than 75 disputations are preserved” (Krop 2003, S. 891). ▸ auch Verbeek 2015, S. 668. Das ausführlichste Schriftenverzeichnis bietet van der Aa 1874, S. 398–402, das überdies insofern wertvoll ist, als öfter den Titeln kurze Kommentare beigefügt und gegebenenfalls weitere Auflagen genannt sind. Informativ auch Krop 2003, S. 893–894. 44 1874, S. 397. 45 Hierzu sind etwa die Oratio in obitum Joannis Borgesii, professoris Groningani (Groningen 1652) oder die Oratio funebris in obitum Joannis Steenbergii in Academia Groningana Antecessoris primarii (Groningen 1653) (van der Aa 1874, S. 399) zu zählen. Das gehörte zu den Aufgaben eines Professors der Eloquenz. 46 Sie werden im VD 17 zu Marten Schoock genannt. 47 Sofern mit Schockus (in der zugehörigen Oeconomia wird er Marcus Schockus genannt) Martin Schoock gemeint ist. Nach Kivistö 2009, S. 157 ist das der Fall. 48 ‚Lob des finsteren Aussehens‘. Die Schrift ist ein ‚Paradoxenkomion‘ (Stroh 2006, S. 235). 49 Zitiert nach der Erstausgabe 1658.
I. Der Autor
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Quam dabit in medium Schockus, cui polypus ingens Auctus vi Lunae, nasum facit esse trabalem; Lectorem doctum poscens, armatur echino: Injiciétque metum, serráque secabit acutâ.
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[(Eine Art der Satire) Wie sie Schockus veröffentlichen wird, dem ein gewaltiger Polyp, vergrößert durch des Mondes Wirkung, die Nase zum Balken macht; er fordert einen gelehrten Leser und ist mit einem Igel bewaffnet: Und er wird Furcht einjagen und mit scharfer Säge schneiden.]
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Hier wird Schoocks50 martialisches Gesicht51 mit der Schärfe seiner Satire52 in Verbindung gebracht.53 Das ist ganz im Sinn des Torvitatis encomium gesagt, in dem der Gedanke erörtert wird, „daß ein mißgestalteter Körper, ein häßliches Aussehen kein Zeichen einer unweisen Seele sei, daß vielmehr ernste, strenge und dabei häßliche Gesichtszüge bei den tüchtigsten Philosophen, Ärzten, Mathematikern und Dichtern sich vorfinden.“54 Zu diesen wird hier auch Schoock gerechnet! Baldes Charakterisierung seiner Schreibart dürfte nicht die wenigen ‚literarischen‘, sondern vor allem die wissenschaftlichen Werke im Blick haben – vor allem seinen Hang zur Polemik. Auf diesem Hintergrund könnte eine Bemerkung von van der Aa zu verstehen sein, der Schoocks ausführliche Würdigung mit folgender Bemerkung beschließt: „Men wil dat hij zeer satyriek was.“55 Dieser Ruf war offenbar bis nach Neuburg an der Donau gedrungen.56
50 Kivistö 2009, S. 156 paraphrasiert: “who […] had a huge polyp on his nose”. Zum Verständnis des Polyps mag eine ältere medizinische Terminologie zu Rat gezogen werden: „gestielte Geschwulst mit verjüngter Basis des Stiels“ (Roth 1908, S. 517). Die lustige Feststellung, daß der Auswuchs durch den Mond besonders auffällig war, gehört zum Stil der Satire, in der auch Balde exzellierte. Zu vi Lunæ teilt Wilfried Stroh mit: „Fast sicher bin ich mir, dass die ‚Kraft des Mondes‘ nicht im Mondschein besteht. Noch heute glauben viele, dass der Mond Pilze wachsen lässt.“ 51 Diese Charakteristik steht in scharfem Kontrast zu der Aussage des Epigramms, das dem Amsterdamer Porträt beigegeben ist (▸ S. IX–X). 52 Der Igel ist bei Balde (▸ Expeditio 40) ein Symbol für die angriffslustige Satire Juvenals (▸ Lefèvre 2017, S. 214). 53 In der Oeconomia des Torvitatis encomium wird Schoock ein hirsutus vir genannt (hirsutus = ‚struppig‘, ‚rauh‘, ‚stachelig‘), was sich – gemäß dem Thema der Schrift – zugleich sowohl auf das Aussehen als auch auf das Werk bezieht. 54 Bach 1904, S. 99. 55 1874, S. 398 (Sperrung ad hoc). 56 Am Schluß stehe eine skurrile Nachricht: „Er soll anfangs keine Gespenster geglaubt, hernach aber, als er durch eigne Erfahrung überzeugt worden, seine Meinung geändert haben“ (Jöcher 1751, Sp. 331; die Mitteilung fast wörtlich schon bei Zedler 1743, Sp. 995).
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A. Einführung
In neuester Zeit haben neben Schoocks Auseinandersetzung mit Descartes drei Schriften allgemeinen Charakters Interesse geweckt, die die nicht alltäglichen Themen Torf, Butter bzw. Käse sowie Störche zum Gegenstand haben. Mit dem Tractatus de Turffis, seu de cespitibus bituminosis (Groningen 1658 und 1660)57 befassen sich anläßlich einer Ausstellung in Groningen Jan D. R. van Dyck und Willem R. Foorthuis: Martinus Schoockius, Tractatus de Turffis 1658. Martin Schoock en zijn beschrijving van het turfgraven in de Hoogvenen (Groningen 1984).58 Der Verein Milch & Kultur Rheinland und Westfalen e. V. (Köln) hat sich Schoocks Tractatus de Butyro (Groningen 1661 und 1664)59 entsonnen und zwar dessen zweiter Auflage, der eine Diatribe über die Abneigung gegen Käse beigefügt ist: Martini Schoockii Tractatus de Butyro. Accessit ejusdem Diatriba de Aversatione Casei, Hac altera Editione aucta & vindicata (Groningen 1664). Der moderne Titel der bibliophilen Ausgabe lautet: Martin Schoock, Von der Butter / Von der Abneigung gegen den Käse, Köln 2008 (Übersetzung und wichtige Anmerkungen von Siegfried Kratzsch). Der umfangreiche Band zeigt eindrucksvoll, daß Schoock auch scheinbar randständige Themen aus damaliger Sicht hochwissenschaftlich behandelt. Schließlich ist der Tractatus de Ciconiis (Groningen 1660, Amstelodami 1661)60 von Gerard van der Waa und Piet de Bakker in das Niederländische übersetzt worden: Martinus Schoockius, De Ciconiis Tractatus – Over de ooievaar (Soest 2017). Diese drei Werke des gelehrten Humanisten haben keineswegs feuilletonistischen Charakter, sondern behandeln ihre Gegenstände jeweils in sachlicher, ja gelehrter Hinsicht. Groningen war ein Zentrum des Torfhandels, so daß die Schrift über Torf und Torfgewinnung auf Interesse stieß (und bis ins 19. Jahrhundert Beachtung fand). Dasselbe gilt für die Butter,61 und bei den Störchen wird es nicht anders gewesen sein.
57 Van der Aa 1874, S. 400. 58 Zu diesem und den beiden folgenden Titeln ist das Literaturverzeichnis zu vergleichen. 59 Van der Aa 1874, S. 400. 60 Van der Aa 1874, S. 400. 61 So betont Schoock im 19. Kapitel der Schrift De butyro, der Handel mit Butter blühe in Groningen besonders, weil das Gebiet von Omlandia (▸ S. X) wegen der unermeßlihen Anzahl von Kühen und der Üppigkeit der Weiden eine große Menge dieses Fettes liefere (Schoock 2008, S. 62).
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II. Das literarische Genus Nach dem vorstehenden Überblick über Schoocks Leben und Schriften überrascht es kaum, daß dieser scharfsinnige ungewöhnliche Wege beschreitende Geist mit der lobenden Betrachtung der positiven Seiten der Schwerhörigkeit einen charakteristischen Beitrag zu der bei den Humanisten beliebten LaudesLiteratur, insonderheit zu den provozierenden Paradoxenkomien, verfaßt hat.62
1. Antike Anregungen bezogen die Humanisten gemäß ihrer allgemeinen Einstellung aus der Antike. Daß man schon früh Götter, Herrscher, militärische oder sportliche Siege pries, entsprach einem allgemeinen menschlichen Bedürfnis. Aber je aufgeklärter das Denken wurde, desto mehr trat an die Stelle von Göttlichem, Höfischem, Militärischem oder Sportlichem die stille Betrachtung der Welt, der Tugend oder der Freundschaft. In dem Maß, in dem überdies die Lust an der Formulierung stieg, kurz gesagt: die Rhetorik eine narzistische Rolle zu spielen begann, gewannen auch bisher abgelegene Themen an Bedeutung.63 Die Ausformung und Entwicklung ironischer / satirischer Lobrede in der Antike (und später) sind u. a. von Adolf Hauffen,64 Arthur Stanley Pease,65 Henry Knight Miller66 und Annette H. Tomarken67 kenntnisreich dargestellt worden. Darauf wird verwiesen. Es ist hinsichtlich Schoocks Rede zu beachten, daß zwischen den Laudes / Encomia auf unbedeutende und solchen auf allgemein als
62 In der Sammlung der Reden von 1650 findet sich ferner eine Verteidigung des Rauches (Überschrift: Fumi laudes prædicans, p. 305–326), weniger existentiell als das Surditatis encomium, aber ebenso trefflich doppelsinnig und pointiert: ▸ dazu S. 16–28. 63 Das hat von Arnim 1898, S. 12 bei dem griechischen Rhetor Gorgias von Leontinoi aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. gut beschrieben: „Neben den großen ἐπιδείξεις politisch-symbuleutischen Inhalts verfaßt er παίγνια, d. h. Reden, die an einem willkürlich gewählten und an sich bedeutungslosen Gegenstand die formale Kunst des Redners zur Schau stellen und zugleich dem Hörer oder Leser Unterhaltung bieten sollen. Hauptsächlich sollen diese παίγνια die sophistische Kunst des Lobens und Tadelns in Musterstücken veranschaulichen: die Macht der Rede, das kleine groß, das große klein, das gute bös, das böse gut erscheinen zu lassen. Die sogenannten ἄδοξοι ὑποθέσεις bieten die beste Gelegenheit, für diese Kunst des Redners Reclame zu machen.“ In dieser Hinsicht sind die Humanisten den alten Sophisten verwandt. 64 1893, S. 161–185. 65 1926, S. 28–42. 66 1956, S. 145–151. 67 1990, S. 3–27.
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negativ geltende Gegenstände zu unterscheiden ist. Bei den letzten spricht man von Paradoxenkomien (die frühere Forschung68 bevorzugte die Bezeichnung ‚Ironische Enkomien‘69). Aus der ersten Gruppe, die unterhalten will, sind etwa das Lob der Fliege (Μυίας ἐγκώμιον) von Lukian aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. oder das Lob der Mücke (Culex), das unter Vergils Namen überliefert ist, aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. zu nennen, aus der zweiten Gruppe, die provozieren will, etwa das Lob des Thersites, des zänkischen aus Homers Ilias bekannten griechischen Kämpfers vor Troja, (Θερσίτου ἐγκώμιον) von Libanios aus dem vierten Jahrhundert n. Chr. oder das Lob der Kahlköpfigkeit (Φαλάκρας ἐγκώμιον) von Synesios von Kyrene um 400 n. Chr. Diese vier und eine ganze Reihe anderer bekannter Beispiele sind in Dornavius’ Amphitheatrum Sapientiæ Socraticæ IocoSeriæ von 161970 abgedruckt.71 Ein Autor ist – im Hinblick auf Schoock – besonders zu erwähnen: Marcus Tullius Cicero, in dessen fünftem Buch der Tusculanae Disputationes [‚Gespräche in Tusculum‘] sich eine knappe positive Wertung der surditas findet. Diese hat auch Schoock gekannt und mehrfach sowohl wörtlich als auch sinngemäß aufgenommen. Da es sich gewissermaßen um einen ‚Grundtext‘ handelt, wird er hier wiedergegeben: (116) in surditate vero quidnam est mali? erat surdaster M. Crassus, sed aliud molestius, quod male audiebat, etiamsi, ut mihi videbatur, iniuria. Epicurei nostri, Graece fere nesciunt nec Graeci Latine. ergo hi in illorum et illi in horum sermone surdi, omnesque item nos in iis linguis quas non intellegimus, quae sunt innumerabiles, surdi profecto sumus. ‚vocem citharoedi non audiunt.‘ ne stridorem quidem serrae, tum cum acuitur, aut grunditum, cum iugulatur, suis nec, cum quiescere volunt, fremitum murmurantis maris; et si cantus eos forte delectant, primum cogitare debent, ante quam hi sint inventi, multos beate vixisse sapientes, deinde multo maiorem percipi posse legendis his quam audiendis voluptatem. (117) tum, ut paulo ante caecos ad aurium traducebamus voluptatem, sic licet surdos ad oculorum. etenim qui secum loqui poterit sermonem alterius non requiret. [(116) Was für ein Übel liegt denn wirklich in der Schwerhörigkeit? M. Crassus war leicht schwerhörig, aber etwas anderes war ihm lästiger, daß er nämlich Schlechtes über sich hörte – wenn auch, wie mir schien, zu Unrecht. Unsere Epikureer verstehen so ziemlich kein Griechisch und die Griechen so ziemlich kein Latein. Also sind diese in der Sprache jener und jene in der Sprache dieser schwerhörig, und wir alle sind ebenso in denjenigen
68 Z. B. Hauffen 1893. 69 Dieser Terminus ist unzureichend, weil er ernstgemeinte Züge (wie sie auch im Surditatis encomium anzutreffen sind) ausschließt. 70 ▸ dazu S. 13. 71 Weitere Sammelwerke nennt Miller 1956, S. 152.
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Sprachen, die wir nicht verstehen, welche unzählbar sind, in der Tat schwerhörig. ‚Sie hören (aber) nicht die Stimme des Kitharöden‘ – nicht einmal das Kreischen der Säge, dann, wenn sie geschliffen wird, oder das Grunzen des Schweins, wenn es geschlachtet wird, noch hören sie, wenn sie ruhen wollen, das Brausen des rauschenden Meeres; und wenn sie vielleicht Gesänge erfreuen, müssen sie erstens bedenken, daß viele Weise glückselig gelebt haben, bevor die erfunden wurden, und sodann, daß man viel größeres Vergnügen empfinden kann, wenn man sie liest, als wenn man sie hört.72 (117) Ferner, wie wir weiter oben die Blinden zum Vergnügen der Ohren hingeführt haben, so kann man die Schwerhörigen zu dem (Vergnügen) der Augen führen. Denn wer mit sich selbst sprechen kann, wird nicht nach dem Gespräch mit einem anderen verlangen.]
An diesen Ausführungen73 konnten die Humanisten nicht vorübergehen. Es verdient Beachtung, daß Jean Passerat in der De cæcitate oratio74 den bei Cicero vorhergehenden Passus § 111–115 über die caecitas / Blindheit hervorgehoben hat: Cæcitatis caussam grauiter, copiosè & ornatè Ciceronem egisse, me non latet [„Daß Cicero über den Fall der Blindheit gewichtig, gedankenreich und vortrefflich gehandelt hat, ist mir nicht entgangen.“].75
2. Frühe Neuzeit Mit dem Aufkommen der Antikebegeisterung in der Zeit der Renaissance und des Humanismus erwachte auch das Interesse für die antike Laudes-Literatur, die man in verschiedener Hinsicht zum Vorbild für eigene Produktionen nahm. Man pflegte sie überwiegend in lateinischer Sprache. Von den bereits genannten Forschern hat Hauffen die deutsche, Miller die englische und Tomarken die französische Literatur schwerpunktmäßig miteinbezogen.
72 Dazu Douglas 1990, S. 165: “a reminder that the words of ancient lyric were considered much more important than the accompanying music.” 73 Es handelt sich nicht (nur) um das Bekenntnis persönlichen Denkens durch Cicero: Er wollte vor allem zeigen, wie die verschiedenen philosophischen Systeme – hier: die Epikureer – ein Recht haben, die Unabhängigkeit des Weisen von dem äußeren Schicksal zu behaupten: ▸ Heine 1896, S. 100. Zum Zusammenhang der einzelnen Argumente in dem Passus 82b–120 und ihrem philosophischen Gewicht ▸ Lefèvre 2008, S. 167–177. Der genannte Crassus ist Marcus Licinius Crassus (115–53, Konsul 70 und 55). 74 ▸ S. 14–16. 75 1597, S. 10.
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a) Überblick Wie in der Antike nimmt die Laudes-Literatur in der Neuzeit Gegenstände mit geringer Reputation in den Blick, welche die Autoren jeweils mit oft spitzfindigen Argumenten als beachtenswert, wenn nicht als ansprechend oder gar wertvoll vorführen. Es ist überraschend festzustellen, daß auch die bedeutendsten Neulateiner diesem Genus huldigten, etwa Philipp Melanchthon (1497–1560) mit dem Encomium formicæ (Ameise), Jean Passerat (1534–1602) mit der Laus asini (Esel), Justus Lipsius (1547–1606) mit der Laus elephantis (Elephant) oder Daniel Heinsius (1580–1655) mit dem Encomium pediculi (Laus) – vermögen doch diese auf den ersten Blick wenig angesehenen, wenn nicht gar störrischen oder beißfreudigen Tiere nach Meinung der Autoren auch durchaus Positives zu bewirken. Es geht darum, das scheinbar Unbedeutende als in Wahrheit bedeutend, jedenfalls beachtenswert zu erweisen Das kann ganz amüsant sein – man kann aber auch versucht sein zu sagen: “Many of the paradoxical encomia are trite and foolish”.76 Von diesen ‚Ehrenrettungen‘ ist das echte Paradoxenkomium zu unterscheiden, wie es in der Neuzeit Erasmus von Rotterdam 1509 mit dem genialen Encomium moriæ (Laus stultitiæ)77 geschaffen hat, das großes Aufsehen erregte und gewissermaßen zum Archetyp einer neuzeitlichen Gattung wurde. Ihm folgte bald Willibald Pirckheimer 1523 mit der Apologia podagræ nach, die ihrerseits eine eigene Gattung begründete,78 welche über Johann Fischarts Podagrammisch Trostbüchlein (1577) bis zu Jakob Baldes Solatium podagricorum (1661)79 reicht. Torheit und Podagra sind eindeutig negative bzw. von den meisten Menschen als negativ empfundene Erscheinungen. So dachte man jedenfalls. Aber die Autoren argumentierten in überraschender, oft spitzfindiger Weise anders. Hierher gehören etwa von Jean Passerat die Oratio de cæcitate von 1597 und eben von Martin Schoock das Surditatis encomium von 1650. Ein neusprachlicher Vorgänger des letzten war Joachim Du Bellay mit dem Hymne de la surdité von 1556. Sicher sind diese humanistischen Laudes / Encomia nicht ohne wichtige Anregungen aus der Antike entstanden, aber die satirisch-pointierte Lobrede zu einer, man darf sagen: geschlossenen Gattung geformt zu haben ist das Verdienst der Humanisten, für das Erasmus die einzigartige Grundlage geschaffen hatte.
76 Miller 1956, S. 146. 77 Miller 1956, S. 145 nennt es zu Recht “the most famous example” der Paradoxenkomien. 78 Auch dieses Werk war innovativ, denn Lukians (Tragodo)podagra und der ihm zugeschriebene Okypus (die den Humanisten auch in lateinischer Übersetzung bekannt waren) handeln nicht von den positiven Seiten des Podagra, sondern von seiner Allmacht (▸ Lefèvre 2020, S. 62). 79 ▸ Lefèvre 2020.
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Die Vermutung, daß in der Gruppe der Paradoxenkomien – man kann von ‚Leidenslob-Literatur‘ sprechen – einige Schriften Versuche einer (zum Teil selbstironisch unterkühlten) Sublimierung des eigenen Leidens darstellen, liegt nahe. Jedenfalls gilt das für den Hymne de la surdité des frühzeitig ertaubenden Jean Du Bellay von 1556,80 für die De cæcitate oratio des im Alter erblindeten Jean Passerat von 1597 oder für das Solatium podagricorum des am Podagra merklich leidenden Jakob Balde von 166181 – vielleicht auch für Schoocks hier in Rede stehendes Surditatis encomium.82 Das könnte um so eher der Fall sein, als der Wissenschaftler Schoock außer der geistreichen (gewiß ihn auch selbst betreffenden) Laus fumi (1650) nur wenige Beiträge zur ‚schönen‘ Literatur geleistet zu haben scheint. Der Musikfreund denkt bei diesen Werken an Beethovens tief empfundenes Lied op. 83, Nr. 1 ‚Wonne der Wehmut‘, der Literaturfreund dahinter an Goethes Bekenntnis. Eine Reihe der vorgenannten Werke hat Caspar Dornavius mit anderen in der bekannten Sammlung Amphitheatrum sapientiæ socraticæ joco-seriæ in zwei umfangreichen Bänden (Hanau 1619) veröffentlicht.83 Dort finden sich im ersten Band etwa dreizehn Würdigungen des pulex / Floh (S. 21–76), drei des pediculus / Laus (S. 77–80), zehn der formica / Ameise (S. 80–110), sieben des culex / Mücke (S. 113–117); der zweite Band bietet u. a. Erasmus’ berühmtes Encomium stultitiæ sowie zahlreiche Laudes des Podagra, auch drei der cæcitas / Blindheit. b) Du Bellay: Hymne de la surdité – ein Vorgänger Ein Lob der Schwerhörigkeit ist selten. Deshalb sei hier ein Blick auf ein französisches Meisterwerk geworfen. 1556 dichtete Joachim Du Bellay (1522–1560) den Hymne de la surdité.84 1552 begann die Schwerhörigkeit des Dichters, acht Jahre später starb er ertaubt. Der dem ebenfalls – schon in der Jugend – schwerhörig werdenden Freund Pierre de Ronsard (1524–1585) gewidmete Hymnus gehört in die Mitte seiner Leidensperiode. Es handelt sich schon von daher nicht um eine Spielerei wie bei vielen Para-
80 ▸ weiter unten. 81 Lefèvre 2020, S. 10–14. 82 ▸ S. 46. 83 Auf die umfassende Einleitung von Robert Seidel in dem Nachdruck (Hanau 1995, S. 7–48) sei hingewiesen. 84 Neuere Literatur: Tomarken 1990, S. 182–187; McAdoo 1994, S. 198–204; Bertrand 2006, S. 95– 110.
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doxenkomien der Zeit – vor ihm und nach ihm. Aber von dem literarischen Genus dürfte Du Bellay in entscheidender Weise angeregt worden sein. Es fällt auf, daß der 250 Verse umfassende Hymnus sich im Gegensatz zu den meisten in lateinischer Sprache verfaßten Vertretern der Gattung gelehrter Anspielungen auf antike Ereignisse und Personen enthält – von der zur Dichtung der Neuzeit, zumal der der Pléiade, gehörenden Mythologie abgesehen. Man darf wohl schon daraus den Schluß ziehen, daß es Du Bellay mit seiner Aussage ernst war. Gewiß werden Minerva und Arachne oder Apollo und Marsyas genannt (5) oder die «l’immortelle couronne du myrte paphien» (147–148) zitiert, gewiß fungieren Horaz, Pindar und Homer als rühmende Dichter (151) und steht Mars als Metonymie für Krieg (211) – doch sind das schmückende Versatzstücke gebildeter Sprache, nicht aber Kennzeichen gelehrten Spiels. Es genügt, die letzten acht Verse hierherzusetzen, um zu sehen, daß das, was Schoock in blitzender satirischer Argumentation darlegt, Du Bellay in erhabenem Stil85 behandelt hat (243–250): 245 250
Donq, ô grand Surdité, nourrice de sagesse, Nourrice de raison, je te supply, Déesse, Pour le loyer d’avoir ton mérite vanté Et d’avoir à ton loz ce Cantique chanté, De m’estre favorable, et si quelqu’un enrage De vouloir par envie à ton nom faire oultrage, Qu’il puisse un jour sentir ta grande déité, Pour sçavoir, comme moy, que c’est de Surdité.
c) Passerat: De cæcitate oratio – eine Parallele Der französische Dichter und Philologe Jean Passerat (1534–1602)86 erblindete gegen Ende seines Lebens in zunehmendem Maß. 1597 erschien in Paris die De cæcitate oratio,87 die im Stil der Laudes-Literatur die positiven Seiten der Blind-
85 Es ist zu einseitig geurteilt, wenn McAdoo 1994, S. 198 das Gedicht, wie folgt, charakterisiert: “As an excercise in burlesque, it parodies the solemn Hymnes, the first collection of which Ronsard (to whom this poem is dedicated) had published in the previous year of 1555.” Demgegenüber verweist Bertrand 2006, S. 96 überzeugender auf die «dissonance subtile de cet éloge paradoxal, plus ‹lugubre› que cocasse» (Dandrey 1997, S. 121–122) und spricht von der «alliance subtile du rire et de la mélancolie dans ce poème». Eben diese zwei Seiten zeigt auch Schoocks – wiewohl auf einer anderen Ebene liegendes – Surditatis encomium. 86 Er war seit 1572 Professor für Latein am Collège de France; u. a. gab er römische Lyriker (mit Kommentar) heraus und verfaßte lateinische und französische Gedichte. 87 ▸ Kivistö 2009, S. 104 u. 115–116, die als Vorgänger Philipp Molstetters Laus caecitatis (1593)
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heit in verschiedener Hinsicht pries. Es ist nicht verwunderlich, daß sie aufgrund des Leidens des Autors “more philosophical and consolatory than ironical” ist88 – wie auch sein ebenfalls der Gattung verpflichtetes Lob des ‚Nichts‘ (Nihil), «n’acceptant pas le cortège de la négation, forme une personnification suffisamment acceptable».89 Natürlich war Passerat Ciceros Lob der Blindheit bekannt.90 Eine beeindruckende Würdigung aus den Lebensumständen heraus hat des Guerrois gegeben:91 Les fatigues, les immenses lectures qu’il avait faites jour et nuit l’avaient usé de bonne heure, et quoiqu’il ne fût pas encore bien vieux, la vieillesse allait venir sous ses formes les plus rudes. En 1597, la paralysie vint le frapper, accompagnée de la cécité. Le vieux savant, que ses amis continuèrent d’entourer de leur soins, de leurs empressements attentifs, porta courageusement ses maux, et laissa venir la mort sans plainte. Il vécut encore pendant cinq ans, souriant à la paralysie qui le tenait immobile dans son lit ou le clouait sur son fauteuil, souriant au mal plus cruel encore, celui qui frappe les yeux. Aveugle, il dictait par plaisanterie l’éloge de la cécité, c’était sa manière de se venger de la maladie. Cet éloge, comme c’est son procédé habituel, il emprunte à tous les ecrivains de l’antiquité; rassemblez-en les passages, faites-en la liaison avec la gaieté, et voilà le discours qui prend forme sous cette plume facilement ingénieuse. Ce discours, il l’adressait à ses auditeurs du Collège Royal, depuis longtemps privés du bénéfice de ses doctes leçons.
Nicht anders urteilte von Mojsisovics, vom Jahr 1596 ausgehend.92 Es kam die finanzielle Not hinzu. Die Rede richtet sich, äußerlich gesehen, im Titel nicht ohne Grund an Carolo Saldanio, Dincarvillæo, Regi ab interioribus consilijs; & à præcipua cura ærarij.93
nennt. Spätere Beispiele für diese Thematik sind die Caecitatis consolatio (1609) von Erycius Puteanus (1574–1646), der Lipsius’ “former student and successor at Leuven University” war (Jan Papy in: Knight, Tilg 2015, S. 178), und Jacob Gutherius’ Tiresias, seu Cæcitatis Encomium (in der Sammlung Admiranda rerum 1666, S. 245–276): ▸ Kivistö 2009, S. 110–115. 88 Tomarken 1990, S. 71. 89 des Guerrois 1856, S. 73. 90 ▸ S. 10–11. 91 1856, S. 25–26. 92 „Sein Augenleiden verschlimmert sich in bedenklicher Weise und der alte Gelehrte erblindet. In diesem Versinken der Lichtpunkte seines äußeren Lebens sammelt seine Seele die schönsten und geistigsten Kräfte und erhebt sich mit verklärter Gewalt. Der blinde Gelehrte hält seinen schönsten Vortrag ‚De Caecitate‘. Läuterung nennt sich das Wesen seiner letzten Lebensjahre“ (1907, 29). 93 Diesen Vorgang kommentierte des Guerrois 1856, S. 27 in bewegenden Worten: «Il est triste de penser que cet aveugle, ce vétéran d’érudition et de poésie n’était pas payé au Trésor royal: il adresse expressément son Discours sur la Cécité à M. d’Incarville, conseiller du Roi et trésorier de l’épargne, afin d’obtenir de lui qu’il s’entremette pour lui faire payer les gages qui lui sont dus.»
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Passerats aus dem Inneren kommendes Bekenntnis schließt mit diesen Worten: Valeant tamen querelæ; & habeatur potius cæcitati gratia, quæ me ad melius viuendum hortatur, ac pænè cogit, mea voluntate, seriò philosophari. Nunc enim demum incipio vim veræ solidæq́ ue virtutis experiri, vt aduersus omnes minas impetúsque fortunæ præstare inuictam mentem possim; & ab argutis inanium quæstionum nugis, quibus miseræ scholæ personant, ad rectum animi cultum sapientiæ præcepta traducere. [Doch fort mit den Klagen! Und es werde der Blindheit eher Dank erwiesen, die mich ermahnt, besser zu leben, und beinahe zwingt, aus freien Stücken der Philosophie ernsthaft zu obliegen. Denn jetzt beginne ich endlich, den Sinn der wahren und unerschütterlichen Tugend in Erfahrung zu bringen, damit ich gegen alle Drohungen und Angriffe der Fortuna eine unbezwingbare Gesinnung an den Tag legen und von den gellenden Possen der nichtigen Gegenstände, von denen die erbärmlichen Schulen widerhallen, die Lehren der Weisheit zur rechten Pflege des Denkens / der Gesinnung (hinüber)führen kann.]
Dieses Paradoxenkomium mit ernstem, sehr ernstem Hintergrund mag die Rezipienten vor dem Schluß bewahren, daß ein jedes Beispiel dieses Genus nur ein intellektueller Scherz ist. Schoock hat Passerat geschätzt. 1661 gab er dessen accuratissimum Poëma de Nihilo zusammen mit dem eigenen Tractatus philosophicus de Nihilo samt annotationes heraus.94 d) Schoock: Laus fumi – ein zweites Paradoxenkomium Non vendo fumos, quanquam fumi virtutes prædico.95
An das Genus des Paradoxenkomiums erinnern vom Thema her Schoocks Schriften De sternutatione [‚Über das Niesen‘] und De nihilo [‚Über das Nichts‘]: De sternutatione tractatus (Amsterdam 1649)96 / Tractatus copiosius, omnia ad illam pertinentia, juxta recentia inventa, complectens (Amsterdam 1664);97 Tractatus philosophicus de Nihilo; accedunt ejusdem argumenti libellus Caroli Bovilli atque Joannis Passeratii accuratissimum Poëma de Nihilo, cum annotationibus ejusdem Schoockii (Gronin-
94 ▸ im folgenden. 95 Schoock 1666, S. 632 [„Ich mache keinen Rauch vor (d. h. ich betrüge nicht), wenn ich die Vorzüge des Rauches preise.“] 96 Van der Aa 1874, S. 399. 97 Van der Aa 1874, S. 399 (zweite Auflage).
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gen 1661).98 Die beiden Traktate sind dennoch wegen des größeren Umfangs und der ausführlichen Behandlung der diesbezüglichen philosophischen und naturwissenschaftlichen Quellen der Antike99 nicht dem konzisen Typus der paradoxen Lobrede zuzurechnen, so geistreiche Partien sie im einzelnen enthalten – was im übrigen auch für eine Reihe anderer Schriften des Autors gilt. Jedoch gibt es einen weiteren Beitrag Schoocks zum Genus des Paradoxenkomiums, die Oratio fumi laudes prædicans, wie sie in dem Sammelband mit eigenen Beiträgen von 1650 heißt, bzw. Laus fumi, wie der Titel in dem Sammelband Admiranda Rerum Admirabilium Encomia mit Beiträgen verschiedener Autoren von 1666 lautet.100 Was verbirgt sich hinter dieser paradoxen Ankündigung? Es verdient zunächst Beachtung, daß unter den Briefen des in Numidien geborenen Redners Marcus Cornelius Fronto aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr., des Erziehers der späteren römischen Kaiser Mark Aurel und Lucius Verus, einer (teilweise) erhalten ist, der den Titel Laudes fumi et pulveris [‚Lob des Rauches und des Staubes‘] trägt.101 Ein anderer ist Laudes neglegentiae [‚Lob der Nachlässigkeit‘] überschrieben.102 Diese an den jungen Mark Aurel gerichteten ‚Spielereien‘103 sind Zeugnisse der antiken Laudes-Literatur, in deren Tradition die Humanisten stehen. Doch konnte Schoock sie nicht kennen, da sie erst 1815 von Angelo Mai in der Vatikanischen Bibliothek in Rom entdeckt worden sind. Die Laudes fumi et pulveris kommen somit weder als Vorbild noch als Anregung für die Laus fumi in Betracht. Überdies sind nur methodische Darlegungen erhalten,104 so daß ein Vergleich der Texte von Fronto105 und Schoock nicht sinnvoll ist. Das Rauchen verbreitete sich zu Schoocks Zeit in Mitteleuropa zusehends. Die Niederlande gehörten mit ihren Handelsschiffen zu den bevorzugten Impor-
98 Van der Aa 1874, S. 400. 99 Über den philosophischen Gehalt von De nihilo ▸ Krop 2003, S. 892. 100 ▸ unten Kap. VII. 101 Van den Hout 1988, S. 215–217. 102 Van den Hout 1988, S. 218–220. 103 Schanz 1922, S. 93. 104 sed res poscere videtur de ratione scribendi pauca praefari, quod nullum huiusmodi scriptum Romana lingua exstat satis nobile, nisi quod poetae in comoediis vel Atellanis adtigerunt [„Aber die Sache scheint zu erfordern, etwas vorauszuschicken, weil keine hinreichend gute Schrift dieser Art in lateinischer Sprache existiert – von dem abgesehen, was die Dichter in den Komödien oder Atellanen berührt haben“]. 105 Immerhin ist soviel kenntlich, daß zu Beginn behauptet wird, der Rauch sei göttlich wie die verwandten Winde (man denkt an Aeolus und seine Genossen im ersten Buch der Aeneis Vergils) und Wolken (Fronto verweist auf Homer, Ilias 14, 350–351, wo Zeus Hera umfängt und sie sich mit einer goldenen Wolke, die nicht einmal Helios durchdringen kann, zudecken). Darf man sagen: So einfallsreich hätte auch Schoock argumentieren können?
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teuren des Tabaks aus Amerika. Ein paar Jahre nach der Laus fumi veröffentlichte Jakob Balde seine Tabaksatire (Satyra contra abusum tabaci, 1657), in der er die Raucher äußerlich an den Pranger stellte, innerlich aber auf ihrer Seite stand;106 und im Solatium Podagricorum von 1661 legte er sogar eine Verteidigung des (mäßigen) Tabakgenusses unter Hinweis auf das aus Brasilien importierte Kraut vor (1, 26).107 Schoock sprach also ein ‚erfahrenes‘ Publikum an. Eine Grundlage der Argumentation in der Laus fumi ist die übertragene Bedeutung von fumus im Lateinischen, und zwar in den sprichwörtlichen Wendungen fumum / fumos facere bzw. vendere [‚Rauch machen‘ bzw. ‚verkaufen‘] – „von trügerischen Versprechungen“,108 entsprechend der deutschen Redensart jemandem ‚blauen Dunst vormachen‘.109 Ganz in diesem Sinn beginnt Schoock die Rede: Fumum laudare aggredior, adeste, & linguis favete, vos fumosi patres, & quotquot eum aut venditis, aut sorbetis, aut efflatis (p. 626) [„Den Rauch zu loben schicke ich mich an, nehmt teil (daran) und schweigt, ihr rauchenden Väter und soviel ihr ihn auch immer öffentlich rühmt110 oder schlürft (einzieht) oder ausblast“]. Das ist mit der Anspielung auf eine berühmte Wendung des Horaz111 und der Doppeldeutigkeit hochgestochen. Dementsprechend werden zuerst die Hörer / Leser wie am Anfang des Surditatis encomium112 mit patres angesprochen. Auch der Schluß bekräftigt noch einmal den Angelpunkt, mit dem die Oratio operiert: De fumis verbum amplius non adjicio, ne dum eorum præconem ago, pariter quoque vendere videar (p. 650) [„Über die verschiedenen Arten des
106 ▸ Lefèvre 2020, S. 579 Anm. 909 (mit Literatur). 107 ▸ Lefèvre 2020, S. 270–272. 108 Otto 1890, S. 149. Martial formulierte wegweisend 4, 5, 7: vendere nec vanos circa Palatia fumos. Das kommentiert Friedlaender 1886 z. St., wie folgt: „Ein Ausdruck, den die späteren Kaiserbiographen fast wie einen technischen gebrauchen, kommt hier von betrügerischen Mit theilungen über den Kaiser und den Hof zuerst vor, mit welchen die angeblich genau Unterrichteten einen Handel trieben.“ Mit Martials Wendung beginnt Erasmus seinen Eintrag fumos vendere in den Adagia 1, 2, 41. Schon von daher war sie den Humanisten bekannt. Dieses adagium nennt Erasmus nimis quam elegans [„überaus fein / treffend“]. Andererseits sind Schoocks pointiert-witzige Einfälle von Erasmus’ über weite Strecken sachlichen Ausführungen verschieden. 109 Diese Wendung war zu Schoocks Zeit auch im Deutschen lebendig. „Jem. Rauch verkaufen: jem. schmeicheln, durch leeres Geschwätz gefallen. Diese Rda. ist heute so nicht mehr gebräuchlich […], sie beruht auf einer wörtlichen Übersetzung von Martials ‚fumum vendere‘. Martin Opitz verwendet sie: ‚Ich bin kein Hofemann, ich kann nicht Rauch verkaufen, nicht küssen fremde Knie‘“ (Röhrich 1991, S. 1231). 110 vendere hat im Lateinischen die übertragene Bedeutung ‚öffentlich rühmen‘ / ‚empfehlen‘. 111 Carm. 3, 1, 2: favete linguis (nach dem traditionellen εὐφημεῖτε). Während Horaz sich mit seiner ‚Lehre‘ an die Jugend wendet (virginibus puerisque canto, 4), spricht Schoock die ‚Väter‘ an. Auch dieser Kontrast soll bemerkt werden. 112 ▸ S. 50.
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Rauches füge ich weiter kein Wort hinzu, damit ich nicht, während ich die Rolle ihres Verkünders spiele, zugleich auch blauen Dunst vorzumachen scheine“].113 Schon die wörtliche Bedeutung des fumus stellt dem Satiriker ein reiches Betätigungsfeld und Assoziationspotential zur Verfügung. In diesen Fällen liegt der Witz darin, daß Gegenstände überraschend mit dem Rauch in Verbindung gebracht werden, und zwar in positiver Hinsicht. Von Anfang an bezieht sich die Rede auf antike Gebräuche einerseits und antike Texte andererseits. Die Literaturfreunde brauchen nicht lange zu warten: Sie stoßen schon bald auf den plautinischen Euclio, den Prototyp des Geizhalses, der bei Schoock nicht schrullig, sondern klug und umsichtig handelt (p. 627):114 Quis omnes rei domesticæ administrandæ numeros æquè percalluit ac Plautinus Euclio? At ille Divum ac hominum fidem clamabat , si quâ de suo tigillo fumus foras exiret. Nec injuriâ. Thesaurus est pretiosissimus […]. [Wer hat sich auf alle Teile der Verwaltung des Hauswesens geradeso wie der plautinische Euclio verstanden? Der aber pflegte die Wahrhaftigkeit / Zuverlässigkeit der Götter und Menschen anzurufen, wenn irgendwo aus seinem Lattenwerk (des Daches) Rauch nach außen ging. Nicht zu Unrecht. Es ist ein sehr kostbarer Schatz.]
Das bezieht sich auf die Hauptfigur der Aulularia [‚Topfkomödie‘], über die der Sklave des Nachbarhauses Strobilus zu dem Koch Anthrax sagt (299–301): […]115 suam rem periisse seque eradicarier. 300 quin divum atque hominum clamat continuo fidem, de suo tigillo fumus si qua exit foras. 300
[ […] daß sein Vermögen verloren und er selbst vernichtet sei. Ja, er ruft sofort die Wahrhaftigkeit / Zuverlässigkeit der Götter und Menschen an, wenn aus seinem Lattenwerk irgendwo Rauch nach außen dringt.]
Die Kenner bemerken sofort: Bei Plautus ist Euclio töricht, bei Schoock weise; bei Plautus steht der Rauch für etwas denkbar Wertloses, bei Schoock für etwas sehr Kostbares. Es handelt sich um ein ‚umgedrehtes‘ Zitat.116
113 Im Surditatis encomium (p. 610) gebraucht Schoock die Wendung promissorum fumi [‚leere Versprechungen‘]: ▸ ebd. 114 Die gesperrt gedruckten Wörter hat Schoock zitiert. 115 Vor 299 wird in der Überlieferung allgemein eine Lücke angenommen. 116 Plautus wird später noch einmal in einem dubios-witzigen Zusammenhang bemüht, wenn
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Gleich darauf wird auf den bekannten westfälischen geräucherten Schinken hingewiesen, wenn der Redner feststellt, der Rauch sei ein sehr kostbarer Schatz (Thesaurus pretiosissimus); denn wenn der Westfale nicht über ihn verfügte, entbehrte er jener unzähligen Genüsse, die er aus den mit seiner milden Wärme gedörrten und getränkten Schinken empfange (quem nisi possideret Westphalus, careret sexcentis illis delitiis, quas è pernis tepido illius coctis tinctisque percipit, p. 627). Der Ruf dieser Delikatesse war also bis in die Niederlande vorgedrungen. Ein schönes Zeugnis der Zeit117 begegnet bei Fabio Chigi (1599–1667), dem Chef-Unterhändler der katholischen Seite beim Westfälischen Frieden, der später Papst Alexander VII. wurde. In dem Gedicht Nr. LXXXIX De pluviis Monasterii urbis [‚Über den Regen der Stadt Münster‘] heißt es (48–52):118 Cæruleum flauo panem leuisse butyro Contenti, & festis petasonem efferre diebus, Siue sub Autumnum fumo siccata nigrantis Terga bovis. [Schwarzbrot mit goldgelber Butter zu bestreichen sind sie zufrieden und an Festtagen Schinken vom Schwein aufzutragen oder im Herbst ein Stück des im Rauch getrockneten Rückens vom schwarzbunten Rind.]
Schoock, vom ‚Rauchkäse‘ ausgehend, sagt: Tot tamen in eo elegantiæ sunt, ut inter amantium blanditias, quas præ omnibus aliis socci princeps Plautus percalluit, molliculus caseus receptus sit. Illæ autem si non procreantur, certe augentur & excitantur à fumo (p. 631–632). [„So viele Feinheiten sind gewiß in ihm, daß unter die Schmeicheleien der Liebenden, auf die sich vor allen anderen der Fürst der Komödie Plautus verstand, der zarte Käse aufgenommen worden ist. Wenn diese (Feinheiten) aber auch nicht vom Rauch hervorgebracht werden, so werden sie gewiß von ihm vermehrt und angeregt.“] Schoock bezieht sich auf einen Passus in der Komödie Poenulus, in dem ein Sklave nicht müde wird, 12 Kosenamen, die Liebende zu gebrauchen pflegen, aufzuzählen und diese in dem Kompliment meus molliculus caseus (367) [„mein zarter Käse“] gipfeln zu lassen. Welch ein Spiel! Eine der merkwürdigsten Plautus-Stellen wird ‚schlagend‘ mit Hilfe des Rauch-Motivs erklärt. Zu ihr bemerkt der Kommentator Maurach 1988, S. 99: „Caseus als Kosewort ist, sonst unbelegt, wohl nur ein taktloser Witz.“ Vielleicht ist der Witz doch nicht so taktlos, wenn man bedenkt, daß Ovids unbeholfener Polyphemus der Nymphe Galatea das Kompliment macht, sie sei weicher als geronnene Milch: mollior […] lacte coacto (Met. 8, 796), was von Albrecht 1981, S. 314 „weicher als […] weißer Käse“ übersetzt. Das Bild ist eher witzig (auch Mart. 8, 9 ist zu vergleichen). Rauchkäse war übrigens in Rom bekannt: Plin. Nat. 11, 241; Mart. 13, 32 (Überschrift: Caseus fumosus); ▸ Marquardt 1886, S. 465. 117 Hinweis von Wolfgang Hübner. 118 1656, S. 182.
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Auch der Italiener wertete somit das Münsteraner Rauchfleisch als bemerkenswert. Danach rekurriert Schoock in geistreicher Weise auf eine Eigenart des alten römischen Hauses, die allgemein nicht geschätzt wurde: Das zentral gelegene Atrium war oft rauchgeschwärzt, da ein Teil des Rauches von dem offenen Feuer durch die Öffnung in der Decke (impluvium) ins Freie entwich, ein anderer Teil sich aber im Atrium und im Haus verbreitete. Damit es keinen Widerspruch gibt, wird der Passus mit der provozierenden Frage eingeleitet: Mortalium sapientissimos Romanos fuisse quis non dederit? [„Wer gäbe nicht zu, daß die Römer die weisesten der Sterblichen gewesen sind?“] Der Hörer / Leser ist also eingeschüchtert und wagt nicht zu widersprechen, wenn er weiter belehrt wird (p. 627–628): Illi tamen gratissimo huic hospiti viam per caminum, quem in ædibus nullum habebant, nequaquam sternebant; nolebant enim eum simul venire ac discedere, sed per omnes ædium angulos libere obambulare sinebant, gratoque halitu afflare magna illa virtutum nomina Brutos, Valerios, Cornelios, Æmilios, Appios, Cossos, Seranos, Fabios similesque119 Semones, quos è cera effigiatos, in atrios per armaria distinctos conservabant, festisque diebus unguentis, corollisque honorabant. Vt bulla ingenuos pueros, latus clavus patres conscriptos, annulus equites arguebat, ita apud Romuli cives familiarum antiquam nobilitatem fumus in imaginibus prodebat. Nusquam in æterna urbe, fumiperdæ, qui Orci nebula contecti Stentorea voce, scopisque Charontis contis affixis, infantibus magis terribiles, quam omnes solis pectines fuissent, auspicantesque infausto occursu supra omnes corvos turbassent. Enimvero si talis larva Bruto aciem educenti obviam facta fuisset, exemplo Æthiopis istius, à militibus diro omine territis, interempta120 fuisset. In ceris enim fumi colorem, quam in hominibus ejus hostibus Quirites conspicere maluerunt. [Die haben jedoch diesem Gast (dem Rauch) keineswegs den Weg (nach draußen) durch einen Kamin bereitet, über den sie im (Wohn)haus nicht verfügten; sie wollten nämlich nicht, daß er zugleich komme und gehe, sondern ließen ihn durch alle Winkel des Hauses frei schweifen und mit willkommener Ausdünstung jene großen Namen der Tugenden anwehen, die Bruti, Valerii, Cornelii, Aemilii, Appii, Cossi, Serani, Fabii und ähnliche Halbgötter, die sie, aus Wachs gebildet, durch das Atrium hin in Schränken verteilt bewahrten und an Feiertagen mit Salben und Kränzen ehrten. Wie die Kapsel die freien Knaben, der breite (Purpur)streifen die beigeordneten Väter und der Ring die Ritter kundmachten, so verriet bei Romulus’ Bürgern der Rauch an den (Wachs)bildern den alten Adel der Familien. Nirgends gab es in der Ewigen Stadt Rauchzerstörer, welche, von dem Nebel der Unterwelt bedeckt, mit Stentorstimme und Reisern, die an Stangen wie der des Charon befestigt waren, den kleinen Kindern schrecklicher gewesen wären als alle Kämme der Sonne und die die Vogelschauer durch die unglückbringende Begegnung mehr als alle Raben in Verwirrung gebracht hätten. Wenn in der Tat ein solches Gespenst dem Brutus, der das Heer
119 1650 simulesque. 1666 similesque. 120 1650 interrempta. 1666 interempta.
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ausrücken ließ, nach dem Beispiel jenes (schwarzen) Äthiopiers begegnet wäre, wäre es von den durch das schreckliche Omen erschreckten Soldaten getötet worden. Denn die Quiriten wollten die Farbe des Rauches lieber an Wachsbildern erblicken als an Menschen, die ihm fremd / feind sind.]
Das ist eine groteske Argumentation: Der Rauch in den Atrien wird nicht als notwendiges Übel, sondern als willkommene Beigabe des Feuers erklärt! Den Rezipienten wird einiges historisches Wissen abverlangt.121 Zunächst geht es um die rauchgeschwärzten römischen Ahnenbilder der Gentes.122 So spricht Cicero von der Empfehlung durch rauchgeschwärzte Ahnenbilder (commendatione fumosarum imaginum, In Pis. 1, 1), Seneca vom Atrium, das voll von rauchgeschwärzten Ahnenbildern ist (atrium plenum fumosis imaginibus, Epist. 44, 5), Juvenal von rauchgeschwärzten Reitergenerälen (fumosos equitum […] magistros, 8, 8). Dieses Faktum ist reich bezeugt und mußte die Humanisten zu pointierten Bezugnahmen veranlassen.123 Die aus Wachs gefertigten Ahnenbilder standen in Schränken124 im Atrium, aus dessen Öffnung im Dach der Rauch nur unvollkommen abziehen konnte, da es keinen Kamin gab. Daher wurden die Imagines mit der Zeit ‚schwarz‘. Der Rauch zeigte, wie Schoock pointiert-witzig sagt, entsprechend den alten Adel der Familien an (familiarum antiquam nobilitatem fumus in imaginibus prodebat). Er stellte, so gesehen, etwas Positives dar. Es gab, heißt es weiter, in der Ewigen Stadt keine Kaminkehrer125 (wie in der Neuzeit), die durch ihren (hyperbolisch geschilderten) Arbeitsaufwand126 den kleinen Kindern schrecklicher gewesen wären als alle Kämme der Sonne (quam omnes solis pectines)127 und die Vogelschauer, d. h. die religiöse Ordnung, ver-
121 Das betrifft etwa die Kennzeichen der freien Knaben (die bulla, eine goldene Kapsel, wurde den Knaben von guter Herkunft verliehen: Marquardt 1886, S. 84), der Ritter (den anulus, einen goldenen Ring, zu tragen war das Vorrecht der Ritter: Marquardt 1886, S. 670 Anm. 6) und der Senatoren (deren Tunica war mit dem latus clavus, einem breiten purpurnen Streifen, besetzt: Marquardt 1886, S. 545). 122 Cossus war ein Cognomen in der Gens Cornelia, Serranus ein Cognomen in der Gens Atilia. 123 ▸ etwa Balde Expeditio, Elenchus 332 (dazu Lefèvre 2017, 310) und Solatium podagricorum 2, 45, 7 (dazu Lefèvre 2020, 406 Anm. 341). 124 armaria: ‚tempelartige Schränke‘ (Marquardt 1886, S. 243). 125 fumiperdæ: Wörtlich ‚Rauchverderber‘, etwa: ‚Kaminkehrer‘, nachantik. ▸ Nerius 1695, S. 917 s. v. ‹spazzacamino›: mundator caminorum, qui caminorum spiracula purgat. 126 Sie sind (da sie den Ruß entfernen) von dem Dunkel der Unterwelt umgeben und kehren mit einem gewaltigen Besen, dessen gewaltiger Stiel mit der Stange (contus) verglichen wird, mit der der grausig geschilderte Fährmann Charon in Vergils Unterwelt seinen mit Abgeschiedenen beladenen Kahn vorwärts stößt (Aen. 6, 299–304). 127 Die singuläre Wendung solis pectines geht auf Tertullian zurück, der sie in der Schrift Adversus Valentinianos (Anfang des dritten Jahrhunderts) im Zusammenhang mit Schreckgeschichten
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wirrt hätten. Doch damit nicht genug. Wenn ein solches (schwarzes) Gespenst, wird behauptet, Brutus’ Heer begegnet wäre, hätten es die durch das unheilvolle Omen erschreckten römischen Soldaten getötet. Damit macht Schoock seiner hyperbolischen Argumentation eine Nachricht zunutze, die Florus128 erzählt, nach dem bei dem Feldzug in Griechenland nach Caesars Tod dem in die Schlacht ausrückenden Heer ein Aethiops129 entgegen gekommen sei – was ein ganz klares unglückverheißendes Zeichen war (in aciem prodeuntibus obvius Aethiops nimis aperte ferale signum fuit, 2, 17 / 4, 7, 7).130 Die Schlußfolgerung setzt dem ganzen Passus die Krone auf, wenn gefolgert wird: Die Quiriten wollten die Farbe des Rauches lieber an Wachsbildern als an Menschen erblicken! Hierauf wird die Disputation unmittelbar im Anschluß an die pointierten Ausführungen über die verräucherten Ahnenbilder in einem ganz anderen, einem gelehrten Ton fortgeführt, wenn der Redner über den nach griechischer Art hergestellten ‚rauchigen‘ Wein berichtet (p. 628–629):131 Nec in ceris tantum, sed in cadis quoque Græcorum exemplo, quos generoso vino repletos illi exponere solent, ut continuo quodam ac blando calore penetrans aqueas partes absumeret.132 Factitare hoc solet non solus popellus, cujus vinariæ cellæ ad fumi vaporarium proximæ erant, sed ipse magni Galeni parens, quemadmodum lib. 1. de Antid. testatur. Non aliæ quoque Arcadum deliciæ erant, qui teste Philosopho lib. 4. Meteor. vinum in utribus ita exsiccabant, ut abrasum biberent. Sannionum nasutissimum Martialem facilè ut hominem lepidè ineptum perferre possumus. Massiliensium enim vina quia insectatur, quasi i m p r o b i s f u m a r i i s c o c t a essent, ea ut t e n u i a ,133 a l b a ac s u b s t r i n g e n t i a contra h e r p e t a s idem medicorum princeps lib. 2 ad Glaucon præscribit. Et cur non præscriberet? Innoxius fumus rerum pretio nihil detrahit, sed plurimum addit: nisi fortè latitans vitium, perfectionis quam ipse molitur, non sit patiens.
gebraucht, die die Amme kleinen Kindern erzählt (cap. 3). Über ihre Bedeutung hat man gerätselt. Sie war so recht geeignet, von den Humanisten aufgepickt zu werden. Noch heute läßt sich über sie „keine gesicherte Aussage treffen“ (Kingreen 2020, S. 209). 128 Das unvollständig erhaltene Geschichtswerk des Publius Annius Florus gehört in die späteren Jahre Hadrians (▸ Peter Lebrecht Schmidt. In: DNP. Bd. 4 (1998), Sp. 566). 129 Aethiops = ‘a black man’ (OLD z. St.). 130 Die römischen Soldaten zogen nicht den klugen Schluß, den Emanuel Schikaneders Vogelfänger Papageno in der Zauberflöte zieht (1. Aufzug, Vierzehnter Auftritt), der zunächst über den überraschenden Anblick des Mohren Monostatos erschrocken ist, sich dann aber sagt, es gebe ja schwarze Vögel in der Welt, warum denn nicht auch schwarze Menschen? 131 Die gesperrt gedruckten Wörter sind von Schoock direkt aus Martial bzw. aus Galen aufgenommen (s. weiter unten). 132 1650 abfumeret. 1666 absumeret. 133 1650 ut tenuia. 1666 ea ut tenuia.
