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German Pages [273] Year 2018
Rainer Marten
Lob der Zweiheit Ein philosophisches Wagnis
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813751
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Rainer Marten Lob der Zweiheit
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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Rainer Marten
Lob der Zweiheit Ein philosophisches Wagnis
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Rainer Marten The Praise of Twoness A Philosophical Venture From Heraclitus and Parmenides, Plato and Aristotle to Kant and German Idealism and beyond; until today philosophy has understood itself to be filosofia a solo, not filosofia in compagnia. The individual stands before it, not joined by a second or third. The gaze directed at this individual is a thinking one and one judging in favour of thinking. Because philosophy is most comfortable with pure intellectuality, it sees reason as self-sufficient: Reason has sufficient concern with itself. If philosophy sees the whole, emphatically stressing, the true and essential human in mental capacity and thereby itself as essence of humanity, then the path has been pursued towards thinking and what calls for thinking becoming one. This leads to many speculations about the innermost intellectual oneness, be it the unity of being and non-being or of God and human. With this book Rainer Marten turns against the precedence of the one and undertakes it to distinguish the twoness philosophically: the twoness of day and night, the twoness of life and death, the twoness of injustice and justice as well as the twoness of man and woman.
The Author: Rainer Marten, born in 1928, Professor of Philosophy at Freiburg University. Latest publications at Alber among others: ›Die Möglichkeiten des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion‹ (2005, 32015) (English: The possibilities of the impossible. On poetry in philosophy and religion), ›Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen‹ (2009, 22014) (English: Exorbitance. On the necessity of the unnecessary), ›Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust‹ (2012) (English: Radicality of the mind. Heidegger – Paul – Proust), ›Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben‹ (2013) (English: Finitude. On the drama of life and death).
https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Rainer Marten Lob der Zweiheit Ein philosophisches Wagnis Von Heraklit und Parmenides, Platon und Aristoteles bis zu Kant und dem Deutschen Idealismus und darüber hinaus bis heute hat die Philosophie sich als filosofia a solo, nicht aber als filosofia in compagnia verstanden. Der Einzelne steht vor ihr, zu dem kein Zweiter und Dritter tritt. Der auf ihn gerichtete Blick ist ein denkender und zugunsten des Denkens wertender. Weil die Philosophie es am liebsten mit der reinen Geistigkeit hält, gilt ihr Vernunft als selbstgenügsam: Sie hat hinreichend mit sich selbst zu tun. Sieht Philosophie in der Denkkraft den ganzen, weil, wie sie emphatisch sagt, den wahren und wesentlichen Menschen und somit sich selbst als das Humanum, dann ist der Weg beschritten, das Denken mit dem Zudenkenden einswerden zu lassen. Daraus erwachsen vielfältige Spekulationen des innigsten geistigen Einsseins, sei es in der Einheit von Sein und Nichtsein oder von Gott und Mensch. Rainer Marten wendet sich in diesem Buch gegen den Vorrang des Einen und unternimmt es, die Zweiheit philosophisch auszuzeichnen: die Zweiheit von Tag und Nacht, die Zweiheit von Leben und Tod, die Zweiheit von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit sowie die Zweiheit von Mann und Frau.
Der Autor: Rainer Marten, geb. 1928, Professor für Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. Zuletzt im Verlag Karl Alber u. a.: »Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion« (2005, 32015), »Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen« (2009, 22014), »Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust« (2012), »Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben« (2013).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48896-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81375-1
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »Wenn Eines ist«: Platon
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2. Das wirklich Eine: Plotin . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Advaita (Die Nichtzweiheit): Shankara . . . . . . . .
48
4. Die Einheit von Sein und Nicht-Sein: Zhuang Zi . . .
65
5. Die Einheit von Sein und Nicht-Sein: Heidegger . . .
91
6. Die Einheit der Vernunft: Heraklit . . . . . . . . . . 107 7. Die Einheit der Vernunft: Kant . . . . . . . . . . . . 114 8. Die Einheit von Gott und Mensch
. . . . . . . . . . 127
9. Die Einheit von Jesus Christus: Kyrill von Alexandria
142
10. Die Einheit von Volksgott und Gottesvolk: Hosea . . 154 11. Die Zweiheit von Tag und Nacht . . . . . . . . . . . 165 12. Die Zweiheit von Leben und Tod . . . . . . . . . . . 179 13. Die Zweiheit von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit 193 14. Die Zweiheit von Mann und Frau . . . . . . . . . . . 218 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
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Vorwort
Philosophisches Denken ist verführbar – durch sich selbst. Verliebt es sich in ein Faszinosum, wie es der Gedanke der Einheit ist, dann ist es auch schon bereit, die Grenzen zu überschreiten, um die es selbst weiß. Jetzt regieren Phantasie, Erdenken und Erdichten. In West und Ost hat menschlicher Geist sich von Beginn an über das hinausgetrieben, was sich wahrnehmen und erkennen, erleben und erfahren läßt. Ist philosophisches Denken erst einmal dabei, sich selbst zu faszinieren, was aufs Höchste beim Gedanken der Einheit der Fall ist, dann kennt es keine Bedenken mehr. Eine vollkommene Einheit soll es sein, die geistig erfaßt wird, eine schlechtweg reine und umfassende. Das ist die Einheit des Einzig-Einen, des All-Einen. Das fegt den lebendigen Menschen mitsamt der Lebenswelt hinweg. Der – emphatisch – wahre Mensch erblickt das Licht des Geistes an einem für mögliches Leben unmöglichen Ort. Dieses Buch wagt es, in Absicht einer erhellenden, nicht entzaubernden Aufklärung, den Menschen mit seinen geistiggeist1ichen Sehnsüchten als den lebendigen, der er ist, aus dem Himmel auf die Erde zurückholen, aus der Zeitlosigkeit (Ewigkeit, ekstatischer Augenblick) zurück in die Zeit, aus der geistigen Selbstübersteigung zurück zu sich selbst. Herausragende Ausführungen des Einheitsdenkens werden dargestellt, um mit wachsendem Erstaunen zu verfolgen, wie diese mächtige philosophische, mystische und theologische Tradition höchst kunstvoll und folgerichtig dabei ist, den Menschen um sein Menschsein zu bringen. Das führt notwendig zur Darstellung der Zweiheiten, die die Welt ausmachen, in der der Mensch seine Erfüllung findet oder das mögliche Humanum verspielt.
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1. »Wenn Eines ist«: Platon
I. Philosophen, die nicht einfach eine Sache, sondern stets das Wesen einer Sache bedenken, sind, was ihre theologische Profilierung anbelangt, durchweg Monotheisten. Das Eine als das eine Weise, das eine Gesetz, der eine Wille, die eine denkende Einsicht 1 – das ist der Gott des Philosophen Heraklit. Er reicht aus, um alles zu erklären, und ist noch darüber (perigignesthai). 2 Das Absolute (to kechôrismenon) ist gemeint. 3 Als Wirkmacht ist Gott mit allem naturhaften und geistigen Geschehen verbunden; zugleich aber transzendiert er all dies Geschehen und ist, wie er erdacht wird, davon nicht selbst belangt: Er ist absolut selbständig. Das ist auch Platons Gott, den er in seiner erstaunlich kurz gefaßten Theologie entwirft. 4 Gott der einzigartig Gute, Wahre, Schöne und Gerechte. Dazu ist er als Wesen erdacht, das am allerwenigsten eine Vielzahl von Gestalten annimmt, was besagt, daß seine Gestalt absolut unwandelbar ist. Die einzigartige Güte Gottes ist vom Philosophen dazu ausersehen, ihn zum Grund jeder menschenmöglichen Tugendhaftigkeit zu machen, Gott als der eine Gute ist Grund aller Vielzahl von Gutem, zum Beispiel aller guten menschlichen Handlungen. Damit gelingt Platon eine in ihrer Kürze nicht zu Heraklit, Fragmente B 2; B 32; B 33; B 41, in: Fragmente der Vorsokratiker, gr./dt. (ed./trad. Hermann Diels/Walther Kranz), 1. Bd., Berlin 1951 (alle weiteren Fragmente der Vorsokratiker werden nach dieser Ausgabe zitiert). 2 Heraklit, Fragment B 114. 3 Heraklit, Fragment B 108. 4 Platon, Politeia II 379b–383c. 1
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»Wenn Eines ist«: Platon
überbietende Theodizee: Als der Gute, der ohne jeden Makel ist, kann er unmöglich Grund von Schlechtem und Bösem sein. Was einem Praxiteles (um 390–330 v. Chr.) nicht gelingt, nämlich den vollkommen schönen Jüngling zu schaffen, der jeden anderen entsprechenden Bildhauerversuch von vornherein zu einem Fehlversuch machte, das gelingt dem Philosophen im Handstreich: Der Gedanke des einen Guten ist in sich der Gedanke des vollkommen Guten. Wie für Platon die Idee des Schönen eine, und nur eine ist, weil nur Eines vollkommen schön sein kann, so denkt er auch den einen Gott als den einen Guten, die Einzigkeit des Einen jeweils als Siegel seiner Vollkommenheit und Ausschließlichkeit nehmend. Mit dem Guten, das nichts als gut, und dem Schönen, das nichts als schön ist, mit diesen Versuchen, ein je einzigartig Eines zu denken, ist philosophischer Geist auch schon herausgefordert, sich Gedanken zu machen, wie sich das Eine denken läßt, das vollkommen Eines und nichts sonst ist.
II. In Platons Dialog Parmenides wird eine Übung (gymnasia) vorgeführt, die mit den Begriffen Eines (hen) und Sein (estin/ousia) operiert. Sie besteht darin, beide Begriffe vereint in eine Hypothese einzubringen und dann darüber zu sprechen, was notwendig daraus folgt. 5 Thema ist das Eine, nicht das Sein. Das anfänglich Zugrundegelegte ist das Eine selbst. Daraufhin wird gefragt, ob es eines ist oder nicht. 6 Bereits die Formulierung der Hypothese bereitet semantisch Schwierigkeiten. Sie gerät mehrdeutig: (1) »Wenn es eines ist« (ei hen estin, kein existentiales »ist«); (2) »Eines, wenn es ist« (hen ei estin, existentiales »ist«); (3) »Wenn Eines ist« (ei hen estin, existentiales »ist«). Wird nun 5 6
Platon, Parmenides 137b3. Platon, Parmenides 137b3.
12 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
»Wenn Eines ist«: Platon
vorausgesetzt, daß das Eine (selbst) eines ist, dann ist es nicht vieles. Doch sein Nichtsein ist damit nicht ausgeschöpft, in seiner Fülle nicht einmal angedeutet. Ist nämlich das Eine eines und sonst nichts, dann hat es notwendig keine Teile und keine Grenzen, ist es weder in Ruhe noch in Bewegung, ist es weder dasselbe mit sich selbst und mit Anderem noch verschieden von sich selbst und von Anderem, kann es weder älter und jünger sein oder werden, auch nicht desselben Alters sein mit Bezug auf sich oder Andere, ja kann es überhaupt nicht in der Zeit sein. Das hat zur Folge, daß das Eine gar nicht ist, weder benannt noch gewußt werden kann. Wenn das Eine eines ist, dann ist es weder eines noch ist es. Diese desaströse Konsequenz wird in einem zweiten Durchgang revidiert. 7 Jetzt ist nicht das Einssein des Einen tonangebend, sondern das Sein des Einen. Damit, so zeigt sich, wird alles genau umgekehrt: Ist erst einmal zugegeben, daß vom Einen und von Sein als von »beiden« (amphô) und damit als von »zweien« gesprochen werden muß 8, dann ist der Damm gebrochen. Um nur ein Äußerstes zu nennen: Es ist unendlich an Menge. Nach noch sechs weiteren Durchgängen, unter ihnen die interessante Hypothese »Eines, wenn es nicht ist« (hen ei mê estin, existentiales »ist«) 9 , wird als Ergebnis der Übung festgehalten: »Es scheint, ob Eines ist oder nicht ist, es selbst als auch das Andere in Bezug auf sich selbst und aufeinander, alles auf alle Weise ist und nicht ist, scheint und nicht scheint.« 10 Größtmöglicher Aufwand an Scharfsinn und Umsicht führt zu der Einsicht, daß aus der Annahme eines seiend Einen / des Seins des Einen nichts anderes als etwas zuhöchst Unverständliches folgt. Die Qualität des dargelegten Unverständlichen ist kaum zu überbieten. Jede Verläßlichkeit von etwas als unPlaton, Parmenides 142b ff. Platon, Parmenides 143d. 9 Platon, Parmenides 163bc. 10 Platon, Parmenides 166c. 7 8
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»Wenn Eines ist«: Platon
abdingbare Grundlage für Verständlichkeit ist im Umkreis der Verbindung von Eines und Sein aufgehoben. Jeder Truth-maker ist in dieser Sache für unmöglich erklärt. Spätestens Platon und Aristoteles haben explizit gemacht, was Grundlage jeder Verstehens- und Verifizierungsmöglichkeit ist: der Nichtwiderspruch. Die Unmöglichkeit, daß demselben in derselben Hinsicht dasselbe zugleich zukommt und nicht zukommt, gilt Aristoteles als das gefestigste aller Prinzipien. 11 Beim Versuch, ein Eines, das nichts als eines ist, gedanklich und sprachlich zu erfassen, ist dies rein Eine allein dadurch ein Problem, daß Denken und sprachliche Fassung der Gedanken mit dem, was sie vorhaben, nicht zurechtkommen. Die dem Erkennen dienende Sprache ist nicht absolut frei, sondern hat ihre eigenen Nötigungen (anagkazesthai). 12 Wird zum Beispiel über Gerechtigkeit nachgedacht, dann muß der Nachdenkliche den Versuch machen, identifizierend auf sie Bezug zu nehmen, und sie von anderen Großthemen wie Schönheit und Wahrheit unterscheiden. Er muß sich fragen können, ob das, was Gerechtigkeit ist, denn so fragt er als Wesensphilosoph, in jedem Zeitalter und jeder Gesellschaft etwas anderes ist oder ob ihr Wesen auf ewig von absoluter Selbigkeit ist. Das schließt die Fragen ein, ob sie, wie sie gedacht ist, einen utopischen Wunsch zum Ausdruck bringt und als rein geistiger Entwurf existiert oder ob sie sich als politisch-gesellschaftlich realisierbar erweist. Die Rede vom Selben und vom Verschiedenen, vom Existierenden und Nichtexistierenden, vom Veränderlichen und Unveränderlichen, überhaupt alle Begriffe, die formal eine sachbezogene Reflexion ermöglichen, sind unverzichtbar. 13 Da in Aristoteles, Metaphysik Gamma 3, 1005b17–25. Vgl. Platon, Sophistes 263d die Deutung der »wirklich und wahrhaft falschen Rede« als die, die »Verschiedenes als Selbes und Nichtseiendes als Seiendes aussagt«. 12 Platon, Sophistes 252c. 13 Im Sophistes (254d) stellt Platons Dialogführer die Begriffe Existenz, Ruhe und Bewegung als besonders wichtig für dialogischen Erkenntnisgewinn heraus. 11
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»Wenn Eines ist«: Platon
alltäglicher Verständigung ein Eines, das tatsächlich eines ist, zum Beispiel ein Apfel, der klar ersichtlich nicht zwei und mehr Äpfel ist, kein Problem darstellt, muß der Versuch, ein Eines zu diskutieren, das keine gedanklich-sprachliche Zutat erlaubt, vom praktisch bewährten Denken und Sprechen aus geurteilt ein ungehöriger Versuch sein.
III. Wer die porta sacrata zum eigentlichen Purgatorium durchschreitet, darf sich nicht umdrehen, sonst muß er wieder zurück. 14 Für den, der die Zukunft und das Heil vor sich hat, ist das Durchschrittene das Unschaubare. Er kann es natürlich schauen, aber er tut es besser nicht, will er nicht für immer sein Bestes aus den Augen verlieren. Platon hält es genau so mit dem Unsagbaren. Es ist natürlich sagbar. Wer aber in seiner Weisheit weiß, daß es dann all seine Kraft verliert, wird sich mit Notwendigkeit einer solchen Rede enthalten. 15 Das Unschaubare als das ja nicht zu Schauende, das Unsagbare als das ja nicht zu Sagende – die Gesprächspartner in Platons Dialog Parmenides stoßen auf ein Unsagbares ganz anderer Art. Sie fühlten sich belohnt, könnten sie den Gedanken eines rein Einen versprachlichen und eben sagen. Sagte einer nur »Eines«, dann wäre das eine Ellipse. Man müßte ihn fragen, was er mit dem Einen und zu dem Einen sagen wollte. Interessant ist, daß im Parmenides die Hypothese: »Wenn Eines eines« (ei hen hen) ausdrücklich verworfen wird. 16 Als native speaker einer indoeuropäischen Sprache weiß Platon, daß auch bei dieser Formulierung der Gebrauch Dante, La divina Commedia, Purgatorio IX, 132. Siehe Rainer Marten, Denkbarkeit und Mitteilbarkeit des ineffabile. Ein Problem der Platonauslegung, in: Ernst Oldemeyer (Hg.), Die Philosophie und die Wissenschaften. Simon Moser zum 65. Geburtstag, Meisenheim am Glan 1967, 145–162. 16 Platon, Parmenides 142c. 14 15
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»Wenn Eines ist«: Platon
des »ist« unausweichlich ist, in diesem Falle nicht das existentiale »ist«, sondern die Kopula. Die klare Scheidung des Einen selbst (to hen auto) vom Sein selbst (hê ousia autê) wäre dann nicht mehr gegeben, die Zweiheit von Eines und Sein, die zu einer inflationären Deutung des Unmöglichen führt, im Ansatz verspielt. Platons offenkundiges Geheimnis ist, daß sich sein Denken in einer Welt jenseits unseres Realitätssinnes bewegt, besser: zu bewegen versucht. Daß es um die denkbaren, nicht um die sichtbaren Dinge gehen soll, hört sich zunächst ganz plausibel an. 17 Will er es dann aber nicht mehr mit Wahrheit und Erkenntnis in uns (en hêmin) und bei uns (par hêmin) halten, sondern sucht er beides vollständig von uns zu lösen und zu einem An-sich (kath’ hauto, kath’ hautên) zu machen, steht zu befürchten, daß er sich damit restlos übernimmt. Wahrheit, für die wir einstehen, und Erkenntnis, die wir begründen können, sind »bei uns«. Der Mensch ist, falls er es ist, der Erkennende und Wissende. Statten wir ein Wesen mit ungleich höheren Fähigkeiten aus, als sie der Mensch besitzt, etwa damit, daß es Wahrheit ist oder daß es nur wahrhaft sein kann und sich ausschließlich von Wahrheit »nährt«, es versteht sich: von der Wahrheit selbst, nicht etwa von Aussagewahrheiten im Rahmen des Alltäglichen und Wissenschaftlichen, dann setzen wir im Geistigen auf Poesie. Daß es einen Himmel der Ideen gibt, der alles emphatisch wahrhafte Selbstsein in der emphatisch einzig wahrhaften Form von Existenz umschließt, ist, um erhellende Aufklärung zu üben, ein poetischer Entwurf Platons. Sein Erdenken und Erdichten als solches verstellend, vertritt er ihn als die für den Augenblick beste wissenschaftliche Theorie. Er nimmt dafür nicht etwa in Kauf, sondern das ist seine erklärte Absicht, daß die Lebenswelt des Menschen und er mit ihr, wie er zeiträumlich lebt und handelt, weit eher ein Nicht-Sein verkörpert als ein Sein. Es ist kein
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Platon, Parmenides 135e.
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»Wenn Eines ist«: Platon
Wunder, daß er Sprache, ein höchstes Vermögen des Menschen, als Unvermögen inszeniert. Die dialogische Übung im Parmenides zeigt, an welche Grenzen bewährte Erklärungs- und Verständigungssysteme stoßen, wenn sie absolut Gesetztes doch wieder an menschenmögliches Erkennen und Verstehen binden möchten. Platon hat aber Hypothesen auch genutzt, um philosophische Gegenpositionen der Absurdität zu überführen. Das gelingt ihm freilich nur, weil er dann Sprache verwendet, wie es nicht der Brauch ist. So dient ihm im Dialog Theaitetos die Hypothese »Wenn alles in Bewegung wäre« zur Demonstration, daß Heraklits Lehre falsch, ja unsinnig ist. 18 Das ist die Beweisführung in aller Kürze: Wenn alles in Bewegung wäre, müßte auch diese Hypothese in Bewegung sein und wir bräuchten eine neue Sprache. Die Selbstbezüglichkeit der Allesaussagen, obgleich in keinem bewährten Verständigungssystem praktiziert, wird diskussionslos vorausgesetzt. Kein Vernünftiger, der das Wort »alles« verwendet, hat jemals damit vor, schlechtweg Alles zu meinen. Ein gebräuchliches und verständliches »alles« meint jeweils »alles, was …«. »Wenn alles Wirkliche zu Rauch würde, unterschiede die Nase es« 19 – die Nase gehört ganz selbstverständlich nicht zu dem hier gesagten und gemeinten »alles«, auch der nicht, der diese Folgerung formuliert. Das Organ zur Wahrnehmung dampfenden Rauches ist die Nase. Die notwendige Konsequenz, daß auch sie in Rauch aufgegangen sein muß, ist eine absurde Behauptung. Die Sprache als unvermögend darzustellen, den eigenen geistigen Ansprüchen gerecht zu werden, dann aber selbst auch wieder absurden Gebrauch von ihr zu machen, gehört zusammen. Seit dem Philosophen Parmenides ist der »wissende Platon, Theaitetos 156a ff. Siehe dazu Rainer Marten, »Wenn alles in Bewegung wäre …«, in: Ludwig Landgrebe (Hg.), Beispiele. Festschrift für Eugen Fink zum 60. Geburtstag, Den Haag 1965, 125–140. 19 Heraklit, Fragment B 7. 18
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»Wenn Eines ist«: Platon
Mann« (der Wesensdenker), der über den freien Willen (thymos) verfügt, wie weit sein Denken reichen soll, über alle menschlichen Stätten hinaus bei einem göttlichen Wesen angelangt, das ihm verspricht, das schlechthin Unerschütterliche (atremes) zu entdecken: das Innerste (Hermann Fränkel: das Mark) der Wahrheit. 20 Der Wesensdenker will das Unmögliche und er erreicht es. Das zeichnet ihn als Denkkünstler aus. Der Philosoph ist bei dem einzig festen Punkt angelangt, weil er ihn erdacht hat, ein Punkt, dem selbst Poseidon nichts anhaben kann. Jetzt wird die Sprache geläufig, weil metaphorisch. Unverfänglicher könnte die Distanzierungsabsicht, die dem Ausgriff des Philosophen ins Göttliche und absolut Wahre zugrundeliegt, gar nicht zu Wort kommen als durch die Nebenbemerkung, daß der zurückgelegte Weg »ab vom Pfade der Menschen« liege. 21 Streng gelesen heißt das: Dieser Philosoph ist kein Mensch mehr, jedenfalls kein menschlicher, den Menschen zugehörender Mensch.
IV. Der Mensch, der unzufrieden mit sich selbst ist, erscheint in Hochkulturen, wie es die griechische mit Beginn von epischer und lyrischer Dichtung, Wissenschaft und Philosophie ist. Mensch zu sein genügt nicht mehr – nicht bei jedem Stande der Reflexion und Selbstdeutung. »Am besten nicht geboren zu sein« kann der Antwortversuch darauf lauten, aber mehr noch und nachhaltiger stehen Versuche hoch im Kurs, Korrekturen an der natürlichen Mitgift vorzunehmen. Am nächstliegenden erweist sich für diese Absicht die Möglichkeit, den Gebrauch, der von dieser Mitgift gemacht wird, radikal zu verändern. Der Parmenides, Fragment B 1. Parmenides, Fragment 1 (»Lehrgedicht«) Vers 27: ap’ anthrôpôn ektos patou estin. Fragmente der Vorsokratiker Bd. 1, S. 230.
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»Wenn Eines ist«: Platon
junge Aristoteles ist dafür ein Musterbeispiel: Denken sei wichtiger als Leben 22 , Leben sei Folter der Denkseele. 23 Häufen sich bei Platon und Aristoteles Belege für das leitende philosophische Selbstverständnis, daß der einsichtige und hochstehende Mensch nach Möglichkeit auf die Aktivität seiner Denkkraft reduziert wird, dann müssen sie auch erklären, worauf das hinauslaufen soll. Beide entsagen einem unrealistischen Maximalismus und entscheiden sich für das in ihren Augen maximal Mögliche. So will Platons Sokrates nicht, daß der Mensch für die Loslösung der Denkseele vom Leibe und damit den Tod selber sorge, um sogleich nurmehr als ein zur reinen Geistigkeit Befreiter denken zu können. Er soll minimal lebendig bleiben, was für ihn heißt, »am allernächsten zum Gestorbensein leben«. 24 Ob die Denkseele nicht auch von gesunder Leiblichkeit »lebt« und Liebes»leben« für sie gut wäre, wird an dieser Stelle nicht diskutiert. Auch Aristoteles klärt nicht, wie die Ausführung seiner Devise, sich »soweit wie möglich« um Unsterblichkeit und das heißt um das Göttliche in uns zu bemühen, lebenspraktisch zu begleiten wäre. 25 Die Option für das Mögliche, nämlich für die Möglichkeit, als Lebender der Selbstberufung zum Philosophieren mit vollem Einsatz des Selbst zu folgen, beläßt den Philosophierenden in seinem Menschsein nicht unverändert. Eine Entfremdung von der eigenen Lebenssituation ist unausweichlich. Das ist dann freilich nicht Trakls »Und es ist die Seele ein Fremdes auf Erden« 26 , weil der theologische Philosoph nicht entsprechend religiös gestimmt ist. Hat er ein Unsterblichkeitsbedürfnis und mit Aristoteles, Protreptikos, in: Fragmenta selecta (ed. W. D. Ross), Oxford 1955, 37 (Jamblich, Protr. 7); Ingemar Döring, Aristoteles, Heidelberg 1966, 423. 23 Aristoteles, Fragmenta selecta, 41 (Jamblich, Protr. 8). 24 Platon, Phaidon 67e. 25 Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7, 1177b33. 26 Georg Trakl, »Frühling der Seele«, in: G. T., Die Dichtungen, Salzburg 1938, 150. 22
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»Wenn Eines ist«: Platon
ihm ein Gottesbedürfnis, dann ist es ein geistiges, kein geistliches. Der Philosoph ist nicht depressiv, sondern von eifernder Wachheit. Die Option der beiden griechischen Philosophen für die Denkseele spricht bereits das Interesse des geistigen Selbst aus, dem Göttlichen, wenn schon nicht mit ihm Eins, dann doch so nahe wie möglich zu sein. »Deswegen ist es nötig zu versuchen, so schnell wie nur möglich von hier nach dort zu fliehen« – Platons Sokrates will damit sagen: Nichts wie weg vom Menschen und hin zu Gott. 27 Doch, weil auch hier der Realist für das Mögliche einsteht, reicht die Flucht nicht beliebig weit. Das dem Gott Gleich-, wenn schon nicht mit ihm Einswerden, das das Ziel der Flucht ist, geht so weit, wie der Denkende es kann (kata to dynaton). 28 Bedeutsam an dieser Vorstellung ist, daß die radikale Selbstwerdung im Sinne des Einswerdens mit der eigenen Denkkraft auf keine ätherische Verflüchtigung aus ist, sondern weiß, daß sie einen absolut festen Halt braucht. Dazu aber läßt sich nichts besseres beiziehen als der erdachte Gott, der in seinem Eins-, Gut- und Gerechtsein absolut unveränderlich ist. Noch ehe Zeitlichkeit an Endlichkeit denken läßt, signalisiert sie Veränderlichkeit. Der mit sich selbst unzufriedene Mensch stößt sich bereits an der Veränderlichkeit von allem. Nichts beharrt. Alles ist im Wandel: Der Satte wird aufs neue hungrig, das grüne Blatt gilbt, der Tag geht in die Nacht über. All das ist, wie frühe Dichtung und Philosophie vorführen, anstößig, weil ohne Sein und Bleiben. Das eigentlich Anstößige dabei ist, daß nichts von allem Veränderlichen Eins bleibt, ja überhaupt wahrhaft Eins ist. Das seiner Natur nach Veränderliche ist das seiner Natur nach Viele. Ist für Platon und Aristoteles der Mensch seinem Wesen nach göttliche Denkkraft, dann genügen Veränderlichkeit und Vielheit, wie sie den Menschen betreffen, um ihn an sich selbst zweifeln zu lassen. 27 28
Platon, Theaitetos 176a. Platon, Theaitetos 176b.
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2. Das wirklich Eine: Plotin
I. Plotin (205–270 n. Chr.) ist es gelungen, an etwas heranzuführen, das über alle Möglichkeiten nachvollziehbaren Erkennens und sprachlich verständlich zu Formulierenden hinausliegt: an das wirklich Eine. Das erweist ihn als einen Meister der Denkkunst. Er hat sich der Aufgabe gestellt, ein Eines zu erdenken und sprachlich auszuformulieren, das von nicht zu übertreffender Wirklichkeit (Seiendheit), Anfänglichkeit, Wirksamkeit und eben Einfachheit ist. Anstatt festzustellen, daß das unmöglich und darum von dem Unternehmen Abstand zu nehmen ist, hat er sich auf ein erdenkendes Gestalten des Unmöglichen eingelassen. Das verlangt Transparenz noch des subtilsten Arguments. Der Weg von einer gedanklich-sprachlichen Herausforderung zur anderen bedarf stets von neuem der Vergewisserung systematischer Stimmigkeit (Homologie). Unverzichtbar bei jedem Schritt ist es, mit Blick auf das zu erdenkende Eine stets dessen Einzigartigkeit zu sichern. Wird betont, daß das Eine auf einzigartige Weise (monachôs) 1 das ist, was es ist, so soll damit für es jede mögliche Vielheit ausgeschlossen sein. Gerade da blitzt auch schon die Unmöglichkeit des Unternehmens auf: Alles, was dem Einen in Anbetracht seiner Einzigartigkeit zuzuschreiben ist, kann ihm gerade nicht zugeschrieben werden. Das mit Attributen und Prädikaten Behaftete muß ja dem menschlichen Geist (nous) als ein Etwas vorkommen, das bezughaft und damit nicht schlechthin einfach ist. Denkendes VI, 8, 9, 10. Zitiert nach: Plotins Schriften, gr./dt. (trad. Richard Harder). 5 Bde., Hamburg 1956–1967.
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Das wirklich Eine: Plotin
und sprechendes Bezugnehmen lebt vom Unterscheiden, vom Einen, das nicht das Andere ist, was in der Engführung des Gedankens des einzigartig Einen besagt, daß alles, was ihm zugedacht und zugesprochen wird, bereits ein Anderes und Zweites ist. Soll dieses Eine, wie es sein Konzept verlangt, in reiner Unbezüglichkeit und Unbestimmtheit (ahoriston) sein, ebenso in vollkommener (definitorischer) Abgegrenztheit (hôrismenon), 2 muß dem auf es ausgerichteten Denken und Sprechen Unmögliches gelingen.
II. Die Bemühung um das Unmögliche nimmt ihren Lauf. Allein schon die ihrer selbst gewisse Voraussetzung, daß das einzigartig zu Denkende nichts anderes sein kann als das Erste (to prôton), hat mächtige Implikationen: Das Erste verfüge als solches über Natur und Kraft eines Prinzips (archê), das kein geringeres sein könne als das Prinzip von allem. 3 Wer das vorauszusetzen versteht, muß jedes Hinterfragen des Vorausgesetzten abschmettern. Zu hinterfragen, hieße ja, auf etwas zu zielen, das dem Ersten seine Erstheit streitig machte. Man sagt und »denkt« leichthin »das Erste«, um dann aber nicht auf dem bewährten Weg der Verständlichkeit zu bleiben und sogleich einzuschränken, daß es kein absolutes Erstes gebe, sondern jedes Reden von einem Ersten ein Erstes-von-was meine: den Erstling (aparchê) eines Schriftstellers, den Ersten der römischen Könige. Denn, wie verbindlich vorausgesetzt, darf es bei dem zu erdenkenden Ersten allein um Einzigartiges gehen, nicht aber um etwas, das sich mit anderem Ersten gedanklich-sprachlich vertrüge. Damit ist dem Denken mehr abverlangt als dem Volk, von dem sein Gott fordert, einzig und allein ihn zu verehren, ja keine anderen 2 3
VI 8, 9, 42; VI 8, 9, 10. VI 8, 9, 3–9.
22 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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Götter. Denn der Gott weiß und das Volk weiß – wie entlastend für das Verstehenkönnen und wie fruchtbar für das Verstehen –, daß es noch andere Völker gibt, die, kommen die Israeliten ihrem Kult nicht mit Waffengewalt in die Quere, gut mit ihrem Baal leben. Für euch, sagt der Gott Abrahams, bin ich der Gott, und kein anderer. Das ist die legitime Rede eines Volksgotts. Von absolutem Anspruch in einem radikalen Sinne zeigt sich keine Spur. Doch nun soll und darf das Erste einzig das absolut, das überhaupt Erste sein, was dazu herausfordert, von allen besonderen und einzelnen Bedingungen der Aktivierung geistiger Kräfte abzugehen und im Denken vollends abstrakt zu werden. Das Erste, von dem und über das sich eigentlich (kyriôs) nichts sagen läßt, 4 ist außerhalb der Welt (ektos kosmou) und vor (pro) allem Geschehen. 5 Doch das ist bereits falsch gedacht und gesagt, ist es doch nicht etwa raum- und zeitbezogen zu deuten. Als wahrhaft Seiendes (ontôs on) ist es in jeder Hinsicht einer Veränderlichkeit und Vergänglichkeit enthoben. Es ist nicht entstanden, kommt nirgendwo her, hat sich nicht eingestellt (synebê), verdankt sich keinem Zufall (tychê, to automaton). Das macht es für das Denken notwendig zum reinen Selbstwesen: Es bleibt (menei) ewig in sich selbst. Entfällt alles »durch ein Anderes«, dann bleibt für die gedankliche Deutung seiner Einzigartigkeit nurmehr das »aus sich selbst« (par hautou). 6 Die argumentativ aufgezeigte Notwendigkeit, etwas zu erdenken und zu bestimmen, das ganz anders ist als all das, was einen Anfang und ein Herkommen hat, führt unausweichlich zur Konzeption eines einzigartigen Selbst. Schon für Platons Ontologie hat sich ein gesteigerter Begriff des Selbst als nützlich erwiesen. Nur wahrhaft Seiendes verdient es, als selbsthaft begriffen zu werden. Das macht aus dem »selbst« ein Emphatikon, 4 5 6
VI 8,8,7. V 9,4,15. VI 8,8,24–9,13; siehe auch VI 8,7,13.
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bei Platon das am meisten gebrauchte, was meint, daß auf ein Verstehen verwiesen wird, das über jedes Verstehen geht. Allein die Idee der Schönheit, das ist das Schöne »selbst«, ist selbst das, was es ist und besagt. Ein schönes Mädchen ist nicht selbsthaft schön und damit im eigentlichen Sinne überhaupt nicht schön. Doch für Plotin geht es nicht um das Selbsthaftsein von spezifischem Sein, sondern um die Selbstmächtigkeit (to autexousion) des einzigartig Ersten, was dann auch eine einzigartige Selbstmächtigkeit verlangt. 7 Weil das Prinzip von allem nichts zuläßt, was mächtiger als es wäre, gefällt und genügt es sich selbst. 8 Im Gedanken einzigartiger Selbstmächtigkeit ist der der absoluten Unabhängigkeit und Freiheit gefaßt, was seine Unfaßbarkeit garantiert, sein nicht zu instrumentalisierendes In-sichSchweben im Nirgendwann und Nirgendwo. Allein schon der Denk- und Sprachzwang, das, was gleichsam seine »Existenz« ist, gleichsam für seine Wirksamkeit zu nehmen 9 und zugleich jegliches »ist« von ihm wegzunehmen (aphairein), 10 erinnert die geistigen Kräfte schmerzlich daran, wie sehr sie des raumzeitlichen Geschehens in all seinen Spielarten bedürfen, um auf Wirklichkeit zu stoßen, die als solche erfaßbar und verständlich ist. Das Spiel wiederholt sich. Will man vom wirklich Einen sagen, was es in Wahrheit ist, und Plotin will es unausgesetzt, dann kann der Wahrheitswillige nur fortwährend höchste Aussagen über es machen, die er wieder zurückzunehmen hat, sofern sie nicht anders zu verstehen sind, als stellten sie zu etwas eine Beziehung her. Eigentlich läßt sich in Anbetracht der Denkbarkeit und Sagbarkeit eines einzigartigen absoluten Einsseins allein das Aporetische des Sachverhalts bekunden (en aporôi têi gnômêi themenous) und »schweigend weggehen«. 11 Plotin jeVI 8,7,17–44; 8,8,2. VI 8,7,40. 9 VI 8,7,47. 10 VI 8,8,14. 11 VI 8,11,1 f. 7 8
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doch schweigt nicht, bleibt an der Sache. Er macht Aussagen über das Eine und nimmt sie zurück, da es ja ohne Eigenschaften (symbebêkota) ist. Was auch immer ihm mit einem ersten Recht zugesprochen wird, und sei es Höchstes und Heiligstes, ist später als es, erreicht nicht sein in sich ruhendes, aus sich selbst vermochtes (selbstmächtiges) Einssein. Es zunächst so zu bestimmen, sodann zu bekennen, daß es genau so nicht zu bestimmen ist, um schließlich für eine Doppelbestimmung zu plädieren, die ebenfalls als unmöglich anzusehen ist – das ist eine Methode des Zu-verstehen-Gebens. Im Wechsel von Affirmation und Negation formt sich das Verstehen von einem Zudenkenden, das keine fixierbare geistige Form hat. So kann ein »vielmehr« (mâllon) dazu dienen, den Übergang zur entgegengesetzten Bestimmung einzuleiten, 12 um dann doch das »vielmehr« wieder zu streichen und das zunächst Unterschiedene nicht länger für unterschieden zu halten. 13 Ergibt sich argumentativ, daß es sich mit dem »Ersten« als dem »Grund von allem« »so« (houtôs) verhält und »nicht anders« (ouk allôs), und zwar nicht zufällig so, sondern weil es so sein mußte, so gilt doch vielmehr, daß es nicht war, was es sein mußte, 14 unterliegt es als absolut Freies ja keinem Zwang, auch keinem Selbstzwang. Das wiederholt sich schon eine Seite später: Wird das absolut Eine von dem, der (geistig) nach oben steigt, als über allem Hiesigen liegend angeschaut, kann er nichts anderes als »so und nicht anders« sagen. Aber gerade dieses »so« dürfte er ja nicht sagen, weil er damit das Unbestimmte für ein Bestimmtes nähme. 15 Wird es dann wieder als das bestimmt, das ist, was es sein will, weil nur dadurch seine ganze Kraft erfaßt sei, so gilt vielmehr für das zu erdenkende Absolute, all das, was es will, zu verwerfen und dem
VI 8,9,17. 45. VI 8,7,49. 14 VI 8,9,17. 15 Zum Gebraucht von »so« (houtôs) siehe VI 8,9,38–42; VI 8,8,21; VI 8,9,16. 12 13
25 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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zu überlassen, was nach ihm zur Existenz gelangt, ist es doch größer als alles Wollen.
III. Die Einzigartigkeit, die sich gegen jede Vergleichbarkeit wehren muß, vernichtet notwendig jede Klarheit eines Begriffs, der das Einzigartige zu begreifen sucht. Die Milchscheibe des »gleichwie« (hoion) 16 verschleiert jede geistige Kontur: Was dem absolut Einen als seine Existenz (hypostasis) und Wirksamkeit (energeia) zugedacht wird, als sein Wille (boulê) und wahres Wesen (ousia), darf allein im Sinne eines Gleichwie verstanden werden: Es wird unter diesen Begriffen nur vorgestellt, um ihnen sogleich wieder entzogen zu werden. Es geht, wie sich zeigt, wirklich um Unmögliches, dies aber eben so, daß man sich aller Möglichkeiten bedient, an dieser Unmöglichkeit zu arbeiten und sich an ihr abzuarbeiten. Superlative, die nicht eigentlich Begriffe, sondern Programme des Begreifens sind, weisen den Weg. Der »Begriff« des Einfachsten (to haploustaton) 17 ist hervorragend geeignet, das zu demonstrieren. Bei jedem Versuch, von ihm als einem Begriff Gebrauch zu machen, wird er seiner Einzigartigkeit beraubt und damit sein Über-alles-hinauseinfach-Sein zuschanden. Steht geistig ein Einfachstes im Fokus, dann ist ein Weg zur Schau desselben vorgezeichnet, der nur unendlich sein kann: Alles, aber auch wirklich alles auf dem Weg dorthin erweist sich sogleich als nicht wirklich einfach. Ist die Rede davon, daß das wirklich einsseiende Eine das eine Gesetz und der eine Wille sei, dann genügen schon die Begriffe Gesetz und Wille rein dadurch, daß sie als Begriffe hinzutreten, um die angezielte Einfachheit zu verfehlen. Das Wort »alles« wird nur dann verständlich gebraucht, 16 17
VI 8,7,40; VI 8,7,47; VI 8,13,6 f.; VI 8,20,10. VI 8,14,15; vgl. 9,14,3.
26 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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wenn sein Sinnbereich ein klar bestimmter ist, mag das damit Erfaßte auch noch so unbestimmt sein: Alle Menschen, die nach dem Dreißigjährigen Krieg in Europa geboren worden sind, alle an Lepra Gestorbenen – bei diesen Beispielen ist am Gebrauch des Allquantors nichts auszusetzen. Selbst wer von allem Lebendigen spricht, bleibt mit dem Gemeinten verständlich, sofern es ein verbindliches Kriterium für Lebendigsein gibt, mag das Lebendige auch ins Unendliche gehen. Das Gleiche gilt von den Primzahlen. Meint einer alle, eine mögliche unendliche Anzahl von Primzahlpaaren eingeschlossen, dann sichert die Definition von Primzahl die Verständlichkeit des Ausgriffs ins Transfinite. Wer dagegen vorgibt, mit dem Wort »alles« wirklich alles zu meinen, unbestimmt und absolut, der sagt nichts Falsches, sondern gebraucht Sprache falsch. Platon würde sagen, daß jetzt die Verlautung von »alles« nicht mehr als ein Geräusch (psophos) ist. 18 Für den Gebrauch von Superlativen sind entsprechende Kautelen angezeigt. Wer »das Größte« sagt, muß, will er verstanden werden, das Wovon des gemeinten Größten angeben. 19 So wird es sich offenbar auch bei der Rede von einem Einfachsten verhalten müssen. Halten wir für gewöhnlich die einfachste Lösung eines Problems für die beste, wobei wir mit dem Superlativ auf die Unkompliziertheit und Direktheit zielen, dann hält diese Ansicht nicht jedem Zweifel stand. Hat Alexander der Große den Gordischen Knoten auf einfachste Weise gelöst, dann war das im Sinne des Königs von Phrygien, der ihn geknüpft hat, keineswegs die beste Lösung. Doch Plotin denkt mit dem Einfachsten nicht an ein für menschliches Tun und Lassen, Sinnen und Trachten Einfachstes, sondern an das Einfachste Jemanden willkürlich mit einem Namen ansprechen, der nicht der seine ist, bedeute für den Angesprochenen weder ein Wahr noch ein Falsch. Er höre nur ein Geräusch. Platon, Kratylos 430a. 19 Zum Denkversuch eines absolut Größten, den Anselm von Canterbury durchgeführt hat, siehe Rainer Marten, »Größer als das Größte: Anselm«, in: ders., Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion, 2. Aufl., Freiburg 2009, S. 124–141. 18
27 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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»selbst«, an das absolut Einfache. Da hätte ein deutscher Simplicius Simplicissimus keine Chance, geschweige denn eine fille simple aus der für gut gehaltenen »alten Zeit«. Der Philosoph will und kann, seinem Vorhaben gemäß, sein dem Versuch nach zuhöchst Gesprochenes und Gedachtes nicht situativ binden, weder an ein bestimmbares Etwas, das für seine Art das Einfachste wäre, noch an den menschlichen Geist, für den es etwas Einfachstes wäre. Der Ausgriff dieses Superlativs ist, wie immer klarer wird, ungeheuer. Hat sich philosophisches Sprechen und Denken erst einmal daran gewöhnt, von einem Superlativ zum anderen zu wechseln, dann ist damit die Neigung groß geworden, das Unverständliche für verständlich zu nehmen. Plotin hat etwas im Sinn, das ihn sich nicht an die Einsicht halten lassen will, es gebe keine Einfachheit an sich, sondern jederzeit sei etwas ein Einfaches und Einfachstes, ein bestimmtes, situativ geprägtes Etwas. Er nimmt es auf sich, daß Wörter sich verselbständigen, so daß sich etwa das Einfachste als das herausstellt, was einzig einfach ist. Essentialistisch formuliert: Die Einfachheit allein ist es, die wirklich einfach ist. Die Unfähigkeit der höchsten geistigen Fähigkeiten des Menschen, ihm für sein Vorhaben zur Hand zu sein, kompensiert er dadurch, er kann gar nicht anders, daß er sie überreizt.
IV. Der Gedanke absoluter Freiheit, wie er im 8. Kapitel der Enneade VI entwickelt wird, ist kein freier, sondern ein notwendiger. Der philosophische Elan, es mit dem Undenkbaren und Unsagbaren aufzunehmen, speist sich nicht aus einem Überschuß an intellektueller Kraft, sondern ist Zeichen einer Not, die unter Menschen herrscht, nur weil sie in philosophisch-theologischer Sicht gegeben ist. Geistiger Schöpferkraft ist es gelungen, die erdachte Not als eine dem Menschen mitgegebene erscheinen zu lassen. 28 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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In den Augen der Philosophen, die Platon für sich sprechen läßt, ist der Mensch, wie er existiert, keine einfache Einheit, sondern eine asymmetrische Zweiheit, auch Dreiheit. Mit Blick auf den Einzelnen unterscheiden sie sinnliche und geistige Kräfte, leibliche und seelische. Mit ihrem Verständnis vom Sein als dem Bleibenden sehen sie in den geistigen und seelischen Kräften das, was vom Menschen dem Seienden zugehört, in den sinnlichen und leiblichen dagegen, was ihn dem Nichtseienden ausliefert. Platons Philosophen wie in der Folge auch der Neuplatoniker Plotin nutzen als Kriterium für ihre wertende Unterscheidung den Begriff des Wesens (physis, ousia) bzw. den des Selbst (auto). Die Seele ist das Selbst des Menschen, der Leib dagegen gehört nicht zum Selbst. Damit ist im Menschen, im Einzelnen, ein tendenziöses Verhältnis von Zweiheit und Einheit installiert. Dem Menschen wird seine Zweiheit gezeigt, um ihn über seine Not aufzuklären, mit aller Macht und Kraft nach seiner Einheit zu streben (oregesthai, spoudazein). Der Mensch, wie er sich lebendig unter Menschen vorfindet, demonstriert für diese Philosophie seinen Wesens- und Selbstverlust: den Fehl der einfachen Einheit. So »einfach« kann Denken sein, das sich in der Pflicht der Wesensrettung des Menschen sieht: Der Mensch entstamme dem wahrhaft und wirklich schlechthin einfachen Einen. 20 In es müsse er zurück, um allem Unwesen zu entgehen und seines Wesens froh zu sein. Um wenigstens ein Gespür dafür zu bekommen, inwiefern mit dieser um den Menschen bemühten, sich höchst menschenfern aufführenden Spekulation geistig ernst gemacht werden könnte, ist noch einmal auf den Gedanken der Freiheit einzugehen. Es ist die Freiheit des wahrhaft Einen und Ersten von allem. Sie kann nur absolut selbstmächtig (autexousion) und das ihr eigene Freisein nur ein einzigartig reines (katharôs) sein. 21 Aus-
20 21
V 9,14,2 f.; V 4,1,5–13. VI 8,20,6.
29 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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gangspunkt ist das Allerursächlichste (aitiôtaton). 22 Wer sein Denken methodisch an Superlative hängt, zeigt an, daß er es mit dem, was er thematisiert, »ganz anders« haben und halten will, als es dem Menschen geläufig ist, der sein Auskommen mit dem Leben und mit den Menschen hat. Der not-lose und sich bejahende Mensch stellt für das philosophische Ansinnen, menschliche Existenz in einem höchsten Auftrag mit letzter Radikalität gänzlich zu verändern, den härtesten Widerpart dar. Wer zumindest für die Zufälle dankbar ist, die er als Glücksfälle erfährt (tychê als eutychia), will keinem Allerursächlichsten auf der Spur sein, um allem, was ihm widerfährt, mit einer Idee von Notwendigkeit zu verbinden. Ist aber für einen Philosophen wie Plotin einzig und allein das gut, was durch ein allererstes und einzigartiges Gutes das ist, was es ist, dann ist bewährtes menschliches Erfahren und Urteilen außer Kraft gesetzt. Philosophisch gebrauchte Superlative haben so die Potenz, sofern es ihnen gelingt, Bewußtsein zu usurpieren und radikal umzuformen, menschlichen Geist ins A-Humane, möglicherweise sogar ins In-Humane zu wenden. Die erdachte Urheimstatt des Menschen wird mit guten Gründen jeder möglichen Kritik entzogen: Das Allerursächlichste und wahrhaft Eine ist nicht erkennbar und wißbar, nicht begreifbar. Es ist »ohne Sein« bzw. »über alles Sein hinaus«. 23 Um es auch positiv zu bestimmen, ohne ihm damit eine feste, gegen Anderes abhebende Kontur zu verleihen, hat Plotin einen genialen Einfall: Über Platons Gedanken des seinslosen Guten 24 hinaus erdenkt er eine »erste Wirksamkeit« (prôtê energeia). 25 Anders als der von Aristoteles geprägte Ausdruck »erstes Sein« (prôtê ousia), der für alles bestimmte Seiende wie einen Menschen und einen Hund zutrifft, schafft Plotin mit seinem Wort 22 23 24 25
VI 8,18,38. V 4,1 9 f. Platon, Politeia VI 509b. VI 8,20,9.
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etwas Einzigartiges ohnegleichen, das einzig wahrhaft Einzigartige: das Uranfängliche. Weil er das Sein (ousia) von dieser Wirksamkeit völlig abhalten zu können meint, sieht er sich gedanklich bei dem angelangt, was als Erstes und als Prinzip »vollkommen« ist. Es gilt ihm als Erstes ohne Zweites, als erster Grund und erste Ursache von allem, ohne selbst zu etwas aus ihm Gewordenen eine Beziehung zu haben. Es hat ja, gedanklich, jede Bestimmtheit verloren. Diese Wirksamkeit ist ein reines In-sich, und dies eben nicht von statischer, und das hieße von zu fixierender Art. Sie ist reine Dynamik. Man staunt, was Wortzusammenstellungen leisten sollen: »Erste Wirksamkeit« – etwas Unüberbietbares ist formuliert. Man darf sich, um zu ahnen, was gemeint ist, an keine Anschaulichkeit wagen. Dächte man etwa an einen in sich kreisenden Lichtball, dann hätte man schon wieder ein Seiendes im Blick, das Grenzen hat. Philosophie liebt diese Wortgedanken, ja braucht sie, wenn sie mit Superlativen die gedanklichen Möglichkeiten des Übertreibens ausreizt. Gottes »Wirksamkeit an sich selbst« (energeia hê kath’ hautên) 26 – dieses Bild von des Gottes, der seinem Wesen nach Vernunft ist, ewiger, in sich selbst kreisender Lebendigkeit und Lustbarkeit, wie es Aristoteles zeichnet, gilt dieser Liebe als Höchstleistung. »Reine Tätigkeit«, »Aktualität an sich«, »actus purus« und wie man sich sonst sprachlich behelfen mag – ganz offensichtlich ist mit diesen Formulierungen das staunenswerteste und reinste Seligkeit versprechende Wunder geschaffen, das menschlicher Geist sich erdenken kann. Das ist keine Kritik, sondern die Form von Mitstaunen, die die erhellende Aufklärung kennzeichnet. Klar gemacht wird hier, daß es sich mit den Gedanken von »erster Wirksamkeit« und »Wirksamkeit an sich selbst« um Poesie handelt, um Werke der Noetik. Der über sich selbst aufgeklärte Philosoph hat dann aber auch die Ansicht zu vertreten, daß sie Werke nicht nur, sondern sogar der Poesie sind. Kunst ist das einzige Vermögen des plus réel, 26
Aristoteles, Metaphysik Lambda 7, 1072b27.
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über das der Mensch verfügt. Nun hat der lustvoll auf ewig sich selbst denkende Gott bei Aristoteles Vorbildcharakter: Der Mensch, das meint der auf geistige Existenz Setzende, sollte dieser »Tätigkeit« Gottes nachstreben, auch wenn er nicht das »ewig« (aei) des Gottes erreichte, sondern allein das »bisweilen« (pote). Nicht die Poesie als solche ist zu kritisieren, sondern gegebenenfalls ihr Werk. In diesem Falle könnte gefragt werden, ob solch ein geistiges, himmlisches Kreisen wirklich das Vorbild für Menschen sein sollte, die sich auf ihre geistigen Kräfte konzentrieren. Dieselbe Frage wird an das künstlerische Werk Plotins zu richten sein: Was zeigt es uns als unser verbindlich höchstes Ziel?
V. Plotin ist ein Meister des Ineinanderdenkens des Höchsten. Für ihn kommt es nicht darauf an, sprachlogisch konsequent zu sein, wie etwa Aristoteles, wenn der sich gehalten sieht, das Eine und das Seiende (hen und on) nicht gegeneinander zu verselbständigen. Im Bereich des sprachlich-gedanklich Unüberbietbaren darf rein um der Unüberbietbarkeit willen keine Vielheit entstehen. Nun scheinen die verschiedenen Begriffsnamen des Unüberbietbaren dafür zu sprechen, daß es selbst Mehreres ist. Wer darum auf diese Weise Superlative gebraucht, muß das inflationäre Höchste mit einer Inflation von Identifizierungen begleiten. Das Erste ist das Prinzip von allem und weil es einzigartig ist: das eine Erste als das eine Prinzip von allem, ist es auch wahrhaft das Eine. Doch nun, nach der Ineinssetzung von Erstem und Prinzip von allem und Einem kommt das Wichtigste: Da das wahrhaft und wirklich schlechtweg einfache Eine das »sein« kann, was es ist, nämlich kein Seiendes in Bezug auf ein Anderes, nichts Wirkendes in Bezug zu Gewirktem und somit schlechthin Unbezüglichem, muß es rein in sich wirksam sein, eben reine erste Wirksamkeit. Daraus aber ergibt sich zwingend, 32 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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daß es das Gute zu »sein« hat, weil dies sich dadurch auszeichnet, das Zureichendste (hikanôtaton) und Selbstgenügsamste (autarkestaton) und damit das Unbedürftigste (anendeestaton) zu sein. 27 Das halbe Dutzend Höchstwertungen ist dazu ausersehen, die einzigartige Einheit des Einen nicht etwa zu sprengen, sondern vielmehr zu festigen. Kein Vorbild ist damit gezeichnet, aber ein höchstes und letztes Ziel vorgegeben: das eine einzigartige selbstwirksame Gutsein. Keine Güter lassen sich darin ausmachen, keine guten Handlungen. Das reine Gutsein herrscht, west und waltet, wie Heidegger sagen würde, in sich. Wer wollte dahin nicht zurück, darin nicht existieren? Suggestivfragen sind niemals fair, weil sie dazu auffordern, eigene intellektuelle und emotionale Kontrollmechanismen außer Kraft zu setzen. Platon liebt es, mit solchen Fragen zu operieren, was den Gefragten zu unbedachten Affirmationen verleitet. Gefragt, ob das Gerechte denn nicht auch das Gute sei, führt zu Antworten wie »Sehr wohl gar auch« und »Am allerwahrsten«. Die Frage, ob es etwa etwas Besseres als höchstes Ziel gebe, als ins wahrhaft Eine zurückzukehren, unterschlägt notwendig Alternativen, weil sie sich an Voraussetzungen hält, die sie für alternativlos nimmt. Grund dafür ist die platonische Anthropologie, die sich ausschließlich an die intrahumane Unterscheidung eines Oben und Unten hält und interhumane Verhältnisse auch nach dieser Unterscheidung beurteilt: Dem Oben entsprechen die »Wenigen«, dem Unten die »Vielen«. Aristoteles, der Philosoph nicht nur des »unbewegten Bewegers«, sondern wesentlich der Geselligkeit und ihrer politischen Verfaßtheit, folgt Platon nicht in der diskriminierenden Trennung der Menschen in philosophisch-werthaft Wenige und philosophisch-unwert Viele, sondern sieht in den Wenigen und den Vielen (wofür er nicht Platons hoi polloi verwendet, sondern hoi pleistoi, die Meisten) die politische Unterscheidung von Oligarchen und Demokraten, von hoher Herkunft, Reichtum, 27
VI 9,6,18 f.; vgl. V 4,1,12.
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Bildung und niederer Herkunft, Armut und Unbildung (das Banausentum der Handwerker). 28 Werden Menschen geschieden in Arme und Reiche, Demokraten und Oligarchen, dann gibt es keinen Sehnsuchtszug in das einfach Eine, als wäre es ein Zug in den Himmel. Das höchste Ziel der Menschen ist ein notwendig zweifaches und beide Male horizontales, nicht vertikales: Die Reichen wollen ihre Position unter Menschen halten, die Armen dagegen wollen ihre Position unter Menschen verändern. »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen« (Aristoteles), »Alle Menschen streben von Natur aus nach Lust und Vermeidung von Leiden« (Jeremias Bentham) – werden Allheitsaussagen über den Menschen gemacht, worauf er in seinem Leben und Handeln im wesentlichen zielt, zeigt sich, so Unterschiedliches sie auch vorbringen mögen, einheitlich eine Vernachlässigung der grundlegenden Zweiheit des Menschen. Der Individualismus gilt als selbstverständlich, das Eigeninteresse, wodurch auch schon wieder die platonische Anthropologie zu ihrem Recht kommt, denn stets gilt der Primat der Rationalität. Wer nach Wissen strebt, erhöht die Potenz vernünftigen Ratgebens. Aber auch das Streben nach Maximierung der Lust und Minimierung des Leids gilt dem Utilitarismus als vernünftig, Askese, ja selbst schon Bescheidenheit als irrational. »Pursuit of happiness« (US-Amerikanische Verfassung), »Enrichissez-vous par le travail et par l’épargne!« (François Guizot) – das Selbstische wird in diesen wohlfeilen Ermunterungen zum Individualismus alias praktischer Solipsismus angeregt, nicht das Selbsthafte. Das scheint der unüberbrückbare Graben zwischen der dem Hedonismus dienstbaren Rationalität und der sich im geistigen Bei-sich-selbst-Sein erfüllenden Rationalität zu sein. Plotin macht ja in seinem Bedachtsein auf das wahrhaft Eine nichts stärker geltend, als daß es im Zurück- und Hinaufweg in das wahrhaft Eine als den Uranfang um die eigenste 28
Aristoteles, Politik VI 2, 1317b38–41; IV 14, 1298b39–1299a2.
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Möglichkeit des Menschseins geht. Wie sollte das nicht auf Selbsthaftigkeit zielen? Doch das ist gerade gegen die geistige Tendenz dieses Philosophen zu fragen, ob nicht der methodische Ausschluß des Du beim Konzept menschlicher Wesensrückgewinnung ein dem Selbstischen des Menschen gewidmetes Unterfangen ist, und sei es auf einer – vermeinten – höheren Ebene.
VI. Der Denkkünstler Plotin, der sich dazu bekennt, seine grundlegenden Gedanken Platon nachzubilden, ist auch selbst schöpferisch. In seinen Ausführungen, reich an Wiederholungen, die auch die Darstellung seines Denkens zu Wiederholungen einlädt, legt er es darauf an, dem menschlichen Geist eine Heimat zu zeigen, die von unendlicher Anziehungskraft für ihn ist. Entrücktheit und Unfaßlichkeit wird dabei mit ihrer einzigartigen Schönheit zu kompensieren gesucht, die jedes Ziel irdischer Erotik verblassen läßt. Der philosophische Leser sieht sich aufgefordert, sich von einem Verlangen ergreifen zu lassen, das ihn aus allen Bezügen zum vielheitlichen Sein fortreißt – ins Eine. Wo aber sollte das wahrhaft und wirklich Eine sein? Als uranfängliches Von-woaus (archê) von allem ist es weder alles noch eines von allem. Vielmehr (mâllon), so müht sich der Ermöglicher des Unmöglichen, vielmehr ist es nirgendwo unter dem, was aus ihm ist. Ohne jede Mannigfaltigkeit (Platons poikilia, wörtlich: Buntheit) und ohne jede Verdoppelung ruht das schlechthin einfache Eine selbstmächtig (autexousion) in sich. Gerade weil nichts in ihm war (ouden ên en autôi), so wird hier spekuliert, konnte alles aus ihm kommen (dia touto ex autou panta). 29 Die Überfülle der Schöpfung wird so erdacht, mit ihr auch die Entstehung des Menschen, des Erdenkers der Schöpfung. So ist es nicht von 29
V 2,1,5.
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ungefähr, daß der Mensch in seiner allheitlichen Einzelnheit mit dem Gedanken eines Uranfangs für sich etwas ganz Besonderes im Sinn hat: das Zurück zum Ursprung. Mit dem – erdachten – Entstehen beginnt auch bereits die geistige Rückorientierung auf das schlechthin einfache Eine und das unbedürftigste, selbstgenügsamste und zureichendste Gute hin. Als hätte der Mensch im All des aus dem Einen Gewordenen eigentlich nichts zu suchen, ist sein wahres Streben, sein eigentlicher Eros vom All des Seins abgewandt. Die Genesis erzählt, was den Menschen, der zu zweit das seßhafte, ackerbauende Leben auf der Erde beginnt, in seinem Leben und Leben Weitergeben alles zu erwarten hat. Plotin »erzählt« vom gemeinsamen Erdenleben des Menschen nichts, versucht sich auch nicht anfänglich in irgendeinem Realismus, in dem Menschen sich spiegeln könnten, sondern zielt vom ersten Anfang an auf ein Ungeschehenmachen des menschlichen Entstandenseins. Der Mensch in seiner Einzelheit hat nicht einmal eine »Geschichte« mit einem Schöpfer, zum Beispiel keine Wiedergutmachungsgeschichte. Als sei nichts gewesen, und zwar im höchsten, wenn nicht elendsten Sinne von nichts, macht er sich auf den Heimweg. Dem entstandenen, für sich bestehenden Menschen stehen zwei Wege offen: der nach oben und der weiter nach unten – zurück in den »Himmel« oder weiter ins Verderben. Eine echte Geschichte auf Erden zu schreiben, ist für den Menschen nicht vorgesehen, nicht einmal eine sinnhafte, sofern Rettung ernötigende Verfallsgeschichte. Im Weg nach oben sieht der Metaphysiker dem Einzelnen die Chance eröffnet, sein »Leben« durch eine Form höchstmöglicher Aktivierung des Geistes zu retten, weil ihm dadurch »eine Erschließung sinnvoller, erfüllender Lebensbewegung gelinge«. 30 Der »Sinn« geht jetzt rein in die Vertikale, für die Horizontale, für das Erdenleben, bleibt nichts. Werner Beierwaltes, in: Plotin. Geist – Ideen – Freiheit. Enneade V 9 und VI 8, (ed./trad. Richard Harder), Einführung, Hamburg, 1990, S. XLII.
30
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Der geistige Weg hinauf (anabasis) als der Weg zurück zum ursprünglichen wahren Selbst ist der Weg zum Einen wie zum Guten, ist der Weg zum Einswerden mit dem Einen, was als die Vereinigung mit Gott verstanden wird. Die Methode dieses Wegs ist der Überstieg (ep-ekeina: darüber hinaus). Er wird final, wenn der Überstieg von der Seele zum Geist und vom Geist zum wahrhaft und wirklich Einen erfolgt. Die Deutung des Endereignisses ist beherrscht von der Metapher des geistigen Sehens, entsprechend von der des Schönen, das keinem sinnlichen Auge offensteht. Dieses höhere Sehen ist ohne Distanz. Schaut die Seele das wahrhaft Schöne, dann muß sie bereits selber wahrhaft schön geworden sein. Wird dieses schöne Schauen als die Schau Gottes erzählt, so setzt das voraus, daß die Seele in ihrem Hinaufweg gottgleich (theoeidês), ja eben dem Gott gleich (homoiôthênai theôi) geworden ist. 31 Doch dem Erzähler selbst ist es nicht ganz geheuer mit dieser Metaphorik des Schauens. Es geht ja um weit mehr als um das Beschauen von Götterbildern, wenn einer das Unbetretbare betritt. Bei der finalen Rückkehr geht es um Gott selbst (auto), um das Zusammensein (synousia) mit ihm. Dann aber ist das, wie der Erzähler sich ins Wort fällt, »vielleicht nichts zum Schauen«. Im Unbetretbaren nämlich wird die Seele ekstatisch, gelingt ihr die Selbstvereinfachung (haplôsis hautou, ein im Griechischen nur einmal gebrauchtes Wort), strebt sie nach Berührung und Stillstand. 32 Keine »erfüllende Lebensbewegung« wird damit beschworen, sondern eine endgültige Wandlung des Menschseins. Das Göttlichsein gerät in die Totale.
31 32
I 6,6,20; I 6,9,33. VI 9,11,13–25.
37 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Das wirklich Eine: Plotin
VII. Wie der Überstieg des Menschen über sich selbst sich der Metapher des Schauens bedient, das nicht mehr als Schauen zu verstehen ist, so auch der Metapher der Liebe, die für eine mögliche Lokation des Verstehens auf den Himmel angewiesen ist. Wie das Sehen ist auch die Liebe zweigeteilt in eine sinnliche und eine rein geistige. Die sinnliche gilt als nach unten gerichtet, obwohl sie deutlich in die Horizontale gerichtet ist. Die geistige ziele nach oben. Sie faßt so das allgemeine Streben (oregesthai) und Sichmühen (speudein) alles vielheitlichen Seins nach Vereinigung mit dem wahrhaft und wirklich Einen zusammen. Gilt schon für Platon, daß jedes Ding nach bestem Vermögen danach strebt, das zu sein, was es seinem Wesen nach ist, so wird das für Plotin zum Prinzip des allgemeinen Vereinigungsstrebens. Tritt nämlich das Eine aus sich heraus, um so als Vielheit in Erscheinung zu treten, dann gibt das Eine in seiner Identität mit dem Guten auch schon vor, daß alles Viele danach strebt, nichts Entäußertes mehr zu sein, sondern sich selbst zu gehören, was besagt, daß es nach dem einheitlichen Wesen des Guten strebt. Alle Einzelwesen streben von Natur zu sich selbst als zum Guten. Für die Seelen heißt das, daß sie ihr Wesen bewahren, wenn ihr Streben das Woher (aph hou) zum Wohin (eis ho) macht – für die Seele die beiden Seiten des Einen. 33 Der Essentialismus hat mit dem, was das Wesen einer Sache, das heißt was sie selbst ist, etwas in der Hand, um das der Sache eigene Wollen verpflichten zu können. Der Wesensgedanke schenkt die Freiheit, die Möglichkeit der Verfehlung, aber er gibt dem Philosophen die moralische Verfügungsmacht über alles Wesen. Mit dem Selbst hat er etwas Festes, an das er sich halten kann, mehr noch, das er nutzt, dem Wesen absolut gültige Vorschriften zu machen, die nichts anderem als der Wesensliebe dienen, diesem einzigartigen Verhalten, dem eigenen Ursprung 33
VI 2,11,23 ff.; VI 5,1,13 ff.
38 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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gerecht zu werden. Es ist das Selbst eines jeden Wesens in seiner Ursprünglichkeit, das zum Uranfänglichen und Ureinen zurückstrebt. Bei den Seelen hat dieses Streben den Charakter des Eros: Jede Seele stamme von Gott, also liebe sie Gott. Das sei ihr eingeboren (symphytos). 34 Im 1. Korintherbrief heißt die Liebe, die keine Liebe unter Menschen ist, agapê. Das ist in der Septuaginta das Wort für die Liebe des Volkes zu seinem Gott und für die des Gottes zu seinem Volk. 35 Heißt aber diese Liebe erôs, dann wird die Metapher ungleich gewagter. Auf diese Ungleichheit setzt Plotin. Er braucht, wie Platon im Phaidros, die Liebe zum Schönen auch als Begierde (epithymia tis), als irdische, die sehr wohl Menschen, aber keineswegs Gott gilt. Das Niedere und Unwahre will eigens dem Hohen und Wahren entgegengesetzt sein. Die Zweiwertigkeit des Menschen, das Grundgesetz moralisierender platonischer Anthropologie, spiegelt sich in der Zweiwertigkeit der Liebe. Bleibt die Seele bei ihrem Wesen und das heißt bei ihrer Natur (kata physin), dann steckt in ihrem Eros kein anderer Wille als der, mit Gott eins zu werden (theou henôthênai). Das ist die Liebe, die sich bemüht (speudei), von »hier«, von der Erde, wegzukommen, um gänzlich Gott zu umfangen, so daß nichts am Liebenden bleibt, das nicht mit Gott vereint wäre. Das heißt himmlische Liebe (ouranios erôs). Diese sittlich schöne Liebe (kalos erôs) vergleicht Plotin mit der Liebe einer sittlich schönen Jungfrau (parthenos kalê) zu ihrem Vater. Die will sich zwar mit ihrem Vater nicht vereinen, taugt aber als Gegenbild zur irdischen Liebe, zur Liebe »hier«, die als gemeine (pandêmos) Aphrodite von der himmlischen Aphrodite abgrundtief verschieden, weil gleichsam (hoion) nichts als Hurerei sei. 36
34 35 36
VI 9,9,25 ff. Jeremia 2,2. VI 9,9,25–61.
39 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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VIII. Wer der Zweiteilung des Menschen in Geist und Begierde, 37 wie sie wesensphilosophisch vorgegeben ist, methodisch folgt, arbeitet an der Entmenschlichung des Menschen. Gibt es nur die Wahl zwischen dem Weg hinauf zur Einheit mit dem Göttlichen und dem Weg hinab in das Schändlich-Gemeine von Menschen, dann ist Liebe als ein Gelingen unter Menschen ausgeschlossen. Eine Liebesnacht, wie Romeo und Julia sie teilten, kann nur noch zutiefst verwerflich sein. Ein Verhalten von Mensch zu Mensch, das »wesensgemäß« wäre, ist, weil für unmöglich erklärt, nicht vorgesehen. Im liebenden Beischlaf sieht der Neuplatoniker zwei Selbste in der Flucht vor sich selbst. Kein Wunder, daß sich einhundertfünfzig Jahre später bei Augustinus ein christliches Menschenbild festigt, das, unter Bekunden von Abscheu, die Geschlechtlichkeit ausgrenzt. 38 Für auf Paulus und Augustinus verpflichtete Theologen ist im »eigentlichen« Leben Erotik weder nötig noch möglich. 39 Gibt es für den Menschen, der sich und sein Leben ernst nimmt, keinen Weg zu anderen Menschen, dann hat man die Idee eines erfüllten Lebens gegen die Idee einer Erlösung vom (gelebten) Leben ausgewechselt. Anstatt daß Geistigkeit und Sinnlichkeit kooperativ einander befruchteten, werden sie zur gegenseitigen Behinderung, wenn nicht Verunmöglichung. Der Leib wird zu Fleisch, das Fleisch zu Begierde, aber die Begierde ist ein Feind des Geistes. Wer sein Begehren stillt, haßt sich selbst (ho misô touto poiô). 40 Der Sinn des Alten Testaments Die »Dreiteilung«, die den thymos (Mut/Gemüt) als Mitstreiter des Nous »Oben« und »Unten« vermitteln läßt, ist nur eine Sonderform der Zweiteilung. 38 Zu Augustins Theorie der Liebe siehe Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, S. 134–139. 39 Rudolf Bultmann, Art. zaô ktl., in: G. Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 2, Stuttgart 1954, S. 858. 40 Siehe dazu Römerbrief 7,14–25; Galaterbrief 5,17–26. 37
40 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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für erfülltes Leben, das Liebe und Tod bejaht, wird durch christlichen Solipsismus zum Widersinn. Was nach der Selbstauslegung des Menschen in der Genesis sein Leben bestimmt: Mann und Frau zu sein, geboren zu werden, Leben weiterzugeben und zu sterben, wird auch im Neuplatonismus zu einer Existenz, die dem Wesensauftrag des Menschen widerspricht. Fleisch zu Fleisch, heißt es in der Genesis, Staub zu Staub (Erde zu Erde) – nicht die Vereinigung mit Gott steht an, sondern die lebenserfüllende und lebensspendende Einheit des Fleisches (»sie werden ein Fleisch sein«). Die Anstrengung der Lebenden gilt keiner Vergeistigung (Pneumatisierung), sondern dem Leben, das aus dem Ackerboden seinen Anfang nimmt und in ihm sein Ende findet (»… bis du zurückkehrst zum Ackerboden, von dem du genommen bist. Denn Erde bist du, und zur Erde kehrst du zurück.«). 41 Das Erstaunliche an Platons und Plotins Menschensicht ist, daß keine miseria hominis, geprägt durch unerträgliche Lebensumstände, die Radikalabkehr von menschlicher Lebensart motiviert, sondern die Absolutsetzung der geistigen Kräfte mit Blick auf den Einzelnen. Ein usurpatorischer Zugriff des philosophierenden Geistes auf die Geistigkeit des Einzelnen hat statt. Philosophie erdenkt ein menschliches Wesen und Selbst, das den Einzelnen mit der Forderung konfrontiert, es sich wahrhaft und das heißt in reiner Geistigkeit anzueignen. Leben wird dadurch notwendig verinnerlicht: Das Menschheitsdrama gerät zur intrahumanen Aufführung der Bemühung eines Oben, sich von seinem Unten gänzlich zu befreien. Eine intrahumane Aufführung von Lebensteilung, die ihre Einheit in Zweiheit und Vielheit sucht und findet, ist dann überhaupt keine Option mehr. Gemeinschaft und Gesellschaft gehören im Dunstkreis individueller, sich selbst vergeistlichender Gottsuche nicht länger zu Möglichkeiten des Humanum. 1. Mose, 2,24; 3,19. Vgl. 2,7: »Da formte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker (apo tês gês)«.
41
41 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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IX. Plotin war um die Akzeptanz des von ihm mitgedichteten Menschheitsdramas bemüht. Gibt es auf Erden Menschen, und es gibt sie, dann konfrontierte ihn das mit der Tatsache, daß die Seele in der Form der Einzelseele ihren ursprünglichen Ort verlassen hat. Warum hat sie das getan? Wäre sie in ihrer Wesensheimat (für jene schöne Jungfrau dürfte es Vaterland heißen) geblieben, vorausgesetzt, sie hätte dort bleiben können, wäre sie nie dem Schlechten, der bunten Vielheit und dem Leib ausgesetzt gewesen. Plotin macht sich bei Platon kundig. Gedanken des Phaidon und Phaidros werden lebendig, besonders aber die kosmologische Spekulation des Timaios. Die Einsicht, die er dadurch gewinnt, ist von verblüffender Naivität: Weil die Seele nicht Geist ist, sich aber auf ihn als das seinsmäßig Höhere nach oben ausrichtet, sei sie auch in die Gegenrichtung verwiesen. Wie nämlich, von ihr aus gesehen, unmöglich der Geist vernachlässigt werden könne, so auch unmöglich das Niedere. Bestünde die Möglichkeit eines nachfolgenden (ephexês) Anderen, dann könne nicht alles im Geistigen (Noetischen) bleiben. Aus der Existenz des Höheren ergebe sich die Existenz des Niederen mit Notwendigkeit. 42 Der Blick auf den Kosmos, wie er für Plotin im Timaios verbindlich vorgegeben ist, 43 läßt keine andere Wahl: Die Welt ist zugleich geistig und sinnlich zu sehen, von dem Besten des Geistigen, von Gott, hervorgebracht, ist sie zum Schönsten des Sichtbaren geworden. Sein und Werden, Intelligibilität und Sensibilität, Geist und Materie gehören zusammen. Der Ehrgeiz des Philosophen besteht nunmehr darin, dieses Zusammengehören aufzuzeigen. Dazu ist der Gedanke der Seele vorgesehen. Wie der Mensch (leider, aber notwendig, sonst wäre er nicht Mensch) über selbstbeherrschte geistige und unbeherrsch42 43
IV 8,3,29–31. Platon, Timaios 28e–30b.