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A. Einführung
[Nicht nur bei den Wachsbildern (wünschten die Römer den Rauch), sondern auch nach dem Beispiel der Griechen bei den Weinkrügen, die sie, mit edlem Wein gefüllt, ihm (dem Rauch) auszusetzen pflegten, damit er, mit einer beständigen und zutunlichen Wärme eindringend, die wässerigen Teile (des Weines) fortnehme. Das pflegte nicht allein das gemeine Volk oft zu machen, dessen Weinkammern sich sehr nahe am Rauch der Dampfheizung befanden, sondern sogar der Vater des großen Galen, wie dieser im ersten Buch der Schrift De antidotis bezeugt. Nicht anders war auch die Liebhaberei der Arkader, die, wie der Philosoph im vierten Buch der Meteorologika bezeugt, den Wein in Schläuchen so austrockneten, daß sie ihn abgeschabt tranken. Den Naseweisesten der Hanswurste, Martial, können wir leicht als einen Menschen hinnehmen, der in witziger Weise läppisch ist, weil er nämlich die Weine der Massilienser verhöhnt, als seien sie in argen Räucherkammern gekocht – wie sie als leichte, weiße und zusammenziehende (von zusammenziehender Wirkung bestimmte) gegen Ausschlagskrankheiten ebenfalls der Erste der Ärzte im zweiten Buch (des Werkes), das Glaukos gewidmet ist, vorschreibt. Und warum sollte er sie nicht vorschreiben? Der unschuldige Rauch nimmt nichts von dem Wert der Dinge, sondern gibt ihnen sehr viel: wenn nicht zufällig ein verborgener Fehler die Vollendung, um die er selbst sich bemüht, nicht duldet.]
Hier werden bei dem Thema ‚Rauchwein‘ in einem kurzen Passus nicht weniger als vier antike Nachrichten kumuliert, die aus dem Mediziner Galen (zweimal), dem Philosophen und Naturwissenschaftler Aristoteles und dem Dichter Martial stammen. Es ist ein Spiel mit alten Autoritäten, das nur dann von den Rezipienten geschätzt werden kann, wenn sie über eine gehörige Bildung verfügen. Aristoteles bedarf keiner Hervorhebung, Galen wird dagegen gerühmt, das erste Mal als magnus, das zweite Mal als medicorum princeps. Seine Zeugnisse haben also Gewicht, denen man sowenig wie Aristoteles widersprechen ‚darf‘. Der römische Epigrammatiker Martial hingegen, der eigenwillig über die Qualität des Rauchweins der Massilienser urteilt, wird als (auch sonst) übertreibender Witzbold abgetan. Das Jonglieren mit den antiken Zeugnissen gipfelt darin, daß eine medizinisch-sachliche Anweisung Galens gegen den Geschmack des als unsachlich abgetanen Dichters Martial ins Feld geführt wird. Es handelt sich um folgende vier ‚Belege‘, die ganz verschiedenen Zusammenhängen entnommen sind: 1. Galen, De antidotis [‚Über Gegengifte‘ / ‚Gegenmittel‘], 1. Buch.134 2. Aristoteles, Meteorologika [‚Meteorologie‘]135 388b 3–7. 3. Martial, Epigr. 10, 36. 4. Galen, Ad Glauconem de medendi methodo [‚Über die Methode des Heilens, Glaukon gewidmet‘], 2. Buch.136
134 Bd. 14, S. 16–17 der Ausgabe von Kühn 1827. 135 Die Schrift behandelt die Phänomene unterhalb der vom Äther erfüllten Gestirnsphären. 136 Bd. 11, S. 87 der Ausgabe von Kühn 1826.
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In Schoocks Passus geht es um den ‚Rauchwein‘. Bei den Griechen und Römern wurde der Wein zur schnelleren Reifung entweder der Sonne ausgesetzt oder in Räucherkammern aufgestellt.137 An der ersten Stelle spricht Galen, der aus dem griechischen Pergamon in Kleinasien stammt, von seinem Vater (der ein wohlhabender Architekt gewesen war): ὁ πατήρ μου. Diese Nachricht ‚muß‘ also stimmen. Das zweite Zeugnis erklärt den auffallenden Sachverhalt des vinum abrasum: ὁ γὰρ νέος μᾶλλον γῆς ἢ ὁ παλαιός· διὸ καὶ παχύνεται τῷ θερμῷ μάλιστα καὶ πήγνυται ἧττον ὑπὸ τοῦ ψυχροῦ· ἔχει γὰρ καὶ θερμὸν πολὺ καὶ γῆς, ὥσπερ ὁ ἐν Ἀρκαδίᾳ οὕτως ἀποξηραίνεται ὑπὲρ τοῦ καπνοῦ ἐν τοῖς ἀσκοῖς ὥστε ξυόμενος πίνεσθαι. [Denn der junge Wein enthält mehr Erde als der alte; deshalb verdickt er sich auch am ehesten durch die Wärme und verfestigt sich weniger durch die Kälte; denn er enthält sowohl viel Wärme als auch Erde, wie der Wein in Arkadien so über dem Rauch in den Schläuchen austrocknet, daß er abgeschabt [Schoock: abrasum]138 getrunken wird.]
In Gallien wurde das Rauchverfahren oft so übertrieben, daß der Wein den Rauchgeschmack behielt.139 Darauf spielt Martial wirkungsvoll an, der in drei Epigrammen den aus Massilia nach Rom exportierten rauchigen Wein als billiges Getränk verspottet: 3, 82, 23; 10, 36 und 13, 123. Während an der ersten und dritten Stelle jeweils ein geiziger Gastgeber en passant aufs Korn genommen wird, widmet sich das Epigramm 10, 36, auf das sich Schoock wörtlich bezieht, in geistreicher Weise diesem Thema etwas ausführlicher:140 5
Inproba Massiliae quidquid fumaria cogunt, accipit aetatem quisquis ab igne cadus, a te, Munna, venit: miseris tu mittis amicis per freta, per longas toxica saeva vias; nec facili pretio sed quo contenta Falerni testa sit aut cellis Setia cara suis. non venias quare tam longo tempore Romam haec puto causa tibi est, ne tua vina bibas.
137 Marquardt 1886, S. 458–459. 138 Jochen Althoff wird eine umfangreiche gelehrte Erklärung dieser Stelle verdankt, aus der zitiert sei, daß es wohl um die Beobachtung gehe, „dass es in Weinen Sedimente (Weinstein) gibt, deren genaue Chemie natürlich unklar blieb.“ 139 Marquardt 1886 (▸ Anm. 137). 140 Munna ist nicht bekannt. Setiner (aus Latium) und Falerner (aus Kampanien) waren in Rom anerkannte Weine.
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A. Einführung
[Was auch die argen Räucherkammern Massilias zusammenbringen, welcher Krug auch vom Feuer Alter erhält, kommt, Munna, von dir: Du schickst deinen armen Freunden über Meere, über lange Wege schlimme Gifte; nicht zu einem Preis, der gefällig ist, sondern mit dem ein Krug Falerner oder Setiner, der seinem Keller teuer ist, zufrieden wäre. Warum du so lange Zeit nicht nach Rom kommst, dafür hast du, glaube ich, den Grund, damit du (hier) nicht deine Weine trinkst.]
Die im ersten Vers genannten inproba Massiliae fumaria hielt Schoock, der sie wörtlich aufnimmt, nun doch für eine übertriebene Charakterisierung des Spötters. Ihm stellt er einen Passus aus Galen, den er erneut bemüht, entgegen. Dort geht es um die heilende Wirkung des Weines, besonders bei bösartigen ‚kriechenden‘ Geschwülsten (herpetes). Hier sei Galen nicht im Original zitiert, sondern in der alten den Humanisten bekannten lateinischen Übersetzung,141 um zu zeigen, daß Schoock diese offensichtlich benutzt hat. Wenn passum (= vinum passum, Wein aus getrockneten Trauben) nicht zur Verfügung steht, sei leichter, weißer und ein wenig zusammenziehender Wein zu verwenden wie Falerner, Massilienser, Sabiner usw. (quod si in promptu passum non sit, vino tenui et albo et leviter astringente utendum est, quale Falernum est, Massiliense, Sabinum […]). Die gesperrten Wörter hat Schoock direkt aufgenommen. So ist festzustellen, daß mit Hilfe eines kultur- und literarhistorischen Exkurses über die Rolle des Rauches bei der Weinherstellung nachgewiesen wird (besser: nachzuweisen versucht wird), daß bei verräucherten Weinen nicht der Rauch an sich, der ja bei der Herstellung eine wichtige Rolle spielt, schuld ist, sondern seine übermäßige / unsachliche Anwendung durch die Weinproduzenten – schließlich geht es um eine laus fumi. Die Merkwürdigkeiten lassen sich ohne weiteres steigern, aber auch bei ihnen kommt es den Humanisten darauf an, für die pointierten Thesen die Schriften der Antike in Dienst zu nehmen – und ihnen nach Möglichkeit eine eigene Richtung zu geben. Ein abstruses Beispiel (Abstrusität galt nicht als Nachteil, sondern als Empfehlung) stammt aus dem älteren Plinius (p. 633): De Plinii naturæ bibliothecarii fide quis dubitet? Refert autem ad extremos Indiæ fines ab Oriente circa Gangis fontem Astomorum gentem habitare, ac solo halitu (& is fumo tam propinquus est ut vulgo fumus habeatur) radicum, florumque & sylvestrium malorum (quem naribus cum omnibus virtutibus eorum colligit) victitare. Si quis hæc vitia ducat, ac blanditias desideret, & illas abunde in fumo inveniet: qui vicarias vini operas præstare potest
141 Sie ist in der Ausgabe von Kühn abgedruckt.
II. Das literarische Genus
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non solum curas graves fugando, sed provocando etiam amabilem illam insaniam, cujus dulcedine omnia ebrietatis mala quidem excusare student. [Wer würde an der Glaubwürdigkeit des Plinius zweifeln, des Bibliothekars der Natur? Er berichtet aber, daß an der äußersten östlichen Grenze Indiens bei der Quelle des Ganges das Volk der Astomer wohne und nur von der Ausdünstung von Wurzeln und Blumen und wild wachsenden Äpfeln lebe (die es durch die Nase mit allen ihren Vorzügen aufnimmt). Wenn einer das für Mißgriffe hält und lieblichen Genuß wünscht, wird er gerade ihn im Rauch reichlich finden: Der kann Dienste leisten, die Stellvertreter des Weines sind, dadurch daß er nicht nur schwere Sorgen vertreibt, sondern auch jene liebenswerte Verzückung hervorruft, durch deren Zauber alle Übel der Trunkenheit zu entschuldigen sie sich ja bemühen.]
Nur der erste Teil geht auf Plinius,142 die überraschende Folgerung, die aus ihm gezogen wird, auf Schoock zurück. Plinius berichtet (Nat. 7, 25): Megasthenes gentem inter Nomadas Indos narium loco foramina tantum habentem, anguium modo loripedem, vocari Sciritas. ad extremos fines Indiae ab oriente circa fontem Gangis Astomorum gentem sine ore, corpore toto hirtam vestiri frondium lanugine, halitu tantum viventem et odore, quem naribus trahant; nullum illis cibum nullumque potum, radicum tantum florumque varios odores et silvestrium malorum, quae secum portant longiore itinere, ne desit olfactus; graviore paulo odore haud difficulter exanimari. [Megasthenes (berichtet), daß ein Volk unter den Nomaden Indiens, das an Stelle der Nase nur Löcher (Öffnungen) habe und nach Art der Schlangen schlappfüßig sei, Skiriten genannt werde. An der äußersten östlichen Grenze Indiens bei der Quelle des Ganges kleide sich das Volk der Astomer, das keinen Mund habe und am ganzen Körper borstig sei, mit Flocken des Laubs (Baumwolle) und lebe nur von der Ausdünstung und dem Duft, den sie mit den Nasen einatmen; sie hätten keine Speise und keinen Trank, nur verschiedene Düfte von Wurzeln und Blumen und wilden Äpfeln, die sie auf längeren Märschen mit sich tragen, damit ihnen nicht der Geruch fehle; durch einen ein wenig stärkeren Duft stürben sie (jedoch) ohne weiteres.]
Das ist eine abenteuerliche Geschichte, bei der man nicht recht weiß, ob Plinius sie selbst geglaubt hat.143 Schoock entschärft sie ein wenig und bemerkt einleitend, an Plinius’ Glaubwürdigkeit sei ja wohl nicht zu zweifeln – was bedeutet, daß
142 Plinius wird auch im 27. Kapitel des Tractatus de Butyro (▸ S. 8) der ‚Bibliothekar der Natur‘ genannt (Schoock 2008, S. 93). 143 Sie wird von König 1975, S. 168 im einzelnen erklärt. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß loripes ein exklusives Wort ist, das auch bei Plautus und Juvenal begegnet (▸ Maurach 1988, 112– 113 zu Plaut. Poen. 510), und die Astomi = ἄ-στομοι / ‚Mundlose‘ sind. Bei dem Geruch der wilden Äpfel denkt man an die Mitteilung von Schillers Frau Charlotte an Goethe über ihren Mann, daß „die Schieblade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schillern wohl tue und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne“.
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A. Einführung
man nach dem Wahrheitsgehalt des Berichts nicht zu fragen habe. Ihm kommt es allein darauf an, daß ein fernes Volk des Ostens nur von Düften und Gerüchen leben soll. Geht es dort um die Lebenskraft, geht es bei Schoock im folgenden sogar um die liebliche Verzückung, in die der Raucher durch den eingeatmeten Rauch (fumus) gerät – der Trunkenheit (ebrietas) vergleichbar, nur ohne deren sie begleitende Unannehmlichkeiten (mala). Welch eine Herleitung! Der PliniusAnekdote hätte es gar nicht bedurft. Die Hörer hätte der Vergleich von Rauchen und Trinken sicher auch so überzeugt. Aber Schoock reizte es, mit einem antiken ‚Beleg‘ zu operieren und ihn gar als verstärkenden ‚Beweis‘ anzuführen. Er verlangte von seinen Hörern / Lesern so viel Geist, daß sie sich nicht in kleinlicher Weise zur Kritik aufgerufen fühlten, sondern von der waghalsigen Gedankenführung angetan waren – vielleicht gerade den gepriesenen Rauch einatmend? Das mag genügen, um zu zeigen, daß die Laus fumi ein geistreiches Paradoxenkomium ist, das im Witz seinen Brüdern nicht nachsteht. Es ist überlegen argumentierend, schwierig im einzelnen zu verstehen, anspielungsreich hinsichtlich der griechischen und römischen Literatur sowie der Bibel, überhaupt erhebliche Bildung beim Publikum voraussetzend – mit einem Wort: eine anspruchsvolle Schrift, die – wie die Laudes-Literatur der Humanisten überhaupt – nicht belehren, sondern Vergnügen bereiten will. Gewiß steht sie mit dem Surditatis encomium auf einer Stufe, insofern sie wie die meisten Vertreter dieser Gattung etwas allgemein Geringgeschätztes preist, gewissermaßen in das rechte Licht zu setzen unternimmt. Die Gemeinsamkeit könnte freilich noch enger sein, insofern Schoock selbst von seinem Thema berührt sein mochte. Der zuletzt zitierte Passus p. 633 ist geradezu ein Hymnus auf das Rauchen – so wie p. 620 einen Hymnus auf die surditas bietet.144 Wie Schoock die surditas, die allgemein zu Recht als bedrückend empfunden wurde, verteidigte, konnte er sich aufgerufen fühlen, das vielkritisierte Rauchen zu verteidigen. Jedenfalls setzten die Herausgeber der Admiranda von 1666 die Laus fumi auf eine Stufe mit dem Surditatis encomium. An überraschendem Witz stehen die beiden Lobreden einander nicht nach – vielleicht auch nicht hinsichtlich der eigenen Betroffenheit des Autors. Ging es Schoock wie seinem Zeitgenossen Jakob Balde?145
144 ▸ S. 45. 145 ▸ S. 17–18.
III. Die Quellen
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III. Die Quellen 1. Griechische Quellen Es darf angenommen werden, daß Schoock, obwohl er auch griechische Sprache und Literatur lehrte,146 wie seine Kollegen griechische Autoren vielfach in lateinischer Übersetzung las. Insofern kann Mißverstehen des originalen Textes auch zu Lasten der Übersetzer gehen. Des weiteren war in Latein geschriebene Sekundärliteratur über griechische Literatur eine Quelle. Die Lesart Hadrianus Imperator (p. 621) ist dafür ein Beispiel.147 Wie römische Quellen zitierte Schoock natürlich auch griechische Quellen aus dem Kopf. Um Odysseus und die Sirenen aufscheinen zu lassen, brauchte er weder in die Odyssee noch in eine lateinische Version derselben zu schauen. 2. Römische Quellen Sprache und Literatur der römischen Antike beherrschte Schoock mühelos. Vieles hatte er präsent, wenn er sich etwa auf Cicero oder Horaz berief. Dabei konnte es leicht zu Ungenauigkeiten kommen. Diese Quellen waren großenteils auch seinen gelehrten Hörern / Lesern bekannt. Man war gewissermaßen unter sich. Wie bei anderen Autoren dieser Epoche ist bei Lesarten Schoocks, die uns heute fremd sind, damit zu rechnen, daß sie auf Ausgaben der Zeit zurückgehen.148 3. Humanistische Quellen Wie für das Thema von Baldes Solatium podagricorum149 wird es auch für die Schwerhörigkeit Kataloge berühmter Betroffener und bekannter Ereignisse
146 Eine einschlägige Nachricht über Schoocks ausgreifende Lehrtätigkeit in Deventer: „Uit eigen beweging hield hij hier ook collegia privata in het Grieksch“ (Knipscheer 1937, S. 890), ▸ auch Krop 2003, S. 890 über Schoocks ‘professorship of history, which he combined with lecturing on Greek and politics’. 1641 veröffentlichte er die De Hellenistis et linguâ Hellenisticâ dissertatio. „Schoockius gaf dit werk anoniem, ten gunste van Daniel Heinsius tegen Cl. Salmasius in het licht“ (van der Aa 1874, S. 398). 1647 las er in Groningen über Aristoteles’ Werk De generatione et corruptione (Krop 2003, S. 891). Schoocks Schriften zeigen eine erhebliche, auch detaillierte Vertrautheit mit der griechischen Literatur. 147 ▸ ebd. 148 Ein Beispiel: semicirculi / sessiunculi (p. 612), ▸ dort. 149 Lefèvre 2020, S. 35–38 (wo auch Zwinger genannt ist).
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A. Einführung
gegeben haben. Einen solchen bietet der Basler Theodor Zwinger (1533–1588), der im zweiten Band des Theatrum Humanae Vitae von 1586 einige Beispiele aufführt. Unter dem Stichwort AVDITVS LÆSVS. SURDITAS nennt er Possessa und Curata.150 Die letzten gehören dem christlichen Bereich an. Die Possessa sind dagegen für das Surditatis encomium von Interesse. Die Beispiele 2–4 scheinen sachlich unverändert in ihm auf. Sie werden deshalb hier zitiert (aber erst vor Ort behandelt).151 M. Crassvm ferunt surdastrum fuisse. Cicero libro quinto Quæstionum Tusculanarum. Hadrianvs consul Rom. surdaster, manus cauas, quo faciliùs audiret, à posterioribus ad anteriora spectantes auribus obtendebat. Gall. [sic] lib. II de Vsu part. cap. 12. At Cælius lib. 3. cap. 29. A. L. ad Imp. Hadrianvm hoc refert. Centvrio surdaster iussus ab Heliogabalo Imp. occidere Fabium Sabinum iurecos. in exilium agi debere subintellexit. Itaque seruatus est Sabinus. Spartianus.
Zwingers erstes Beispiel stammt von dem griechischen Epigrammatiker Nikarchos152 aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. (Anthologia Palatina 11, 251):153 Δυσκώφῳ δύσκωφος ἐκρίνετο· καὶ πολὺ μᾶλλον ἦν ὁ κριτὴς τούτων τῶν δύο κωφότερος. ὧν ὁ μὲν ἀντέλεγεν τὸ ἐνοίκιον αὐτὸν ὀφείλειν μηνῶν πένθ’, ὁ δ’ ἔφη νυκτὸς ἀληλεκέναι. ἐμβλέψας δ’ αὐτοῖς ὁ κριτὴς λέγει· Ἐς τί μάχεσθε; μήτηρ’ ἔσθ’ ὑμῶν· ἀμφότεροι τρέφετε. [Schwerhörig154 war der Kläger und schwerhörig auch der Beklagte, aber der Richter war noch schwerhör’ger als die Partei’n.
150 Dieser Katalog erscheint später nahezu wörtlich bei dem auf Zwinger fußenden (▸ Lefèvre 2020, S. 35–36) Laurentius Beyerlinck (1578–1627) unter demselben Stichwort, und zwar bereits in der 1. Aufl. Köln 1631 (Bd. 1, S. 725). Schoock könnte also auch Beyerlinck benutzt haben. 151 ▸ p. 613, p. 621, p. 616–617. 152 „Nikarchos ist kein bedeutender Geist, aber einer der hervorstechendsten Vertreter des griechischen Spottepigramms, das sich ja mit großer Vorliebe körperliche Fehler des Menschen als Thema wählt, um nach immer neuen Pointen zu haschen. […] Das Epigramm ist allmählich zur poetischen Miniaturform für ‘stories’ mannigfaltigster Art geworden, und ein Buch Epigramme stellte ein ‚buntes Einerlei‘ dar mit Witzblattecke und Anekdotenkram“ (Weinreich 1979, S. 333). 153 Text und Übersetzung nach Weinreich 1979, S. 333–334, der gemäß dem Thema seines Aufsatzes das Epigramm in einen weiten thematischen Rahmen stellt. Das kleine Gedicht wird neuerdings von Schatzmann in dem Kapitel „Eine Spezialität Nikarchs: Epigramme auf Schwerhörige“ (2012, S. 218–231) eingehend gewürdigt. 154 Das dreimalige κωφός wird von Schatzmann (▸ vorhergehende Anm.) mit ‚taub‘ übersetzt,
III. Die Quellen
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Jener erklärt: fünf Monate schulde der andre den Hauszins; dieser hinwider: des nachts hab er gemahlen das Korn. Und der Richter betrachtet sich beide: „Was gibt’s da zu zanken? Euere Mutter doch ist’s, sorgt darum beide für sie!“]
Zwinger führt die lateinische Übersetzung dieses Epigramms durch Thomas Morus (1478–1535) an. Sie ist ein klares Beispiel dafür, daß man sich griechische Texte gern in lateinischer Fassung zu eigen machte: Lis agitur, surdusque reus, surdus fuit actor, Ipse tamen iudex surdus utroque magis. Pro ædibus hic petit æs, quinto iam mense peracto, Ille refert, Tota nocte mihi acta mola est. Aspicit hoc iudex, Et quid contenditis? inquit. Annon utrique est mater? utrique alite.
Das ist eine wunderbare Szene, die natürlich die scharfsinnigen Humanisten zum Wettstreit herausfordern mußte. Weinreich nennt eine Reihe von Neulateinern, die Morus’ Version wiederholt bzw. paraphrasiert haben.155 Dieser Vorgang ist für Schoocks Interpreten von methodischem Interesse, da er öfter antike Texte in einem Wortlaut zitiert, der auch bei anderen Neulateinern begegnet, so daß zu schließen ist, einer von ihnen habe eine musterhafte Adaptation geschaffen, andere seien ihm mehr oder weniger getreu gefolgt.156 Was das Thema des schwerhörigen Richters betrifft, ist bemerkenswert, daß auch Schoock am Ende des Surditatis encomium ein entsprechendes groteskes Urteil eines schwerhörigen Richters anführt (p. 624).157 Man darf vermuten, daß es außer Zwinger (und dem ihm folgenden Beyerlinck) noch andere Beispielsammlungen dieser Art gegeben hat. Das Verfahren, daß Schoock bei Ereignissen, die von antiken Quellen überliefert werden, auf neuzeitliche Texte zurückgreift (wie in den vorgenannten Fällen), entspricht der Praxis eines humanistischen Autors. Anders als Goethes Faust „drängt’s ihn nicht, den Grundtext aufzuschlagen“. Wenn er bei Zwinger las, daß in dem Galen-Zitat Caelius den consul Hadrianus durch den imperator Hadrianus ersetzt habe, trieb er keine weiteren Studien wie der moderne Philologe, sondern
doch dürfte ‚schwerhörig‘ richtig sein, da doch alle drei Beteiligten glauben, sie seien einer Gerichtsverhandlung gewachsen, und zudem der Richter κωφότερος als die beiden κωφοί ist. 155 1979, S. 336–337. 156 ▸ weiter unten. 157 ▸ daselbst.
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A. Einführung
entschied zugunsten der Prominenz des surdaster (p. 621).158 Oder wenn er die beherrschte Haltung des alten Zensors Cato, Beleidigungen zu ignorieren, schildert, genügte es ihm, die in der humanistischen Literatur verbreitete Version, die Cato einen Socrates Romanus nennt, zu zitieren, nicht aber Senecas ‚Urwort‘.159 Nicht anders zeigt die Anekdote von dem Kitharöden bei den Iasiern (p. 612), daß Schoock nicht der originalen Version von Strabon folgt, sondern eher Erasmus, der seine Paraphrase (wie Schoock) mit Apud Ias(s)ios beginnt. Doch können dazwischen noch Zwischenquellen liegen, da Schoock Philologen verspottet, die Iaspios lesen.160 Ein sicheres Beispiel für diese Methode dürfte die Berufung auf das Gesetz der byzantinischen Kaiser Leo und Alexander sein, nach dem der Richter beim Urteilen mehr seinen Augen als seinen Ohren zu trauen habe (p. 625). Mit Sicherheit hat Schoock das betreffende vielbändige Gesetzeswerk nicht nachgeschlagen, sondern eine allgemein bekannte Regel zitiert161 – so wie man bis 1994 allgemein vom Paragraphen 175 sprach, ohne das Strafgesetzbuch je studiert zu haben und die genaue Formulierung zu kennen.
4. Umgang mit Quellen Schoock strebte in der Regel weder an, die in den Quellen dargestellten Ereignisse getreu wiederzugeben, noch andererseits, sie in ihrem Ablauf willkürlich zu verändern oder gar zu widerlegen. Wohl aber liebte er es, das berichtete Geschehen insgesamt in einen neuen argumentativen Zusammenhang zu stellen. Am häufigsten begegnet das Verfahren, ausdrücklich zu konstatieren, daß die einzelnen bekannten Vorkommnisse einem surdus nicht begegnen könnten und dieser Umstand einen Glücksfall für ihn bedeute. Es ist ja die Haupttendenz des Surditatis encomium, die Vorteile der Schwerhörigen in pointierter Weise evident zu machen. Doch zuweilen änderte er das Tradierte, das vielen bekannt war, um eine besondere Wirkung zu erzielen. Ein glänzendes Beispiel ist die schon erwähnte von Strabon erzählte Anekdote,162 daß bei den Iasiern an der westlichen Küste von Kleinasien (wo die Leute besonders vom Fischfang lebten) ein Kitharöde
158 ▸ S. 135–136. 159 ▸ S. 129. 160 Zu der Anekdote ▸ weiter unten. 161 ▸ Anm. 509. 162 ▸ S. 110–113.
IV. Die Zeugen
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ein Konzert gab, dem unter vielen anderen auch ein Schwerhöriger beiwohnte. Als aber eine Klingel ankündigte, daß der Verkauf auf dem Fischmarkt beginne, eilten alle außer dem Schwerhörigen davon. Nach dem Konzert bedankte sich der Musiker bei diesem, daß er geblieben sei, obwohl der Fischmarkt geöffnet habe: Daraufhin erhob sich der Schwerhörige, der die Klingel nicht gehört hatte, und begab sich ebenfalls zum Markt. Schoock deutet die Geschichte um: Bei ihm bleibt der surdus aus Interesse an der Musik und beweist damit, daß er trotz seinem schadhaften Gehör mehr Kunstverständnis als die große Menge hat! Diese Wendung geht sicher auf Schoock zurück, der ja die Feinsinnigkeit der Schwerhörigen beweisen will. Natürlich ist die Neufassung per se verständlich. Doch rechnet Schoock sicher auch damit, daß mancher aus dem gelehrten Kreis seiner Hörer bzw. Leser die Umformung bemerkt – und schätzt. Das Surditatis encomium ist keine popularmedizinische Schrift, sondern ein Traktat für Hochgebildete – auch für solche, die nicht schwerhörig sind.
IV. Die Zeugen 1. Antike Zeugen Schoocks Rede ist ein charakteristisches Erzeugnis der Humanistenzeit, das ein Problem, das in der Vergangenheit ebenso aktuell gewesen ist wie in der Gegenwart, ganz aus dem Ambiente der Antike heraus gestaltet, die nicht nur die Sprache, sondern auch die Menschen und die Begebenheiten bereitstellte. Die Argumentation wird nahezu konsequent durch den Bezug auf den Mythos und die Geschichte einerseits und durch das Zitieren griechischer und römischer literarischer Darstellungen andererseits geschmückt. Schoock und seine Kollegen hätten ihren Gedankengang durchaus ohne Hinweise auf antike Personen und ohne Anspielungen auf antike Porträts verfolgen können. Aber dann wäre ihre Absicht, sich als legitime Erben der vorbildlichen antiken Autoren darzustellen, nicht so sinnfällig geworden. Es kam ihnen bis zu einem gewissen Grad darauf an, sich als Fortsetzer, Weiterentwickler der antiken Vorbilder und ihrer Gestaltungen zu präsentieren, keinesfalls als bloße Nachahmer, als Epigonen. Sie ließen bewußt erkennen, daß sie auf den Schultern der Alten stehen. Dieses Verfahren implizierte auf der Seite der Rezipienten, daß sie in der Lage sein mußten, die Anspielungen zu erkennen und vor allem die pointierten Umformungen zu würdigen. Im Fall des Themas des Surditatis encomium bietet bereits eine kursorische Lektüre der Schrift Überraschungen darüber, wieviele bedeutende Gestalten der
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A. Einführung
Antike an Schwerhörigkeit litten. Wer hatte schon im Gedächtnis oder wußte überhaupt, daß Größen wie etwa Marcus Licinius Crassus163 (p. 613) hierherzuzählen seien? An anderer Stelle geht es um die Praxis, die Rede durch Gesten zu unterstützen. Einen Lehrer Lämpel mit seinem erhobenen Finger, hätte er zwei Jahrhunderte früher sein Unwesen getrieben, zu zitieren, wäre einem Humanisten nicht in den Sinn gekommen. Aber wenn er – und auch sein Publikum – wußte, daß nach Ciceros Zeugnis Lucius Licinius Crassus,164 der neben Marcus Antonius bedeutendste Redner seiner Zeit, beim Vortrag den Finger bedeutsam zu erheben pflegte (p. 621), dann mochte er daran nicht vorübergehen. Auf der anderen Seite ist es natürlich Absicht, einen Text vorzulegen, dessen Behauptungen ‚belegt‘, nicht einfach dahingesagt sind. Dasselbe Spiel begegnet ein Jahrzehnt später im Solatium podagricorum (1661), in dem Balde häufig die Darstellungen, daß jedermann bekannte Männer der Geschichte an Podagra litten, durch Zitieren von Quellen ‚belegt‘, die auf diese Weise die Glaubwürdigkeit seiner Darstellungen und Argumentationen ‚verbürgen‘. Balde hat eine Reihe von Personen der Enzyklopädie von Laurentius Beyerlinck (1631) entnommen, in der sie jeweils in wenigen Zeilen charakterisiert waren. Wenn in der Interpretation (Teil C) zumeist die antiken Quellen für die angeführten Zeugen benannt und zitiert werden, so ist auf der anderen Seite zu bedenken, daß ein hochgelehrter Mann wie Schoock viele Fakten und Begebenheiten aus dem antiken Geistesleben kannte, ohne daß er zur Zeit der Abfassung der Rede die Belege parat hatte. Zudem war unter den Humanisten vieles Allgemeingut vom Unterricht und vom Studium her, wofür sie Nachweise nie eruiert hatten. Bis zur Revolution von 1968 und ihrer Folgezeit sprach der gebildete Deutsche ohne weiteres von ‚Ziethen aus dem Busch‘, ohne eine Geschichte von Friedrich dem Großen und seinem Reitergeneral gelesen oder Fontanes Ballade auswendig gelernt zu haben. Vergleichbar ist, daß noch heute allgemein gesagt wird, auf Bismarck gingen Grundpfeiler der Sozialgesetzgebung zurück, ohne daß man im geringsten Quellenstudien betrieben hat. Wenn in dieser Abhandlung dennoch nach Möglichkeit die Quellen für die angeführten Zeugen genannt werden, wird nicht unterstellt, daß Schoock über alle präzise informiert war. Dennoch: An seiner Kompetenz besteht kein Zweifel.
163 115–53, Konsul 70 und 55. 164 140–91, Konsul 95.
V. Die Form
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2. Neuere Zeugen Gegenüber den antiken Beispielen treten Anspielungen auf neuere individuelle Personen ganz zurück. Heraussticht das Geschwistertrio der beiden Priester aus Mähren, die schwerhörig und stumm waren, und ihrer Schwester, die ebenfalls schwerhörig und stumm, überdies blind war, die sich alle drei gut zu verständigen vermochten – und zwar durch Gesten (p. 622). Die Männer konnten mit ihrer Hilfe alles erkennen (ex nutibus omnia cognoscere), alles bezeichnen (omnia significare) und sogar das regelrechte Bekenntnis des Glaubens verkünden (fidei quoque confessionem orthodoxam edere), die Frau ihrerseits unter Zuhilfenahme des Tastsinns und mit Unterstützung feinster Andeutungen, was auch immer für die Bedürfnisse des Lebens anzugeben war, erbitten und empfangen (in subsidium vocato tactu, subservientibusque distinctis acuum punctionibus, quicquid pro necessariis vitæ usibus significandum erat, petere ac accipere). Für eine solche extreme Konstellation ließ sich schwerlich ein antikes Beispiel finden. Die Suche nach einer Quelle dürfte in diesem Fall schwierig sein. Adelt die Zeugen in den meisten Fällen die Zugehörigkeit zur Antike, heißt es hier wenigstens, die Priester seien nobilissimi Patres gewesen. Andererseits gibt es natürlich Personen der Gegenwart, deren Treiben für empfindliche Individuen unangenehm ist, laut schreiende Politiker (p. 607 / 608) und Marktbeschicker (p. 608) oder unschicklich lachende Possenreißer (p. 611) – und derlei tönende Zeitgenossen. Diese werden aber nicht individuell vorgeführt. ‚Würdigungen‘ sind in der Regel antiken Personen und Persönlichkeiten vorbehalten.
V. Die Form 1. Titel Wie es in der Laudes-Literatur verbreitet ist, wird auch Schoocks Beitrag mit zwei Titeln genannt. Im Erstdruck (1650) heißt er Surditatis encomium (auch im Inhaltsverzeichnis des Bandes), im Zweitdruck (1666 und später) ebenfalls Surditatis encomium, aber im Inhaltsverzeichnis und in der jeweiligen Seitenüberschrift Laus surditatis. Da anzunehmen ist, daß Schoock am ehesten den Erstdruck (der ausschließlich eigene Abhandlungen enthält) korrekturgelesen hat, wird in dieser Arbeit vom Surditatis encomium gesprochen.
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A. Einführung
2. surdus und surdaster Im Gegensatz zur römischen Antike, in der surdus die Bedeutungen ‚taub‘ und ‚schwerhörig‘ hatte, verwendet Schoock das Wort nur im Sinn von ‚schwerhörig‘ bzw. ‚harthörig‘.165 Das zeigen drei Beispiele: Jener surdus apud Jasios (p. 612), der im Gegensatz zu den unzähligen anderen Zuhörern sich die Kunstdarbietung des Kitharöden bis zum Ende angehört und damit bewiesen hat, daß es jemanden gebe, der den Musen und Apollo nicht fernstehe, muß noch einiges gehört haben. Die Geschichte wäre sonst irreal. Am Ende von p. 620 ist von den Menschen die Rede, die in der Nähe der Katarakte des Nils wohnen und denen der Krach das Gehör ‚raube‘; trotzdem können sie sich alle unterhalten und werden gegenseitig verstanden (tamen omnes illi inter se colloquuntur, ac se invicem intelliguntur). Auch an dieser Stelle kann surdus nur ‚schwerhörig‘, nicht ‚taub‘ heißen. p. 623 wird von dem surdus gesprochen, der auf dem Marktplatz mitten unter dem Geschrei von Kindern über die Ruhe verfügt, derer die Eremiten in ihrer Einöde teilhaftig sind. Wenig später wird auf die Zeit verwiesen, in der das Geschäft seiner Ohren stillstehen werde (si aliquando aurium ratio tibi constiterit). Das ist der Lebensabschnitt, in dem er dann taub sein wird. Der surdus ist also (vorerst) ein Schwerhöriger. Daneben gibt es das Wort surdaster = ‚ein wenig schwerhörig‘.166 Klassisch167 ist es nur bei Cicero Tusc. 5, 116168 in einer Äußerung über Marcus Licinius Crassus belegt (wo Schoock es gefunden hat). Dort heißt es mit einem Wortspiel: in surditate vero quidnam est mali? erat surdaster M. Crassus; sed aliud molestius, quod male audiebat, etiamsi, ut mihi videbatur, iniuria [„Was für ein Übel liegt wirklich in der Schwerhörigkeit? M. Crassus war ein wenig schwerhörig, aber etwas anderes war ihm lästiger, daß er nämlich Schlechtes über sich hörte – wenn auch, wie mir schien, zu Unrecht“]. surdaster gebraucht Schoock dreimal: für Marcus
165 ‚Harthörig‘ bedeutet sowohl ‚schwerhörig‘ als auch ‚nicht hören wollend‘ = ‚geizig‘ (▸ Grimmsches Wörterbuch). Auf surdus trifft nur das erste zu. 166 „Deminutiv zu surdus, das sich nur hier findet. Ebenso bezeichnet recalvaster einen, der nur teilweis calvus ist, poetaster einen Dichterling“ (Heine 1896, S. 157, Sperrung ad hoc). 167 Später auch bei Augustinus, der surdus und surdaster unterscheidet: Contr. Iul. 5, 9, 37 […] surdus non capit, surdaster non totum capit [„der Taube versteht nicht, der Schwerhörige versteht nicht alles“]; zu surdaster in seiner doppelten Bedeutung ▸ auch Epist. 187 (ad Dardanum praefectum praetorio Galliarum): sicut ipsa nomina surdastris auribus unum atque idem sonant, ita res ipsas surdastris cordibus unum idemque esse persuadere te posse confidas [„Wie selbst Namen den harthörigen Ohren als ein und dasselbe klingen, so magst du überzeugt sein, daß selbst Sachen den harthörigen Herzen als ein und daselbe klingen“]. 168 Oben S. 10–11 zitiert.
V. Die Form
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Licinius Crassus (p. 613), für einen (namenlosen) Zenturio (p. 616) und für den Kaiser Hadrian (p. 621).
3. Redecharakter Mit der Anrede AA. = Auditores macht Schoock gleich am Anfang deutlich, daß er eine Rede vorlegt, nicht einen wissenschaftlichen Traktat – wie denn der Sammelband Orationes von 1650 den Rahmen abgibt.169 Penible Erklärungen dürfen nicht erwartet werden. Sie nähmen den pointierten Darlegungen – man darf auch sagen: Behauptungen – ihren Reiz. Schoocks rasante Rede jagt über mehr als 20 Druckseiten absatzlos von einem Punkt zum anderen, die Gedankengänge bald assoziativ, bald adversativ verbindend: Eine einzige Linie knüpft die Lichter des Feuerwerks aneinander. Es ist daher etwas barbarisch, den Fluß der Schoockschen Argumentation(en) durch Absätze und Überschriften zu gliedern, wie es hier geschieht; doch mag ein solches Verfahren dem modernen Leser, der die zahlreichen Anspielungen auf antike Texte nicht sofort auflösen, überhaupt verstehen kann und schon gar nicht gewohnt ist, einer lateinischen Rede absatzlos zu folgen, die Rezeption erleichtern.
4. Adressaten Angesprochen sind die Gebildeten, die eruditi, wie es gleich zu Anfang heißt – und das mit Recht. Voraussetzungen sind das Beherrschen der lateinischen Sprache und ein breites Wissen auf den Gebieten der Mythologie, der Literatur, der Geschichte und der Bibel. Es bereitet ein intellektuelles Vergnügen, in einem Traktat über die Schwerhörigkeit bekannte Gestalten wie Odysseus und die Sirenen aus dem Mythos oder den Schwätzer Fabius aus der Literatur oder Alexander und Cato aus der Geschichte oder Moses und David aus dem Alten Testament anzutreffen. Der Reiz liegt für den Wissenden in dem überraschenden Zusammenhang. Begegneten ihm die vorgestellten Verhaltensweisen bei neutralen Personen, wäre der Genuß der Lektüre nicht annähernd so groß. Nicht wissenschaftlicher Ernst wird erwartet, sondern Freude an pointierter, ja auch spitzfindiger Argumentation. Es gilt: Ein Auctor doctus schreibt für Lectores docti – man kann auch sagen: für Gleichgesinnte.
169 Zu dem Redecharakter der Enkomien allgemein ▸ Miller 1956, S. 152.
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Sicher klingt nicht zufällig in den ersten Zeilen des Proömiums der Terminus der Res publica literaria an: erudita respublica (p. 602).170
5. Überlegene Ironie Redner und Hörer und damit natürlich auch Leser sind sich durchgehend dessen bewußt, daß sie auf den Schultern der alten griechischen Sophisten stehen, insofern es darum geht, ‚die schwächere Sache zur stärkeren zu machen‘ (τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιεῖν). Das verleiht Schoocks Argumentation eine besondere Anziehungskraft, eine überlegene Ironie. Wenn es etwa heißt, die Haltung, die der alte Zensor Cato, der als römischer Sokrates (Socrates Romanus) bezeichnet wird, aufgrund hoher ethischer Gesinnung erreicht hatte, daß er auf Beleidigungen gar nicht reagierte, stehe dem surdus als ein Privileg von Natur aus zur Verfügung, der sich Schmähungen gegenüber nicht mehr als ein Stein bewege, weil er dieselben gar nicht wahrnehme (p. 618) – dann zeigt eine solche Argumentation beispielhaft, daß das Surditatis encomium von einem ironischen Ton bestimmt ist.171 In diesen Zusammenhang gehört der paradoxe Vorfall, daß der Kaiser Elagabal befohlen habe, einen Schuldigen hinzurichten, der beauftragte Zenturio aber wegen seiner Schwerhörigkeit verstand, der Delinquent solle in die Verbannung geschickt werden – so daß dieser mit dem Leben davonkam (p. 616).172 Das könne mancher als Zufall in einem Einzelgeschehen ansehen, heißt es, es sei aber kein Zufall, sondern in höherem Sinn allgemein zu verstehen. Der gute Ausgang werde der Schwerhörigkeit des Zenturio verdankt, denn die surdi blieben vor solchen (ungerechten) Befehlen bewahrt und kennten daher Verleumdungen – fast (fere) – nicht. Das ist eine Beweisführung, in der Haltbarkeit und Unhaltbarkeit der Argumente eine seltsame Verbindung eingehen. Sie ist auf Rezipienten abgestellt, die in der Lage sind, das hochintellektuelle Spiel zu erkennen und anzuerkennen – keineswegs auf solche, die alles naiv für bare Münze nehmen oder aber umgekehrt beckmesserisch nachrechnen.
170 ▸ S. 85. 171 ▸ S. 129–130. 172 ▸ im einzelnen S. 125–126.
V. Die Form
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6. Irreale Erwägungen Eine besondere Argumentationsweise ist die öfter begegnende Ausmalung der Konsequenzen, die sich ergeben hätten, wenn bestimmte Ereignisse nicht geschehen wären. Das sei an einem historischen Beispiel vorgeführt. Es ist ein wundersames Räsonnement des Redners, die berühmte Hetäre Thais in sein Gedankengewebe miteinzubeziehen und den Eroberer Alexander den Großen als ihr verfallen vorzuführen, der auf ihren nachdrücklichen Rat hin die reiche Stadt Persepolis zerstört habe. Wenn damals bei dem Sieger über Asien, sagt er, entweder der Verstand zur Anwendung gekommen wäre oder er wie ein Schwerhöriger nicht hätte (ausreichend) hören können, wäre die Pracht der reichen Stadt durch viele Jahrhunderte hin bis heute erhalten geblieben!173 Diese blitzende Argumentation ist für den Augenblick erdacht und läßt dem Zuhörer keine Zeit, darüber nachzudenken, ob ein Schwerhöriger überhaupt ein so großer Feldherr hätte sein können wie Alexander. Selbst der beherrschte Dichter Jakob Balde ließ sich dieses Denkschema nicht entgehen, wenn er wenige Jahre später im Solatium podagricorum (1661) eine Reflexion über die Erwägung vorlegte, was geschehen bzw. nicht geschehen wäre, wenn Caesar mit Chiragra und Podagra ‚gefesselt‘ im Garten der Ptolemäerin Cleopatra gelegen hätte, statt als Kriegsherr mit seinen Soldaten durch die Länder zu eilen (2, 25, 17–26): 20 25
Profuerat, semper manibus pedibúsque ligatis, In molli pluma, viridi Ptolemaidos horto, Constrictum iacuisse; velut Catilina iacebat. Semper enim lecti vinclis hærere coactus, Nunquam transisset Rubiconem milite ducto Ad quæuis imitanda: nec alea iacta fuisset. Nec tantum Latij fudisset in orbe cruoris Thessalico: neque triste nefas serpsisset in arcem Tarpeiam, frangens Fasces, Brutíque secures. Est, vbi proficimus morbis, fítque vtile damnum.
[Es wäre nützlich gewesen, daß er immer mit gebundenen Händen und Füßen, auf weichem Polster, im grünen Garten der Ptolemäerin
173 Si aut ratio eo tempore Asiæ triumphatori constitisset, aut molesta audiendi saburra, velut injecta mari moles, illabentem sonum sufflaminasset; decus suum in multa adhuc secula tuita fuisset urbs […] (p. 606).
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gefesselt gelegen hätte – so wie Catilina dazuliegen pflegte. (20) Denn gezwungen, immer in den Fesseln des Ruhelagers festzusitzen, hätte er niemals den Rubicon überschritten und den Soldaten dazu geführt, alles ohne Unterschied (ihm) nachzutun: ‚Nicht wäre der Würfel gefallen.‘ Noch hätte er so viel römisches Blut vergossen im thessalischen Gebiet, noch wäre das traurige Verbrechen geschlichen auf die Tarpeische Burg, (25) das Brutus’ Rutenbündel und Beile brach. Zuweilen gewinnen wir durch Krankheiten und bringt Schaden Nutzen.]
Welch geistreiches Sophisma! Hätte Caesar Podagra gehabt, wäre die Weltgeschichte anders verlaufen…174
VI. Der Gehalt 1. Relativer Wert der Ohren Wichtiger als der Hörsinn ist der Sehsinn, weil er sicherere Erkenntnisse erlaubt. Dem Hörsinn kommt nur ein relativer Wert zu. Doch er pflegt, wie gesagt wird, ein Stellvertreter der Fähigkeit des Sehens zu sein und mit kenntnisreicher, wenn nicht gar genauer Lenkung das auszugleichen, was der Sehsinn zu besitzen scheint175 – immerhin. Explizit festgestellt wird die Höherwertigkeit des Sehsinns im Vergleich zum Hörsinn anhand des Fehlurteils eines schwerhörigen Richters unter Berufung auf die byzantinischen Kaiser Leo und Alexander, die allen denen, die beim Urteilen ihren Ohren mehr als ihren Augen vertrauen, anwünschten, daß sie Gott und die Himmlischen Mächte als Widersacher erfahren, aus diesem Leben lieber entschwinden als in ihm hervorragen, von fortdauernden Schäden heimgesucht werden, schließlich die Fundamente ihrer Häuser Feuer verzehrt und die Nachkommen bis zu dem Mangel geführt werden, daß sie von Haus zu Haus nach Brot suchen, weil sie die Gesetze, die sehr frei sein müßten, gewissermaßen zu Sklaven und Gefangenen gemacht haben.176 Das ist eine gewichtige Aussage.
174 ▸ Lefèvre 2020, S. 350–354. 175 vicarius […] solet esse videndi potentiæ eruditoque, si non scrupuloso, moderamine pensare, illa quæ possidere videtur sensus (p. 603). 176 Leo & Alexander Imperatores: qui omnibus iis, qui oculis suis plusquam auribus in judicando crediderint, precantur ut Deum atque Cœlestes potestates adversantes experiantur, ex hac vita excidant potius, quam excedant: incommodis afficiantur perpetuis, ædium ipsorum fundamenta ignis tandem devoret, & posteritas eo redigatur inopiæ, ut panem ostiatim quæritet, quod leges, quas liberrimas oporteret esse, servas quodam modo ac captivas effecerint (p. 624 / 625).
VI. Der Gehalt
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Natürlich wird der Hörsinn nicht abgewertet, aber seine Nachteile sind nur relativ. Dessen ist sich der Redner voll bewußt: „Es ist allerdings lieblich, der Flötenspieler und Leierspieler gelehrte Weisen zu unterscheiden, der unbegleiteten Stimme Melodien wahrzunehmen, der Redner kunstvolle Blitze durch die Gänge der Ohren bis in das Innere des Sinnes gehen zu lassen; und wiederum deren sanftes Surren wie die Klänge der Hirtenflöte abzumessen: Aber wie oft ist nicht mit diesen lieblichen Genüssen durch die Ohrenhöhlen Gift zu den Tiefen des Sinnes geglitten, durch das der Verstand, gleichsam aus einem Hinterhalt überfallen, das Ehrenhafte zu vergessen und den nachkriechenden Begierden Platz zu geben beginnt?“177 Dieses Räsonnement leitet über zu dem Aspekt des absoluten Wertes der surditas.