42 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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te sinnliche Kräfte verfügt, so hat die Seele (leider, aber mit Notwendigkeit, sonst wäre sie nicht Seele des lebenden Menschen) ein ganz entsprechendes Oben und Unten. Der Geist ist mit der Seele zusammen (syneinai). Das ist ihr Oben. Die Seele hat Gemeinschaft (koinônia) mit dem Leib. Das ist ihr Unten. Die ihrer Natur gemäßere Seele ist mehr (pleon) beim Oben als beim Unten. Aber selbst die mindere Seele, und tauchte sie »ins Innere des Leibes« ab, bleibt mit ihrem »Wesen« (physis) Teil der geistigen Welt. 44 Werden Richtersprüche, Losentscheide, schicksalshafte Ereignisse, ja eben Notwendigkeiten (Zwänge) genannt, die die Seele zum Abstieg (katabasis, aphixis) bestimmen, dann will Plotin, nachdem er, um den Vorgang zu erhellen, aus ihm ein Naturgesetz gemacht hat, im Hinab der Seele ein Hinabgeschicktsein durch Gott sehen. 45 Das soll keine Entsorgung eigener Verantwortung ins Divine bedeuten. Die Seele wäre nicht wesenhaft das, was sie ist, müßte und könnte sie nicht für das, was ihr widerfährt, verantwortlich gemacht werden. Von sich aus will die Seele nicht nach unten zu ihrer Leibverbundenheit, weil sie das am Denken hindert, was sie doch eigentlich will. Weil ihr aber nun einmal ein Unten eigen ist, ohne das es den Menschen nicht gäbe, muß sie, bei allem Obenbleiben, ganz wesenhaft auch hinab. Das aber kann nicht anders als durch Eigenbewegung (phora oikeia), also eigenverantwortlich geschehen. Das genügt, um Strafe (dikê) für ihr eigenes Tun in Erwägung zu ziehen. Die vom besten Geist geschaffene schönste Welt ist nicht eindeutig gut. Muß sich etwa die Seele wider ihr wahres Wesen wenden, um sich desselben bewußt zu werden? Ja, im Gedanken der Seele suchen bei Plotin Realist und Idealist ihr Auskommen miteinander. Es gibt, wie der Blick auf die Welt zeigt, Vielheit. Der Idealist überläßt darum dem Realisten das Argument, daß das Eine nicht allein sein und in sich selbst stehen kann, weil es 44 45
Zu dem hier zur Seele Ausgeführten siehe IV 8,1,1 bis IV 8,8,24. IV 8,5,12 f.
43 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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sonst die Vielheit der aus dem Einen hervorgegangenen Dinge nicht gäbe. Was etwa wäre die vom geschichtlichen und leibhaften Menschen gestaltete Welt, wenn sie nicht von Seelen geprägt wäre? Was wieder wäre eine Seele, wenn ihr nicht naturgemäß das Streben einwohnte, das ihr Nachgeordnete und Niedere zum Sein zu bringen? 46 Doch das Zugeständnis an die – nichtemphatische – Wirklichkeit, daß die Welt bis zum Materiellen und der Mensch bis zur maßlosen Triebhaftigkeit reicht, kann in Plotins Denken nicht wirklich Bestand haben. Der Idealist widerruft es, wenn er sich auf das wahrhaft zu Erstrebende besinnt. Das »reine Leben«, das die Seele auch in der Gemeinschaft mit dem Leibe für sich bewahrt, war einst sein ganzes Leben. In diesen ursprünglichen Zustand, in dem sie nichts als glücklich war, will sie zurück. 47 In der Gottesschau »allein bei ihm sein« 48 – das ist es, was die Seele wirklich will. Ruht die Seele in sich selbst und gibt sich der Betrachtung hin, so gewahrt sie gleichsam (hoion) sich selbst (synaisthêsis) in einem von ihr erzeugten Schaubild, das freilich kraftlos, weil ein bloßes Abbild ist. Ins Schauen versenkt, wird sie zu dem ihr Nachgeordneten geführt. 49 Das aber will sie nicht wirklich. Ihr wahres Ziel (telos talêthinon) ist allein das sie im Höchsten selbst erleuchtende Licht. 50
X. Plotins wertende Setzung eines Oben und Unten der Seele schließt jeden Sinn für Leben, das ein gelingend geteiltes ist, methodisch aus. Die Einzelseele, wie in essentialistischer Philosophie üblich, ist als selbsthaft engagierte um nichts als ihr wahres Wesen bemüht. Sie nutzt das erdachte Gefälle, um nach 46 47 48 49 50
IV 8,6,1–18. VI 7,34,31; IV 7,9,22–29. VI 7,34,37. III 8,4,17 ff. V 3,17,33–38.
44 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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oben hin mehr zu sein, als sie ist und zu sein vermag: göttlich. Das ist keine falsche Anmaßung, sondern die Konsequenz jeder Vergeistigung der Seele. Seelenmetaphysik lebt von der Inakzeptanz der Endlichkeit, wie sie den Menschen prägt – nicht nur als temporale, sondern auch als korporale. Die maßlose Aufund Abwertung der zwei Seelenbereiche kann nicht auf Platons Gedanken verzichten, daß die Seele nur in vollkommener Ablösung vom Leibe zu ihrer eigentlichen Existenz findet. Was hierbei als Einheit und Reinheit vorgestellt wird, schließt jede Form von Endlichkeit aus. Das Endliche ist für Platon naturgemäß ein Buntes und Vieles. Das ist verschärfter Idealismus: die vollständige Abkehr vom Leben, das der Mensch zu leben hat. Sich selbst als endlich zu wissen, verdankt sich nicht allein der Todesgewißheit, sondern nicht weniger dem alltäglichen Umgang mit Anderen. Jede Lebenssituation eines Einzelnen ist durch das Leben Anderer mitbestimmt. Selbst Einsamkeit und praktisches Alleinsein heben das Miteinander nicht auf. Es gibt keine Freiheit des Einzelnen, die nicht die Freiheiten Anderer beträfe und von ihnen betroffen wäre. Wird die Loslösung vom Leib als Befreiung gedeutet, wenn doch nach dem Bilde von Platons Phaidon der Leib der Kerker der Seele ist, dann führt das zu keiner Freiheit. Nurmehr im Licht zu sein, nurmehr mit Gott ein Eines zu sein, hat nichts vom freien Leben und Handeln an sich. Zum Freiheitsgebrauch gehören stets Mehrere, Freiheit braucht Endlichkeit. Lebenspraktisches Miteinander vollzieht sich als ein einander Beenden, ist wechselseitiges Haltgeben und Einhaltgebieten. Jedes Uti-et-frui im Miteinander ist eine Frucht endlicher Freiheit. Hat Plotin keinen Sinn für Lebensteilung (syzên) unter Menschen, dann kann er auch keinen für menschliche Endlichkeit haben. So merkt er nicht, daß er das Bild von der Heimkehr des Odysseus mißbraucht, wenn er es für die Heimkehr der Seele an ihren »wahren und angestammten Ort«, von dem her sie gekommen ist, nutzt. 51 Was für Odysseus als Gött51
V 9,1,20 f.; I 6,8,22.
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Das wirklich Eine: Plotin
liches die Sehnsucht bestimmt, ins Vaterland zurückzukehren, ist die gottgleiche Gattin (antitheên alochon). 52 Ausgerechnet eine Höchstform menschlicher Lebensteilung wird abgefälscht in solipsistische Spiritualität. Für Plotin muß die Seele »aus dem Leib aufwachen«, damit sie alles Außen hinter sich läßt und sich rein dem Inneren zuwendet. So nämlich verwirkliche sie das rein zu lebende Leben. 53 Die Aufkündigung des Einverständnisses mit dem geschichtlichen Menschen, das heißt mit dem Menschen, der wir selbst sind, betrifft, wie Plotin sie vorbringt, nicht eigentlich den Tod, sondern das Leben. Das Unten der Seele, ihre Verbindung mit dem leibhaften Leben, fällt gänzlich der geistigen Verachtung anheim. Der spekulative Überstieg (epekeina) über alles begrenzte und bestimmte Sein (ousia) hinaus, der zur reinen Wesenswirklichkeit (energeia) führt, hat kein Zurück in den Uterus im Blick, keinen Urschutz vor allem Unbill des Lebens und letzte Geborgenheit. Nein, diesem absoluten Ausstieg aus allem, was menschliches Leben ist, geht es um ein Mehr, das sich von allen Niederungen des Lebens für immer gelöst hat und jenseits von allem in Raum und Zeit Möglichen liegt. Es gibt keine Dinge mehr, nurmehr in sich gehaltene Selbsttätigkeit. Alles ist infinitivisiert und dies auf absolute, gänzlich in sich selbst schwingende Weise: Schauen, Berühren, Leuchten. In letzter Selbstüberbietung zielen Denken und Sprechen auf den Moment der Preisgabe jeglicher Individualität als den Moment reinster, inhaltsfreier Bewußtheit. Es herrscht reinstes Licht. Man möchte zum Verständnis Heraklit zur Hilfe nehmen: Es ist ein Blitz, der das Bewußtsein erhellt und zugleich zum Verlöschen bringt. 54 So sieht die Einheit mit Gott einer tödlichen Blendung gleich.
Odyssee 11,117; 13,378. Alochos = a-lechos, »Bett« mit kopulativem Alpha, wörtlich: »Bettgenossin«. 53 IV 8,1,1–4 54 Heraklit, Fragment B 30. 52
46 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Das wirklich Eine: Plotin
»Tu alles weg!« (aphele panta) 55 – eine Anweisung von lebenswie todesverachtender Spiritualität.
55
V 3,17,38.
47 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
3. Advaita (Die Nichtzweiheit): Shankara
I. Es geht um Befreiung und damit um Erlösung. In den heiligen Texten des Hinduismus wird der Mensch, wie er leibt und lebt, gemessen am »höchsten Gott« als etwas Unwahres und Unwirkliches bestimmt. Das aber macht ihn zu keinem Nichts. Nein, in seinen Augen ist er ja wirklich. Er ist geboren, um ein endliches Leben unter und mit Seinesgleichen zu leben. Er hat Empfindungen und Gefühle, er handelt und wirkt, er zeugt sich fort. Doch seine Augen, so wird es bestimmt, sehen falsch. Alles, was er sieht, ist Täuschung, ist Illusion. Doch, so könnten sich die Menschen, die der Lehre des Hinduismus ausgesetzt sind, fragen, lebt es sich nicht in dem, was da bloße Täuschung sein soll, insofern gut, als es ihnen besser erscheint, das heißt lieber ist, so zu leben, als gar nicht am Leben zu sein? Der Philosoph, der sich für zuständig hält, darauf zu antworten, verneint das entschieden, Shankara (788–820 n. Chr.), aus Südindien stammend, gilt als der wichtigste Philosoph des Hinduismus. Sein Hauptwerk ist ein Kommentar zur Bhagavadgîtâ (3. Jh. v. Chr.), zum »Gesang des Erhabenen«, das meint zum Wort des höchsten Gottes Bhagavad, der auf Fragen eines Angehörigen der zweithöchsten Klasse, eines Kriegers, antwortet. Die Auslegung, die Shankara diesem meistgelesenen Lehrtext des Hinduismus gibt, hat ihre Besonderheit darin, daß die absolut nötige Befreiung und Erlösung eine Sache menschlicher Geistigkeit sein soll. Handeln und Wirken hätten keinen möglichen Anteil daran.
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Advaita (Die Nichtzweiheit): Shankara
Das sola gratia 1 geht bei ihm mit dem soli intellectu 2 eine unauflösliche Verbindung ein.
II. Die Unwahrheit, in der Menschen nach hinduistischem Verständnis leben, macht lebensteilig gelingendes, auf sich selbst vertrauendes Leben und Handeln zur Lebenslüge. Der Realitätswahn, der hilft, über den Tag und durch die Nacht zu kommen, operiert mit einem einfachen Erkenntnisvermögen. Einfach meint hier, daß es Kaltes als kalt empfinden läßt und Schmerzliches als schmerzlich. Es hat kein Problem mit der Wirklichkeit des Kalten und des Schmerzlichen. Damit aber soll es jetzt vorbei sein. Das »unterscheidende« Erkennen ist gefordert. Allein die Erkenntnis ist eine befreiende und schließlich erlösende, die Wirkliches und Unwirkliches unterscheidet. Alles, ohne Ausnahme, was der Mensch in seinem Leben erfahre, erleide, wahrnehme und erkenne, sei unwirklich. Der Mensch habe kein Recht mehr, seinen eigenen Augen zu vertrauen. Nicht, daß man sich im Sehen einmal versehen könnte. Nein, auch das klar und unzweifelhaft mit den Augen Erfaßte sei, vom wahren Sehen aus beurteilt, unwirklich und eben reiner Trug. Das unterscheidende Erkennen, das Wirklichkeit und Unwirklichkeit unterscheidet, bedarf unterschiedlicher Augen. Der heilige Text, der mit Superlativen nicht spart, nennt, damit sich keiner vertut, »Die Dreiheit, welche durch die Gnade des Herrlichen erlangt wird, ist Menschwerdung, Bestreben (Aspiration) und Ruhe im grossen Geiste.« Sankaracharya, Das Palladium der Weisheit (Viveka Chudamani) (trad. Mohini Chatterji), Calw o. J., S. 5. 2 »Die Bhagavadgîta schlußfolgert deshalb, daß die Befreiung allein durch Erkenntnis erlangt wird und nicht durch Erkenntnis in Verbindung mit Handeln. Daß dies die Lehre der Gîtâ ist, werden wir im folgenden und an den entsprechenden Stellen immer wieder aufzeigen.« Bhagavadgita. Der vollständige Text mit dem Kommentar Shankaras (trad. Jürgen Dünnebier), München 1989, S. 31. 1
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Advaita (Die Nichtzweiheit): Shankara
zur Vorsicht die Wirklichkeit, die einzig Wirklichkeit ist, die »höchste«. Die Inversion der Metapher kündigt sich an: Nicht mehr die leibhaften Augen sind das Organ, das »eigentlich« (kyriôs) sieht, sondern allein »höchste« Augen kommen dafür in Frage. »Nicht aber kannst du mich mit deinen Augen sehen. Ich verleihe dir himmlische Augen. Nun schau […]!« 3
Die höchste Wirklichkeit aber, die es zu schauen gibt, ist, um es vorwegzunehmen, das »Brahman«, 4 das, woraus Ursprung, Bestand und Vergehen dieses Weltalls ist. 5 Es selbst ist unvergänglich, ist also nicht von dem, was aus ihm hervorgeht, durch es Bestand hat und auch zerstört wird. So ist es das einzigartige »Das«, die einzige Wirklichkeit. Für den Menschen, der geboren wird, für Nachkommen sorgt und stirbt, ist es unerkennbar. Dieses Höchste und Einzigste kann aber »durch das Auge der reinen Weisheit erkannt werden«, 6 das das des »Atman« ist, des ewigen Selbst des Menschen. Wer, in reinster Geistigkeit und von allem Weltlichen befreit, das Brahman schaut, wird Brahman: Das Atman ist das Brahman, das menschliche Selbst ist das Das. Die Argumentation zugunsten der Erlösung vom gelebten Leben operiert mit überraschenden Gleichsetzungen. Wir sehen ein Zusammenspiel von Ontologie und Anthropologie. Wie in der griechischen Ontologie das »Seiende« und eben Wirkliche das Bleibende und nicht dem Gang der Zeit Ausgesetzte ist, so herrscht auch hier eine sich wie selbstverständlich gebende Gleichsetzung des Wirklichen mit dem Ewigen. Daß aber das Ewige das Zeitliche unendlich an Wirklichkeit übertrifft, ist nicht dadurch gegeben, daß in allem Zeitlichen schon die Endlichkeit herrscht und mit ihr die Kürze, das unaufBhagavadgîtâ Kap. XI, 8 (S. 217). Bhagavadgîtâ, S. 62. 5 Paul Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie Bd. II/2. Die Philosophie der Upanishad’s, 4. Aufl., Leipzig 1920, S. 51. 6 Das Palladium der Weisheit, S. 82. 3 4
50 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Advaita (Die Nichtzweiheit): Shankara
hebbare Zukurz der Zeit. Nein, es geht ja um Befreiung und Erlösung und damit um Seligkeit, die wirklich ihren Namen verdient. Die Ein-Mensch-Anthropologie, die mit einem Oben und Unten als einem Verhältnis von Wert und Unwert arbeitet, kann sich das für sie allein Wertvolle nicht anders als das dem Sinnlichen und Körperlichen Entzogene vorstellen. Das Ewige überspielt nicht eigentlich die Kürze alles Lebens, sondern die Infamie des sinnlich und leibhaft bestimmten Lebens. Solipsistische Anthropologie lebt von der Selbstverklärung des Geistes. Dazu aber braucht sie die Ontologie des Ewigen, wie sie die Selbstverklärung des Geistes braucht. Das unterscheidende Erkennen ist von überraschender Simplizität, Stringenz und Konsequenz: Die Unterscheidung von Wirklichkeit und Unwirklichkeit basiert auf einer Unterscheidung von Geistigkeit und Körperlichkeit, von Ewigkeit und Veränderlichkeit. Auf den Menschen bezogen ist es die Unterscheidung von Selbst und Nichtselbst. Das Selbst meint dann die eine, ewige und höchste Wirklichkeit, das Nichtselbst die Vielheit des Unwirklichen. Das unterscheidende Erkennen hebt so den Dualismus der solipsistischen Anthropologie in den absoluten Monismus der Ontologie auf. Wie sehr das Wirkliche eins, ja eben das einzig Eine ist, wird noch genauer zu eruieren sein.
III. Das Ich des Menschen, das sich im Verhältnis zum Du positioniert, ist ein Mosaikstein im Unwirklichen. Das Ichbewußtsein (I-am-ness) ist ein Meisterstück der Welt des Trugs. Um neu von Ich reden zu können, muß dieser Begriff in den des »wahren Selbst« übertragen werden. 7 Dann aber wird es tauglich zu geradezu ungeheuren Formulierungen: »Ich selbst bin das« (»die
7
Das Palladium der Weisheit, S. 94.
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Advaita (Die Nichtzweiheit): Shankara
höchste Wirklichkeit, das Brahman«); 8 »Der ewig reine alleinige Eine, die ungeteilte Seligkeit, der Unvergleichliche, die Wahrheit, Weisheit, endlos, der Allerhöchste, Ewige, der bin Ich.« 9 Diese sich rein und selig gebärdende Ontologie hinterläßt eine schmutzige Anthropologie. Shankara zitiert die Upanishaden: »Was kümmern uns Nachkommen, uns, die wir in dieser Welt, diesem Selbst leben?« 10 Wer eins mit der »Welt«, mit der höchsten Wirklichkeit ist, dessen angesagte Seligkeit läßt keine menschlichen Wünsche mehr zu, schon gar nicht den nach Nachkommen, womit ausschließlich Söhne gemeint sind. 11 Kein Zölibat ist angezielt, keine geistökonomische Beschränkung auf das Wesentliche. Es geht um die Verdammung des Geburtlichen als solchen. Zur Selbstzucht gehöre das »Betrachten von Geburt, Tod, Altern, Krankheit und Leid als Übel«. 12 Das läßt an die Büchse der Pandora denken. 13 Doch es gibt ein Mittel dagegen: »Nichtverhaftung, Nichtzugeneigtsein gegenüber Sohn, Frau, Haus«. 14 Sich Empathie gegenüber Nächsten zu versagen, scheint auch noch zur Geistökonomie gehören zu können. Doch die Distanz hat bereits eine Qualität: die Verachtung. Shankara sieht die Unterscheidung von Selbst und Nichtselbst gestört: »Wenn dein Geist das Dikkicht der Verhaftung durchquert hat, wirst du Verachtung für alles empfinden«, was das Leben des Handelns und Wirkens beherrscht. 15 Verachtung für alle kleinlichen Bemühungen im Leben, die den Geist davon abbringen, das wahre Selbst zum alleiBhagavadgîtâ, S. 62. Shankara, Atma Bodha (Selbsterkenntnis), in: Anhang zu Palladium, Nr. 35 (S. 10). 10 Bridhadâranyaka-Upanishad 4.4.22, in: Bhagavadgîtâ, S. 28. 11 Bridhadâranyaka-Upanishad 3.5.1 (S. 383): »Nachdem sie es (das Selbst) erkannt und das Verlangen nach Söhnen […] überwunden haben, führen sie das Leben von Bettelmönchen.« 12 Bhagavadgîtâ Kap. XIII, 8 (S. 262). 13 Siehe Rainer Marten, Endlichkeit, Freiburg/München 2013, S. 11–18. 14 Bhagavadgîtâ Kap. XIII, 9 (S. 262). 15 Bhagavadgîtâ Kap. II, 52 (S. 58). 8 9
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Advaita (Die Nichtzweiheit): Shankara
nigen Ziel zu haben, zeigt aber nicht schon den Abscheu an, der die Verachtung für Leben in seiner Geburtlichkeit mitbestimmt: »Wenn du diesen Körper (Persönlichkeit), der aus Fleisch und Unreinigkeiten besteht, und aus den Unreinigkeiten von Vater und Mutter entstanden ist, verlassen hast, so wie ein verworfenes Ding, so werde Brahm […].« 16 Eltern sind als Eltern abstoßend, Geborensein als Geborensein. Schärfer kann die Grenze zwischen Selbst und Nichtselbst nicht gezogen sein, die den geistigen Bruch mit dem markiert, was das Grundgeschehen menschlichen Lebens ausmacht.
IV. Im Hinduismus gilt der Körper, selbst wenn mit Erde und Wasser gewaschen, einfach als Körper für unrein. Das ist das Problem. Der eigene Körper ekelt einen an, was sich auf den Verkehr (Geschlechtsverkehr) (intercourse) mit Anderen überträgt. Da die Trennung von Wirklichkeit und Unwirklichkeit, Selbst und Nichtselbst eine absolute ist, kann die Unreinheit des Körpers nur eine absolute sein. »Was sollte der«, fragt die zitierte Sûtra, »der die Mängel des Körpers erkennt, sich auf einen Verkehr mit den absolut unreinen (absolutely unpurified) Körpern von Anderen einlassen?« 17 Körperlichkeit ist Ekelhaftigkeit (distaste, disgust). Die solipsistische Anthropologie, die ihren wesentlichen Schnitt zwischen dem Oben und dem Unten des Menschen macht und darum, bewußt oder unbewußt, den aufrechtstehenden Einzelnen im Blick hat, 18 erkennt im »Oben«, im Geist, keiDas Palladium der Weisheit, S. 93. The Complete Commentary by Sankara on the Yoga Sûtra-s (trad. Trevor Leggett), London/New York 1990, Sûtra II, 40 (S. 271). 18 »Blick also auf gen Himmel, o Mensch, und erfreue dich schaudernd deines unermeßlichen Vorzugs, den der Schöpfer der Welt an ein so einfaches Prinzipium, deine aufrechte Gestalt knüpfte.« Johann Gottfried Her16 17
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Advaita (Die Nichtzweiheit): Shankara
ne reine Einheit. Auch hier gilt es, Unreines auszuscheiden. Von »Flecken« (taints) ist die Rede, die Verunreinigung und Beflekkung (defilement) verursachen. In einer Sûtra finden wir die wichtigsten (schlimmsten) aufgezählt: Unwissenheit, Ichbewußtsein, (I-am-ness), Verlangen, Haß und Am-Leben-Hängen (cling to life). 19 Träumte Rousseau von einem Leben, das von keinem Wissen befleckt ist, dann gilt hier mit guten Gründen Unwissenheit als erste aller Befleckungen. Wer das wahre Selbst »in sich selbst durch sich selbst« schaut, 20 ist im Zustand des vollkommenen Wissens und eben der Weisheit, was »ein völliger Abschied vom Leben« sein kann. 21 Unwissenheit ist kein naiver, sondern ein verächtlicher, ja abscheulicher Zustand. Zur Vollkommenheit und zur wahren Erkenntnis geführt, ist der zum Brahman Gewordene »von allem Makel gereinigt«. 22 Hat er nicht alle Körperlichkeit für immer verlassen, um mit der höchsten Wirklichkeit auf ewig und unterschiedslos eins zu sein, dann muß man sich den Yogi Genannten als einen Menschen vorstellen, der in »reiner Gegend«, vor allem Weltlichen geschützt, in geistiger Versenkung eine sitzende Stellung eingenommen hat. 23 Sein Körper ist nicht rein, aber, obwohl Körperträger, ist er als solcher in nichts mehr bei seinem Körper. »Die Begierde, welche dem Körper entspringt«, beispielhaft die nach dem »Weib«, ist besiegt. 24 Das leibhaft Auf-der-Erde-Sein gilt nicht mehr. »Himmlischer Friede« ist erlangt, was den Zustand des Selbst als den der höchsten geistigen »Zufriedenheit« (»Seligkeit«) meint. 25 Doch Sitz- und Atemtechnik, aller Yoga der, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Wiesbaden o. J., S. 110. 19 Yoga Sûtra-s, Sûtra I, 24 (S. 107–111). 20 Bhagavadgîtâ Kap. XIII, 24 (S. 280). 21 Paul Deussen, Die Philosophie der Upanishad’s, S. 337. 22 Bhagavadgîtâ Kap. VI, 27 (S. 157); Kap. VI, 45 (S. 163). 23 Paul Deussen, Die Philosophie der Upanishad’s, S. 346 f. 24 Palladium, S. 25. 25 Bhagavadgîtâ Kap. II, 55 (S. 60); Kap. II, 64 f. (S. 64) et al.
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der Entsagung ist für sich ohne Bedeutung, wenn nicht das Wissen erlangt ist. Das unterscheidende Erkennen, das einen absoluten Schnitt zwischen Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, Selbst und Nichtselbst macht, versteht sich selbst notwendig so, daß es um einen absoluten Schnitt zwischen Erkenntnis und Nichterkenntnis geht: »Wenn er die Erkenntnis erlangt hat, geht er bald in den höchsten Frieden ein.« 26 Und was ist da eigentlich erkannt? Die wichtigste Antwort darauf lautet, daß Erkennender, Erkanntes und Erkenntnis als ein und dasselbe eine reine Einheit bilden. 27 Die Reinigung von allen Makeln (Flecken) als Weg zur Erkenntnis ist nichts anderes als die Verselbstung des Selbst, wie ich es deuten möchte. Es ist nurmehr es selbst, und dies einzig durch sich selbst, ohne jede Ursache, die nicht einfach das Selbst selbst wäre. Keine Isolierung, Vereinsamung hat statt, weil keine Verhältnisse des lebendigen Lebens mehr relevant sind. Die Erkenntnis der höchsten Wirklichkeit ist eben die Erkenntnis der höchsten Wirklichkeit. Genitivus subjectivus und genitivus objectivus fallen zusammen. Der Solipsismus der zugrundeliegenden Anthropologie ist wie weggeblasen. Es gibt kein solus ipse mehr. Wer jetzt »Ich« sagt und damit das »wahre Selbst« sprechen läßt, hat nichts anderes zu artikulieren, als das ewig reine alleinige Eine. Die vollkommene Auflösung ist vollzogen.
V. Das Ich wachen Selbstseins ist das Ich ohne Du. Davon, daß es im Geiste keine Gemeinschaft und Solidarität gibt, erhält der lernbereite Hindu schon am Beginn seines Glaubenswegs einen Bhagavadgîtâ Kap. IV, 39 (S. 118). Atma Bodha Nr. 40 (S. 11): »Im höheren Selbst gibt es keine Verschiedenheit zwischen dem Erkenner, dem Erkennen und dem Erkannten, denn durch sein eigenes Wesen, Bewusstsein und Seligkeit leuchtet dieses strahlende Selbst aus sich selbst.«
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Vorgeschmack. Ein Mensch, welch Wunder, zeigt menschliche Gefühle. Der höchste Gott redet sie ihm aus. Das sei »Herzensschwäche«, »Unmännlichkeit«, wie sie dem »Unwürdigen« den Weg in den Himmel verstellt. 28 Er sei ein »Narr«, sekundiert Shankara, wenn er sich um Andere sorge: »Du sorgst dich also um jene, die in Wirklichkeit ewig sind, und keiner Sorge bedürfen.« 29 Sieht einer Menschen leiden, gefoltert und getötet werden, dann weiß der Nichtnarr, daß durch dieses menschliche Erleben ihrem wahren Wesen gar nichts geschieht. Das von reiner Geistigkeit erfüllte unsterbliche Selbst ist dasselbe in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in Kindheit, Jugend und Alter. Es ist gleichgültig gegen alle Wechselfälle des Lebens. Das Empfinden von Kälte und Wärme wechselt, allein schon das von Kälte selbst, wenn es doch einmal angenehm, ein andermal schmerzhaft sein kann. Wie das Empfinden von Kälte und Wärme unbeständig ist, so auch das von Glück und Unglück, Freude und Leid. Gleichmut und Gleichgültigkeit sind darauf die Antwort des Gläubigen, der bestrebt ist, vom menschlichen Menschsein zum göttlichen Menschsein zu wechseln, dem das Einssein mit Gott, nicht das Gemeinsein mit Menschen am Herzen liegt. Was der Mensch erlebt und erfährt, was ihn bewegt und stimmt, ist nichts als Illusion. Bewährter, ordinärer Realismus und Ignoranz sind für den Hindu deckungsgleich. In der menschlichen Lebenswelt gibt es nichts zu erkennen. Die Erkenntnis des wahren Selbst als die der wahren Wirklichkeit ist die einzig wirkliche Erkenntnis. Weil aber das, was dem Menschen im Leben widerfährt, sobald es ihn touchiert, auch schon vom wahren Weg abzubringen beginnt, muß er es von sich abwehren. Liebe und Haß, diese Garanten menschlicher Zweiheit, werden zu seinen Feinden. Warnt die Bhagavadgîtâ den rein auf sein Selbst Bedachten vor diesen Gefühlen, weil sie Andere 28 29
Bhagavadgîtâ Kap. II,2 f. (S. 24). Bhagavadgîtâ S. 32.
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wichtig werden lassen, dann nimmt Shankara das zum Anlaß, diese »Feinde« mit Straßenräubern zu vergleichen, die den Fortschritt auf dem richtigen Weg behindern. 30 Die Zweiheit der einander Liebenden genügt hier, um dies Gefühlsgeschehen als eine der Sinnlichkeit und Körperlichkeit geschuldete Illusion zu erkennen. Wer realisiert, daß er »Das« (That) ist, alle wahre höchste Wirklichkeit, der weiß sich über »Familie und Stamm« erhaben. 31 Jede Art von menschlicher Integration ist für das wahre Selbst ausgeschlossen. Was mit Blick auf die Erdenwelt gesagt ist, gilt im Himmel ungleich entschiedener. Ist auf Erden, und das heißt im gelebten Leben, vor allem Begehren und Verlangen zu warnen, das Andere als Wegelagerer Bedeutung gewinnen läßt, dann sind Andere im Himmel schlicht nicht gegeben. Der Himmel als Bild für höchste Wirklichkeit ist unterschiedslos einer und mit dem Selbst eins. »Die Vorstellung des Geteiltseins des Lebens im Ewigen«, schreibt Shankara, »entsteht durch Irrtum«. 32 Das »Ich«, das sich gegen ein »Du« positioniere, das »Mein«, das sich von einem »Dein« abgrenze, sei Avidya, gottlose Unwissenheit. 33 Das ist es: Die Erkenntnis, die göttliche Seligkeit und himmlischer Friede ist, läßt das Selbst nichts anderes sein als Eins mit der Wirklichkeit. Wie es erkennt, schwebt es rein in sich. Nimmt es Kontakt auf, dann ausschließlich mit sich selbst. Es ist keine fensterlose Monade, schon gar keine mit Fenstern, weil es kein Eines unter Anderen ist. Als Eines ist es Alles. Gemeinschaft – das ist die Austragsstätte der Unwahrheit des Menschen, der Pflichtvergessenheit gegenüber seinem innersten Wesen. Wer Leben teilt und Leben weitergibt, macht sich schuldig an Gott und der Gnade des Einsseins mit ihm.
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Bhagavadgîtâ Kap. III, 34 (S. 87 f.). Das Palladium der Weisheit, S. 81; 97. Atma Bodha Nr. 44 (S. 12). Atma Bodha Nr. 45 (S. 12).
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VI. Ist Liebe ein Feind des wahren Selbst, dann Tod, der das Sterben vollendet, eine Belanglosigkeit der Selbst-Inszenierung. Um die Bedeutungslosigkeit des Todes herauszustellen, wählt Shankara das Bild des Kleiderablegens, das er variiert: »So wie der Mensch abgetragene Kleider ablegt […], genauso legt der Träger des Körpers abgetragenen Körper ab.« 34 Abgetragen – das zielt ganz offensichtlich auf das Altern, das einen nicht mehr comme il faut erscheinen läßt. Jetzt ist ein neues Kleid, ein neuer Körper an der Zeit, wenn nicht bereits ewige Körperlosigkeit erlangt ist. Da es sich aber der Lehre zufolge allein um den Austausch von Unwirklichem handeln kann (weder Kleidung noch Körper haben Existenz), passiert mit dem so gedeuteten Tod eigentlich überhaupt nichts. Als korrigierte er sich selbst, versteht es Shankara mit dem Tod als Kleiderwechsel an anderer Stelle signifikant anders: Das Selbst im Bilde des Kleidträgers wählt sich sein Kleid. Nein, das Selbst will nicht gut aussehen, verlangt auch nicht nach einem haltbaren Kleid. Das Kleid, und das meint der Körper, dient der Inszenierung, um nicht zu sagen Verstellung: »Wenn du das ursprüngliche Bewußtsein […] erlangt hast, so verlasse diesen illusorischen Leib, der vom Atma angenommen wurde, so wie ein Schauspieler seine Kleidung.« 35 Wäre dies Bild hermeneutisch belastbar, dann zeigte es: Das Selbst hat einen Eigenanteil am Illusorischen seines Erscheinungsbildes in der niederen Realität. Die »neuen« Kleider wären dann nicht schlechtweg bedeutungslos, sondern böten die Chance einer Neuinszenierung. Nein, im Rahmen der Lehre von der Nichtzweiheit ist ein Eigeninteresse des Atman, der das Brahman ist, an einem besonderen Körper nicht denkbar. Das absolute Erkenntnisinteresse läßt sich durch keine besondere Körperinszenierung fördern. Der Tod ist ein Ereignis im Illusorischen. Er ist 34 35
Bhagavadgîtâ Kap. II, 22 (S. 45). Das Palladium der Weisheit, S. 95.
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unwahr. Daß er Bedeutung für das erfüllte Insichselbstsein des Selbst hätte, ist nicht denkbar. Die Bedeutungslosigkeit des Todes ist schon dadurch evident, daß der Tod eines Anderen, gerade auch eines Nächsten, gewänne er irgendwelche Bedeutung, zu den Wegelagerern zählen müßte, die den Fortschritt des Selbst auf dem Weg zu seinem höchsten Ziel behindern. Menschliche Gefühle, überläßt Einer sich ihnen, führen zum höheren Tod seines höheren Selbst.
VII. Die Protophysik 36 hat brauchbare Methoden entwickelt, dem Ideal unter nichtidealen Bedingungen möglichst nahe zu kommen. Soll eine Gerade möglichst gerade sein, dann ziehe man kräftig an den zwei Enden einer Schnur. Soll ein Kreis möglichst rund werden, dann befestige man einen Gegenstand an einer Schnur und bringe sie mit dem Arm in Kreisbewegung. Wer, und das gilt jetzt Shankara, von der Viel- und Zweiheit zur Einheit will, der setze den Superlativ ein. Soll es ein Ziel geben, dann nenne man es das höchste. 37 Da es allemal um das Eine geht, kann dieser Superlativ in der Bhagavadgîtâ und ihrem Kommentar nur inflationär sein: Die höchste Wirklichkeit und höchste Wahrheit, das höchste Brahman und höchste Selbst (Atman), der höchste Gott und der höchste Geist (auch Purûsha), der höchste Friede, die höchste Hingabe, Glückseligkeit und Läuterung, die höchste Stätte Vishnus, die höchste Wohnstätte (des Allerhöchsten) – so reich ist das einzig und ewig Eine, das unteilbare und fleckenlose Eine. Denn das wäre ein höchstes Mißverständnis: in dieser Aufzählung von Höchstem eine VielSiehe Paul Lorenzen, Das Begründungsproblem der Geometrie als Wissenschaft der räumlichen Ordnung (1960), in: Philosophia naturalis VI (1961), S. 415–431. 37 Bhagavadgîtâ Kap. VIII, 12, 13 (S. 181); Kap. XIII, 27 (S. 283). 36
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heit zu sehen. Das Höchste ist eines – es ist das Brahman und das Selbst, der Gott und die Wirklichkeit, die Glückseligkeit und Läuterung. Das Ziel ist das Einzig-Eine. In ihm angelangt, gibt es nichts als reine Einheit. Alles Höchste, einschließlich der höchsten Hingabe und des höchsten Friedens, ist dasselbe. Ebenso viel- wie nichtssagend 38 ist notwendig die Sprache für das »Unmanifeste«, »Unerklärliche«, »Undenkbare«, das »nicht mit Worten erfaßt«, »durch kein Wort bezeichnet werden« kann und »von dem«, wie es in einer Upanishade heißt, »alle Worte zurückkehren«. 39 Doch, das kennen wir schon von Plotin, für die Dichter der Transzendenz ist das Unmögliche möglich. Das Undenkbare wird gedacht, das Unsagbare gesagt. Bei aller Überwältigung durch dies Höchstangebot an verklärt Zuverstehengegebenem wird doch hinreichend klar, daß dem Menschen der Austritt aus der Menschenwelt als der Weg aus der schmutzigen Vielheit in die reine Einheit gezeigt wird. Die Einheit verwirklichen, 40 erlangen, 41 in sie eingehen 42 – ja, es ist das höchste Ziel, mit Gott Eins zu werden. 43 Damit ist, wie nun leicht zu verstehen, das Selbst Eins geworden, und zwar für immer. 44 Amerikanische Pragmatisten fragen sich, what’s the use of it, zu was ist das gut? Sigmund Freud hat ja einiges dazu zu sagen, wenn er als Devise notiert: »Wo Es war, soll Ich werPaul Deussen, Die Philosophie der Upanishad’s, S. 79 f.: »Aber beide Ausdrücke sind […] von unbestimmtem Inhalte: der Begriff des brahman ist […] sehr vieldeutig, und der Begriff des âtman ist […] ein relativer und negativer Begriff, der uns mehr sagt, worin wir das Wesen des Menschen und der Welt nicht zu sehen haben, als daß er uns über dieses Wesen einen positiven Aufschluß gäbe.« 39 Taittirîya-Upanishad 2.4.1, zitiert in: Bhagavadgîtâ Kap. XIII, 12 (S. 266). Siehe dazu Bhagavadgîtâ Kap. II, 25–27 (S. 47 f.); Kap. XII, 3 (S. 232); Kap. XIII, 12 (S. 264 f.). 40 Das Palladium der Weisheit, S. 71. 41 Bhagavadgîtâ Kap. XIV, 2 (S. 292). 42 Bhagavadgîtâ Kap. VI, 31 (S. 158). 43 Bhagavadgîtâ Kap. XII, 12, 13 (S. 237). 44 Das Palladium der Weisheit, S. 94. 38
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den«. Was aber ist gewonnen, wenn aus der Vielheit der Lebensvorgänge und Lebensäußerungen eine Einheit geworden ist, die mit ihrer Absolutheit und Superidentität (Selbstbewußtsein und Wirklichkeit sind dasselbe, Erkennender, Erkanntes und Erkenntnis usw.) jeden um Verständnis bemühten Nachvollzug überfordert? Die Antwort sammelt sich vieldeutig in einem Wort des Sanskrit: Glückseligkeit, so die Übersetzer, ist der unüberbietbare Gewinn, höchste und ewige Glückseligkeit. Erweitert sich die Übersetzung, dann ergibt sich, daß Befreiung und Erlösung der Gewinn ist, Erlösung von allem Leben in Freud und Leid, in Glück und Unglück. Der Mann ist nicht mehr Mann und die Frau nicht mehr Frau. Das höchste Selbst, eins mit dem höchsten Brahman, ist ein Neutrum. Alle Züge, alle Erscheinungsformen irdischen Lebens sind verlöscht, und das ist auch die wörtliche Übersetzung von nirvâna: das Verlöschen. Gebraucht man dafür das Bild der Flamme, dann ist zusätzliche dichterische Phantasie gefragt. Mit dem Verlöschen bricht nicht etwa das absolute Dunkel an, das große Nichts. Nein, alles anthropologisch als »Unten« Gedeutete ist verlöscht, alles, was vom Unterleib regiert wird. Das falsche Licht verlöscht, das eigentlich dunkel ist, und das wahre Licht bricht an: Freude, Wonne, Frieden, Zufriedenheit, Seligkeit, ja eben Glückseligkeit herrscht. Wer mit den gottverliehenen himmlischen Augen die wahre Gestalt des höchsten Gottes zu schauen bekommt, dem ist der Glanz dieser Lichtgestalt dem Glanz von tausend Sonnen vergleichbar, der auf einmal am Himmel erscheint. 45 Erst, wenn das sinnliche und leibhafte Leben verlischt, wird es wahrhaft licht: durch das Licht der Erkenntnis. 46 Das wahre Selbst hat den Ort des Lichts nie verlassen: Es ist ewig das Eine. Die Rede vom Verwirklichen, Erlangen, Eingehen, alles Weghafte und Methodische des Yoga wäre mißverstanden, wenn die größte Wahrheit nicht darin gesehen würde, 45 46
Bhagavadgîtâ Kap. XI, 12 (S. 217). Bhagavadgîtâ Kap. XIV, 11 (S. 297).
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daß das Atman das Brahman ist, daß das Brahman mit dem Gott eins ist – für immer und ewig. Darum kann das Licht, das im Nirvana leuchtet, kein anderes sein als das des Selbst: »denn durch sein eigenes Wesen, Bewußtsein und Seligkeit leuchtet dieses strahlende Selbst aus sich selbst«. 47 Ist das Selbst mit Gott eins, dann ist es nirgends anders als in sich selbst. Seine Freude ist eine »innerliche«, »im Innern« ist es vergnügt. 48 In Gott zu leben heißt, im eigenen Innern zu leben. Der Yogi, der auf das höchste Ziel Ausgerichtete, lebt in Abgeschiedenheit, ist allein. 49 Er ist auf einem Berg, in einer Höhle. Das Selbst, das sich in seinem Innern vergnügt, befindet sich in einer ganz anderen, in einer höchsten Abgeschiedenheit. Diese Transcendental Aloneness 50 ist Egoismus in seiner höchsten, nicht mehr selbstisch, sondern nurmehr selbsthaft möglichen Form. Das Selbst ist alles, weiß sich als alles. Damit aber gilt das Wort aus den Upanishaden: »Nur eines ohne ein zweites«. 51 Andere existieren nicht. Aller Konflikte »enthoben« zu sein, heißt, daß sie unmöglich sind. 52
VIII. Die Erdichtung eines Höchsten gibt Aufschluß über das Unterwerfungspotential des Dichters: Der höchste Gott, der Anfang aller Götter, der allesdurchdringende Urgott – er ist der Ursprung aller Dinge, der Herr der Welt; er ist das Selbst in allen Wesen, das Bewußtsein in den Lebewesen; er kennt sich selbst Atma Bodha Nr. 40 (S. 11). Bhagavadgîtâ Kap. V, 21 (S. 137); Kap. V, 24 (S. 139). 49 Bhagavadgîtâ Kap. VI, 10 (S. 151). 50 The Yoga-Sûtra-s IV, 34 (S. 417) 51 Chândogya-Upanishad 6.2.1, zitiert in: Bhagavadgîtâ Kap. IX, 1. Vgl. Das Palladium der Weisheit, S. 75: »Deshalb ist das höchste Brahm die einzige Wirklichkeit, ohne einen Zweiten.« 52 Bhagavadgîtâ Kap. II, 51 (S. 58). 47 48
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als das Selbst. 53 Was gibt es Höheres für Dienende als dem Höchsten dienen – ihn mit voller Liebe verehren, den Geist auf ihn ausrichten, mit seinem Leben in ihm aufgehen, 54 alle Handlungen um seinetwillen ausführen, ihn für das Höchste ansehen, sich ihm ganz hingeben? 55 Nun ist es aber in dieser Dichtung dem Dienenden nicht gegönnt, im Dienste des Höchsten zu bleiben. Sie hat keinerlei Interesse an einem stabilen Verhältnis von Gott und Mensch. Sie ist ein Lehrgedicht, dessen Lehre dem Menschen gilt, sich selbst in seinem wahren Selbst zu erkennen. Hat aber der Mensch den Atman erkannt, dann ist auch schon das als die ewige Wahrheit erkannt, daß der Höchste in seinem »Selbst weilt«, daß er, gelingt das Dienen, »in ihn eingeht«. Das Höchste erkennend, ist er selbst das Erkannte. Er, der Atman, das Wort für Prinzip, ist der Urgrund von allem, ist, wie vielfach ausgeführt, Eins mit dem Brahman. Offenbart sich Gott dem Menschen mit dem Resultat, daß sich der Mensch als Gott erkennt, dann bezahlt der Mensch dafür einen hohen, wenn nicht zu hohen Preis: Er bezahlt die Gottwerdung mit dem Menschsein. Als Mensch einem übermenschlich Höchsten zu dienen, ist das eine, das Übermenschliche aber selbst zu sein, ist etwas totaliter aliter. Zielte die erzählte Lehre nur darauf, dem Einzelnen jede echte Individualität auszureden und ihm sein Kern-Selbst als alles durchdringende ewige Wirklichkeit einzureden, dann könnte ihr damit ein verklärendes Bild vom Totsein gelungen sein. Doch das ist nicht der Fall, da diese Ontologie auf einer negativen Diskriminierung gelebten Menschseins basiert. Zwar kommt aus dem Atman, dem Selbst, weil ewiger Urquell, das Leben, das Verlangen, die Liebe 56 und auch sonst alles, was unter dem Himmel und auf der Erde Teil an der Vielheit hat, aber so etwas wie Liebe unter Menschen hat Bhagavadgîtâ Kap. X, 1–22 (S. 205–211). Bhagavadgîtâ Kap. X, 8, 9 (S. 207 f.). 55 Bhagavadgîtâ Kap. XI, 55 (S. 228). 56 Chândogya-Upanishad 7.26.1, zitiert in: Bhagavadgîtâ Kap. XIII, 30 (S. 287). 53 54
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Advaita (Die Nichtzweiheit): Shankara
dann rein im Rückbezug auf seinen ewigen Urgrund einen Bezug zur Wirklichkeit, nicht aber durch gelebte Verhältnisse. Im Gegenteil, die Liebe, die einem Anderen gilt, gehört bleibend zu den größten Feinden des Menschen, weil es ihn von seinem wahren Weg abbringt. Liebt ein Mann seine Frau, dann ist das allein insofern nicht verwerflich, als er sie nicht seines Mannseins willen, sondern seinem eigenen Selbst zuliebe liebt: »Nicht ist ja, meine Teure, dem Gatten zuliebe der Gatte lieb, sondern dem eigenen Selbst (Atman) zuliebe ist der Gatte lieb.« 57 Ein Handeln, das Zweiheit braucht und fruchtbar macht, kann es für Shankara unmöglich geben. Es ist schon eine Konzession, für die Liebe eines Mannes (und einer Frau) die Möglichkeit zu erdenken, einheits- und damit wahrheitsbezogen zu sein. Der anthropologischen Diskriminierung des Unterleibs entspricht die ontologische Diskriminierung des Zeitlichen. Beides entspricht der Diskriminierung der Vielheit bei Shankara. Beim Menschen als positiv allein auf seine geistigen Kräfte zu sehen, hat dazu geführt, sich im Nachdenken über den Menschen allein den Einzelnen vorzunehmen, woraus sich wie von selbst ergab, den Menschen zu einem übermenschlichen Wesen in Beziehung zu setzen, und dies mit der Vorgabe, es nach Möglichkeit diesem gleichzutun. Mit seinem Gedanken, daß das Selbst (Atman) das Brahman ist, daß es fleckenlos eine und nur eine Wirklichkeit gibt, die nichts von dem enthält, was aus ihr hervorgegangen ist, hat Shankara sein Bestes getan, Fromme und Nachdenkliche davon abzuhalten, das Menschliche des Menschen in seiner höchsten Lebendigkeit als das Verhältnis von Mann und Frau zu sehen, sondern in seiner höchsten Geistigkeit als das Verhältnis von ewigem menschlichen Selbst und ewigem göttlichen Wesen, das kein Verhältnis von Zweien, sondern die absolute Einheit des Einen ist. Brihadaranyaka-Upanishad IV, 5 f. Zitiert nach Bernhard Uhde (Hg.), Die Bibel und die Religionen. Religionsgeschichtliche Quellentexte Bd. 8, Stuttgart 1979, S. 3842.
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4. Die Einheit von Sein und Nicht-Sein: Zhuang Zi
I. Von früh an gibt der Mensch zu erkennen, daß er mit sich nicht genug hat. Geistig zu sich selbst gekommen, wähnt er auch schon, seinen Geist übersteigen zu können, ja zu müssen, um sich außerhalb seiner selbst, gänzlich anderen Geistes, mit ganz anderen Geistwesen in Verbindung zu setzen. Als Erstlinge geistiger, auch geistlicher Kultur fallen Schamanen und Schamaninnen in den Blick, Menschen, die geeignet und legitimiert sind, sich künstlich in Trance zu versetzen, das heißt in den augenblicklichen Zustand der Übersteigung, das meint Selbstübersteigung. Natürlich verläßt der Mensch in keiner Sekunde seines Lebens sich selbst. Auch die reinste Form religiöser Selbstübereignung hat nicht zum Resultat, daß das eigene Selbst auf Zeit, und sei sie minimal, einem anderen, ja ganz anderen Selbst zugehörte, ohne daß es in dieser Zugehörigkeit nicht auf eigene Weise von ihm selbst getragen wäre. Kein Mensch, der sich zuäußerst in Ekstase treibt, ist derart außer sich, daß er sein Menschsein verlassen hätte und für einen Nu zu einem höheren Wesen geworden wäre. Jedes Jenseits vom eignen Leben, aber auch wirklich jedes, das ein Lebender für sich als erreichbar, wenn nicht sogar als bereits einmal erreicht wähnt, ist niemals etwas anderes als ein der eigenen Lebenswelt und dem eigenen Leben zugehöriger Wahn, auf welche geistig-körperliche Weise er auch immer seine Vorstellungen hervorbringt. Wer dazu steht, etwas zu wähnen, kalkuliert positiv mit Wahnsinn. Im Dialog Phaidros erläutert Platons Sokrates den Wahnsinn als natürliche Erweiterung des menschlichen Geistes. Wer hinlänglich (hikanos) 65 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Die Einheit von Sein und Nicht-Sein: Zhuang Zi
Dichter sein will, darf sich nicht allein auf die Kunst (technê) verlassen, sondern muss am Wahnsinn (mania) der Musen teilhaben. 1 Das gilt nicht weniger für die Philosophie. Der argumentierende Verstand bedarf der Erweiterung durch den Wahnsinn des Eros, wie er die geistige Ekstase des Philosophen bei der Schau des wahrhaft Wahren auszeichnet, die jedes Erkennen der Wissenschaften übersteigt. 2 Den Schamanen und Schamaninnen gleich verlassen Philosophen in ihrer Trance die Menschenwelt nie anders als im Stande des Wähnens, dies aber mit ganz eigenen Resultaten. In ihrem Wahn, der die Vernunft (nous) bei sich behält, schaffen sie kraft menschlichen, nicht von ungefähr für göttlich erklärten Geistes eine neue umfassende Wirklichkeit: die – emphatisch – wahre Wirklichkeit. Diese ist, wie sollte es anders sein, eine erdachte. Bereits die angeführten Methoden, die zu ihrer Erschaffung führen, gehören zum Erdachten. Manie und Enthusiasmus sind Deutungen, wie sich die Möglichkeit eines Übergangs von der nicht wahren zur wahren Wirklichkeit geistig bewerkstelligen lassen soll. Erklärt Philosophie, für die Verständigung des Menschen über sich selbst verantwortlich zu sein, und dies eben auf dem Wege des Denkens, dann gibt es in diesem Denken doch Unterschiede, die Unterschiede von Philosophien zur Folge haben. Halten es die »Realisten« mit dem erkennenden Denken, dann die »Idealisten« mit dem erdenkenden und intuitiven. Allein letztere bilden mit der Philosophie eine eigene Form von Transzendenzkultur – das Darüberhinaus (epekeina) 3 als Leitmotiv.
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Platon, Phaidros 245a. Platon, Phaidros 249d ff. Platon, Politeia VI 509b.
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Die Einheit von Sein und Nicht-Sein: Zhuang Zi
II. Das wahre Buch vom südlichen Blütenland (4. Jh. v. Chr.), das dem chinesischen Philosophen Zhuang Zi (um 369–286 v. Chr.) zugeschriebene Zhuangzi, ist ein Werk philosophisch-dichterischer Transzendenzkultur. Verbunden mit der dem chinesischen Philosophen Lao Zi (Lao-tse) (4.–3. Jh. v. Chr.?) zugeschriebenen Sprüchesammlung Dao De Jing ist es das Grundwerk des Daoismus, der seine Wurzeln im Schamanentum hat. 4 Es kommt zum Exzess des Männlichen. Zhuang Zi zieht als Menschen ausschließlich den Mann in Betracht, nie die Frau. Das ist keine Unterlassung, sondern von eigener Notwendigkeit, wenn es doch in dem Darüberhinaus-Werk nicht um den geselligen Menschen, wie er leibt und lebt, sondern um den »wahren« und »höchsten« Menschen geht. Die leitende Absicht, ein Wesen des Menschen zu erdenken, das in einer – emphatisch – wahren geistigen Existenz besteht, sieht sich am ehesten im Rückblick bestätigt: bei »alten Meistern« (des DAO). 5 Die Methode Zhuang Zis ist damit bereits überschaubar. Um selber denken und Erdachtes mitteilen zu können, bedarf es, wie auch in der europäischen Wesensphilosophie von Platon bis Heidegger, der Emphase. Alle systemisch relevanten Wörter gibt es zweimal: in geläufiger und in emphatischer Bedeutung. Wer dem Menschen nachsagen will, daß er, wie er gewöhnlich lebt und denkt, gar nicht Mensch ist, weil er nicht wahrer und höchster, wesentlicher und geistiger Mensch ist, der schreibt die wichtigen Wörter am besten in zwei Versionen: Mensch und MENSCH, Leben und LEBEN, wenn doch der Mensch, der un-
Henrik Jäger (ed./trad.), Mit den passenden Schuhen vergißt man die Füße … Ein Zhuangzi-Lesebuch. Freiburg 2003, S. 29–36. 5 Eine Erklärung in aller Kürze: DAO ist für Lao Zi und Zhuang Zi der männliche Ur- und All-Erzeuger, von dem Alles ausgeht und in den Alles zurückkehrt. Wer WAHRER MENSCH sein will, macht sich auf, im DAO zu LEBEN – im Überwinden von Leben und Welt. 4
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Die Einheit von Sein und Nicht-Sein: Zhuang Zi
ter Menschen lebt, nicht eigentlich MENSCH, das unter ihnen gelebte Leben nicht eigentlich LEBEN ist. Die Vertrauensseligkeit philosophischer Emphatiker ist bemerkenswert. Da ihre großgeschriebenen Wörter nichts anders als Verstehensanweisungen sind, die ins Ungefähre gehen, müßte ihnen klar sein, daß sie in Wirklichkeit (die kleingeschriebene ist gemeint) gar nichts zu verstehen geben. Der Leser weiß, daß er ganz anders verstehen soll: ganz hoch und ganz tief, ganz wesentlich und ganz eigentlich. Was das aber genauer besagen soll, wird er unmöglich in geistiger Selbstverantwortung klären können. Bemerkenswerter noch ist freilich, daß den Wesensemphatikern ein so großer Erfolg beschieden ist. Das Nichtverstehen wandelt sich in der durch Emphatik gewonnenen Gefolgschaft zum eigentlichen Verstehen. Jetzt fühlt man sich befreit dazu, geistig nurmehr zu schweben. Man muß, ja darf von nichts mehr Rechenschaft geben, sondern weiß sich einem ganz Anderen zugehörig, das für immer davor geschützt ist, sich ausweisen zu müssen. Es geht ja nicht mehr um etwas, das wahr oder falsch sein kann. Für WAHRHEIT ist ein Truthmaker weder nötig noch möglich. Ist noch niemand realiter in ein Jenseits übergegangen und aus dem realen Jenseits zurückgekehrt, so besteht das eigentliche Wunder aller Wesensphilosophie darin, ihrer Gefolgschaft das als real Fingierte für das Verstehen als ein Reales akzeptierbar zu machen. Ist für den Künstler und ebenso für den, der dem Künstler künstlerisch folgt, das, was sich im Roman und auf der Bühne zuträgt, wirklicher (plus réel) als die Wirklichkeit des im alltäglichen Leben bewährten Realitätssinnes, dann ist das ein klares Votum für Poesie, aber kein Plädoyer für ein Verstehen, das von Nichtverstehen lebt. Machen dagegen Philosophen inflationären Gebrauch von Gleichnissen, Analogien, Metaphern, Emphatika und Superlativen, dann will sprachliche Suggestivkraft eine Leser- und Hörerschaft verzaubern und für die WIRKLICHKEIT gewinnen, die kein menschliches Leben und Wirken kennt, weil sie einzig die des MENSCHEN ist. Der 68 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Die Einheit von Sein und Nicht-Sein: Zhuang Zi
Mensch wird vom Menschen weggelockt, das Leben vom Leben. Keine Überhöhung der Lebenswirklichkeit wie in der Kunst hat statt, sondern eine radikale Entfremdung von ihr.
III. Im Daoismus kreisen Gleichnisse, Rätselworte und emphatisches Auftrumpfen im wesentlichen um die Begriffe des Wissens und des Erkennens. Ist nur Wesenswissen WISSEN, nur Wesenserkenntnis ERKENNTNIS, so sind Wissen und Erkennen, das dem »normalen Menschen« 6 zum Leben dient, sei es in fetten oder mageren, friedlichen oder kriegerischen, gehegten oder gesetzlosen Zeiten, kein wahres Wissen und Erkennen. Dem, der den Wechselfällen des Lebens ausgesetzt ist, wird damit weit mehr versagt als nur der Anspruch auf den ihm geläufigen und bewährten Gebrauch dieser Wörter. Sein Wissen und Erkennen ist in der Sicht der Meister des DAO ein Übel bzw. Fluch. Wer im DAO wohnt, in einem Haus, das keine Geschäftigkeit kennt, kein Dies und Das, in dem alles ruht und alles Eins ist, dem eignen WAHRES ERKENNEN und WISSEN. Für alltägliches und wissenschaftliches Wissen bleiben nur beißender Spott und Malediktion übrig. Dem staunenden Leser stellt sich die Frage, ob der im DAO LEBENDE überhaupt am Leben sein kann. Wer eine Gegend kennt und in einem Land es versteht, zu Wohlstand zu kommen 7 , wer also im Einzel- und im Gegenstandswissen sein Wissensinteresse verfolgt, der hat sich um alle WAHRHEIT und WIRKLICHKEIT gebracht und damit um das LEBEN. Wer Tag und Nacht unterscheidet, Lebendiges und Zhuangzi V, 5. Der normal Gewachsene und körperlich Unversehrte ist verdächtig, bloß normal zu sein. Wer sich dagegen mit Kropf und Klumpfuß herumschlägt, gerät sogleich in Wesensverdacht. Lädierte sind im Zhuangzi bevorzugte Beispiele für Weise bzw. Heilige. 7 Zhuangzi I, 2. 6
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Totes, Grünes und Gelbes, Gutes und Schlechtes, Wahres und Falsches, demonstriert Formen des Erkannthabens und Wissens. Genau darin besteht für den Daoisten das Übel: Der Mensch stellt sich mit seinem Erkennen und Wissen auf seine Welt ein und das – kleingeschriebene – Leben in ihr. Die Geschäftigkeiten des Alltags mit ihrem Wegemachen und Gesprächeführen, Verkaufen und Herstellen, Planen und Leiten – dieses Sichgemeinmachen mit der Welt und mit den Anderen ist von der spirituellen Bestimmung des Menschen her gesehen eine Flucht vor der WAHRHEIT des LEBENS.
IV. Der als rein geistiges Wesen erdachte Existierende bedarf nicht nur keiner Ethik, sondern muß sich gegen jegliches moralisches Ansinnen verwahren. Für Zhuang Zi ist es eine Horrorvorstellung, daß »alte Meister« und überhaupt alle, die im reinen Selbstverhältnis einsamster Innerlichkeit das DAO erreicht haben und damit der Harmonie des Himmels zugehören, von Normen der Sittlichkeit, Mitmenschlichkeit (Güte) und Rechtlichkeit (Pflicht) belangt sein sollten. 8 Im DAO als seinem eigentlichen Wesen sei der MENSCH absolut frei, während Sittlichkeit die Menschen vergewaltige. 9 Selbst höflicher, gegebenenfalls ehrfürchtiger Umgang ist unmöglich seine Sache, wenn er sich innerlich zu festigen sucht, um im rein Geistigen unbeugsam zu werden. Alles, was lebensteiliges Gelingen ermöglicht und auszeichnet, verdient Verachtung: wertloser Spreu gleiche es, lästigen Mückenstichen und schädlichem Zhuangzi VI, 6, 7. Heidegger denkt nicht anders: Martin Heidegger, Überlegungen II–VI (Schwarze Hefte 1931–1938), GA Bd. 94, Frankfurt a. M. 2014, S. 28: »Im Philosophieren nie an die ›Anderen‹ – an das ›Du‹ denken, aber ebensowenig an das ›Ich‹, einzig an und für den Ursprung des Seins – das gilt von Sache und Weg gleichermaßen.« 9 Zhuangzi VII, 1. Vgl. II, 8. 8
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Gift. 10 Soll der WAHRE MENSCH der Vorzeit doch einmal seine Pflicht gegen Andere getan haben, dann nur gezwungenermaßen. Auf keinen Fall flocht er Bande der Freundschaft. 11 Vor jedem menschlichen Glück und Unglück gefeit, lebten sie ohne Liebe zum Leben und Angst vor dem Tod. MENSCH-sein, das jede Zweiheit und Vielheit ausschließt, ist Sache allein des Einzelnen, und dies, wie es erdacht ist, in seiner innerlich-selbsthaft gefestigten Einzelheit und Einsamkeit. Was jetzt neu MENSCH heißt, ist von unnahbarer Selbständigkeit. 12 Damit verändert sich die philosophische Praxis der Diskriminierung des Menschen. Ihr ist im wesentlichen nurmehr als Selbstdiskriminierung stattgegeben. Nicht die Unterscheidung der Wenigen von den Vielen, der wesenhaft von den unwesenhaft Existierenden ist jetzt maßgeblich, sondern die Scheidung des Geistigen vom Ungeistigen im Einzelnen. Das Oben und das Unten, das am aufrecht auf der Erde unter dem Himmel Stehende zu veranschaulichen ist, hat seinen Auftritt: Geistigkeit steht gegen Sinnlichkeit und Geschlechtlichkeit, Himmlisches gegen Irdisches. Wie diese Gegensätze für den Philosophen bedeutsam werden, kommen sie im Einzelnen, nicht aber unter Menschen zum Tragen. Das leitende Interesse des Daoismus am Menschen richtet sich auf das Intrahumane, nicht auf das Interhumane. Kennwörter für die Auszeichnung des MENSCHEN, der das DAO erlangt hat, sind seine Leidenschaftslosigkeit 13 , Selbstvergessenheit, Gelassenheit. Wie im Wort DAO die Bedeutungen Weg und Rede verbunden sind, so zeichnet den, der das DAO erlangt hat, keinen Weg zu gehen und kein Wort zu sagen, aus. Er tut nichts. Sein Nichts-Tun 14 ist vereint mit Einfalt, Stille, Versunkenheit, Reinheit, HarmoZhuangzi VI, 3; XIV, 6. Zhuangzi VI, 1. 12 Zhuangzi VI, 1 (Stephan Schuhmacher, Das Buch der Spontaneität (aus dem Englischen (Victor H. Mair) übersetzt), 2. Auflage, Oberstdorf 2013). 13 Zhuangzi V, 5. 14 Zhuangzi XXII, 1. 10 11
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nie, Ruhe. 15 Nichts wird ausgelassen, um durch vollkommene Leblosigkeit einen Wink zu geben, was LEBEN ist.
V. Sich tot zu stellen, kann einem schon einmal das Leben retten. Doch wer nichts tut, nicht handelt, sich nicht bewegt, stellt sich nicht tot. Er ist überhaupt nicht daraufhin zu befragen, ob er wirklich nichts tut, zum Beispiel nicht innerlich auf sich sieht und zu sich spricht, nicht zu reden vom Atmen und Sichbewegen bei aller Ruhe des Sitzens und Stehens. Nichts-Tun und Nicht-Handeln des im DAO Ruhenden zeigen allein an, daß alles Tun und Handeln im geschäftlichen Leben eigentlich gar kein Tun und Handeln ist, eben kein TUN und HANDELN. 16 Erklärt Zhuang Zi Nicht-Handeln für die WAHRE FREUDE 17 , dann heißt das nur, daß alles, was Menschen Freude macht, das Singen und Tanzen, das Küssen und Zechen, nicht wirklich FREUDE ist. Seinem idealistischen Hang zur sich bedeutungsschwer gebenden emphatischen Unverständlichkeit gibt er, gut verständlich, die Form: »Die höchste Freude ist, ohne Freude zu sein«. Wir verstehen: FREUDE ist das ganz Andere zu Freude, und verstehen damit nichts. Jedes signifikante Nicht-Handeln ist damit zum HANDELN erklärt. Das gibt Anlaß für schönste Veranschaulichungen: Gehen, ohne den Boden zu berühren; Belehren ohne Worte; Fliegen ohne Flügel. Wer keine Art von Boden berührt, geht nicht. Das ist keine Widerlegung, sondern eine Bestätigung des hier Gemeinten: Das GEHEN ist kein Gehen. Vergleichbares gilt für die meisterliche Lehre: Wer wahrhaft belehrt, schweigt. Fragt ein Schüler etwas, so erhält er allenfalls dann eine hörbare Ant15 16 17
Zhuangzi XXII, 5. Zhuangzi II, 4. Zhuangzi XVIII, 1.
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wort, wenn er falsch gefragt hat. Wer nun wieder ohne Flügel fliegt, fliegt nicht etwa besonders raffiniert. Keine Rakete mit Treibsatz paßt ins Bild. Schmetterlinge und Vögel fliegen mit Flügeln. Wie aber stellt es der an, der ohne Flügel fliegt? Er stellt gar nichts an. Er fliegt überhaupt nicht, und dies aus dem einzigen Grund, weil FLIEGEN kein Fliegen ist. Diese Form der Essentialisierung hat reichlich Energien freigesetzt, den Menschen auf andere Gedanken zu bringen als die, deren Pate Verstand und Vernunft des bewährten Realitätssinnes sind. Philosophischer Essentialismus, wie ihn Zhuang Zi vorführt, hat eine Transzendenzkultur geprägt, die bis zu Heideggers existentialem Solipsismus reicht. 18 Der sich dem Leben und der Welt Entfremdende und sich geistig-ekstatisch auf sich selbst hin Übersteigende ist Leitfigur des HUMANUM. Wird jede Rede unter Menschen zum Gerede 19 und letztlich zum Geschwätz 20 , weil der MENSCH ein Einzelner ist, dann hat REDE notwendig im Modus des Schweigens statt 21 , HANDELN im gelassenen Nichts-Tun. 22 Die Authentizität vollendeter geistiger Existenz verlangt das radikale a solo, verträgt kein in compagnia. Ins WESEN erhoben, ist der EINZELNE ohne jede Individualität. Für Zhuang Zi ist es der allgemeine MENSCH, mag er auch als ein Meister das DAO erlangt haben. Einmal mit ihm Eins, steht er in keinem Verhältnis zu seinen Schülern mehr, zeichnet er sich nicht länger als eine besondere Persönlichkeit Martin Heidegger, Sein und Zeit, 188. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 165 et al. 20 Martin Heidegger, Anmerkungen I–V (Schwarze Hefte 1942–1948), GA Bd. 97, 313. 21 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 296: »Das Gewissen ruft nur schweigend, das heißt der Ruf kommt aus der Lautlosigkeit der Unheimlichkeit und ruft das aufgerufene Dasein als still zu werdendes in die Stille seiner selbst zurück.« 22 Martin Heidegger, GA Bd. 97, 405: »Die Wirkung eines Denkens ist nie ein Wirken […].« Ebd., 19: »›Handeln‹, das vor allem Tun und Machen und Wirken bloßes Da-sein ist. […] Das denkerische Wissen geht nur den Gang, um beim Sein anzukommen und vor seiner Wahrheit zurückzutreten.« 18 19
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aus. Das Eins-mit-Allem-Sein hat seinen Preis, natürlich allein aus der Perspektive des Menschen, nicht des MENSCHEN. Der all-eine MENSCH ist Zeuge der Transzendierung des Ich. Für ihn gibt es kein Außen mehr. Ist an ihm jede konkrete Bestimmtheit verschwunden, jedes Was und So, Dies und Das, dann unterscheidet er sich nicht mehr. Wie Zhuang Zi den in der Harmonie des HIMMELS Ruhenden, allem irdisch-leiblichen Leben Enthobenen darstellt, besteht für ihn keinerlei Möglichkeit, sich einem Anderen zuzuwenden. Sein Selbstverhältnis ist absolut dicht, es sei denn, ein Gott gesellte sich zu ihm. Der wäre dann aber kein Gegenüber, kein Anderer, kein Geist zu Geist, sondern wäre nicht nur desselben Geistes, sondern derselbe Geist: Er wäre EINS mit ihm. Der innerlich Unbeugsame, der ein Dieser des HIMMELS ist, richtet seine Worte nur an sich. 23 Im Einklang mit Allem arbeitet er nur an sich selbst. 24 Er trägt keine Sorge für Andere, wohl aber für das, was selbst not tut. 25 Er genießt ganz für sich des HIMMELS Speise: »[I]n stolzer Höhe schafft er sich einsam seinen Himmel«. 26 Der vollkommene Solipsismus ist bleibender Quell nicht bloß daoistischer Moralunbedürftigkeit, sondern auch Amoralität. Dem WAHREN MENSCHEN, der innerlich schlechtweg frei von Sorge um Andere und frei für sich selbst ist, gilt Tugend als Mittel zu äußerem Gewinn, sind gute Werke nichts als Handelsware im zwischenmenschlichen Verkehr. 27 So schließt sein Nicht-Wissen und Alles-Vergessen an erster Stelle das Vergessen der Anderen ein. Fische, so Zhuang Zis einprägsames Bild, kommen nur aufeinander zu, wenn sie, wesensfremd, auf dem Trockenen liegen. Dann brauchen sie einander, um sich mit Zhuangzi IV, 1. Zhuangzi V, 1. 25 Zhuangzi VI, 1. 26 Zhuangzi V, 5 (aus dem Chinesischen übersetzt und erläutert von Richard Wilhelm: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Köln 2011). 27 Zhuangzi V, 5. 23 24
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ihren Mäulern gegenseitig Feuchtigkeit zu geben. Doch sie seien ja für das Wasser geschaffen, und in der Tat, in Seen und Flüssen vergessen sie einander. Der Mensch sei vergleichbar für das DAO geschaffen. Erlange er es, falle es ihm ganz von selbst zu, alle Anderen zu vergessen. 28
VI. Fische bedürften keiner Mitfischlichkeit, Menschen keiner Mitmenschlichkeit – das widerspreche ihren Wesensbestimmungen und sei deshalb von Übel. Wer das denkt und sagt, ist ein schlechter Physiologe, und das will Zhuang Zi offenbar auch sein, wenn er Wesensvollkommenheit entwirft, die an allen Voraussetzungen von Lebendigkeit vorbeizielt. Das führt zur Frage, ob sein WAHRER MENSCH überhaupt eine physiologische Möglichkeit hat oder ihm doch allein der HIMMEL und das Grenzenlose bleibt, wo er sein eigentliches WESEN sein kann. Nein, der Lehrer des DAO gibt sich, als wolle er keinen letzten Schnitt machen zwischen HIMMEL und Erde. Der MENSCH in seiner Wesensgestalt behält die Gestalt des Menschen, wenn auch nicht die Art des Menschen, ein – kleingeschrieben – Wesen der Leidenschaften zu sein. Darum sagt er über den, der im DAO ruht: »Verschwindend klein ist, was ihn mit dem Menschen verbindet«. 29 Das dient der Versicherung: Wer sich kraft Geistigkeit jenseits des Ich im HIMMEL angesiedelt hat, ist nicht gänzlich in ein imaginäres Jenseits entwichen. Das aber ist deutlich zu wenig, um für den wesenhaft All-Vergessenen überzeugend eine irdische Lebendigkeit offenzulassen. »Wie groß und wunderbar ist seine einzigartige Identifikation mit Zhuangzi VI, 1. Zhuangzi V, 5. (Richard Wilhelm), Stephan Schuhmacher übersetzt: »Wie klein und unbedeutend ist doch jener Teil von ihm, der zur Menschheit gehört!«.
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dem Himmel!« 30 – soweit diese Aussage gilt, ist das Erdendasein des im DAO Ruhenden abgeschrieben. Wer Mitmenschlichkeit und Rechtschaffenheit samt aller Höflichkeit im Umgang mit Anderen »vergessen« hat, den weiß Zhuang Zi nicht nur »frei von Wissen«, sondern zuvor noch »fern vom Leib«. Er ist ja mit dem Eins geworden, »das alles durchdringt«. 31 Fern vom Leib zu sein – das hört sich an, als vegetiere Einer irgendwie weiter, auch wenn er sich in vollendeter Ruhe mit dem HIMMEL identifiziert. Doch die chinesischen Zeichen geben mehr her. Sie legen die Annihilation des Leibes nahe: »Ich habe meinen Leib vernichtet« 32 , »Ich schneide meine Glieder und meinen Rumpf ab«. 33 Auch wenn das noch Metaphern sein sollten, ist die Abgeschiedenheit der geistigen EXISTENZ von der realen Existenz klar als eine vollkommene gedacht. Die Erlangung des DAO nimmt ihren Anfang mit der Weltüberwindung. Wer die Begabung dazu hätte, sei in drei Tagen dazu zu bringen. 34 Weltüberwindung ist diesen Worten nach eine mögliche Lebensform. Doch dann geht es erst so richtig los: Nach weiteren sieben Tagen steht der Begabte außerhalb des Gegensatzes von Subjekt und Objekt. Das physiologische Problem des Lebenkönnens wandelt sich in ein ontologisches und erkenntnistheoretisches. Wer mit der Sinnlichkeit sein gegenständliches Verhalten abgeworfen hat, ist nicht länger ein Ich, das mit einem Du konfrontiert sein könnte. Damit verschärft sich bei Zhuang Zi das Problem der möglichen Verbindung von reiner Geistigkeit und minimaler Lebendigkeit noch einmal. Der Zhuangzi V, 5 (Stephan Schuhmacher). Wolfgang Kubin übersetzt: »Groß, ach so groß ist, was ihn dem Himmel gleichmacht.«, in: Zhuang Zi, Vom Nichtwissen (ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Wolfgang Kubin), Freiburg 2013. 31 Zhuangzi VI, 7 (Richard Wilhelm). 32 Wolfgang Kubin. 33 Stephan Schuhmacher. 34 Zhuangzi VI, 2. 30
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Meister läßt den, der nach dem DAO fragt, wissen: »Nach abermals neun Tagen wollte ich ihn so weit bringen, daß er das Leben überwunden hätte.« 35 Es ist, als wenn die Einheitsfalle zuschnappte. Jetzt nämlich ist – jenseits der Zeit – der Augenblick gekommen, den EINZIGEN zu sehen und mit ihm das EINE, das nicht dem Tod unterworfen und nicht selbst der Lebendigkeit ausgesetzt ist. Weil dieser Blick auf das EINE, das selbst weder geburtlich noch sterblich ist, nichts Gegenständliches trifft, kein Blick in ein Außen ist, der auf Alteritäres träfe, kann das Sehen nur das Einswerden und Einssein mit dem Zusehenden sein. Der Minimalbezug zu menschlicher Lebendigkeit ist dann nicht länger gegeben. Für den es weder Vergangenheit noch Gegenwart gibt, weil er jenseits der Zeit wohnt, ist der HIMMEL die einzige Wohnstatt geworden. Will der Philosoph, daß das nur ein augenblicklicher Ausreißer sei, hat er auch zuzugeben, daß dieser Augenblick reines Denkkunstprodukt, nicht aber existentiell Vollziehbares ist. Das Mysterium hätte sich als künstlich gefertigtes Rätsel entpuppt.
VII. Die Alten Meister haben auf der Erde gelebt. Wie aber haben sie das mit ihrem Ruhen im HIMMEL verbunden? Werden Geschichten von ihnen erzählt, dann erscheinen sie als historische Figuren. Wird ihnen aber das Ruhen im DAO zugedacht und zugesprochen, so zeigen sie sich dem erhellend Aufklärenden weit eher als Produkte einer dem Einssein Vorzug gebenden Denkkunst. Philosophische Entwürfe, die sich einer eigentlichen WIRKLICHKEIT bedienen, um geistige Existenz zu optimieren, operieren ganz offenkundig im Imaginären. Wie aber soll dann auf die Bedingungen leibhaftiger Existenz Rücksicht genommen Richard Wilhelm. Stephan Schuhmacher: »Nach neun Tagen konnte er das Leben transzendieren.«
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werden, wenn es doch eigentlich keinen Grund mehr dafür gibt? Zwar ist die Rede vom Ausgleich zwischen Himmel und Erde, zwischen Natürlichkeit (Wesentlichkeit) und Menschlichkeit. Wie aber ein Ausbalancieren menschlicher Bedürfnisse zwischen den das Leben Teilenden und den radikal vereinzelt und einsam dem Geist Ergebenen möglich sein soll, wird nicht gezeigt. Vollendet sich die Überwindung von Welt, Leben, Ich und Du in einer mystischen Schau, dann schlägt die Waage übergewichtig nach dem Wesenhaften aus. Die vorgeblich verbleibende Menschlichkeit ist ohne Gewicht. Die Schau, wie sie als Einswerden mit dem ALL-EINEN erdacht ist, erzeugt als das Rätsel, das es ist, nichts als weitere Rätsel. Mit ihr nämlich soll nun auch der Übergang zur Unsterblichkeit offenstehen. Wird aber der Wechsel von einem vollendet geistigen zu einem ewigen LEBEN fließend, dann verbleibt für das Irdisch-Menschliche keinerlei Eifer und Ernst (spoudê), nichts also, was den Philosophen noch herausfordern könnte. Was etwa wird aus den Alten Meistern, die, menschlich gesehen, allesamt männlichen Geschlechts waren? Männlichkeit, die wirklich eine wäre, zeigte ja selbst in ihrer solitär geübten Kümmerlichkeit Reste von Lust und Leidenschaft, nach Zhuang Zi ein absolutes Hindernis der Wesentlichkeit. Es ist faszinierend und verstörend zugleich, sehen zu müssen, mit welcher Rigorosität hier daoistisch WAHRHEIT zu vermitteln gesucht wird. Die wiederholt betonte Unbeugsamkeit eines männlichen Geistes, der das DAO erlangt hat, spricht einen Fundamentalismus aus, der nurmehr den erdachten HIMMEL, in nichts mehr die belebte Erde vertritt.