2. Absoluter Wert der surditas Eine durchgehend pointierte und paradoxe Technik des Argumentierens im Surditatis encomium ist es, darzulegen, wie sehr es in vielen Situationen von Vorteil ist, bestimmte Dinge nicht zu hören. Soweit es darum geht, daß der surdus weder streitende Dohlen wahrnimmt noch brüllende Esel noch grunzende Schweine noch heulende Wölfe oder bellende Hunde,178 daß er ferner von dem Lärm der schon vor Tagesanbruch fleißigen Schmiede (antelucana fabrorum diligentia) nicht belästigt wird und er in seiner Studierstube (museo suo) Ruhe hat (p. 620), ist dem natürlich beizupflichten. Auch daß er von lauten Marktschreiern verschont wird (p. 610), kann man ohne weiteres als Pluspunkt werten. Doch sind schon diese Argumente cum grano salis zu verstehen, da sich im Hintergrund jedesmal die Frage erhebt, mit welchen allgemeinen Nachteilen diese Vorteile erkauft werden. Aber es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Untersuchung, sondern um eine geistreiche, oft spitzfindige – und gerade dadurch die angesprochenen Rezipienten entzückende – Gedankenkette. In die Weltgeschichte greifen die längeren Erwägungen ein, zu wieviel Unheil die Regierenden durch die Einflüsterungen schlechter Ratgeber verleitet werden,
177 Equidem dulce est, aulædorum ac citharœdorum eruditos modulos distinguere, assæ vocis modulamina sublegere, oratorum artificiosa fulmina per aurium meatus ad interiora usque animi dimittere; iterumque lenes eorum susurros, velut pastoritiæ fistulæ strepitus dimetiri: sed quoties non cum his blanditiis per aurium cava, ad animi profunda delapsum venenum est, quo ex insidiis quasi occupata ratio, oblivisci cœpit honesti, locumque facere surrepentibus voluptatibus? (p. 605). 178 nec altercantes audiat graculos, nec rudentes asellos, nec grunnientes sues, nec ululantes lupos, nec latrantes canes (p. 607).
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A. Einführung
Fürsten der Gegenwart und vor allem – der Gepflogenheit des Genus entsprechend – römische Kaiser der Vergangenheit, die den Delatoren ein offenes Ohr geliehen hatten (p. 616–618). „Ich werde ganz mit Schaudern erfüllt“, ruft der Redner aus, „sooft ich bedenke, wieviel sich nicht diese nagenden Würmer / Motten bei den arglosen Ohren der Kaiser angemaßt haben.“179 Aber mit Hilfe von Davids Gebet in den Psalmen „Herr, bewahre meinen Geist vor ungerechten Lippen und ränkevoller Zunge!“ wird festgestellt, vor diesen Dingen seien die Schwerhörigen durch ein himmlisches Geschenk sicher, da sie die Verleumdungen nicht hören, sie fast nicht kennen und äußerst selten verbreiten.180 Natürlich darf der Rezipient nicht fragen, ob das Delatorenunwesen nicht eher in den Bereich der Fürsten als den der Privaten gehöre. Auf dem Hintergrund der zitierten Tacitus-Texte handelt es sich einfach um ein geistvolles Spiel, das Kriterien der Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit nicht abwägt. Dieses spitzfindige Verfahren, dem allgemein Mindergeschätzten positive Seiten abzugewinnen, ja diese evident erscheinen zu lassen, gehört zu der Laudes-Literatur der Humanisten. Das zeigt sich noch bei dem wenig späteren Jakob Balde im Solatium podagricorum. Gleich zu Anfang des Werkes heißt es, das Podagra sei der Dominus morborum & morbus Dominorum (1, 1). Denn es ist eine Krankheit der Herren, d. h. der Reichen. Deshalb wird dem Adressaten immer wieder klargemacht, wie gut er es als Reicher habe: Während andere in einer Hütte schlafen (1, 32), ruhe er wie Sardanapal auf weichen Federn (2, 84) und wohne wie Maecenas in vornehmen Häusern (2, 3); während andere Kriegsdienst leisten, sei er davon verschont (2, 30); während andere frugal essen, schwelge er in feinsten Speisen und trinke exzellenten Wein (2, 4); während andere als Kauffahrer gefährliche Reisen unternehmen, beauftrage er seine Leute, die Waren für ihn aus der Ferne zu holen (2, 12); er könne sich in Ruhe den Wissenschaften, Künsten und Musen, scientijs, artibus, Musis, hingeben (1, 4) und sei vor (aktivem) Ehebruch gefeit. Denn das Podagra sei eine Virtutum magistra (2, 26, 1)!181 Das ist ein spitzfindiger Tanz auf dem Eis, den die Verfasser der Laudes-Literatur anstreben. Nicht wird gefragt, ob die Vorteile die Nachteile wirklich aufwiegen. Eine solche Frage könnten nur Banausen stellen – die lesen bzw. hören aber nicht diese gelehrte Literatur.
179 Exhorresco totus quotiescunque cogito quantum sibi non arrogarint hæ aulæ tineæ apud credulas Imperatorum aures (p. 617). 180 Ab his autem cœlesti munere cautum est surdis, qui quoniam calumnias non audiunt, fere ignorant, rarissimeque dispergunt (p. 617). 181 Allerdings sei sie nodosa = ‚mit Knoten versehen‘ (gemeint sind die Gichtknoten).
VI. Der Gehalt
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3. Beherrschte Männer und schwatzhafte Frauen Ein Mann ein Wort, eine Frau ein Wörterbuch – ein alter Spruch. „Sprichwörter und sprw. Redensarten über Frauen entstammen zumeist männlich-patriarchalischem Denken und sind darum nicht selten frauenfeindlich.“182 Schoocks Zeitgenosse Jakob Balde formulierte 1664 in seinem Elenchus, einem weitläufigen Verzeichnis von Themen vorwiegend für den Rhetorikunterricht, als Frage: Quare facta viris, verba fæminis comparentur [„Weshalb Taten mit Männern, Wörter mit Frauen verglichen werden können“].183 Schoock befindet sich in Übereinstimmung mit seinen wohl überwiegend männlichen Rezipienten, wenn er unter dem Aspekt der surditas in diese Kerbe haut. Männer also sind beherrscht. Hierfür sind Ulixes (p. 606), Cato (p. 618), Cicero (p. 619) oder Archimedes (p. 620) vorbildliche Beispiele. Aus verschiedenen Gründen lassen sie sich durch verführerische (Ulixes), disqualifizierende (Cato), wohlmeinende, doch ihrer Meinung nach falsch urteilende (Cicero) oder lärmende (Archimedes) Stimmen nicht aus der Ruhe bringen bzw. zu falschem Tun verleiten. Sie reden nicht, sie handeln, entscheiden, forschen. Natürlich gibt es Gegenbeispiele – wie Horaz’ unsterblichen Schwätzer Fabius (p. 613). Aber schwatzhaft, das sind im allgemeinen die Frauen. Sie finden in Schoocks Oratio unter dem Aspekt ihren Platz, daß die surdi (natürlich Männer) von ihnen verschont werden. So heißt es über die Frau, die an kultischen Feiern mit orgiastischen Zügen teilzunehmen pflegt: Sooft sie krank daniederliege – zwar die übrigen Körperteile, an denen sie Beklemmungen für ihren besessenen Priester erleide, ihr Schmerzen verursachten, Augen, Hände, Bauch, Füße –, bleibe dennoch in einem fort die tönende und unselige Stimme unversehrt, so daß weder die Kehle jemals an Heiserkeit leide noch die Zunge Vereiterung überkomme noch die Heftigkeit eines Katarrhs das Zäpfchen (im Hals) vergrößere (was den Weg der Stimme behindern würde) noch schließlich ihr etwas von den Dingen, die die Rede verdunkeln, zusetze. Andere Fehler des Charakters könne entweder Unterweisung oder eine strengere Ermahnung, wenn nicht austreiben, so doch – wenigstens wenn sie ausarten – zur Ordnung zwingen: Allein die Zunge der schwatzhaften Frau sei, wenn sie nicht mit dem Messer vorn abgeschnitten werde, gegenüber jedem Heilmittel empfindungslos. Sie scheine zwar zuweilen einer Ermahnung nachzugeben, aber wie verstopfte Röhren nach Entfernung des Hindernisses mit einem heftigeren Drang als vorher das Wasser ausspeien, könne sie nach der zeitweisen Behinderung unnütze leere Worte mit vollen Schüsseln
182 Röhrich 1990, S. 471. 183 Lefèvre 2017, S. 238.
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A. Einführung
ausgießen (p. 608 / 609).184 Gewiß hat das Ambiente antikes Kolorit,185 aber es ist natürlich vor allem die Gegenwart gemeint. Es ist der witzig-übertriebene Ton, der die Invektive auch Männern, die nicht unbedingt frauenfeindlich sind, ein Lächeln entlockt. Das gilt auch für die berühmte Frau des Sokrates, die mit einer resoluten Stimme begabte Xanthippe, die sprichwörtliche Berühmtheit186 erlangt hat187 und auch im Surditatis encomium aufscheint (p. 610). Gegen sie vermochte Sokrates nur mit einem Trick zu bestehen.188 Gelehrt werden auch letztlich auf den WeiberIambos des frühgriechischen Lyrikers Semonides zurückgehende diesbezügliche Eigenschaften der Frau zitiert: quietis impedimentum und canis ornata (p. 609 / 610).189 Sehr pointiert wird im Hinblick auf die inkriminierte Eigenschaft der Frau ferner die neuzeitliche Weisheit des Königs Alfons V. von Aragonien zitiert, der gesagt habe‚ daß die Ehe auf die Weise schließlich ruhig und ohne Klage geführt werden könne, wenn der Mann schwerhörig (und) die Frau blind werde (ita demum matrimonium tranquille citraque querimonias transigi posse, si maritus surdus fieret, uxor cæca).190 Hier ist deutlich ausgesprochen, welchen Vorteil die surditas hat!191
184 Nam quoties ægrotat, cætera quidem, quibus non angit suo Lucumoni, ei dolent; oculi, manus, venter, pedes: usquequaque tamen clamosa ac scelesta vox incolumis manet, ut nec guttur raucedine unquam laboret, nec exulceratio linguam subeat, nec defluxionis impetus uvam extendat, nec denique quicquam eorum, quæ eloquium obfuscant ei incumbat. Alia animi vitia, aut disciplina, aut severior admonitio, si non effurcillare, saltem (p. 609) quando luxuriant, in ordinem cogere potest: sola garrulæ mulieris lingua, nisi ferro præcisa fuerit, omnis remedii impatiens est. Videtur quidem aliquando admonitioni locum facere, sed ut instar tuborum, qui obturati, postquam remotum est obstaculum, vehementiori, quam antea, impetu aquam evomunt; integris pelvibus cassa & inania verba profundat. 185 Es ist von einer Feier für die antike Venus die Rede, von Dodona in Epirus und einem Lucumo (▸ im einzelnen S. 99–100). 186 Büchmann 1972, S. 608; Röhrich 1990, S. 1753. 187 Sie treibt ihr Unwesen auch in Baldes Solatium podagricorum: in dem Gedicht 2, 9 (Lefèvre 2020, S. 319–320). 188 ▸ S. 104. 189 ▸ S. 102–104. 190 ▸ S. 101. 191 Es verdient Beachtung, daß Mägde nicht nur gerne reden, sondern, wie gesagt wird, auch ihre Herrinnen (d. h. die Damen der Gesellschaft) in Aufregung versetzen (p. 613 / 614): ▸ S. 117.
VI. Der Gehalt
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4. Göttlicher Ursprung der surditas Es fällt auf, daß an keiner Stelle der Rede die Schwerhörigkeit negativ bewertet wird. Gewiß gehört das zum Thema. Aber es ist doch bemerkenswert, daß sie als äußerster Kunstgriff der Natur (ultima naturæ manus) für die Glückseligkeit (felicitas) der surdi bezeichnet wird (p. 607),192 gar als Privileg, das Gott den Schwerhörigen zuzugestehen beschlossen hat (magnus ille rerum arbiter, cui privilegium surdis concedere placuit).193 Er hat das Gesetz aufgestellt: „Du sollst nicht einen Schwerhörigen schmähen!“ (Ne male dicito surdo). Das wird ein Ehrfurcht gebietendes Gesetz genannt (terribilis lex), vor dem man schaudern müsse (exhorrescere), denn Gott verkündige, daß der surdus ein Werk seiner Hände sei (surdum opus manuum suarum pronunciat). Gott hat die Ohren etlicher verschlossen, damit nicht des Geistes Unversehrtheit durch den Ballast des Zeitalters, der in diese einzudringen pflegt, gemindert wird. Ja, er hat sie verschlossen, damit dem Geist das Denkvermögen immer unverändert bleibt und die tiefen und der Ewigkeit geweihten Überlegungen weniger gestört werden (occlusit quorundam aures, ne animi integritas per seculi saburram, quæ illas ingredi solet, delibetur. Imo occlusit eas, ut animo ratio semper constet, minusque turbentur profundæ, & æternitati devotæ meditationes, p. 620). Das ist geradezu ein Hymnus auf die Schwerhörigkeit. So heißt es später, das silentium, in dem der surdus lebt, sei durch göttliche Fügung zugestanden (divinitus concessum, p. 624). Er solle, wird ihm geraten, Himmel, Erde und Meere, die niemals geschlossen würden oder aufhörten zu sein, betrachten und ‚lesen‘ – und in ihnen den Schöpfer und Architekten aller Dinge (omnium authorem & architectum in iis contemplari atque legere). Wer das tue, lerne, weise zu sein. Verhalten wird angefügt, daß die Schwerhörigkeit auf diese Weise nicht nur nicht schade, sondern im Gegenteil vielleicht sogar nütze. Schließlich wird am Ende der Rede festgestellt (p. 625), die surdi seien zwar bezüglich der Ohren weniger tüchtig, aber ihr Geist sei lebendig genug, Gottes Befehle auszuführen (animus ad exequenda Dei jussa est erectus). Dessen Heil sei verloren, der mit Vergnügen die sanften Ohrenbläsereien der Sirenen seines Jahrhunderts höre, nicht jedoch das, was der Herr des Himmels und der Erde befehle (quæ cæli terræque Dominus præcipit). Der Schwerhörige ist für Unwissende elend, nicht aber für die, die gerecht urteilen. Diese Worte stehen lapidar am Ende der Rede.194
192 ▸ S. 95. 193 Diese und die folgenden Stellen p. 619. 194 Prius miseriam referre videtur ignaris, posterius miseriam omnem apud æquos censores excedit.
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A. Einführung
5. Persönliche Wurzel? Darf man schließen, daß Schoock selbst ein surdaster gewesen ist oder auch nur – zum Beispiel aufgrund von Familienerfahrungen – gefürchtet hat, ein solcher zu werden? War sein Großvater Antony van Voorst, der ihn früh unterrichtete, nicht nur blind, wie Jöcher berichtet,195 sondern auch surdus, wenigstens surdaster? Hat es Bedeutung, daß Schoock den surdus auf die Zeit verweist, in der das Geschäft seiner Ohren stillstehen werde (si aliquando aurium ratio tibi constiterit, p. 623)? Hat er Anlaß, selbst damit zu rechnen? Inspirierten ihn zum Surditatis encomium Bekenntnisse wie Passerats De cæcitate oratio oder Du Bellays Hymne de la surdité? Auf jeden Fall haben die Aussagen Gewicht, daß der Schöpfer dem surdus das Privileg der Schwerhörigkeit gegeben und ihn selbst als Werk seiner Hände bezeichnet habe (p. 619) und daß, wie es am Schluß des ganzen Encomium heißt, der Schwerhörige des Herrn Stimme besonders gut zu hören vermöge (p. 625). Es wäre nicht singulär, wenn Schoock aufgrund eigenen Empfindens ein Werk verfaßt hätte. Während man bei der Laus fumi eine persönliche Betroffenheit des Autors nur vermuten kann,196 ist eine solche in der Diatriba de aversatione casei197 direkt ausgesprochen. Das erste Kapitel geht davon aus, daß viele Menschen aufgrund eines geheimen Instinkts der Natur gewisse Speisen verschmähen und einen Widerwillen gegen sie haben, auch gegen den Käse – was dem Autor gewissermaßen angeboren sei.198 Das wird am Ende des Kapitels belegt. Eine Abneigung gegen den Käse hätten beide Eltern gehabt, von seinen sechs erwachsenen Brüdern zwei, von den vier Schwestern der Mutter eine, ferner der Großvater und der Urgroßvater väterlicherseits sowie von den acht noch lebenden Kindern eines.199 Das ist eine geballte Familiengeschichte, die die Untersuchung des speziellen Stoffes voll rechtfertigt. Ein wichtiges Kriterium für eine persönliche Wurzel des Surditatis encomium könnte sich aus der Anordnung der letzten drei Reden der Editio princeps von 1650 ergeben.200 Es ist gewiß kein Zufall, daß Otto Weinreich zur Zeit der Abfassung seiner weitgespannten Abhandlung ‚Zwei Epigramme des Nikarchos und die Volksschwänke über Schwerhörige‘ (1953)201 selbst ein surdaster war.
195 1751, Sp. 331. 196 ▸ S. 28. 197 Zu diesem Werk ▸ S. 8. 198 Schoock 2008, S. 99. 199 Schoock 2008, S. 107–108. 200 ▸ weiter unten S. 47–49. 201 ▸ S. 30 Anm. 153.
VII. Der Text
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VII. Der Text Die Rede Surditatis encomium wurde zuerst mit anderen Reden Schoocks veröffentlicht: Martini Schoockii Ultrajectini Orationum et Dissertationum Variarum, Diversis locis ac temporibus scriptarum atque habitarum, Decades Dvae, Daventriæ 1650, p. 494–515 (Oratio decima-nona). Es werden drei Corrigenda genannt: p. 494 Z. 11 vires; Z. 21 interrogationi; p. 496 Z. 25 modulamina. Sie sind beim Neudruck in dem Sammelband verschiedener Autoren berücksichtigt: Admiranda Rerum Admirabilium Encomia sive Diserta et Amœna Pallas Disserens seria sub ludicrâ specie, Noviomagi Batavorum (Nijmegen) 1666 / 1676 / 1677,202 p. 602–625. Dennoch ist dort eine Reihe von Druckfehlern der Erstausgabe übernommen.203 Die beiden Ausgaben bieten, von unbedeuteten Varianten abgesehen, denselben Text. Die Vorrede des Bandes von 1650 beginnt folgendermaßen: Illustribus & Potentibus Groningæ et Ommelandiæ204 Ordinibus. Dominis meis clementissimis, Salutem. Es ist also eine ‚offizielle‘ Veröffentlichung. Das Inhaltsverzeichnis (Syllabus Orationum) gibt in jedem Fall kurze Hinweise auf die Universitäten und Gymnasien, an denen die Reden jeweils gehalten wurden. Nur drei Reden sind keine näheren Umstände beigefügt: der 15. (Laus fumi, p. 305–326), der 18. De miseria Eruditorum, p. 377–493) und der 19. Surditatis encomium, p. 494–515). Die Vermutung liegt auf der Hand, daß es sich um ‚persönliche‘ Reden, um nicht zu sagen: um Bekenntnisse handelt. Bis zu einem gewissen Grad war dies ja schon hinsichtlich der Laus fumi205 und des Surditatis encomium206 vermutet worden. Man wird in der Annahme nicht fehlgehen, daß das in besonderem Maß auf die
202 Es handelt sich, wie die Zeilen- und Seitenumbrüche zeigen, in allen Fällen um dieselben Druckstöcke. Die Bände wurden offenbar mit jeweils aktueller Jahreszahl zu verschiedenen Zeitpunkten ausgeliefert bzw. von denselben Druckstöcken (nach)gedruckt. Es ist wohl angebracht, insgesamt von zwei Drucken der Rede zu sprechen: 1650 und 1666, zuerst in einem Sammelband mit Beiträgen des Autors Schoock, sodann in einem Sammelband mit Beiträgen verschiedener Autoren. 203 Lediglich den Lapsus p. 620, daß nach einem Punkt das nächste Wort (numquam) mit einer Minuskel beginnt, versuchte der Setzer dadurch zu beheben, daß er ein Komma setzte (wofür Lateinkenntnisse nicht erforderlich waren). Es empfiehlt sich aber, ein Semikolon zu setzen oder Numquam mit Majuskel beginnen zu lassen. Der Neudruck weist zwei mechanische Fehler auf, statt Dodonæum (p. 608): Dodonænm, statt prostituerunt (p. 617): prostituernnt (beidemal steht das u auf dem Kopf). 204 Ommelandia: „der größte Theil von der Provinz Gröningen, um die Stadt Gröningen herum“ (Zedler 1740, Sp. 1424). 205 ▸ S. 28. 206 ▸ S. 46.
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A. Einführung
überdimensionierte Rede De miseria Eruditorum zutrifft, die etwa fünfmal so lang wie die meisten anderen Reden ist. Schließlich ist die letzte, die 20. Rede De Margaritis in den Blick zu nehmen, die laut Syllabus eine echte Rede ist (habita in Academia Vltrajectina) und deren Titel folgenden Zusatz erhalten hat: De Romanorum luxu circa margaritas & gemmas. Habita quondam in Academia Vltrajectina, ad Suetonii Iulium Cæsarem – ein offizielles Gewand. Sie ist an den antiken Caesar gerichtet, wie er von Sueton, dem Kaiserbiographen aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr., geschildert wird: Er soll die Britannische Exkursion um der Perlen willen unternommen haben207 – eine absurde Behauptung, die so recht geeignet war, relativiert und sogar widerlegt zu werden. Schoock spannt einen weiten Bogen von dem ‚historischen Ereignis‘ zu seiner ganz persönlichen Welt, wenn er die Rede mit folgenden Worten beschließt (p. 532): Vna est margarita, quam æstimò, & mecum omnis Christianus. Illa non Britannica tantum expeditione, sed toto mundo digna. Quæ et qualis illa sit, Ambrosius docet: Margarita, inquit, est Christus Dominus, quam negotiator ille dives in Euangelio, venditis omnibus rebus suis, emere festinavit, & maluit omnes quas habebat seculi gemmas amittere, tantum ut unam Christi emeret margaritam. Vtinam omnes eam in intimo cordis horreo aut consignatam habeamus, aut, ut eam inveniamus, omnia alia vitia ducamus! DIXI. [Es gibt eine Perle, die ich schätze und mit mir jeder Christ. Sie ist nicht nur einer Expedition nach Britannien würdig, sondern der ganzen Welt. Wer und wie sie ist, lehrt Ambrosius: „Eine Perle“, sagt er, „ist Christus, der Herr, die jener reiche Kaufmann im Evangelium nach dem Verkauf aller seiner Habe zu kaufen eilte und (deretwegen) er lieber alle Perlen des Jahrhunderts / der Zeit, die er hatte, verlieren wollte, nur damit er die eine Perle Christi kaufte (kaufen konnte).“ Daß wir doch alle sie entweder in der innersten Scheuer des Herzens verbürgt haben oder, damit wir sie finden, alles andere für Fehler halten! ICH HABE GESPROCHEN.]
Das ist ein tiefes Wort,208 ein Bekenntnis, das Schoock an das Ende nicht nur der Rede, sondern auch des ganzen Bandes setzt. Der Schluß ist sicher nicht zu kühn,
207 In Kapitel 47 heißt es: Britanniam petisse spe margaritarum, quarum amplitudinem conferentem interdum sua manu exegisse pondus; gemmas, toreumata, signa, tabulas operis antiqui semper animosissime comparasse; servitia rectiora politioraque inmenso pretio, et cuius ipsum etiam puderet, sic ut rationibus vetaret inferri [„Er soll Britannien in der Hoffnung auf Perlen aufgesucht haben, deren Größe er verglich und deren Gewicht er zuweilen mit eigener Hand untersuchte (abschätzte), (und) Gemmen, getriebene Gefäße, Statuen und Gemälde von alter Arbeit immer leidenschaftlich beschafft haben (sowie) regelmäßiger gewachsene und kultiviertere Sklaven um einen Preis, der enorm war und dessen er sich sogar selbst so schämte, daß er ihn in die Rechnungsbücher einzutragen verbot.“] 208 Schoock beruft sich auf das Neue Testament und auf Ambrosius. Matth 13, 45–46 heißt
VII. Der Text
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daß in den letzten drei Orationes, De miseria Eruditorum, Surditatis encomium und De Margaritis, besonders viel Persönliches steckt. Der Sammelband von 1666 Admiranda Rerum Admirabilium Encomia enthält, wie der Titel weiter sagt (Disserens seria sub ludicrâ specie), spielerische Enkomien verschiedener Autoren auf verschiedene Objekte:209 u. a. Ovum / Ei (Erycius Puteanus); Formica / Ameise (Philippus Melanchthon), Musca / Fliege (Franciscus Scribanius), Elephans (Justus Lipsius), Pulex / Floh (Cælius Calcagninus), Pediculus / Laus (Daniel Heinsius), Podagra (Hieronymus Cardanus & Bilibaldus Pirckheimerus), Lutum / Kot, Dreck (M. Antonius Majoragius), Umbra / Schatten (Janus Dousa), Asinus / Esel (Joan. Passeratius), Ulula / Kauz (Conradus Goddæus) – und von Schoock Surditatis encomium und Laus fumi. Das ist eine gewiß bunte Sammlung, in der die beiden letztgenannten Beiträge, möchte man sagen, nicht fehlen durften. Ihre Aufnahme in den Band bedeutete angesichts der überwiegend prominenten Autoren eine Anerkennung für Schoock. 1666 war das Jahr, in dem er Groningen verließ und der ehrenden Berufung durch den Großen Kurfürsten nach Frankfurt / Oder folgte. Die vorgelegte Übersetzung legt auf Eleganz keinen Wert, sondern versucht dem Leser durch streckenweise wörtliche Nachbildung Schoocks nicht einfache Art der Argumentation nahezubringen. Deswegen werden die oft schwierigen Konstruktionen nicht immer aufgelöst. Die Satzzeichen sind überwiegend dem modernen Gebrauch angepaßt.
es: Iterum simile est regnum cœlorum homini negotiatori, quærenti bonas margaritas. Inventa autem una pretiosa margarita. abiit et vendit omnia, quæ habuit, et emit eam. [Luther übersetzt: „Abermals ist gleich das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte. Und da er eine köstliche Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.“] Felix Heinzer verweist auf den zeitweilig Ambrosius zugeschriebenen Sermo 5, wo es heißt (PL 17, Sp. 714 D): Margarita enim est Christus Dominus quam negotiator ille dives in Evangelio venditis omnibus rebus suis, emere festinavit, & maluit omnes, quas habuit, seculi gemmas amittere, tantùm ut unam Christi emeret margaritam, ait Ambrosius serm. 5 […]. Hier kommt es nur darauf an, daß zu Schoocks Zeit der Text für authentisch gehalten wurde: ▸ z. B. Ursinus 1659, S. 144. 209 Die Titel der Beiträge im Inhaltsverzeichnis und als Überschrift stimmen nicht immer überein (es wechseln Encomium und Laus).
B. Original und Übersetzung Lectorem doctum poscens210
SURDITATIS ENCOMIUM. [1.] [602] INgenium experiri libet AA. ac applausum sollicitare, apud eruditorum aures, aurium vitio. Quod facere aggredior, fecerunt in simili argumento ante me Oratores211 ex prima cavea. Illi si peccarint, peccare me fateor. Cum ratione si eos absolverit ingenua eruditæ reip. censura, notæ me securum debere esse, credo. Quid illos moverit ut in ejus generis argumentis dicendi vires212 ancipiti lectorum atque auditorum judicio submitterent, neque inquiro, neque inquirere volo; sufficit mihi conscientia. Quantum securitati vitæ communis officiat facile aurium obsequium, usus atque experientia me docuerunt, surdorum amplius querelas audivi: cæterum semper ex prudentiæ lege, quæ suggessit antiquam formulam, NON LIQUET. an recte? fidem facere potuerunt rationes, quas non minus molestæ hominum garrulorum interrogationi,213 quam remedio mali, quod maximum vulgo habetur, aptavi. Favorem non ambio.
[2.] Surdos si alloquerer, ad surdas aures ac oscitantes animos caussam [603] adferrem, quam sola interior animi attentio admittere, subactiusque judicium decidere potest. Missis ergo surdis, iis, qui aures habent, atque audire possunt, loquar. Attendite vos auriti Patres, tum ut audiendo reddamini saturi; tum ut audire ea queatis, quæ per loquacia signa didicisse, surdis proderit.
210 Jakob Balde über Schoock (Torv. Enc. 22, 10, ▸ S. 6–7). 211 1650 oratores. 1666 Oratores. 212 1650 viris. Corr. vires. 213 1650 interrogatione. Corr. interrogationi. https://doi.org/10.1515/9783110731804-003
Lob der Schwerhörigkeit
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LOB DER SCHWERHÖRIGKEIT. [1. Thema] [602] (Mein) Ingenium auf die Probe zu stellen beliebt mir, Hörer, und Beifall bei den Ohren der Gebildeten herauszufordern – mit dem Schaden der Ohren. Was ich zu tun in Angriff nehme, taten vor mir bei ähnlichem Inhalt Redner ersten Ranges. Wenn jene sich vergriffen haben, bekenne ich, daß (auch) ich mich vergreife. Da sie (aber) mit Recht die freie Zensur des Gelehrtenstaates freigesprochen hat, glaube ich, daß ich vor einer Rüge sicher sein muß / darf. Was jene bewogen hat, daß sie bei den Stoffen dieser Gattung ihre Redekräfte dem ungewissen Urteil der Leser und Hörer unterwarfen, das untersuche ich nicht und will es auch nicht untersuchen; es genügt mir die Kenntnis. Wieviel der Gehorsam der Ohren der Sicherheit des allgemeinen Lebens unstreitig schadet, haben mich Praxis und Erfahrung gelehrt; ferner habe ich die Klagen der Schwerhörigen gehört. Im übrigen immer nach dem Gesetz der abwägenden Klugheit / Umsicht, welches die alte Formel NON LIQUET angeraten hat. Doch wohl zu Recht? Vertrauen werden die Begründungen schaffen können, die ich nicht weniger der lästigen Fragerei der geschwätzigen Menschen als dem Heilmittel gegen das Übel, das allgemein als sehr groß gilt, angepaßt habe. Beifall erstrebe ich nicht.
[2. Nicht surdi, sondern auriti angesprochen] Wenn ich die Schwerhörigen anspräche, brächte ich vor schwerhörige Ohren und gähnende Sinne den Fall, [603] den allein des Geistes innere Aufmerksamkeit zulassen und ein geschulteres Urteil entscheiden kann. Die Schwerhörigen also beiseite – zu denen, die Ohren haben und hören können, werde ich sprechen. Merkt auf, ihr hörfähigen Väter – einerseits, daß ihr beim Hören satt werdet; andererseits, daß ihr das hören könnt, was durch sprechende Zeichen gelernt zu haben den Schwerhörigen helfen wird.
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B. Original und Übersetzung
[3.] Magno vulgò pretio apud eos, quibus eruditionis pretium exploratum est, censetur auditus, disciplinæ214 quippe servit, ac ex testimonio Doctoris, qui omnibus docentibus veri præcepta præscribit, fidem in Christum, quæ sola tabulam certæ salutis in tam vasto bonorum congenitorum naufragio apprehendere potest, admittit, interiorique custodiæ mancipat. Vicarius amplius solet esse videndi potentiæ eruditoque, si non scrupuloso, moderamine pensare, illa quæ possidere videtur sensus, secundum cujus perfectionem atque agilem215 in exequendo vim vulgo æstimari solent quæcunque propter celeritatem utilia putantur. Instrumentum autem ejus adeo dædalum, adeo scitum, elegans, atque subtile est, ut hoc nondum tempore, qui eruditæ dextræ examine singulos humani corporis artus dividendo explorare solent, singula invenire atque distinguere, nedum ad suos proprios distinctosque usus referre potuerint. Expallescat quis forte ad hæc, seque execretur, si aures supra Phidiæ [604] & Polycleti manum absolutas acceperit, majorem tamen usum non præstent atque conspicuæ illæ Midæ solent non viventis quidem, sed in statua ad asini prope similitudinem expressi. Moverer, dolorisque sensu afficerer, si sepulchra nunquam intuitus fuissem. Sæpe illa seculi non solum ineptias, sed ea quoque, quæ illi æstimant, quos ab errante opinione alienissimos esse oportuit, intuentium non minus quam legentium oculis exhibent: cum intus interim non solum inania, sed ferali quoque atque ominoso fœtore repleta sint. Sepulchrum auris est, tenebras illius nisi rationis sol discutiat, non in suum solum arvum, sed ipsius quoque mentis horreum, quod in confinio est, ea converrit, quæ ossilegio præstaret commixta, quam custodiæ tam nitidæ commissa. In hominis potestate non est summo mane captare auram, quam valetudo corporisque temperies exigunt. Volens nolens pestilentis autumni graveolentiam, humidiorisque veris imbres, ac fervidioris æstatis sidus experiri compellitur: haut magis aurium, quas solus ex omnibus auritis animalibus immobiles nactus est, dominus est. Ut fluenta omnia ad mare proruunt; sic omnes rumusculi ad illas, contaminaturi ipsam animam, nisi inciderint in tam concin-
214 1650 / 1666 Komma nach disciplinæ. 215 1650 agitem. 1666 agilem.
Lob der Schwerhörigkeit
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[3. Ambivalenz des guten Hörsinns] Hoch wird im allgemeinen bei denjenigen, denen der Wert der Bildung ausgemacht ist, der Hörsinn geschätzt, da er der Unterweisung dient und nach dem Zeugnis des Lehrmeisters, der allen Lehrenden Vorschriften des Wahren vorschreibt, den Glauben an Christus, der allein eine Planke für ein sicheres Heil in dem so gewaltigen Schiffbruch der mitgeborenen Guten ergreifen kann, zuläßt und der inneren Wachsamkeit zur Verfügung stellt. Ferner pflegt er ein Stellvertreter der Sehkraft zu sein und mit kenntnisreicher, wenn nicht genauer / gewissenhafter Lenkung das aufzuwiegen, was der (Augen)sinn offensichtlich besitzt, gemäß dessen Vollkommenheit und im Ausführen beweglicher Fähigkeit allgemein das geschätzt zu werden pflegt, was immer wegen der Schnelligkeit für nützlich gehalten wird. Sein Rüstzeug / seine Konstruktion aber ist so kunstvoll, so geschickt, fein und zart, daß zu dieser Zeit noch nicht diejenigen, die mittels der Untersuchung ihrer ausgebildeten / gelehrten Rechten die einzelnen Glieder des menschlichen Körpers durch Sezieren zu erforschen pflegen, das einzelne aufspüren und bestimmen, geschweige auf seine eigentümlichen und verschiedenen Anwendungen hin beziehen konnten. Erblassen dürfte etwa jemand darüber und sich verwünschen, wenn er vollkommene Ohren über die Kunst des Phidias [604] und des Polyklet hinaus erhalten hat, diese jedoch keinen größeren Nutzen leisten als jene in die Augen fallenden des Midas (zu leisten) pflegen – zwar nicht des lebenden, sondern des als Statue fast wie ein Esel dargestellten. Ich wäre bewegt und empfände Schmerz, wenn ich Gräber niemals betrachtet hätte. Oft bieten diese nicht allein die Torheiten des Jahrhunderts, sondern auch das, was diejenigen geschätzt haben, die irriger Meinung hätten am fernsten stehen müssen, den Augen der Betrachtenden nicht weniger als denen der Lesenden dar – während sie unterdessen innen nicht nur hohl sind, sondern mit Gestank angefüllt, der von den Leichen herrührt und voller Vorbedeutung ist. Ein Grab ist das Ohr, wenn nicht seine Dunkelheit die Sonne des Geistes durchdringt; nicht allein auf seinen Acker, sondern auch in die Scheuer des Geistes selbst, die benachbart ist, kehrt es das zusammen, was besser, vermischt, einer Beinstätte als einer so hellen Überwachung überlassen wäre. In des Menschen Macht liegt es nicht, am frühen Morgen die Luft zu schnappen, die die Gesundheit und die gehörige Mischung (der Säfte) des Körpers erfordern. Ob er will oder nicht, wird er genötigt, den üblen Geruch des ungesunden Herbstes und die Regengüsse des zu feuchten Frühlings und die Jahreszeit des zu heißen Sommers zu erleben: Nicht mehr (ebensowenig) ist er Herr der Ohren, die er als einziges von allen mit Ohren versehenen Lebewesen als unbewegliche erhalten hat. Wie alle Ströme zum Meer vorstürzen, so (stürzen) zu diesen alle Schwätzereien der Leute (vor), die sogar die Seele selbst befleckten, wenn sie nicht auf ihren (der Ohren) so festgefügten Bau träfen, der unter Führung des Verstandes die
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B. Original und Übersetzung
nam earum fabricam, quæ duce intellectu multijugas eorundem varietates [605] distinguere possit. Equidem dulce est, aulædorum ac citharœdorum eruditos modulos distinguere, assæ vocis modulamina216 sublegere, oratorum artificiosa fulmina per aurium meatus ad interiora usque animi dimittere; iterumque lenes eorum susurros, velut pastoritiæ fistulæ strepitus dimetiri: sed quoties non cum his blanditiis per aurium cava, ad animi profunda delapsum venenum est, quo ex insidiis quasi occupata ratio, oblivisci cœpit honesti, locumque facere surrepentibus voluptatibus?
[4.] Ne Sirenum cantum ex fabulis, aut Herculis Omphalem, cujus delinifica lingua omnibus monstris potentior fuit, ad partes vocem: an non Asiæ illud fulmen Alexander, meretriculæ oratione fractus, primus opulentissimæ Persarum regiæ faces subdidit? Enimvero, Magnus rex, qui omnium majorum suorum, imo antiquorum Regum, majestatem longe post se reliquit; semperque in periculis adeundis tantam erectæ mentis magnitudinem, quantam in immensa arduorum negotiorum mole celeritatem ipsis æmulis probavit; nobilissimam totius Orientis urbem Persepolin, à qua innumeræ prope gentes jura petierant, Vulcano, velut debitam ei victimam, consecrare sustinuit, nulla alia ratione motus, quam ebriæ atque ambitiosæ Thaidis oratione, quam fallax aurium judicium, tot pro- [606] batorum amicorum consiliis antehabendam suadebat. Si aut ratio eo tempore Asiæ triumphatori constitisset, aut molesta audiendi saburra, velut injecta mari moles, illabentem sonum sufflaminasset; decus suum in multa adhuc secula tuita fuisset urbs, quæ non tot ac tantorum solum Principum217 fuit patria, sed præsignis quoque terræ Græciæ terror; utpote, quæ antea decies mille navium classem molita fuerit, easque equitum ac peditum nubes coëgerit, ut ipsa natura iis expugnari visa fuerit.
216 1650 modulimina. Corr. modulamina. 217 1650 principum. 1666 Principum.
Lob der Schwerhörigkeit
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vielfältigen Verschiedenheiten ebenderselben (der Schwätzereien) [605] unterscheiden kann. Es ist allerdings lieblich, der Flötenspieler und Leierspieler fein gebildete Weisen zu unterscheiden, der unbegleiteten Stimme Melodien wahrzunehmen, der Redner kunstvolle Blitze durch die Gänge der Ohren bis in das Innere des Sinnes gelangen zu lassen; und wiederum deren sanftes Surren wie die Klänge der Hirtenflöte aufzunehmen: Aber wie oft ist nicht mit diesen lieblichen Genüssen durch die Ohrenhöhlen Gift zu den Tiefen der Empfindung geglitten, durch das der Verstand, gleichsam aus einem Hinterhalt überfallen, das Ehrenhafte zu vergessen und den nachkriechenden Begierden Platz zu machen begonnen hat?
[4. Schutz vor Locktönen] [Hercules und Omphale] Damit ich nicht den Gesang der Sirenen aus den Sagen oder Hercules’ Omphale, deren bezaubernde Stimme mächtiger als alle Ungeheuer war, zu Zeugen nehme: [Alexander und Thais] Hat nicht jener Blitz Asiens, Alexander, durch die Rede einer kleinen Hetäre überwältigt, als erster an die so mächtige Königsburg der Perser Brandfackeln gelegt? In der Tat, der große König, der aller seiner Vorfahren, ja der alten Könige Hoheit weit hinter sich ließ und immer beim Begehen von Gefahren so viel Größe eines aufrechten Charakters wie Schnelligkeit in der unermeßlichen Menge schwieriger Unternehmungen selbst den Nebenbuhlern beifallswert erscheinen ließ, nahm es auf sich, Persepolis, die vornehmste Stadt des ganzen Orients, von der nahezu unzählige Völkerschaften Rechtsprechungen erbeten hatten, dem Vulkan gleichsam wie ein ihm geschuldetes Opfer zu weihen – durch keinen anderen Grund bewogen als durch der betrunkenen und eitlen Thais Rede, welche der Ohren trügerisches Urteil [606] den Ratschlägen so vieler trefflicher Freunde vorzuziehen riet. Wenn damals dem Sieger über Asien entweder der Verstand zur Anwendung gekommen wäre oder der lästige Sand / Ballast des Hörens, wie eine in das Meer hineingeworfene Masse, den hineingleitenden Ton gehemmt hätte, hätte ihre Herrlichkeit für viele Jahrhunderte bis jetzt die Stadt bewahrt, die nicht nur so vieler und so großer Fürsten Vaterland, sondern auch der herausragende Schrecken des griechischen Landes gewesen ist, die nämlich vordem eine Flotte von zehntausend Schiffen in Bewegung gesetzt und solche Wolken von Reitern und Fußsoldaten zusammengeführt hatte, daß es schien, die Natur / Welt selbst werde von ihnen erobert.
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B. Original und Übersetzung
Utinam simili sigillo tum muliercularum, tum adolescentum illorum aures obsignatæ fuissent, quos antiqui saporis Philosophus Craton suo seculo omnium miserrimos esse prædicabat,218 neque enim illæ, postquam pedibus pavimenta deterserant, volubilibusque gyris innumera simulacra, à theatralibus fabulis excogitata, expresserant, coronas capiti suo, tanquam publicæ Libidinis victimæ imposuissent; aut hi, dum Phædris, Parthenopis, atque Rhodopis obsequuntur, in Lyden quandam, aut Baccham, posita pristina forma, degenerassent. Circumspectior longe Ulysses219 erat, vivum illud sapientiæ atque prudentiæ illibatæ exemplar, ut scopulos hos evitare posset, Sirenesque, quæ, tot ex nautarum sobole viris, perniciem procurarant, prostituere, artis atque ceræ subsidio idem consecutus est, [607] quod surdis, natura, aut casus præstare solet. Quid ringimini mei surdi? Quod tanquam ultimam naturæ manum, felicitati vestræ, pro ejus scil. absolutione vovetis, sacram salutis suae suorumque anchoram arripuit ille, quem ut quod sapientiæ nomen venerata fuit antiquitas.
[5.] Miseros vos esse creditis, quoniam neque tibias auditis, neque Phrygiis modulis ad insaniam redigimini: sed interim nec Damone vobis opus est, qui lascivientem modum in Dorium convertat, animumque dulcibus fractum sonis sufflaminet, atque ad honestatis lineas revocet. In miseriæ non quidem profundo, cæterum limine saltem hærere videtur, quisquis philomelas à cuculis distinguere nescit, avicularumque infucatos modulos, ad quos rudis Musica primum exacta fuit, bibula aure sublegere; in magna tamen felicitatis parte idem ponere debet, quod nec altercantes audiat graculos, nec rudentes asellos, nec grunnientes sues, nec ululantes lupos, nec latrantes canes: quibus nescio an non accenseri debeant, de quibus vetus poëta dixit: Legicrepi tundunt, latrant fora.
218 1650 Punkt (neque mit Minuskel). 1666 Komma. 219 1650 Vlysses. 1666 Ulysses.
Lob der Schwerhörigkeit
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[Craton und der Pantomimus] O daß doch mit einem ähnlichen Siegel die Ohren sowohl jener jungen Frauen als auch jener jungen Männer versiegelt gewesen wären, die, wie der Philosoph von altem Geschmack Craton urteilte, in seinem Jahrhundert die elendesten von allen seien. Denn nicht hätten jene (jungen Frauen), nachdem sie mit den Füßen die Fußböden (beim Tanzen) abgewischt und in sich drehenden Kreisen zahllose von Theaterstücken erdachte Bilder ausgedrückt hatten, Kränze ihrem Kopf wie Opfer des öffentlichen Vergnügens aufgesetzt; oder wären diese (jungen Männer), während sie (Frauen wie) Phädra, Parthenope und Rhodope nachlebten (nachahmten), nach Ablegung ihrer vorigen Gestalt zu einer Lyderin oder Bakchantin entartet. [Ulixes und die Sirenen] Bei weitem umsichtiger war Ulixes, jenes lebendige / dauernde Beispiel untadeliger Weisheit und Klugheit, daß er diese Klippen meiden und die Sirenen, die so vielen Männern aus der Sippe der Seeleute für Verderben gesorgt hatten, bloßstellen (blamieren) konnte; mit Hilfe eines Kunstgriffs und des Wachses hat er dasselbe erreicht, [607] was den Schwerhörigen die Natur oder der Zufall zu gewähren pflegt. Was seid ihr unwillig, meine Schwerhörigen? Da (doch) gleichsam den äußersten Kunstgriff der Natur für euer Glück, für dessen Ablösung (Fortgehen) ihr freilich Gelübde tut, derjenige als geheiligten Anker für seine und der Seinen Rettung ergriffen hat, den die Antike wie ein Synonym für Weisheit verehrt hatte? [5. Schutz vor Mißtönen] Ihr glaubt, daß ihr elend seid, weil ihr weder Flöten hört noch durch phrygische Weisen zum Wahnsinn getrieben werdet: Aber ihr braucht bei alledem nicht Damon, der die übermütige Weise in die dorische wendet und den von den anziehenden Tönen gebrochenen Sinn hemmt und zu anständigen Linien / Grenzen zurückruft. Zwar nicht in der Tiefe des Elends, aber doch wenigstens an seiner Grenze scheint zu stecken, wer auch immer Nachtigallen von Kuckucken nicht zu unterscheiden weiß und der Vögelchen ungeschminkte Weisen, nach denen die primitive (ursprüngliche) Musik zuerst ausgeführt worden war, mit dürstendem Ohr aufzunehmen; als einen großen Teil des (seines) Glücks jedoch hat derselbe es anzusehen, daß er weder streitende Dohlen hört noch brüllende Esel noch grunzende Schweine noch heulende Wölfe noch bellende Hunde, denen vielleicht diejenigen zuzurechnen sind, über die der alte Dichter gesagt hat: „Die gegen das Gesetz Lärmenden hämmern, die Fora bellen.“
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B. Original und Übersetzung
[6.] M. Tullio si credimus, nullus ex surdorum gente cum ratione invidere potuit clamatoris illius C. Fimbriæ auditoribus, siquidem cum causas latraret, verborum bonorum cursu quodam incitato ita furebat, ut quis miraretur, [608] tam alias res agere populum, ut esset insano inter disertos locus. Per me quidem Stentores hi in Morbonia dictaturam perpetuam obtineant, unum modo Periclem si excipias, quem, (si Crasso apud Ciceronem credimus) ad clepsydram Clazomenius Anaxagoras latrare docuit: neque enim tam clamant, quam omnia levata manu emugiunt; nullumque alium auditoribus usum exhibent, quam ut iis sive boum, sive asinorum suorum, canibus recenter projectorum damna repetant.
[7.] Sed levia hæc surdorum commoda: quanto majus illud, quod immunes sint à molestiis garrulæ mulieris. Quæ cum in pompa pro Citeria esse possit, superetque Dodonæum220 æs, quod admoto quidem à ventis flagello resonat, tranquillo autem aëre silet: ne quidem præstolantibus tibicinibus ante fores, in lecto cubans, ostioque admota, mariti, quem subegit, auribus ferias concedere scit. Nam quoties ægrotat, cætera quidem, quibus non angit suo Lucumoni, ei dolent; oculi, manus, venter, pedes: usquequaque tamen clamosa ac scelesta vox incolumis manet, ut nec guttur raucedine unquam laboret, nec exulceratio linguam subeat, nec defluxionis impetus uvam extendat, nec denique quicquam eorum, quæ eloquium obfuscant ei incumbat. Alia animi vitia, aut disciplina, aut severior admonitio, si non effurcillare, saltem [609] quando luxuriant, in ordinem cogere potest: sola garrulæ mulieris lingua, nisi ferro præcisa fuerit, omnis remedii impatiens est. Videtur quidem aliquando admonitioni locum facere, sed ut instar tuborum,221 qui obturati, postquam remotum est obstaculum, vehementiori, quam antea, impetu aquam evomunt; integris pelvibus cassa & inania verba profundat. De cicadis referunt, quod mas quidem canat, fœmina autem vix te-
220 1650 Dodonæum. 1666 Dodonænm (u steht auf dem Kopf). 221 1650 tuborum. 1666 turborum.
Lob der Schwerhörigkeit
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[6. Schutz vor laut schreienden Politikern] Wenn wir Marcus Tullius glauben, konnte niemand aus dem Volk der Schwerhörigen die Hörer des Gaius Fimbria mit Recht beneiden, weil er ja, wenn er die Plädoyers brüllte, „im Lauf der (an sich) guten Worte gewissermaßen derart in gestrecktem Galopp tobte, daß man sich wundern mochte, [608] das Volk sei so mit anderen Dingen beschäftigt, daß es unter den Rednern Platz für einen Wahnsinnigen gab.“ Für mich sollen fürwahr diese Stentoren eine dauernde Diktatur in Morbonia innehaben, wenn man als einzigen Perikles ausnimmt, den (wenn wir Crassus bei Cicero glauben) Anaxagoras von Klazomenai lehrte, bei der Wasseruhr zu ‚bellen‘: Denn sie reden nicht sosehr laut, als sie (vielmehr) alles mit erhobener Hand herausbrüllen; und keinen anderen Nutzen verschaffen sie den Hörern, als daß sie für sie Schadenersatz fordern – sei es für ihre Rinder, sei es für ihre kürzlich von Hunden niedergeworfenen Esel.
[7. Schutz vor Schwatzhaftigkeit der Frau] Aber diese Vorteile der Schwerhörigen sind (vergleichsweise) gering: Wieviel größer ist jener, daß sie frei sind von den Belästigungen der schwatzhaften Frau. Da diese in einem Umzug für Venus zu sein vermag und das Erz Dodonas übertrifft, das zwar widerhallt, wenn von den Winden ein Zweig gegen es bewegt (geschlagen) wird, jedoch bei (wind)stiller Luft schweigt, weiß sie nicht einmal, wenn Flötenbläser vor der Tür sie erwarten, im Bett liegend und dem Eingang zugewandt, den Ohren des Gatten, den sie gezähmt hat, Ruhe zu geben. Denn sooft sie leidet – zwar die übrigen (Körperteile), an denen sie sich nicht für ihren Lucumo abmüht, ihr Schmerzen bereiten, Augen, Hände, Bauch, Füße –, bleibt dennoch in einem fort die tönende und unselige Stimme unversehrt, so daß weder die Kehle jemals von Heiserkeit geplagt wird noch die Zunge Vereiterung überkommt noch die Heftigkeit eines Katarrhs das Zäpfchen (im Hals) vergrößert noch schließlich ihr etwas von den Dingen, die die Rede verdunkeln, zusetzt. Andere Fehler der Gesinnung / des Charakters kann entweder Unterweisung oder strengere Ermahnung, wenn nicht austreiben, (so doch) wenigstens, [609] wenn sie ausarten, zur Ordnung zwingen: Allein die Zunge der schwatzhaften Frau ist, wenn sie nicht mit dem Eisen (Messer) vorn abgeschnitten ist, gegenüber jedem Heilmittel empfindungslos. Sie scheint zwar zuweilen einer Ermahnung nachzugeben, aber wie Röhren, die verstopft waren, das Wasser, nachdem das Hindernis entfernt ist, mit einem heftigeren Drang als vorher ausspeien, kann sie unnütze und leere Wörter mit vollen Schüsseln ausgießen. Von den Zikaden sagen sie, daß zwar das Männchen singt, das Weibchen aber kaum einen zarten Ton hervor-
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B. Original und Übersetzung
nuem sonum edat: dissimiles his cicadæ, quæ ex hominibus prodiere; fæmellæ inter eos, cum suavius iis sit, loqui quam edere, mares omni statua taciturniores, nisi aures prope occluserint,222 tam diu sermonibus, litigiis, atque clamoribus223 obtundunt, quam eos aut ad restem, aut inediam adegerint. Securus vero omnium horum malorum surdus est, ut non sine ratione sapiens ille Arragoniae Rex Alphonsus dixerit: ita demum matrimonium tranquille citraque querimonias trans igi posse, si maritus surdus fieret, uxor cæca. Hæc quippe mulierum consuetudo, aquilinis oculis omnia explorare & si in syllabum peccatum sit, lingua præliari, domumque non solum, quam inhabitat, sed integram viciniam occentare: ut non sine ratione uxor apud Simonidem audiat, viri naufragium, domus tempestas, quietis impedimentum, vitæ captivitas, pœna quotidiana, [610] pugna sumptuosa, canis ornata, malum necessarium. Munitus contra hanc malorum Iliadem solus surdus est, cui plus præsidii aurium saburra præstat, quam tota Philosophia Socrati potuit in subigenda una Xantippe: neque enim movetur quotidianis etiam verborum fulminibus, cum hic non potuerit aliter ea, (quæ tamen bruta solum fulmina,) elidere, quam cogitando cochlearum stridorem.