VIII. Sofern Einer im HIMMEL ist, ist er nicht auf der Erde; sofern er auf der Erde ist, ist er nicht im HIMMEL. Dies Sofern ist eine Frage des Standpunkts und das heißt des Gesichtspunkts 78 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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(Schaupunkts) und damit eine Frage des existentiellen Zustands. »Heute habe ich mein Ich begraben« 36 – damit behauptet der Meister, einen Zustand erlangt zu haben, in dem Ich und Nicht-Ich keinen Gegensatz mehr bilden 37 , da seine geistige Existenz jenseits des Ich statthat. 38 Zhuang Zi leuchtet dieses Jenseits genauer aus, zumal es um den Zustand wahrer Erleuchtung geht. 39 Jenseits des Ich, das ist jenseits aller Gegenständlichkeit, alles sinnlich Erfaßbaren 40 , überhaupt jenseits aller Dinge, die als geschiedene bestehen und die vergehen werden. 41 Der Angelpunkt des Weges (DAO) ist erreicht, der Mittelpunkt, in dem ALLES EINS ist, um den alles Wandelbare wie Leben und Tod, Wahr und Falsch im Unendlichen seiner Wandelbarkeit kreist. Das ist ein hervorragend gelungenes Bild, um anschaulich zu machen, wie sich die selbstgestellte Aufgabe lösen läßt, das Transzendent-EINE mit der Vielheit im Diesseits, das Ewige und Unveränderliche mit den zeithaft Wandelbaren zu vermitteln. Es ist das zentrale Stück Denkkunst, um das im Daoismus alle geistigen Bemühungen kreisen. Wer, im DAO ruhend, es schaut und erkennt, besitzt des HIMMELS Schatzhaus. In ihm ist nichts Einzelnes mehr verwahrt, nichts, was von einem subjektiven Standpunkt aus ein eigenes Sehen und Erfassen zuließe. Die Wiederholung dieser daoistischen Litanei kann niemals langweilen, fordert sie doch immer neu zu einer geistigen Unmöglichkeit heraus: jeder MögZhuangzi II, 1 (Richard Wilhelm). Stephan Schuhmacher: »Gerade habe ich mich selbst verloren«. 37 Zhuangzi II, 3 (Richard Wilhelm). Stephan Schuhmacher: »Wo ›Dies‹ und ›Das‹ aufhören, Gegensätze zu sein«. 38 Zhuangzi VI, 6 (Richard Wilhelm). 39 Zhuangzi II, 5 (Richard Wilhelm). Stephan Schuhmacher: Klarheit. 40 Zhuangzi VII, 3: »Laß deine Seele wandeln jenseits der Sinnlichkeit« (Richard Wilhelm). Stephan Schuhmacher: »Lass deinen Geist in der Leere wandern.« 41 Zhuangzi II, 4 (Richard Wilhelm). Stephan Schuhmacher: »Etwas aufteilen heißt etwas anderes erzeugen; etwas erzeugen heißt etwas anderes zerstören.« 36
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lichkeit des Erkennens und Wissens zu entsagen, um nurmehr das ERKENNEN (des DAO) für ein »Erkennen« zu nehmen. Das ist die Abschaffung des Lebens durch das LEBEN, der Wissenschaft und jedes verständigen Umgangs mit dem Wirklichen durch das höchste und einzig WAHRE WISSEN. Ist es absolut dunkel, dann gibt es für unsere Augen nichts zu sehen. Genau das ist der Fall, wenn alle Wesen (Dinge) EINS sind. 42 Das läßt den wunderwilligen Adepten frohlocken: SEHEN, wenn nichts mehr zu sehen ist. Das Unfaßbare ist damit zum Prinzip erfüllter Geistigkeit gemacht. Das dazu willig aufgenommene Wort im Zhuangzi lautet: »DAO ist die Grenze des Grenzenlosen, die Grenzenlosigkeit des Begrenzten.« 43 Für den, der als Kind des HIMMELS 44 im Grenzenlosen und Unmeßbaren seine Wohnstatt hat, heißt es nur konsequent, daß er im Nichtsein wandelt. 45 Er wohnt und ruht ja dort, wo sich keine Ist-Aussagen mehr machen lassen, wo es nichts Seiendes gibt, wo also sprachlich nichts als das Schweigen angesagt ist. Wer solcherweise geistig MENSCH ist, sammelt seine Kraft im Nichts. 46
IX. Im HIMMEL des Allgemeinen, in dem es nichts Einzelnes (mehr) gibt – keinen Stern, keinen Baum, keinen Menschen –, sondern allein das EINE, hat der untätig ruhende MENSCH, von allem Was und Etwas befreit, das »Schloß des Nicht-Seins«
Zhuangzi V, 1. Zhuangzi XXII, 5. »Grenzenlosigkeit des Grenzenlosen« bei Richard Wilhelm ist ein Druck- bzw. Übersetzungsfehler. 44 Zhuangzi IV, 1. 45 Zhuangzi VII, 4 (Richard Wilhelm). Stephan Schuhmacher: »Er steht im Unauslotbaren und wandert im Nichtsein.« 46 Zhuangzi VII, 3 (Richard Wilhelm). Stephan Schuhmacher: »Läßt seinen Lebensatem eins werden mit der Unendlichkeit«. 42 43
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erreicht. 47 Die allheitliche Gelassenheit ist gedacht, das Schweben im Unerschöpflichen und Unendlichen, die Einheit mit dem, das Fülle und Leere bewirkt, ohne selbst voll und leer zu sein. Das Wunder hat statt: zu sein, ohne ein Seiendes zu sein; geistig zu sein, ohne ein eigenes Bewußtsein zu haben. In Anbetracht der Vielheit und Einzelheit des Seienden ist damit das Nichts gedacht, in Anbetracht der einzigartigen Wirkmacht das SEIN im Sinne der höchsten WIRKLICHKEIT, wodurch das Wunder der »Einheit von Sein und Nicht-Sein« seinen reinsten Ausdruck findet. Palast, Schloß – der Philosoph hat räumliche Vorstellungen, überraschenderweise solche von einem umgrenzten Raum, der doch einem Wandeln im Grenzenlosen stattgeben soll. Im ersten Kapitel des Zhuangzi findet sich das Zeichen für Nicht-Sein, Leere, Nirgendwo in anderer Verbindung. Da ist die Rede von einem weiten leeren Feld, vom Nicht-Sein mit seiner endlos offenen Weite. 48 Dann hat aber auch der Palast nichts mehr von der Art eines Hauses, sondern ist eine Metapher, die an Entgrenzung, nicht an Grenzziehung denken läßt, was mit dem Kontext von Schloß und Palast übereinstimmt: »Schwebend überlasse ich mich dem unendlichen Raum« 49 , »Frei zieht es mich durch die Weite« 50 , »Lasset uns in der leeren Weite wandern« 51 . Die Inversion des Begriffes des Wirklichen durch Erdenken eines WAHREN WIRKLICHEN hat zur Folge, daß das Wirkliche zum NICHTS werden muß, was es nur kann, wenn in eins das WIRKLICHE zum allumfassenden SEIN wird. Das NICHTS Zhuangzi XXII, 5 (Richard Wilhelm). Wolfgang Kubin: »Palast der Leere«; Martin Buber: »Schloß des Nirgendwo«; Stephan Schuhmacher: »Niemalsnicht-Palast«. Letzteres ist eine Fehlübersetzung aus dem Englischen. Heißt es für »Nimmerland« »never never land«, dann ist das keine doppelte Verneinung. Schuhmachers Übersetzung verleitet fälschlich dazu, hier »Palast des Seins« zu lesen. 48 Zhuangzi I, 5 (Stephan Schuhmacher). 49 Richard Wilhelm. 50 Wolfgang Kubin. 51 Stephan Schuhmacher. 47
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des Wirklichen und das SEIN des WIRKLICHEN werden gedanklich eine untrennbare Einheit. Einfacher kann es sich das Denken wirklich nicht machen: Es negiert das Leben, und schon ist das LEBEN affirmiert, das heißt als WAHRE WAHRHEIT und WIRKLICHE WIRKLICHKEIT gesetzt, die Umwertung von Allem vollendet. Das nunmehr für wertlos Erklärte verschwindet nicht einfach, sondern bleibt als das Wertlose bestehen. Das fordert von dem Denken, das die umstürzende Inversion betreibt, sich zu erklären, wie das WAHRE mit dem UNWAHREN verfährt, das WIRKLICHE und WIRKENDE mit dem UNWIRKLICHEN und UNVERMÖGENDEN. Zhuang Zi wählt die Prozesse des Sammelns und Zerstreuens. 52 Das DAO entziehe sich nicht den Dingen, heißt es, hat es doch für deren offenkundige NICHTIGKEIT zu sorgen. Was aber tut es mit ihnen? Es sammelt und zerstreut sie, um ihren Umtrieb als NICHTIGES im NICHTIGEN zu gewährleisten. Damit ist notwendig ausgeschlossen, daß es sich selbst sammelte und zerstreute, brächte es sich doch sonst um das in ihm erdachte Wunder und die von ihm verlangte Funktion. Nun gilt es die höchsten Prädikate zu suchen, die dem DAO als dem einzigen SEINS- und WAHRHEITS-Wert seine Unüberbietbarkeit an SEINS-Macht bescheinigen. Drei Höchstbegriffe genügen, die im Grunde nur einer sind, weil sie alle das EINZIG EINE, das DAO bezeichnen: allgemein – überall – gesamt 53 ; umfassend – allseitig – vollkommen 54 ; allgegenwärtig – überall – allumfassend 55 ; Ganzheit – Vollständigkeit – Allheit 56 . Als einzige Devise der Begriffsfindung zeigt sich: Ja nichts auslassen! Ist das DAO in jedem Zerstreuten und Gesammelten bis hin zum Dreck, dann ist es in der Tat überall und eben allgegenwärtig. Seine ALLHEIT und ALLGEMEINHEIT wieder 52 53 54 55 56
Zhuangzi XXII, 5. Richard Wilhelm. Wolfgang Kubin. Stephan Schuhmacher. Stephan Schuhmacher.
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sprechen dafür, daß es als SEINS-Macht vollkommen ist. Die gefundenen höchsten Prädikate für das DAO zielen auf keine höchste Schönheit und Güte, sondern auf höchste Macht. Diese aber findet ihre Auslegung darin, daß mit ihr der absolute Gegenbegriff zum Zerstreuten und Gesammelten gedacht ist: das EINE. Jeder Riß in der EINHEIT bedeutete geteilte Macht und damit partielle Ohnmacht. Das Viele verurteilt sich durch seine Vielheit selbst zur NICHTIGKEIT, das EINE durch seine EINHEIT zur SEINS-heit. Die Primitivität dieses Denkens liegt an der Primitivität seines Grundansatzes und seiner Logik. Grundansatz ist, daß in höchster geistiger Perspektive das gelingend geteilte Leben des LEBENS nicht wert ist. Die einfache Logik des Daoismus wieder ist, daß die Umwertung von Nichts in SEIN und Sein in NICHTS, diese Inversion des Wortgebrauchs, genügt, um gedanklich etwas hervorzubringen, das jeglichen Geist, der sich darauf einläßt, in die Verklärung mitreißt. Im LEBEN des DAO ist das Leben tot. Diese Ruhe und Gelassenheit, dieses Nichts-Tun und Schweben im Grenzenlosen hält kein Mensch, der noch im MENSCHEN stecken soll, aus. Wird Ruhen zur höchsten Form des SEINS, dann hat Einer im DAO seinen Frieden gefunden, der den Geschmack des ewigen Friedens hat. Wer nämlich möchte da noch eine Verbindung zum Unfrieden der Welt wahren, geschweige denn in ihn zurückkehren?
X. Man sollte nicht Nietzsche folgen und eine Erdichtung wie die des DAO für »einfach Unsinn« erklären. 57 Zwar steht, wie Nietzsche schreibt, »Leben gegen Leben«, dies aber nicht, wie er es deutet, als Selbstwiderspruch, sondern als poetische ÜberFriedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: ders., Sämtliche Werke (KSA) Bd. 5, München 1980, S. 365.
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bietung des Lebens durch LEBEN. Das Ruhen im HIMMEL des DAO muß weder für einen Moment noch auf Dauer physiologisch möglich sein. Atemtechnik ist beim Daoismus das eine, Denkkunst das andere. Fragen nach seiner physiologischen Möglichkeit stellen nicht seine spirituelle Energie und spekulative Poesie in Frage. Zeigt sich im Erdichten und Erdenken des DAO eine Form von Denkkunst (Noetik), dann gibt es kein Problem mehr, ob ein Mensch lebendigen Geistes und Leibes zum DAO gelangen kann und je gelangt ist. Vielmehr wird eine Betrachtung der von ihm angewandten Stilprinzipien nötig. Philosophisches Denken unterschiedlicher Kulturen ist bei der Gestaltung in sich stimmiger Denkkunstwerke, die in der Ausschöpfung höchster Denkmöglichkeiten nicht zu überbieten sind, zumeist vier Stilprinzipien gefolgt: Totalität, Vollkommenheit, Identität, Gleichgewicht. 58 Zhuang Zi hat von diesen Prinzipien reichlich und erfolgreich Gebrauch gemacht. Wäre seine wortreiche Gestaltung des geistig unfaßbaren und unsagbaren DAO nach diesem Gebrauch allein zu beurteilen, könnte man ihm den denkkünstlerischen Beifall nicht versagen. Doch das, was er in seinem Denken, das um das DAO kreist, gestaltet, wird, selbst wenn es eines wäre, von ihm jedenfalls nicht als Denkkunstwerk verstanden. Er versteht sich als Lehrer, der den wenigen Fähigen und Bereiten den Weg zum WAHREN MENSCHEN weist. Lehrend (predigend) ruft er zum geistigen Aufbruch auf. Wesensphilosophen vom Schlage eines Zhuang Zi wollen Schüler (disciples, nicht bloße élèves) um sich scharen, brauchen Schüler, um sich in ihnen als lehrende Meister zu spiegeln. Stellt sich aber bei philosophischen Lehren, die als Erwekkungsstrategien agieren, notwendig die Nachfolgefrage, dann ist es um ihre denkerische Unschuld schon geschehen. Versprechen geistige Führer, über alles Lebens- und Weltwirkliche hinaus zum Wesen der Dinge zu führen und dabei Rainer Marten, Denkkunst. Kritik der Ontologie, Paderborn 1989, S. 177–193.
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den Menschen seiner Wesensbestimmung zuzuführen, dann ist aus geistiger Führung auch schon Verführung geworden. Sind Menschen Menschen, dann ist der MENSCH kein Mensch. Mystische Wesensphilosophie, die den Menschen vom Menschen wegführt, beschwört mit ihrem Verführungspotential für die Wenigen, die bereit sind, einem als rein geistig entworfenen Weg zu vertrauen, nie nur die Gefahr der A-Humanität, sondern notwendig die der In-Humanität herauf. Die Selbstberufung der Wesensphilosophen zu Anwälten »wahren« Menschseins beruht ganz offensichtlich auf der vermeinten Einsicht und der auf sie gegründeten Überzeugung, daß die Menschen falsch, ja eben UNWAHR leben. Vertreten sie diese Einsicht vor Publikum als die alles überragende WAHRHEIT des MENSCHEN, dann sind sie als Apostel ihres eigenen Denkentwurfs unmöglich Anwälte des Humanum. Nun operiert Zhuang Zi mit höchst eingängigen Gleichnissen: Der für die Holzverarbeitung unbrauchbare Baum ist dem verarbeitbaren überlegen, weil er stehen bleibt und also länger lebt, auch höher wird. Nicht anders erfaßt der den Lebenswert verkehrende Wesensblick den Krüppel: Er muß keinen Kriegsdienst leisten, weil er dazu nicht taugt. Zudem profitiert er am meisten von menschlicher Mildtätigkeit, weil er der ärmste Hund ist. 59 Der Anspruch hoher Geistigkeit und skurrile Deutung menschlichen Wohlbefindens gehen in dieser Argumentation eine rare Verbindung ein. Wider die Normalität zu denken, das hat immer neu etwas durch Überraschung (Stupefizierung) Überzeugendes. Was man nur zu gern und ohne Nachprüfung für geistige Tiefe nimmt, ist in Wahrheit eine demonstratio ad HOMINEM, eine allein für den WAHREN MENSCHEN bekömmliche Denkfigur. Daß der Mensch mit hohlen und knorrigen Bäumen und als Krüppel im Leben besser fährt, weil sich in beiden Fällen Ausnahmesituationen für eine reichlich andersartige Brauch-
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Zhuangzi I, 5; IV, 5; IV, 6 f.
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barkeit anführen lassen (nach dem Prinzip: Alles hat zwei Seiten, Alles hat sein Gutes), ist eine Vorstellung, die quer zu jedem Sinn für gelingendes Leben liegt. Um das gelebte Leben als ein FALSCHES anschaulich zu machen, wird Falsches gleichnishaft vorgeführt. Das Lob der Unbrauchbarkeit für das Leben zielt gleichnishaft auf die ganz andere Brauchbarkeit für das LEBEN. Wird Zhuang Zi von einem Baum berichtet, der groß geworden, aber für den Zimmermann unbrauchbar ist, dann fragt er zurück, warum er ihn nicht in die Ödnis pflanze, um als ein selbstvergessener Umherwandler bei Gelegenheit sorglos unter ihm zu schlafen. 60 Der Vorschlag ist unrealistisch, weil hochgewachsene Bäume nicht verpflanzbar sind, und dies schon gar nicht in das Land der unbegrenzten LEERE. Die im Denken vollzogene Inversion macht ihn aber unversehens REALISTISCH. Sich im NICHTS der UNWIRKLICHEN Wirklichkeit zu ergehen, was einem Gang in der WIRKLICHEN WIRKLICHKEIT gleichkommt, ist die Art des Geistes, der die Welt überwunden hat. Daß der vollends Untätige – sein zielloses Umherstreifen ist ja kein planvolles Tun – auch noch den Schlaf zu brauchen versteht, zu dem die Ruhe unter einem Baum einlädt, macht das Gleichnis vollends zu einem Bild des Ruhens im DAO. Die Umpflanzung des Baumes ist das Bild für den Umzug von der Erde in den HIMMEL: Das BRAUCHBARE findet sich allein dort, wo der Einzelne seine Einzelheit aufgibt und mit dem ALL EINS wird. Die Schule des DAO ist nicht für das Leben da, sondern für das LEBEN, das auf der Vernichtung von Leib und Leben gründet. Dichtet Walther von der Vogelweide das Lager eines Liebespaares unter einer Linde, das aus Blumen und Gras gebildet ist, die, »schön« gebrochen, wie sie sind, von der Liebe zeugen, dann zeigt ein lebendiger Baum seine Brauchbarkeit, indem er Part
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Zhuangzi I, 5.
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der poetischen Verklärung des erotischen Vollzugs wird. 61 Das ist eine eigene Brauchbarkeit dieses Baumes, keine ganz andere, weil sie von Menschen wahrgenommen wird, die gesellig, eben auch paarig, auf der Erde leben. Auch das Schweigen ist hier von eigener und nicht von ganz anderer Art. Wer im unfaßbaren und unnennbaren DAO ruht, schweigt, und er hat auch guten Grund dazu: Mit ALLEM EINS, hat er nichts zu sagen (nichts zu berichten, zu beurteilen, zu wünschen). Nun singt aber bei Walthers Liebesstätte die Nachtigall, und zwar das ganze Liebesspiel hindurch. Die liebende Frau jedoch weiß, daß sie sich auf die Verschwiegenheit der Nachtigall verlassen kann, wenn es um das geht, was der Liebste im Vollzug der Liebe alles getan hat. Das ist die der Wahrhaftigkeit einer Rede einzigartig korrespondierende Verschwiegenheit. Schweigen kann nur, wer etwas zu sagen hat, das er weiß. Wittgensteins »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« 62 bezieht seinen möglichen Sinn nicht aus der Lebenspraxis, sondern aus dem Religiösen. Das gilt auch für das Schweigen, wie es dem im DAO Ruhenden zugedacht ist. Jenseits des Ich ist er notwendig sprachlos. Walthers Frau dagegen, die sich in Anbetracht der liebenden Vereinigung der Verschwiegenheit ihrer selbst und der des Beobachters gewiß ist, sagt »ich«: »Daß er bei mir lag, / wüßte es jemand / (das verhüte Gott!), so schämte ich mich«. Hier dient das Schweigen dem Schutz des zu lebenden Lebens, während das Schweigen des in absoluter Selbstvergessenheit Ruhenden nur die Folge davon ist, daß sein SCHAUEN und ERKENNEN nichts Begrenztes, kein Etwas schaut und erkennt, sondern nichts. 63 Kommt Zhuang Zi ein zweites Mal auf einen Baum zu spreWalther von der Vogelweide, Gedichte (ed./trad. Peter Wapnewski), Frankfurt a. M. 1962, S. 24 f. 62 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Schriften, Frankfurt a. M. 1960, S. 83 (7. und letzter Satz des Traktats). 63 »Das dao, von dem man reden kann, ist nicht das ewige dao. Der Name, den man nennen kann, ist nicht der ewige Name.« Das ist zu Beginn des 61
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chen, der WIRKLICH nutzlos ist, dann will er den Grund nennen, warum er so groß werden konnte. Darauf folgt ein Zeichen des Staunens, das mit »Oh« und »Ah« übersetzt wird. »Oh, das ist der Grund, warum der Mensch des Geistes unbrauchbar für das Leben ist«. 64 Der Geist erreicht nicht seine äußerste Möglichkeit (wenn es denn eine ist), um mit frisch gewonnener Höchstkraft sich dem Leben zuzuwenden. Nein, gänzlich ins eigene Innere versunken, hat er nichts anderes vor, als darin zu bleiben, dies freilich mit dem feinen Unterschied, daß aus der eigenen die ALLGEMEINE Innerlichkeit des Geistes geworden ist. Der im HÖCHSTEN Ruhende will nur Eines nicht: aus dem ALL-EINS-SEIN in die umtriebige, vielgestaltige, ja eben NICHTIGE Wirklichkeit der Welt zurück.
XI. Das hier verfolgte Interesse am Einheitsdenken einer Wesensphilosophie ergibt keinen Anlaß, im Daoismus auch eine Antwort auf die politischen und gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit zu sehen. Seine Lehre ist, auf die Ganzheit der Ethnien gesehen, ein Appell an Wenige, zur geistigen Elite aufzusteigen. Zwar hält er sich in seinen gleichnishaften Reden bevorzugt an gesellschaftlich Benachteiligte, doch ist die Lehre keine Predigt für die Armen. An die zum Höchstgebrauch eigener Intelligibilität Fähigen ergeht der Appell. Bereits das Verständnis der Gleichnisse erfordert Intelligenz. Die Wirklichkeit ist bunt und vielfältig. Wer seine ganze geistige Kraft selbstvergessen auf das farblose EINE richtet, wird seine leiblichen Augen schließen müssen, um nichts mehr zu Daodejing von Lao Zi zu lesen (Henrik Jäger, Mit den passenden Schuhen vergißt man die Füße, S. 15.). 64 Zhuangzi IV,6 (Richard Wilhelm). Stephan Schuhmacher: »Ah! Der vergeistigte Mensch ist ebenso wertlos wie dieser Baum.«
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sehen. Oder er öffnet seine AUGEN. Dann sieht er das NICHTS, das die WAHRE WIRKLICHKEIT ist. Jetzt sind seine AUGEN geblendet vom SEIN des EINEN. Das ist die ganze Sprachlogik der Überwindung von Leben und Welt zugunsten der WAHRHEIT: Die leiblichen Augen sehen nichts, wenn sie nicht sehen. Die geistigen AUGEN sehen das NICHTS, wenn sie höchsten Geistes sind. Streifte ein im HIMMEL des DAO Ruhender durch weites Feld und Ödnis, ein Exempel vollkommener Gelassenheit, und das NICHTS der durchstreiften Gegend verstünde sich als eine Metapher für eine Gegend der Erde, so fände der Ruhende auf seiner Wanderung doch nicht zu den Menschen zurück. Die reine Selbstbezüglichkeit im Stande der Selbstvergessenheit bestünde fort, lebensteiliges Verhalten bliebe unmöglich. Dem DAO zugehörig, betreibt GEIST gewordener Geist Lebens- und Weltflucht. Es gleicht nur einem Nachtreten, wenn Lehrer des DAO in dem Leben, das, die Bunt- und Vielheit der Wirklichkeit bejahend, mit Anderen geteilt wird, eine Flucht vor der WESENS-Bestimmung erkennen. Sollte Daoismus als Lebensform gemeint und möglich sein, dann wäre diese jedenfalls nicht verallgemeinerungsfähig. Das soll sie aber auch gar nicht sein. Er propagiert nicht, die Nutzung von Baumholz für Hausbau und Möbelherstellung einzustellen. Ebensowenig fordert er zur Selbstverstümmelung auf. Die revolutionäre Kraft, die in seiner Wissenschaftsfeindlichkeit und damit auch Technikfeindlichkeit steckt, trägt er nicht in die Politik, sondern bewahrt sie in der elitären Haltung der Wenigen, die eigentlich großgeschrieben gehören. Seine diskriminierende Kraft gewinnt der Daoismus daraus, daß er sich nicht offen an nur wenige Lebens- und Weltfluchtwillige wendet, sondern mit allgemeinem Anspruch auftritt. Das heißt nicht, daß er sich doch auch an die Vielen wendete. Nein, für ihn gibt es als WIRKLICHES nur den GEIST. Darum kann in der Perspektive des WESENS der Anspruch nur ein ALL-gemeiner sein. GEISTIG gesehen, sind die WENIGEN ALLE. Darum 89 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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ist das Zhuangzi auch keine Erbauungsliteratur. Es entrückt Leser nicht in poetische Weiten, um sie Innerstes empfinden zu lassen, das sich jenseits allen Empfindens eigener und geteilter Lebendigkeit fände. Es versteht sich als Aufklärungsschrift, die den Menschen zu »entzaubern« sucht, der im geburtlichen, tätigen, teiligen, von Wechselfällen des Glücks und Unglücks betroffenen, sich fortzeugenden, hinfällig werdenden und endlichen Lebens zu sich selbst findet und in Gemeinschaft mit Anderen er selbst ist. Ihm wird vorgehalten, daß er nicht GEISTIG existiere und sein Leben damit kein LEBEN sei. Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, das sich als poetisch aufklärend gibt, unterschlägt, daß es ebensosehr eifernd diskriminiert. Es ist beseelt vom Widerwillen gegen die menschliche Zweiheit und Geschlechtlichkeit. Ohne verletzende Distanzierung von allem WESEN- und GEIST-losen verlöre der Daoismus seine für nicht eben Wenige betörende Strahlkraft.
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I. Heidegger, so meine begründete Vermutung, hat zur Zeit seiner Abwendung vom »System des Katholizismus« 1 im Jahre 1919 bereits klar für sich selbst gewußt, wie es genauer mit seinem »inneren Beruf zur Philosophie« steht, wenn er erklärt, »nur dafür« das in seinen Kräften Stehende zu leisten: Er hatte erkannt, für »die ewige innere Bestimmung des Menschen« selber einen Weg weisen zu können, der den durch die »Frohe Botschaft« gewiesenen bei weitem durch das überholt, was er als wahre Bestimmung des Menschen zu künden hat. Was Heidegger in der Frühjahrsvorlesung des Kriegsnotsemesters 1919 unter dem Titel »Phänomenologie als vortheoretische Urwissenschaft« 2 vorträgt, ist ein Erstentwurf des einzigen Gedankens seines »Denkweges«. 3 Die Entscheidung gegen das Wissen und Erkennen, wie es die Welt und die Wissenschaft beherrscht, ist gefallen. Die Welt, in die Heidegger den erstaunend, nicht erkennend denkenden inneren Menschen führt, ist ohne Gegenstände und gegenständliches Handeln, ohne Dinge, die sich beobachten und erforschen, ohne Sachverhalte, über die sich Aussagen machen lassen. Es ist die geistige Welt des inneSiehe dazu Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt (Main)/New York 1988, S. 106–119. Die Zitierungen sind dem dort abgedruckten Brief an Engelbert Krebs vom 9. Januar 1919 entnommen. 2 Martin Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA Bd. 56/57, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1999, S. 13 ff. 3 Siehe Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, Pfullingen 1954, S. 19. 1
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ren, sich ganz auf sich selbst sammelnden Menschen. Sie besteht im Schwebezustand des Staunens und Fragens, das nicht über etwas staunt und nach etwas fragt, sondern das geistige Selbst sich selbst in die Erstaunlichkeit und Fraglichkeit erheben und darin »erleben« läßt. Heidegger hat es meisterhaft verstanden, diesen Aufbruch in die Mystik nicht als einen solchen erscheinen zu lassen. Das ist ihm insbesondere in seinem 1927 erschienenen Hauptwerk Sein und Zeit gelungen. Wer es intensiv studiert, wird es als ein krypto-theologisches lesen. Der Grundsatz monotheistischer religiöser Poesie, der auch für monotheistisch-theologische Philosophie gilt, daß der Mensch nicht Gott ist, zeigt sich in ihm allzu deutlich beachtet. Die »Nichtigkeit« des Menschen gerade in seiner Freiheit zu sehen, weil sie nicht erlaubt, vom wahlweise Gebotenen beides zu wählen, ist ein absurdes Argument, wenn nicht als Vergleichsgröße der Gedanke göttlicher Allmacht dahinter stünde. Auch der Gedanke des »ursprünglich schuldig« 4 ist deutlich theologischer Provenienz. Daß aber das Werk, weit treffender geurteilt, ein krypto-mystisches ist, erschließt sich erst dann, wenn man dem in ihm entfalteten Konzept des Menschen als eines Seinswesens auf den Grund geht. Auch hier ist es, zugunsten eines klaren Nachverstehens, geboten, die wesensrelevanten Wörter durch Groß- und Kleinschreibung kenntlich zu machen.
II. Aus seiner mystischen WESENS-Perspektive gesehen, ist für Heidegger der Mensch kein MENSCH. Der Mensch des Alltags und der Wissenschaft, der Mensch, der geboren wird, unter Menschen aufwächst, mit Menschen lebt, der liebt, altert und Siehe Rainer Marten, Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben, Freiburg 2013, S. 51–61.
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stirbt, ist nicht AUTHENTISCH MENSCH. Der Grundschnitt, den Heidegger zwischen WESEN und UNWESEN hier macht, ist der von Leben und Dasein. MENSCH ist für Heidegger einzig das Seinswesen Mensch, Dasein genannt, und zwar dann, wenn es sein eigenstes und eigentliches Seinkönnen wahrmacht: die geistig-ekstatische Selbstübernahme. Tut es das, ist DASEIN nurmehr großzuschreiben, und auch all das, was ihm als Auszeichnung zugedacht ist. So nimmt Heidegger dem Menschen, der lebt, das Sterben und den Tod weg, um beides für das DASEIN zu reservieren. Der Mensch, der lebt, stirbt nicht, heißt es jetzt, er lebt ab. 5 STERBEN heißt daraufhin nicht mehr Sterben, TOD nicht mehr Tod. Das DASEIN, in reiner Selbstübernahme seiner SEINS-Möglichkeit, das heißt in seiner reinen AUTHENTIZITÄT, ist dieses SEIN SELBST, um das es ihm in seinem SEIN (SEIN seiner eigensten und eigentlichen Möglichkeit) geht. 6 Das SEIN SELBST, später oftmals das SEIN SELBER genannt, was es klarer als Agens hervorhebt, als das es gedacht ist, 7 ist ein mystisches. Es ist farblos, gestaltlos, namenlos, weil es ja nicht für ein »Seiendes« zu nehmen sein soll, für ein Etwas mit Was-Gehalt. Heidegger spricht von ihm als dem reinen DASS. Es soll damit ja nicht das Daß im Sinne von Faktizität sein: daß etwas der Fall ist. Nein, hier ist kein Etwas der Fall, sondern, um es provokativ zu formulieren, das Daß des Daß. Nichts anderes als der außerzeitliche mystische »Augenblick« ist gemeint, das SEHEN, das das NICHTS sieht, weil die AUGEN im NICHTS stehen, im NICHT alles Seienden (aller Dinge und Tatbestände). Damit ist das provoziert, was Heidegger die »ontologische Differenz« nennen wird, die Trennung von Daß-Sein und EtwasSein als eine absolute. Was eigentlich ein Junktim ist, weil es im Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 247. Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 12. 7 Dazu Rainer Marten, Martin Heidegger. Zur Einheit seines Denkens, in: Marion Heinz/Sidonie Kellerer (Hg.), Martin Heideggers »Schwarze Hefte«, Berlin 2016, S. 43 ff. 5 6
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Bereich des Erkennens und Wissens, des Lebens und Sterbens kein Daß ohne Was gibt, wird zur Grenze von Leben und LEBEN, Welt und WELT, Mensch und MENSCH. Das DASS ist damit außerhalb der Welt und außerhalb der Zeit. Das DASEIN, das SELBST sein SEIN ist, ist nicht in der Zeit. Auch sein STERBEN ist kein Vorgang in der Zeit, sein TOD nichts, was sich zu einem Zeitpunkt einstellt. Nun ist das DASEIN, das nichts Zeitliches ist, auch nichts Ewiges. Da-Sein geht in Weg-Sein über, in Nicht-mehr-da-Sein. Für das DASEIN ist es aber falsch gesagt, wenn es für endlich erklärt wird. DASEIN IST ekstatisch, IST im zeitlosen AUGENBLICK seine GANZHEIT, die Ganzheit seines Möglich-SEINS, und das ist eine GEISTIGE, keine physiologische Seinsweise. Vom DASEIN zu sagen, es sei endlich, trifft nicht, weil es von außen gesagt ist, ganz so, als gebe es für den Beobachter eine Erstreckung von SEIN zu messen. DASEIN in seiner Ekstatik ist kein Seiendes, ist kein Ich gegenüber einem Du, ist ganz es SELBST ohne jede mögliche Beziehung zu einem Anderen. Heideggers geniales Konzept: Es ist nicht endlich, sondern IST ZUM ENDE, ein SEIN ekstatisch-mystischer Selbsterfahrung.