[8.] Nec domi solum auditus gravis subsidio est, sed publice quoque, atque in foro. Quoties non scrutarius quis, dum impensius scruta sua laudat, circumspectissimos quoque patresfamilias decepit; & sesquipedalibus224 verbis ac promissorum fumis, ipsos duros senes ante circumvenit, quam oculis, quibus plus quam auribus inter emendum credendum est, intercutanei vitii fibras explorare potuerint? Nihil vero periculi ab omnibus his aretalogis surdis meis imminet. Quoniam aurium ministerio destituuntur, solos oculos duces sequuntur, neglectisque ampullis atque inanibus verborum vesicis, quibus fallax merx tanquam cucullis quibusdam involvi solet; curiose omnia lustrare, ac citra difficultatem errata, maxime subtilia, deprehendere possunt. Non illi adhærent, tanquam muscæ lippientibus equorum oculis solent, agyrtis ac circumforaneis mercatoribus: sed,
222 1650 / 1666 occlusuerint. Lef. occluserint. 223 1650 / 1666 calamoribus. Lef. clamoribus. 224 1650 sesquipedalibus. 1666 sesqui pedalibus.
Lob der Schwerhörigkeit
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bringt: Verschieden von diesen sind die Zikaden, die aus Menschen hervorgegangen sind; die Frauenzimmerchen unter ihnen betäuben, da es ihnen angenehmer ist, zu sprechen als zu essen, die Männchen, die schweigsamer als jede Statue sind, wenn sie nicht die Ohren fast verschlossen haben, so lange mit Gesprächen, Streitreden und Schreiereien / Geschrei, bis sie sie an den Strick oder zum Verhungern gebracht haben. Sicher aber vor allen diesen Übeln ist der Schwerhörige, so daß nicht ohne Grund jener weise König Alphonsus von Aragonien gesagt hat: „daß die Ehe auf die Weise schließlich ruhig und ohne Klage geführt werden könne, wenn der Mann schwerhörig, die Frau blind werde“. In der Tat ist das Gewohnheit der Frauen, mit Adleraugen alles auszuspähen und, wenn um eine Silbe gefehlt ist, mit der Zunge zu kämpfen und nicht nur in dem Haus, das sie bewohnt, sondern in der kompletten Nachbarschaft ein Spottlied anzustimmen – so daß nicht ohne Grund die Frau bei Semonides des Mannes Schiffbruch heißt, des Hauses Ungewitter, der Ruhe Hindernis, des Lebens Knechtschaft, tägliche Strafe, [610] verlustreiche Schlacht, herausgeputzte Hündin, notwendiges Übel. Geschützt gegen diese Ilias von Übeln ist allein der Schwerhörige, dem der Sand / Ballast der Ohren mehr Schutz bietet, als es dem Sokrates die ganze Philosophie bei der Unterwerfung der einen Xanthippe vermochte: Denn nicht wird er sogar durch die täglichen Blitze von Wörtern in Unruhe versetzt, wohingegen dieser (Sokrates) sie – die doch nur stumpfe Blitze waren – nicht anders parieren konnte als dadurch, daß er an das Knirschen einer Schraube dachte.
[8. Schutz vor Marktschreiern] Nicht allein zu Hause ist ein schadhaftes Gehör hilfreich, sondern auch in der Öffentlichkeit und auf dem Marktplatz. Wie oft hat nicht ein Trödelhändler, wenn er seinen Trödel aufwendiger lobt, auch die besonnensten Familienväter getäuscht und mit ellenlangen Wörtern und betrügerischen Versprechungen selbst harte Greise eher umgarnt, als sie mit den Augen, denen mehr als den Ohren beim Kaufen zu vertrauen ist, die Fasern eines unter der Haut liegenden (verborgenen) Fehlers ausspähen konnten? Keine Gefahr aber droht von allen diesen Wundererzählern meinen Schwerhörigen. Da sie von dem Dienst der Ohren verlassen werden, folgen sie allein den Augen als Führer, und unter Mißachtung von (hohlen) Flaschen (Redeschwulst) und leeren Wortblasen, von denen die falsche Ware gewissermaßen wie von Kapuzen / Tüten eingewickelt zu werden pflegt, können sie aufmerksam alles betrachten und ohne Schwierigkeit Täuschungen – vor allem die feingesponnenen – wahrnehmen. Nicht hängen sie, wie es Fliegen an den triefenden Augen der Pferde zu tun pflegen, Gauklern und an / auf Märkten herumziehenden Händlern an, sondern gehen, wenn es die Not-
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B. Original und Übersetzung
quando necessitas cogit, cujus225 [611] potissimum hic habenda ratio est, in promercale forum procedunt; utque minus emaces sunt, sic minus quoque decipiuntur, circa illud, quod sola necessitate suadente sibi comparant.
[9.] Surdos non offendit quoque imtempestivus Sannionis, aut Ludionis alicujus risus: sed vultus eorum ad severitatem semper compositus, disciplinæ custos est. Non illi properare226 ad histrionem, aut propter theatri nugas perreptare caveas, & in cuneis artificiosum plausum dare. Nunquam quis ex Sophistarum quoque turba, eos oblato prandio aut ad audiendum suum carmen, aut orationem invitavit: nec ipsi etiam eo procurrunt, ubi animalia gloriæ, & popularis auræ vilia mancipia magno conatu maximas tractant ineptias. Si surdi fuissent duo illi Plinii nomenclatores, à Domino notati non fuissent, quod passi fuerint ternis denariis se trahi ad laudandam orationem hominis, cui satis erat, inter disertos argenteo acclamantium boatu censeri. Miseros quidem censebat surdos esse Varus, Jonicus ille adolescens apud Philostratum, nec apud eos pecunias fænore collocare volebat, quas alias apud tenuiores bene multas, atque apud studiosos literarum auritos collocabat, vanissimus namque homo, atque dulcedine gloriæ titillatus, cum Sophistas superare se omnes dicendo putaret, sæpe declamationes indicebat, & quo plures [612] haberet eloquentiæ suæ laudatores, iis, quibus pecuniam credidisset, fœnus remittebat si adessent atque dicenti faverent. Interim surdi à stulto adolescente neglecti, probatum non ibant pueriles declamationes, sententiarum flosculos, similitudinum ineptarum pigmenta, verborum lenocinia, & capitula acuta quadam brevitate conclusa; quæ quoniam adhuc hodie in sacris quoque æstimantur apud eos, quorum judicium minus subactum est atque auditorum Vari erat, sincera atque illibata eloquentia postliminio reduci non potest. Spreti quidem à Sophistis fuerunt surdi, ubi tamen aurium requiri videbatur regula, prostituerunt227 eos ipsos, qui soli auribus quam maxime valere credebantur.
225 1650 cuius. 1666 cujus. 226 1650 / 1666 properam. Lef. properare. 227 1650 prostituerunt. 1666 prostituernnt (u steht auf dem Kopf).
Lob der Schwerhörigkeit
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wendigkeit (der Mangel), [611] auf die (den) hier am meisten zu achten ist, veranlaßt, direkt zum Markt vor, wo (die Ware) feilgeboten wird; und wie sie weniger kaufsüchtig sind, so werden sie auch weniger bezüglich dessen betrogen, was sie sich nach dem Rat der Notwendigkeit beschaffen.
[9. Schutz vor Possen und Deklamationen] Die Schwerhörigen verletzt auch nicht das unschickliche Lachen eines Hanswursts oder eines Possenreißers, sondern ihre immer zur Ernsthaftigkeit ausgerichtete Miene ist der Wächter der (ihrer) Zucht. Nicht eilen die zu einem Pantomimen oder durchkriechen wegen Theaterbelanglosigkeiten die Zuschauerräume und spenden in den keilförmigen Sitzabteilungen der Kunst(darbietung) angemessenen Beifall. Niemals lädt sie auch jemand aus der Schar der ‚Spitzredner‘ unter Anbieten eines zweiten Frühstücks zur Anhörung entweder seiner Dichtung oder seiner Rede ein: Noch rennen sie gar von sich aus dahin, wo ruhmsüchtige Kreaturen und verächtliche Sklaven der windigen Gunst des Volkes mit großem Aufwand die größten Torheiten treiben. Wenn jene beiden Namennenner des Plinius schwerhörig gewesen wären, wären sie von ihrem Herrn nicht getadelt worden, weil sie es über sich ergehen ließen, daß sie für je drei Denare dazu bestimmt / verleitet wurden, die Rede eines Menschen zu loben, dem es genug war, unter Rednern durch silbernes (erkauftes) Gebrüll der Beifallrufenden beurteilt zu werden. Für erbärmlich hielt jedoch die Schwerhörigen Varus, jener jonische Jüngling bei Philostrat, und wollte nicht bei ihnen Gelder auf Zins anlegen, die er sonst sehr reichlich bei Feineren und an Bildung Interessierten, die Ohren hatten, anzulegen pflegte; denn der sehr eitle und von der Süße des Ruhms gekitzelte Mensch setzte ja oft, da er glaubte, er übertreffe alle ‚Spitzredner‘ im Reden, Deklamationen an und ließ, damit er mehr [612] Lobredner seiner Redekunst habe, denjenigen, denen er Geld geliehen hatte, den Zins nach, falls sie anwesend wären und dem Redner Gunst bezeigten. Indessen unterließen es die Schwerhörigen, die von dem törichten Jüngling nicht beachtet wurden, die kindischen Deklamationen zu rühmen, die ‚Blüten‘ der Sentenzen, die Farbe der läppischen Gleichnisse, den Prunk der Worte und die mit einer gewissen zugespitzten Kürze (ab)geschlossenen Abschnitte. Da diese Dinge noch heute auch in kirchlichen Handlungen bei denen geschätzt werden, deren Urteil weniger geübt ist, als das der Hörer des Varus war, kann eine echte und ungeschwächte Beredsamkeit nach langer Zeit nicht wieder zurückgeführt werden. Zwar wurden die Schwerhörigen von den ‚Spitzrednern‘ verachtet; sobald es jedoch galt, daß ein Richtmaß der Ohren gesucht werde, stellten diejenigen gerade sie (die Ohren) bloß, die allein, wie man glaubte, bezüglich der Ohren besonders leistungsfähig seien. In der Tat,
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B. Original und Übersetzung
Enimvero, quis non surdo illi apud Jasios (vel, uti aliis è Criticorum filiis placet, Jaspios) plus deferat, quam sexcentis illis alteris, qui cum eo convenerant [aut]228 ad audiendum citharœdum, in arte sua Roscium? hi siquidem ad unum omnes, simulac sonare inciperet tintinnabulum, ad forum piscarium festinarunt; cum ille interim adhæreret artifici, probaretque in horrida gente aliquem adhuc esse à Musis & Apolline non alienum.
[10.] Quoties non in circulis & semicirculis, quos tamen omnes frequentare amant, quibus aurium ratio constat, (nisi forte hominem exuerint) molestus occurrit [613] garrulus; qui etiam tum quando rosas & mulsa loqui videtur,229 tantundem agit, ac Fabius, loquacis elogio apud posteritatem adhuc celebris? Vix nocuit quidem cerebri felicis Bollano, nec obesse admodum potuisset M. Crasso, (surdaster enim fuit) Musarum tamen corculum Horatium Flaccum applaudentibus anus Sabinæ sortibus, letho dedisset, nisi adversarius, qui poëtam dextro Apolline antestabatur, eum ad prætorem rapuisset. A tali autem lingulaca nullum periculum imminet surdis. Eorum brachia, modo in publicum noti fuerint, nullus unquam prensat, bonasque horas illis suffuratur per illud.
[11.] Quid novi? ad quod dum ex publicæ privatæque rei communibus locis respondetur, sæpe ad Medicum anhelat æger & ad advocatum cliens. Succincta quidem hæc quæstio est: aliquando tamen integrum conturbat ludum, dum magister qui ei præest, ad novæ rei mentionem fit ecstaticus, integramque viciniam clamosæ scholæ opprobrio exponere mavult, quam λόγοις non satiari. Quoties non quoque Junones nostras loqui compellunt nimium quam auritæ ancillæ, & ad hanc230 communissimam quæstionem admodum erectæ? Enimvero si ipsæ haud æque ea afficerentur atque surdi, nunquam domum reversæ in fermento suas dominas
228 1650 / 1666 aut. Blänsdorf / Lef. del. 229 1650 Komma. 1666 Semikolon. 230 1650 / 1666 hunc. Lef. hanc.
Lob der Schwerhörigkeit
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wer spräche es (das Richtmaß) nicht jenem Schwerhörigen bei den Jasiern (oder, wie andere vom Kritikerstamm meinen, Jaspiern) mehr zu als jenen unzähligen anderen, die sich mit ihm einfanden, um einen Kitharöden, einen Roscius in seiner Kunst, zu hören? Weil ja diese alle ohne Ausnahme, sobald die Klingel zu ertönen begann, zum Fischmarkt eilten, während jener inzwischen dem Künstler anhing und bewies, daß es in diesem ungehobelten Volk noch einen gebe, der den Musen und Apollo nicht fernstehe(nd sei).
[10. Schutz vor Schwätzern] Wie oft begegnet in Kreisen und Halbkreisen, die doch alle aufzusuchen lieben, bei denen es mit den Ohren stimmt (falls sie nicht gerade den Menschen abgelegt haben), nicht ein lästiger [613] Schwätzer, der sogar dann, wenn er Rosen und Met zu sprechen scheint, ebensoviel (das gleiche) treibt wie Fabius, der bei der Nachwelt bis jetzt durch die bleibende Aussage berühmt ist, ein ‚Schwätzer‘ zu sein? Zwar hätte er kaum Bollanus mit dem glücklichen Gehirn geschadet, noch hätte er Marcus Crassus nachgerade hinderlich sein können (denn der war ein wenig schwerhörig), doch hätte er den Liebling der Musen Horatius Flaccus unter dem Beifall der Lose der alten Sabinerin dem Verderben preisgegeben, wenn nicht der Widersacher, der, da sich Apollo gnädig / günstig zeigte, den Dichter zum Zeugen anrief, ihn zum Praetor gezerrt hätte. Von einem solchen Plappermaul droht aber den Schwerhörigen keine Gefahr. Ihre Arme ergreift, wofern sie öffentlich bekannt sind, niemals jemand und stiehlt ihnen dadurch gute Stunden.
[11. Schutz vor Überreaktionen und Mißverständnissen] ‚Was ist denn los?‘ Derweil darauf (auf den Ruf) von Orten des öffentlichen und privaten Bereiches aus geantwortet wird, hechelt oft der Kranke zum Arzt und der Klient zum Anwalt. Kurz und bündig ist zwar diese Frage, zuweilen stört es jedoch die gesamte Schule, während der Lehrer, der ihr vorsteht, sich bei der Meldung der neuen Angelegenheit erregt und lieber die gesamte Nachbarschaft der lärmenden Schule der Beschimpfung aussetzen will, als nicht durch λόγοι (klare ‚logische‘ Erklärungen) zufrieden gestellt zu werden. Wie oft veranlassen nicht auch unsere Junos zu reden (daß unsere Junos reden) die Mägde, die allzusehr lauschend / neugierig und bei dieser höchst gemeinschaftlichen Frage völlig munter / erwartungsvoll sind? Denn wenn sie selbst nicht von ihr in gleicher Weise wie die Schwerhörigen tangiert würden, belästigten sie niemals, nach zu Hause zurückgekehrt, in Aufregung ihre Herrinnen. Aber da sie die Zunge im
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B. Original und Übersetzung
offenderent.231 Sed quoniam in udo ha- [614] bent linguam, ad hoc liberas ab omni saburra & sigillo aures, inciduntque fere in suæ farinæ homines; etiam quando obstetrix accersenda est, aliquid vulgato suo carmini attexunt.
[12.] Molesta res garrulus est, gravior & molestior longe adulator: in corvos vivos ipse vivens vidensque Græculus quis incidere malebat, quam in hujus notæ hominem, qui omnes quos laudat, perdit. Ab eo vero vix ullum periculum imminet surdo, à cujus toga floccos non eximet Gnatho, quod auctoramentum nullum exspectet, si cum clamore ea proferre debeat, quæ in aurem solum hominis vani dicta, prandium procurare solent. Magni quid esse videtur, si catillo Marco Damæ dicat: Quam omnes te tanquam cœlo delapsum admirantur: quoties cum bis trium232 ulnarum toga per publicum incedis, omnes te digito monstrare, & partem amorum suorum patri suo precari; heri sub rostris considebam in ampla honoratorum virorum corona, cumque forte quis injecisset; quonam resp. carere non possit; omnes à te incipere; & in te desinere. Talis tamen oratio non movet sapientem, qui quoniam novit,233 niveo illo dente aspirari venenum: haud aliter atque hosti suo irascitur, si quis ejusmodi oratione auribus suis servire laboret. Jucunda quidem est laudantis oratio, sed tantum fere de animi integritate delibat, quantum fidei apud Suffenum invenit. Sem- [615] per autem venenum est viro Principi, cum cujus fortuna quoniam purpuratorum turba, quam cum eo loqui mavult: ipse veritatem nunquam audit, atque ingenti sexcentarum difficultatum torrente ante est abreptus, quam miserum se esse sciat. Prudens antiquitas in difficilioribus negotiis publicis, per tabellam potius, quam viva voce sententiam dici voluit, quod aspera, quæ dicenda essent, delicatiores aures radere consueverint; omnes que qui excelsioris fortunæ apicem suspiciunt, ad illius nutum æque sese componere consueverint, atque Chamæleon ad colores, qui in propinquo sunt. Per tabellam cum surdo agi solet, eaque indice, quod vocis lenocinantis vestigia cera durior non admittat, majora beneficia consequitur, quam multi ex regibus, quos
231 1650 / 1666 offenderet. Lef. offenderent. 232 1650 / 1666 ter. Lef. trium. 233 1650 / 1666 Semikolon. Lef. Komma.
Lob der Schwerhörigkeit
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Feuchten haben (geschwätzig sind), [614] zudem Ohren frei von jedem Sand und Siegel und sie fast nur auf Menschen ihres Schlages treffen, sogar wenn eine Hebamme geholt werden muß, weben sie ihrem gewöhnlichen Singsang (noch) etwas an.
[12. Schutz vor Schmeichlern] Eine lästige Sache ist ein Schwätzer, bei weitem schlimmer und lästiger ist ein Schmeichler. Lieber auf lebende Raben treffen wollte, selbst lebend und sehend, so ein Grieche als auf einen Menschen dieser Art, der alle, die er lobt, zugrunde richtet. Von demjenigen aber droht dem Schwerhörigen kaum irgendeine Gefahr, von dessen Toga Gnatho keine Faser nehmen wird, weil er keinen Dienstvertrag erwarten kann, wenn er mit lautem Getöse das vorbringen muß, was, in das Ohr des eitlen Menschen gesprochen, eine Mahlzeit zu bringen pflegt. Etwas Großes / Bedeutendes scheint es zu sein, wenn ein Tellerlecker zu Marcus Dama spräche: „Wie bewundern dich alle gleichsam als einen vom Himmel Gefallenen; sooft du in einer Toga von zweimal drei Ellen öffentlich einhergehst, zeigen alle mit dem Finger auf dich und erbitten einen Teil ihrer leidenschaftlichen Wünsche für (dich als) ihren Vater; gestern saß ich unter der Rednerbühne im leuchtenden Kreis der Honoratioren, und als gerade einer eingeworfen hatte, wen denn der Staat nicht entbehren könne, begannen alle bei dir und endeten bei dir.“ Eine solche Rede bewegt jedoch nicht den Weisen, der, da er ja weiß, daß durch jenen weißen Zahn Gift eingeflößt wird, nicht anders zürnt als seinem Feind, wenn einer sich bemüht, durch eine Rede dieser Art seinen Ohren gefällig zu sein. Angenehm ist zwar die Rede eines Lobenden, aber sie nimmt von der Aufrichtigkeit der Gesinnung fast soviel hinweg, wie sie Glauben bei Suffenus findet. Immer [615] aber ist sie Gift für einen Fürsten, da ja die Schar der Würdenträger (Hofleute) lieber mit dessen hoher Stellung als mit ihm (selbst) sprechen will; er selbst hört niemals die Wahrheit, und er ist von einem gewaltigen Sturzbach unzähliger Schwierigkeiten eher fortgerissen, als er merkt, daß er im Elend ist. Die verständige Antike wollte bei schwierigeren öffentlichen Angelegenheiten, daß die Meinung lieber durch ein Stimmtäfelchen als von einer lebendigen Stimme geäußert werde, weil unangenehme Dinge, die gesagt werden müßten, gewöhnlich empfindlichere Ohren kratzen / verletzen und alle, die zum Gipfel einer höheren Macht aufblicken, auf ihren Wink hin sich gewöhnlich ebenso herrichten (verstellen) wie das Chamäleon im Hinblick auf die Farben, die in seiner Nähe sind. Mittels einer Niederschrift pflegt mit dem Schwerhörigen verhandelt zu werden; und aufgrund des Merkmals, daß härteres Wachs Spuren einer schmeichelnden Stimme nicht zuläßt (einläßt), empfängt er größere Wohltaten als viele von den Königen, die
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B. Original und Übersetzung
omnem fortunam supergressos existimant leves quidam homines; qui videre non possunt, juvenem principem Commodum perdi, quando mensarii adulatores & obscænarum voluptatum inventores, eum in cœlo collocant. Quam non laborat magnum illud porticus decus Seneca, ut Lucillio234 suo inculcet, nullum animantium genus assentatoribus perniciosius esse? In hoc totus est; ut ei persuadeat, obturandas aures, linguæque blandiloquæ latens venenum suspectandum esse. Sapiens eris, ô Lucilli alicubi dicit, si clauseris aures, quibus ceram parum [616] est obdere. Firmiori spissamento opus est, quam usum in sociis Ulyssem ferunt: illa vox quæ timebatur erat blanda, non tamen publica: at hæc quæ timenda est, non ex uno scopulo, sed ex omni parte terrarum circumsonat, surdum te amantissimis presta.235
[13.] Ubi aures patulæ ac ad omnia attentæ sunt, valvas & pessulum, quo occludi queant, quæri vult sapiens. At quotusquisque, maxime ex viris Principibus, inventus est, qui ab animo optime quoque composito, illud consequi potuerit, quod rari donarii loco concessum est surdis.236 Non acuunt in eos illi suas linguas, quas cum aspidibus & serpentibus sublimior sapientia componit. Nec ab his solum immunes sunt, sed subsidio quoque beneficii, quod vulgus crucem ac miseriam maximam esse deputat, ipsorum principum ab aulae soricibus corruptorum, errata emendare sciunt. Cui ignotum, quantum vitiorum monstrum Heliogabalus, vibex & macula imperii Romani fuerit? Is cum serviret adulatoribus, ab iis contra Fabium Sabinum, Jurisconsultum sua ætate summum, & ad quem Ulpianus unum & quinquaginta libros scripsit, incitatus fuit, ductusque vir maximus fuisset, nisi surdaster fuisset centurio, quem supplicio illius Imperator, mollioribus præ libidine verbis uti solitus, præfecerat. Hic cum jussus esset Fabium occidere, in exilium agi debere subin- [617] tellexit, tantumque Fabio gravi auditu profuit, quantum patulæ ad promiscuas accusationes principis aures nocere decreverant;
234 1650 Lucillio. 1666 Lucillo. 235 1650 / 1666 presta. Lef. præsta? 236 1650 / 1666 Semikolon (Non mit Majuskel). Lef. Punkt.
Lob der Schwerhörigkeit
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jede Glücksstellung überschritten haben, wie etliche leichthin urteilende Menschen glauben, die nicht sehen können, daß der junge Prinzeps Commodus ins Verderben geführt wurde, weil ihn schmeichelnde Tischgenossen und Erfinder obszöner Lustbarkeiten in den Himmel hoben. Wie bemüht sich nicht jene große Zierde der Stoa, Seneca, daß er seinem Lucilius eintrichtert, keine Art der Lebewesen (Menschen) sei verderblicher als Redner nach dem Munde? Er ist mit Leib und Seele dabei, daß er ihm rät, die Ohren seien zu verstopfen / zuzuhalten und das verborgene Gift der schmeichelnden Zunge zu beargwöhnen. „Du wirst weise sein, o Lucilius“, sagt er irgendwo, „wenn du die Ohren verschließt, denen Wachs vorzuschieben (noch) zu wenig ist. [616] Eines festeren Pfropfes bedarf es, als ihn, wie man berichtet, Ulixes bei den Gefährten benutzt hat: Jene Stimme, die gefürchtet wurde, war eine verführerische, nicht jedoch eine öffentliche: Aber die, die zu fürchten ist, umtönt (dich) nicht von einem Felsen aus, sondern aus jedem Teil der Erde; erzeige dich (auch) denen gegenüber schwerhörig, die dir am meisten zugetan sind.
[13. Schutz vor Verleumdern und Delatoren] Da die Ohren offenstehen und auf alles aufmerksam sind, will der Weise, daß nach Türen und Riegel zu suchen ist, wodurch sie verschlossen werden können. Aber wie wenige, am meisten unter den Fürsten, werden gefunden, die auch von einer sehr gut veranlagten Gesinnung das erreichen können, was wie ein seltenes (Weih)geschenk den Schwerhörigen zugestanden ist. Nicht spitzen gegen diese jene (Verleumder) ihre Zungen, welche mit Nattern und Schlangen eine hochfahrendere Klugheit (Berechnung) ausstattet. Und nicht allein von diesen sind sie unberührt, sondern sie wissen auch durch die Hilfe der Wohltat (der Schwerhörigkeit), die das Volk für das größte Kreuz und Elend hält, die Irrtümer sogar der von den Spitzmäusen des Hofes verleiteten Fürsten zu korrigieren. Wem ist unbekannt, ein wie großes Monster an Lastern Heliogabal, Schwiele und Befleckung des römischen Reiches, gewesen ist? Da er von Schmeichlern beherrscht war, wurde er von ihnen gegen Fabius Sabinus, der der vorzüglichste Rechtsgelehrte in seiner Zeit gewesen ist und dem Ulpian 51 Bücher gewidmet hat, aufgestachelt; und der hochbedeutende Mann wäre zum Tod geführt worden, wenn nicht der Zenturio etwas schwerhörig gewesen wäre, dem der Kaiser, gewohnt, aus Vergnügen weichere (undeutlichere) Worte zu gebrauchen, die Hinrichtung übertragen hatte. Dieser verstand, als ihm befohlen wurde, Fabius zu töten, daß er ins Exil zu führen sei, [617] und er nützte dem Fabius wegen seines schlimmen Hörens soviel, wie die den verschiedenen Anklagen offenstehenden Ohren des Prinzeps zu schaden beschlossen hatten; vielleicht könnte jemand das der
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B. Original und Übersetzung
Fortunæ forte quisquiam hoc imputaverit: sed si quis cogitet, surdorum animos, ob occlusas aurium valvas, munitos esse contra nigros calumniæ dentes, surditati illud deferendum esse censebit, quod casus uni solum surdo detulisse videri posset. Rex ad unguem factus, & quod caput, vir secundum Dei sensum David, suspirando in Psalmis exclamat: Domine libera animam meam à labiis iniquis, & lingua dolosa. Ab his autem cœlesti munere cautum est surdis, qui quoniam calumnias non audiunt, fere ignorant, rarissimeque dispergunt. Nunquam illi histrioniam agunt; aut personam Catonis induunt, ne tamquam manifestarii sycophantæ & quadruplatores publicum odium incurrant. Enimvero si surdi fuissent Tiberius & Nero principes, sub iis Hispones, atque Vatinii non valuissent. Exhorresco totus quotiescunque cogito quantum sibi non arrogarint hæ aulæ tineæ237 apud credulas Imperatorum aures. Hispo ille formam vitæ inivisse dicitur, quam postea celebrem miseria temporum, & audacia hominum fecerunt;238 nam egens, ignotus, inquies, dum occultis susurris Tiberii in sævitiam proni auribus adrepit,239 mox clarissimo cuique periculum facessi- [618] vit; potentiamque apud unum, odium apud omnes indeptus, dedit exemplum, quod secuti ex pauperibus divites, ex contemtu240 metuendi, perniciem aliis, ac postremum sibi invenere; ut paucula verba ab acri scriptore commodem. Vatinius vero hic inter fœdissima Neronis aulæ ostenta fuit, sutrinæ tabernæ alumnus, corpore detorto, facetiis scurrilibus: primo in calumnias assumptus, deinde optimi cujusque criminatione eo usque valuit, ut gratia, pecunia, vi nocendi etiam malis præemineret. Quam non preclare241 cum plurimis viris illustribus actum fuisset, si aut aures non habuissent viri principes, quos homines hi pessimi obsederant, aut eas occlusissent contra delationes eorum.
237 1650 / 1666 tinea. Lef. tineæ. 238 1650 Satzzeichen unleserlich. 1666 Komma. Lef. Semikolon. 239 1650 Komma. 1666 kein Satzzeichen. 240 1650 / 1666 contemtu. Lef. contemtis? 241 1650 / 1666 preclare. Lef. præclare?
Lob der Schwerhörigkeit
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Fortuna (dem Zufall) zurechnen: Aber wenn einer bedenken möchte, daß die Sinnesart der Schwerhörigen wegen der verschlossenen Türen ihrer Ohren gegen die schwarzen Zähne der Verleumdung verschanzt sind, wird er der Meinung sein, daß das auf die Schwerhörigkeit (allgemein) zurückzuführen ist, was der Zufall nur einem Schwerhörigen gebracht zu haben scheinen könnte. Der ideale König und, was der Hauptpunkt ist, der Mann nach Gottes Sinn, David, ruft seufzend in den Psalmen aus: „Herr, befreie meine Seele von ungerechten Lippen und ränkevoller Zunge!“ Vor diesen aber sind die Schwerhörigen durch ein himmlisches Geschenk sicher, die, da sie Verleumdungen nicht hören, sie fast nicht kennen und (nur) äußerst selten verbreiten. Niemals üben die Schauspielerei aus oder nehmen Catos Rolle an, so daß sie nicht wie offenbare Verleumder und ‚Viertel erschleicher‘ / Denunzianten öffentlichem Abscheu begegnen. Denn wenn die Kaiser Tiberius und Nero schwerhörig gewesen wären, hätten Leute wie Hispo und Vatinius unter ihnen keine Macht gehabt. Ich werde ganz mit Schaudern erfüllt, sooft ich bedenke, wieviel sich nicht diese nagenden Würmer / Motten bei den arglosen Ohren der Kaiser angemaßt haben. Jener Hispo soll eine Lebensform eingegangen sein, die später das Elend der Zeiten und die Dreistigkeit der Menschen berühmt gemacht haben; denn obwohl ein armer Teufel, von niederer Herkunft, ein unruhiger Geist, schuf er, während er mit heimlichem Geflüster an die Ohren des zu Grausamkeit neigenden Tiberius heranschlich, nach kurzer Zeit den angesehensten Männern Gefahr [618]; und er gab, nachdem er Einfluß bei dem einen, Haß bei allen erlangt hatte, ein Beispiel: Die, welche (diesem) folgten, aus Armen Reiche, aus Verachteten Furchtbare (geworden), schufen anderen Verderben und schließlich sich (selbst) – damit ich ein paar Worte aus dem scharf urteilenden Autor anpasse. Dieser Vatinius aber war unter den schlimmsten Scheusalen des Nero-Hofes, der Zögling eines Schusterladens, mit verkrüppeltem Körper, von possenhaften Witzen; zunächst Verleumdungen unterworfen, vermochte er später durch die Verdächtigung gerade der Besten so viel, daß er an Einfluß, Geld (und) Macht, (anderen) zu schaden, sogar die Schlechten / Niederträchtigen übertraf. Wie wäre es in vortrefflicher Weise mit sehr vielen berühmten Männern nicht geschehen gewesen, wenn die Prinzipes, welche diese böswilligsten Menschen belagert hatten, entweder keine Ohren gehabt oder sie gegen deren Verleumdungen verschlossen hätten!
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B. Original und Übersetzung
[14.] Inter magni illius Catonis laudes refertur, quod convitiis plurimis à quodam conscissus, cum idem dein satisfaceret & deprecaretur, dixerit: Non hercle anim adverteram. Quod Socrates Romanus, non nisi post diutinum exercitium ægre à semet consecutus fuit, promptum perpetuo surdo, qui quoniam non animadvertit sibi maledici, haut magis atque lapis commovetur. Nunquam is maledictis optimi cujusque gaudet aut inter susurrones sedet, canticis & psalteriis eorum pastoritia fistula accinendo; sed vitiosa ac mala verba boni semper consulit, quod ea non audiat; nedum intelligat. Sed, grave esse quis à pa- [619] tientia minus subactus existimet instar Marpesiæ cautis expositum esse ad cujusvis convitia, nec ea retorquere posse. Censent sic quidem illi, qui existimant objecta verbo, verbo solum negari posse. Alia vero mens omnibus iis, quos sapientia atque severior disciplina subegere. Non illi ignominiam putant, quæ solam destinantis conscientiam affligit, certique sunt authorem repetere tela, quæcunque furiosa aut indocilis manus emisit. Consulunt quidem amici Ciceroni, ut cognomen, quod novitatis ipsius æmuli dicteriis exagitabant, commutet; non audit tamen eos, contentus promisisse, sese Ciceronis nomen effecturum Catonum, Catulorum, Scaurorumque nomine illustrius. Quotusquisque ex iis, qui sapiunt, frontem corrugat ad convitia à furioso jactata? Ea ipsa, à malevolo, suique probe compote dicta, quamdiu ignorantur, animum non commovent. Ignorat vero ea semper, utque ignoret, privilegium accepit surdus. Nec tamen quantum hoc privilegium ei favet, ita pariter convitiantibus favet magnus ille rerum arbiter, cui privilegium surdis concedere placuit. Ejus certe hæc lex est: Ne male dicito surdo. Et ut quis ad hanc terribilem legem
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[14. Überhören erstrebenswert] [Cato maior] Unter die Ruhmestaten jenes großen Cato wird gerechnet, daß er, als er von jemandes reichlichen Scheltworten heruntergemacht worden war und derselbe sich daraufhin entschuldigte und Abbitte tat, sagte: „Ich hatte das beim Hercules (gar) nicht wahrgenommen.“ Das hat der Römische Sokrates nur nach langdauernder Übung mit Mühe von sich erreicht, was einem Schwerhörigen dauerhaft zur Verfügung steht, der, da er nicht wahrnimmt, daß er geschmäht wird, nicht mehr als ein Stein bewegt wird. Niemals freut der sich über die Schmähungen gerade der Besten oder sitzt unter den Ohrenbläsern, indem er deren Schimpfgesängen und Spottliedern auf der Hirtenflöte dazutönt, sondern nimmt lasterhafte und üble Worte immer gut auf, weil er sie nicht hören, geschweige verstehen kann. Doch jemand, der [619] von der Duldsamkeit weniger gezähmt ist, könnte meinen, es sei schwierig, wie der Marpesische Fels den Scheltreden eines jeden ohne Unterschied ausgesetzt zu sein und sie nicht zurückgeben zu können. Zwar denken diejenigen so, die glauben, das mit einem Wort (verbal) Vorgeworfene könne allein durch ein Wort (verbal) widerlegt werden. Aber einen anderen Geist haben alle die, die Weisheit und strengere Zucht gezähmt hat. Nicht halten die für (eigene) Schande, was allein das Gewissen des (nach ihnen) Zielenden beschädigt, und sind sicher, daß den Urheber die Geschosse, welche auch immer (s)eine rasende und unbelehrbare Hand geworfen hat, wiederum heimsuchen. [Cicero] Es rieten zwar Freunde Cicero, daß er seinen Beinamen ändere, weil ihn Konkurrenten gerade wegen dessen Neuheit / Ungewöhnlichkeit mit witzigen Einfällen verspotteten; dennoch hörte er nicht auf sie und begnügte sich damit, daß er versprach, den Namen Cicero leuchtender als den Namen der Catones, Catuli und Scauri zu machen. Wie wenige von denen, die vernünftig sind, runzeln die Stirn zu den Scheltreden, die von einem Rasenden vorgebracht sind? Gerade die, die von einem Übelwollenden und seiner gehörig Mächtigen gesagt sind, bewegen, solange sie nicht zur Kenntnis genommen werden, den Sinn nicht. Der Schwerhörige aber nimmt sie niemals zur Kenntnis; und daß er sie nicht zur Kenntnis nimmt, hat er als Privileg erhalten. Nicht jedoch begünstigt, wieviel dieses Privileg den surdus begünstigt, so in gleicher Weise die Lästerer jener große Schiedsrichter der Dinge, dem es beliebte, dieses Privileg den Schwerhörigen zuzugestehen. Sein Gesetz ist ja doch dieses: „Du sollst keinen Schwerhörigen schmähen!“ Und damit man bei diesem Ehrfurcht gebietenden Gesetz, das Moses gegeben
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B. Original und Übersetzung
Mosi datam exhorrescat, alibi surdum opus manuum suarum pronunciat. Quis tu ex Cyclopica gente, qui ausis inclementer di- [620] cere operi, super omnia Phidiæ opera consummatissimo? Quæ deficientis naturæ nævos putas, gloriæ suæ cœli atque terræ architectus, solus ille Ipse, præparavit.242 occlusit quorundam aures, ne animi integritas per seculi saburram, quæ illas ingredi solet, delibetur. Imo occlusit eas, ut animo ratio semper constet, minusque turbentur profundæ, & æternitati devotæ meditationes. Fidem excedit quod de Archimede refertur, qui captis à Marcello Syracusis, inter morientium lamenta, fœmineosque ululatus tam dimissa cogitatione pulveri suo adhæsit, ut non ante animadverterit urbem corona expugnatam esse, quam insolentior quis ex caligatorum turba, contra dictum Imperatoris sui jugulo ferrum admoveret. Quod per raram subactioris ingenii243 exercitationem eruditi pulveris honor consecutus fuit, singulari munere surdo concessum est;244 nunquam ille conqueri de antelucana fabrorum diligentia, aut adire consultos, an textorem, lanæve carminatorem museo suo propinquiorem vicinia ejicere possit: quodvis ille perpeti vicinos, nec turbari inter ipsos lituos tubasque. Qui prope Nili cataractas habitant surdi esse perhibentur, quod Nilus sese præcipitans, fragore suo auditum iis auferat: & tamen omnes illi inter se colloquuntur, ac se invicem intelligunt, quod per consuetu- [621] dinem superarint omnia illa incommoda, quæ gravis auditus secum trahere videtur.
[15.] Videtur magnî quid esse, destitui alloquio, non posse sublegere aliorum sermones; sed quid refert, si ex nutu & gestu tantundem colligatur, quantum sermo animi interpres indicare præsumit. Hadrianus Imperator cum surdaster esset, consulebat sibi, digito alteri auri inserto. Si surdus fuisset, eruditior evasisset.
242 1650 / 1666 Fragezeichen. Lef. Punkt. 243 1650 ingenij. 1666 ingenii. 244 1650 Punkt (nunquam mit Minuskel). 1666 Komma. Lef. Semikolon.
Lob der Schwerhörigkeit
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wurde, mit Schauder erfüllt wird, verkündet er anderswo den Schwerhörigen als Werk seiner Hände. Wer bist du, aus dem Geschlecht der Zyklopen, der du es wagen kannst, das Werk hart zu schmähen, [620] das über alle Werke des Phidias hinaus hochvollendet ist? Was du für Fehler der versagenden Natur hältst, hat zu seinem Ruhm der Schöpfer des Himmels und der Erde, er allein Selbst, geschaffen. Er hat die Ohren etlicher verschlossen, damit nicht des Geistes Unversehrtheit durch den Ballast des Zeitalters, der in diese einzudringen pflegt, gemindert wird. Ja, er hat sie verschlossen, damit dem Geist das Denkvermögen immer unverändert bleibt und die tiefen und der Ewigkeit geweihten Überlegungen weniger gestört werden. [Archimedes] Den Glauben übersteigt, was über Archimedes berichtet wird, der bei der Eroberung von Syrakus durch Marcellus unter den Wehklagen der Sterbenden und dem Geheul der Frauen derart in vertieftem Nachdenken seinem Sand anhing, daß er nicht eher bemerkte, daß die Stadt von Truppen, die sie umgeben hatten, erobert worden war, als bis ein allzu Schnöder aus der Schar der gemeinen Soldaten gegen den Befehl seines Feldherrn ihm das Schwert an die Kehle setzte. Was durch die seltene Übung eines durchgebildeteren Geistes die einem gelehrten Staub erwiesene Ehre erreicht hat, ist dem Schwerhörigen durch ein einzigartiges Geschenk gegeben; niemals beschwert der sich über den Fleiß der Schmiede vor Tage oder sucht Rechtsberater auf, ob er einen Weber oder einen Wollekrempler, der seiner Studierstube zu nahe ist, aus der Nachbarschaft hinauswerfen könne. Alle beliebigen Nachbarn duldet er, und er wird selbst (mitten) unter Hörnern und Trompeten nicht gestört. Die (Menschen), die bei den Katarakten des Nils wohnen, sollen schwerhörig sein, weil ihnen der Nil, der sich kopfüber stürzt, durch sein Krachen das Gehör raubt; und doch unterhandeln sie alle untereinander und verstehen sich gegenseitig, weil sie durch Gewöhnung [621] alle jene Nachteile überwunden haben, die ein hartes Gehör mit sich zu bringen scheint.
[15. ‚Hören‘ mit Gesten] Es scheint etwas Arges zu sein, nicht angesprochen zu werden, nicht die Gespräche anderer aufnehmen zu können; aber was liegt daran, wenn aus Wink und Geste ebensoviel erschlossen werden kann, wie die Rede als Dolmetscherin des Geistes anzuzeigen wähnt / voraussetzt. Als Kaiser Hadrian etwas schwerhörig war, half er sich mit einem in eines der Ohren gesteckten Finger. Wenn er (richtig) schwerhörig gewesen wäre, wäre er kenntnisreicher davongekommen. Denn
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B. Original und Übersetzung
Quot non ex surdis enim invenire est, quibuscum per loquaces digitos æque expedite colloqui licet, ac si instar apri auriti forent. Magnus ille è porticu sapiens Epictetus, ne digitum quidem temere extendi oportere præcipit? at quotusquisque mortalium novit, ob quam semper caussam digitum aut exerat, aut tollat? novit vero hoc surdus, qui animum nostrum cognoscit in iis ipsis signis, quæ nos ne quidem signa esse credimus. Exhorrescere solet Marcus Cicero, Romanus ille ad unguem factus orator, ad illa quæ Crassus isto suo digito significari volebat; & de Hermogene testis est Tertullianus, quod uti consueverit nutu digiti accommodato; sed admodum dubito, an aut Crassi digiti aut Hermogenis nutus, tantum valuerint; quantum apud surdum omnis digiti motus. Eum si Blandus Orator vidisset ad leves solum digitorum ductus & obliquationes colloquentem cum iis, quos haut magis exaudire potest, [622] atque proxima statua, longe opportunius exclamasset O digitum multa significantem?245
[16.] Surdum qui pariter mutus est mente minus constare, quidam ex Medicorum filiis existimarunt. At confundunt eos exempla. Antiqua jam negligere lubet. Quam hoc admirandum, quod duo nobilissimi246 in Moravia Patres, ante annos non ita multos adhuc superstites, cum à primis annis muti pariter atque surdi essent, ex nutibus omnia cognoscere, iisdemque arbitris omnia non solum significare, sed fidei quoque confessionem orthodoxam edere sciverint? Quod monstro vero simile, cum soror horum, amplius cæca à nativitate esset, in subsidium vocato tactu, subservientibusque distinctis acuum punctionibus, quicquid pro necessariis vitæ usibus significandum erat, petere & accipere potuit. Ne quis de fide eorum dubitet, qui observarunt mutos pariter ac surdos ore hiante loquentium voces captasse, atque per os illud collegisse, quod per obsignatas aurium fenestras ingredi non poterat. Qui magno illi Stagyræ civi Anatomici titulum non invident;
245 1650 Fragezeichen recte. 1666 Fragezeichen kursiv. 246 1650 nobilissimi. 1666 nibilissimi.
Lob der Schwerhörigkeit
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wieviele sind nicht unter den Schwerhörigen zu finden, mit denen ebenso ungehindert vermittelst sprechender Finger sich zu unterhalten erlaubt ist, als wenn sie wie ein Eber beohrt wären. Jener große Weise aus der Stoa, Epiktet, schreibt (doch) vor, „daß nicht einmal ein Finger aufs Geratewohl ausgestreckt werden dürfe“? Aber wie wenige Sterbliche wissen, aus welchem Grund sie jedesmal einen Finger ausstrecken oder emporheben? Der Schwerhörige aber weiß das, der unsere Absicht gerade an den Zeichen erkennt, von denen wir nicht einmal glauben, daß sie Zeichen seien. Mit Schauder erfüllt zu werden pflegt(e) Marcus Cicero, dieser ideale römische Redner, bei denjenigen Dingen, von denen Crassus wollte, daß sie „mit jenem seinem Finger“ bezeichnet würden; und Hermogenes betreffend ist Tertullian Zeuge, daß er „einen passenden Wink des Fingers“ zu gebrauchen gewohnt war; aber ich zweifle sehr, ob entweder Crassus’ Finger oder Hermogenes’ Winke soviel vermochten wie jede Bewegung eines Fingers beim Schwerhörigen. Wenn ihn der Redner Blandus gesehen hätte, wie er allein auf die leichten Führungen (Bewegungen) und Schrägstellungen der Finger hin sich mit denen unterhält, die er nicht besser hören kann [622] als die nächste Statue, hätte er (doch) bei weitem passender ausgerufen „o vieles bedeutender Finger“?
[16. Selbst der Schwerhörige und Stumme vermag sich verständlich zu machen] Daß der Schwerhörige, der zugleich stumm ist, sich mit dem Verstand weniger in Ordnung befinde, haben einige aus der Sippe der Ärzte gemeint. Aber Beispiele widerlegen sie. Es ist beliebt, Vergangenes nachgerade geringzuschätzen. Wie ist das zu bewundern, daß zwei sehr vortreffliche Patres in Mähren, die vor nicht so vielen Jahren noch gelebt haben, obwohl sie von den ersten Jahren an stumm und zugleich schwerhörig waren, mit Hilfe von Gesten alles erkannten und nach denselben Zeugen alles nicht nur zu bezeichnen, sondern auch das regelrechte Bekenntnis des Glaubens zu verkünden verstanden haben? Was einem wahren Wunder ähnlich (ist): Obwohl deren Schwester zusätzlich von Geburt an blind war, konnte sie, mit der Unterstützung des Tastsinns und verschiedener Nadelstiche (treffender / genauer Hinweise), was immer für die Bedürfnisse des Lebens zu bezeichnen war, erbitten und empfangen. Niemand zweifle an der Glaubwürdigkeit derer, die beobachtet haben, daß Stumme und zugleich Schwerhörige mit offenem Mund nach den Worten der Sprechenden geschnappt und durch den Mund das aufgenommen haben, was durch die versiegelten Fenster / Öffnungen der Ohren nicht eintreten konnte. Diejenigen, die jenem großen Bürger von Stagyra den Titel eines Anatomen nicht versagen, wissen, daß von ihm schon
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B. Original und Übersetzung
haud ignorant ab eo jam olim præeunte Alcmæone, subtilem quem ductum à palato ad aurium cava notatum fuisse. Quid refert si anguium frequentiæ, par ciconiarum numerus respondeat? Provida natura, aut verius Omnipotens naturæ moderator, opera quæ [623] deficere videntur in artubus, qui inutiles ad illa censeri possent, exhibere novit.
[17.] Sed quid refert vicarium sensum auditui concessum esse? Qui cum aliis loqui non potest, secum loquatur. Næ is, qui secum, qotiescunque lubitum animo fuerit, colloqui potest, sermonem alterius requiret summopere. Non aliqui solum ex ridiculi illius Timonis cognatione, sed plurimi quoque ex Christianæ religionis professoribus, patrium solum deseruerunt, ac profundas speluncas, sylvas, desertosque montes adierunt, ut ab hominum strepitu remoti esse possent, ac secum colloqui. Quod sub alio Sole quæsitum tot viri maximi iverunt, ac vix adhuc consequi potuerunt, domi atque in fori angulo inter infantium ululatus promiscuæque turbæ tumultum invenit surdus. Quis es tu, qui de tanto commodo, quod omnes illi viri pii, qui à deserto quod incoluerunt, nomen acceperunt, vix uti frui potuerunt, veluti de gravi247 aliquo incommodo quereris? Si aliquando aurium ratio tibi constiterit, temporisque anteacti adhuc memor sis, animo recole, quotiescunque non secessum captaris, ut aut Musis, aut profundioribus meditationibus vacare posses. Viduum sæpe torum reliquisti, quod ejulans infans, ac lallans uxor somnum oculis tuis excuterent. Amplectere ergo bonum præsens, & memor transacti [624] strepitus, veterumque tumultuum, silentio divinitus tibi concesso delectari incipe.
[18.] Si legere amplius didiceris, antequam occlusæ aurium portæ fuerint, nihil ob quod ringaris occurret. Nam oculorum subsidio aurium defectum consolari pot es. Parum est docentes homines audire non posse, si libri, placidi illi ac muti
247 1650 / 1666 degravi. Lef. sep.
Lob der Schwerhörigkeit
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längst – Vorgänger war Alkmaion – ein feiner Gang, der vom Gaumen zu den Höhlungen der Ohren führt, beobachtet worden war. Was macht es (schon) aus, wenn der Menge der Schlangen die Zahl der Störche entspricht? Die vorsehende Natur oder wahrer: der Allmächtige Lenker der Natur weiß Werke, die zu fehlen scheinen, [623] in Gliedern zu schaffen, welche untauglich in Bezug auf sie eingeschätzt werden könnten.
[17. Wer nicht mit anderen sprechen kann, spreche mit sich] Was hat es aber für eine Bedeutung, daß dem Hörsinn ein Stellvertreter zugestanden ist? Wer nicht mit anderen sprechen kann, spreche mit sich selbst. Nicht wird, wer sich, sooft es ihm belieben mag, mit sich unterhalten kann, mit aller Kraft das Gespräch eines (mit einem) anderen suchen. Nicht nur einige aus der Verwandtschaft jenes närrischen Timon, sondern sehr viele auch von den Bekennern der christlichen Religion haben den Boden der Väter verlassen und tiefe Höhlen, Wälder und einsame Berge aufgesucht, damit sie, von dem Lärm der Menschen entfernt, mit sich sprechen konnten. Was unter einer anderen Sonne so viele hochangesehene Männer suchen gingen und kaum bisher erreichen konnten, findet zu Hause und in einem Winkel des Marktplatzes zwischen Geschrei der Kinder und Getöse des bunten Haufens der Schwerhörige. Wer bist du, der du über einen so großen Vorteil, den alle jene frommen Männer, die von der Einsamkeit, die sie bewohnten, den Namen bekommen haben, kaum nutzen konnten, wie über (irgend)einen schweren Nachteil jammerst? Wenn dir einst das Geschäft deiner Ohren stillstehen wird, sei der bis dahin vorausgegangenen Zeit eingedenk; wiederhole im Geist, wie oft du keinen stillen Winkel erhascht hast, damit du entweder den Musen oder tieferen Meditationen obliegen konntest. Oft hast du das vereinsamte Lager verlassen, weil das heulende Kind und die schwatzende Gattin deinen Augen den Schlaf vertrieben haben. Heiße daher das Gute, das vorhanden ist, willkommen und beginne, eingedenk des vorübergegangenen [624] Lärms und der alten Unruhen, dich an der dir durch göttliche Fügung zugestandenen Ruhe zu erfreuen.
[18. Lesen statt Hören] Wenn du ferner lesen gelernt hast, bevor der Ohren Tore verschlossen wurden, wird dir nichts widerfahren, worüber du unwillig sein könntest. Denn du vermagst mit Hilfe der Augen das Versagen der Ohren zu lindern. Wenig ist es, belehrende Menschen nicht hören zu können, wenn Bücher, jene sanften und
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B. Original und Übersetzung
magistri, pateant. Et quid si Vulcanus omnes sustulisset libros? Cœlum, terra & maria nunquam aut clauduntur, aut esse desinunt: quisquis omnium authorem & architectum in iis contemplatur atque legit, supra helluones librorum sapere discit. Nihil autem hæc surditas nocet, si fortasse non multum profuerit.
[19.] Quiritium leges iniquiores quidem surdo videntur, quando à subselliis eum arcent, ac judicem sedere nolunt. Sed quibus interim molestiis eum non liberant? Cui sedendi jus denegatur, ei non incumbit etiam ferendi calculi onus; nec unquam cum Chilone, qui sapientis nomen promeruit, inter amicitiam atque justitiam ambigit. Quanto non satius est sollicito privilegio destitui ludibrioque haberi, (quod compertum fuerit, surdum ei qui tres capellas repetierat, rei filiam sponsam adjudicasse;) quam ut dirum suum carmen surdis, si legum in judicando rationem non habuerint, occinant. Leo & Alexander Imperatores: qui omnibus iis, qui oculis suis plusquam auribus in judi- [625] cando crediderint, precantur ut Deum atque Cœlestes potestates adversantes experiantur, ex hac vita excidant potius, quam excedant: incommodis afficiantur perpetuis, ædium ipsorum fundamenta ignis tandem devoret, & posteritas eo redigatur inopiæ, ut panem ostiatim quæritet, quod leges, quas liberrimas oporteret esse, servas quodam modo ac captivas effecerint. Augusti quid jus vitæ atque necis esse videtur, laboriosum tamen & difficile ejus exercitium est. Quem juvet vero officium, quod gravat?