III. Die »ontologische Differenz«, die Seiendes und SEIN SELBST absolut trennen möchte, ist in dieser Absicht auch eine absolute Trennung des EINEN vom Vielen. Das SEIN als das einzig zu DENKENDE ist nicht anders als im Zhuangzi das in sich ungeschiedene EINZIG EINE. 8 Heideggers SEINSDENKER ist nicht radikal vereinzelt und »einsam«, weil er abgesondert wäre, sondern weil er dem SEIN als dem EINEN »gehörig« ist. 9 Siehe u. a. Martin Heidegger, Anmerkungen I–V (Schwarze Hefte 1942– 1948) GA Bd. 97. Frankfurt a. M. 2015, S. 236; 250; 272. 9 GA Bd. 97, S. 265. 8
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Mystik ist durch und durch Einigungs- und Einheitsdenken. Das ist bei Heidegger nicht anders als bei Zhuang Zi. Deswegen kann es nicht ausbleiben, daß es bei ihm gleicherweise zum Gedanken der Einheit von SEIN und NICHT-SEIN kommt. Das NICHT und NICHTS des Seienden ist das SEIN. Schon 1929 zeigt er sein außerordentliches Gefallen an diesem gewagt und provokant erscheinenden Gedanken, der in Wahrheit auf einer Phantasmagorie beruht. Wie das SEIN SELBST des DASEINS 10 in seinem erdachten ekstatischen Augenblick ist auch das SEIN als das NICHTS des Seienden kein Phänomen, sondern ein DENKEND imaginiertes Phantom: »Das Sein läßt sich nicht gleich dem Seienden gegenständlich vor- und herstellen. Dies schlechthin Andere zu allem Seienden ist das NichtSeiende. Aber dieses Nichts west als das Sein.« 11
Die Verschiedenheit »schlechthin« von SEIN und Seiendem stellt die WESENS-Logik, die sie zu verantworten hat, vor die Aufgabe, ein, was die Versprachlichung anbelangt, asymmetrisches Verhältnis plausibel zu machen. Die eine Seite ist mit der Vielheit der Dinge der Welt besetzt, die im Prinzip erkennbar und namentlich unterscheidbar sind, die andere mit dem EINEN, das keinem Erkennen und sprachlichen Handeln Halt gibt. Das DENKEN, das Heidegger das DENKENDERE nennt, greift als SEINS- und EINES-Denken ins Ungreifbare und Grenzenlose aus. Was aber macht ein »Denken«, dem es unmöglich um Wahr und Falsch geht; wie gewinnt es überhaupt Orientierung? Wie alle Mystiker ist auch Heidegger ein Meister der Emphatik: Er denkt die Gedanken der Griechen griechischer und ursprünglicher, gebraucht Superlative, setzt kursiv (»ist«), greift zum emphatischen »selbst« und »selber« (»daß – das reine daß – daß Seyn Selber sey Seyn, Einzig-Einstig – Sigma« 12 ). Doch das alles Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 12. Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? (1929), 5. Auflage, Frankfurt a. M. 1940, im neu durchgesehenen Nachwort der 4. Auflage (1943), S. 41. 12 GA Bd. 97, S. 112. 10 11
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sind weit eher Zeichen der Unsagbarkeit dessen, was hier gesagt sein soll, als von Sagbarkeit. Die Logik der Mystik ist aber als LOGIK keine Techne des Redens, sondern eine des Schweigens (Sigetik). 13 Wie Heidegger die Frömmigkeit des DENKENS als HÖREN deutet (HÖREN auf die STIMME des SEINS), so teilt er als SEINS-DENKER in betonter FRÖMMIGKEIT mit Zhuang Zi dankbar die Namenlosigkeit der WAHREN WIRKLICHKEIT: »Wie oft danke ich dem Seyn, daß es mir zugeboren hat die Liebe zum Namenlosen des unscheinbaren Denkens.« 14
Heideggers Schweigen, was DIE SACHE des DENKENS anbelangt, nämlich das SEIN als das EINE, hat eine Gesamtausgabe erbracht, die am Ende mehr als hundert Bände zählen wird. Das Eigene sagen, indem man es verschweigt, ja bedeckt hält, das ist die Chance der kryptischen Rede, der kryptischen Winke. In unüberbietbarer Kryptik sagt Heidegger zum SEINSGEDANKEN in EIGENER SACHE: »Statt […] die rätselhafte Mehrdeutigkeit des Nichts preiszugeben, müssen wir uns auf die einzige Bereitschaft rüsten, im Nichts die Weiträumigkeit dessen zu erfahren, was jedem Seienden die Gewähr gibt, zu sein. Das ist das Sein selbst. 15
»Weiträumigkeit« – das ist die Metapher des Zhuang Zi: Wer im DAO ruht, überläßt sich dem unendlichen Raum 16 , der Weite, die von nichts besetzt ist. 17 Das DAO als das ALL-EINE ist erste und letzte Wirkmacht, die allen Dingen ihr Sein verleiht. Was wieder die Mehrdeutigkeit des Nichts anbelangt, so ist dabei eben auch an die Macht und Kraft des NICHTENDEN des Martin Heidegger, Beiträge GA Bd. 65, S. 79: »Alles Wort und somit alle Logik steht unter der Macht des Seyns. Das Wesen der ›Logik‹ […] ist daher die Sigetik. In ihr erst wird auch das Wesen der Sprache begriffen.« 14 Martin Heidegger, GA Bd. 97, S. 85. 15 Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 41. 16 Zhuangzi, XXII, 5. 17 Zhuangzi, I, 5. 13
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NICHTS gedacht, was eine Steigerung des Nicht-Seins 18 bedeutet: »Das Nichts gehört zum Sein. Das Sein ist das, was vermutlich wesentlich wesenhafter ist als je ein Seiendes. Das Nichts gehört zum Sein. Das Sein ist. Das Nichts des Seins ist das Nichtende, als welches das Sein selber west.« 19
Wie in der daoistischen Lehre ist das NICHTS ebenso selbsthaft wie das SEIN, ja das WESENDE WIRKEN des SEINS ist die seines NICHTS. Man muß das genau nachvollziehen: Das DASS, ohne jedes Was, »ist vermutlich wesentlich wesenhafter« als jedes Etwas, als jedes Ding und jeder Tatbestand, ja eben als alles, was dem Menschen im Leben begegnet und von ihm hervorgebracht wird. Diese wesentliche Wesenhaftigkeit bezieht es aber aus dem Nichts: aus dem Nichts alles für den lebendigen Menschen Relevanten. Für den Lebenden gibt es kein Daß ohne Was. Das SEIN SELBST als das WIRKENDE DASS ist für ihn ein Phantom, dessen Entstehung er in mystischer WESENSPhilosophie ortet. Hat mystisches Denken erst einmal die Freizügigkeit im gedanklichen und sprachlichen Umgang mit Sein und Nichts erlangt, dann sind dem Wechselspiel beider Begriffe kaum noch Grenzen gesetzt. »Haus des Seins« und »Palast des Nichts« werden austauschbar. Das liegt am Gedanken des EINEN. Für das ALL-EINE zu stehen, können SEIN und NICHTS unmöglich beanspruchen, wenn sie als Unterschiedenes auftreten gleich unterschiedenen Entitäten. Für die im mystischen Reden notwendige Kryptik ist die Freizügigkeit von SEIN und NICHTS natürlich ein wahrer Fund, weil bei diesen Wörtern, gelesen
Zhuangzi, XXII, 6, Richard Wilhelm: »Wenn es nun darüber hinaus noch ein Nicht-Sein gibt, wie kann man das erreichen?« Stephan Schuhmacher: »Und wenn es erst um die Nichtexistenz der Existenz geht – wer könnte einen solchen Zustand erlangen?« 19 Martin Heidegger, GA Bd. 97, S. 400 f. 18
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und gehört, Auge und Ohr immer wieder hellwach werden. Die Rede vom NICHTS belebt das »Verstehen« von SEIN, wie umgekehrt die vom SEIN das »Verstehen« von NICHTS. Nichts ist für diese Kryptik darum konsequenter als die Rede davon, daß SEIN und NICHTS einander brauchen: »Umsonst ist nichts – am wenigsten das Nichts selbst; denn in ihm rettet sich das Seyn zu seiner einzigsten Einzigkeit.« 20
Das NICHTS, hier mit dem SELBST belehnt, ist brauchbar, ist gebraucht, es IST nicht umsonst, das heißt, es IST nicht für nichts. Es IST für das SEIN. Dieses nämlich, gemeint ist das SEIN SELBST, braucht das NICHTS, damit es sich vor dem Vielen, vor der zählenden Zahl und dem Gezählten retten kann. Ließe sich das SEIN SELBST auch nur im geringsten zählen und etwas zurechnen, hätte es seine Unerkennbarkeit und Unbesprechbarkeit eingebüßt. Einzigste Einzigkeit – wie in dem Zitat zuvor das »wesentlich wesenhafter« –, das SCHWEIGEN will ganz offensichtlich sein WORT zweimal hören, um sich sicher zu sein, daß nichts verlautet, das SCHWEIGEN nicht gebrochen wird. Das NICHTS ist für Heidegger der Retter der ontologischen Differenz. Es hält vom SEIN SELBST alles Seiende ab, NICHTET es. Plotin hatte für sein Nachdenken, das dem REINEN EINEN nachging, nicht Heideggers NICHTS SELBST zur Hand, das jede gedankliche und sprachliche Zutat von ihm abgehalten hätte. Wie schon bei Zhuang Zi ist es überzeugend, daß Heidegger als Mystiker das SEIN nicht ohne das NICHTS denkt, das NICHTS nicht ohne das SEIN. Nur in der EINHEIT von NICHTS und SEIN gelingt die treffendste kryptische Anzeige des EINZIG EINEN.
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Martin Heidegger, GA Bd. 95, S. 2.
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IV. Ist einmal die ontologische Differenz etabliert, die eine absolute ist, dann ist damit doch das Verhältnis des SEINS zum Seienden nicht aufgehoben. Mit diesem Problem hat sich schon Zhuang Zi beschäftigt. Die Urkraft des DAO als des absolut EINEN bleibt eine Wirkkraft für das Viele, für die Dinge, ohne doch zu etwas Wirkendem zu geraten, das gleich einem Demiurgen 21 schöpferisch tätig ist. Das DAO ist als das EINE nichts neben dem Vielen, es ist ja das ALL-EINE, aber alles wird ohne physisches Tun durch es bewirkt. Heidegger hat sich als unentschieden bzw. sich selbst korrigierend gezeigt, wie er das SEIN in bezug auf das Seiende in seinem WESEN deuten soll: »daß das Sein wohl west ohne das Seiende«. 22 »daß das Sein nie west ohne das Seiende«. 23
WEST das SEIN ohne das Seiende, dann ist sein SELBST-SEIN betont. Schon das DASEIN, wie es in Sein und Zeit ekstatisch gedacht ist, ist ohne Bezug zu seiner Leiblichkeit und Zeitlichkeit gesehen. Was wäre auch das absolute NICHT-SEIENDESSEIN des SEINS, wenn es doch des Seienden bedürfte, um so zu sein, wie es IST. Und dann ist da doch bei Heidegger im Zuge seiner Umkehrung von allem auch die Inversion des Brauchens: Nicht der Mensch braucht das SEIN, sondern das SEIN braucht den Menschen 24 – als »Hirten«, das meint als den, der im DENPlaton, Timaios 28a et al. Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, Nachwort der 4. Auflage (1943). 23 Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, Nachwort der 5. Auflage (1949). Auf diese Wortauswechselung hat Max Müller aufmerksam gemacht: M. M., Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, Heidelberg 1949, S. 50 f. Anm. 3. 24 Die Inversion des Brauchens gilt bei Heidegger auch für das Verhältnis von Mensch und Gott. Nicht der Mensch ist es, der den Gott braucht: »Der Gott braucht uns«. M. H., GA Bd. 94, S. 448 f. 21 22
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KEN die »Not der Notlosigkeit« austrägt, die Ignoranz der SEINSVERGESSENHEIT und SEINSVERLASSENHEIT. Das EREIGNIS, das das SEINS-los gewordene Seiende ins SEIN zurückholt, braucht den SEINSDENKER. Das aber zeigt an, daß das SEIN mit dem Seienden etwas im Sinn hat: ihm das Wunder seines eigensten DASS zu vermitteln. »Das Wunder aller Wunder, daß SEIN WEST« soll auch heißen können: »Das Wunder aller Wunder, DASS Seiendes IST«. Entscheidend für die ontologische Differenz als Differenz ist freilich, daß das Seiende das NICHTS bleibt, das es, am SEIN gemessen, ist. WEST das SEIN SELBER als das NICHTENDE, dann hat es mit dem Seienden nichts anderes im Sinn, als SELBST ja keines zu sein. Das Seiende ist als solches Vieles. Seiendes ist meßbar, wägbar, zählbar. WEST das SEIN nie ohne Seiendes, dann bleibt es in diesem WESEN doch das EINZIG EINE. Heidegger spricht in Sein und Zeit noch nicht vom rechnenden Denken, das kein DENKEN ist, und doch hat er Wege gefunden, den lebendigen Menschen, der stets Einer der Vielen ist, als den Rechnenden zu brandmarken. An die Welt verfallen und eben an das Leben, das ihn nichts als »vulgär« sein läßt, zum Beispiel als Einen, der auf der Flucht vor sich selbst dem Gerede und der Neugier verfallen ist, nutzt er für seinen Weltaufenthalt den zählenden und rechnenden Verstand. Das, was Heidegger das »faktische Dasein« nennt, 25 ist signifikant nicht das DASEIN, das im ekstatischen Augenblick außerräumlich und außerzeitlich EINS ist mit seinem DASS. Es steht für die Existenzform des Seinswesens Mensch in seiner »Uneigentlichkeit«, in der es erfolgreich vom Zählen und Rechnen Gebrauch macht. In Sein und Zeit hat Heidegger dafür bevorzugt den Ausdruck »Rechnung tragen« verwandt. Geht es um die Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Daseins, um seine Innerweltlichkeit und Innerzeitigkeit 26 , dann trage es seiner Stellung im Raum und in der Zeit eigens Rech25 26
Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 123 et al. Martin Heidegger, Sein und Zeit, §§ 15; 22; 71; 78–80.
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nung, indem es zum Beispiel Entfernungen mißt und die Tageszeit feststellt. Damit ist der »Raum« einer WELTENDEN WELT und die »Zeit« der ZEIT des SEINS verspielt. Das ist mystische Gradlinigkeit: Die Zeit des vulgären Zeitverständnisses – das ist die gezählte Zeit – kann als gezählte unmöglich die Zeit des DASEINS sein. Der Verdacht gegen das Rechnen, daß es den Menschen von seiner WESENS-Bestimmung fernhalte, ist ein absoluter. 27
V. Dem EINZIG EINZIGSTEN, das ist dem SEIN als dem EINEN, kann keiner der Vielen »zugehören«. DENKEND dem SEIN »übereignet«, ist niemand Einer der Vielen. Die WENIGEN, die Heidegger als SEINSDENKER vorsieht, sind keine Anzahl. Früh ist er sich klar, daß im ekstatischen AUGENBLICK des DASS, »in dem alles Was zerstäubt«, niemand mehr ein besonderes Individuum ist. Sie (die Individuation) individuiert so, »daß sie alle gleich macht«. 28 Die WENIGEN sind nicht Wenige von den Vielen. Heidegger rechnet SEINS-philosophisch nicht nur mit dem zählenden Menschen ab, sondern auch mit dem zählbaren und gezählten. Dramatisch wird das für ihn, wenn er beim SEINS-geschichtlich auserwählten Volk der Deutschen mit der Anzahl der Deutschen nicht zurechtkommt. Er nennt die 65 Millionen, die man zu seiner Zeit zählt, und weiß, daß sie unmöglich dem für das EREIGNIS des SEINS aufgesparten VOLK zugehören können. Diese Zahl ist für ihn eine »Unzahl«,
Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, 5. Auflage, Frankfurt a. M. 1949, S. 43: »Alles Rechnen läßt das Zählbare im Gezählten aufgehen, um es für die nächste Zählung zu gebrauchen. Das Rechnen läßt anderes als das Zählbare nicht aufkommen. Jegliches ist nur das, was es zählt.« Zählbar zu sein, wird so zum Inbegriff des WESEN-los Seienden. 28 Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit, Tübingen 1989, S. 27. 27
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das so gezählte Volk ein »Unvolk«. 29 Von Anfang an schafft diese Mystik den Menschen ab, der wir sind. Die Vielen als Unzahl sind »Masse«. Heidegger wünscht sie sich weit weg 30 , ja spielt mit ihrer »Vernichtung«. 31 Der Mensch, der geboren wird, aufwächst, liebt, Leben weitergibt, altert und stirbt, ist für uns der Mensch, der ja nicht wegzuwünschen und zu vernichten ist, und dies nicht nur darum nicht, weil es der Mensch ist, der wir selbst sind. Der Mensch, der für sein mit Anderen geteiltes Leben Rede und Schrift gebraucht, gebraucht auch Rechnen und Zählen. Kinder zählen die Tage bis Weihnachten, Verliebte die Tage bis zum nächsten Wiedersehen. Der Mensch zählt sein Vieh und sein Geld, zählt seine Lebensjahre, zählt seinen Pulsschlag und Leukozyten in seinem Blut, zählt die Meter, die die Höhen der Berge und die Tiefen der Meere messen. Erste Methode, Dinge zu zählen, waren Knoten in Schnüren und Kerben in Hölzern und Knochen. Ein prähistorischer Fund, dessen Alter auf 22.000 Jahre geschätzt wird, legt die Vermutung nahe, daß der vorgeschichtliche Mensch nicht nur gezählt, sondern bereits einiges von Arithmetik verstanden hat. Das Dezimalsystem und Duodezimalsystem scheint bereits angewandt worden zu sein, ja eine Aufmerksamkeit für Primzahlen bestanden zu haben. 32 Folgte man diesen gut begründeten Vermutungen, was würde dann Heidegger zu einem präisraelitischen Sinn des Menschen für Rechnen und Zählen gesagt haben? Jedenfalls käme die Sache seinem SEINS-geschichtlichen Entwurf in die Quere. Ureinwohner Afrikas SEINS-Vergessensheit in vorwissenschaftlicher und vorphilosophischer Zeit nachzusagen, weil sie die Martin Heidegger, Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931–1938), GA 94, 337 f. 30 GA 94, 23: »Sie mögen gehen, wie sie kamen.« 31 Martin Heidegger, Beiträge GA 65, S. 113. 32 Hubert Filser, Primzahlen auf den Knochen. Begann vor 22000 Jahren das mathematische Denken?, in: Süddeutsche Zeitung vom 19. August 2016, S. 14. 29
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Natur »stellten«, um aus ihr Nutzen für den Lebenserhalt und Lebensgenuß zu ziehen – nein, so könnte Heidegger nicht denken. Das GE-STELL gilt ihm als »Gegenklang« zur »griechisch« gedachten Physis. Doch dann wird das DENKEN, wie er es sich gedacht hat, ohnmächtig. Immer neu wiederholt er seine Überzeugung, daß Wissenschaft und Technik in der Philosophie ihren Ursprung hätten, weswegen es Sache der Philosophie sei, Wissenschaft und Technik auch wieder aus der Welt zu schaffen, und dies mitsamt allem Rechnen und Zählen. Ist aber beides längst menschlicher Brauch in vorgeschichtlicher Zeit, dann ist es unerreichbar für sein soteriologisches und eschatologisches GESCHICHTSDENKEN. War Arithmetik vor 22.000 Jahren kein Unheil, dann bedarf es auch keines Heilsversprechens, dem Menschen die mathematischen Fähigkeiten insgesamt wieder zu entreißen. Nun war ein Ureinwohner Afrikas für Heidegger im besten Falle Mensch, auf keinem Fall aber MENSCH. Er war ja ein Vieler, das heißt Einer unter Vielen. Zwar ist ein Ureinwohner ein Einzelner, aber er ist nicht radikal vereinzelt auf sein SELBST-SEIN bezogen, sondern hat Umgang mit einer Vielzahl von Dingen. Das genügt, um ihn davon auszuschließen, seinem WESEN nach Mensch zu sein. »Indem der Mensch sich vom ›Seienden‹ loswirft, wird er erst Mensch.« 33
Wird Heidegger, zumal der späte, so gelesen, daß ihm zufolge Wissenschaft und Technik, ja Rechnen und Zählen bleiben könnten, wenn nur eine Gelassenheitskultur zur Herrschaft käme, dann verliest man sich gründlich. Das Erschwerende an Heideggers Mystik, das sie von der eines Zhuang Zi unterscheidet, ist ihre Eingebundenheit in ein ebenso phantasiereiches wie einge-
Martin Heidegger, Beiträge GA Bd. 65, S. 452. Entsprechend ist an ein Sichloswerfen des Menschen in das WESEN gedacht. M. H., GA Bd. 94, S. 79.
33
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schränktes Geschichtsdenken. Äußerlich gesehen werden in ihm Ontologiegeschichte und Menschheitsgeschichte zur Koinzidenz gebracht. Kritisch gesehen handelt es sich aber weder um das, was griechische Philosophen unternommen haben, sich eine verbindliche Grundlage für die Beurteilung des Wirklichen und Wahren zu verschaffen, noch um den Menschen. Wird von Heidegger Geschichte GEDACHT, dann ist sie keine der philosophischen Versuche zum Wirklichen und Wahren, weil sie dann auf das »Seiende« in seiner Vielheit ausgerichtet wäre, aber auch keine des Menschen, denn das wäre ja die Geschichte eines Wesens, das vor sich selbst flieht. Heideggers GEDACHTE Geschichte ist die des SEINS und die des DENKENS des SEINS. In dieser Geschichte geschieht nichts, wenn geschehen heißt, daß in ihr etwas vor sich geht, sich etwas entwickelt und immer wieder Zufälle ihre Hand im Spiel haben. Heideggers GESCHICHTE ist GESCHICK-haft aufgeladen. Das »des« in GESCHICHTE des SEINS ist genitivus subjectivus und objectivus. Das Verwunderlichstee an ihr aber ist, daß eben nichts geschieht, und das heißt nicht etwas geschieht, kein Was. Die von Heidegger erdachte und erzählte SEINSGESCHICHTE ist die des DASS, was für ihn heißt, daß sie EREIGNIS-haft ist. Jähe »Stöße des Daß« 34 markieren die Wendungen des GESCHICKS. Nicht Menschen haben Schicksale, sondern das GESCHICK ist das des SEINS. Sofern dieses mit dem GESCHICK des MENSCHEN verbunden ist, zeigt sich auch dieser rein EREIGNIS-haft gedacht. Heideggers MENSCH ist ohne jede stoffliche Fülle. Er hat sich vom Seienden »losgeworfen«, auch von sich selbst als Seiendem. Er ist kein Vieler mehr, sondern EINS gleich dem EINZIGSTEN. 35 Siehe das Kapitel »Die Stöße des Daß«, in: Rainer Marten, Heidegger lesen, München 1991, S. 227–238. GA Bd. 95, 111: »Dann aber erst naht der Augenblick der ersten, geschichtegründenden Entscheidung. Niemand weiß das Wann und Wie dieses Augenblicks, nur sein Daß und seinen Usprung aus der freiesten Freiheit …«. 35 Martin Heidegger, GA Bd. 94, S. 196; 270; 301; GA Bd. 97, S. 60; 112; 236; 270. 34
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Heidegger hat damit gerechnet – allein in den SCHWARZEN HEFTEN findet sich ein halbes Dutzend Mal diese Zeitprophetie –, daß es in dreihundert Jahren so weit ist: das Ende der Seinsvergessensheit, das EREIGNIS des SEINS. Er hätte es besser wissen müssen, aber vermutlich nicht besser wissen können: Wie üblich in allen das endgültige Heil verkündenden Endzeitprophetien ist damit auch bei ihm der NEUE MENSCH, der WENIGE und EINE, ad kalendas graecas vertagt.
VI. Die Einheit von SEIN und NICHT-SEIN, wie Heidegger sie ausdrücklich und unausdrücklich gedacht hat, wurde seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts für geistige Eliten verschiedener Kulturen zum Großereignis. In bewußter Gegenstellung zu aufklärender und wissenschaftliche Verfahren nutzender Philosophie befriedigte es tiefer gehende geistige und geistliche Bedürfnisse. Diese Befriedigung durch Metaphysik und Mystik hat einen hohen Preis. Das Leben und die Welt überwinden, indem man sich über beides hinwegdenkt, mag im Prinzip als geistiges Unternehmen tolerabel sein. Wird aber die konzeptuelle Verinnerlichung des Menschen dazu genutzt, Menschenverachtung zur geistigen Pflicht und zum Politikum zu machen, dann ist jene geistige Bedürfnisbefriedigung eindeutig zu teuer bezahlt. Die Verachtung des »Heutigen« ist für Heidegger eine geschichtliche Verpflichtung. 36 Ihm ist es einzig um die nur von ihm vorzubereitende Wesensrettung des Menschen zu tun, 37 und das heißt um das künftige EREIGNIS des SEINS. Für dies denkt er KÜNFTIGE voraus: Es sind, wie er es sprachlich faßt, EINige (Wenige), die EINzelnen und EINzigsten. 38 Nicht nur 36 37 38
Martin Heidegger, GA Bd. 94, 9. Martin Heidegger, GA Bd. 97, 80. Martin Heidegger, GA Bd. 94, 198.
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für den Heidegger Ende der 30er Jahre ist es die Frage, ob es »für die immer zahlreicher werdenden Allzuvielen« 39 als die »Zusammengedrängten« überhaupt »Raum« geben soll. »Und dabei dieser Lärm um das Umkommen der Vielen, die man nicht kennt und auch nicht kennen will« – man muß einen solchen Satz erst einmal auf sich wirken lassen, um langsam dafür wach zu werden, was da Einer, der denkender zu denken verspricht, für menschliche Populationen, zumal für städtische im Visier hat, nämlich die größte Gelassenheit gegenüber massenhaftem menschlichen Umkommen: »Verheerender als die Hitzewelle der Atombombe ist der »Geist« in der Gestalt des Weltjournalismus. Jene vernichtet, indem sie nur auslöscht; dieser vernichtet, indem er den Schein von Sein errichtet auf dem Scheingrund der unbedingten Wurzellosigkeit.«
Als Heidegger das 1946 formulierte, waren die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, die, wie man heute weiß, 210.000 Tote zur Folge hatten, noch kein Jahr her. »Nur auslöscht«, das heißt, die Bombe hat den Vielen nur das Leben gekostet. Der Journalismus dagegen vernichtet in Heideggers Augen geistige Existenz. Massenmord kann demnach nichts wirklich Schlimmes sein. Am Ende deutet sich in ihm eine Lösung des Problems der Allzuvielen an. Denn »das Nichtende, als welches das Sein selber west« 40 , kennt als Hüterin der absoluten Differenz von SEIN und Seiendem keine Rücksicht, wenn es um das SEIN SELBST geht. Das NICHTENDE NICHTS des SEINS, wie es von Heidegger erdacht ist, hat das Potential zur Vernichtung.
39 40
Martin Heidegger, GA Bd. 94, 421. Martin Heidegger, GA Bd. 97, 154 (dort auch das vorige Zitat).
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6. Die Einheit der Vernunft: Heraklit
I. Die Selbstberufung des Menschen zur Philosophie hat als Erstes die Scheidung der Wenigen von den Vielen zur Folge. Als gehörte Vielheit zu ihrer Natur, erkennen selbsternannte Philosophen in letzteren die Widersacher der Einheit der Vernunft. Spricht Heraklit von den Wenigen als von den Anderen zu den Vielen, 1 dann könnten sie bereits bei ihm besser die Einen heißen, weil sie, ebenfalls wie von Natur, die Sachverwalter des Einen sind: der Einheit der Vernunft. Mit ihrer systematischen Auf- und Abwertung macht Philosophie frühzeitig klar, keine Wissenschaft zu sein. Sie will, wenn sie spricht, für den Menschen Gewichtiges und Verbindliches sagen. Ihre Vorliebe gilt infolgedessen dem Soll, nicht dem Ist. In allen Ist-Aussagen, die als Werturteile zu verstehen sind, hat die Feststellung den Charakter der Verpflichtung. Ihr Verlangen nach Einsicht, das sich nicht mit dem Blick auf Tatsächliches zufrieden gibt, läßt Philosophie von Anbeginn an über den Menschen hinausgehen. Dazu macht sie sich die Vorgabe von Kultur und Kult zu eigen, daß der Mensch kein (bzw. nicht) Gott ist. Für die Verständigung des Menschen über sich selbst, die sie führt, sichert sie sich so von vornherein Anlaß und Anhalt, sich vom Menschen, der wir sind, zu distanzieren. Sie wird theologisch, und dies mit Recht, verfügt sie doch einzigartig unter Menschen über das, was Gott auf vollkommene Weise hat: über Denkkraft (nous). Die der Differenz der Denkkraft folgende Abwertung des Heraklit, Fragment B 104: »Sie wissen nicht, daß ›die Vielen sind schlecht, Wenige nur gut‹«.
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Menschen gegenüber Gott und die entsprechende der denkunfähig und -unwillig Vielen gegenüber den Einen, den Philosophen, zeigt, wie Philosophie sich auf Gedeih und Verderb dem Einheitsgedanken verschrieben hat. Das aber liegt an dem, was sie für ihr alles tragendes Fundament nimmt: an der vermeinten Einheit der Vernunft. In ihr den Monotheismus der Philosophie zu erkennen, ist nicht bloß metaphorische Rede, wenn doch in philosophischer Sicht der eine Gott sich als von einzigartiger Vernunft zeigt. Xenophanes (um 580–480 v. Chr.), der erste der eleatischen Philosophen, hatte eine kuriose Idee, den einen Gott, den er für den größten unter den Göttern und Menschen erklärt, dadurch von jedem Anthropomorphismus zu reinigen, daß er ihm das Sehen, Denken und Hören zuspricht, allesamt menschliche Vermögen, wenn auch auf unüberholbar ganzheitlicher Weise. 2 Wird der erdachte und erdichtete Gott nicht der menschlichen Gestalt, sondern seinen lebendigen Kräften und Fähigkeiten nachgezeichnet, dann ist der Anthropomorphismus, auch wenn die vorbildlichen Kräfte und Fähigkeiten bis ins Maßlose überzeichnet werden, der weit tiefer gehende. Denkt Gott »als Ganzes« 3 , ist er »ganz Geist« 4 , so hat das einen übermenschlichen, auch unmenschlichen Zug. So ist der Mensch nicht gewachsen und gestaltet – zu seinem Glück, weil er sonst für immer um den Schlaf gebracht wäre, wohl auch um den Genuß der Liebe und des Weins. Aber daß Gott mit dem Sehen und Hören zu einem Lebewesen gemacht wird, ist das Erstaunliche, und daß er dann ausgerechnet auch noch denkt, zwar nicht wie es Menschen tun, aber doch als das Ausgezeichnete, was Menschen tun. Selbst die Phantasie der Erdichter und Erdenker ist, wie alle menschliche, limitiert. Er braucht des Menschen Sehen, Denken, Hören als Anhalt, um mit Blick darauf ein Größtes Xenophanes, Fragment B 24, Die Fragmente von Xenophanes werden zitiert nach Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I. 3 Hermann Fränkel, Dichtung und Philosophie im frühen Griechentum, New York 1951, S. 428. 4 Xenophanes, Fragment B 24. 2
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(megistos) 5 spekulativ behaupten zu können. Daß Xenophanes als Einheitsdenker von menschengestalteten Göttern, wie es die homerischen sind, absehen möchte, ja muß, ist nur allzu verständlich. Er braucht keinen Dreizack-schwingenden Erderschütterer und keine reizende Liebesgöttin, ja beide hinderten ihn, die absolute Macht und Herrschaft des Geistes der einen Vernunft vorzutragen.
II. Orthodoxie und mit ihr die Unverhandelbarkeit einer Ansicht kann nur dort auftreten, wo das, worum es geht, im Belieben menschlicher Phantasie liegt. Auch Heraklit ist sich sicher, daß alles, was er sagt, seine Richtigkeit hat. Für philosophische Monotheisten steht die Einheit der Vernunft unmöglich zur Disposition. Zu diesem Zweck wird menschliche Vernunft in einem Größten und Höchsten verortet und dem geistigen Schutz der Wenigen (Einen) übertragen. Es ist der Ursprung der Diktatur des Konsens. Ist die Vernunft eine, dann kann der Vernünftige nur das Eine vertreten. Er hat unmöglich eine eigene (idia) Sicht der Dinge, sondern notwendig die allen (sc. allen Vernünftigen) gemeinsame. Die – vermeinte – eigene Sicht ist einzig und allein die Sache der Vielen. 6 Was für eine absurde Vorstellung: Wer Verstand und Vernunft hat, hat damit nichts Eigenes. Ist den Wachenden die Welt die eine und gemeinsame 7, dann ist sie auch schon vorbestimmt als die des einen Geistes, weil den Wachenden als den Vernünftigen das Denken gemeinsam ist. 8 Keiner denkt anders, weil keiner anders ist. Die doppelte Alterität (Ander- und Andersheit) ist aufgehoben. Zwischen dem Einen 5 6 7 8
Xenophanes, Fragment B 23. Heraklit, Fragment B 2. Heraklit, Fragment B 89. Heraklit, Fragment B 113.
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und dem Anderen gibt es keine Andersheit mehr. Jeder ist gleich dem Anderen. Die heile geistige Welt der Wenigen ist so erdacht, in der jeder in der Nachfolge dessen steht, was das allein Weise ist. 9 Ein jeder repräsentiert es ohne Unterschied. Heraklit rühmt sich, soviel er weiß der Einzige zu sein, der erkennt, daß das Weise (to sophon) etwas Absolutes ist. 10 Es kann von nichts belangt, also durch nichts verändert werden. Das Absolute ist als solches das Unveränderliche und Bleibende. Wir können somit in ihm die Wahrerin der Einheit der Vernunft sehen. Auch Gott, dem die eine Vernunft zuhöchst eignet, ist als Absolutes zu erdenken. Heißt es von ihm, er sei Gegensätzliches, das aufeinander folgt, wie Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sattheit-Hunger 11, dann wird er von nichts davon belangt. Er ist und bleibt ungeschieden der Eine, wenn Alles durch ihn eins ist. Schon Heraklit muß von der Masse Mensch und der Vielheit der in ihr zutage kommenden menschlichen Charaktere, Verhaltungen und Ansichten angewidert gewesen sein. Wer die Einheit der Vernunft denkt, versteht sich vermutlich viel eher als einer, der im Zugzwang ist, als daß er seine Phantasie blühen lassen könnte. Doch die Rettung der Einheit des Menschen in der Einheit der Vernunft, die nur den Konsens kennt und zuläßt, ist teuer erkauft. Philosophie, die die Einheit der Vernunft theologisch gründet, handelt gegen den Menschen: Menschen diskriminieren Menschen; der Mensch beschämt sich selbst. Heraklits überraschende Behauptung, daß es nicht menschliche Art sei, Einsichten (gnômai) zu haben, wohl aber göttliche 12, läßt nichts Gutes ahnen für die Veranschaulichung menschlicher Nichtigkeit: Der Mann sei vor Gott kindisch (nêpios) wie der Junge vor
Heraklit, Fragment B 41. Heraklit, Fragment B 108. 11 Heraklit, Fragment B 67. 12 Heraklit, Fragment B 78. 9
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dem Mann. 13 Drastischer wird die Diskrepanz zwischen göttlicher Reife und menschlicher Unreife durch eine biologische Degradierung des Menschen gedeutet: Gegen Gott gehalten, erscheine auch der weiseste Mensch einem Affen gleich. 14 Das ist nicht nur als noetische, sondern auch als ästhetische Abwertung gemeint: Der Gott ist ungleich weiser als der Mensch, was ihn, recht gesehen, zum einzig Weisen macht. Aber nicht nur dies. Der Gott ist auch ungleich schöner, was keine Schönheit mehr unter Menschen gelten läßt, und ist überhaupt in Allem dem Menschen unendlich überlegen. Damit ist vorentschieden, daß für die Einheit der Vernunft der eine Gott einsteht, nicht der affengleiche Mensch. Indem sie den Menschen zwischen Gott und Tier ortet, decouvriert Wesensphilosophie nur ihre Unfähigkeit und Unwilligkeit, dem, was der Mensch ist, dort auf die Spur zu kommen, wo er sich in seiner lebendigen Zweiheit und Vielheit zeigt. Ist der Mensch auf beschämende Weise von Gott geschieden, dann muß sich das auch in der Scheidung der Wenigen von den Vielen spiegeln. Ist der signifikant Andere zum einen Gott der geistlose und unschöne Affe, dann ist das signifikant Andere zu den Besten von Allen, die als Sterbliche die Ewigkeit im ewigen Ruhm suchen, das vollgefressene Vieh. 15 Orientiert man sich weiter in Heraklits Einheitsdenken der Vernunft, dann zeigt sich, daß die Wenigen immerhin auf Verstand und Vernunft als verbindlich Einheitgebendes ausgerichtet sind, sie aber dennoch nicht zureichen, um dies als das Humanum zu sichern. Kein menschliches, ein göttliches Gesetz ist es, in dem der Mensch sein Eigenstes zu finden hat. 16
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Heraklit, Fragment B 79. Heraklit, Fragment B 83. Heraklit, Fragment B 29. Heraklit, Fragment B 113; 114.
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III. Homer gehöre ausgepeitscht. 17 Er hat die Vielheit der Götter erdichtet anstatt den einen Gott. Es gibt zwar Zeus, der das letzte Wort hat. Doch er schlichtet nie für immer den Streit, zumal es Unstimmigkeiten mit der eigenen Frau gibt. Homers Götter taugen in der Tat nicht dazu, den Menschen auf Konsens und Harmonie zu verpflichten und ein besseres »Leben« in die Gemeinsamkeit der Vernunft zu verlegen. Ilias und Odyssee führen das Leben der Menschen untereinander und mit den Göttern in all seiner Größe und Niedertracht vor, in all seinen Möglichkeiten, sich aneinander zu erfreuen und sich gegenseitig zu vernichten, zeigen schöne und häßliche Emotionen, listiges, kluges und uneinsichtiges Handeln. In dem exemplarischen Bild menschlichen Lebens, das beide Werke zeichnen, zeigt sich immer neu, wie bedeutsam gerade auch die lebendigen Widersprüche für die Lebendigkeit des Lebens sind, die ja stets eine gewagte und gefährdete, in jedem Falle endliche ist. Die belebende Kraft des Gegensätzlichen glänzt bei Heraklit nur, um als etwas Natürliches, auch künstlich zu Bewerkstelligendes, vor göttlicher Macht zu verblassen. Zeigt Aristoteles am Beispiel des Männlichen und Weiblichen, daß die Natur nicht aus dem Gleichstämmigen (homophylos) die erste Übereinstimmung (homonoia) macht, sondern durch die Verbindung von Gegensätzlichem, dann fällt ihm dabei ein, was der der Dunkle genannte Heraklit an Verbindungen (synapsies) von Gegensätzlichem nennt: Ganzes und Nichtganzes, Zusammengehöriges und Nichtzusammengehöriges, Stimmiges und Unstimmiges. 18 Doch des Aristoteles Beispiel ist unmittelbar dem Leben entnommen, Heraklits Beispiele dagegen demonstrieren sein spekulatives Einheitsdenken: »Aus Allem Eins, aus Einem Alles« endet Aristoteles’ Heraklitzitat. Das Eine als das einzig 17 18
Heraklit, Fragment B 42. Aristoteles, De mundo 5, 396b7 = Heraklit, Fragment B 10.
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Die Einheit der Vernunft: Heraklit
Weise 19 steht für den Gott des philosophischen Monotheismus, in diesem Falle für Zeus. 20 Das ist nicht der Zeus Homers, der sich durch Zauber und List um Verstand und Vernunft bringen und zur Liebe verführen läßt. 21 Heraklits Zeus ist kein Gott unter Göttern, dessen Vernunft in gewissen Augenblicken zur Disposition stünde. Sein Wille ist es, der dem einen göttlichen Gesetz die Kraft gibt, so weit zu herrschen, wie er will. 22 Die Vernunft als gesetzgebend zu denken, hat, wie sich zeigt, nicht Kant erfunden. Die Vergöttlichung der Vernunft, ja die Gleichsetzung von Gott und Vernunft hat bereits im frühen griechischen Denken dafür gesorgt, eine ganze Philosophiegeschichte lang von der Einsicht abzubringen, daß Vernunft ein Vermögen des Menschen und als solches ein Instrument im Dienste des Menschen ist. Statt dessen wird Vernunft mehr oder weniger bewußt zum Selbstzweck erklärt. Die Vernunft hat Interesse daran, daß es vernünftig zugeht. Das erhebt sie über die menschlichen Belange. Die Pflicht, der Vernunft als dem Gemeinsamen zu folgen 23 , entspringt der erdachten und als göttlich verklärten Einheit der Vernunft. Auf Seiten des Menschen hat sie allein den Philosophen als Fürsprecher, der, wie er das Interesse der Vernunft unifiziert und verabsolutiert, sich selbst als den vorbildhaften Menschen präsentiert.
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Heraklit, Fragment B 108. Heraklit, Fragment B 32. Ilias 14, 198–351. Heraklit, Fragment B 33; B 41. Heraklit, Fragment B 2.
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7. Die Einheit der Vernunft: Kant
I. Kants Philosophie, wie sie ihm zufolge in seiner praktischen Philosophie gründen soll, ist geprägt von einer Dichotomie. Entzweigeschnitten wird das »All der Wesen«. 1 Kant hat diesen Schnitt mit großer Umsicht und Weitsicht, vor allem aber systematisch bedacht. Produkt dieser Bedachtsamkeit ist der allbekannte »categorische Imperativ« und mit ihm das »Sittengesetz«, das sich sogar unkommentiert in den Artikel 2,1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland verirrt hat. Kant hat seinen allumfassenden Entzweischnitt nicht ohne Voraussetzungen unternommen. Eine erste, für das Gelingen oder Mißlingen seines philosophischen Unternehmens entscheidende Voraussetzung ist darin zu sehen, daß der Schnitt zwar definitiv sein soll, gleichwohl aber das durch ihn Getrennte vermittelbar und vereinbar bleibt. Wäre letzteres, entgegen Kant, nicht möglich, müßte seine praktische Philosophie für praktisch wertlos eingeschätzt werden. Die Kants Denken leitende Dichotomie ist die von Gott und Welt. Gott ist ein Noumenon (Gedachtes) und damit ein freies Wesen, die Welt ein Phänomen und damit ein unter Kausalgesetzen stehendes Wesen. Nun ist Kants alles tragende philosophische Option die Möglichkeit und Wirklichkeit reiner Rationalität. Versucht er sich rational an einem Theismus, dann kann es nur ein Monotheismus sein. Vernünftig geurteilt gibt es nicht Götter, sondern einen einzigen Gott. Gleiches gilt vom ratioImmanuel Kant, Opus postumum I. Convolut, in: Kants gesammelte Schriften Akademie-Ausgabe (AA), Berlin/Leipzig 1936, S. 40 ff.
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Die Einheit der Vernunft: Kant
nalen Zugriff auf Welt: Es gibt nicht mehrere Welten, sondern eine einzige Welt. Setzt Kant »Es ist ein Gott«, und er setzt diesen Satz wiederholt, 2 dann liegt in ihm die Betonung nicht auf »Gott«, sondern auf »ein.« Die Vernunft, die seitens des Menschen in der Gestalt des Transzendentalphilosophen im Spiel ist, dichtet nicht, formt kein Ideal, setzt nicht, Spinoza gleich, schwärmerisch auf Intuitionen, sondern folgt rein sich selbst. Der Begriff und das heißt der Gedanke von Gott ist für den, der den Standpunkt der reinen praktischen Vernunft, also den »ein[es] categorisch[en] Pflichtimperativ[s]« einnimmt, etwas, das »nothwendig aus der Vernunft hervorgeht«. 3 Das ist die zweite Voraussetzung, mit der Kants praktische Philosophie steht oder fällt: Die reine Vernunft handelt rein im Interesse ihrer selbst. Das schließt ein, daß Vernunft etwas aus sich selbst notwendig macht. Vernunft ist damit nicht länger ein Instrument, über das der Mensch zum Guten wie zum Bösen verfügt, sondern ist eigenen Wesens, das nur insofern zum Wesen des Menschen gehört, ja das Wesen des Menschen ausmacht, als dessen Wille mit der reinen praktischen Vernunft koinzidiert. Das ist nicht mehr die Vernunft eines Diebes und Heiratsschwindlers. Ist aber nicht jeder Mensch potentiell ein Dieb? Braucht er nicht täglich instrumentelle Vernunft, um recht und schlecht durchs Leben zu kommen? Nein, das kann nicht mehr gefragt werden, wenn einmal für den Menschen, auch wenn wir ihn so nicht kennen, der Gedanke der reinen und damit absolut guten Vernunft zum Maßstab seiner Wesensbestimmung geworden ist.
Immanuel Kant, Opus postumum I. Convolut, S. 57; IV. Convolut, S. 344 et passim. 3 Immanuel Kant, Opus postumum I. Convolut, S. 63. 2
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II. Veranschaulicht Kant in praktisch-moralischer Perspektive die Situation des Menschen, dann sieht das so bei ihm aus: Gott über ihm, die Welt außer ihm, das moralische Gesetz in ihm. 4 Damit ist die leitende Dichotomie in Frage gestellt, und zwar durch die Seinsformen des Menschen. »Der Pflichtimperativ für den Menschen beweiset die Freyheit desselben und ist zugleich ein Hinweis auf die Idee von Gott.« Genau das ist es, was im I. Convolut des Opus postumum in immer neuen Varianten zur Selbstvergewisserung der Option für reine Vernunft durchgespielt wird. Geht es hier um Gott, dann geht es nicht um den einen Gott des Glaubens, für den ein Beweis seiner substantiellen Existenz angestrebt werden könnte, sondern um die Einheit der reinen praktischen Vernunft und damit um das, was das erdachte Gottwesen und das erdachte Menschenwesen eint: Beide sind Personen, beide sind frei, beide sind Noumena. Diese Einheit darf natürlich keine unterschiedslose sein, weil, anders als der vernunftnotwendige Gott, der zu reinem Vernunftgebrauch bestimmte Mensch auch noch ein Weltwesen ist. So setzt Kant etwa darauf, daß der Mensch »an Pflicht gebunden«, Gott dagegen »Pflicht gebietend« ist. Ist Freiheit die Eigenschaft der Noumena, dann ist der Mensch nicht weniger frei als Gott. Kant gelingt es, den Menschen mit Gott auf einer Ebene zu halten, indem er die reine Vernunft für gesetzgebend erklärt: Der Mensch als reines Vernunftwesen gibt sich selbst das Pflichtgesetz: Seine Bindung an es ist ein Akt der Freiheit. So erklärt denn auch Kant emphatisch den kategorischen Imperativ als »Act eines Göttlichen Wesens«. Führt, wie er wiederholt erklärt, der moralische Freiheitsbegriff als Begriff des moralischen Imperativs notwendig auf den BeImmanuel Kant, Opus postumum I. Convolut, S. 41. Das »über ihm« läßt den Gott nicht gleich der Welt außerhalb des Menschen sein, weil Gott ein »Gedanke«, eine »Idee« ist. Siehe I. Convolut, S. 50–66.
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griff Gottes, dann ist Gott, der per definitionem frei von aller welthaften Kausalität und damit einzigartig wahrhaft frei ist, der Garant für die Möglichkeit und Wirklichkeit menschlicher Freiheit: Nur mit Gott ist der Mensch das Noumenon, das er sein muß, um rein vernünftig handeln zu können. So ist es für Kant tatsächlich der kategorische Imperativ, der den Begriff von Gott in moralisch-praktischer Sicht »realisiert«, um so den »Realismus« der Idee von Gott zu beweisen. Wie alle Darstellungen von Einheitsdenken, lebt auch die Kants vom Gebrauch des Superlativs: Die »höchste Macht«, die »oberste Ursache«, die »höchste Intelligenz.« Es geht ja um nichts Geringeres als das All der Wesen, wenn Gott und Welt und damit auch der Mensch entzweigeschnitten werden. Da muß der Einheitsgedanke schon gleichsam spitz sein: ein Höchstes, neben dem nichts sonst Platz hat. Bei einem ens rationis ist ja unmöglich eine Zurückhaltung geboten, solange die Vernunft Notwendiges zu fordern hat. Hat Aristoteles sich in seinen Ethiken vor allen Extremen zurückgehalten, um im Mittleren das Heil für menschliches Miteinander in Gemeinschaft und Gesellschaft zu suchen, so setzt Kants kategorischer Imperativ, der ihm als das fundamentum inconcussum seines moralphilosophischen Gebäudes gilt, ganz auf den klaren Schnitt zwischen dem Göttlichen und dem Welthaften. Dieser vom Menschen als Vernunftwesen an sich selbst gerichtete Imperativ darf in nichts verunreinigt sein: Keine Umstände gelten, nichts »Persönliches«, sondern die reine, die welt- und emotionslose Vernunft hat das Wort, die Vernunft, die keinen Sinn für den Menschen hat, wie er leibt und lebt, sondern die ihn rein als das erdachte Vernunftwesen anspricht, was einer Selbstansprache gleichkommt. Der Einheitsgedanke der Seele (Monopsychismus) 5 hat sich in der Philosophie nicht durchgesetzt, der Einheitsgedanke der Vernunft dagegen seit alters. Nicht einmal dem Gott wird Von Siger von Brabant, der im 13. Jahrhundert an der Pariser Universität lehrte, vertreten, der dafür der Ketzerei angeklagt wurde.
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eine andere Vernunft zugedacht als dem Menschen, und dies zumal dadurch nicht, daß der Mensch als reines Vernunftwesen erdacht wird. Läßt freilich Philosophie den Menschen als Vernunftwesen doch endlich sein, weil er ja auch Weltwesen ist, dann zeigt sich der Unterschied, daß der Gott ewig vernünftig ist, der Mensch dagegen nur solange er »Beydes« ist: freies Wesen und Naturwesen.
III. Kants Entwurf der praktischen Philosophie, wie er seine erste solide Form in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) erhält, zeigt bereits das ganze Drama des entzweigeschnittenen Menschen. Soll er nun ein Bewohner zweier »Welten« sein, des Mundus intelligibilis und des Mundus sensibilis, dann überdeckt die gleichlautende Rede von Welt, daß es sich um ein grundverschiedenes Wesen handelt, das da die eine und die andere Welt bewohnen soll. Die intelligible Welt weiß nichts vom Menschen, der wir sind, und will, ja kann auch nichts von ihm wissen. Ihr Mensch ist der eine und selbe, der allgemeine geistige. Die eine Vernunft, das ist die reine Vernunft, läßt als Vernunftwesen kein Individuum zu, sondern allein »Personen.« Person ist dabei nur das andere Wort für freies Wesen, für die Dichotomie von Gott und Welt als die von praktischer Freiheit und Naturnotwendigkeit. Der Gedanke einer reinen Vernunft ist der Gedanke einer absolut entindividuierten Vernunft und eines ebenso entindividuierten Vernunftwesens. Hört man, mit Bezug auf den Menschen, von einem Einheitsgedanken, könnte einem Romantisch-Freudiges wie »Alle Menschen werden Brüder« in den Sinn kommen. Doch das wäre absolut verfehlt. Der Mensch als reines Vernunftwesen ist nicht sichtbar, hat keine Gestalt, die ein Vernunftwesen von einem anderen unterscheiden ließe. Bruder zu sein ist eine Form familiärer menschlicher Beziehung. Das Vernunftwesen Mensch hat aber keine Be118 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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ziehung zu anderen Menschen. Für es gibt es keine Anderen, die anders wären. Die doppelte Alterität von Anderheit und Andersheit kommt keinem Menschen als Vernunftwesen zu. Daß Kant es in der praktischen Philosophie nicht mit menschlichen Individuen zu tun haben will, hat er immer wieder pointiert verdeutlicht. Die Pflicht, rein vernunft-moralisch zu »handeln« (sc. zu wollen), ist nicht zum Wohle des lebendigen Menschen ersonnen, sondern rein zugunsten der Selbsterhaltung der reinen Vernunft. Der kategorische Imperativ, von dem es immer wieder mit falscher Selbstverständlichkeit heißt, daß er »in mir« sei, erteilt einen, und nur einen Befehl: Handle um des kategorischen Imperativs willen! Das meint: Sei vernünftig, um vernünftig zu sein! Auch das Gewissen, wie Kant es in Die Metaphysik der Sitten (1794) als reines Vernunftgewissen entwirft, ruft den Menschen zu nichts anderem auf, als sich mit dem reinen Vernunftwesen zu identifizieren, das er seinem »eigentlichen Selbst« 6 nach ist. Kants Vernunftmensch durchläuft keine Ontogenese, keine individuelle Entwicklung des Selbst. Er ist von vornherein (a priori), vor aller Lebens- und Selbsterfahrung Eins mit allen anderen reinen Vernunftmenschen. Die Welt des Intelligiblen, das »Reich der Zwecke« genannt, läßt nur ein und denselben Menschen zu, wie er ungeschieden das Selbstverhältnis der einen Vernunft austrägt und erhält. Der kategorische Imperativ spricht so nichts anderes als den Selbsterhaltungssatz der Vernunft aus und macht ihn zur einzigen Pflicht des eigentlichen, das ist des entindividuierten Menschen. Das ist der konsequent rigoristische Kant, der ganz bewußt den Menschen, der wir sind, seinem Vernunftprojekt opfert. Es ist die vertikale Anthropologie (das Geistige oben, das Sinnliche unten), die sich durchgängig in seiner praktischen Philosophie
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe Bd. IV, Berlin 1968, S. 458; 461.
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spiegelt, die jedes Interesse an gelingender Lebensteilung emphatisch zurückweist. Allein das Interesse der Vernunft gilt, das Interesse an einer geistigen Einheit, die für die Vielfalt des Menschen unmöglich vermittelbar ist. Die erste Voraussetzung, daß die Dichotomie von Gott und Welt, wie sie den Menschen zu beidem macht: zum Vernunftwesen und auch Weltwesen, dem höheren und höchsten Wesen doch eine praktische Bedeutung für das niedere Wesen, wie es im Natur- und Sinnenwesen festgemacht wird, eröffnet, ist nicht zu halten. Was da entzweigeschnitten ist, läßt sich in Wahrheit nicht mehr vermitteln. Eigentlich weiß und sagt Kant das auch selber. Ist es ihm, was Moral anbelangt, einzig um reine praktische Vernunft zu tun, um Vernunft als selbsthaftes Wesen, das seine eigenen Interessen und nichts sonst wahrnimmt, dann entfällt nicht nur das Interesse am Menschen, der wir sind, sondern das Denken wendet sich gegen uns: Wir werden für unwert erklärt. Kant sondert kein unwertes Leben unter den Lebenden aus, sondern er erklärt Leben als solches für unwert. Die einzigartige Achtung für den kategorischen Imperativ wird ausdrücklich als »Achtung für etwas ganz anderes als Leben« erklärt. 7 Das ist nur konsequent, wenn Kant feststellt, daß in »Vergleichung und Entgegensetzung« mit und zum eigentlich Würdigen das Leben »gar keinen Werth hat«. Vom Menschen, der zu seinem Leidwesen auch als Weltwesen zu existieren hat, heißt es: »Er lebt nur noch aus Pflicht, nicht weil er am Leben den mindesten Geschmack findet.« 8 Auch die zweite Voraussetzung, auf die sich Kants Moralphilosophie stützt, daß nämlich die Vernunft in ihrer Reinheit eigenen Wesens sei, um so ihr eigenes Interesse selbsthaft vertreten zu können, erweist sich als unhaltbar. Die von der Welt getrennte absolute Vernunft, erdacht, um die vom lebensteilig Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe Bd. V, Berlin 1968, S. 88. 8 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 88. 7
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situierten Menschen abgelöste Denkkraft als eine rein sich selbst zugewandte vorzustellen, ist als selbsthaft gemeinte ohne jede Plausibilität. Ob sie zur Idee von Gott führt, ob sie autonom verfährt, was immer sie »tut«, geht über die Bewahrung der Selbstidentität nicht hinaus. Ihr Stolz, ein Noumenon zu sein, ist teuer erkauft: mit praktischer Bedeutungslosigkeit. Wer sie dennoch als Höchstleistung moralischer Theorie ernst zu nehmen sucht, muß sich sagen lassen, daß er, was gelingende Lebensteilung anbelangt, einen lebensfremderen, ja lebensfeindlicheren Ansatz gar nicht hätte wählen können. Kant nachzusagen, daß sein kategorischer Imperativ ein Meisterstück der Theorie sei, nur leider nicht für die Praxis tauge, ist bei weitem zu wenig. Sein Moralkonzept, das unlösbar mit dem Ungedanken einer reinen Vernunft verknüpft ist, hat alles in sich, um für ein Wunderwerk rationalistischer Inhumanität genommen zu werden. Die Alternative heißt nicht Mitleidsethik, der ich keine gute Prognose gebe, sondern Ethik des geteilten Lebens.
IV. Was Kant »Metaphysik der Sitten« nennt, ist keine Metaphysik der Sitten, denn mit Gesittung wäre ja in der Tat an etwas dem geschichtlichen Menschen Eigenes gedacht, sondern ist eine reine Metaphysik der Vernunft. Wie allen Einheitsdenkern geht es auch Kant unmöglich um den Menschen, sondern um etwas ihn metaphysisch absolut Überhöhendes, besser noch: über ihn Hinausreichendes. Wer sich für das Einzig-Eine entscheidet, um das es gehen soll, denkt nicht an den Menschen als das Maß aller Dinge, sondern an etwas Göttliches, ja an den Gott. Soll es dem Gläubigen zuerst um Gott und ja nicht um den Menschen gehen, dem Existenzialontologen erstlich um das Sein selbst und ja nicht um den Menschen, dann ist es bei Kant die Vernunft, um die es geht, nicht der Mensch. Sein umsichtig erscheinender Hinweis, daß das Sittengesetz »nicht bloß für Menschen, son121 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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dern alle vernünftigen Wesen überhaupt […] gelten müsse«, 9 zeigt unmißverständlich, daß es um mehr als den Menschen geht, eben um die Vernunft als die ungeschiedene Einheit des Noumenalen. Soll man sich Kants Vernunftwesen, weil sie keine Menschen, sondern rein Noumenales sind, irgendwie substanziell und selbsthaft vorstellen, dann kann es einzig der ihnen zugedachte Wille sein. Es ist der reine und an sich gute Wille, den Kant erdenkt, der ganz der Verstandeswelt angehört und einzigartig auf praktischer Vernunft gründet. 10 Dieser Wille ist, allem Voluntativen entrückt, etwas rein Intellektuelles. Er koinzidiert mit der reinen praktischen Vernunft und ist etwas ebenso Menschenunmögliches wie diese. Ist nun das Vernunftwesen dieser Wille, dann läßt sein dynamisches Selbstsein nur zwei Beschreibungen zu: (1) Es ist vernünftig, vernünftig zu sein. (2) Es ist vernünftig, weil (kausativ und durativ) es vernünftig ist. Der reine und an sich gute Wille will nicht vernünftig sein, sondern ist vernünftig. Er hat keine Absicht, es sei denn die, an sich selbst das zu sein, was er ist. Aus diesem Willen geht nichts anderes hervor als er selbst. Soll mit Bezug auf ihn von einem Handeln die Rede sein, dann kommt dafür allein in Frage, daß er sich selbst will: seine Reinheit und selbsthafte, das heißt sich selbst genügende Güte. Einzig das Prinzip, die Maxime seines Wollens ist bedeutsam, unmöglich aber ein konkret Gewolltes. 11 Kant hat für dieses moralische Wollensprinzip den Begriff der Gesinnung requiriert. Doch das ist eine irreführende Bezeichnung. Gesinnungen haben mit dem lebendigen Menschen zu tun, mit seinem Gefühlsleben, mit seinem Charakter. Doch Kant versagt sich für die Bestimmung von Gesinnung jeden Blick auf den Menschen. Er braucht nicht nur keine Menschenkenntnis Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 408. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 393–396; 453. 11 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 389–391 et passim. 9
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(»Anthropologie«), sondern weist sie ausdrücklich zurück, weil sie seinen Gedanken, »vor aller Erfahrung« anzusetzen, gefährdet. 12 Für Aristoteles, der seine Moraltheorie an den Möglichkeiten und Bedürfnissen des Menschen ausrichtet, kann praktische Vernunft unmöglich rein sein. Sie beruht auf Erfahrung. Diese Vernunft ist für ihn eine den Menschen beratende, keine ihm befehlende. Sie ist die Klugheit (phronêsis), die auf Erfahrung beruht, die ausschließlich eine Klugheit zum Guten ist, weil sie Menschen eignet, die eine Gemeinschaft und Gesellschaft fördernde Gesinnung haben. Gesinnung dagegen, wie sie Kant als »virtus noumenon« 13 einführt, ist reine Metaphysik der Vernunft, die mit Übermenschlichem spekuliert. Kant freilich glaubt noch beim Menschen zu sein, bei dem man als einem handelnwollenden und handelnden Subjekt den Weg von Freiheit als Willkür bis zur Freiheit des reinen Vernunftwesens verfolgen müsse, um den Grund für die Haltung (hexis) zu deuten, die den Vernünftigen nur das wollen läßt, was Vollzug der Selbsterhaltung der reinen Vernunft ist. 14 In Wahrheit hat sich Kant mit seinem Reinheits- und A-priori-Ansatz irreversibel von der Welt der Lebenspraxis abgekoppelt. Sein Gedanke der Gesinnung kann nur gleich dem des Vernunftwesens ein reines Gedankending ohne jede lebenspraktische Bedeutung sein. Wenn er gegen Schiller ausführt, daß er »dem Pflichtbegriffe gerade um seiner Würde willen keine Anmuth beigesellen« könne, weil er »unbedingte Nöthigung« enthalte, 15 dann zeigt seine Moralphilosophie ihren menschenmißachtenden, einzig dem Phantom reiner Vernunft geschuldeten Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 389 et passim. 13 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kants Werke Akademie-Textausgabe Bd. VI, Berlin 1968, S. 14. 14 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 22–25. 15 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 23 Anm. 12
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Charakter. Muß für Kant die einzigartig sittlich gute Haltung frei von allem individuellen Charakter, von jeder Empfindung (sentiment, im Plural das Wort für Gesinnung) und jedem Gefühl sein, dann kann die dem Metaphysischen überantwortete Gesinnung nur die der reinen, selbstbezüglichen Vernunft sein, nicht aber die eines Menschen, der sich der Vernunft als eines ihm zur Verfügung stehenden Vermögens bedient. Kant ist in seiner Deutung von Gesinnung nur konsequent, doch der Mensch, der sein Gelingen in Lebensteilung mit Anderen sucht und findet, verzichtet notwendig auf den von Kant inaugurierten Ehrentitel »moralisch«, will er nach dem durch gemeinschaftliches Gelingen gebildeten mitwisserschaftlichen Gewissen handeln. Von den Gläubigen der christlichen Urgemeinde wird berichtet, sie seien ein Herz und eine Seele gewesen (ên kardia kai psychê mia). 16 Alle, bis auf ein Ehepaar, das dafür sterben mußte, hatten ihren Eigenbesitz zu Gemeinbesitz gemacht. Sie taten das aus gläubigem Gehorsam. Hat keiner, ist keiner mehr oder weniger als der Andere, dann ist alles individuelle Ansehen gelöscht. Diese Gläubigen sind nicht durch sich, durch kein Einander geeint, sondern durch Höheres, das über sie hinausreicht. Ihre neue Identifikation ist nicht die Gemeinschaft, sondern das, was die Gemeinschaft gebietet. Die Exekutive dieser Vergemeinschaftung, die christlichen Apostel, sagen darum auch: »Man muß dem Gott mehr gehorchen als den Menschen«. 17 Monotheismus ist in sich ein Einigungsprogramm. Kants Moralphilosophie, als Metaphysik der Vernunft gesehen, ist monotheistisch. Kants Vernunftwesen sind nicht ein Herz und eine Seele, wohl aber eine Vernunft und eine Gesinnung, wenn denn Sichselbstwollen des reinen Vernunftwillens Gesinnung sein soll. »Gott ist das Wesen, welches das reale Princip alles Pflicht-
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Apostelgeschichte 4,32. Apostelgeschichte 5,29.
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begriffes in sich enthält.« 18 Als höchste Form der metaphysischreinen Vernunft ist er die gebietende. Nur so ist garantiert, daß der unmenschliche kategorische Imperativ zu einem quasi naturgesetzlichen, weil keine Ausnahme zulassenden »Sittengesetz« wird. Wie Kant Benjamin Constants überzeugendes Argument, daß einem Mörder nicht die Wahrheit gesagt werden muß, weil er kein Recht auf Wahrheit hat, formalistisch zu entkräften sucht, ist wider philosophische Redlichkeit. 19 Aber auch in der Darstellung des kategorischen Imperativs wird die diesem zugedachte Ausnahmslosigkeit zum Fallstrick, der die Lebensfremdheit und Unmenschlichkeit der Vernunftmetaphysik als Krönung des Einheitsdenkens im Rahmen der praktischen Philosophie voll an den Tag bringt. Wer so lebe, argumentiert er, daß er sich erst auf den Kairos verstünde zu leben, dann aber auf den Kairos zu sterben, 20 der brächte seine Natur zum Selbstwiderspruch. 21 Die Quasinaturgesetzlichkeit der Lebensbeförderung vertrüge sich nicht mit dem der Lebenszerstörung. Wer einmal zum Leben Ja gesagt hätte, könnte seine »Empfindung« nicht ändern. Damit offenbart Kant nur, daß die von ihm erdachte Allgemeinheit und Ausnahmslosigkeit normativer Vernunft in Anbetracht eines bewußt geführten endlichen Lebens der falsche Ansatz ist. Zur Gunst des Lebens gehört es, zu leben, zu lieben, Leben weiterzugeben, vom Leben zu scheiden, das heißt zu sterben. Es gibt die Zeit (Kairos), daß ein Mensch ganz auf das Leben setzt und auf die Zukunft hin lebt, um je gegenwärtig Erfüllung zu finden, und es gibt die Zeit (Kairos), in der er sich mit zunehmender Klarheit auf das Ende des Lebens einstellt – das Alter als Schule der Endlichkeit. Das Leben braucht den Tod, und dies nicht nur dann, wenn es unerträglich geworImmanuel Kant, Opus postumum I. Convolut, S. 152. Immanuel Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: Kants Werke Akademie-Textausgabe Bd. VIII, Berlin 1968, 425– 430. 20 Siehe dazu Prediger 3,1 ff. 21 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 422. 18 19
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den ist, sondern auch, wenn seine Tage vollends gelebt sind (plêrês hêmerôn) und der Mensch, wie Luther übersetzt, »alt und lebenssatt« ist. 22 Nichts widerspricht sich: keine Natur, keine Empfindung, kein Mensch, kein Gesetz. Im Gegenteil, Einklang herrscht, und sei es ein schmerzlicher, mit den »Gesetzen« (Kairoi) des Lebens. Der sterbliche Mensch ist kein tauglicher Übungsplatz für zur absoluten Norm erstarrte Vernunft und formalistisch konstruierte Transzendenz.
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1. Mose 25,8 (Abraham); Hiob 42,17 (Hiob).
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I. Der Mensch ist kein Gott – das ist große Dichtung von früh an. Gott und Götter – das sind die Himmlischen, die Unsterblichen, die dem Menschen an Macht unendlich Überlegenen. Anstatt ihn sich damit abfinden zu lassen, kein Gott zu sein, hat diese Dichtung alle Phantasie spielen lassen, daß nicht die Verschiedenheit beider Verhältnis dominiert. Ihre erste und letzte Absicht war stets, beide in dramatischer Einheit aufzuführen. Sie sollten einander begegnen, ja sich miteinander messen, nicht selten sogar sich liebend miteinander vereinigen. Das weichte die Grenze zwischen beiden Lebenssphären nicht auf, überspielte jedoch leichthin jede hermetische Abschottung, jedes rigoristische Verständnis der Andersartigkeit. Das Gilgameschepos führt Gilgamesch, den König von Uruk, auf, der nur Eines im Sinn hat: nicht auf menschliche Weise sterblich zu sein. 1 Genau das aber muß er. Die Götter belehren ihn, daß ihm nichts Größeres beschieden ist, als König von Uruk zu sein. Doch sie zeigen sich gerührt von seinem hohen Einsatz, es ihnen gleichzutun. Ist er tot, soll er Herrscher sein in der Unterwelt. Die Erfindung eines besonderen, wir können sagen gehobenen, ja höchsten Totseins, ist ein ungeheurer Wink, es nicht poesielos beim biologischen Schicksal der Sterblichkeit zu belasSiehe Rainer Marten: »Die Erfahrung, daß das Menschenunmögliche dem Menschen möglich ist: Gilgamesch«, in: ders., Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion, 3. Auflage, Freiburg/München 2015, S. 33–57.
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sen. Gehobenes Totsein ist für den Sterblichen kein wirklicher Trost, aber es ist doch ein Zeichen, daß das Nicht-Gott-Sein seine eigene Gradualität haben kann. Ein einziges und für immer Ausnahme bleibendes Menschenpaar hat, wie Gilgamesch weiß, mehr erreicht als er. Es hat die Sintflut überlebt und das Leben erhalten, das Leben ohne Tod. Der Mann heißt daraufhin mit Nebennamen »der Entfernte«. Seine Unsterblichkeit hat ihn mitsamt der Frau nicht in den Himmel getragen, sondern fernab der Menschen am Ende der Welt Wohnstatt gegeben. Das ist unvollendete, nicht-göttliche Unsterblichkeit – ein deutlicher Schritt näher zu den Göttern als gehobenes Totsein es ist, aber kein Durchbruch, kein Ausbruch aus dem Menschsein. Doch der Schritt ist deutlich genug, die Freiheit der Kunst zu demonstrieren. Wird Menschen besonderes Totsein und todloses Leben angedichtet, dann ist die Tür aufgestoßen, den Menschen poetisch den Göttern nicht nur Schritt um Schritt anzunähern, sondern ihn schließlich auch unter die Götter zu mischen: als unsterblich und himmlisch. Herakles, wie ihn die Griechen, belegbar seit Homer und Hesiod, erdichten, gelangt nach seinem Leben in den Himmel der Götter. Der höchste der Götter, Zeus, hat ihn gezeugt 2 und geliebt, Hera, die Gattin des Höchsten, gehaßt. Ein echtes Heldenleben war es – voller erlittener Qualen, voller heldenhafter Taten, zumal Tötungen. Seine Herkunft läßt ihn, den Menschen, halb Gott sein. Gilgamesch war zu zwei Drittel Gott (zu drei Sechstel durch seine göttliche Mutter, zu einem Sechstel durch seinen heldenhaften Vater). Bei Gilgamesch reichten die zwei Drittel Göttlichkeit nicht zur Himmelfahrt, bei Herakles reichte die Hälfte. Dichtung ist in diesen Dingen wirklich frei. Doch ihre Freiheit ist gebunden. Die Gestaltung des Verhältnisses von Gott und Mensch erlaubt keine Beliebigkeit. In diesem Verhältnis geht es nicht eigentlich um Gott, ja, genau verstanden, überhaupt nicht um Gott, sondern einzig um den Menschen. Der 2
Ilias 14, 323; Odyssee 11, 266.
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Mensch wird nicht poetisch in das Verhältnis eingebracht, um den Gott zu gestalten, wohl aber der Gott, um das mit dem Menschen zu tun. Heldensagen überraschen damit, daß es unter Menschen gehobenes Leben gibt, eben das Heldenleben. Der Mensch ist nicht gleich. Gottbestimmt sind Einige, es sind die Wenigen, die auf höhere Weise Mensch sind. Die Gestaltung menschlichen Lebens durch Gott und Götter hat den Sinn, das eine Leben vor dem anderen herauszuheben. Gott ist der poetische Königsweg, die Biologie des Menschen zu überspielen und Differenzen zu schaffen, die von höherer Geltung sind. Gott ist der ganz andere Mensch. Für den Menschen gibt es nichts Höheres, als sich aus seiner einzigartigen Andersheit abzuleiten und nach Möglichkeit ihrer wieder teilhaftig zu werden. 3 Die Andersheit gegenüber dem Tier ist für den Menschen nicht signifikant. Die gegenüber dem Gott und den Göttern ist es. Menschliches Leben, das einen eigenen Wert und eine besondere Höhe hat, versteht sich nicht als Hervorhebung aus dem All des Lebendigen, sondern aus der Einheit mit Gott.
II. Mit Gott hat der Dichter etwas an der Hand, das ihn frei macht von der Bindung an tatsächliche Erfahrungen. Es läßt sich freilich auch rein unter Menschen dichten. Der Romancier zeigt uns Höhen und Tiefen menschlichen Wirkens und Empfindens, die alles Erlebte und Erlebbare übersteigen. Bereits er kann unseren Realitätssinn überbieten. Doch die höhere Wirklichkeit, die er zu schaffen versteht, läßt ihn keinen Menschen, den er zum »Helden« seines Romans macht, so zeichnen, daß er dem Wütet Xenophanes gegen die Götterdichtung eines Homer und Hesiod, weil ihm deren Anthropomorphismus zutiefst mißfällt, dann übersieht er, wie gesagt, daß er selbst Anthropomorphismus betreibt. Als Philosoph einzig am Geist des Menschen Interesse nehmend, ist ihm der Gott natürlich »ganz« Geist.
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Menschlichen entrückt wäre, ja auch nur als Mensch höher stünde als andere. Erst wenn der Gott in der Dichtung auftritt, wird eine höhere Wirklichkeit schaffbar, die Menschen dem Menschlichen entfremdet. Dient mythische Dichtung, die von Gott und Göttern Gebrauch macht, der Selbstauslegung und Selbstaufklärung des Menschen, dann ist für ihn die Möglichkeit geschaffen, sich selbst zu hinterfragen. Die Gestaltung des Menschen durch Gott ist die äußerste Möglichkeit menschlicher Selbstgestaltung. Philosophen sehen in Bildbetrachtung und buddhistischer Versenkung Möglichkeiten einer »immanenten Transzendenz«. 4 Sie wollen damit sagen, daß das keine, wie auch immer geglaubte und damit für möglich gehaltene, transzendente Transzendenz ist. Auf Grundlage des Realitätssinnes geurteilt haben sie damit recht: Der Mensch mag theoretisch wie praktisch die Entselbstung seiner selbst noch so weit treiben, in ein Selbst, das außerhalb seiner selbst läge, gelangt er damit nicht. Auch mittels seiner größten geistigen und geistlichen Fähigkeiten, mit und ohne Atemtechnik, verläßt der Mensch unmöglich sich selbst, verläßt er, wie es die Dichtung sagt, unmöglich die Einheit von Gott und Mensch. Daran haben diese Philosophen freilich nicht gedacht: die Möglichkeit menschlicher Transzendenz primär für eine Sache der Poesie anzusehen. Wie Kathedralen, mit künstlerischem Auge gesehen, sich als von oben her gebaut zeigen, so ist die Transzendenz des Menschen auch von dem ihn
Für Martin Seel eröffnet die Begegnung mit einem abstrakten Bild von Barnett Newman die Möglichkeit zur Selbsttranszendenz. Zu seinem Beitrag in Der religiöse Charme der Kunst (ed. Peter Schüz/Thomas Erne), Paderborn 2012, siehe die Besprechung von Rainer Marten, in: Theologische Literaturzeitung 138 (2013), S. 1389. Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, München 2003; ders., Spiritualität, Religion und Mystik (2005), Nachdruck in: Klaus Jacobi (Hg.), Mystik, Religion und intellektuelle Redlichkeit, Freiburg 2012, S. 161–173. Zur Frage der Motivation des Sichtranszendierens bei Tugendhat siehe Rainer Marten, Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben, S. 31 Anm. 14.
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gestaltenden Gott her zu sehen. Um das zu belegen, genügt das Dichterwort der Genesis: »Lasset uns Menschen machen nach unserem Bild, uns ähnlich.« 5
Der Mensch darf sich, derselben Dichtung zufolge, kein Bild machen von Gott 6 , weil nicht der Mensch den Gott gestaltet, sondern der Gott den Menschen. Der von oben und damit transzendent geschaffene Mensch ist, wie könnte es anders sein, wenn doch Gott der Bildner ist, ein Bild Gottes. Der Mensch, der Adam heißt, was der Name des männlichen und weiblichen Menschen ist 7 , wird sich seinerseits »nach seiner Gestalt und seinem Bild« fortzeugen. 8 Das zeigt an, daß mit der »Ebenbildlichkeit« die Gleichartigkeit von Gott und Mensch ausgesprochen ist, und zwar die an der Gestalt und eben am Erscheinungsbild abzulesende. Falls tatsächlich von dem Verbot, von Gott ein Bild zu verfertigen, wegen der Ebenbildlichkeit das Verbot abgeleitet worden sein sollte, vom Menschen ein Bild zu verfertigen 9 , so wäre das, was geschaffene und vererbte Ähnlichkeit anbelangt, ein Mißverständnis. Hat der Enkel die Nase des Großvaters, dann hat der Großvater doch nicht die Nase des Enkels. Die »Ähnlichkeit« alias »Gleichartigkeit« ist eine asymmetrische. Wer den Menschen abbildet, der Gott gleicht, verfertigt damit kein Bild Gottes. Die Einheit von Gott und Mensch kennt, im rechten Verständnis der Poesie, nur eine Perspektive: den Blick von oben herab. Gott ist das Einheitgebende für die Einheit von Gott und Mensch. Wer Poesie nicht poetisch zu be1. Mose 1,26. E.Ü. 2. Mose 20,4. 7 1. Mose 5,2. 8 1. Mose 5,3. 9 Hermann Kleinknecht, Artikel eikôn, in: G. Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 2, Stuttgart 1935, unveränderter Nachdruck 1954, S. 381. Das läßt sich jedenfalls nicht durch 2. Mose 20,23 belegen: »Ihr sollt euch selbst keine silbernen Götter machen; auch goldene Götter sollt ihr euch nicht machen.« (Septuaginta, e.Ü.) Daß jüdische Kunst weitgehend Menschendarstellungen vermeidet, ist eine andere Sache. 5 6
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gegnen versteht, versieht sich an ihr. Das Mitdichten ist verlangt. Das aber sieht hier eindeutig vor, Gott den Menschen gestalten zu sehen, nicht aber den Menschen Gott. Als diente es der Selbstrechtfertigung des Philosophen, intellektuelle Redlichkeit gegen Jahrtausende gelebter Poesie aufzufahren, ist ein merkwürdiges Unterfangen. Transzendenz ist Transzendenz. Sie läßt sich nicht scheiden in eine redliche und eine unredliche. Der Begriff der immanenten Transzendenz zielt auf introvertierte Ereignisse, in denen ein solus ipse sich in reinem Selbstbezug seinem Innersten überläßt, selbst wenn der Anlaß dazu kein geistig, sondern ein sinnlich Erfaßtes ist. Keine Überhöhung der Wirklichkeit hat statt, allein das Ich-Selbst ist betroffen. Das aber geschieht als eine Entselbstung, in der die Individualität jede Bedeutung verliert. Führt immanente Transzendenz zur Erfahrung des Eins-Seins, dann ist dieses Sichselbst-Alles-und-Eins-Sein das reine menschliche Abstractum: die Abwesenheit jeder mit dem Anderen und mit der Welt verbindenden Emotionalität. Der Gläubige dagegen, der das Verhältnis von Gott und Mensch dichtet, braucht die – emphatisch – wahre Transzendenz, braucht den Gott als den ganz Anderen, der ihn gestaltet und eben hervorbringt. Um es provokativ darzustellen: Im religiösen Glauben wird Gott nicht nur zum Schaffenden (Poieten), sondern auch zum Dichter (Poeten). Der Gott dichtet den – erhöhten – Menschen, das ist der Mensch, der sich aus der Einheit von Gott und Mensch als Mensch versteht. Die Kunst geht nicht vom Möglichen aus, um es unmöglich zu machen, sondern vom Unmöglichen, um es möglich zu machen. Der Gläubige findet aus der Transzendenz zu sich selbst, nicht aber macht er sich auf, sich am Selbstüberstieg zu versuchen, um gar noch in Selbstzweifel zu geraten, ob es den Gott wirklich gibt. Jede Kunst, und so auch die religiöse Poesie, ist Ensembleleistung. Der Gläubige ist von der ersten Stunde seines Glaubens an ein Mitdichter der göttlichen Dichtung. Das ist die einzige erhellende Aufklärung über den Glauben, die den Gläubigen in göttlich bzw. gläubig überhöhter Wirklichkeit leben 132 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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läßt. Schreibt der Romancier seinen Roman, dann lesen Lesende immer schon mit. Nicht anders ergeht es dem Komponisten und Maler: Immer schon hören Hörer, betrachten Betrachter mit. Weil alle künstlerischen Vermögen, angefangen mit dem auf Sprache basierenden, in kultureller Gemeinschaft geschaffen und gebraucht sind, wäre ohne die Gegenwart der Nichtgegenwärtigen der Dichter stumm, der Komponist taub, der Maler blind. Kunst dient keiner selbstischen Verinnerlichung in Analogie zu einem selbstisch gesuchten Seelenheil. Sie verändert Lebenswirklichkeit und Welt, indem sie Bewegendes, Begeisterndes, Erschütterndes, Erschreckendes, Befreiendes schafft, das es ohne sie nicht gäbe, ja ohne das die Arbeit am Humanum um ihre schönsten und ausgereiftesten Möglichkeiten käme. Der Mensch als Bild Gottes – das ist ein Bild aus der Unendlichkeit gesehen. Eine höhere Verrätselung der Erscheinung des Menschen ist nicht möglich: ihn sehen und ihn doch nicht mehr sehen, nicht mehr seine wirkliche Erscheinung, weil er in eine höhere Wirklichkeit entrückt ist – kraft religiöser Poesie. Soweit in jedem Menschen der »alte Adam« steckt, das heißt das erste Menschenpaar, ist in ihm kein menschlich geborenes, sondern ein göttlich geschaffenes Wesen zu sehen. Wer aber sieht das schon? Der Dichter, der den poietisch-poetischen Gott dichtet. Er eröffnet die Perspektive der einen Transzendenz, die, vom Überstieg her, den Menschen mehr sein läßt, als er ist, auch mehr sehen läßt, als er sehen kann. Keine Paradoxa sind angesprochen, sondern das Faktum der Transzendenz: der Mensch in der von Gott geschaffenen und bewahrten Einheit von Gott und Mensch. Das ist der Mensch, der sich nicht mehr dem Zufall ausgeliefert sieht, der Unbeantwortbarkeit der Frage, wozu es Menschen gibt, wozu die Welt. Das ist der Mensch, der weiterhin wacht und schläft, arbeitet und feiert, liebt und haßt, der aber, wie es erhellende Aufklärung sagt, vermögend geworden ist, poetisch zu leben, was Poesie zur Wahrheit macht und jede Verlogenheit von ihr weist.