[20.] Ejus autem notæ omnia illa sunt, ad quæ surdis aditus occlusus248 esse creditur. Bono proinde animo sint, sibique gratulentur, quod tanto plus quietis obtineant, quanto minus splendoris habent. Parum est auribus minus valere, quando ani-
248 1650 / 1666 occlusis. Lef. occlusus.
Lob der Schwerhörigkeit
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stummen Lehrer, zu Diensten stehen. Und was ist, wenn Vulkan alle Bücher vernichtet hätte? Himmel, Erde und Meere werden niemals geschlossen oder aufhören zu sein: Wer auch immer den Schöpfer und Architekten aller Dinge in ihnen betrachtet und ‚liest‘, lernt, über die ‚Verprasser‘ von Büchern hinaus, weise zu sein. Nichts schadet hier die Schwerhörigkeit, wenn sie nicht vielleicht (sogar) viel nützen wird.
[19. Verschonung von Gerichtstätigkeit] Die Gesetze der Bürger scheinen dem Schwerhörigen zwar ziemlich ungerecht zu sein, da sie ihn von Gerichten fernhalten und nicht wollen, daß er als Richter (zu Gericht) sitze. Aber bei alledem, von welchen Belästigungen befreien sie ihn nicht? Wem das Recht, (zu Gericht) zu sitzen, verweigert wird, dem obliegt es auch nicht, die Last des Stimmsteins zu tragen; und er ist niemals mit Chilon, der den Namen eines Weisen verdient hat, zwischen Freundschaft und Recht im Zweifel. Um wieviel ist es nicht besser, von einem Vorzugsrecht voll unruhiger Spannung entbunden und gehänselt zu werden (weil in Erfahrung gebracht worden war, daß ein Schwerhöriger dem, der Schadenersatz für drei (kleine) Ziegen gefordert hatte, die Tochter des Angeklagten als Braut zugesprochen hat), als daß sie (die Spötter) ihr gräßliches Spottlied den Schwerhörigen singen, wenn sie beim Urteilen nicht auf die Gesetze Rücksicht genommen haben. Die Kaiser Leo und Alexander – die wünschen allen denen, die beim Urteilen mehr als ihren Augen den Ohren [625] vertraut haben, daß sie Gott und die Himmlischen Mächte als Widersacher erfahren, aus diesem Leben lieber entschwinden als (in ihm) hervorragen, von fortdauernden Schäden heimgesucht werden, daß die Fundamente ihrer Häuser endlich Feuer verzehre und die Nachkommenschaft bis zu dem Mangel geführt werde, daß sie von Haus zu Haus nach Brot suche, weil sie die Gesetze, die sehr frei sein müßten, gewissermaßen zu Sklaven und Gefangenen gemacht haben. Etwas Erhabenes ist, wie es scheint, das Recht über Leben und Tod, jedoch ist seine Handhabung mühevoll und schwierig. Wen dürfte wirklich ein Amt zusagen, das beschwert?
[20. Je weniger Glanz, desto mehr Ruhe – desto größer die Fähigkeit, des Schöpfers Stimme zu hören] Von der Art aber ist alles das, zu dem der Zugang den Schwerhörigen, wie man glaubt, verschlossen ist. Deshalb sollen sie guten Mutes und dankbar sein, daß sie über desto mehr Ruhe verfügen, je weniger Glanz sie haben. Wenig ist es, mit
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B. Original und Übersetzung
mus ad exequenda Dei jussa est erectus. Illius demum deposita salus est, qui, cum lenes susurros Sirenum hujus seculi cum voluptate audiat, audire tamen non possit quæ cæli terræque Dominus præcipit. Prius miseriam referre videtur ignaris, posterius miseriam omnem apud æquos censores excedit. FINIS.
Lob der Schwerhörigkeit
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den Ohren weniger tüchtig zu sein, da ja der Geist lebendig ist, die Befehle Gottes auszuführen. Dessen Heil ist endlich verloren, der, während er die sanften Ohrenbläsereien der Sirenen dieses Jahrhunderts mit Vergnügen hört, nicht jedoch hören kann, was der Herr des Himmels und der Erde befiehlt. Vorher scheint er (der surdus) für Unwissende Elend davonzutragen, später tritt er bei gerechten Richtern aus dem ganzen Elend heraus. ENDE.
C. Interpretation “Written in a difficult Latin and crammed with classical allusions”249
Obwohl Schoock in seiner Rede assoziativ von einem Punkt zum nächsten übergeht, um den Hörer bzw. den Leser durch die unaufhörlich aufeinander folgenden neuen Argumente in Spannung zu halten, zuweilen auch zu überraschen, sei doch eine Gliederung zur kommoden Orientierung vorgenommen und vorausgeschickt. Einleitung 1. Thema 2. Nicht surdi, sondern auriti angesprochen 3. Ambivalenz des guten Hörsinns Hauptteil 4. Schutz vor Locktönen Hercules und Omphale – Alexander und Thais – Craton und der Pantomimus – Ulixes und die Sirenen 5. Schutz vor Mißtönen 6. Schutz vor laut schreienden Politikern 7. Schutz vor Schwatzhaftigkeit der Frau 8. Schutz vor Marktschreiern 9. Schutz vor Possen und Deklamationen 10. Schutz vor Schwätzern 11. Schutz vor Überreaktionen und Mißverständnissen 12. Schutz vor Schmeichlern 13. Schutz vor Verleumdern und Delatoren 14. Überhören erstrebenswert Cato maior – Cicero – Archimedes 15. ‚Hören‘ mit Gesten 16. Selbst wer schwerhörig und stumm ist, vermag sich verständlich zu machen 17. Wer nicht mit anderen sprechen kann, spreche mit sich 18. Lesen statt Hören 19. Verschonung von Gerichtstätigkeit
249 Verbeek 2015, S. 668 über die Admiranda methodus von 1643 (▸ S. 2). Dieses Urteil gilt für alle Schriften Schoocks. https://doi.org/10.1515/9783110731804-004
1. Thema
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Coda 20. Je weniger Glanz, desto mehr Ruhe – desto größer die Fähigkeit, des Schöpfers Stimme zu hören
1. Thema [602] Schoock kündigt das Thema sehr selbstbewußt an: Er wolle mit dem Werk sein (literarisches) Ingenium erproben und den Beifall der Gebildeten herausfordern – und zwar vor ihren Ohren mit der Darstellung eines Schadens der Ohren. Das Paradox zielt schon am Anfang auf die Würdigung durch die eruditi. Denn sie haben zu verstehen: Ihre Ohren, die keineswegs in übertragenem, sondern in wörtlichem Sinn angesprochen sind, sollen durch die Vorführung des Ohrdefekts erfreut werden. Deshalb sind sie als Auditores (AA.) angesprochen: Es handelt sich um eine Rede, die in einem Sammelband mit eigenen Reden des Autors veröffentlicht wird. In diesem Sinn nennt Schoock bei dem nächsten Punkt seine Vorgänger in der Gattung Oratores. Wiederum selbstbewußt spricht er nur von Vorgängern ersten Ranges: ex prima cavea.250 Die Meßlatte wird hoch gelegt. Und so geht es weiter: Wenn jene sich vergriffen haben, bekenne er, daß auch er sich vergreife. Und wenn sie die erudita respublica freigesprochen hat, dürfe wohl auch er vor einer Rüge sicher sein. Warum die Vorgänger dieses Genus aufgegriffen haben, wolle er nicht weiter fragen, es genüge ihm das Faktum. Das bedeutet, daß Schoock sich als der Mühe überhoben betrachtet, die Berechtigung des doch merkwürdigen Themas zu begründen. Er spricht aus einer Gemeinschaft heraus zu einer Gemeinschaft. erudita respublica umschreibt den bis in das späte achtzehnte Jahrhundert hinein gebräuchlichen Begriff der Res publica literaria, der ‚Gelehrtenrepublik‘, die hier den Rahmen abgibt für die vorgelegte bis zu einem gewissen Grad ernsthafte Spielerei, wie sie die Humanisten pflegen und ihr gelehrtes Publikum begrüßt. Ein neues Paradox rauht die ungewöhnliche Argumentation auf: Der Autor wisse aus Erfahrung, wieviel der Gehorsam der Ohren der Sicherheit des allgemeinen Lebens – nicht: nütze, sondern schade. Er will ja ein surditatis encomium vorlegen. Ferner habe er die Klagen der Schwerhörigen gehört. Es sei also
250 „Auf den letzten Reihen drängte sich das Volk; aber auf den reservierten Plätzen, wo die Behörden und die adligen Familien saßen, traf sich die erlesenste Gesellschaft Roms wie in einem Salon“ (Paoli 1961, S. 295). Dementsprechend bezeichnet prima cavea die vornehmen Plätze (Cic. Cato 48), summa cavea die billigen (Sen. De tranqu. an. 11, 8).
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C. Interpretation
ein unentschiedener Fall (NON LIQUET),251 zu dem er Stellung nehme. Er wolle einerseits auf die lästige Fragerei der Menschen eingehen und andererseits auf Hilfe gegen das Übel, das allgemein für sehr groß gehalten werde – natürlich zu Unrecht, wie zu verstehen ist. Ein letztes Auftrumpfen: Beifall erstrebe er nicht (favorem non ambio). An Selbstbewußtsein mangelt es dem Redner nicht.
2. Nicht surdi, sondern auriti angesprochen Der nächste Punkt erläutert den Charakter der Rede. Nicht will Schoock eine Trostschrift für Schwerhörige vorlegen – wie etwa Johann Fischart 1577 ein Podagrammisch Trostbüchlein252 oder Jakob Balde 1661 ein Solatium podagricorum253 verfaßten. Er wendet sich ja an diejenigen, die über funktionsfähige Ohren verfügen. Es ist somit eine Verteidigungsschrift – wie etwa Willibald Pirckheimer 1523 eine Apologia podagræ 254verfaßte. Wenn er zu den Schwerhörigen spräche, brächte er den Fall, gewissermaßen den Prozeß, vor schwerhörende Ohren und damit vor gähnende Sinne.255 [603] Den aber könne allein des Geistes innere Aufmerksamkeit zulassen und ein ziemlich geschultes Urteil entscheiden. Es sind also hörfähige Väter angesprochen – Patres fungiert als Anrede an die ‚Richter‘, die aber nicht einem Gericht vorsitzen, sondern als Gremium fungieren,256 das von den ungewöhnlichen Thesen des Vortragenden überzeugt, ‚gesättigt‘ werden soll.257 Zudem wird ihnen vermittelt werden, wie die Schwerhörigen durch sprechende Zeichen (loquacia signa) lernen.258 Die Rede hat belehrenden Charakter.
251 Begriff aus dem Römischen Recht (‚es ist nicht klar / nicht spruchreif‘)‚ der heute noch in der Rechtssprache und auch allgemein (Büchmann 1972, S. 528) gebraucht wird. 252 ▸ Lefèvre 2020, S. 66. 253 ▸ Lefèvre 2020. 254 ▸ Lefèvre 2020, S. 62–65. 255 Dennoch werden zwischendurch auch die surdi angesprochen und ihnen klargemacht, daß sie keinen Grund zur Klage haben, z. B. am Ende von Abschnitt 4 (p. 607). 256 Patres conscripti: ‚eingeschriebene / eingetragene Väter‘, Anrede an die Senatoren des römischen Senats. 257 Ganz am Ende werden sie konsequent censores genannt (p. 625). 258 Über die Gesten der Schwerhörigen ▸ Abschnitt 15 (p. 621–622).
3. Ambivalenz des guten Hörsinns
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3. Ambivalenz des guten Hörsinns Der dritte Punkt behandelt den Umstand, daß ein guter Hörsinn zweifellos ein Gut ist, daß er aber andererseits vieles an das Gehirn weiterleitet, was besser nicht dorthin gelangte. Das ist eine Einstimmung auf das Thema der Rede. Insofern wird der Passus hier noch zu der Einleitung gezählt. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß das Encomium von einer gleitenden Argumentation bestimmt ist und sich strenger Gliederung entzieht. Schoock geht davon aus, daß im allgemeinen vom Standpunkt des Unterrichts und der Erziehung der Hörsinn hoch geschätzt werde, was unstreitig richtig ist. Er beruft sich für diese Wertung auf das Zeugnis eines Doctor, der allen Lehrenden die Vorschriften der Wahrheit und den Glauben an Christus, in dem allein das Heil liege,259 vermittelt und zu eigen gibt. Wer ist dieser Doctor? Die Annahme liegt nahe, daß Augustinus gemeint ist,260 da er mehrfach aus Paulus’ Brief an die Römer die Aussage zitiert: ergo fides ex auditu, auditus autem per uerbum Christi (10, 17), die Luther frei wiedergibt: „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Gottes“. Der Hörsinn ist also zu Recht nicht nur in der Schule, sondern auch in der Kirche hoch angesehen. Als weiterer Pluspunkt gilt, daß der Hörsinn für das Sehen als Stellvertreter eintreten und durch genaue / gewissenhafte Leistung dessen Schnelligkeit der Wahrnehmung ausgleichen kann.261 Allerdings sei seine kunstvolle Konstruktion von den zeitgenössischen Anatomen,262 die, wie gesagt wird, über eine besonders ausgebildete rechte Hand zum Sezieren verfügen, noch nicht hinreichend erforscht. Wenn jemand vollkommene Ohren hätte, welche die kunstvollen von Phidias263 und
259 Über den Glauben an Christus heißt es, daß er allein eine rettende Planke in dem Schiffbruch der mitgeborenen Guten ergreifen könne (das Bild in tam vasto bonorum congenitorum naufragio wie Minucius Felix, Oct. 5, 10: in naufragiis bonorum malorumque fata mixta). 260 Zu ihr teilt der Augustinus-Kenner Tobias Uhle mit: „Mit dem Doctor könnte durchaus Augustinus gemeint sein, allerdings sind mir keine längeren Ausführungen zum Hörsinn bekannt. Indes zitiert Augustinus mehrfach (z. B. De trinitate 13, 2 und 15, 11) einen Vers aus dem Römerbrief (10, 17), der in den Kontext zu passen scheint: fides ex auditu, auditus autem per uerbum Christi. Insofern könnte auch Paulus gemeint sein.“ 261 Damit ist offensichtlich der im folgenden behandelte Punkt angesprochen, daß der Hörsinn im Gegensatz zum Augensinn nicht Alles und Jedes an das Gehirn weiterleitet, sondern dieses vor vielen überflüssigen, unangenehmen und schädlichen Dingen bewahrt. 262 Es genügt, an den berühmten französischen Anatomen Andreas Vesalius (1514 / 1515–1564) zu erinnern, dessen Hauptwerk De humani corporis fabrica libri septem in Basel 1543 erschien. 263 Phidias von Athen (fünftes Jahrhundert v. Chr.) galt in der Antike als der vollkommenste Bildhauer.
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C. Interpretation
Polyklet264 [604] gestalteten überträfen, müsse er doch feststellen, daß sie ihm nicht mehr nützten als die großen Ohren, die eine Statue265 des Frevlers Midas aufweist.266 Damit spielt Schoock auf den viel gelesenen Ovid an (Met. 11, 146– 179), auf dessen Geschichte von dem mythischen König Midas in Phrygien, der in einem musischen Wettstreit zwischen dem Gott der Kunst Apollo und dem Gott der Hirten und des Landlebens Pan zugunsten des letzten entschieden und damit seine Ohren als die eines Banausen desavouiert hatte. Ovid fährt in detaillierter Beschreibung eindrucksvoll fort:
264 Polyklet von Argos, bedeutender Bildhauer (Erzbildner), lebte ebenfalls im fünften Jahrhundert v. Chr. 265 Die Ähnlichkeit mit einem Esel bezieht sich nur auf die Ohren bzw. auf den Kopf. 266 Die Frage, ob Schoock antike Darstellungen dieser Art bekannt sein konnten, beantwortet Wolfgang Ehrhardt wie folgt: „Ich halte es für unwahrscheinlich, daß Schoockius im 17. Jh. eine plastische Midasdarstellung kennen konnte. Es gibt im British Museum eine Herme, die in der 2. Hälfte des 18. Jh. in Italien ausgegraben wurde. O. Jahn hat den Kopf als Midas gedeutet (Archäologische Zeitung 1848, S. 239–240). Es gibt noch ein aus dem 3. Jh. n. Chr. stammendes Basisrelief aus Aphrodisias. Eine der dargestellten Figuren wird als Midas gedeutet. Dagegen gibt es in der Vasenmalerei ab dem 2. Viertel des 6. Jh. v. Chr. Darstellungen von Midas und Silen. Midas findet sich auch auf Gemmen und auf Münzen. Vielleicht kannte Schoockius solche Gemmen oder Münzbilder oder Stiche etc. davon.“ Auch barocke Statuen kommen wohl nicht in Frage. Hans W. Hubert erklärt: „Midasdarstellungen waren in der Malerei und Graphik des 17. Jahrhunderts sehr beliebt, aber eine Statue ist mir nicht bekannt. Ich habe in den gängigen Bildrepositorien nachgesucht und auch dort nichts gefunden. Wenn es die Statue tatsächlich gegeben hat und sie nicht nur eine Erfindung des Humanisten oder eine sprachliche Ungenauigkeit / Verwechslung […] ist, wäre sie im 17. Jh. als ein rares Beispiel anzusehen.“ So bleibt die Möglichkeit, daß sich Schoock auf Gemälde oder Graphiken bezieht, die eine Midas-Statue bzw. eine statuenähnliche Darstellung des phrygischen Königs aufwiesen. Vielleicht ist die Argumentation auch nur ‚theoretisch‘ zu verstehen, wenn die verwandelten Ohren gemeint sind, die eine Statue des von Apollo bestraften Midas darböte. Unmittelbar vorher ist ja von den besonderen Ohren der von den Bildhauern Phidias und Polyklet gefertigten Statuen die Rede. Diese Vorstellung wäre keineswegs abwegig. Ein wichtiges Zeugnis der Zeit ist das 50. Kapitel der 1664 gedruckten Expeditio polemico-poëtica Jakob Baldes, in dem geschildert wird, wie die Eroberer der von den törichten Kritikern bewohnten Burg der Ignorantia dort Symbole der Dummheit und Geschmacklosigkeit ihrer Bewohner vorfinden: unam alterámque s ta t ua m Midæ, Regis Phrygiæ, repererunt. simulacra item Faunorum, Sileni, Bacchi, Priapi, Veneris, & saxum Batti [„die eine oder andere Statue des Königs der Phryger, Midas, entdeckten sie, ebenso Abbilder von Faunen, Silenus, Bacchus, Priapus, Venus und den Stein des Battus“]. Diese „zeugen vom Geist der Besitzer“ (Lefèvre 2017, S. 226). Wie Schoock stellte Balde sich Midas-Statuen vor (da Midas hier ein Symbol der Dummheit bzw. des mangelnden Urteilsvermögens der Kritiker ist, sind seine dem fatalen Urteil über Apollos Kunstdarbietung geschuldeten Eselsohren mitbedacht).
3. Ambivalenz des guten Hörsinns
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nec Delius aures humanam stolidas patitur retinere figuram, sed trahit in spatium villisque albentibus implet instabilesque imas facit et dat posse moveri; cetera sunt hominis; partem damnatur in unam induiturque aures lente gradientis aselli.
175
[Aber der Gott von Delos duldet es nicht, daß die einfältigen Ohren die menschliche Gestalt behalten, sondern er zieht sie in die Länge und füllt sie mit weißen Zotteln und macht sie an der Spitze nicht starr und gibt, daß sie sich bewegen können. Das Übrige bleibt menschlich, nur an einem Teil wird er bestraft und nimmt die Ohren des bedächtig schreitenden Esels an.]
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Diese Erzählung war den gebildeten Hörern / Lesern Schoocks natürlich bekannt und wird sie in dem dargelegten Zusammenhang besonders entzückt haben. Schoock fährt fort: Er wäre bewegt und empfände Schmerz, wenn er niemals Gräber angeschaut hätte. Denn diese böten den Betrachtenden und Lesenden267 nicht nur die Verkehrtheiten der Zeit allgemein, sondern auch die Verkehrtheiten derjenigen dar, die sie schätzten, obwohl sie ihnen hätten fernstehen müssen. Das leitet über zu dem ‚materiellen‘ Inhalt der Gräber. Denn die sind innen nicht einfach hohl, sondern angefüllt mit ‚ominösem‘ Gestank.268 Diese drastische Beschreibung ist ein Bild dafür, daß ein solches Grab das Ohr sei – das auch (derartige) nichtige Dinge aus der Dunkelheit an das benachbarte helle Gehirn weiterleite, die es besser in seiner Tiefe bewahrte.269 Es folgt ein Gleichnis. Der Mensch ist von der Umgebung abhängig, er kann nicht nur am frühen Morgen die für die Gesundheit und die gehörige Mischung der Körpersäfte270 erforderliche Luft einatmen, sondern ist auch den negativen Erscheinungen, den Regengüssen ebenso wie der Hitze, ausgesetzt: Ebenso sind seine Ohren dem Geschwätz der Leute ausgeliefert – zumal er, wie es skurril übertrieben heißt, als einziges Lebewesen seine Ohren nicht bewegen, also nicht aus der Schallrichtung nehmen kann. Dann ist es Aufgabe des überlegenen Verstandes, das Empfangene zu sortieren, also Energie aufzuwenden, um Überflüssiges abzuweisen. [605] Freilich
267 Gemeint sind wohl bildliche Darstellungen auf den Grabsteinen wie in moderner Zeit ein Palmzweig oder ein Stahlhelm (intuentium) sowie Inschriften, die über Leistungen und Bestrebungen der Toten Auskunft geben (legentium). 268 ominoso: ‚voller Vorbedeutung‘, hier abgeschwächt im Sinn der modernen Bedeutung ‚ominös‘ (Duden 1973: ‚bedenklich‘). 269 ossilegium: ‚Beinsammlung‘ (Kirschius 1774, Sp. 1996). 270 Eine gute Darstellung der Lehre von den Körpersäften im weiteren Sinn von der Antike bis in das siebzehnte Jahrhundert bietet Burkard 2004, S. XLII–LII.
90
C. Interpretation
sei es lieblich, Flöten- und Leierspieler und A capella-Gesänge271 wahrzunehmen272 und kunstvolle Reden273 der Redner im Inneren zu empfangen – das ist ja unbestreitbar –, aber wie oft gelange nicht auch Gift zu den Tiefen des Sinnes, durch das der Verstand, wie aus dem Hinterhalt überfallen, sogar das honestum vergessen und den voluptates Platz gegeben wird. Hier spielt die ‚naturwissenschaftliche‘ Argumentation ins Moralische hinüber. Damit ist halb ernsthaft, halb humorvoll ‚bewiesen‘, daß eine Beeinträchtigung des Hörsinns nicht einen Verlust, sondern einen Gewinn bedeutet!
4. Schutz vor Locktönen Es folgt je ein mythologisches, ein historisches und ein künstlerisches Beispiel für die These, daß es nicht guttue, alle Töne, die an das Ohr gelangen, (bewußt bzw. genau) zu hören. Zunächst werden aber die Sirenen kurz erwähnt, Vögel mit Mädchenköpfen, die der Sage nach an der Südküste Italiens durch ihren Gesang Schiffer in das Verderben lockten. Das ist gewiß einsichtig. Sie kommen wenig später bei dem Beispiel des klugen Ulixes, der sie überlistete, etwas ausführlicher in den Blick.274 Hercules und Omphale Nunmehr tritt die lydische Königstochter Omphale auf den Plan, die das erreichte, was alle Ungeheuer nicht zu erreichen vermochten: Hercules, den stärksten der Menschen, mit ihrer bezaubernden Stimme zu unterwerfen – ein Paradox. Als Strafe für den Mord an seinem Gastfreund Iphitus und für den Kampf mit
271 vox assa: ‘unaccompanied voice, without accompaniment’ (OLD unter Hinweis auf Nonius 1903, p. 107–108: Assa voce: sola vice linguae tantummodo || aut vocis humanae non admixtis aliis musicis esse voluerunt [„mit trockener / bloßer Stimme: Sie behaupten, das sei nur mit Hilfe der Zunge bzw. der menschlichen Stimme ohne Beiziehung von anderen die Musik betreffenden Dingen“, d. h. Musikinstrumenten]). 272 sublegere: Plaut. Mil. 1090 sermonem sublegerunt = ein Gespräch ‚aufschnappen‘. 273 Diese werden als lenes susurros, sanftes Surren bezeichnet. Das Wort hat an dieser Stelle einen leicht negativen Klang, denn oft enthalten die Reden Gift, wie es im folgenden heißt. Eindeutig negativ wird der Begriff am Ende von p. 617 für die Einflüsterungen der römischen Delatoren gebraucht. In diesem Sinn ist p. 618 von susurrones [‚Ohrenbläsern‘] die Rede. Schließlich werden am Ende der Schrift die lenes susurros Sirenum hujus seculi [„die sanften Ohrenbläsereien der Sirenen dieses Jahrhunderts“] genannt (p. 625), vor denen der Schwerhörige sicher ist. 274 p. 606 / 607.
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Apollo um den delphischen Dreifuß mußte Hercules bei der lydischen Königin Omphale Sklavendienste, genauer: Frauenarbeit, leisten. Hierbei kam es, wie verschiedentlich erzählt wurde, zu erotischer Annäherung. So unterstellt Ovids Deianira (Hercules’ rechtmäßige Gattin) in einem Brief an den Gatten diesem ein intimes Verhältnis mit Omphale, aus dem der Sohn Lamus hervorgegangen sei.275 Schoock kommt es bei der Verführung des Helden auf die schmeichelnde / bezaubernde Stimme der Frau an. In dieser Hinsicht wird sie mit den stimmbegabten Sirenen auf eine Stufe gestellt. Der Leser soll den nicht ausgesprochenen Schluß ziehen, daß Hercules, wäre er surdus gewesen, der betörenden Werbung nicht nachgegeben hätte! Alexander und Thais Als Krönung erscheinen Alexander der Große und die berühmte Hetäre Thais.276 Diese wunderbare Episode konnte Schoock bei dem von den Humanisten vielstudierten Plutarch finden, der in der Alexander-Vita 38 folgendes berichtet:277 Als er (Alexander) jetzt im Begriff war, gegen Dareios wieder auszuziehen, überließ er sich noch mit seinen Freunden dem Zechen und Scherzen, so daß auch Frauen in Gesellschaft ihrer Liebhaber an der Lustbarkeit teilnahmen. Unter diesen zeichnete sich besonders Thais, eine geborene Athenerin, die Geliebte des nachmaligen Königs Ptolemaios, aus, und nach mehreren fein angebrachten Scherzen und Lobsprüchen auf Alexander wurde sie im Taumel des Rausches hingerissen, eine Rede zu halten, die zwar dem Charakter ihrer Vaterstadt völlig entsprach, für ihren Stand aber wohl etwas zu anmaßend war. „Für alle die Mühseligkeiten“, sagte sie, „die ich während des langen Herumziehens in Asien erduldet habe, ernte ich an dem heutigen Tage eine reiche Belohnung, da ich der stolzen Königsburg der Perser [Persepolis] Hohn sprechen kann. Allein noch mehr Freude sollte es mir machen, den Palast jenes Xerxes, der Athen verbrannt hat, vor den Augen des Königs mit eigener Hand anzuzünden und in Asche zu legen, damit ich mich vor den Leuten rühmen könnte, daß schwache Weiber in Alexanders Gefolge für Griechenland an den Persern eine härtere Rache genommen haben, als selbst jene berühmten Führer der griechischen Heere und Flotten.“ Dieser Vorschlag wurde mit allgemeinem Jubel und Händeklatschen aufgenommen. Der König selbst ließ sich durch das dringende Zureden seiner Freunde mit hinreißen, daß er aufsprang und mit dem Kranz auf dem Haupte und einer Fackel in der Hand vorausging. Die übrigen folgten dann mit lautem Freudengeschrei nach und umringten den Palast.
275 Her. 9, 53–128. Weitere Darstellungen nennt Katharina Waldner: DNP. Bd. 8 (2000), Sp. 1199–1200. 276 Thais aus Athen, die Alexander auf seinem großen Feldzug in den Osten begleitet haben soll. Später wurde sie die Geliebte von Alexanders Feldherrn Ptolemaios I., der die PtolemaierHerrschaft in Ägypten begründete. Sie ist die Mutter mehrerer seiner Kinder. 277 Plutarch. Bd. 4 (1965), S. 305–306.
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C. Interpretation
Schoock hat die Erzählung trefflich verknappt und dadurch zugespitzt, vor allem hat er sie dem von ihm verfolgten Zusammenhang der Argumentation dienstbar gemacht, [606] daß das schreckliche Geschehen, der Brand278 des reichen Persepolis,279 nicht seinen Lauf genommen hätte, wenn Alexander surdus gewesen280 wäre und somit Thais’ Rede verlorene Liebesmüh bedeutet hätte – eine treffliche Pointe. Die Gedankenkonstruktion ‚was wäre geschehen, wenn‘ bzw. ‚was wäre geschehen, wenn nicht‘ mußte die Verfasser der Paradoxenkomien immer wieder aufs Neue reizen.281
Craton und der Pantomimus Es folgt eine Anspielung auf einen Tadel, den der Philosoph Craton (Kraton) gegen junge Frauen und Männer geäußert habe, die in Pantomimen282 Szenen aus Theaterstücken darstellten. Sie hatten sich bekränzt und in tänzerischer Weise ‚zweifelhafte‘ Frauengestalten verkörpert. Diese Darbietungen lebten von der Musik, so daß der Schluß gezogen wird, die Entartung der jungen Leute wäre nicht passiert, wenn ihre Ohren – wie die der Schwerhörigen – versiegelt / verstopft gewesen wären... Schoock nimmt einen Passus aus Lukians Schrift Περὶ ὀρχήσεως (De saltatione)283
278 Vulcanus (Hephaistos) als Gott des Feuers. 279 Persepolis war die Sommerresidenz der altpersischen Achämeniden; die Stadt wurde 330 von Alexander dem Großen zerstört. 280 si […] molesta audiendi saburra, velut injecta mari moles, illabantem sonum sufflaminasset [„wenn der lästige Sand / Ballast des Hörens, wie eine in das Meer hineingeworfene Masse, den hineingleitenden Ton gehemmt hätte“]: Dem Bild liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Ohren des surdus gleichsam durch Sand verstopft sind (saburra = ‚(Schiffs)sand‘, ‚Ballast‘). Es begegnet noch dreimal: p. 610 aurium saburra; p. 614 liberas ab omni saburra & sigillo aures (hier steht saburra mit sigillum auf einer Stufe); p. 620 seculi saburra (für den Sand, den Schutt des Jahrhunderts, der die Ohren der Hörfähigen verstopft, wovon die surdi verschont werden). saburra wird in der Medizin der Neuzeit für Ablagerungen gebraucht, etwa unverdaute Stoffe im Magen (Roth 1908, S. 562; Guttmann 1917, Sp. 1142). 281 Zu dieser Technik ▸ oben S. 39–40. 282 Der tragische Pantomimus stieg „in der Kaiserzeit (seit Augustus) neben dem Mimus zur führenden Bühnengattung auf. Der P. war die zeitgemäße Fortführung der Trag., die nun in ihre Elemente zerlegt wurde, indem man den Text bzw. Gesang von der Darstellung mit Gebärden trennte […]. Der Aufführung zugrunde lagen Libretti, die entweder Originale waren oder, weitaus häufiger, griech. und röm. Trag.-Vorlagen umarbeiteten“ (Lore Benz: Pantomimus. In: DNP. Bd. 9 (2000), Sp. 274–276, hier Sp. 274 u. 275). Solche Libretti sind offensichtlich in diesem Zusammenhang von Schoock gemeint. 283 Hinweis von Lore Benz.
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aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. auf.284 In ihr äußert Kraton zu Beginn starke Kritik an den Pantomimen (§ 2): Ἀνὴρ δὲ τίς ὤν, ὦ λᾦστε, καὶ ταῦτα παιδείᾳ σύντροφος καὶ φιλοσοφίᾳ τὰ μέτρια ὡμιληκώς, ἀφέμενος, ὦ Λυκῖνε, τοῦ περὶ τὰ βελτίω σπουδάζειν καὶ τοῖς παλαιοῖς συνεῖναι κάθηται καταυλούμενος, θηλυδρίαν ἄνθρωπον ὁρῶν ἐσθῆσι μαλακαῖς καὶ ᾄσμασιν ἀκολάστοις ἐναβρυνόμενον καὶ μιμούμενον ἐρωτικὰ γύναια, τῶν πάλαι τὰς μαχλοτάτας, Φαίδρας καὶ Παρθενόπας καὶ Ῥοδόπας τινάς, καὶ ταῦτα πάντα ὑπὸ κρούμασιν καὶ τερετίσμασι καὶ ποδῶν κτύπῳ, καταγέλαστα ὡς ἀληθῶς πράγματα καὶ ἥκιστα ἐλευθέρῳ ἀνδρὶ καὶ οἵῳ σοὶ πρέποντα; [Wer, der ein Mann ist, mein Bester, und zudem mit Bildung erzogen und mit Philosophie angemessen vertraut, verläßt, Lykinos, die Bemühungen um das Bessere und das Zusammensein mit dem Alten und sitzt da unter Flötenschall und betrachtet einen weibischen Mann, der sich mit schlaffen Kleidern und zügellosen Gesängen ziert und lüsterne Weibsbilder nachahmt, die verbuhltesten der Alten, solche wie Phaidra, Parthenope und Rhodope, und das alles unter rhythmischer Musik und Geträller und Stampfen der Füße – Unternehmungen, die wahrlich verächtlich sind und sich am wenigsten für einen freien gebildeten Mann, wie du einer bist, ziemen?]
Doch vermag am Ende der Schrift Lykinos (der für Lukian steht) Kraton zu bekehren.285 Dieser spricht nur von Männern, die laszive Frauen wie Phaedra,286 Parthenope287 oder Rhodope288 darstellen und zu einer Lyderin289 oder einer Bak-
284 An Lukians Autorschaft wurden zuweilen Zweifel geäußert. „Bestritten ist […] die Echtheit der Schrift Περὶ ὀρχήσεως (de saltatione), einer Verteidigung des Pantomimus aus dem Mund des Lykinos, ähnlich wie wir solche Apologien des in Syrien besonders blühenden Balletts von Lucians syrischen Landsleuten Libanios und Choirikios besitzen, während Aristides eine uns verlorene Streitschrift gegen das Ballett geschrieben hatte […]. Die Schrift enthält für einen Dialog unverhältnismäßig viel Lehrstoff, kann aber der Sprache nach, und auch, wenn in ihr die Schrift des Aristides benützt wäre […], dem Lucian zugetraut werden; er sucht ja seinen Ruhm während dieser Periode offenbar auch darin, den widerstrebendsten Stoff in Dialogform zu bringen“ (Schmid / Stählin 1924, S. 731). 285 Dieser bekennt am Schluß (§ 85): καὶ μὴν ἤδη ἐγώ, ὦ Λυκῖνε, πείθομαί τέ σοι καὶ ἀναπεπ ταμένα ἔχω καὶ τὰ ὦτα καὶ τὰ ὄμματα [„Wahrlich Lykinos, ich bin schon von dir überzeugt und habe die Ohren und die Augen weit aufgerissen“]. 286 Phaedra ist die Gattin des Königs von Athen, Theseus, die gegen jede Etikette ihren Stiefsohn Hippolytus liebte, allbekannt z. B. durch Euripides’ und Senecas Tragödien. 287 Vielleicht Anspielung auf den Roman von Metiochos und Parthenope, von dem nur Bruchstücke auf Papyri erhalten sind. Auch in ihm ging es um frevlerische Liebe, denn er zeigt „den Helden als Verächter des Eros, der natürlich seine Wirkung um so heftiger erfährt“ (Lesky 1971, S. 964); ▸ auch Maehler 1976, S. 1–20; Fusillo, Galli. In: DNP. Bd. 9 (2000), Sp. 370. 288 Die beiden thrakischen Gebirge Haimos und Rhodope waren einst Bruder und Schwester, die in verbotene Liebe verfielen und sich hybrishaft Zeus und Hera nannten (Ovid Met. 6, 87–89). 289 Es könnte die bereits genannte (p. 605) junge lydische Königin Omphale gemeint sein, die Hercules verführt hatte. Ovid nennt sie Fast. 2, 356 Lyda puella.
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C. Interpretation
chantin290 entarten;291 hingegen bezieht der moderne Satiriker in ausgleichender Gerechtigkeit auch Frauen mit ein, die laszive Tänze aufführen. Während Lukian Kraton nicht weiter individuell zeichnet,292 ist Craton bei Schoock ein „Philosoph von konservativer Gesinnung“ (antiqui saporis Philosophus). Das fällt auf. Es ist nicht auszuschließen, daß er ihn mit dem zur Zeit des Augustus in Rom lebenden griechischen Rhetor Kraton / Crato(n)293 verwechselt hat. Seine Argumentation bekam jedenfalls durch die Charakterisierung größeres Gewicht.
Ulixes und die Sirenen Nach den Beispielen derer, die sich als Hörende freiwillig verführerischen Stimmen und Tönen ausgesetzt und Schaden erlitten haben – Hercules bei Omphale, Alexander bei Thais und die lebenslustigen jungen Leute im Pantomimus –, wird als leuchtendes Gegenbeispiel Ulixes genannt, der sich vor dem für so viele Seeleute294 verderblichen Gesang der Sirenen geschützt hatte.295 Ihm riet, wie Homer erzählt,296 die göttliche Circe, daß er den Gefährten seines an den
290 Wohl allgemein eine Bakchantin, die, wie bekannt, jede Hemmung abgelegt hat. 291 Vielleicht schwingt bei Lyde und Baccha auch der Gedanke mit, daß in Lydien (und Phrygien) der wilde Cybele-Kult beheimatet war. Schoock hielt es nicht für notwendig, bei dieser Erweiterung gegenüber Lukian präzise Beispiele anzuführen. 292 „Lukians Crato dürfte nur eine Erfindung sein, der (schlechthin?) für die Meinung der Kyniker steht. Deren (verbreitete?) Meinung wird dann anhand des Kynikers Demetrios, des Freundes von Seneca, verifiziert, der dem Pantomimus gleichermaßen kritisch gegenüberstand, sich aber dann (wie Crato später in Lukians Schrift) belehren ließ, wie die Anekdote in Kapitel 63–64 zeigt“ (Lore Benz). 293 Er war ein Gegner des zu seiner Zeit führenden Attizismus (professus Asianus qui bellum cum omnibus Atticis gerebat [„der sich zum Asianismus bekannte und mit allen Attizisten Krieg führte“], Sen. mai. Contr. 10, 5, 21). „Proben seines beißenden Witzes, den er auch im Umgang mit dem Kaiser nicht dämpfte, gibt Sen.“ (Hans Gärtner. In: DKP. Bd. 3 (1979), Sp. 331). 294 soboles: ‚rectius suboles‘, ‚Stamm‘, ‚Geschlecht‘, ‚Kinder‘, ‚Nachkommen‘ (Kirschius 1774, Sp. 2633 s. v. soboles). Zu vergleichen ex Medicorum filiis (p. 622, ▸ daselbst). 295 hos scopulos: Wegen des Demonstrativpronomens hat scopulos wohl übertragene Bedeutung (die Klippen, an denen die von Craton getadelten jungen Leute gescheitert sind), obwohl bei den Sirenen die wörtliche Bedeutung natürlich mitzuhören ist. 296 Od. 12, 39–54: „Zuerst wirst du zu den Sirenen gelangen, die alle Menschen bezaubern, wer auch zu ihnen hingelangt. Wer sich in seinem Unverstande ihnen nähert und den Laut der Sirenen hört, zu dem treten nicht Frau und unmündige Kinder, wenn er nach Hause kehrt, und freuen sich seiner, sondern die Sirenen bezaubern ihn mit ihrem hellen Gesang, auf einer Wiese sitzend, und um sie her ist von Knochen ein großer Haufen, von Männern, die verfaulen, und es
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lockenden Sirenen vorbeifahrenden Schiffes befahl, sich mit Wachs die Ohren zu verstopfen und ihn selbst (ohne solchen Schutz) an den Mastbaum zu fesseln und auch auf seinen Befehl hin nicht loszubinden: Auf diese Weise konnte er gefahrlos den Untergang bringenden schönen Stimmen widerstehen. Er blamierte, wie Schoock pointiert sagt, die Sängerinnen – er, den die Antike als einen Inbegriff der Weisheit verehrt hatte (quem ut quod sapientiæ nomen venerata fuit antiquitas). Der Hörer (und auch der Leser) soll sich sagen, so hätten auch Hercules, Alexander und die Pantomimen handeln sollen. [607] Hierauf folgt die Anwendung auf die surdi, die zu Unrecht unwillig über ihre Schwerhörigkeit sind: Sie sehen nicht den darin liegenden gleichsam äußersten Kunstgriff297 der Natur für ihr Glück, ja, sie tun sogar Gelübde, um von ihm befreit zu werden!
5. Schutz vor Mißtönen Die Schwerhörigen, fährt Schoock fort, bedauern, daß sie weder Flöten hören können noch durch Phrygische Weisen (Phrygiis modulis) zur Verzückung gebracht werden. Aber sie brauchen auch keinen Damon, der die übermütige Weise in die dorische298 wendet und den durch gefällige Töne gebrochenen Sinn hemmt (zur Ruhe bringt) und zu anständigen Linien / Grenzen zurückruft. Das Bedauern, die Flöten nicht hören zu können, wird jedermann spontan verstehen, kaum aber das Bedauern, durch Phrygische Weisen nicht zur Verzückung gebracht zu werden. Wieder schlägt die Argumentation um, denn die orgiastische Musik des CybeleKultes, die die Anhänger gewissermaßen um den Verstand brachte, ist etwas, auf
schrumpfen rings an ihnen die Häute ein. Du aber steuere vorbei und streiche über die Ohren der Gefährten Wachs, honigsüßes, nachdem du es geknetet, daß keiner von den anderen höre; selbst aber magst du hören, wenn du willst. Doch sollen sie dich in dem schnellen Schiff mit Händen und Füßen aufrecht an den Mastschuh binden – und es seien die Taue an ihm selber angebunden –, damit du mit Ergötzen die Stimme der beiden Sirenen hören magst. Doch wenn du die Gefährten anflehst und verlangst, daß sie dich lösen, so sollen sie dich alsdann mit noch mehr Banden binden!“ (Schadewaldt 1958, S. 156). 297 manus = Kunstwerk, das mit der Hand verfertigt ist (Stat. Silv. 1, 3, 47–48 vidi artes vete rumque manus variisque metalla | viva modis), später bei Balde, Solatium podagricorum, Occasio (über die Kunstwerke der Kupferschmiede; ▸ Lefèvre 2020, S. 112 mit Anm. 30). 298 ‚Phrygische‘ und ‚dorische‘ Tonarten gab es in je unterschiedlicher Ausprägung sowohl in der altgriechischen als auch in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Musik (Kirchentonarten), bis sie im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert durch die Dur-Moll-Tonalität abgelöst wurden. „Dorisch galt als männlich, erhaben, Phrygisch als enthusiastisch, leidenschaftlich“ (Frieder Zaminer. In: DNP. Bd. 8 (2000), Sp. 525): Diese Charakteristik der altgriechischen Musik trifft im großen und ganzen auch auf die späteren Ausprägungen zu.
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das nicht nur verzichtet werden kann, sondern verzichtet werden sollte. Der Streit um den Bacchanalienkult in Rom, den Livius so eingängig schildert,299 lehrt das eindrücklich. Gegen dessen unbestreitbar verderbliche Wirkung wird Damon angeführt, ein bedeutender Sophist des fünften Jahrhunderts, der Perikles’ Ratgeber und Lehrer in der Musik gewesen sein und eine gemäßigte Auffassung von der Musik vertreten haben soll; bei ihr konnte man wohl zu Recht von honestatis lineæ sprechen.300 Schoock spielt auf eine Geschichte an, die von Martianus Capella im neunten Buch De harmonia seiner Schrift De nuptiis Philologiae et Mercurii [„Über die Hochzeit der Philologie und Merkurs“] berichtet wird:301 ebrios iuvenes perindeque improbius petulantes Damon, unus e sectatoribus meis, modu lorum gravitate perdomuit; quippe tibicini spondeum canere iubens temulentae dementiam perturbationis infregit. [Junge Leute, die betrunken und dementsprechend in allzu schlimmer Weise ausgelassen waren, wies Damon, einer meiner Schüler, durch die Feierlichkeit von Rhythmen / Melodien in die Schranken; denn indem er den Flötenbläser einen Libationsgesang spielen ließ, brach er das unvernünftige Gebaren der trunkenen Unordnung.]
Es handelt sich um feierliche sakrale Musik, die der wilden phrygischen entgegengesetzt wird. Schoock spricht vereinfachend vom modus Doricus. Dem Schwerhörigen wird zugestanden, es grenze an Elend (sei aber kein Elend), daß er Nachtigallen von Kuckucken nicht unterscheiden könne und überhaupt der Vögel unverbildete Weisen, aus denen sich die primitive Musik entwickelt habe, „mit dürstendem Ohr“302 ‚aufzuschnappen‘ versuche; doch müsse es als ein beträchtliches Glück angesehen werden, daß er andererseits keine streitenden Dohlen, brüllenden Esel oder grunzenden Schweine, heulenden Wölfe und bellenden Hunde höre. Die Argumentation ist somit ebenso drastisch wie zutreffend und wird durch den überraschenden Gedanken gekrönt, daß diesen
299 39, 8–19. 300 „Einige frg. bei Philodem de musica deuten auf eine Schrift D.s, die sich als Rede an die Areopagiten gibt und thematisch zu dem paßt, was vor allem einige Partien des platon. Staates zeigen, daß D. nämlich die innige Verwandtschaft der Musik mit den Regungen der Seele lehrte und sie für die Jugenderziehung nutzbar machen wollte, ferner daß er die Grundelemente der Musik, die verschiedenen Rhythmen und Tonarten und ihren ethischen Wert oder Unwert, behandelte“ (Konrat Ziegler. In: DKP. Bd. 1 (1979), Sp. 1376). 301 Umsichtige Erklärung des schwierigen Passus: Guillaumin 2011, S. 137–139 (der die ebenfalls überlieferte Lesart temulentiae vorzieht). 302 bibula aure: exquisite Wendung nach Pers. 4, 50 bibulas […] aures (dazu Kißel 1990, S. 562, der als einzige Parallele anführt Licent. Carm. ad Aug. 47–48 = CSEL 34, 1, 90 bibulam qui porgitis aurem | legibus invictis, wohl Nachahmung der Persius-Stelle).
6. Schutz vor laut schreienden Politikern
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Lärmerzeugern wohl diejenigen zugerechnet werden müßten, über die der alte Dichter gesagt habe, sie hämmerten mit ihren Reden lärmend gegen das Gesetz und erfüllten die Foren mit ihrem Bellen. Das ist ein seltenes Zitat aus einem (61 Hexameter umfassenden) Brief des Westgoten Sisebut, der 612–621 König war, an Isidor von Sevilla († 630).303 Der wirkungsvolle Beleg leitet passend über zu dem nächsten Punkt der Argumentation: den laut schreienden Politikern.
6. Schutz vor laut schreienden Politikern Nach den Tierlauten kommen die von Menschen produzierten negativen Laute in den Blick, um auch hier die Vorteile der Schwerhörigen zu demonstrieren. Schoock geht von einer Bemerkung Ciceros über Gaius Fimbria304 aus. Dieser habe, wenn er seine Plädoyers brüllte,305 im raschen Lauf der Worte gerast; [608] man mochte sich wundern, daß das Volk derart mit anderen Dingen beschäftigt sei, daß es unter den Rednern Platz für einen Wahnsinnigen (wie ihn) gegeben habe:306 verborum sane bonorum cursu quodam incitato ita furebat tamen, ut mirarere [Schoock: ut quis miraretur] tam alias res agere populum, ut esset insano inter disertos locus.
Kein Schwerhöriger brauchte wahrlich Fimbrias Hörer zu beneiden. Solche Schreier werden Stentoren genannt.307 Sie sollten, wie Schoock sagt, ihre Dikta-
303 Text: Riese 1906, Nr. 483; Fontaine 1960, S. 328–335; zur umstrittenen Überlieferung sind die Apparate beider Ausgaben zu vergleichen. Fontaine (der legicrepae aufnimmt) gibt folgende Übersetzung: «Hurleurs de lois assourdissants … aboiments des tribunaux». 304 Gaius Flavius Fimbria, homo novus, 104 v. Chr. zusammen mit Gaius Marius Konsul, vor 91 gestorben. Ciceros Urteil: Brut. 129. 305 causas latrare: pointierte Parallelbildung zu den (von Cicero gebrauchten) Termini causam dicere / docere / orare; latrare = ‚bellen‘, hier übertragen wie Cic. Brut. 58 latrant enim iam quidam oratores, non loquuntur. 306 Cic. Brut. 233 (die gesperrt gedruckten Wörter hat Schoock ausgelassen bzw. geändert). 307 Stentor war ein bekannter griechischer Kämpfer vor Troja, der so laut wie 50 andere Männer schreien konnte (ὃς τόσον αὐδήσασχ’, ὅσον ἄλλοι πεντήκοντα, Il. 5, 786). Er wurde sprichwörtlich. Die Satiriker der Humanistenzeit kannten ihn vor allem aus Juvenal 13, 112: tu miser exclamas, ut Stentora vincere possis [„du Armer schreist aus voller Brust, daß du Stentor besiegen könntest“].
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C. Interpretation
tur in Morbonia308 ausüben. Eine Ausnahme sei nur Perikles († 429) gewesen, der berühmte attische Staatsmann, den, wie Crassus bei Cicero berichte, Anaxagoras von Klazomenai309 gelehrt habe, bei der Wasseruhr310 zu ‚bellen‘. Das ist eine Anspielung auf Cic. De orat. 3, 138: at hunc non declamator aliqui ad clepsydram latrare docuerat, sed, ut accepimus, Clazomenius ille Anaxagoras, vir summus in maximarum rerum scientia. [Aber diesen hatte nicht irgendein Deklamator gelehrt, nach der Wasseruhr zu bellen, sondern, wie wir vernommen haben, jener Anaxagoras aus Klazomenai, ein in der Wissenschaft der bedeutendsten Dinge sehr angesehener Mann.]
Die Prozeßredner, heißt es weiter, reden nicht einfach laut, sondern brüllen vor den Zuhörern alles mit erhobener Hand heraus. Das ist eine erneute Anspielung auf einen einschlägigen Text der Antike (der fast wörtlich aufgenommen wird), auf Quintilian, Inst. 2, 12, 9 (über die oratores indocti): verum hi pronuntiatione quoque famam dicendi fortius quaerunt; nam et clamant ubique et omnia levata, ut ipsi vocant , manu emugiunt, multo discursu, anhelitu, iactatione gestus, motu capitis furentes. [Aber diese suchen auch im Ausdruck den Ruf, kräftiger zu reden. Denn sie schreien überall und brüllen alles, wie sie es selbst nennen, mit erhobener Hand heraus, indem sie mit viel Hin- und Herlaufen, Keuchen, lebhafter Gestik (und) Kopfbewegung rasen.]
Dennoch, fährt Schoock fort, gehe es dabei um nicht mehr als nur um Schadenersatz für Rinder oder Esel, die von Hunden niedergestreckt wurden. Dergleichen Banales zur Kenntnis zu nehmen bleibt den surdi erspart.
308 Morbonia (Murbonia, Morbovia) ist der Name für ein Phantasieland, ‚wo der Pfeffer wächst‘, das auch bei Balde El. 113 (dazu Lefèvre 2017, S. 259–260) und Sol. pod. 1, 15 (dazu Lefèvre 2020, S. 245 Anm. 161) begegnet (s. auch Otto 1890, S. 228). 309 Anaxagoras von Klazomenai: bekannter Vertreter der älteren jonischen Naturphilosophie (fünftes Jahrhundert v. Chr.), in Athen Lehrer und Freund des Perikles. 310 „Redezeitbegrenzungen nach dem Wasser (πρὸς ὕδωρ) blieben bis in die Spätant. Bestandteil der Prozeßordnungen“ (Gerhard Dohrn-van-Rossum. In: DNP. Bd. 12, 1 (2002), Sp. 973, wo auch die Konstruktion der Klepshydren beschrieben wird).
7. Schutz vor Schwatzhaftigkeit der Frau
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7. Schutz vor Schwatzhaftigkeit der Frau In schöner Gerechtigkeit kommen wie bei den Pantomimen (▸ p. 606) nach den lärmenden Männern die lauten Frauen in den Blick. Die Überleitung bringt zugleich eine pointierte Steigerung: Die Vorteile der Schwerhörigen, die die schreienden Redner nicht hören können, seien gering gegenüber den Vorteilen einzuschätzen, daß sie frei von den Belästigungen der geschwätzigen Frau sind. Das wird zunächst mit deren Vorliebe für laute Kultäußerungen ‚bewiesen‘. Da sie an einem Umzug für Venus311 teilzunehmen und die ehernen Becken Dodonas312 zu übertreffen vermag313 – diese hallen zwar wider, wenn von den Winden ein Zweig314 gegen sie geschlagen wird, doch schweigen sie bei windstiller Luft315 –, wisse die Frau nicht einmal, noch im Bett liegend und zum Eingang hin lauschend, wenn sie die Töne der (kultischen) Flötenspieler vor der Tür hört,316 den Ohren ihres Gatten Ruhe317 zu geben. Ihn hat sie, wie nüchtern festgestellt wird, unterworfen (subegit) – wozu sich dieses Verhalten fügt. Was sie besonders auszeichnet, ist ihre leistungsstarke Stimme: Wenn sie bei den Ausübungen des Venus-Kultes sich unter Anleitung ihres besessenen Priesters318 (gewissermaßen für ihn) abtobe und ihr Augen, Hände, Bauch und Füße Schmerzen verursachen,319 bleibe dennoch in einem fort die tönende und unselige Stimme unversehrt (usquequaque tamen clamosa ac scelesta vox incolumis manet). Diese ist unverwüstlich. Weder leide ihre Kehle jemals an Heiserkeit oder ihre Zunge
311 Cytherea: Beiname der Liebesgöttin Aphrodite / Venus, die bei der Insel Kythera an der Südspitze der Peloponnes aus dem Wasser an Land gestiegen sein soll. 312 Im heiligen Eichenhain von Dodona in Epirus gaben die Priester Orakel aufgrund der Töne, welche die auf die ehernen Becken treffenden Winde bzw. Zweige erzeugten. 313 Der pointierte Vergleich besagt, daß die im Kult bedeutenden ehernen Becken von Dodona auch ‚schweigen‘ können, nicht jedoch die kultbesessene Frau bei diesbezüglichen Tönen. 314 flagellum: “The young whip-like shoot of a vine; (also, of other plants)” (OLD). 315 Wortspiel: aes / aëre. 316 D. h. sie lauscht auf die Musik vor der Haustür. 317 feriae: wörtlich ‚Ruhetag(e)‘, übertragen ‚Ruhe‘. 318 Es dürfte noch an den Venuskult (pompa pro Citeria) und den zuständigen ‚Priester‘ gedacht sein. Bei Lucumo hat Schoock weder die weltliche noch die priesterliche Funktion der etruskischen Herrscher (▸ Wilhelm Kierdorf: Lucumo. In: DNP. Bd. 7 (1999), Sp. 476) im Sinn, sondern die ursprüngliche Bedeutung ‚Priester‘ in Verbindung mit der späteren ‚säkularisierten‘, wie Festus p. 107 den Namen erläutert: L u c u m one s q u idam h o m i n e s ob i n s a n i a m d i c ti quod loca, ad quae venissent, infesta facerent. In diesem Sinn erklärt Kirschius 1774, Sp. 1688 Lucumo: „Idem ac Stultus vel Furiosus, närrisch, wahnwitzig“. 319 angit: angere hat hier intransitive Bedeutung, die erst in der Spätantike und im Mittelalter belegt ist. ThlL. Bd. 2 (1900–1906), Sp. 48 nennt Venantius Fortunatus Vit. Mart. 1, 164 dolet heiulat uritur angit; 4, 363 gravis anxius angens.
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C. Interpretation
an Vereiterung, noch vergrößere ein heftiger Katarrh das Zäpfchen im Hals oder setze ihr etwas von den Ursachen zu, die die Rede verdunkeln.320 Die Invektive gegen die geschwätzige Zunge der Frau wird fortgesetzt. Andere Fehler könnten Unterweisung und Ermahnung, wenn auch nicht austreiben,321 so doch wenigstens [609] zur Ordnung zwingen. Bei der Zunge ist das jedoch nicht möglich, sie ist gegenüber jedem Heilmittel resistent. Im schärfsten Ton der Weibersatire, wie sie Semonides von Amorgos322 oder Juvenal323 pflegten, wird gesagt, als einziges helfe es, ihre Spitze vorn abzuschneiden (nisi ferro præcisa fuerit)! Es folgt ein wenig schmeichelhaftes Gleichnis: Die Frau scheine manchmal einer Ermahnung nachzugeben und zu schweigen, aber wie Röhren, die verstopft sind, nach der Entfernung des Hindernisses das Wasser um so heftiger ausspeien, gieße sie dann mit vollen Schüsseln unnütze und leere Wörter (cassa & inania verba) aus. Geistreich fährt Schoock mit einem weiteren Bild, besser gesagt: Gegenbild fort. Während von den Zikaden, wie man sage, nur das Männchen, die Frau aber kaum singe,324 sei es bei denjenigen Zikaden, die aus Menschen entstanden sind, umgekehrt: Die ‚Frauenzimmerchen‘325 unter ihnen betäubten, da es ihnen angenehmer sei, zu sprechen als zu essen, die Männchen – die schweigsamer als jede Statue seien, wenn sie nicht die Ohren fast verschlössen – so lange mit Gesprächen, Streitreden und Schreiereien, bis sie sie an den Strick oder zum Verhungern gebracht hätten. Das ist eine wundersame Indienststellung des alten von Sokrates im platonischen Phaidros erzählten Mythos,326 daß die Zikaden aus Menschen hervorgegangen seien, die so dem Singen hingegeben waren, daß sie, Speise und Trank vergessend (ᾄδοντες ἠμέλησαν σίτων τε
320 D. h. die Stimme bleibt klar = durchdringend. 321 effurcillare ist nicht in der Antike belegt (weder im Thesaurus noch bei Forcellini und Du Cange noch auch im Mittellateinischen Wörterbuch). Sprichwörtlich sind nach Otto 1890, S. 151 folgende Wendungen: furcillis eicere (Catull 105, 2); furcilla extrudere (Cic. Ad Att. 16, 2, 4); expellere furca (Hor. Epist. 1, 10, 24). Hiernach war die Bildung effurcillare von furcillare naheliegend. 322 ▸ S. 102–103. 323 Die sechste Satire, die sog. ‚Weibersatire‘, ist nicht allgemein gegen die Frauen gerichtet, sondern gegen die vornehmen Damen der zeitgenössischen Gesellschaft. 324 Die Eigenart, daß von den Zikaden nur die Männchen, nicht aber die Weibchen singen, konnte man schon in der Antike vor allem bei Plin. Nat. 11, 92 belegt finden. 325 femellae = ‚Frauenzimmerchen‘ (so wird Catull 55, 7 von Georges und v. Albrecht 1995, S. 61 wiedergegeben). Das Wort ist nur bei Catull belegt – ein gefundenes Fressen für einen Humanisten. (Ältere Theaterbesucher erinnern sich der Zeit, als noch Lessings ‚Minna von Barnhelm‘ gespielt wurde, in der der forsche Wachtmeister Paul Werner Minnas Jungfer Franziska leutselig als ‚Frauenzimmerchen‘ anspricht.) 326 259b 5–259d 8 = cap. 41. Umgekehrt wurde Tithonos, der alternde Gemahl der Eos (Aurora), in eine Zikade verwandelt.
7. Schutz vor Schwatzhaftigkeit der Frau
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καὶ ποτῶν, 259c 1), starben und aus ihnen die singenden Zikaden entstanden. Bei Schoock werden allein die Frauen diesen Zikaden verglichen, denen es angenehmer ist zu sprechen als zu essen (cum suavius iis sit, loqui quam edere). Nur wer den platonischen Mythos kannte, konnte die verdrehte Form, die ihm der Humanist gab, voll einschätzen.327 Mancher männliche Leser oder Hörer (▸ Auditores, p. 602) wird bei dieser gestochenen Argumentation, in der naturwissenschaftliche, literarische und volkstümliche Weisheit vermischt ist, gelächelt und den Schluß gebilligt haben, daß der Schwerhörige vor diesen Übeln sicher sei. Als Krönung wird ein Wort des für seine scharf pointierten Aussprüche bekannten Königs Alfons V. von Aragonien zitiert, der gesagt habe‚ „daß die Ehe auf die Weise schließlich ruhig und ohne Klage geführt werden könne, wenn der Mann schwerhörig, die Frau blind werde“ (ita demum matrimonium tranquille citraque querimonias transigi posse, si maritus surdus fieret, uxor cæca).328 Die Kenntnis dieser speziellen Weisheit wird Alfons’ Sekretär Antonio Beccadelli (Antonius Panormita, 1394–1471) verdankt, der sie zusammen mit anderen des Herrschers veröffentlichte. In Basel erschienen 1538 Antonii Panormitæ De dictis et factis Alphonsi Regis Aragonum Libri IV. Dort heißt es auf S. 71: Matrimonium ita demum exigi tranquille, & sine querela posse dicebat, si mulier cæca fiat & maritus surdus. [Er pflegte zu sagen, daß eine Ehe erst dann ruhig und ohne Bedauern durchgeführt werden könne, wenn die Frau blind und der Mann schwerhörig (taub?) werde.]
Das ist oft zitiert worden.329 Man fühlte sich auch provoziert, eine Begründung dafür zu geben, warum die Frau in diesem Fall blind sein müsse. So teilt der Jesuit Georg Stengel (1584–1631) eine entsprechende Ergänzung mit:330 Alphonsus der weise König in Spanien […] pflegte zu sagen. Tum denique plerisque molestijs liberum fore matrimonium, si maritus surdus, uxor cæca fiat. Daß alsdann ein gute Ehe könne gestifftet werden / wann der Mann Gehör loß wäre / daß er deß Weib zancken nicht
327 Die Schwatzhaftigkeit der Zikaden war andererseits sprichwörtlich. Nonius bot den Humanisten aus dem Exodium des Atellanendichters Novius ein interessantes stimulierendes Fragment (Lindsay 1903, S. 369): quando ad ludos venit, alii cum tacent, totum diem | argutatur quasi cicada [„Wenn er zu den Spielen kommt, schwatzt er, während die anderen schweigen, den ganzen Tag wie eine Zikade“]. 328 Alfons V. (geb. 1396) war 1416–1458 König von Neapel und Sizilien. Er gründete die Bibliothek von Neapel und die erste humanistische Akademie Italiens und war somit, auch außerhalb des Landes, wohlbekannt. ▸ Lefèvre 2020, S. 285 zu Balde, Sol. pod. 1, 36. 329 Etwa von Brem 1671, Caput III, Th. XIII (unpaginiert). 330 1712, S. 260.
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C. Interpretation
anhören müste / und das Weib blind wäre / damit sie dem Mann in seinen Geschäfften nicht einreden konte.
Weit davon entfernt, daß Schoock mit dieser Pointe den dankbaren Diskussionspunkt abschließt, fährt er immer noch steigernd fort: In der Tat sei es die Gewohnheit der Frauen, mit Adleraugen alles auszuspähen und, wenn der Mann um eine Silbe gefehlt habe, mit der Zunge zu kämpfen und nicht nur in dem Haus, das sie bewohnt, sondern auch in der kompletten Nachbarschaft ein Spottlied anzustimmen – so daß nicht ohne Grund die Frau bei Semonides „des Mannes Schiffbruch“ heiße, „des Hauses Ungewitter“, „der Ruhe Hindernis“, „des Lebens Knechtschaft“, „tägliche Strafe“, [610] „verlustreiche Schlacht“, „herausgeputzte Hündin“, „notwendiges Übel“. Schoock bezieht sich auf den frühgriechischen Lyriker (Jambographen) Semonides von Amorgos aus dem siebten Jahrhundert,331 dessen bekanntestes Werk der sog. Weiber-Iambos ist, eine pointierte Verspottung der Frau in 118 Versen, in denen neun negative Typen und ein positiver Typ mit Bildern, die entweder aus der Tierwelt oder aus der Natur allgemein genommen sind, vorgeführt werden.332 Obwohl Schoock acht Charakteristika nennt, folgt er Semonides333 nicht im einzelnen. Vielmehr ist dieser ihm ein Muster für Frauentadel.334 In der Frühen Neuzeit war Semonides eine reiche Quelle für Weiberschelte, die sich explizit auf den alten Dichter berief.335 Zwei Zeugnisse verdienen an dieser Stelle Aufmerksamkeit: 1. Heinrich Rybisch: Disceptatio an uxor sit ducenda
331 Semonides / Simonides: Schon in der Antike wurde Semonides oft mit dem Elegie- und Epigrammdichter Simonides von Keos (sechstes / fünftes Jahrhundert) verwechselt. 332 Neuere Ausgabe: Pellizer, Tedeschi 1990 (dort sind S. LIX–LX zahlreiche Editionen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts genannt; der Weiber-Iambos war also zu Schoocks Zeit leicht zugänglich). 333 Neuere Interpretation: Lloyd-Jones 1975. 334 Die an den Anfang gesetzte Charakteristik viri naufragium mag (eher indirekt als direkt) von dem fünften Typ inspiriert sein, über den es heißt (27–42): „Wieder eine aus dem Meere, die zweierlei in den Sinnen empfindet: | Den einen Tag lacht sie und ist vergnügt, | loben wird sie ein Fremdling, wenn er sie im Hause sieht: | ‚Es gibt keine andere Frau besser als diese | in der ganzen Welt noch eine schönere.‘ | Anderntags unerträglich, auch nur mit Augen anzuschauen, | noch gar, näher heranzutreten, sondern dann tobt sie | unnahbar wie um die Jungen eine Hündin, | und gegen jedermann lieblos und ungezogen, | gleichgültig ob Feind oder Freund, benimmt sie sich. | Wie das Meer oft unbewegt | dasteht, keinem zu Leide, Schiffern eine große Freude | zur Sommerszeit, oftmals aber rast, | mit donnernden Wogen dahinfahrend: | Diesem gleicht am meisten eine so beschaffene Frau | im Gemüte“ (die Übersetzung von Ludwig Radermacher ist abgedruckt bei Wirth 1963, S. 48–49). 335 Kenntnisreich dargelegt von Brucklacher 2019, S. 244–265.
7. Schutz vor Schwatzhaftigkeit der Frau
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(Nürnberg 1509). 2. Johann Sommer: Malus Mulier (Magdeburg 1608). Beide Autoren nennen übereinstimmend neun Charakteristika der Frauen, die, wie sie behaupten, von Semonides stammen. Sommer wird hier wörtlich angeführt:336 Der weise Simonides als er gefraget würde / was ein Weib sey / gab er zur antwort: Mulier est naufragium, domus tempestis [sic!], quietis impedimentum, vitae captivitas, pœna quotidiana, pugna sumtuosa, bestia contubernalis, canis ornata, malum necessarium. Das ist: Ein Weib ist ein gefehrlicher Schiffbruch / ein vngewitter im Hause / eine verhinderung des friedens vnd der ruhe / ein kercker des Lebens / eine tegliche Pein / ein vielkostender Haußkrieg / ein böses Stubenthier / ein geputztes Betthündlein / ein nothwendiges vbel vnd vnglück.
Rybisch gab die lateinischen Bezeichnungen so wieder:337 Des Mannes Schiffbruch, Gewitter des Hauses, Hindernis der Ruhe, Gefängnis des Lebens, tägliche Strafe, aufzehrender Kampf, beiwohnendes Tier, geschmückter Hund, notwendiges Übel.
Damit ist eine so gut wie hundertjährige Tradition zu fassen, in die sich Schoock einfügt. Die Frage, ob es für diese Liste mit den neun schlagwortartigen Formulierungen eine frühere Quelle gibt oder ob zwischen Rybisch und Sommer weitere Belege existierem, muß an dieser Stelle offenbleiben. Sicher ist nur, daß Schoock an der hier faßbaren Tradition nicht vorbeigehen wollte.338 Jedoch reproduzierte er sie nicht einfach. Denn im Encomium surditatis geht es ja nur um die Stimme der Frau;339 und so mag es der Phantasie des einzelnen Rezipienten überlassen
336 Brucklacher 2019, S. 256 (die Hinzufügung der Bemerkung in eckigen Klammern gehört zum Zitat). 337 Brucklacher 2019, S. 256 Anm. 74. 338 Sie dürfte letztlich auf eine Liste mit Charakteristika der Frau des schwer faßbaren athenischen Philosophen Secundus aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr., den ‚Schweigenden Philosophen‘, zurückgehen, die Willelmus Medicus im zwölften Jahrhundert in das Lateinische übersetzt hat. Perry 1964 hat eine griechische (S. 84) und eine lateinische Version (S. 96) aufgeführt, die sich in Zahl und Formulierung unterscheiden. Den beiden Texten ist zu entnehmen, daß Schoock nicht von ihnen abhängig ist. Die lateinische Version bietet 14 (ebenfalls schlagwortartig formulierte) Charakteristika, von denen aber nur zwei (domus tempestas und viri incontinentis naufragium) bei Rybisch, Sommer und Schoock Entsprechungen haben. (Das neunte lautet: adulterii vas = ‚Bürge‘ / ‚Garant [von vas, vadis] für Ehebruch‘, in der griechischen Liste: μοιχῶν κατασκευή = ‚Einrichtung für Ehebrecher‘; Brucklacher 2019, S. 257 Anm. 76 übersetzt ‚Gefäß [von vas, vasis] des Ehebruchs‘.) Entweder war Rybisch traditionsbildend, oder er stand selbst schon in einer Tradition. 339 Spitz sagte Semonides über die Redseligkeit der Frau, daß sie auch dann schwatzt, wenn sie keinen Menschen sieht (λέληκεν, ἢν καὶ μηδέν’ ἀνθρώπων ὁρᾷ, 15).
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C. Interpretation
bleiben, in welchem Maß bei den acht Charakteristika viri naufragium / domus tempestas / quietis impedimentum / vitæ captivitas / pœna quotidiana / pugna sumptuosa / canis ornata / malum necessarium die Stimme eine Rolle spielt. Tatsächlich ‚passen‘ sie alle (besonders quietis impedimentum und canis ornata), da jedes Mal die Funktion der Stimme ohne weiteres hinzugedacht werden kann.340 Hingegen übergeht Schoock das (ihm offenbar zu derb erscheinende) siebte Charakteristikum der frühneuzeitlichen Tradition bestia contubernalis (Rybisch: ‚beiwohnendes Tier‘; Sommer: ‚böses Stubenthier‘). Soweit sein Publikum gelehrt war – er wendet sich ja, wie er gleich am Anfang betont, an die erudita respublica341 –‚ sollte es das bemerken. Es ist aber immer wieder zu betonen, daß das Ganze ein Spiel zwischen Überliefertem und pointierter Abwandlung ist. Das Spiel wird sogleich fortgesetzt: Hat Schoock bisher statt der traditionellen neun Charakteristika nur acht aufgeführt, so fügt er andererseits ein neu(nt)es hinzu, indem er die Frau eine malorum Ilias [‚Ilias von Übeln‘]342 nennt – und damit die Neunzahl wieder vollständig macht. Geschützt gegen diese Übel ist – damit kommt Schoock zu seinem eigentlichen Thema zurück – allein der surdus, dem der Sand / Ballast343 der Ohren mehr Schutz biete, als Sokrates die ganze Philosophie bei der Unterwerfung der einen Xanthippe zu leisten vermochte: Denn nicht werde er durch die täglichen Blitze von Wörtern bewegt, während Sokrates sie – die doch nur stumpfe Blitze344 waren – nicht anders habe parieren können als dadurch, daß er, sich ablenkend, an das Knirschen einer Schraube345 dachte.
340 Interessant ist, daß es am Schluß heißt, die Frau sei ein malum n e ce s s a r i u m , gesprochen von einem Mann, der von seiner ersten Frau wohl fünfzehn Kinder hatte (▸ S. 6 Anm. 42). Damit fällt wie bei Semonides auf den letzten Typus gewissermaßen ein halbwegs anerkennendes Licht. 341 ▸ S. 50. 342 Sprichwörtliche Wendung (▸ Otto 1890, S. 171) nach dem homerischen Kampfepos, griech. Ἰλιὰς κακῶν, lat. malorum Ilias (Cic. Ad Att. 8, 11, 3), etwa ‚ein (wahres) Schlachtfeld von Übeln‘. 343 ▸ oben Anm. 280. 344 bruta fulmina ist eine Prägung von Plin. Nat. 2, 113 bruta fulmina et vana (▸ König 1973, S. 96 / 97: „stumpfe und nichtssagende Blitze“). 345 cochlea: “a screw for operating a press” (OLD zu Vitruv 6, 6, 3 […] torcular si non cocleis torquetur sed vectibus et prelo premetur). Klaus Döring verweist auf Diogenes Laertios 2, 36, wo die bekannte Geschichte erzählt wird, daß Xanthippe Sokrates nach einem Streit heftig gescholten und ihm von oben Wasser (nach anderer Überlieferung: Urin, ▸ Lefèvre 2020, S. 319–320 mit Anm. 65 zu Balde, Sol. pod. 2, 9, 6) auf den Kopf gegossen habe, und es weiter heißt: πρὸς Ἀλκιβιάδην εἰπόντα ὡς οὐκ ἀνεκτὴ ἡ Ξανθίππη λοιδοροῦσα, ἀλλ’ ἔγωγ’, ἔφη, συνείθισμαι, καθαπερεὶ καὶ τροχιλίας ἀκούων συνεχές [„Zu Alkibiades, der bemerkte, daß die scheltende Xanthippe unerträglich sei, sagte er: Aber ich bin es gewohnt, wie wenn ich ununterbrochen eine Winde
8. Schutz vor Marktschreiern
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8. Schutz vor Marktschreiern Vom häuslichen akustischen Ungemach durch die Ehefrau wird assoziativ zu öffentlichen akustischen Belästigungen übergegangen. Gegenüber der früher auch in Deutschland, heute noch in vielen südlichen Urlaubsländern anzutreffenden Sitte, daß Händler auf Märkten ihre Ware mit lauter Stimme anpreisen und die Kunden dadurch verleitet werden, ihren Kauf nicht nach objektiven Gesichtspunkten zu tätigen, sind die Schwerhörigen gefeit. Im allgemeinen werden selbst die besonnensten Familienväter getäuscht und harte Greise mit ellenlangen Wörtern und betrügerischen346 Versprechungen umgarnt, bevor sie mit den Augen, denen beim Kaufen mehr als den Ohren zu vertrauen ist, die Fasern eines verborgenen347 Fehlers ausspähen können. Die Schwerhörigen hingegen fallen nicht auf die Anpreisungen der Wundererzähler348 herein. Sie folgen vielmehr allein ihren Augen als Führern und nehmen die Flaschen349 und Wortblasen350 (Worthülsen) gar nicht wahr, von denen die falschen Waren wie
höre.“] Sicher war Schoock auch die Version bekannt, die Erasmus in den Apophthegmata gegeben hat: Alcibiadi demiranti, quòd Xanthippen supra modum rixosam domi perpeteretur: Ego, inquit, iam pridem his sic assuevi, ut non magis offendar, quàm si ro tæ , quæ aquam educit è puteo, stridorem audiam. Nam is stridor molestissimus est insuetis: eundem, qui quotidie audit, adeò molestè non fert, ut se audire nesciat (1544, S. 158). [„Zu Alkibiades, der sich wunderte, daß er die über die Maßen streitsüchtige Xanthippe zu Hause erdulde, sagte er: Ich bin schon längst daran so gewöhnt, daß ich nicht mehr belästigt werde, als wenn ich das Knirschen von einem Rad, welches Wasser aus dem Brunnen hochzieht, höre. Denn dieses Knirschen ist denen sehr lästig, die es nicht gewohnt sind; wer dasselbe täglich hört nimmt es nicht besonders lästig, so daß er nicht weiß, daß er es hört.“] Schoocks Version ist gegenüber den zitierten Belegen zugespitzt: Während dort Xanthippes Schreien mit dem Knirschen einer Schraube in Parallele gesetzt wird (wie man sich an das Knirschen einer Schraube gewöhne, gewöhne man sich an Xanthippes Schreien), sagt Schoock, daß Sokrates bei Xanthippes Schreien – sich ablenkend – an das Knirschen einer Schraube gedacht habe. Die aktive Reaktion wird, doch wohl bewußt, betont. 346 promissorum fumi: ‚leere und trügerische Versprechungen‘ (Otto 1890, S. 149). 347 intercutaneus: Nach Pexenfelder 1670 und Kirschius 1774, Sp. 1541 ‚was zwischen Haut und Fleisch ist‘. Gemeint: Die Schwerhörigen schauen genauer hin, gewissermaßen tiefer (‚unter die Haut‘). 348 aretalogus: Der negative Beiklang wie bei Iuv. 15, 16 mendax aretalogus (“In Hellenistic Greek a manifestation of a god’s power was called an ἀρετή, and the composers of encomia on such ἀρεταλόγοι. Naturally they did not confine themselves to strict veracity, and the word acquired overtones such as it has here”, Courtney 1980, S. 596). 349 ampulla ist Deminitivum zu amphora und bezeichnet an dieser Stelle ein kleines hohles Gefäß bzw. eine kleine hohle Flasche, die bei Tönen widerhallen. 350 vesica = ‚Harnblase‘. Den übertragenen Gebrauch ‚Wortblase‘ / ‚Schwulst‘ kannte man etwa aus Martial, der 4, 49, 7 von seinen Schriften sagt, ihnen sei jeder Schwulst fern (a nostris procul est omnis vesica libellis).
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C. Interpretation
von Kapuzen eingewickelt (verhüllt) zu werden pflegen. Vielmehr betrachten sie alles aufmerksam und durchschauen gerade die feinen Täuschungen.351 In dieser Argumentation hat Schoock einen berühmten Vers aus Horaz’ Ars poetica aufgenommen und auf zwei Stellen verteilt; in ihm geht es um die Regel, daß ein Held der Tragödie hohes Pathos vermeidet bzw. vermeiden soll, wenn er des Zuschauers Herz wirklich rühren will (97): proicit a mp ullas et sesquiped a lia verba [„er vermeidet den hohlen Klang und die ellenlangen Wörter“].352 Ein Vergleich bedenkt die Kaufsüchtigen mit einiger Ironie, wenn es heißt, daß im Gegensatz zu ihnen die Schwerhörigen nicht Gauklern353 und um Märkte (an Märkten) herumschweifenden Händlern – wie die Fliegen den triefenden Augen der Pferde – anhingen; sondern sie gingen, wenn sie die Notwendigkeit (der Mangel), [611] die hier am meisten zu entscheiden habe, veranlasse, zum Markt vor, wo man alles kaufen könne.354 In ihrem Verhalten liege ein großer Vorteil. Denn, da sie weniger kaufsüchtig seien, unterlägen sie auch weniger dem Betrug hinsichtlich dessen, was notwendig ist.
9. Schutz vor Possen und Deklamationen Nach der bisherigen Charakterisierung der Schwerhörigen überrascht es nicht, daß ihnen auch Interesse an gewissen Darbietungen, die kaum künstlerische Ansprüche erheben, abgesprochen wird, etwa am unschicklichen Lachen eines Hanswursts355 oder eines Possenreißers. Ihre immer zur Ernsthaftigkeit ausgerichtete Miene ist der Wächter der Zucht (vultus eorum ad severitatem semper compositus, disciplinæ custos est). Ein eindrucksvoller Satz! So eilen sie auch nicht zu einem Pantomimen356 oder durchkriechen, wie pointiert
351 errata hat hier passivische Bedeutung, also ‚Irrtümer‘, ‚Täuschungen‘, denen jemand verfällt (der Händler täuscht: decepit, er bietet täuschende Ware: fallax merx). Die Schwerhörigen achten also auf nicht einwandfreie Angebote und sehen sich dementsprechend vor. 352 „Wie ampullae auf den dröhnenden Klang, so geht sesquipedalia verba auf die Länge der Worte des hochtragischen Stiles“ (Kießling, Heinze 1914, S. 306). 353 agyrta (ἀγύρτης): ‚Gaukler‘ (Ramminger; Burkard 2004, S. 103 zu Balde Diss. 4). 354 promercalia / promercalis res: ‚das man verkauffen kan‘ (Pexenfelder 1670); promercalis: ‚alles, was zu verkaufen ist‘ (Kirschius 1774, Sp. 2292); promercale forum meint wohl den Markt, auf dem feilgeboten wird, und zwar an festen Ständen bzw. von etablierten Anbietern im Gegensatz zu den vagabundierenden Händlern. 355 sannio: ▸ Lefèvre 2020, S. 456 Anm. 505 zu Balde Sol. pod. 2, 60, 32. 356 Die Darsteller des Pantomimus sangen und tanzten zugleich (Lore Benz. In: DNP. Bd. 9 (2000), Sp. 275).
9. Schutz vor Possen und Deklamationen
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gesagt wird, wegen Belanglosigkeiten die Zuschauerräume eines Theaters,357 noch spenden sie in den keilförmigen Sitzabteilungen der Kunst(darbietung) angemessenen Beifall. Von hier geht Schoock zu einer Gruppe von Leuten über, die einen höheren künstlerischen Anspruch erheben, ohne ihn wirklich einlösen zu können: Deklamatoren von Dichtungen und Reden, die sich den Erfolg durch Claqueure erkaufen.358 Er nennt sie Sophistæ mit einem Terminus, der schon in der Antike in diesem Sinn gebraucht werden konnte.359 Nicht weniger schmeichelhaft sind die Bezeichnungen „ruhmsüchtige Kreaturen“ (animalia gloriæ) für sie sowie „verächtliche Sklaven der windigen Gunst des Volkes“ (popularis auræ vilia mancipia). Diese treiben mit großem Aufwand die größten Torheiten (magno conatu maximas tractant ineptias). Natürlich handelt es sich um eine Satire, und eine Satire bezieht ihren Reiz oft aus dem Umstand, daß sie übertreibt, arg übertreibt. Zieht man die Übertreibung ab, liegt an dieser Stelle vielleicht eine versteckte Kritik an zeitgenössischen Gepflogenheiten zugrunde. Denn wie oft hat der (eigenwillige und streitbare) Universitätslehrer Schoock (zum Beispiel) Darbietungen seiner Kollegen, denen er nicht ausweichen konnte, anhören müssen... Nach den zweifelhaften Kunstdarbietungen kommen die zweifelhaften Rezitationen in den Blick. Selbstverständlich geht es ‚antik‘ weiter: Zunächst werden zwei ‚Namennenner‘360 des jüngeren Plinius zitiert. Wenn diese beiden schwerhörig gewesen wären, argumentiert Schoock, wären sie von ihrem Herrn nicht getadelt worden, daß sie es geduldig hingenommen hatten, für je drei Denare dazu verleitet zu werden, die Rede eines Menschen zu loben, dem es genügt habe, unter Beredten durch das erkaufte Gebrüll der Beifallrufenden beurteilt zu werden. Das ist eine Anspielung auf Plin. Epist. 2, 14, 6: here duo nomenclatores mei (habent sane aetatem eorum, qui nuper togas sumpserint) ternis denariis ad laudandum trahebantur. tanti constat ut sis disertissimus; hoc pretio quamlibet numerosa subsellia implentur, hoc ingens corona colligitur, hoc infiniti clamores
357 plateas perreptare ist plautinisch: Amph. 1011. 358 Sie tun das unter Anbieten eines zweiten Frühstücks (oblato prandio). prandium ist „um die 6te oder 7te Stunde ein grosses Frühstück“ (Marquardt 1886, S. 266), ital.: ‹pranzo›, hier etwa: ‚Imbiß‘. 359 Z. B. Cic. De fin. 2, 1 über den ‚sophistischen‘ Redner Gorgias von Leontinoi (zu diesem ▸ S. 9 Anm. 63). In der Neuzeit: ‚Spitzredner‘ (Pexenfelder 1670); „einer, der sich der Kunst der Weisen rühmet, aber nur ein Klügling und gelehrter Wäscher ist“ (Kirschius 1774, Sp. 2647). 360 Ein nomenclator war in Rom ein Sklave, dessen Pflicht es unter anderem war (wie der Name sagt), seinem Herrn die Namen der ihm Begegnenden (leise) zu nennen (▸ Marquardt 1886, S. 148 Anm. 3).
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C. Interpretation
commoventur, cum mesochorus dedit signum. opus est enim signo apud non intellegentes, ne audientes quidem; nam plerique non audiunt, nec ulli magis laudant. [Gestern wurden meine beiden Nomenklatoren (die allerdings das Alter derer haben, welche erst kürzlich die Toga erhielten) für je drei Denare zum Lobspenden geschleppt. Soviel kostet es, damit du ein bedeutender Redner bist; für diesen Kaufpreis werden ganz nach Belieben zahlreiche Bänke gefüllt, für ihn häuft sich ein gewaltiger Kreis von Zuhörern, für ihn regen sich gewaltige Beifallsschreiereien, wenn der Chorführer (Vorklatscher) das Signal gibt. Eines Signals bedarf es nämlich bei denen, die nichts verstehen, nicht einmal zuhören; denn die meisten hören zwar nicht zu, aber niemand lobt in größerem Maß (als sie).]
Fürwahr, ein verbürgtes Ereignis.361 Ein weiteres folgt. Es nimmt die Erzählung von einem jonischen Jüngling mit Namen Varus (μειράκιον Ἰωνικὸν Οὔαρος) in den ‚Leben der Sophisten‘ (Βίοι σοφιστῶν) des Sophisten Philostratos auf, der im letzten Viertel des zweiten Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts gelebt hat. Sie steht in der Lebensbeschreibung des Polemon von Laodikeia362 (1, 9). Mit Hilfe dieser ‚Vorlage‘ läßt sich erneut gut erkennen, in welcher Weise Schoock mit seinen Quellen umgeht:363 Ein junger Mann aus Ionien lebte in Smyrna in einer die ionische Gewohnheit weit übersteigenden Üppigkeit; sein großer Reichtum, der ja ein schlechter Lehrmeister für ausgelassene Menschen ist, richtete ihn zugrunde. Sein Name war Varus. Da ihn die Schmeichler ganz verdorben hatten, hatte er sich selbst eingeredet, er sei der Schönste unter den schönen, größer als die stattlichsten Männer, unter denen, die die Palaistra besuchen, der wackerste und geschickteste; ja selbst die Musen würden kein schöneres Lied anstimmen als er, wenn er sich zum Singen anschickte. Ebenso dachte er auch von den Sophisten, er lasse sie im Reden hinter sich zurück, sooft er Lehrvorträge halte; auch damit gab er sich nämlich ab, und seine Schuldner rechneten es als ebenfalls zu verzinsen ein, wenn sie einen Lehrvortrag von ihm hörten. Auch Polemon musste sich dieser Forderung unterwerfen, als er jung und noch nicht kränklich war, denn er hatte von ihm Geld geliehen. Da er aber ihm nicht schmeichelte und seine Vorträge nicht besuchte, wurde der junge Mann unwillig über ihn und drohte ihm mit Typoi; dies sind juristische Schriftsätze, die dem säumigen Schuldner eine Klage wegen nicht fristgerechter Rückzahlung ankündigen. Dem Polemon nun warfen seine Angehörigen vor, er sei ungefällig und eigensinnig, dass er – obwohl es ihm möglich sei, die Forderung abzuwenden und von dem jungen Mann Nutzen zu ziehen, indem er ihm
361 Zum Alter der nomenclatores: “about the age of 17 or less”; zur Höhe des Lohnes: “a high fee, far above a working man’s wage or a soldier’s pay of less than a denarius a day” (SherwinWhite 1966, S. 183). 362 Marcus Antonius Polemon, bekannter Sophist, Verwandter des pontischen Herrscherhauses, etwa 90–145. 363 Übers. Brodersen 2014, S. 111 / 113.
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ein beifälliges Zutrinken zeige – dieses nicht tue, sondern ihn reize und erbittere. Auf dieses Zureden ging Polemon zwar hin, um ihn zu hören, doch als der Lehrvortrag bis zum späten Abend andauerte, kein Ankerplatz abzusehen war und die Rede zudem von Soloikismoi (Sprachfehlern), Barbarismen und Widersprüchen wimmelte, sprang Polemon auf, streckte die Hände aus und sagte: „Varus, bringe die Typoi!“
Schoock hat die Erzählung auf Varus konzentriert und Polemon, um den es Philostrat ging, eliminiert. Übernommen wurde das Zinsmotiv und die Mangelhaftigkeit des Lehrvortrags des μειράκιον. Natürlich ist die Episode mit dem Thema der Schrift, den surdi, in Verbindung gebracht. Diese werden von dem jungen Mann geringgeschätzt, weil sie – im Gegensatz zu Feineren364 und an Bildung Interessierten, die gut hören können – wegen ihrer mangelhaften Ohren nicht als Claqueure in Frage kommen. Natürlich ist das kein Nachteil für sie, sondern ein großer Vorteil, denn sie bleiben von dem Anhören solcher kindischen Produktionen verschont – so wie es die durchgehende Argumentation des Encomium ist. Die Formulierungen sind deutlich: Es handelt sich um pueriles declamationes, s e n t en t i a r u m f l osculos, similitudinum ineptarum pigmenta, verborum lenocinia & capitula acuta quadam brevitate conclusa. Schoock mag eine bekannte Stelle aus Senecas Epistulae ad Lucilium im Gedächtnis haben (33, 7): ideo pueris et sententias ediscendas damus et has quas Graeci chrias vocant, quia conplecti illas puerilis animus potest, qui plus adhuc non capit. certi profectus viro captare flosculos turpe est et fulcire se notissimis ac paucissimis vocibus et memoria stare: sibi iam innitatur. [Daher geben wir den Knaben Sentenzen zum Auswendiglernen und das, was die Griechen Chrien (Sentenzen, Gemeinplätze) nennen, weil sie der kindliche Geist erfassen kann, der mehr noch nicht versteht. Für einen Mann, der schon sichere Fortschritte gemacht hat, ist es unlöblich, nach Blümchen zu greifen und sich auf allbekannte wenige Formeln (Aussprüche) zu stützen und auf sein Gedächtnis gestellt zu sein: Auf sich selbst stütze er sich bereits!]
Es geht in diesem Brief um den schlichten Stil der stoischen Meister. Diese seien nicht mit Blüten beschäftigt gewesen, sondern der ganze Zusammenhang ihrer Darstellung sei männlich (non fuerunt circa flosculos occupati: totus contextus illorum virilis est (ib. 1). Genau das Gegenteil ist das Wortgeklingel, das der eitle Varus produziert. Derlei also bleibt den Schwerhörigen erspart.
364 tenuiores: wie res tenuis bzw. tenui ratione (Hor. Sat. 2, 4, 9 bzw. 36), “fine in matters of sense, understanding, etc., subtle” (OLD).
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C. Interpretation
Wie es scheint, hat Schoock in diesem Passus einen bestimmten zeitgeschichtlichen Bezug beabsichtigt, einen deutlichen Seitenhieb gegen Gepflogenheiten in sacris, bei kirchlichen Veranstaltungen, die Rhetorik betreffend. Dort seien entsprechende Äußerungen vom Auditorium geschätzt, obwohl sein Urteil weniger geübt sei als das der Hörer des Varus. Der Schwarze Peter liegt somit bei der Gemeinde. Bei dieser Sachlage könne, heißt es, eine echte und ungeschwächte Beredsamkeit nicht wieder zurückgeführt365 werden. Hier spricht der gelehrte Humanist.366 Zum Abschluß dieser Sektion folgt ein pointiertes Gegenbeispiel zugunsten der Schwerhörigen. Diese seien zwar – wie von Varus in der vorhergehenden Erzählung – von den ‚Spitzrednern‘ verachtet worden; sobald jedoch ein vorbildliches Richtmaß der Ohren (d. h. ihrer Leistungsfähigkeit) gesucht worden sei, hätten es gerade die nicht erfüllt,367 von denen allein man glaubte, sie seien bezüglich der Ohren besonders leistungsfähig. Es dürfte gemeint sein, daß diese zwar gut hören, aber nicht gut urteilen können. Das wird mit einer Geschichte bei den Jasiern368 (oder, wie andere Gewährsleute vom Kritikerstamm369 meinten, Jaspiern370) belegt,371 in der der surdus das Richtmaß des Hörens in größerem Umfang als die Normalhörenden aufwies, weil er besonders aufmerksam der Kunstdarbietung
365 postliminium: ‚Rückkehr in den früheren (Rechts)zustand‘, übertr. ‚Wiederkunfft‘ (Pexenfelder 1670); postliminio: ‚nach langer Zeit‘ (Kirschius 1774, Sp. 2212). 366 Zu den entsprechenden Verhältnissen im siebzehnten Jahrhundert teilt Jan Bloemendal mit: „In wieferne ich es weiss, liebte das gottselige Publikum wilde Gesten und Stimmerhöhungen. Aber es gab auch Pfarrer, die eine niedrige Stimme hatten und trotzdem geschätzt wurden. Die Formen der Predigt konnten rhetorisch erhaben sein oder schlicht.“ Zu diesem Problem ▸ van Deursen 1998, S. 65–66. 367 prostituerunt: wie p. 606 prostituere: ‚bloßstellen‘, ‚blamieren‘. 368 Stefan Faller weist darauf hin, daß Plinius Nat. 5, 107 und 112 einen an der Westküste Klein asiens gelegenen sinus Iasius erwähnt: Dessen Anwohner konnten in natürlicher Weise vom Fischfang leben (populum magna ex parte piscibus victitantem). 369 Criticorum filiis: gebildet wie Hor. Sat. 2, 6, 49 fortunae filius; Pers. 6, 59 terrae filius (dort 57: progenies terrae); Iuv. 13, 141 filius albae gallinae. Kißel 1990, S. 61 übersetzt progenies terrae mit ‚Erdengezücht‘. In diesem Sinn dürfte Schoock abwertend von ‚Kritikergezücht‘ sprechen. 370 Die kritische Strabon-Ausgabe von Gustavus Kramer (Bd. 3. Berlin 1852, S. 135) nennt als Varianten lediglich Ἰασός und Ἰασσός. Es wurde zusätzlich eine Reihe von Ausgaben und Übersetzungen des sechzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts eingesehen; in ihnen wird die Variante Jaspios nicht erwähnt. Offenbar wendet sich Schoock gegen eine zeitgenössische Konjektur bzw. Interpretation, die ihn nicht überzeugt oder die er gar für abwegig gehalten hat (was sie ja auch ist). Das könnte die leicht ironische Formulierung Criticorum filii(s) erklären. 371 Die Bemerkung erinnert an Jakob Baldes ausgeprägte Aversion gegen die Grammatiker (Lefèvre 2017, S. 41–42; 2020, S. 120).
9. Schutz vor Possen und Deklamationen
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eines Kitharöden372 folgte,373 während die unzähligen374 anderen Zuhörer, alle ohne Ausnahme, sobald die Klingel ertönte, zum Fischmarkt375 eilten. Der Vorfall erinnert so, wie er erzählt wird, an das Schicksal der Hecyra des Terenz, die in den Jahren 165 und 160 v. Chr. zweimal durchfiel, weil das römische Publikum (wie der Prolog zur dritten Aufführung berichtet) zu anderen Lustbarkeiten davonlief, das erste Mal, weil in der Nähe ein Boxkampf stattfand und ein Seiltänzer angekündigt wurde, das zweite Mal, weil Gladiatoren Konkurrenz machten. Weder der Kitharöde noch Terenz konnten das Publikum packen. Die Pointe der Erzählung lautet bei Schoock, daß gegenüber den unzähligen Banausen ein Mann bewies, daß er den Musen und Apollo nicht fernstehe – natürlich ein surdus! Hierbei handelt es sich um eine von Schoock raffiniert umgedeutete Geschichte, die schon Erasmus in den Apophthegmata erzählt hat:376 Apud Iassios, populum magna ex parte piscibus uictitantem, citharœdus quidam in foro ostentabat artem. Verum simul atque tintinnabulum crepitu signum dedit adesse pisces uenales, turba subitò deseruit cantorem, & ad piscium mercatum aduolauit: uno excepto,
372 Es gelingt nicht, einen Kitharöden Roscius in der Antike nachzuweisen. Stefan Faller teilt deshalb mit: „Ich glaube, dass es um keinen antiken Roscius geht […], sondern um jemanden, der metaphorisch als solcher bezeichnet wurde. Edward Alleyn, ein britischer Schauspieler (1566–1626), wurde von den Elisabethanern als ‚Roscius‘ apostrophiert, Ira Aldridge, ein afroamerikanisch-britischer Schauspieler (1807–1867), galt später als ‚afrikanischer Roscius‘.“ Das ist ein wertvoller Hinweis, der hilft, einen Passus aus Schoocks Rede Laus fumi (zu ihr ▸ oben S. 16–28) zu verstehen, in dem von Meisterköchen gesprochen wird: quotquot jam olim in arte culinaria Roscii fuerunt uno ore testantur […] (1666, p. 631). ‚Roscius‘ war, wie es scheint, eine Bezeichnung für Meister in ihrem Metier. 373 aut in den beiden Drucken von 1650 und 1666 ist offenbar zu tilgen (Blänsdorf, Lefèvre): Nachdem der erste Drucker convenerant gesetzt hatte, irrten seine Augen wohl zu den letzten drei Buchstaben dieses Wortes zurück und erlagen einem Lesefehler. 374 Zu sescenti ▸ unten Anm. 425. 375 Auf Fisch- und Fleischmärkten konnte man im alten Rom nicht nur Fisch und Fleisch kaufen, sondern auch vor Ort verzehren. Das letzte könnte hier suggeriert werden. So malt Balde im Sol. pod. 1, 38 witzig aus, wie der aus Petrons Cena bekannte Trimalchio von einem Fleischmarkt nach reichlichem Mahl und Trunk nach Hause strebt: Quale spectaculum populo præbet inambulans Trimalcio, ex macello vel dolio domum tendens? cuius inflata facies tumentibus buccis prouocat ventos; &, nisi fallor, flabra sæpe vincit anhelitu. Quale prodigium, homo triplex mento, simplex mente! [„Welch ein Schauspiel bietet dem Volk der einherschreitende Trimalcio, der vom Fleischmarkt oder vom Faß nach Hause strebt? Dessen aufgeblasenes Gesicht fordert mit den schwellenden Backen die Winde heraus und übertrifft, wenn ich mich nicht täusche, mit seinem Keuchen oft (deren) Wehen. Welch wundersame Erscheinung, ein Mensch dreifach mit dem / durch das Kinn, einfach mit dem / durch den Verstand!“], ▸ Lefèvre 2020, S. 281–282 mit Anm. 352. 376 1544, S. 596–597.
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C. Interpretation
qui quod surdaster esset, tintinnabuli sonitum non audierat, aut certe non attenderat. Huic citharœdus propius accedens gratias egit, quòd & artem honorasset, & ipsum non passus sit esse prorsus desertum. Tum ille, An crepuit tintinnabulum? Vt annuit, Valebis, inquit, egregie magister, seseque mox ad pisces proripuit. Citharœdo liberum erat sibi canere & musis. Longè maior est nobis cura uentris quam artium liberalium. [Bei den Iasiern, einem Volk, das großenteils von Fischen lebt, zeigte ein Kitharöde auf dem Marktplatz seine Kunst. Aber sobald eine Klingel mit Getön das Zeichen gab, die Fische seien zum Verkauf da, ließ der Haufe sofort den Sänger im Stich und eilte zum Fischmarkt – mit Ausnahme eines, der den Ton der Klingel, weil er ein wenig schwerhörig war, nicht gehört oder wenigstens nicht auf ihn geachtet hatte. An diesen trat der Kitharöde näher heran und dankte ihm, daß er der Kunst Ehre gezollt und nicht zugelassen habe, daß er völlig verlassen sei. Da fragte der surdaster: Hat die Klingel geschellt? Als der Kitharöde bejahte, sagte der surdaster: Leb wohl, bester Meister, und eilte alsbald zu den Fischen. Dem Kitharöden stand es frei, für sich und die Musen zu singen. Bei weitem größer ist uns die Sorge um den Bauch als die um die freien Künste.]
Das ist eine in sich stimmige, gewissermaßen glaubwürdige Erzählung. Was der Kitharöde für ein anerkennendes Kunsturteil des einen Hörers hält, beruht einfach auf dessen physischem Defekt. Die Moral der hübschen Geschichte ist, daß allen, sowohl den Normalhörenden als auch dem / den Schwerhörigen, wie Erasmus feststellt, die cura ventris wichtiger als die cura artium ist. Auch der berühmte Jurist Andrea Alciato (1492–1550) erzählte die Anekdote und gab zugleich die antike Quelle an:377 Extat apud Strabonem libro XIIII. non iniucunda historia, cùm citharœdus quidam apud Iassios artem ostentaret, interimque κώδων, id est peluis campana vendendorum piscium signum increpuisset, eo derelicto omnes abierunt, excepto tamen uno, qui surdaster erat. Accedens itaque ad eum citharœdus, Gratias ago, inquit, qui & mihi, & musices studijs hunc honorem habueris, ut sicut cæteri audito tintinabulo me non deserueris. Tum ille, Nunquid tintinnabulum sonuit? uale ergo præceptor, & benè sit tibi, sicq́ ue abijt.
Alciato verweist auf den antiken Herkunftsort: Buch 14, cap. 2, 21 der in augusteischer Zeit entstandenen Geographika des Strabon von Amaseia:378 Εἶτ’ Ἰασὸς ἐπὶ νήσῳ κεῖται προσκειμένῃ τῇ ἠπείρῳ. ἔχει δὲ λιμένα, καὶ τὸ πλεῖστον τοῦ βίου τοῖς ἐνθάδε ἐκ θαλάττης· εὐοψεῖ γὰρ χώραν τ’ ἔχει παράλυπρον. καὶ δὴ καὶ διηγήματα τοιαῦτα πλάττουσιν εἰς αὐτήν. κιθαρῳδοῦ γὰρ ἐπιδεικνυμένου τέως μὲν ἀκροᾶσθαι πάντας, ὡς δ’ ὁ κώδων ὁ κατὰ τὴν ὀψοπωλίαν ἐψόφησε, καταλιπόντας ἀπελθεῖν ἐπὶ τὸ ὄψον πλὴν ἑνὸς δυσκώφου· τὸν οὖν κιθαρῳδὸν προσιόντα εἰπεῖν ὅτι, ὦ ἄνθρωπε, πολλήν σοι χάριν
377 Alciato 1544, S. 87. 378 Herstellung des Textes und Übersetzung: Radt 2005, S. 70 / 71.
10. Schutz vor Schwätzern
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οἶδα τῆς πρός με τιμῆς καὶ φιλομουσίας· οἱ μὲν γὰρ ἄλλοι ἅμα τῷ τοῦ κώδωνος ψοφοῦντος ἀκοῦσαι ἀπιόντες οἴχονται· ὁ δέ, τί λέγεις; ἔφη· ἤδη γὰρ ὁ κώδων ἐψόφηκεν; εἰπόντος δέ, εὖ σοι εἴη, ἔφη καὶ ἀναστὰς ἀπῆλθε καὶ αὐτός. [Dann kommt Iasos, das auf einer ans Festland stoßenden Insel liegt. Es hat einen Hafen, und den größten Teil ihres Lebensunterhalts haben die Leute hier aus dem Meer: denn es gibt hier viel Fisch und das Land ist ziemlich karg. Daher erfindet man auch Geschichten über sie wie die folgende. Ein Kitharode gab ein Recital. Erst hätten alle zugehört, als aber die Glocke für den Fischverkauf läutete, hätten sie ihn sich selbst überlassen und seien zu dem Fisch gelaufen, bis auf Einen, der schwerhörig war. Der Kitharode sei zu ihm herangetreten und habe gesagt ‚Guter Mann, ich bin dir sehr dankbar für die Ehre, die du mir erweist und für deine Musikliebe; denn die Anderen sind sofort, als sie die Glocke läuten hörten, weggelaufen‘. ‚Was sagst du?‘ rief der Schwerhörige ‚Hat also die Glocke schon geläutet?‘. Und als der Andere bejahte, sagte er ‚Alles Gute!‘, stand auf und lief ebenfalls weg.]
Die Paraphrasen von Erasmus und Alciato zeigen, daß Strabons Erzählung gern aufgenommen und, wie üblich, leicht variiert wurde. Daß zwischen ihnen und Schoocks Version weitere Varianten liegen, könnte aus dessen abfälliger Eingangsbemerkung über die Uneinigkeit der Kritiker in der Frage hervorgehen, wie der richtige Name der Bewohner der Insel gelautet habe. Es ist nicht wahrscheinlich, daß es sonst gravierende Abweichungen gegeben hat. Dagegen liegt die Annahme sehr nahe, daß die Umdrehung der Erzählung, in der der Schwerhörige nicht ein ebensolcher Kunstbanause wie die anderen Zuhörer,379 sondern ein ‚Kunstsachverständiger‘ ist, auf Schoock selbst zurückgeht, da sie zu seiner ganz speziellen Thematik paßt. Sie sollte dementsprechend von den Hörern der Rede gewürdigt werden: In der ‚Unglaubwürdigkeit‘, daß unzählige Hörer sich bis auf den letzten Mann musenfern verhielten und der eine Hörgeschädigte am verständigsten die Musik rezipierte, liegt keine Schwäche der Argumentation, sondern eine Pointe. Das Encomium surditatis ist, wie wiederum festzustellen ist, ein artifizielles Stück Literatur.
10. Schutz vor Schwätzern Als nächste Konsorten, vor deren Treiben die Schwerhörigen sicher sind, kommen die Schwätzer in den Blick. Der ganze Passus ist von der sog. Schwätzersatire des
379 Der Geograph Strabon erzählt die Geschichte nur unter dem Gesichtspunkt, daß der Fisch für die Bewohner des von Wasser umgebenen Iasos das alles beherrschende Lebensmittel ist. Diese nüchterne Argumentation auf eine höhere Ebene gehoben zu sehen war für humanistisch gebildete Rezipienten ein geistiges Labsal.
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C. Interpretation
Horaz380 inspiriert – gilt dessen Fabius doch als einer der berühmtesten Schwätzer der Weltliteratur.381 Oft begegne, heißt es, in Kreisen und Halbkreisen (in circulis & semicirculis),382 welche alle, die gesunde Ohren haben, gern aufsuchten (es sei denn, sie hätten gerade „den Menschen ausgezogen“,383 womit gemeint ist, daß sie nicht umgänglich gestimmt sind), ein lästiger Schwätzer, [613] der auch dann, wenn er Rosen und Met spreche, d. h. sich lieblich und angenehm äußere,384 dasselbe betreibe wie einst der nach Horaz redselige Fabius.385 Es folgen zwei Männer, denen ein Schwätzer kaum386 bzw. gar nicht lästig gefallen wäre, Bollanus und Crassus. Bollanus, wird gesagt, habe ein ‚glückliches Gehirn‘ gehabt (cerebri felicis), womit Horaz zu Wort kommt,387 der in seiner Not ausruft: ‚o te, Bollane, cerebri | felicem‘ aiebam tacitus [„‚O glücklicher Bollan! | Wer deine Tollheit hätte!‘ murml’ ich bey mir selbst“388]. Wieso? Bolanus war „ein uns unbekannter Hitzkopf, cerebrosus […], der mit seiner aufbrausenden Grobheit sich den Aufdringlichen schon längst vom Halse geschafft hätte.“389 Hier handelt es sich um eine der Stellen, aus denen
380 Sat. 1, 9. 381 Das gilt unabhängig davon, daß Latacz 1980, S. 5–22 nachzuweisen versucht hat, es handele sich nicht um einen ‚Schwätzer‘, sondern um einen ‚Karrieristen‘. Ja, Fabius ist ein Karrierist – der exorbitant viel schwätzt. 382 circuli sind gesellige Kreise, die in einer ‚runden‘ Gruppe zusammenstehen; semicirculi sind dementsprechend Gruppen, die in einem Halbkreis einen oder mehrere Sprecher umgeben. Cicero gebraucht De fin. 5, 56 den Ausdruck circulos aliquos et sessiunculos consectari, wie die modernen Ausgaben drucken. Es ist aber auch semicirculos (statt sessiunculos) überliefert, was Schoock in (s)einer Ausgabe gefunden haben dürfte. 383 hominem exuerint: exuere hat hier die Bedeutung “to put aside, throw off (characteristics, habits, etc.”, OLD) wie hominem exuere (Cic. Pro Ligario 14). 384 Vergleichbar ist etwa der innere Akkusativ Plaut. Aul. 152 lapides loqueris (Otto 1890, S. 186: „deine Worte treffen mich wie harte Steine“; Parallelen führt Stockert 1983, S. 64 an). (Ein Beispiel aus der deutschen Literatur: „Das ganze jetzige deutsche Drama der Jüngeren (nach Hauptmann) spricht Schlegel-Tieck“: Bahr 1909, S. 187.) 385 Fabius ist bzw. war ein stoischer Tugendschwätzer (Porphyrio z. St.: aliquot libros ad Stoicam philosophiam conscripsit). „Die Stoiker erscheinen H. auf dieser vorwiegend epikureischen Entwicklungsstufe seines Geisteslebens durchweg als bloße Schwätzer“ (Kießling, Heinze 1921, S. 5–6). loquacis elogio: elogium ist die ‚Aussage‘, die ‚Grabschrift‘, nach Kirschius 1774, Sp. 1010 ein ‚herrliches Zeugnis, Lobspruch‘, gemeint ist Horaz’ Zeugnis bzw. (ironisch) Lobspruch. Immerhin ist Fabius durch das Porträt des Venusiners celeber geworden. 386 vix nocuit: „kaum hätte geschadet“ (Stefan Faller unter Verweis auf Menge / Burkard / Schauer 2005 § 562, 4). 387 Sat. 1, 9, 11–12. 388 Übers. Wieland 1819, S. 263. 389 Kießling, Heinze 1921, S. 146.
10. Schutz vor Schwätzern
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hervorgeht, daß die satirische Schrift Encomium surditatis ein hochgebildetes Publikum voraussetzt. Ein Schwätzer hätte auch Marcus Crassus390 nicht schaden können, da er nicht gut hörte.391 Eine wunderbare Pointe, die das Thema der Schrift betont. Den Tatbestand wußte man aus Cicero, der Tusc. 5, 116 berichtet: in surditate vero quidnam est mali? erat surdaster392 M. Crassus, sed aliud molestius, quod male audiebat, etiamsi, ut mihi videbatur, iniuria [„Was für ein Übel liegt wirklich in der Schwerhörigkeit? M. Crassus war etwas schwerhörig, aber was anderes war ihm lästiger, daß er nämlich Schlechtes über sich hörte – wenn auch, wie mir schien, zu Unrecht“].393 Im Gegensatz zu Bollanus und Crassus hätte, wie festgestellt wird, ein Schwätzer jedoch den Liebling der Musen Horatius Flaccus beinahe unter dem Beifall der Lose der Alten Sabinerin dem Verderben394 preisgegeben. Die Erwägung folgt wiederum Horaz, der sich angesichts des Schwätzers einer früheren Prophezeiung erinnert (29–34 mit Wielands freier Übersetzung): 30
instat fatum mihi triste, Sabella quod puero cecinit divina mota anus urna: ‚hunc neque dira venena nec hosticus auferet ensis nec laterum dolor aut tussis nec tarda podagra: garrulus hunc quando consumet cumque: loquaces, si sapiat, vitet, simul atque adoleverit aetas.‘
30
[das Loos geht in Erfüllung, das die alte Marsische Wahrsagerin für mich in meiner Kindheit aus ihrem Topfe zog. Den Knaben, sprach sie, raft nicht Feindes Schwerdt, nicht Gift noch Seitenstich, nicht Schwindsucht weg, noch träges Zipperlein; ein Schwätzer wird dereinst den Rest ihm geben; vor Schwätzern, wenn er klug ist, hüt’ er sich, sobald er in die Jünglingsjahre tritt!]
390 Marcus Licinius Crassus (115–53, Konsul 70 u. 55), der 53 v. Chr. bei Carrhae gegen die Parther gefallene Triumvir. 391 Dieser Umstand wird in Zwingers Katalog kurz erwähnt: ▸ S. 37. 392 surdaster nur hier, dann erst wieder bei Augustinus (▸ S. 17 mit Anm. 167). 393 ▸ S. 10. 394 letho = leto.
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C. Interpretation
Der ‚hochtrabende Orakelspruch‘395 war Schoock und seinen Hörern / Lesern sicher von der Schule her in Erinnerung – und erzielte dementsprechend seine Wirkung bei diesen. Das gilt auch für den Fortgang Doch Horaz wurde erlöst: Ein Widersacher rief ihn schließlich zum Zeugen an und zerrte ihn zum Prätor, d. h. zum Gericht. Auf diese Weise entkam der Dichter dem Schwätzer und wurde von dem Dichtergott Apollo gerettet. Auch dieser atemberaubende Schluß dürfte Schoocks Rezipienten präsent gewesen sein (74–78 wiederum mit Wielands Übersetzung):396 75
casu venit obvius illi adversarius et ‚quo tu, turpissime?‘ magna inclamat voce, et ‚licet antestari?‘ ego vero oppono auriculam. rapit in ius; clamor utrimque, undique concursus. sic me servavit Apollo.
75
[Doch, zum Glück, begegnet meinem Mann sein Widerpart. ‚Wohin, du Schurke‘, schreyt er laut ihn an, und gleich an mich sich wendend: ‚Darf ich dich zum Zeugen nehmen?‘ – Denkt wie hurtig ich das Ohr ihm hinbot! Kurz, er schleppt ihn vor Gericht; auf beyden Theilen viel Geschrey, von allen Seiten Zusammenlauf! – So rettete Apollo mich!]
Nun aber die überraschende Folgerung: Von einem solchen Plappermaul397 droht den Schwerhörigen keine Gefahr. Ihre Arme ergreift – wenn sie öffentlich bekannt sind – nie jemand und stiehlt398 ihnen dadurch gute Stunden...
11. Schutz vor Überreaktionen und Mißverständnissen ‚Was ist denn (Schlimmes) los?‘399 beginnt der neue Abschnitt. Er führt Menschen vor, die auf Gerüchte / Gerede / (belauschte) Gesprächsfetzen und ähnliches hin
395 Kießling, Heinze 1921, S. 148. 396 Die gesperrten Wörter hat Schoock direkt aufgenommen. Die Wendung dextro Apolline gibt Horaz’ Worte sic me servavit Apollo wieder (Kießling, Heinze 1921, S. 155: „der Gott der Poesie rettet diesmal noch seinen Jünger“). 397 lingulaca: ‚Plappermaul‘ (Pl. Cas. 497). 398 suffurari: ‚unter der Hand stehlen‘ (Pl. Truc. 566; Vid. fr. 19 Leo). 399 quid novi?: In der Neuzeit redensartlich, hier wohl als Äußerung der Überraschung / des Schreckens gebraucht, also etwa zu übersetzen: „Was ist denn los?“ / „Was gibt es (Schlimmes)?“
11. Schutz vor Überreaktionen und Mißverständnissen
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überstürzt und übereifrig reagieren. Es sind solche, die gut, ja allzu gut hören wie die in der zweiten Hälfte karikierten Mägde, die nimium quam400 auritæ sind. Es ist klar, daß dieses Problem das Thema der Schrift zentral berührt: Besser wäre es, manches nicht zu hören. Während auf den Schreckensruf öffentlich und privat geantwortet wird, hechele, wird gesagt, oft der Kranke zum Arzt und der Klient zum Anwalt. Sie handeln überstürzt. Das seien allerdings nur isolierte Fälle; zuweilen störe es jedoch die ganze Schule, wenn der Lehrer, der ihr vorsteht, sich bei der Meldung einer neuen (unbekannten) Sache errege und lieber die ganze Nachbarschaft seiner lärmenden Wirkungsstätte einer Beschimpfung aussetzen wolle, als nicht durch λόγοι, klare ‚logische‘ Erklärungen, zufriedengestellt zu werden. Übereifrig reagieren also der æger, der cliens und der magister – weil sie allzu gut hören und entsprechend überreagieren. Es folgen Mägde, die mit ihrem Geschwätz ihre Iunones401 in unnötige Aufregung versetzen. Auf diese Gruppe hat es Schoock besonders abgesehen: Denn nimium auritæ bedeutet nicht nur, daß sie sehr gut hören, sondern auch, daß sie zu sehr auf die Gespräche anderer Leute lauschen, ‚allzu aufmerksam‘,402 d. h. neugierig sind. Gerade bei der die Gemeinschaft angehenden Frage (quid novi?) gerieren sie sich hochgradig munter / lebhaft und, so ist zu verstehen, klatschen gern. Diesen Mägden geht es wie den Schwerhörigen: Sie verstehen ungeachtet ihrer guten Ohren vieles nicht richtig oder gar nicht – vielleicht darf man sagen: weil sie bescheidenen Geistes sind. Sie eilen nach Hause und versetzen die padrone di casa in (unnötige) Aufregung.403 Aber da sie, wie es heißt, ihre Zunge ‚im Feuchten‘ haben, d. h. geschwätzig sind,404 [614] zudem Ohren frei von
400 nimium quam wie nimis quam Pl. Most. 511 nimis quam formido in der Bedeutung ‚gar sehr, überaus‘ (Lorenz 1860, S. 131). ▸ Kühner / Stegmann, Satzlehre § 5, 1. 401 Iunones steht für die ‚Herrinnen‘ des Hauses (wenige Zeilen später werden sie dominas genannt), so wie Lysidamus in Plautus’ Casina zu seiner resoluten Gattin sagt (230): heia, mea Iuno, non decet esse te tam tristem tuo Iovi (“allusion to Jupiter and Juno is a repeated theme in this play, representing the master and mistress of the house”, MacCary, Willcock 1976, S. 128, Sperrung ad hoc). 402 Zur Bedeutung auritus = ‚aufmerksam‘ ▸ Lefèvre 2020, S. 312 zu Balde, Sol. pod. 2, 5, 17. 403 in fermento: ‚in Aufwallung‘ / ‚in Wut‘ (Plaut. Cas. 325; Merc. 959). 404 in udo habent linguam: Die Mädge sind redegewandt. Die Vorstellung, daß die Rede einen feuchten (nicht einen trockenen) Mund braucht, etwa bei Vergil: Aen. 7, 533 udae vocis iter, wozu Servius anmerkt: hoc est ‚udum iter vocis‘; non enim vox uda est, sed per udam arteriarum [arteria = ‚Luftröhre‘] labitur viam: unde in febrientibus deficit; zu vergleichen ist ferner die Erklärung von Fordyce 1977, S. 158: “the epithet is ‘transferred’ – speech needs a moist channel: cf. Ovid, Met. VI. 354f. caret os umore loquentis | et fauces arent vixque est via vocis in illis.” Belege zu udus = ‚naß durch Speichel‘ nennt Kißel 1990, S. 250 zu Pers. 1, 105.
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C. Interpretation
jedem Sand und Siegel (also nicht verstopfte wie die der Schwerhörigen) und im allgemeinen fast nur auf Menschen ihres Schlages405 treffen, zum Beispiel, wenn sie eine Hebamme holen müssen406 (mit der sie, so wird unterstellt, schwätzen), weben sie ihrem gewöhnlichen Singsang407 gern noch etwas (Phantasievolles) an. Es ist klar, sie hätten – wie die drei vorgenannten Typen – manches besser nicht gehört (zumal wenn sie es nicht richtig verstehen).
12. Schutz vor Schmeichlern So lästig ein Schwätzer ist, ein Schmeichler ist bei weitem schlimmer und lästiger.408 So ein Grieche409 habe gesagt, er wolle lieber, lebendig und sehend, unter lebendige Raben fallen als auf einen Menschen dieser Art treffen, der alle, die er lobt, zugrunde richtet. Dieser Ausspruch wird bei Diogenes Laertios 6, 4 Antisthenes zugeschrieben, bei Athenaios410 in freierer Form dem Kyniker Diogenes:411 καλῶς ὁ Διογένης ἔλεγε πολὺ κρεῖττον εἶναι ἐς κόρακας ἀπελθεῖν ἢ ἐς κόλακας, οἳ ζῶντας ἔτι τοὺς ἀγαθοὺς τῶν ἀνδρῶν κατεσθίουσι.412 [Diogenes hat schön gesagt, es sei viel besser, unter Raben zu fallen als unter Schmeichler, welche die guten Menschen verspeisen (d. h. an ihnen nagen), wenn sie noch leben.]
Nach dieser Berufung auf eine Episode aus der griechischen Literatur betritt ein bekannter redegewandter Schmeichler aus der römischen Komödie die Bühne: der wortreiche Gnatho aus Terenz’ Eunuchus (161 v. Chr. aufgeführt), der immer wieder zitiert wird. Dieser redete seinem Herrn, dem renommierenden Offizier Thraso stets nach dem Mund. Dagegen, heißt es bei Schoock, nähme er von der
405 suæ farinæ homines: ‚Menschen ihrer Art‘ / ‚ihres Schlages‘, wie Pers. 5, 115 nostrae farinae (Georges: ‚unseres Schlages‘, weitere Belege: Tosi 1991, S. 50–51; ▸ auch Lefèvre 2017, S. 161 Anm. 12). 406 Typische Komödienszene: etwa Mysis (Magd) und Lesbia (Hebamme) in Terenz’ Andria III 1. 407 D. h. wohl, sie pflegen allgemein übertrieben / phantasievoll zu berichten. 408 Auf die Schmeichler hat es auch wenig später Balde in der Expeditio abgesehen: Lefèvre 2017, S. 36. 409 Græculus ist in freundlicher (leicht ironischer) Weise abwertend. 410 Deipnosophist. 6, 254c. 411 Hinweis von Klaus Döring. 412 Olson 2008, S. 168 / 169 Anm. bemerkt zu den ‚Raben‘: “the point […] is that ravens were notorious for feeding on dead bodies”. κατεσθίουσι: ein verwandtes Bild im Deutschen: ‚vernaschen‘.
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Toga eines Schwerhörigen keine Faser, d. h. beachtete er ihn gar nicht, weil er von diesem nicht einen festen Kontrakt erwarten kann (wie Gnatho ihn gewissermaßen bei Terenz von Thraso hatte), denn (darin liegt die Pointe) der Schwerhörige könnte seine Schmeichelreden – auch wenn sie mit lautem Getöse vorgetragen werden – nicht hören! à cujus toga floccos non eximet Gnatho; zugrunde liegt die lateinische Redensart non flocci facere / non flocci pendere u. ä.: ‚sich nicht darum kümmern‘.413 Bei Terenz ist es Thraso selbst, der diese Phrase gebraucht: ego non flocci pendere (411). Von einem Menschen wie Gnatho droht dem Schwerhörigen also keine Gefahr. Dem Paar Thraso / Gnatho aus Terenz’ Eunuchus folgt mit dem namenlosen catillo, der wie Gnatho ein schmeichlerischer Parasit ist, und Marcus Dama, der wie Thraso ein zweifelhafter ‚Herr‘ ist, ein zweites Paar, für das der Satiriker Persius die Anregung gegeben hat. Jedenfalls ist Marcus Dama bei Pers. 5, 79 „das besonders eindrucksvolle Einzelbeispiel eines beliebigen liederlichen Sklaven“,414 der freigelassen wurde und sich nunmehr in verschiedener Hinsicht großkotzig aufspielt – wozu Schoocks Weiterführung, daß er für Schmeichelreden empfänglich ist, gut paßt. Der ihm zugeordnete parasitenhafte Tellerlecker415 versteht sich aufs Schmeicheln, wie vorgeführt wird. Die kursiv gesetzte Passage bezeichnet nicht ein Zitat, sondern eine direkte Rede, die stilistisch hochgestochen ist: Alle bewunderten Dama wie einen vom Himmel Gefallenen, wenn er in seiner Toga von zweimal drei Ellen einherschreite, alle zeigten mit dem Finger auf ihn. Das sind in geballter Folge drei anspruchsvolle Wendungen – zunächst eine, mit der bereits Cicero hochgreift, wenn er an seinen Bruder Quintus, der 51 v. Chr. Statthalter von Kilikien wurde, schreibt: nam Graeci quidem sic te ita viventem intuebuntur, ut quendam ex annalium memoria aut etiam de caelo divinum hominem esse in provinciam delapsum putent. [Denn die Griechen werden gewiß, wenn du auf diese Weise lebst, so auf dich schauen, daß sie glauben, es sei jemand aus der Geschichte der Annalen oder gar ein Halbgott vom Himmel in ihre Provinz herabgeglitten.]
Es geht gewissermaßen um eine ‚göttliche‘ Sendung, wie etwa Vergil über Juno sagt: tum regina deum caelo delapsa [„dann glitt die Königin der Götter vom
413 Georges vergleicht s. v. floccus die deutsche Redensart ‚keinen Pfifferling gelten‘. 414 Kißel 1990, S. 652–653. 415 catillones appellabant antiqui gulosos (Festus p. 39); gulosus: ‚ein Schlemmer, der gern gute Bißchen esset‘ (Kirschius 1774, Sp. 461).
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Himmel herab“] (Aen. 7, 620).416 Die folgende Charakterisierung, Dama schreite öffentlich in einer Toga von zweimal drei Ellen (cum bis trium417 ulnarum toga) ist eine treffliche Aufnahme von Hor. Epod. 4, 8 cum bis trium ulnarum toga, wo „die toga des von Horaz verspotteten Freigelassenen [!] 12 Fuss Weite bei vielleicht 14 Fuss Länge hat“.418 Denn die „‚Sechsellentoga‘ – ulna oder cubitus = 45 Zentimeter – bezeichnet eine ungewöhnliche Weite und dadurch bedingten reicheren Faltenwurf der Toga: dadurch sucht der römische Stutzer aufzufallen“.419 Das dritte lumen dicendi – omnes te digito monstrare – ist Zitat einer exklusiven Wendung des Horaz, der berichtet, daß die Vorübergehenden mit dem Finger auf ihn, den berühmten Dichter, zeigten: monstror digito praetereuntium.420 Wahrlich ein gebildeter Schmeichler. Schließlich trägt er noch dicker auf: Alle bäten nicht nur für sich, sondern auch für Dama als ihren Vater.421 Ja, er habe am Vortag in einer Versammlung von Honoratioren erlebt, daß jemand fragte, wen der Staat nicht entbehren könne, und alle bei Dama begannen und bei Dama aufhörten: omnes à te incipere; & in te desinere. Hier wird abermals sehr hoch gegriffen. Der Schmeichler könnte sich auf ein eindrucksvolles Augustinus-Wort beziehen:422 cur, quaeso, domine deus meus? utcumque video, sed quomodo id eloquar nescio, nisi quia omne, quod esse incipit et esse desinit , tunc esse incipit et tunc desinit , quando debuisse incipere vel desinere in aeterna ratione cognoscitur, ubi nec incipit aliquid nec desinit. [Warum, ich bitte, Herr, mein Gott? Irgendwie sehe ich es, aber wie ich es aussprechen soll, weiß ich nicht, außer daß alles, was zu sein anfängt und zu sein aufhört, dann zu sein anfängt und dann zu sein aufhört, wenn, daß es anfangen bzw. aufhören mußte, in der ewigen Vernunft erkannt wird, wo weder etwas beginnt noch aufhört.]
Der Kontrast zwischen der Höhe des augustinischen Bekenntnisses und der kalten Berechnung der schmeichlerischen Rede verleiht dem Passus einen pointierten Reiz.
416 In der Widmung der Schrift Tractatus de Butyro gebraucht Schoock diese Wendung in Bezug auf den Widmungsempfänger, den jüngeren Otto von Schwerin (▸ S. 11 Anm. 37). 417 ter (statt trium) bei Schoock dürfte ein lapsus calami sein (wenn nicht der Drucker seine Lateinkenntnisse statt seine Horazkenntnisse aktivierte, denkend, auf ‚zweimal‘ müsse ‚dreimal‘ folgen). 418 Marquardt 1886, S. 555. 419 Kießling, Heinze 1930, S. 502. 420 Carm. 4, 3, 22. 421 omnes […] partem amorum suorum patri suo precari: Unter ihren Wünschen bildete das für Dama erbetene Gute einen (großen) Anteil, d. h. sie beteten nicht nur für sich. 422 Conf. 11, 8 (Hinweis von Felix Heinzer).
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Im folgenden wird mit dem Weisen eine neue Wertkategorie eingeführt, wenn es heißt, daß eine solche Rede, wie sie der Schmeichler gehalten hat, den sapiens nicht bewege. Das stellt die Argumentation auf eine breitere Grundlage. Denn es ist klar, daß der Weise, dem der weiße Zahn des Giftes423 vertraut ist, Schmeichler durchschaut. Doch wird der Schwerhörige nicht vergessen. Vielmehr ist evident, daß nunmehr gilt: Der Schwerhörige hat die Vorteile des Weisen, er steht gewissermaßen mit ihm auf einer Stufe. Dementsprechend ist es konsequent, daß der Abschnitt in einem Zitat des ‚weisen‘ Seneca gipfelt. Im weiteren Verlauf geht es unter verschiedenen Gesichtspunkten um die Glaubwürdigkeit von Reden. So wird gesagt, die Äußerung eines Lobenden sei angenehm, auch wenn sie nicht aufrichtig ist; sie könne aber durchaus bei Menschen wie Suffenus424 Glauben finden. Für einen Fürsten sei es immer [615] Gift, daß die Würdenträger (Hofleute) lieber mit seiner hohen Stellung sprechen wollen als mit ihm persönlich. Er selbst höre niemals die Wahrheit, und eher werde er durch einen gewaltigen Sturzbach von unzähligen425 Schwierigkeiten fortgerissen, als er bemerke, daß er im Elend ist. Das ist ein bedenkenswertes Argument. Es sei ein verständiger Zug der Antike gewesen, fährt Schoock fort, bei schwierigen Verhandlungen lieber mit Stimmtäfelchen abzustimmen und auf diese Weise zu vermeiden, in freien Diskussionen unangenehme Dinge zur Sprache zu bringen und empfindliche Ohren zu verletzen. Denn alle, die zum Gipfel einer höheren Macht aufblicken, pflegten sich an diese, wenn es um die freie Rede gehe, wie das Chamäleon an seine Umgebung, anzupassen und – ihr zu schmei-
423 Das Bild in Bezug auf die Farben ist vollständig bei Apul. Apol. 8 belegt: viperae ritu n i ve o denticulo atrum venenum inspirare. Schoocks Formulierung könnte direkt oder indirekt auf diese Stelle zurückgehen, da aspirare und inspirare beidemal dieselbe Bedeutung haben. p. 617 ist von nigri calumniæ dentes die Rede (▸ daselbst). Der niveus dens (p. 614) ist also nur scheinbar weiß. 424 Ob eine Anspielung auf eine bestimmte Person vorliegt, ist unklar. Suffenus ist bei Catull 22 ein schlechter Dichter, der nie so glücklich ist, als wenn er ein Gedicht schreibt und der eigenen Leichtgläubigkeit verfällt. Denn es heißt, so freue er sich über sich und bewundere sich selbst (tam gaudet in se tamque se ipse miratur, 17). gaudet in se: “is delighted with himself” (Fordyce 1961, S. 151). Vergleichbar ist die Leichtgläubigkeit gegenüber dem Lob auf die eigene Person von Schoocks Suffenus, so daß der gebildete Humanist an den Neoteriker gedacht haben mag – zumal dieser mit der Sentenz schließt: suus cuique attributus est error; | sed non videmus, manticae quod in tergo est [„Jedem ist sein eigenes Irren verliehen; aber wir sehen nicht, welcher Teil vom Mantelsack uns auf dem Rücken ist / hängt“], nach einer alten äsopischen Fabel: ▸ Lefèvre 2020, S. 126 Anm. 82 zu Balde, Sol. pod. Occ.). Natürlich kann auch eine auf Catull fußende Zwischenquelle vorliegen. 425 „sescenti bezeichnet häufig eine unbestimmte große Zahl wie Bacch. 1034. Men. 896. Ter. Phorm. 668“ (Brix 1888, S. 101 zu Plaut. Trin. 791).
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cheln. Das ist natürlich eine sehr einfache Antithese, die darauf hinausläuft, daß es die Schwerhörigen besser haben, weil ihnen – wegen der Ohren – nicht geschmeichelt werden kann.426 Mit ihnen wird gewöhnlich schriftlich verhandelt – so daß schließlich zu folgern ist, der Schwerhörige erlange größere Wohltaten als viele Könige, von denen etliche leichthin urteilende Menschen glauben, sie überträfen jede Glücksstellung! Nach der Berufung auf die Stimmtäfelchen der Antike werden zwei weitere antike Zeugnisse als Beweis angeführt, zunächst der Umstand, daß der Kaiser Commodus427 in seiner Jugend dadurch ins Verderben geführt worden sei, daß ihn schmeichelnde Tischgenossen und Erfinder obszöner Lustbarkeiten in den Himmel hoben. Das ist nach Herodian erzählt, einem Historiker um die Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert, der in acht Büchern die römische Geschichte von Mark Aurels Tod bis zur Thronbesteigung Gordians III. – also von 180 bis 238 – dargestellt hat. Zu der Verführung des jungen Commodus (Kaiser 186–192) durch schmeichlerische Hofleute heißt es 1, 6: παρεισδύντες δέ τινες τῶν ἐπὶ τῆς αὐλῆς οἰκετῶν διαφθείρειν ἐπειρῶντο νέου ἦθος βασιλέως, ὅσοι τε κόλακες τραπέζης καὶ τὸ εὔδαιμον γαστρὶ καὶ τοῖς αἰσχίστοις μετροῦσιν. [Aber einige der am Hof Dienenden machten sich heimlich heran und versuchten den Charakter des jungen Kaisers zu verderben, soweit sie Schmeichler an der Tafel waren und solche, die ihr Glück nach dem Magen und den unanständigsten Dingen bemessen.]
Schoock könnte Herodian nicht selbst nachgeschlagen haben, sondern einer lateinischen Übersetzung gefolgt sein. Eine solche ist möglicherweise noch faßbar:428 quippe mensarii adulatores, qui ventre atque obscænis voluptatibus felicitatem metiebantur, identidem illum urbis deliciarum admonebant.
Der Abschnitt über die Schmeichler wird mit einem Zitat jener großen Zierde der Stoa, Seneca (magnum illud porticus decus Seneca), geschlossen. Der habe seinem Lucilius429 eingetrichtert (inculcare ist ein fast derbes Wort), [616] keine
426 cera durior: Anspielung auf das Wachs, mit dem Ulixes seine Ohren vor dem Gesang der Sirenen schützte; auch von Seneca in dem weiter unten folgenden Zitat gebraucht (▸ daselbst). Sonst spricht Schoock von saburra = ‚Sand‘ / ‚Ballast‘ (▸ Anm. 280). 427 161 geb. als Sohn Mark Aurels; römischer Kaiser 180–192. 428 Fuhrmann 1736, S. 599. 429 Lucilius ist der Empfänger der Epistulae des jüngeren Seneca sowie der Widmungsempfänger seiner Naturales quaestiones und der Schrift De providentia, Lukillios (Lucillius) ein zeitge-
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Art Lebewesen / Menschen sei verderblicher als die Jasager, die Liebediener (assentatores). Er rate ihm, die Ohren zu verstopfen und das verborgene Gift der Zunge zu beargwöhnen. Schoock zitiert Seneca nahezu wörtlich, bei dem es heißt:430 sapiens eris, si cluseris aures, quibus ceram parum est obdere: firmiore spissamento opus est quam in sociis usum Ulixem ferunt. illa vox quae timebatur erat blanda, non tamen publica: at haec quae timenda est non ex uno scopulo sed ex omni terrarum parte circumsonat. […] surdum te amantissimis tuis præsta. [Du wirst weise sein, wenn du die Ohren verschließt, für die es zu wenig ist, sie mit Wachs zu verstopfen: Ein festerer Propf ist notwendig, als ihn, wie man sagt, Ulixes bei seinen Gefährten benutzt hat. Jene Stimme, die gefürchtet wurde, war schmeichelnd, nicht jedoch öffentlich verbreitet: Aber diese, die zu fürchten ist, tönt nicht von einem Felsen, sondern ringsum von jedem Teil des Erdkreises […]. Erweise dich schwerhörig (auch) deinen Lieb sten (gegenüber).]
Das ist die persönliche Ansicht eines der angesehensten antiken Weisheitslehrer, nicht, wie so oft, eine nur in sachlicher Hinsicht interessante Quelle.431 Mit ihr schließt Schoock die Reflexion über die Schmeichler, deren Nichtbeachtung einen bedeutenden Vorteil der Schwerhörigen evident machen soll, mit größtmöglichem Gewicht – gewissermaßen ein Volltreffer.
13. Schutz vor Verleumdern und Delatoren Nach den Schwätzern und Schmeichlern kommen die Verleumder und Delatoren in den Blick. Den Verleumdern sind alle ausgeliefert. Es ist der Weise, der wünscht, daß die Ohren ihnen gegenüber verschlossen seien.432 Aber nur wenige, selbst unter den Fürsten, erreichen das. Den Schwerhörigen hingegen wird das wie ein sel-
nössischer griechischer Epigrammatiker, der in Rom lebte. Die Schreibweise beider wurde oft verwechselt. 430 Epist. 31, 2. Schoocks Text weicht vom Originalwortlaut leicht ab, was teilweise auf die benutzte zeitgenössische Ausgabe zurückgehen kann; die hier zitierte Version ist die von Reynolds (Oxford 1965). 431 Das in diesem Zusammenhang evidente Ulixes-Thema hat Schoock bereits selbst als Zeugnis verwendet: ▸ p. 606–607. 432 ubi (am Anfang des Abschnitts) hat ‚kausale Färbung‘ (Kühner / Stegmann: Satzlehre § 208, Abs. 8 Anm. 1).
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C. Interpretation
tenes Geschenk zugestanden. In ihrem Fall unterlassen es die Verleumder, ihre mit Nattern und Schlangen – den Symbolen der Falschheit – ausgestattete Zunge zu spitzen (auch die Nattern und Schlangen haben eine spitze Zunge). Die Verleumder werden, wie es stark ironisch heißt, von einer allzu hochfahrenden Weisheit geleitet. Umgekehrt sind die Schwerhörigen nicht nur von diesen unberührt, sondern sie wissen sogar – der ironisch-übertriebene Ton wird fortgesetzt – durch die Wohltat der mangelnden Hörfähigkeit, die das Volk für das größte Kreuz und Elend hält, die Irrtümer selbst der Fürsten zu berichtigen, jedenfalls derjenigen, die durch Verleumder verleitet wurden, Unrechtes zu tun. Die Einflüsterer werden Spitzmäuse genannt. Das ist eine exquisite Metapher. Eine Spitzmaus verrät sich durch ihr Pfeifen wie bei Terenz Eun. 1024 egomet meo indicio miser quasi sorex hodie perii [„ich Armer bin heute wie eine Spitzmaus durch meine eigene Anzeige (d. h. durch mein eigenes verräterisches Betragen) verloren“]. Das ist nach Donat z. St. sprichwörtlich: proverbium in eos, qui ipsi se produnt, quia sorex non facile caperetur, nisi emitteret vocem noctu.433 Auf dieses Pfeifen kommt es an.434 Schoock gebraucht das alte Bild für die Hofleute, die bei den Fürsten andere verleumden – gewissermaßen als ‚Wühlmäuse‘ andere ‚verpfeifen‘.435 Das wird an einem Beispiel ‚bewiesen‘, an Heliogabal, der 218–222 römischer Kaiser war.436 Er wird ein großes Monster an Lastern, Schwiele437 und
433 Otto 1890, S. 328–329. 434 Plin. Nat. 8, 223 berichtet: sauricum occentu dirimi auspicia annales refertos habemus [„wir haben die Annalen voll (von Nachrichten), daß durch das Pfeifen von Spitzmäusen die Auspizien verhindert wurden“]. 435 In diesem Sinn begegnet das Bild in der Epitome de Caesaribus aus dem Liber de Caesaribus des Aurelius Victor 41, 10 über Konstantin I.: spadonum et aulicorum omnium vehemens domitor tineas soricesque palatii eos appellans [„er beherrschte streng alle Verschnittenen und Höflinge und nannte sie Würmer / Motten und Wühlmäuse des Palastes“). tinea(e) scheint bei Schoock p. 617 auf (▸ daselbst). 436 Es genügt, an die erfrischende Charakteristik des schwachen Herrschers von Alfred Heuß zu erinnern: „Der neue Kaiser […] war indessen eine unmögliche Erscheinung. Nach dem Gotte, dessen Priester er in Emesa gewesen war, nannte er sich Elagabal. Die Politik lag ihm gänzlich fern; von den Aufgaben eines römischen Kaisers hatte er erst recht keine Ahnung. Er wollte in seiner neuen Stellung lediglich das weiter betreiben, was er bis dahin getan hatte. So erlebte die Welt die Groteske, daß der römische Kaiser in Rom mit einem Fetisch einzog und seine Kaiserwürde in der Durchführung seines exotischen Priesteramtes mit all seiner orientalischen Fremdartigkeit bewährte. Soweit regiert wurde, machte das die Großmutter“ (1960, S. 352). 437 vibex und macula sind übertragen gebraucht. vibex / vibix: ‚Strieme / Schwiele‘, kann wörtliche und übertragene Bedeutung haben wie Pers. 4, 49 (Kißel 1990, S. 562: „Ob man vibices, eigentlich die durch äußere Gewalteinwirkung wie Reiben, Stoßen, Schlagen auf dem Körper entstehenden Verletzungen […] eher wörtlich oder – wie sonst etwa auch cicatrices – lieber metaphorisch verstehen will, bleibt letztlich unerheblich“); Festus p. 507 erklärt: vibices: plagae
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Befleckung des Reiches genannt. Er nun habe sich von Verleumdern bestimmen und gegen Fabius Sabinus, den bedeutendsten Rechtsgelehrten seiner Zeit (über den mitgeteilt wird, daß ihm Ulpian438 51 Bücher gewidmet habe), aufstacheln lassen und ihn zum Tod verurteilt. Doch nimmt das Geschehen eine überraschende Wendung: Der Zenturio, dem der Kaiser die Hinrichtung übertragen hatte, war schwerhörig und verstand, Fabius sei in das Exil zu verbannen. Es kamen zwei Dinge zusammen: der Umstand, daß der Kaiser allzu (nach)lässig439 den Befehl erteilte, und die Schwerhörigkeit des Zenturio. Schoocks Quelle für Fabius Sabinus ist die Heliogabal-Vita in der Historia Augusta:440 Sabinum consularem virum, ad quem libros Ulpianus scripsit, quod in urbe remansisset, vocato centurione mollioribus verbis iussit occidi. sed centurio aure surdiori imperari sibi credidit, ut urbe pelleretur, itaque fecit. sic vitium centurionis Sabino saluti fuit. [Weil der Konsular Sabinus, dem Ulpian Bücher gewidmet hat, in der Stadt geblieben war, rief er (Heliogabal) einen Zenturio herbei und befahl ihm mit ziemlich laschen / lässigen Worten, daß er getötet werde. Aber der Zenturio, der etwas schwerhörig war, glaubte, ihm werde befohlen, daß (jen)er aus Rom verbannt werde, und handelte dementsprechend. So gereichte das Gebrechen eines Zenturio Sabinus zum Heil.]
Schoock hat die knappe Notiz der Historia Augusta441 pointiert ausgestaltet. Hinzugefügt hat er die Zahl 51 für die von Ulpian Heliogabal gewidmeten Bücher – vielleicht einer anderen Quelle folgend.
verberum in corpore humano, dictae quod vi fiunt. Auch macula [‚Fleck‘ / ‚Schandfleck‘] hat wörtliche und (wie bei Terenz Ad. 954) übertragene Bedeutung. Beide Bilder gehen von Beeinträchtigungen / Verletzungen der Haut aus. So verletzte, meint Schoock, Elagabal den Körper des Römischen Reiches. 438 Domitius Ulpianus, bedeutender römischer Jurist aus Tyros, um die Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert (wohl 223 ermordet); von seinem reichen Schrifttum ist kein Werk vollständig erhalten. 439 mollioribus præ libidine verbis uti solitus: Das heißt wohl, daß es ihm Spaß machte, wichtige Dinge, auch wenn sie harten Inhalts waren, lässig / ganz nebenbei / mit leiserer Stimme auszusprechen – eine schlimme Kritik. 440 16, 2–3, hier zitiert nach der Ausgabe von Ernst Hohl (Bd. 1. Leipzig 1955), der zu der Nachricht, daß Ulpian Sabinus Bücher gewidmet habe, von ‚ineptiae‘ spricht und auf Dessau 1892, S. 578 verweist. Dieser Sabinus hat mit dem bekannten Fabius Sabinus jedoch nichts zu tun. Zu diesem bemerkt Arthur Stein: In: Realencyclopädie. Bd. VI / 2 (1909), Sp. 1867 (Fabius Nr. 142): „Fabius Sabinus, wird als der Cato seiner Zeit gerühmt; er wurde vom Kaiser Severus Alexander in das consilium principis berufen. Hist. aug. Alex. 68, 1; er wird als Sohn eines insignis vir bezeichnet. Mit dem Consular Sabinus, der unter Elagabal im Jahr 222 n. Chr. getötet werden sollte (Hist. aug. Elag. 16, 2. 3), hat er, wie es scheint, nichts zu schaffen.“ 441 Noch knapper wird sie in Zwingers Katalog erwähnt (▸ S. 30). Der dort genannte (Aelius)
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[617] Der paradoxe Vorgang wird überraschend, der Thematik der Schrift entsprechend, in höherem Sinn gedeutet. Er sei nicht, wie man annehmen könnte, zufällig geschehen; denn wenn man in Rechnung stelle, daß die Gesinnung der Schwerhörigen wegen der geschlossenen Türen ihrer Ohren gegen die schwarzen Zähne442 der Verleumdung gefestigt sind, werde man erkennen, daß nicht der Zufall in einem Einzelgeschehen, sondern eben die Schwerhörigkeit allgemein die (positive) Ursache dieses Vorfalls gewesen sei. Für diese zugespitzte Argumentation wird der ‚ideale‘ König David,443 der Mann nach Gottes Sinn, bemüht, der seufzend ausgerufen habe: „Herr, befreie meine Seele von ungerechten Lippen und ränkevoller Zunge!“ In der Vulgata heißt es: Domine, libera animam meam a labiis iniquis, et lingua dolosa444 [„Herr, errette meine Seele von den Lügenmäulern, von den falschen Zungen“, Luther]. Die Schwerhörigen sind aber durch ein himmlisches Geschenk vor der lingua dolosa sicher und kennen daher Verleumdungen – fast (fere) – nicht. Daß Fabius Sabinus mit dem Leben davonkam, ist also ein Verdienst der Schwerhörigkeit! Ja, der Preis ist noch nicht zu Ende. Denn es heißt, die Schwerhörigen betrieben weder Schauspielerei445 noch nähmen sie Catos446 Rolle an, so daß sie nicht wie offenbare Verleumder und ‚Viertelerschleicher‘ / Denunzianten447 öffentlichem Abscheu begegnen. Das ist eine Beweisführung, in der Haltbarkeit und Unhaltbarkeit der Argumente – bewußt – eine wundersame Verbindung eingehen.448
Spartianus ist der Verfasser der Heliogabal-Vita in der Historia Augusta (▸ zu diesem Schanz 1914, S. 54–55). 442 nigros calumniæ dentes: ▸ zu niveo illo dente (p. 614). Mit übertragenen Eigenschaften des Zahns wurde gern gespielt. Vergleichbar sind bei Horaz Sat. 2, 6, 87 dente superbo (von der Mäkelei der Stadtmaus beim Essen) oder Epist. 1, 18, 82 dente Theonino (von der Schmähsucht des Theon). 443 Rex ad unguem factus: ▸ zu ad unguem factus orator (p. 621). 444 Ps 119, 2 (= 120, 2 der Lutherbibel). 445 D. h. sie verstellen sich nicht und erheben keine unzutreffenden Anklagen oder Verleumdungen. 446 Wohl der jüngere Cato, M. Porcius Cato Uticensus (95–46), des Cato Censorius Urenkel, das Inbild für unerbittliche Sittenstrenge einer vergangenen Zeit. Hier ist gemeint, daß die Schwerhörigen sich nicht als Richter über andere aufspielen. 447 quadruplator ist ein exklusives Wort, das Schoock in dem von ihm verstandenen Sinn aus Plautus Persa 70 kennen konnte. Rau 2008, S. 243: ‚Denunziant‘; Georges: „der Angeber, der den vierten Teil von der Strafe od. vom Vermögen des Bezichtigten erhält, der Viertelerschleicher“; der zweite Bezug ist hier gemeint. 448 ▸ S. 38.
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War bisher allgemein von Verleumdern und Denunzianten die Rede, denen jedermann unterworfen sein konnte, kommt nun das üble Delatorenunwesen der frühen römischen Kaiserzeit in den Blick, über das besonders Tacitus in den Annales unterrichtet. Die Delatoren Romanius449 Hispo unter Tiberius und Vatinius unter Nero gehörten zu den übelsten Vertretern dieser Spezies. Schoock wählt sie offenbar wegen der pointierten taciteischen Porträts aus, denen er relativ eng folgt. Auch dieses trübe Kapitel wird an die Hauptthematik der Schrift angeschlossen, wenn es heißt, daß jene Delatoren, wenn Tiberius und Nero schwerhörig gewesen wären, keine Macht ausgeübt hätten. Ein überraschendes Räsonnement. Hispo und Vatinius werden nagende Würmer / Motten450 genannt, die den Redner noch heute mit Schaudern erfüllen, wenn er ihr Wirken bei den arglosen Ohren der Kaiser bedenkt. Zunächst heißt es über Hispo, er habe eine Lebensform gehabt, die später durch das Elend der Zeiten und die Dreistigkeit der Menschen berühmt geworden sei; denn obwohl ein armer Teufel und bedürftig, sei er mit heimlichem Geflüster an die Ohren des zu Grausamkeit neigenden Tiberius herangeschlichen und habe bald den angesehensten Männern Gefahr gebracht [618] und somit – indem er Einfluß bei dem einen, Haß bei allen erlangte – ein Beispiel gegeben: Die, welche diesem folgten, die aus Armen Reiche, aus Verachteten451 Furchtbare geworden waren, schufen anderen Schaden und schließlich sich selbst. Das ist, wie Schoock betont, nach dem ‚scharf urteilenden Autor‘ (acer scriptor) Tacitus gesagt:452 qui formam vitae iniit, quam postea celebrem miseriae temporum et audaciae hominum fecerunt. nam egens ignotus inquies, dum occultis libellis saevitiae principis adrepit, mox clarissimo cuique periculum facessit, potentiam apud unum, odium apud omnis adeptus dedit exemplum, quod secuti, ex pauperibus divites, ex contemptis metuendi, perniciem aliis ac postremum sibi invenere. [Der begann eine Lebensform, die später das Elend der Zeiten und die Dreistigkeiten der Menschen häufig machten. Denn, ein armer Teufel, von niederer Herkunft, ein unruhiger Geist, gewann er, während er sich mit heimlichen Denunziationen an die Grausamkeit des Kaisers heranschlich und bald gerade den ausgezeichnetsten Männern Gefahr / Anklage brachte, Einfluß bei dem einen, Haß bei allen und gab ein Beispiel: Die, welche diesem folgten, aus Armen Reiche, aus Verachteten Furchtbare (geworden), schufen anderen Verderben und schließlich sich (selbst).]
449 So wahrscheinlich die korrekte Form. 450 tinea(e): ▸ oben Anm. 187 zu sorex. 451 ex contemtu ist notfalls verständlich, richtiger ist vielleicht ex contem(p)tis wie bei Tacitus. 452 Ann. 1, 74, 1–2.
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C. Interpretation
Besonders der letzte Satz des acer scriptor Tacitus hatte es dem acer scriptor Schoockius angetan. Sodann wendet sich die Erzählung Vatinius zu, der zu den schändlichsten Scheusalen des Nero-Hofes gehörte, der Zögling einer Schusterbude, mit verkrüppeltem Körper, von possenhaften Witzen, der zuerst Verleumdungen unterworfen war, später aber durch die Verdächtigung gerade der Besten so viel vermochte, daß er an Einfluß, an Geld, sogar an schädlicher Gewalt die Schlechten / Niederträchtigen übertraf. Das ist ebenfalls – nahezu wörtlich – nach Tacitus berichtet:453 Vatinius inter foedissima eius aulae ostenta fuit, sutrinae tabernae alumnus, corpore detorto, facetiis scurrilibus; primo in contumelias adsumptus, dehinc optimi cuiusque criminatione eo usque valuit, ut gratia pecunia vi nocendi etiam malos praemineret. [Vatinius war unter den schlimmsten Ungeheuern des Hofes, Zögling eines Schusterladens, mit verkrüppeltem Körper, von possenhaften Witzen; zunächst Schmähungen ausgeliefert, vermochte er darauf durch Verleumdung gerade der Besten soviel, daß er an Einfluß, Geld (und) Macht, (anderen) zu schaden, sogar die Niederträchtigen übertraf.]
Wieder hat der acer scriptor mit seinen geschliffenen Formulierungen Schoock in Bann geschlagen.
14. Überhören erstrebenswert Es wird resumiert: Um sehr viele berühmte Männer wäre es nicht geschehen gewesen, wenn sie den pessimi homines gegenüber keine Ohren gehabt oder diese gegen sie verschlossen hätten. Die letzte Feststellung wird nunmehr weiterverfolgt, indem das bewußte Verschließen der Ohren in den Blick kommt – was die Schwerhörigen nicht nötig haben. Dieser Übergang ist ein Musterbeispiel für das Gleiten der Argumentation, die die Hörer bzw. Leser unmerklich zu einem neuen Punkt führt. Drei Beispiele für das erstrebenswerte Überhören der Reden anderer werden vorgeführt: Der ältere Cato, Cicero und der griechische Mathematiker Archimedes.
453 Ann. 15, 34, 2.
14. Überhören erstrebenswert
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Cato maior Es ist eine der Ruhmestaten des großen Cato, heißt es, daß er, als er von jemandem sehr stark beschimpft wurde und der Betreffende daraufhin Abbitte leistete, sagte, er habe das gar nicht wahrgenommen. Cato hatte das einfach überhört, d. h. ignoriert. Für diese Haltung wird er als Socrates Romanus gepriesen, der nach langdauernder Übung das erreicht habe, was einem Schwerhörigen dauerhaft zur Verfügung stehe. Diese Erzählung geht letztlich auf Seneca zurück, der De ira 2, 32, 2 berichtet:454 M. Catonem ignorans in balineo quidam percussit imprudens; quis enim illi sciens faceret iniuriam? postea satis facienti Cato, ‚non memini‘ inquit ‚me percussum‘. melius putavit non agnoscere quam vindicare. ‚nihil‘ inquis ‚illi post tantam petulantiam mali factum est?‘ immo multum boni: coepit Catonem nosse. magni animi est iniurias despicere; ultionis contumeliosissimum genus est non esse visum dignum ex quo peteretur ultio.455 [Jemand versetzte im Bad Marcus Cato, den er nicht (er)kannte, unachtsam einen Schlag – denn wer täte jenem wissentlich Unrecht? Als der danach Abbitte tat, sagte Cato: „Ich kann mich nicht erinnern, daß ich gestoßen worden bin.“ Er hielt es für besser, (die Tat) zu ignorieren als sie zu strafen. „Nichts, fragst du, geschah diesem nach so großer Frechheit?“ Im Gegenteil viel Gutes: Er begann, Cato kennenzulernen / zu verstehen. Es ist Zeichen eines großen Geistes, Beleidigungen zu verachten; die schmählichste Form der Bestrafung ist es, wenn jemand nicht würdig erschienen ist, daß an ihm eine Bestrafung vollzogen würde.]
Diese eindrucksvolle Begebenheit wurde in der Humanistenzeit öfter erzählt, und zwar übereinstimmend, nur mit leichter Variation, wie sie auch bei Schoock erkennbar ist.456 Catos Antwort non hercules / hercle animadverteram (statt non
454 Hinweis von Eckart Olshausen. 455 Eine Variation begegnet in der Schrift De constantia sapientis 14, 3: ‚at sapiens colapho percussus quid faciet?‘ quod Cato, cum illi os percussum esset: non excanduit, non vindicavit iniuriam, ne remisit quidem, sed factam negavit; maiore animo non agnovit quam ignovisset [„Was wird aber der Weise tun, wenn er von einem Faustschlag getroffen wird? Das, was Cato tat, als ihm (in) das Gesicht geschlagen wurde: Nicht geriet er in Zorn, nicht strafte er das Unrecht, nicht einmal erlaubte (verzieh) er es, sondern ignorierte, daß es geschehen sei; in größerer Gesinnung erkannte er es nicht an, als wenn er es verziehen hätte“]. 456 So etwa Justus Lipsius in der De Calumnia Oratio: M. Cato, Ro m a n u s i l l e S o c ra te s, in os percussus à quodam, cùm idem satisfaceret deinde & deprecaretur: Non hercules, inquit, animadverteram. O eximium & supra viros virum? qui altius meliusque putavit non agnovisse injuriam, quàm ignoravisse (Lipsius 1675, S. 541, Sperrungen ad hoc). Weitere Beispiele: Ludovicus Camerarius 1624, S. 5; Beyerlinck 1631. Bd. 1, S. 55–57 (wo Lipsius’ Rede abgedruckt ist, s. v. calumnia). Auch in Sachtexte fand der beispielhafte Vorfall Eingang: M. Cato, Ro m a n u s i l l e S o c ra te s, qui etiam in os percussus à quodam, cum idem facinus deprecaretur & satisfactionem offerret,
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C. Interpretation
memini) sowie das Prädikat M. Cato Romanus ille Socrates weisen darauf hin, daß die neulateinischen Fassungen zusammenhängen. Es ist wichtig, die Geschichte bis auf Seneca zurückzuverfolgen, weil auch sie das Bestreben der Humanisten zeigt, die von ihnen geschilderten Begebenheiten der antiken Überlieferung zu entnehmen und der eigenen Argumentation dienstbar zu machen: Sie stehen bewußt auf den Schultern der Alten. Mit der Cato-Anekdote kommt ein neues Privileg des surdus zur Sprache, der sich Schmähungen gegenüber nicht mehr als ein Stein bewegt. Ihm steht das von Natur aus zur Verfügung, was Cato – der römische Sokrates – aufgrund hoher ethischer Gesinnung erreicht hat. Diese Schlußfolgerung zeigt erneut, daß das Encomium surditatis immer wieder einen leicht ironischen Ton hat, ohne der Beweisführung den Boden zu entziehen. Die Argumentation wird weitergeführt. Der Schwerhörige freue sich niemals, wenn die Besten geschmäht werden, auch gehöre er nicht zu den Ohrenbläsern,457 d. h., er stimmt nicht in die Spottlieder der Lästerer aktiv mit ein. Er nimmt lasterhafte und üble Worte immer gut auf, weil er sie nicht hören – geschweige verstehen kann. Jemand, der nicht solche Geduld aufzubringen gewohnt ist, dürfte freilich meinen, [619] es sei schwer, wie der Marpesische Fels den Scheltreden eines jeden ausgeliefert zu sein und sie nicht ungeschehen machen zu können.458 Das ist eine Anspielung auf eine der berühmtesten Stellen in Vergils Aeneis: Bei der Wanderung durch die Unterwelt begegnet Aeneas Dido, die nach seiner Abfahrt aus Karthago den Freitod gewählt hatte. Er spricht sie in bewegenden Worten unter Tränen an, doch sie heftet den Blick auf den Boden, und ihre Miene bleibt, als er zu sprechen beginnt, unbeweglich wie ein harter Stein oder der Marpesische Felsen: illa solo fixos oculos aversa tenebat | nec magis incepto vultum sermone movetur | quam si dura silex aut stet Marpesia cautes (6, 469–471).459 Der Vergleich ist treffend: Der surdus bleibt unbewegt wie Dido. Daß die Gründe unterschiedlich sind, ist nicht eine Schwäche der Argumention, sondern eine bewußte Pointe. Der Schwerhörige ist ungerührt gegenüber Scheltreden / Zänkereien,
Non hercules, respondit, anim ad ve r t e ram (Londorpius 1668, S. 369, Sperrungen ad hoc). Von den hier genannten Zeugnissen ist das des 1606 gestorbenen Lipsius das älteste. Vielleicht geht die übereinstimmende – gegenüber Seneca leicht abweichende – Formulierung auf ihn zurück. 457 susurro: ‚Flüsterer‘, ‚Ohrenbläser‘, spätlat.: Hieron. Epist. 108, 18; Augustin. Serm. 47, 12. 458 Hinsichtlich der Konstruktion dieses Satzes wird einem Vorschlag von Thorsten Burkard gefolgt. Jürgen Blänsdorf konjiziert si vor quis und übersetzt: „Aber dass es schwer erträglich sei, wenn jemand, der Duldsamkeit wenig unterworfen, meint, dass er wie ein Marpesischer Fels den Schmähungen jedes beliebigen ausgesetzt sei und sie nicht erwidern könne.“ 459 Marpessos: Berg auf der Insel Paros in der Ägäis, die für ihren Marmor berühmt war.
14. Überhören erstrebenswert
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die er nicht hört und die er demnach nicht zurückgeben kann. Während andere glauben, Vorwürfe, die verbal geäußert wurden, könnten nur verbal widerlegt werden, haben die surdi, die von Weisheit und Zucht geprägt sind, einen anderen Geist. Sie sind überzeugt, daß sie von den Vorwürfen nicht getroffen werden, sondern diese allein auf diejenigen zurückfallen, die sie erhoben haben.
Cicero Als weiteres Beispiel für einen Mann, der sich von (schlechten) Ratschlägen nicht beirren ließ, die gewissermaßen von ihm abprallten, wird Cicero vorgeführt, dem Freunde rieten, daß er seinen Beinamen ändere, weil die Konkurrenten ihn eben wegen seiner Neuheit / Ungewohntheit mit witzigen Einfällen verspotteten; dennoch hörte er nicht auf sie und begnügte sich damit, daß er versprach, den Namen Cicero leuchtender als den Namen der Catones, Catuli und Scauri zu machen. Der Rat beruht auf dem Umstand, daß das (vererbbare) Cognomen Cicero sich von cicer = ‚Kichererbse‘ ableitet, weil einer der Vorfahren eine Warze bzw. ein warzenähnliches Gebilde auf der Nase hatte. Das habe nach Meinung der Freunde lächerlich wirken können. Schoocks Erzählung dürfte auf Plutarchs Cicero-Vita 1 zurückgehen, in der es nach der Erwähnung, daß der Name Spöttereien hervorrief, heißt: Κικέρων […] τῶν φίλων αὐτὸν οἰομένων δεῖν, ὅτε πρῶτον ἀρχὴν μετῄει καὶ πολιτείας ἥπτετο, φυγεῖν τοὔνομα καὶ μεταθέσθαι, λέγεται νεανιευσάμενος εἰπεῖν, ὡς ἀγωνιεῖται τὸν Κικέρωνα τῶν Σκαύρων καὶ τῶν Κάτλων ἐνδοξότερον ἀποδεῖξαι. [Cicero […] soll, da seine Freunde, als er sich zuerst um ein Amt bewarb und die Politik in Angriff nahm, der Meinung waren, es sei nötig, den Namen (Cicero) zu meiden und zu ändern, in jugendlichem Übermut gesagt haben, daß er sich bemühen werde, den Namen Cicero berühmter als den der Scauri und Catuli zu erweisen.]
Eine wunderbare Anekdote, die in der Humanistenzeit bekannt war und variiert werden konnte, wie hier der Zusatz der Catones zu den Catuli und Scauri zeigt. Ihre Pointe liegt in der ursprünglichen Form darin, daß die Namen der Scauri und Catuli nicht weniger komisch wirken konnten als Cicero: Catulus bedeutet ‚Hündchen‘ und Scaurus ‚Klumpfuß‘.460 Bei dem weisen Cato, der p. 618 Socrates
460 Schon in der Antike wurde mit derlei gespielt. Bekannt ist der Passus Hor. Sat. 1, 3, 43–48 (▸ im einzelnen Kießling, Heinze 1921, S. 53). Das mußte zu Nachahmungen und Variationen herausfordern – gerade auch die scharfsinnigen Humanisten.
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C. Interpretation
Romanus genannt wird, mochte Schoock (oder seine Quelle) catus in der weniger erhabenen Bedeutung ‚pfiffig‘ / ‚verschmitzt‘ assoziieren. Schoock fährt fort, daß Weise (qui sapiunt) im allgemeinen nicht auf Scheltreden reagieren. Der Schwerhörige aber bemerke sie niemals. Dieser Umstand wird als ein Privileg (privilegium) bezeichnet,461 das jener große Schiedsrichter der Dinge (magnus ille rerum arbiter)462 den Schwerhörigen zugestanden habe, indem er das Gesetz erließ: Ne male dicito surdo [„Schmähe keinen Schwerhörigen!“]. Das wird ein Ehrfurcht gebietendes Gesetz, terribilis lex,463 genannt, das Moses gegeben worden sei. Es handelt sich um eine Anspielung auf 2 Mose 4, 11,464 wo es heißt: dixit Dominus ad eum [sc. Mosen]: quis fecit os hominis? aut quis fabricatus est mutum et surdum, videntem et caecum? nonne ego? [„Der Herr sprach zu ihm: Wer hat dem Menschen den Mund geschaffen? Oder wer hat den Stummen oder Tauben oder Sehenden oder Blinden gemacht? Habe ich’s nicht getan, der Herr?“, Luther]. Hierauf fügt der Redner an, Gott habe anderswo (alibi) den Schwerhörigen als Werk seiner Hände (opus manuum suorum) erklärt. Das könnte sich auf Psalm 93, 9 der Vulgata (= 94, 9 der Lutherbibel) beziehen: qui plantavit aurem, non audiet? aut qui finxit oculum, non considerat? [„Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören? Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen?“, Luther]. Die Schwerhörigen werden also als eine bewußte Schöpfung Gottes bezeichnet! Wer sie schmähe, müsse aus dem harten Geschlecht der Kyklopen sein. [620] Der Schöpfer Gott wird von dem Schöpfer Phidias abgehoben: Seine Werke stünden hoch über denen des athenischen Bildhauers, dessen vorzüglich gestaltete Ohren schon p. 603 / 604 erwähnt wurden. Nicht handele es sich bei den Ohren der Schwerhörigen um Fehler der versagenden Natur, sondern um ein Werk, das des Himmels und der Erde Schöpfer – er allein, Selbst (solus ille Ipse) –
461 In diesem Sinn nennt es Balde im Solatium podagricorum 2, 30 ein Privileg der Gichtkranken, daß sie keinen Kriegsdienst zu leisten brauchen. In der Synopsis trägt dieses Gedicht den Titel Privilegium Podagricorum in hostili expugnatione vrbium [„Das Privileg der Podagrakranken bei der Eroberung der Städte durch die Feinde“] (▸ Lefèvre 2020, S. 365–366). 462 rerum arbiter: antike Wendung, Petron. 98 deus quidam humanarum rerum arbiter (allgemein); Stat. Theb. 4, 752–753 deorum arbiter (von Jupiter); Tac. Ann. 2, 73 arbiter rerum (von Germanicus); später christlich für Gott gebraucht: Boethius, Cons. Phil. 4, c. 1, 22 rerum coruscus arbiter [„leuchtender Schiedsrichter der Dinge“], auch in der Neuzeit. 463 Die Qualifizierung terribilis lex wird noch gesteigert, indem gesagt wird, daß man bei ihr ‚schaudern‘ solle (exhorrescat). Es vermittelt sich der Eindruck, daß hier der Kern der Aussage des Surditatis encomium vorliegt. Zu dieser Stelle ▸ auch oben S. 45. 464 Hinweis von Felix Heinzer.
14. Überhören erstrebenswert
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geschaffen hat. Er habe die Ohren etlicher verschlossen, damit nicht des Geistes Unversehrtheit durch den Sand (Ballast) des Zeitalters, der in diese einzudringen pflege, gemindert werde. Ja, er habe sie verschlossen, damit dem Geist das Denkvermögen immer unverändert bleibe und die tiefen und der Ewigkeit geweihten Überlegungen weniger gestört würden. Das ist nicht mehr sanfte Ironie wie bisher, sondern geradezu ein Hymnus auf die Schwerhörigkeit, der Höhepunkt der Schrift, der den Gedanken nahelegen könnte, Schoock selbst sei den surdi (eher: surdastri) zuzuzählen.465
Archimedes Nach diesem argumentativen und emotionalen Aufschwung wird das Thema des Abschnitts wiederaufgenommen und der dritte Zeuge vorgeführt, Archimedes, der das beste Beispiel für das soeben Vorgetragene ist – einer der bedeutendsten Mathematiker der Antike (um 287–212 v. Chr.), der bei der Eroberung von Syrakus durch die Römer unter Marcellus von einem Soldaten getötet wurde. Schoock bemerkt zwar, die alte Erzählung sei kaum zu glauben, beruft sich aber trotzdem auf sie: Unter den Wehklagen der Sterbenden und dem Geheul der Frauen sei Archimedes so in vertieftem Nachdenken mit den geometrischen Figuren, die er in den Sand466 zeichnete, beschäftigt gewesen, daß er nicht eher die Eroberung der Stadt467 bemerkt habe, als bis ein besonders schnöder römischer Soldat gegen den Befehl seines Feldherrn ihm das Schwert an die Kehle setzte. Schoock kannte sicher die Darstellungen bei Cicero und Livius: quem enim ardorem studii censetis fuisse in Archimede, qui dum in pulvere quaedam describit attentius, ne patriam captam esse senserit?468 [Denn welche Glut zu forschen, glaubt ihr, sei in Archimedes gewesen, der, während er im Sand allzu aufmerksam einige Dinge (Figuren) zeichnete, nicht einmal bemerkte, daß seine Vaterstadt erobert war?]
465 ▸ S. 46. 466 pulvis: „der grüne Glasstaub, in dem die alten Mathematiker mit einem Stäbchen (radius) ihre mathematischen Figuren zeichneten“ (Georges). In den beiden zitierten Zeugnissen ist einfach der ‚Sand‘ gemeint. 467 corona: ▸ Kirschius 1774, Sp. 726 Vrbem corona cingere: ‚belagern‘. 468 Cic. De fin. 5, 50.
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C. Interpretation
cum multa irae, multa avaritiae foeda exempla ederentur, Archimeden memoriae proditum est in tanto tumultu, quantum captae urbis in discursus diripientium militum ciere poterat, intentum formis, quas in pulvere descripserat, ab ignaro milite quis esset interfectum.469 [Als viele gräßliche Beispiele von Rache, viele von Habgier geschahen, ist überliefert, daß Archimedes in dem so großen Tumult, wie ihn nur auf den Straßen einer eroberten Stadt das Hin- und Herrennen plündernder Soldaten erregen konnte, während er auf die Figuren konzentriert war, die er in den Sand gezeichnet hatte, von einem Soldaten, der nicht wußte, wer er sei, getötet wurde.]
In beiden Erzählungen war Archimedes’ ‚Weghören‘ infolge der Konzentration auf ein wissenschaftliches Problem zu finden. Während Cato und Cicero absichtlich ‚weghörten‘, ist das bei Archimedes eine Begleiterscheinung. Schoock argumentiert leicht ironisch / schalkhaft, denn natürlich wäre es für Archimedes ‚besser‘ gewesen, den tumultus zu beachten: Deshalb leitet er die Darstellung mit der Einschränkung ein: Fidem excedit quod de Archimede refertur. Trotzdem wird im Sinn der Thematik der ganzen Schrift die Folgerung gezogen, daß das, was Archimedes durch die seltene Übung seines durchgebildeten470 Geistes erreicht hatte, dem Schwerhörigen durch ein außerordentliches Geschenk gegeben sei. Er beschwere sich niemals über die schon vor Tag arbeitenden Schmiede noch suche er Rechtsanwälte auf, um zu erkunden, ob er einen Weber oder einen Wollekrempler, der seiner Studierstube471 zu nahe wohne, aus der Nachbarschaft hinauswerfen könne: Alle beliebigen Nachbarn dulde er und werde selbst mitten unter Hörnern und Trompeten nicht gestört. Das ist ein eindeutiges Lob, ein surditatis encomium. Es schließt mit einem Gleichnis, das vor der Skepsis bewahrt, die Schwerhörigkeit beeinträchtige die Betroffenen allzu sehr: Man sage, die Menschen, die bei den Katarakten des Nils wohnen, seien schwerhörig, weil der Nil sich kopfüber stürze und durch sein Krachen ihnen das Gehör raube.472 Doch seien sie fähig, miteinander zu unterhandeln und sich gegenseitig zu verstehen, weil sie durch Gewöhnung [621] alle jene Nachteile überwunden haben, die ein hartes Gehör offensichtlich mit sich zu bringen
469 Liv. 25, 31, 9. 470 subactus: ‚durchgebildet‘, ‚geübt‘, nach Cic. De orat. 2, 131 subacto ingenio („tüchtig bearbeitet, nach einer vom Ackerbau entlehnten Metapher“: Piderit, Harnecker 1889, S. 277). 471 museum: „museum, scil. aedificium, ein Ort den Musen i. e. den Studien oder der Gelehrsamkeit geweiht […] Studierstube“ (Scheller 1804, Sp. 6554). 472 Die betreffende Information konnte man etwa bei Cicero (Somnium Scipionis 19) oder Plinius (Nat. 6, 181) finden. In anderem Sinn verweist auch Seneca, Epist. 56, 3 auf diese Geschichte.
15. ‚Hören‘ mit Gesten
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scheine: Die surdi verstehen mehr, als man allgemein glaubt. Sie versuchen aktiv, gegen ihre Beeinträchtigung anzugehen.
15. ‚Hören‘ mit Gesten In assoziativer Verknüpfung wird ausgeführt, wie sich die surdi verständigen können. Es scheine, so heißt es, ein großer Nachteil zu sein, wenn man nicht angesprochen werde und die Gespräche der anderen nicht verstehen könne. Dem wird entgegengehalten, daß der Schwerhörige aus Wink und Geste (ex nutu & gestu) ebensoviel zu erschließen vermöge, wie es sonst die Sprache, die animi interpres, vermittele. Es folgt ein paradoxes Beispiel. Als Kaiser Hadrian etwas schwerhörig geworden sei, habe er sich mit Hilfe eines Fingers, den er in ein Ohr steckte, beholfen.473 Hier liegt hinsichtlich der Person ein Irrtum vor. Über eine kleine oder große Schwerhörigkeit Hadrians ist nichts bekannt.474 Schoock (bzw. seine Quelle) könnte an eine Stelle in Galens Schrift Περὶ χρείας μορίων gedacht haben. Dieses Werk lasen die Humanisten überwiegend in lateinischer Übersetzung: De usu partium corporis humani [‚Über den Nutzen der Teile des menschlichen Körpers‘]. Dort475 heißt es 11, 12: Cujus rei Hadrianus Romanorum consul testis est locupletissimus, qui, quum sensum hunc læsum haberet, manus cavas, quo audiret facilius, a posterioribus ad anteriora spectantes auribus obtendebat (im Original: Ἀριανὸς / Ἀδριανὸς οὗτος ὁ τῶν Ῥωμαίων ὕπατος, ἐπειδὴ ἐβέβλαπτο τὴν αἴσθησιν ταύτην, παρατείνων τοῖς ὠσὶν ἐξόπισθεν εἰς τὰ πρόσω νενευκυίας κοίλας τὰς χείρας ὑπὲρ τοῦ ῥᾷον ἀκούειν).476 Bei Galen ist Ἀριανός und Ἀδριανός
473 Diese Methode fällt unter gestus (Georges: „die Bewegung der Hände“). 474 Wie der Kenner der Krankheiten Hadrians, Jörg Fündling, mitteilt, kommt die Nachricht „aus dem gängigen Quellenrepertoire zu Hadrian in keinem Fall, auch die biographischen Standardwerke kennen sie nicht – die Rede ist immer nur von Hadrians jahrelanger Krankheit am Lebensende und der letztendlich tödlichen ‚Hydropsie‘.“ 475 Jedenfalls in derjenigen Fassung, die in der Ausgabe von Kühn (▸ Literaturverzeichnis) abgedruckt ist. 476 Hadrian hielt danach die gewölbten Handflächen hinter die Ohren, damit sie die Töne verstärken – wie es Hörgeschädigte auch heute noch tun. Das hätte Schoock mit dem Stecken eines Fingers in ein Ohr modifiziert – wohlbegründet, weil es in seinem Zusammenhang um die Hilfe der Finger bei Schwerhörigen geht. Auch das ist eine verbreitete Methode. Hier seien drei Zeugnisse aus der Neuzeit genannt. „Zum Theil öfneten Schwerhörige wohl deswegen den Mund, weil durch das Oefnen der Gehörgang weiter wird, […] welches man sehr leicht bemerkt, wenn man den Finger ins Ohr legt und alsdann den Mund aufthut“ (Göttingische Anzeigen 1780, 80. Stück). „Es gibt schwerhörige Personen, deren Gehör sich für eine kurze Zeit verbessert, wenn sie den kleinen Finger in den Gehörgang so tief als möglich stecken und ihn schnell wieder heraus-
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C. Interpretation
überliefert, in der lateinischen Version steht Hadrianus. Nun schreibt Galen, dieser sei ὕπατος = Konsul gewesen, nicht aber Kaiser.477 Es könnte somit, wenn Schoock (bzw. seine Quelle) einer lateinischen Galen-Übersetzung folgte, ein anderer Hadrian gemeint sein. Als Kandidat käme dafür der Sophist Hadrianos aus Tyros in Frage, der „162–166 n. Chr. die Anatomievorlesungen von Galenos in Rom“ besuchte478 und somit Galen persönlich bekannt war – ein verführerisches Zeugnis. Er hatte es aber nicht zum Konsulat, sondern nur zum Amt ab epistulis unter Kaiser Commodus479 gebracht.480 Mit paradoxer Formulierung fährt Schoock fort: Wäre Hadrian schon richtig schwerhörig gewesen, wäre er kenntnisreicher, d. h. besser davongekommen. Wie das? Dann nämlich hätte er die Fähigkeit gehabt bzw. entwickelt, mit Hilfe redender Finger (loquaces digiti) sich ungehindert – wie ein Eber mit seinen großen Ohren – unterhalten zu können. Schlimmer wäre besser gewesen! Es geht gewissermaßen um eine Vorform der Zeichensprache, wie sie in moderner Zeit von den Schwerhörigen gewandt praktiziert wird. Als weiterer ‚Beweis‘ für die These, daß nutus und gestus wichtig sind, wird ein Wort des stoischen Philosophen Epiktet angeführt, der vorgeschrieben habe, „daß nicht einmal ein Finger aufs Geratewohl ausgestreckt werden dürfe“. Dieser
ziehen, ohne aber neben ihm die Luft in den Gehörgang eindringen zu lassen“ (Polansky 1842, S. 76). Ebenso Frank 1845, S. 379 Anm. 1. 477 Es ist ein ἕρμαιον, daß noch festgestellt werden kann, wie Kaiser Hadrian ins Spiel gekommen ist. Zwinger 1586, Sp. 350 berichtet: Hadrianvs consul Rom. surdaster, manus cauas, quo faciliùs audiret, à posterioribus ad anteriora spectantes auribus obtendebat. Gall. [sic] lib. II de Vsu part. cap. 12. At Cælius lib. 3. cap. 29. A. L. ad Imp. Hadrianvm hoc refert (▸ S. 30). Es handelt sich hierbei um Lodovico Celio Ricchieri = Caelius Rhodiginus (1469–1525), der in seinen Antiquae Lectiones – zuerst in 16 B., Venedig 1516 / sodann in 30 B., Basel. 2. Aufl. 1542 (= ‚A. L.‘ bei Zwinger) – diese Änderung vorgenommen bzw. zitiert hat. In einem späteren Druck (Frankfurt / Main 1599, Sp. 128) heißt es: Scitu dignum est, quod d e i m p e ra t o re Ad r i a n o proditum monumentis est. Eum, quod sensu hoc esset oblæso, consueuisse, dum exactius excipere voces cuperet, cauam manum auribus apponere, quæ veluti sinu quodam ictum aerem colligens meatui copiosius infunderet (zitiert nach einem Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München). 478 Wilhelm Schmid: In: Realencyclopädie. Bd. VII / 2 (1912), Sp. 2176; Ewen Bowie: In: DNP. Bd. 5 (1998), Sp. 57–58. 479 ▸ die in der vorhergehenden Anmerkung genannten Artikel von Schmid 1912 und Bowie 1998. 480 Eine andere Theorie wird von May 1968, S. 528 Anm. 39 vertreten, nach der es sich um “Flavius Arrianus, the historian” handelt – doch mit dem Bekenntnis: “I have not found any other source for the information that he was troubled with deafness.” Unabhängig von May zieht auch Jörg Fündling diese Identifikation in Erwägung, ebenso den Suffektkonsul von 93 Lucius Dasumius Hadrianus.
15. ‚Hören‘ mit Gesten
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Ausspruch findet sich in einem von Stobaios erhaltenen Zitat aus dem verlorenen Teil der Dissertationes (Ἀπομνημονεύματα):481 τὸ ὅλον οἱ ἄνθρωποι χαίρουσιν ἀπολογίας τοῖς ἑαυτῶν ἁμαρτήμασι πορίζοντες· ἐπεί τοι φιλοσοφία φησίν, ὅτι οὐδὲ τὸν δάκτυλον ἐκτείνειν εἰκῆ προσήκει.482 [Überhaupt pflegen die Menschen ihre eigenen Fehler zu verteidigen; denn in der Tat sagt die Philosophie, es zieme sich, nicht einmal den Finger aufs Geratewohl / ohne Grund auszustrecken.]
Oldfather bemerkt zu diesem Wort: “The remark in this connection is no doubt ironical, mockingly justifying the process of ‘rationalization’ just described.”483 Zu dieser Ironie fügt sich Schoocks Ironie, daß er das Wort auf einer ganz anderen Ebene seiner Theorie der Zeichensprache dienstbar macht. Das ist jedoch keine Schwäche der Argumentation, sondern eher, wie öfter, eine Demonstration für sein – wie der Humanisten überhaupt – geistreiches Spiel mit den antiken Fakten und Weisheiten. Natürlich wissen, wird übergeleitet, nur wenige Sterbliche, aus welchem Grund sie jedesmal einen Finger ausstrecken oder emporheben. Der Schwerhörige aber wisse das, der die Absicht der anderen gerade an den Zeichen erkenne, von denen wir nicht einmal glauben, daß sie Zeichen seien – wiederum eine überlegene laus surditatis. Auf eben dieser Ebene kommen zwei weitere antike Gewährsmänner als Zeugen zu Wort. Der Gestus, daß ein Redner seine Worte mit dem Finger unterstreicht, wird zunächst durch ein treffendes Zitat aus Cicero, diesem ‚idealen‘484 römischen Redner, unterstützt, der, wie Schoock sagt, zu „erschauern pflegte“, wenn Crassus485 bestimmte rhetorische Mittel einsetzte und seine Leidenschaft durch Gestik und „mit jenem seinem Finger“ zu erkennen gab:486
481 Hinweis von Klaus Döring. 482 ▸ Oldfather 1928, S. 460 / 461: Fr. 15. Anm. 483 ▸ vorhergehende Anm. 484 ad unguem factus orator: nach Hor. Sat. 1, 5, 32–33 ad unguem | factus homo; Wieland: „ein Mann, so abgeschliffen wie ein Bild“. translatio a marmorariis ducta, qui iuncturas marmorum tum demum perfectas dicunt, si unguis superductus non offendat (Porphyrio z. St.) [„Übertragung, von den Marmorarbeitern hergeleitet, die die Verbindungen von Marmorstücken / Marmorblöcken dann endlich perfekt nennen, wenn ein darüber geführter Nagel nicht anstößt“]. 485 Lucius Licinius Crassus (140–91, 95 Konsul), neben Marcus Antonius der bedeutendste Redner seiner Zeit, dem Cicero in De oratore und im Brutus ein Denkmal gesetzt hat. 486 De orat. 2, 188. Es handelt sich um den Zeigefinger, wie aus Quintilians Berufung auf diesen Passus hervorgeht (Inst. 11, 3, 94): at cum tres contracti pollice premuntur, tum digitus ille, quo
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C. Interpretation
[…] quae me hercule ego, Crasse, cum a te tractantur in causis, horrere soleo: tanta vis animi, tantus impetus, tantus dolor oculis, vultu, gestu, digito denique isto tuo significari solet. [ […] wovor ich beim Hercules, Crassus, wenn es von dir bei Prozessen gehandhabt wird, zu erschauern pflege: Ein so großes Engagement, ein so großes Ungestüm, ein so großer Schmerz pflegt durch die Augen, die Miene, die Gestik, endlich durch jenen deinen Finger ausgedrückt zu werden.]
Sodann stützt sich Schoock auf ein nicht minder treffliches Bild des christlichen Autors Quintus Septimius Florens Tertullianus aus Karthago, der um 200 die Schrift Adversus Hermogenem verfaßt hat, in der er die Ansichten des Malers Hermogenes über die Schaffung der Welt durch Gott zu widerlegen unternahm. Dort heißt es an einer Stelle (27): sed tu supercilia capitis, nutu digiti accommodato, altius tollens et quasi retro iactans […] inquis […]. [Aber du sagst, die Augenbrauen mit einem passenden Wink des Fingers etwas hochhebend und sie (d. h. den Kopf) nach hinten werfend […] ].
Das ist ein wundersames kleines Florilegium de gestibus oratoris. Doch werden die Aussagen der beiden zuletzt genannten antiken Autoritäten relativiert: Der Redner Schoock zweifelt, ob Crassus’ Finger oder Hermogenes’ Winke soviel vermochten wie jeder Wink eines Fingers des Schwerhörigen! Wenn einen solchen, sagt er, der Redner Blandus487 gesehen hätte, wie er allein auf die leichten Führungen und Schrägstellungen der Finger hin sich mit denen unterhält, die er nicht besser hören kann [622] als die nächste Statue, hätte er bei weitem passender ausgerufen „o vieles bedeutender Finger“ (o digitum multa significantem). Das ist wiederum ein geistreiches Spiel mit einer antiken Nach-
usum optime Crassum Cicero dicit, explicari solet. is in exprobrando et indicando, unde et ei nomen est, valet [„Wenn dagegen drei gekrümmte Finger vom Daumen festgeklammert werden, dann pflegt man den Finger, von dem, wie Cicero sagt, Crassus so vortrefflich Gebrauch zu machen verstand, auszustrecken. Dieser kommt beim Anschuldigen und beim Anzeigen – woher er ja seinen Namen hat – zur Geltung“] (Rahn 1988. Bd. 2, S. 643 / 645). 487 „Ein aus Tibur stammender Ritter, wohl der Großvater des von Tacitus (ann. 6, 27, 1) erwähnten C. Rubellius Blandus. Er gab als erster freigeborener Römer rhetor. Unterricht (Sen. contr. 2 praef. 5). Wie die vom älteren Seneca mitgeteilten Proben seiner Beredsamkeit zeigen, suchte er sich durch spitzfindige Antithesen und kurze Sentenzen hervorzutun (suas. 5, 7; contr. 1, 7, 6. 2, 2, 4. 2, 6, 2–3 u. ö.)“ (Manfred Fuhrmann. In: DKP. Bd. 1 (1975), Sp. 913); weitere Belegstellen für seine Schlagfertigkeit bietet der Index der Ausgabe von Adolf Kießling (Leipzig 1872, S. 533).
16. Selbst wer schwerhörig und stumm ist, vermag sich verständlich zu machen
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richt. Der ältere Seneca berichtet, Blandus’ sententia habe Anerkennung gefunden; sie begegnet in der Beschreibung eines Knaben, welcher auf einen Verwalter / Aufseher (jedenfalls eine Respektsperson) gezeigt und ausgerufen habe: ‚o Finger, der vieles bedeutet‘.488 Im Encomium surditatis tritt an die Stelle des strengen Fingers des Aufsehers der sanfte Finger des Schwerhörigen.489
16. Selbst wer schwerhörig und stumm ist, vermag sich verständlich zu machen Von dem Thema der Gestik der Schwerhörigen geht Schoock zu denjenigen über, die zugleich schwerhörig und stumm sind. Die Ansicht einiger aus der Sippe490 der Ärzte, daß derjenige, der schwerhörig und stumm ist, in geistiger Hinsicht beeinträchtigt sei, werde durch Beispiele widerlegt. Es sei beliebt, Altes (alte Überlieferung) geradezu zu mißachten. Dafür wird ein Beispiel ausnahmsweise nicht aus der Antike, sondern aus der jüngeren Vergangenheit angeführt: Zwei vortreffliche Patres aus Mähren seien von den ersten Jahren an stumm und schwerhörig gewesen und hätten doch mit Hilfe von Gesten alles wahrgenommen und sogar das regelrechte491 Bekenntnis des Glaubens zu vollziehen verstanden. Ja, es sei einem wahren Wunder ähnlich, daß ihre Schwester, die zusätzlich von Geburt an blind war, mit Hilfe des Tastsinns und verschiedener genauer Hinweise492 alles, was für die Bedürfnisse des Lebens anzugeben war, erbitten und empfan-
488 Die sententia ist überliefert bei Sen. Suas. 2, 8 (der Index der in der vorhergehenden Anmerkung genannten Ausgabe von Kießling druckt fälschlich 1, 8). 489 Der Abschnitt über die hohe Bedeutung der Gesten erinnert an die Worte des Pantomimen Marcel Marceau (1923–2007): „Die ‚Kunst der Geste‘ erlaubt nichts Zweideutiges! Der Mime muß präzis und klar sein. Das Wort kann Zweifel erwecken und doppelsinnig erscheinen. Der Mime kann nicht betrügen und lügen, jede Geste muß motiviert sein“ (1961, S. 53). 490 ex Medicorum filiis: wohl zu verstehen wie ex nautarum sobole (p. 606, ▸ daselbst). 491 orthodoxus: ‚der reinen Lehre gemäß‘ (Kirschius 1774, Sp. 1991), hier etwas abgeschwächt ‚regelrecht‘. 492 acuum punctionibus: wohl übertragen: genaue Fingerzeige = Hinweise wie mit einer Nadel. Vergleichbar tetigisti acu (Plaut. Rud. 1306) = „du hast es getroffen“ (Peter Rau), und zwar mit der Nadel (acu) = genau. Gegen die Deutung von Otto 1890, S. 4 („du hast den Nagel auf den Kopf getroffen“) Marx 1928, S. 223 („das war ein Stich mit einer Nadel“). Interessant ist neudeutsch ‚punktgenau‘ (nicht im Duden von 1973, wohl aber in der Ausgabe von 2017). In der Medizin der Frühen Neuzeit ist acuum punctura / Acupunctur ein Terminus: „Einstechen langer, feiner Nadeln im Körpergewebe zu diagnostischen u. therapeutischen Zwecken (als Excitans oder Derivans z. B. bei Neuralgien, zur Anregung der Callusbildung bei Knochenbrüchen, zur Auffindung von Fremdkörpern etc.). Veraltet“ (Guttmann 1917, Sp. 15–16).
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C. Interpretation
gen konnte. Es sei nicht an der Glaubwürdigkeit derer zu zweifeln, die beobachtet haben, daß diejenigen, die schwerhörig und stumm sind, mit offenem Mund nach den Worten der Sprechenden geschnappt und durch den Mund das aufgenommen haben, was durch die verschlossenen Ohren nicht eintreten konnte. Den Zweiflern an dieser Beobachtung wird mit dem Hinweis auf eine antike Theorie begegnet: Aristoteles493 – Vorgänger sei Alkmaion494 gewesen – habe beobachtet, daß ein feiner Gang vom Gaumen zu den Höhlungen der Ohren führe.495 Was bedeute es schon, wenn es ebensoviele Schlangen wie Störche gibt?496 Gott wisse Dinge / Werke, [623] die zu fehlen497 scheinen, in Gliedern des menschlichen Körpers zu schaffen, welche nutzlos in Bezug auf sie eingeschätzt werden könnten.498 Schoock tritt somit für die Richtigkeit der aristotelischen Theorie ein.
493 Stagyra: Stageira (lat. Stagira) auf der Chalkidike ist die Geburtsstadt des Aristoteles. 494 „Alkmaion von Kroton, von Diog. Laert. 8, 83 als Schüler des Pythagoras genannt. […] Dank Theophrast de sens. 25 ist bekannt, daß A. sich der Erforschung der Sinnesorgane zuwandte; das Zustandekommen der Wahrnehmung erklärte er durch die Annahme von πόροι – Kanälen, durch die das Gehirn mit Ohr und Auge in Verbindung steht“ (Heinrich Dörrie: In: DKP. Bd. 1 (1975), Sp. 1532). 495 Eine gelehrte Erklärung der Stelle wird Jochen Althoff verdankt. Sie wird hier (sehr gekürzt) wiedergegeben, weil sie auch ein Licht auf die Bemühungen des siebzehnten Jahrhunderts um Aristoteles’ naturwissenschaftliche Schriften zeigt: „In der Historia animalium I 11. 492a 19–21 findet sich folgende Beobachtung: ‚Dieses (sc. das Ohr oder der innerste Knochen des Ohres) hat keinen Zugang zum Gehirn, wohl aber einen zum Gaumen. Und aus dem Gehirn erstreckt sich eine Ader zu ihm.‘“ Dazu verweist Althoff auf die Erklärung von Zierlein 2013, S. 280: „Aristoteles beschreibt mit dem Zugang vom äußeren Ende des Ohres zum Gaumen […] erstmals die in der medizinischen Literatur unter der Bezeichnung Eustachische Röhre bekannte Ohrtrompete (Tuba auditiva), die in späterer Zeit erst wieder von dem italienischen Arzt und Anatom Bartolomeo Eustachi (1520–1574) entdeckt und nach ihm benannt wurde.“ Die Entdeckung gilt noch heute: „Das Mittelohr umfaßt in erster Linie einen im Schläfenbein zwischen dem äußeren und dem inneren Ohr gelegenen Hohlraum, die Paukenhöhle, welche die Kette der drei Gehörknöchelchen beherbergt, eine Verbindung der Paukenhöhle mit dem Schlund, die O h r tro m pete, Tuba auditi va sowie die Nebenhöhlen der Paukenhöhle“ (Voss, Herrlinger 1982, S. 318, Kursivierung original, Sperrung ad hoc). 496 Wohl sprichwörtich, in dem Sinn: Was macht es schon aus / welches Gewicht hat es schon, wenn der Zahl / Menge von Wissenden / Behauptenden eine ebenso große Zahl / Menge von Zweiflern entspricht? Störche und Schlangen als Feinde kommen öfter in Sprichwörtern vor. Wolfgang Mieder teilt zwei mit: „Die Störche fliegen hoch und tragen im Schnabel Kröten und Schlangen“ / „Die Schlange verschlingt den Storch nicht, weil er sie frisst“ (beide sind bei Wander aufgeführt). 497 deficere: ‚mangeln‘, ‚fehlen‘ (Kirschius 1774, Sp. 819). 498 Schoock könnte mit Hamlet sagen: “There are more things in heaven and earth, Horatio, | than are dreamt of in your philosophy.”
17. Wer nicht mit anderen sprechen kann, spreche mit sich
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17. Wer nicht mit anderen sprechen kann, spreche mit sich Das Hören durch den Mund als Stellvertreter des Hörsinns bedeutet nicht alles: Wer nicht mit anderen sprechen kann, spreche mit sich selbst! Wer sich jederzeit nach seinem Wunsch mit sich selbst unterhalten könne, werde nicht um jeden Preis das Gespräch mit einem anderen suchen. Hierzu wird nicht nur auf die Geistesverwandten Timons von Athen,499 des legendären Menschenhassers, der ‚närrisch‘ / ‚schrullig‘ genannt wird, verwiesen, sondern vor allem auf die christlichen Eremiten, die den Heimatboden verließen und tiefe Höhlen, Wälder und einsame Berge aufsuchten, damit sie vom Lärm der Menschen entfernt waren und mit sich sprechen (secum colloqui) konnten. Was viele große Männer erst suchen mußten, ist, wird gefolgert, dem Schwerhörigen zu Hause und sogar auf dem Marktplatz mitten unter Kindergeschrei gegeben. Über den Vorteil, den die frommen Männer, die von der Einsamkeit, die sie bewohnten, ihren Namen bekommen haben – nämlich ‚Eremiten‘500 –, kaum zu nutzen501 vermochten, jammert jemand, der in rhetorischer Weise direkt angesprochen wird, wie über einen schweren Nachteil! Wenn er einst taub sein werde (si aliquando aurium ratio tibi constiterit) – wird ihm entgegengehalten –, solle er an die Zeiten zurückdenken, in denen er überall auf Unruhe und Lärm traf und keinen stillen Winkel für die Musen und tiefere Meditationen finden konnte. Sogar die bekannte schwatzhafte Ehefrau (garrula mulier), die dem Gatten den Schlaf raubt (p. 609), taucht als lallans uxor erneut auf. Am Schluß dieses eindringlich argumentierenden Abschnitts kommt Gott ins Spiel: Der Schwerhörige möge an den früher wahrgenommenen [624] Lärm und die alten Unruhen denken und beginnen, sich an der ihm durch göttliche Fügung zugestandenen Ruhe (silentium divinitus concessum) zu erfreuen – ein emotionaler Aufschwung.
18. Lesen statt Hören Der nächste Punkt (amplius) betrifft das Lesen, welches erlaubt, daß die Augen das Versagen der Ohren lindern. Deshalb besteht kein Anlaß zu grollen. An die Stelle belehrender Menschen treten die Bücher, jene sanften und stummen
499 Zeitgenosse des Perikles, fand Eingang in die Literatur, auch in die römische: Cic. Lael. 87; Tusc. 4, 25 (qui μισάνθρωπος appellatur) / 27. 500 ἔρημος = ‚wüst‘, ‚leer‘, auf Menschen bezogen: ‚einsam‘. 501 uti frui: juristischer Terminus (‚den Nießbrauch von etwas haben‘).
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C. Interpretation
Lehrer (placidi illi ac muti magistri). Der skeptische Hörgeschädigte läßt nicht locker und fragt, was zu machen sei, wenn durch Brand alle Bücher vernichtet wären? Dann solle er, wird ihm geraten, Himmel, Erde und Meere, die niemals geschlossen werden oder aufhören zu sein, betrachten und ‚lesen‘ – und in ihnen den Schöpfer und Architekten aller Dinge (omnium authorem & architectum in iis contemplari atque legere). Wer das tue, lerne über die ‚Verprasser‘502 von Büchern hinaus, weise zu sein. Verhalten wird angefügt, daß die Schwerhörigkeit auf diese Weise nicht nur nicht schade, sondern vielleicht sogar viel nütze. Die wunderbare Aussage über das Betrachten und ‚Lesen‘ der Schöpfung erinnert an den Schluß von Senecas Trostschrift an die Mutter Helvia (Ad Helviam matrem de consolatione), die er damit tröstet, daß ihr Sohn in der Verbannung auf der Insel Korsika zu verinnerlichter Betrachtung des Kosmos gelange. Dieser einzigartige Trost war Schoock ganz sicher bekannt:503 […] animus omnis occupationis expers operibus suis vacat et modo se levioribus studiis oblectat, modo ad considerandam suam universique naturam veri avidus insurgit. terras primum situmque earum quaerit, deinde condicionem circumfusi maris cursusque eius alternos et recursus; tunc quidquid inter caelum terrasque plenum formidinis interiacet perspicit et hoc tonitribus fulminibus ventorum flatibus ac nimborum nivisque et grandinis iactu tumultuosum spatium; tum peragratis humilioribus ad summa perrumpit et pulcherrimo divinorum spectaculo fruitur; aeternitatis suae memor in omne quod fuit futurumque est vadit omnibus saeculis. [ […] der Geist, der frei von jeder (äußeren) Beschäftigung ist, liegt seinen (eigentlichen) Geschäften ob und erfreut sich bald leichterer Studien, bald erhebt er sich, seine und des Weltalls Natur zu betrachten, begierig nach dem Wahren. Zuerst sucht er die Länder und ihre Lage zu ergründen, sodann die Beschaffenheit des sie umgebenden Meeres und seine wechselnden Läufe und Rückläufe (sc. Flut und Ebbe); darauf nimmt er das, was auch immer zwischen Himmel und Erde voller Schauer (für die Menschen) liegt, in Augenschein und diesen Raum, der durch Donnerschläge, Blitze, Windstürme und das Fallen von Regengüssen, Schnee und Hagel höchst unruhig ist; alsdann bricht er, nachdem das Niederere durchwandert ist, zum Höchsten durch und genießt den schönsten Anblick des Göttlichen – eingedenk seiner Ewigkeit schreitet er zu allem, was gewesen ist und sein wird, in allen Zeiten.]
502 helluones librorum: wie Cic. Pro Sest. 26 helluo patriae (‚Verprasser seines Vaterlandes‘): eine pointierte Wendung, mit der Cicero helluo patrimoni (‚Verprasser seines Vermögens‘) steigert. Schoock meint, die Betrachtung des Kosmos lehre mehr als alle Weisheit der studierten Bücher. 503 Ad Helv. 20, 1–2.
19. Verschonung von Gerichtstätigkeit
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Bei Schoock wird in der Betrachtung des Kosmos wie im vorhergehenden Abschnitt auch des christlichen Schöpfers, dem Seneca in dieser Passage nahe ist, gedacht. Im Schlußabschnitt werden die Dei iussa explizit genannt.
19. Verschonung von Gerichtstätigkeit Nach den allgemeinen Vorteilen, die die Schwerhörigen haben, kommt ein bestimmter bürgerlicher Gesichtspunkt zur Sprache, und zwar die aktive Tätigkeit bei Gericht, von der der surdus ausgeschlossen ist. Im Sinn des Paradoxenkomiums wird das aber nicht als Manko, sondern als Vorteil angesehen. Denn damit fallen viele Lasten weg, so etwa die Abstimmungen, denen ja oft schwierige Entscheidungsprozesse vorausgehen. Als Beispiel wird die Zwangslage zwischen Freundschaft und Recht genannt, die ein berühmter Fall Chilons, eines der Sieben Weisen,504 verdeutlicht. Schoock bezieht sich auf die Darstellung bei Gellius:505 et hic autem Chilo, praestabilis homo sapientiae, quonam usque debuerit contra legem contraque ius pro amico progredi, dubitavit, eaque res in fine quoque vitae ipso animum eius anxit, et alii deinceps multi philosophiae sectatores, ut in libris eorum scriptum est, satis inquisite satisque sollicite quaesiverunt, ut verbis, quae scripta sunt, ipsis utar, εἰ δεῖ βοηθεῖν τῷ φίλῳ παρὰ τὸ δίκαιον καὶ μέχρι πόσου καὶ ποῖα. ea verba significant quaesisse eos, an nonnumquam contra ius contrave morem faciendum pro amico sit et in qualibus causis et quemnam usque ad modum. [Dieser Chilo aber, ein Mann von vortrefflicher Weisheit, war im Zweifel, wieweit er denn gegen Gesetz und Recht für einen Freund vorgehen (eintreten) müsse, und diese Angelegenheit bedrängte sein Inneres auch am Ende des Lebens; und viele andere Anhänger der Philosophie haben in der Folgezeit, wie in ihren Büchern geschrieben steht, hinreichend eingehend und hinreichend sorgfältig untersucht – damit ich, was geschrieben ist, wörtlich gebrauche (zitiere) –‚ „ob dem Freund gegen das Recht zu helfen ist und bis wieweit und in welchen Punkten“. Diese Worte bedeuten, daß sie untersucht haben, ob manchmal gegen Recht und Sitte für den Freund einzutreten ist und wieweit und bis zu welchem Maß.]
Ein schlagendes Beispiel! Gewiß ist es besser, als Schwerhöriger in einem solchen Fall von einem Vorzugsrecht voll unruhiger Spannung entbunden zu werden. Dem satirischen Ton der Rede entsprechend kommt der Humor dabei nicht zu kurz, wenn weiter gesagt wird, daß es viel besser sei, von einem Vorzugsrecht voll unruhiger Spannung entbunden und deswegen gehänselt zu werden, weil
504 Χείλων, aus Sparta (sechstes Jahrhundert v. Chr.). 505 Noctes Atticae 1, 3, 8–9.
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C. Interpretation
man sich auf den / einen Fall506 beruft, daß ein Kläger vor Gericht Schadenersatz für drei (kleine) Ziegen gefordert hatte, der (schwerhörige) Richter ihm aber die Tochter des Angeklagten als Braut zusprach.507 Denn es sei schlimmer und provoziere gräßliche Spottlieder, wenn die Schwerhörigen auf die Gesetze überhaupt keine Rücksicht nähmen. Kenntnisreich wird auf die Entscheidung der Kaiser508 Leo und Alexander509 hingewiesen, die allen denen, die beim Urteilen den Ohren mehr als den Augen [625] vertraut haben, Verderben angewünscht hätten, nämlich Gott und die Himmlischen Mächte als Widersacher zu erfahren, aus diesem Leben lieber zu entschwinden als in ihm hervorzuragen,510 von fortdauernden Schäden heimgesucht zu werden, schließlich daß Feuer die Fundamente ihrer Häuser verzehre und die Nachkommenschaft zu Bettlern würden. Sie hätten nämlich die Gesetze, die frei sein müßten, gewissermaßen zu Sklaven und Gefangenen gemacht.
506 Der Kausalsatz in Klammern gibt offenbar einen beispielhaften Präzedenzfall wieder, aufgrund dessen man Schwerhörige hänselt, weil sie vom Richteramt ausgeschlossen sind. 507 Der Vorgang erinnert an Nikarchos’ Spottepigramm auf eine Gerichtsverhandlung, bei der Richter, Kläger und Beklagter schwerhörig waren. ▸ S. 30–31. 508 Imperatores = ‚Kaiser‘ wie p. 617 (Tiberius, Nero), p. 618 (Heliogabal), p. 621 (Hadrian), dagegen p. 620: ‚Feldherr‘. 509 Gemeint sind die beiden byzantinischen Kaiser Leo VI. (Kaiser 886–912) und sein Bruder Alexander (Kaiser 912–913), die Söhne von Basileios I. (Kaiser 867–886), der (als ‚zweiter Justinian‘) eine Neubearbeitung und Neuordnung des gesamten justinianischen Rechtes in Angriff nahm, die vor allem Leo weiterführte, die später so genannten Basilika (νόμιμα bzw. βιβλία). “It appears that he completed his father’s revision of the Justinianic code, the Basilika, and he produced his own volume of new laws, the Novels” (Tougher 1997, S. 115). Es dürfte ziemlich sicher sein, daß Schoock ungeachtet seiner Gelehrsamkeit nicht eine Ausgabe der umfangreichen Basilika – die modernen Editionen von Karl Wilhelm Ernst Heimbach (Leipzig 1833–1850) und Herman Jan Scheltema u. a. (Groningen 1953–1988) umfassen fünf bzw. acht umfangreiche Bände – oder andere Gesetzestexte nachgeschlagen hat, was ein aufwendiges spezielles Interesse vorausgesetzt hätte. Vielmehr dürfte er einer verbreiteten Rezeption der Zeit gefolgt sein. Eine solche findet sich (ohne Quellenangabe) wohl bei Aluarez de Velasco 1562, Rubrica III: Quam in subditos, seque occulorum aciem intendere Iudex debeat?, S. 52–56, wo es heißt: Quasi Aures fallaciis subdantur, non ita Oculi, quod acrior est Oculorum, quam Aurium sensus (S. 56). In den Basilika gibt es in Buch VII, Titulus V den Abschnitt XII, in dem über die Richter gesagt wird: Quidam sunt, qui iudices dari prohibentur, ut senatu motus, s u rd us, mutus et perpetuo furens, et femina et servus et impubes: hi enim civilia administrare non possunt (Heimbach Bd. 1 (1833), S. 277, Sperrung ad hoc). Hier wird also der surdus vom Richteramt ausgeschlossen. Daß die Augen schärfer wahrnehmen als die Ohren, ist eine alte Weisheit, ▸ etwa Sen. Epist. 1, 6, 5 homines amplius oculis quam auribus credunt; Quint. Inst. 11, 2, 34 acrior est oculorum quam aurium sensus. 510 excidant / excedant: treffliches Wortspiel.
20. Je weniger Glanz, desto mehr Ruhe
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Sicher, wird schließlich festgestellt, sei, wie es scheine, das Recht über Leben und Tod etwas Erhabenes, jedoch sei seine Handhabung mühevoll und schwierig. Wen dürfe in Wahrheit ein Amt befriedigen, das beschwere? Um so positiver – so soll man verstehen – ist der Umstand zu bewerten, daß der Schwerhörige sich diesen ambivalenten Aufgaben nicht zu unterziehen braucht: Der Nachteil, d. h. der Verlust an Ansehen, ist in Wahrheit ein Vorteil.
20. Je weniger Glanz, desto mehr Ruhe – desto größer die Fähigkeit, des Schöpfers Stimme zu hören In einer Art Coda wird die Folgerung aus den vorhergehenden Betrachtungen gezogen. Deren Ergebnis gilt für alle Bereiche, zu denen die Schwerhörigen keinen Zugang haben. Sie sollen jedoch zuversichtlich sein und sich beglückwünschen, daß sie andererseits über eine desto größere Ruhe verfügen, je weniger Glanz sie haben. Zwar seien sie bezüglich der Ohren weniger tüchtig, aber der Geist sei lebendig, Gottes Befehle auszuführen. Dessen Heil sei verloren, der die sanften Ohrenbläsereien511 der Sirenen dieses Jahrhunderts512 mit Vergnügen höre, nicht jedoch das hören könne, was der Herr des Himmels und der Erde befehle. Der Schwerhörige sei für Unwissende elend, nicht aber für die, die gerecht urteilen.513 Eben das zu zeigen ist das Ziel der ganzen Schrift, die mehr Wahrheit enthält, als die Gattung des oft lustigen Paradoxenkomiums erwarten läßt.
511 susurros: ▸ zu susurros am Anfang von p. 605. 512 Auch Jakob Balde ist auf sein Jahrhundert (Zeitalter) nicht gut zu sprechen: Lefèvre 2017, S. 28–36; 2020, S. 28. 513 æquos censores: Damit wird das Motiv vom Anfang der Schrift aufgenommen, daß die Hörer der Rede Richter über die folgenden Ausführungen sein sollen (▸ p. 602 / 603).
D. Literatur Nicht nachgewiesen werden die bekannten Lexika bzw. Nachschlagewerke Du Cange, Forcellini, Georges, Klotz, Oxford Latin Dictionary (OLD), Thesaurus linguae Latinae (ThlL), Grimmsches Wörterbuch (Grimm), Realencyklopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE), Der Kleine Pauly (DKP), Der Neue Pauly (DNP), Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD 17), Kühner/Stegmann.
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