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III. Der Grundsatz jedes an Gott und Göttern glaubenden Menschen lautet: Ich bin kein Gott, für den monotheistischen Gläubigen genauer: Ich bin nicht Gott. Das ist religiös gelebte Wahrheit. Doch dieser Satz konstatiert nichts, sondern setzt etwas in Bewegung: das Verhältnis von Gott und Mensch als ein nicht statisches, sondern dynamisches, das als gelebte Poesie voller Dramatik ist. Bekundet sich in der Negation die größtmögliche Selbstferne des Gläubigen, dann eröffnet sich in ihr auch schon seine größtmögliche Selbstinnigkeit. Der Satz, der die Trennung von Gott und Menschen ausspricht, eröffnet als gelebte Poesie die Einheit beider. Das ist keine »Dialektik«. Der Satz wird nicht in sein Gegenteil verkehrt, sondern in seiner wahren Gestalt erfaßt: in seiner Dramatik. Das Verhältnis von Gott und Mensch als das des Glaubens ist von einzigartiger Dynamik. Menschliche Poesie, die in diesem gelebten Verhältnis zu ihrer Höchstform findet, notiert nichts Bestehendes, wenn sie Gott und Mensch mittels Negation auseinanderhält, sondern etwas, das voll innerer Spannkraft am Wirken ist. Bei der Negation menschlichen Gottseins ist eine Andersheit im Spiel, die als Ganz-Andersheit zu präzisieren ist, womit sie sich als eine poetische ausweist. Die Setzung der Ganz-Andersheit von Gott und Mensch ist das Initial ihrer Zusammenführung, die nirgendwo anders enden kann als in der Gleichartigkeit beider. Anders als das emotional gesteuerte Erschaffen von Geistern und Dämonen, das Teil der Lebensbewältigung ist, zeigt das Zusammenspiel von göttlicher Macht und menschlicher Ohnmacht den Menschen bei dem Versuch, sich ein Gehaltensein zu verschaffen, das stärker und inniger ist als jede Liebes- und Todeserfahrung. Setzt sich der Mensch als integriert in das bewegte Bedingungsverhältnis von Gott und Mensch, dann ist das die höchste poetische Form, sich selbst in Frage zu stellen. Wie der geschichtliche Mensch, der wir selbst sind, sich selbst entdeckt und zu sich selbst findet, dominiert im Geistigen die eigene 134 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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Fraglichkeit: Wer sind wir? Was ist unsere Chance? Der Mensch, der nicht der Frage nachgeht, die er selbst ist, ist geistig tot. Das »Wunder aller Wunder« ist der Mensch sich selbst. Für erhellende (dêloun) und erklärende (logon didonai) Philosophen wie Platon und Aristoteles hat Staunen die bedeutsame Funktion, Verstand und Vernunft auf einen Widerstand aufmerksam zu machen, den es zu beseitigen gilt, womit Staunen selbst zum Initial des Entstaunens wird. Ein Staunen jedoch, das ein Staunen bleibt, weil es keine Erklärung gibt, die es beseitigen könnte, kann für den Menschen nur ein einziges sein: das Wunder seiner selbst.
IV. Sehen sich Naturwissenschaften einer Antwort auf die Frage, die in ihren Augen der Mensch sich selbst ist, auf unterschiedlichen Wegen und mit unterschiedlich spezifizierten Fragen ständig näherkommen, dann weiß sich religiöse Poesie der Unbeantwortbarkeit dieser Frage ausgesetzt. Das Wissen, daß der Mensch, wie er über sich staunt, sich selbst unerklärlich bleibt, ist der Beginn des Gottesglaubens und damit der höchsten Form religiöser Poesie. Von Anbeginn an ist die Dichtung, die nicht den Menschen Gott, sondern Gott den Menschen machen läßt, auf dem Wege, das Unmögliche möglich zu machen. Monotheistische Religion ist die höchste Form, in der der Mensch sich der Unbeantwortbarkeit der Frage seiner selbst stellt und sie gestaltet. Diese Gestaltung hat eine durchgängige Form: Sie macht das Unmögliche möglich, indem sie die Menschenfrage beantwortet: durch Gott. Bedingt in der Einheit von Gott und Mensch göttliches Sein menschliches, und menschliches Sein göttliches, dann ist damit die Menschenfrage in den Stand des Glaubens gehoben: Allein Gott kennt, ja verwaltet die Antwort. Wie es zum Beispiel alte und älteste jüdische religiöse Poesie will, liege das Woher und Wohin, Warum und Wozu des Menschen in der 135 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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Hand des bildhaft nicht greifbaren, in seinem Wesen unaussprechlichen, in seiner Gerechtigkeit unbegreiflichen, des alles in allem verborgenen Gottes. Mit dem Glauben an den einen Gott ist die einzigartige Möglichkeit gegeben, dem Staunen über sich selbst und dem darin liegenden Potential der Selbstblendung zu entkommen, indem Gott, der den Menschen gestaltet, ihm nun auch sagt, wer er ist und was seine Sache ist. Diese Form der Selbstermächtigung zur Selbstbeantwortung der eigenen Frage, hat ihre Bedeutung allein schon darin, daß überhaupt geantwortet wird. Nahe liegt es, daß auf diesem Weg der Mensch in seiner Ohnmacht gegenüber Gott zu sich selbst ermächtigt wird, um die Einheit von Gott und Mensch gerade auch dann praktiziert zu sehen, wenn der Mensch sein von Gott beschiedenes Schicksal erfährt, das ihn von Gott trennt und an ihn bindet. Ich wähle zwei Beispiele aus dem Alten Testament: »Was ist der Mensch, daß du ihn erinnerst? Du setzt ihn über das Werk deiner Hände.« 10 »Der Herr schuf den Menschen aus Erde und läßt ihn wieder in sie zurückkehren. […] Und er gab den Menschen Macht (exousia) über alles auf der Erde. Ihm ähnlich bekleidete er die Menschen mit Stärke (ischys), nach seinem Bilde schuf er sie.« 11
Jetzt weiß der Mensch, woran er ist – als endliches Wesen, als Erdenwesen. Das Staunen kehrt auf neue Weise zurück. Der Gläubige staunt darüber, wie sehr Gott die Beziehung von Mensch und Gott wichtig ist, wie sehr er ihn auszeichnet, ja daß er ihn nur ein wenig geringer (êlattôsas auton brachy) sein läßt als Gott. 12 Der Beter des Psalm 8 »bestaunt […] dankbar das Wunder der Beziehung, die ihm Gott gewährt«. 13 Die Sinngebung kann für den Menschen nur eine poetische sein, ein Psalm 8,5. 7. Vgl. 1. Mose 1,26–31. Jesus Sirach, 17,1. 3. Vgl. 1. Mose 2,7; 1,26–28. 12 Psalm 8,6. 13 Reinhard Feldmeier / Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen, S. 257 f. 10 11
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Stück poetischer Gestaltung ihrer Unmöglichkeit. Gott macht den Menschen zu seinem Hausmeister (maior domus). So gibt er ihm das Ansehen und die Stärke, sich selbst notwendig zu werden: Er ist geachtet, berufen, beauftragt. Deutet erhellende Aufklärung dies als eine poetische Form der Selbstberufung und Selbstbeauftragung, ja auch Selbstachtung, dann schwächt das nicht die Kraft, die in dieser Selbstauslegung liegt. Nur religiöser Glaube und das heißt religiöse Poesie kann den Gläubigen so weit bringen, so weit von sich weg, daß er sich transzendent zu formen vermag. Religiöse Transzendenz ist ein Selbstüberstieg höchst eigener Art. Der Überstieg erfolgt von »oben« her, vom Unmöglichen aus, auf das Selbst zu. Aus Anerkennung, von Gott gemacht zu sein, und Unterwerfung unter seinen Willen gewinnt der Gläubige seine Stärke, die die seines eigensten Selbst ist.
V. Wird heute von frommer Seite der Christusgläubige gern gemahnt, sich treu seinem Glauben als Bewahrer der Schöpfung zu bewähren, dann ist die alttestamentarische Stärkung der Stellung des Menschen auf der Erde doch eine andere. Mit Gottes eigenem Wort ist er zum Zwingherrn bestellt (katakyrieusate). 14 Doch das »wenig geringer als Gott«, diese Annäherung an eine Balance im Einheitsverhältnis von Gott und Mensch hält nicht. Ist Gottesfurcht alles Glaubens Anfang, dann heißt das: Zum Glauben gehört eine affektbesetzte Distanz. Die Unendlichkeit der Distanz bewahrt ihr Recht. Doch das stellt die durch den Glauben gewonnene Selbststärke des Gläubigen noch nicht in Frage. Dann aber schnappt die Gerechtigkeitsfalle zu. Das unselige, in seiner reinen Künstlichkeit unerkannte Problem der Theodizee ist geboren. Dem Gläubigen, für den die 14
1. Mose 1,28.
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Unerforschlichkeit und Unbegreiflichkeit Gottes absolut notwendig ist, kann sein starker Glaube zur Belastung, ja zur geistigen Unerträglichkeit werden, weil die Zumutung, die Gottes Gerechtigkeit für das Verstehen mit sich bringt, einfach zu groß wird. War das Erdbeben von Lissabon (1755) für die geistige Elite Europas das Signal, einmal neu darüber nachzudenken, ob denn für den Christusgläubigen wirklich alles, was auf Erde geschieht, für ein Zeichen der Gerechtigkeit Gottes zu nehmen ist, dann hat das Erdbeben von Haiti zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch einmal nachgelegt, um selbst frömmste Christen zur gläubigen Verzweiflung zu bringen. Ist für Platons Sokrates der Leib ein Kerker der Seele 15, dann sieht sich der Christusgläubige, dessen Glaube zutiefst ein Liebes- und Gerechtigkeitsglaube ist, angesichts von Lebens- und Geschehenswirklichkeit urplötzlich in seinem Glauben eingekerkert. Die Einheit von Gott und Mensch wird zum Gefängnis. Sein Verstehen und Urteilen ist nicht mehr frei. Gerade das, was seinen Glauben und seine Stellung als Gläubiger so stark macht, fesselt ihn nun geistig: Die Akzeptanz des Inakzeptablen ist von ihm gefordert. Bleiben die Frauen, die durch das zerstörte Port au Prince irren und zum Himmel schreien: »Jesus, Jesus, was haben wir dir getan?«, dann müßten sie eigentlich damit beginnen, nicht über ihre Toten zu weinen, mehr als dreihunderttausend an Zahl, sondern über ihren Gott, der sie willentlich zu Tode hat kommen lassen. Erdbeben dieser Art zeigen, daß selbst eine lebenspraktisch zum Guten wirkende Poesie wie die auf poetische Weise sich als Poesie bedeckt haltende religiöse, deren spezifischer Charakter sie so wirksam macht, ihre Grenzen hat. Die durch den geglaubten Gott initiierte und gehaltene Einheit von Gott und Mensch ist fragil. Die jedem Menschen als ungerecht erscheinende Entlohnung von Arbeitern im Weinberg, die Jesus zur Machtdemonstration nutzt, daß Gottes Gerechtigkeit eine andere ist, mag noch hingehen, auch wenn das Verhalten des 15
Platon, Phaidon 82e.
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Gottes als ein ziemlich dreistes erdichtet ist: »Freund, ich tue dir nicht unrecht (ouk adikô) […] Habe ich nicht die Macht, mit dem, was mir gehört, zu tun, was ich will?« 16 Diese Willkür im Bestimmen, was gerecht ist, bringt noch zum Staunen, nicht schon zum Weinen. Doch für Kluge gilt seit alters »Nichts zu sehr!« 17 , auch nicht zu sehr gerecht. 18 Sollte das Erdbeben von Haiti für ein Zeichen der Gerechtigkeit Gottes genommen werden, dann erfuhren das die Überlebenden jedenfalls klar als ein Zuviel. Jedes Erdenken und Erdichten von Absolutem birgt die Gefahr, das Hinnahmepotential von Unbegreiflichem selbst bei stark im Glauben Verwurzelten zu überfordern. So ist es nicht verwunderlich, daß Gläubige sich dazu getrieben sehen können, das Absolute anzutasten. Im Sommer 2016 wird der kleine, fast tausend Meter hoch im Apennin gelegene Ausflugsort Amatrice von einem Erdbeben vollständig zerstört. An die dreihundert Einwohner verlieren das Leben. Bei der Gedenkfeier sagt der Weihbischof von L’Aquila, indem er Gott, den Herrn anspricht: »Aber Du, wo bist Du?« (»Ma tu dove stai?«), um zu bekennen, er habe keine Antwort erhalten (»non ho ricevuto nessuna risposta«). 19 Dieses offenkundige Schweigen Gottes (apparente silenzio di Dio), dieses Aufgegebensein von Gott (abbandonato da Dio) belangt den Glauben an ihn. Der allgegenwärtige Gott ist für den fragenden Bischof nicht da. Das muß wohl heißen, daß er auch für die gut zwei Minuten des zerstörenden Bebens nicht dagewesen ist. Doch die Gewalt des Bebens kann alles wegnehmen, fährt der Bischof fort, alles, ausgenommen eine Sache: den Mut des Glaubens (»il coraggio della Fede«). Solange Gott geMatthäus 20,13–15. mêden agan, ein Wort der »Sieben Weisen«. Fragmente der Vorsokratiker Bd. I, S. 61. 18 Was die Tugend der Gerechtigkeit anbelangt, notiert Montaigne: »Gerecht wird ungerecht und weise unweis’, geht zu weit das Streben, sittlicher zu sein als selbst die Sittlichkeit.« Michel de Montaigne, Essais (trad. Hans Stilett), Frankfurt a. M. 1998, I 30, S. 105. 19 L’Omelia di Mons. D’Ercole, in: Il Popolo Veneto vom 27. August 2016. 16 17
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glaubt wird, ist er nicht tot. Er war also »nur« nicht da, weg, wie in einem Minutenschlaf. Wie der Bischof in seiner Ansprache ersichtlich um Tröstung bemüht war, den stärksten Nachdruck aber doch auf die Bewahrung des Glaubens legte, so war Gottes Nicht-da-Sein die ganze Rechtfertigung Gottes. In Anbetracht einer absoluten Unbegreiflichkeit, ja Unerträglichkeit göttlicher Gerechtigkeit wäre freilich »Gott ist tot« die stärkste Theodizee und das ultimative Wort zur Bewahrung des Glaubens gewesen. 20
VI. Wie religiöse Poesie das Verhältnis von Gott und Mensch gestaltet, kann sie unmöglich an der Zweiheit festhalten, die aus dem grundlegenden Glaubensansatz »Der Mensch ist nicht Gott« spricht. Ist religiöser Glaube, wie er gelebt wird, auch noch so belebend und stärkend für das zu lebende Leben, so läßt doch die Option für das Geistige und Geistliche nur die vertikale Anthropologie zum Zuge kommen. Formal zieht damit Religion mit dem Einheitsdenken der Philosophie gleich. Klärt ein Theologe wie Bultmann den Christusgläubigen darüber auf, daß das »eigentliche Leben«, das pneumatische, für ihn das Leben nach dem Tode im Himmel sei, 21 dann wird mit der Abwertung des »hiesigen« Lebens ernst gemacht: Es ist das uneigentliche. Diese Abwertung schließt die des Menschen ein, der wir sind. Durch das von Theologen und Philosophen genährte Vorurteil, daß die Frau, anders als der Mann, eher sinnlich als geistig sei, legt es zudem nahe, die Frau
Siehe Rainer Marten, »Die Möglichkeit zu glauben, daß Gott tot ist«, in: ders., Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion, 2. Aufl., Freiburg 2009, S. 177–195. 21 Rudolf Bultmann, Art. zaô ktl., in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (ed. Gerhard Kittel) Bd. 2, Stuttgart 1954, S. 864 ff. 20
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gegenüber dem Mann in ihrem Menschsein abzuwerten. 22 Das religiöse Transzendenzbegehren »über den zeitlich und leibhaft existierenden Menschen hinaus« hat, solange das realistische Selbstmißverständnis der Religion gegeben ist, einen hohen Preis: die A- und In-Humanität ihres Menschenbildes. Um sich klar darüber zu werden, was Glaubenstatsachen wirklich sind, an die sie sich gläubig hält, bedarf sie der Selbstaufklärung. Diese kann, ist sie eine erhellende, eine den Glauben belebende sein, nicht eine zerstörerische, wie sie die entzaubernde ist. Doch selbst dann, wenn religiöser Glaube zu der Selbsteinsicht findet, ein poetisches Verhalten zu sein, das sich auf poetische Weise seinen poetischen Charakter verbirgt, bleibt die Option für das Geistig-Geistliche bestehen und mit ihr die Tendenz, als äußerstes und letztes des Glaubens die Einheit zu erhoffen: Der Mensch wird Gott (Gott gleich, mit Gott vereint). Dem Gläubigen bleibt es aufgegeben, den Anderen vertikal zu sehen: als Kind Gottes und Bruder in Christo. Gelingende Lebensteilung von Menschen aber braucht es, im Anderen die Anderheit und Andersheit eines Menschen zu sehen. Dieser horizontale Blick auf Zweiheit, die die des Menschen ist, bleibt der Religion verwehrt. Das will sie auch so, denn sonst liefe sie Gefahr, zu erkennen, wie zu menschlichem Gelingen Leiblichkeit, Sinnlichkeit und Zeitlichkeit gehören.
22
Siehe unten das Kapitel »Die Zweiheit von Mann und Frau«.
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I. Sieht der Heilsplan Gottes für den sündigen Menschen vor, daß Gott Mensch wird, so ist die damit angekündigte Einheit von Gott und Mensch eine andere als die bislang erörterte. In Christus, wie er geglaubt wird, sind Gott und Mensch vereint. So heißt es in der »Unionsformel von Ephesus« aus dem Jahre 433: »Wir bekennen […] unseren Herrn Jesus Christus, den eingeborenen Sohn Gottes, als vollkommenen Gott und vollkommenen Menschen« (theon teleion kai anthrôpon teleion). 1
In dem einen Christus (Messias), in Jesus, sind zwei Vollkommenheiten geeint. Fragt man den auf dem Konzil von Ephesus im Jahre 431 verurteilten Nestorius, wie er sich die Einheit von Christus denke, dann sagt er: »Ich trenne die Naturen (physeis), eine aber die Anbetung.« 2 Das ist eine überraschende Deutung: Die in Christus geglaubte Einheit von Gott und Mensch sei praxisdefinit. Das aber zeigt doch, daß es maßgeblich auf den Glauben ankommt. Der Christus Anbetende ist der Christusgläubige. Für ihn gibt es nur einen Christus. Nestorius führt dazu aus: »Denn wir kennen nicht zwei Christi oder zwei Söhne und Eingeborene und Herren, nicht einen anderen und einen anderen (griech. wohl: allos kai allos) Sohn, […] sondern einen und denselben, der erblickt worden ist in geschaffener und ungeschaffe-
Adolf Martin Ritter, Alte Kirche, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen Bd. 1 (selec./trad./comm. Adolf Martin Ritter), 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1982, S. 219. 2 Nestorius, Sermo 9, in: Adolf Martin Ritter, Alte Kirche, S. 217. 1
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ner Natur […].« 3 Man muss diese Naivität des Glaubens und Denkens erst einmal auf sich wirken lassen, um ermessen zu können, welches Glaubenswunder hier inszeniert, vielleicht sogar vollbracht wird. Der Glaube tritt als das eigentliche Wunder des Christusglaubens auf, denn wie die Einigung (henôsis) geglaubt wird, ist sie unmöglich. Nicht dieses Unmögliche ist das erste Wunder, sondern der Glaube, daß dieses Unmögliche möglich, ja wirklich ist. Gott und Mensch, diese zwei grundverschiedenen »Naturen«, sind eins: das Ungeschaffene und das Geschaffene, das Unendliche und das Endliche. Weder Nestorius klärt diesen Naturbegriff auf noch sein siegreicher Gegner Kyrill. Das bringt kein Gläubiger fertig, der der »Frohen Botschaft« folgt: ganz wahrer Gott, ganz wahrer Mensch zu sein. Wer seine Wohnstatt im Himmel erlangt, hat sein irdisches Menschsein abgelegt. Steht der Himmel für den Thron Gottes, 4 so ist, wer gleich Christus auf dem Thron sitzt, im Himmel, wie es den Nachfolgern Christi versprochen ist. 5 Eine Doppelnatur des Menschen kann so nicht zum Problem werden. Wohnt im Gläubigen der Geist Gottes, 6 dann ist er darum doch nicht wahrer Gott, wie auch Christus, ist er zum Vater heimgekehrt, nicht länger wahrer Mensch ist. Die Menschwerdung Gottes ist keine Umkehrung eines Göttlichwerdens des Menschen. Sie ist das größere Wunder, ein über den Pneumatismus des Einheitsdenkens hinausgehendes Wagnis religiöser Poesie. Kyrill steht seinem Gegner im Erdenken der Natur bzw. der Naturen Christi an Wunderbereitschaft nicht nach, ja er überNestorius, Sermo 12, in: Adolf Martin Ritter, Alte Kirche, S. 217. Jesaja 66,1. 5 Matthäus 19,28; vgl. 8,11. 6 Römer 8,9: »Ihr aber seid […] im Geiste, wenn der Geist Gottes in euch wohnt.« 1. Korinther 3,16: »Wißt ihr denn nicht, daß ihr Tempel Gottes seid, und der Geist Gottes in euch wohnt?«. Johannes 14,11: »Glaubet mir, daß ich im Vater bin und der Vater in mir ist.« Pneumatisches In-Sein variiert bis zur vollkommenen Wechselseitigkeit von Zweien. 3 4
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trifft sie noch. Das zeigt sich bereits, wenn er aus christologischen Gründen die Deutung von Maria als Christusgebärerin »verdammt« und sich für sie als Gottgebärerin verwendet. 7 Dazu macht er Gebrauch von der Sentenz des Johannesevangeliums 1,14 »Und der Logos ward Fleisch und wohnte unter uns« sowie von der Art, wie Aristoteles sich das Verhältnis von Seele und Leib beim Menschen denkt. In seinem Zweiten Brief an Nestorius vom Januar/Februar 430 kommt er für das von ihm anvisierte Wunder zu folgender Formulierung: »Wir sagen nämlich nicht, die Natur des Logos sei erst aufgrund einer Verwandlung (metapoiêtheisa) Fleisch geworden, auch nicht, sie sei in einem ganzen, aus Seele und Leib bestehenden Menschen umgewandelt worden; wir behaupten vielmehr: Der Logos hat auf unaussprechliche und unergründliche Weise mit einer Vernunftseele beseeltes Fleisch mit sich hypostatisch (kath’ hypostasin) geeint, ist so Mensch geworden und hat den Namen ›Menschensohn‹ erhalten. […] (B)eide zu einer wirklichen Einheit zusammengeschlossenen Naturen sind wohl verschieden, und doch ist aus beiden ein Christus und Sohn geworden […].« 8
Alltäglich gesprochen, ist damit etwas Unglaubliches formuliert, theologisch etwas allein Glaubliches: Der Logos, der göttliche Geist ist Fleisch geworden – man ist versucht zu sagen, das glaube, wer mag. Doch das sollte man nicht sagen, denn hier hat wirklich Arbeit am Unaussprechlichen und Unergründlichen statt. Der Versuch, »vollkommen Gott und vollkommen Mensch« zu einer durchdachten, verbindlichen Glaubensvorstellung zu formen, muß statthaben. Christus verwandelt sich nicht vom Gott zum Menschen, sondern ist dank des absoluten Wunders der hypostatischen Vereinigung von Vernunft und Fleisch als Gott und Mensch ein und dieselbe Person.
Aus den Anathematismen Kyrills gegen Nestorius, zitiert nach Adolf Martin Ritter, Alte Kirche, S. 219. 8 Zitiert nach Adolf Martin Ritter, Alte Kirche, S. 217. 7
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Die Einheit von Jesus Christus: Kyrill von Alexandria
II. Man sollte den gebrauchten Begriffen bei der Wunderformulierung keine zu große Bedeutung beimessen. Daß sich »geistige Substanz« (hypostasis) und »Gesicht« (prosôpon) erst annähern und schließlich synonym mit »Person« werden, ist ein Stück Begriffsgeschichte, nichts aber, was sonderlich zum Denken anregt. Man sieht nur, wie alle Beteiligten sich bei Philosophen bedienen, um in freiester Nutzung etwas für die Abgrenzung der eigenen Position zu gewinnen. Wie Etymologie dem Zweck dient, die Sprache sicherer und deshalb die Wortverwendung für die Sprachteilnehmer verbindlicher zu machen, so hatten Konzile, die sich mit der Dreieinigkeit von Gott Vater, Gott Sohn und Heiliger Geist sowie mit der Zweieinigkeit von Christus als Gott und Mensch beschäftigten, den Zweck, das zu Glaubende nicht allen möglichen Versionen preiszugeben, sondern auf eine verbindliche Einheit der Deutung festzulegen. Doch was Nestorius und Kyrill an Deutungen vorbrachten, war sich sehr ähnlich. Wie die Geschichte zeigt, ließ es sich auf die eine und andere Weise guter Christ sein, fest in dem einen und dem etwas anderen Glauben. So wundert es auch nicht, daß auf dem Konzil, das Nestorius verurteilte, keine Aussprache stattfand. Es wurde unmittelbar per acclamationem entschieden. Doch Wasser auf die Mühlen der Ansicht, daß hier einmal mehr der Heilige Geist entschieden hat, mag die Tatsache sein, daß wir Gründe haben, die Deutungs- und Glaubensversion des Kyrill noch einmal für signifikant wundersamer anzusehen als die seines Gegners. Was praktisch ein reiner Machtkampf war, hat deutliche Spuren in der religiösen Poesie hinterlassen. Das »Fleisch«, das Zeitliche, Endliche, Vergängliche, Leidende (vom Lustempfinden einmal abgesehen) ist in der Person Christi nicht weniger göttlich als menschlich. Damit hat Kyrill etwas durchgesetzt, das dem gläubig Mitdichtenden ein weitaus größeres Wunder erschließt als jede andere Version der Verbindung von Gott und Mensch, von Vernunftseele und Leib. Nestorius 145 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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konnte sich nicht vorstellen, daß etwas anderes an der Brust Mariens saugt als der Mensch Christus. Jetzt aber darf und muss mit der Entscheidung von Ephesus geglaubt und gläubig gewusst werden, daß der, der da saugt, nicht weniger ein göttliches als ein menschliches Wesen ist. Das ist einerseits »unglaublicher« (wie sollte denn ein Gott ein frühkindliches Stillungsbedürfnis haben?), andererseits ungleich »schöner«, ja »gewaltiger«: Wirklich ein Gott, wahrhaft ein Gott ist Mensch geworden, der nun »menschliche« Bedürfnisse hat, der im Leiden und Sterben voll Geschehnissen ausgesetzt ist, wie sie Menschen widerfahren und als Menschenschicksal gelten. Der Sieg von Kyrills Glaubensentwurf entrückt nicht nur das Menschenverständnis ins Wundersame, sondern auch, ja vielleicht mehr noch das Geschichtsverständnis. Aus philosophischer Anthropologie, die im Verhältnis von Seele und Leib den »ganzen« Menschen denkt, ist theologische Anthropologie geworden, die im Verhältnis von Seele und Leib (Fleisch) die nahtlose Einigung von Gott und Mensch denkt. Diese Wunderanthropologie wird durch die notwendig korrespondierende Wunderhistorie geradezu noch überboten. Die christologische Formel von Chalcedon 451, die das in Ephesus Festgelegte abschließend klärt, bestimmt als verbindlichen Wunderglauben die absolute Identität der Überzeitlichkeit und Zeitlichkeit von Christus, die Einheit der Menschengeschichte als Glaubensgeschichte in ihrem Vor-aller-Zeit und Am-Ende-der-Zeit: »Vor den Zeiten aus dem Vater geboren der Gottheit nach, ist derselbe am Ende der Tage um unseretwillen und unseres Heiles wegen aus Maria der Jungfrau, der Gottgebärerin, der Menschheit nach [hervorgegangen]. [Wir bekennen ihn als] einen und denselben Christus, Sohn, Eingeborenen, in zwei Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungesondert erkannt« (hena kai ton auton Xriston hyion kyrion monogenê, en dyo physesin asygchytôs atreptôs adihairetôs achôristôs gnôrizomenen), […]. 9
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Zitiert nach Adolf Martin Ritter, Alte Kirche, S. 221.
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Das ist kein Märchen und kein Mythos, keine Erzählung und kein Stück eines Romans, sondern ist eine durch Denken erzeugte Deutung von Christus, die die Wissenschaft von Gott vornimmt und einem Konzil vorgibt, damit sie für Gläubige verbindlich wird. Die Deutung basiert auf Texten, die von »Verkündern der Frohen Botschaft« und von »Vorhersagern Christi« (Jesaja) verfaßt und als Wahrheit (der Worte und der Taten Christi) geglaubt werden. Diese Wissenschaft von Gott basiert so auf Glauben und das heißt auf religiöser Poesie. Die Deutung, wie sie durch das Denken hervorgebracht wird, ist an die Texte gebunden, aber frei im Erdenken, um die vorgegebene Wahrheit soweit wie möglich für menschliches Verstehen aufzubereiten. Kennte »unmöglich« eine Steigerung, dann wäre nichts für unmöglicher zu erklären als das, was dieser Text aus dem Jahre 451 n. Chr. für wahr erklärt – ohne eigens auf den Unterschied von Glaubenswahrheit und Tatsachenwahrheit hinzuweisen, Tatsachenwahrheit, wie sie der Realitätssinn versteht. Die Möglichkeit des Unmöglichen verdankt der Mensch einzigartig und einzig seiner Fähigkeit zur Dichtung. Doch hier dient die sprachliche Fassung von Unmöglichem keinem Divertissement, auch keinem Wagnis der Phantasie, sondern einem existentiellen Bedürfnis des Menschen, auf eine höchste Macht verpflichtet zu sein, die allem Sinn gibt und alles zum Guten führt. Das soll sagen: Die gegebene Deutung der Einheit von Christus ist ernst zu nehmen. Das aber geschieht nicht zuletzt durch genauere Klärung dessen, was sie menschlichem Verstehen zumutet. Kann der Mensch auch über das Ausmaß seiner Gefährdung als Lebender unter Lebenden im Unklaren sein, so hat er doch, kommt er in die Jahre, an Fremd- und Selbstgefährdungen hinreichend Erfahrungen gesammelt, um zu wissen, daß im eigenen und im Leben Anderer nicht alles zur Stärkung der Lebensbefähigung und zur Freude am Leben geschieht. Wird ihm darum die Möglichkeit eröffnet, dem, was ihm als einem Lebenden widerfährt, uneingeschränkt als einem Geschehen zum Guten vertrauen zu dürfen, dann muß die Unbekanntheit mit dem 147 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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eine absolute sein, was ihm als Königsweg eines gelingenden Lebens gezeigt wird. Das glaubende Vertrauen in seiner freien Grenzenlosigkeit braucht das Unbegreiflichste, Unnahbarste, Unmöglichste und Unaussprechlichste, wenn es seinen Sinn auf das richtet, was seinem Vertrauen den festesten Grund gibt. Um nicht zweifeln zu können, braucht der Gläubige etwas, das ihm absolut entrückt ist. Die theologische Deutung der Geburt Christi läßt erahnen, wie weit die Entrückung vom Begreifen und Verstehen gehen kann, ja zu gehen hat, damit gläubiges Vertrauen als eine Form des Mitdichtens am zuäußerst verwundernden Wunder initiiert wird. Christus, wie zu lesen, ist zweimal geboren, in erster Formulierung »aus dem Vater«, in zweiter »aus Maria der Jungfrau«. Muß man sich Adam als von Gott gemacht und von keiner Mutter abgenabelt, als nabellos vorstellen, dann ist dem aus dem Vater »geborenen« Christus weder nachzusagen, daß er einen Nabel, noch daß er keinen Nabel hat. Leibliches ist schlechtweg nicht mit ihm zu verbinden. Der »Gottheit nach« geboren zu sein, hält ihn im Ewigen und Unendlichen zurück, im Unbegreiflichen und Unsichtbaren. Das stimmt freilich nicht ganz, sofern jedes Wort des Neuen Testaments als kanonisiertes Glaubensverbindlichkeit hat. So wird nach den Auferstehungsberichten der Evangelien und der Apostelgeschichte der auferstandene Christus gesehen und erkannt: Er hat einen Leib, aber er ist nicht noch einmal sterblich. Nicht nur als auf der Erde gehend und in Emmaus zu Tische sitzend, ja essend ist er zu sehen, sondern auch gen Himmel fahrend. Zwar verschwindet er rasch in einer Wolke, aber genau das verfolgen die Jünger mit »unverwandtem Blick«. 10 Jesaja wieder, wie er seine Berufung zum Propheten schildert, sieht den einen und einzigen Gott samt ihn heiligsprechender Engelentourage auf einem hohen Throne sitzen 11 , also in menschenartiger Haltung. Beide Male überspielt 10 11
Apostelgeschichte 1, 9 f.: atenizontes, die unverwandt hinsehen. Jesaja 6,1–3.
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phantasierte Faßlichkeit die gebotene theologische Zurückhaltung, um das allein dem Wunderglauben zumutbare Unendliche auf eine endliche Weise glaubhaft zu machen – durch visuelle Bezeugung, die seit je als verläßlichster Beweis gilt. Nein, der vor den Zeiten aus dem Vater geborene Christus, seiner »Natur« (nasci?) nach ein Gott – der bleibt in jeder Hinsicht unbegreiflich und etwas nicht zu Veranschaulichendes. Diese theologische Präzisierung von »Wahrheiten« der Bibel macht, wenn der theologisch Instruierte nur wach genug darauf achtet, diesen himmlischen Vorgang nicht nur nicht verständlicher und menschlichem Begreifen zugänglicher. Im Gegenteil, jetzt erst ist der bon sens, der gesunde Menschenverstand, der Realitätssinn mit aller Kunst und Macht der Verklärung vollends ausgeschaltet. Aber das ist eben der Erfolg dieser »Präzisierung«: Die Bahn ist vollends frei für das Miterdichten und Miterahnen des unbegreiflichen Heilsgeschehens. Wird obendrein das aus dem Vater und das aus der Jungfrau, einmal göttlich, einmal menschlich, Geborene für unterschieden in der Natur, aber schlechtweg (!) einig in der Person bestimmt, dann macht diese menschliche Greifbarkeit des göttlichen Christus das Geschehene nicht begreiflicher. Die empathische Betonung, daß Gott Mensch, also »für uns« zugänglicher geworden ist, spricht für rein appellativen, nicht aber argumentativen Überzeugungswillen. Argumente sind ja auch in der Tat nicht zur Hand.
III. Maria, die Jungfrau, gebiert einen Logos. So steht es in den Anathematismen Kyrills. Freilich gebiert sie einen ganz besonderen Logos: den Fleisch und Mensch gewordenen. Daraus folgt, daß der Logos gekreuzigt worden ist – mit dem Fleisch. Wer das nicht gläubig vertritt, soll verdammt sein. Der »vollkommene Mensch« besteht, ganz im Sinne der aristotelischen Anthropologie, aus Vernunftseele und Leib (ek psychês logikês kai sô149 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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matos). Die theologische Deutung der Zweiheit der Naturen und der Einheit der Person Christi hätte Philosophen wie Platon und Aristoteles ganz allgemein als Deutung des Menschen gefallen: Er hat eine göttliche Natur, gegeben in der Vernunftseele, und eine menschliche, gegeben in seiner Leiblichkeit. Versteht die Unionsformel von Ephesus 433 das Menschliche von Christus als seine Niedrigkeit, das Göttliche von ihm dagegen als seine Hoheit, dann hätte insbesondere Platon eingestimmt, daß von den zwei Naturen des Menschen die eine hoch, die andere niedrig sei. Selbst Aristoteles übereignet dem Vernunftteil des Menschen dessen wahre Menschlichkeit, das meint eben Göttlichkeit. Wenn die Klärung des Gott- und Menschseins Christi sich in einer derart prinzipiellen Entsprechung in philosophischer Anthropologie widerspiegelt, dann verlieren die Gottgeborenheit und Jungfraugeborenheit Christi erheblich an Unbegreiflichkeit. Es ist die in Religion und Philosophie immer neu durchgespielte Sicht des Menschen als eines Einzelwesens, das in sich durch ein Gefälle ausgezeichnet ist, dies aber mit der eindeutigen Anzeige, daß es eigentlich allein auf das Oben ankommt. Teilt Christus als Mensch Geburt, Leiden und Sterben, dann geschieht das ja dem ewigen Heilsplan Gottes nach allein, um den Menschen für immer von seiner niederen Natur zu erlösen, eben von seinem Menschsein. Für den Christusgläubigen ist in Christus das Programm zu sehen, daß der Mensch, wie er leibt und lebt, ein passageres Wesen ist. Er gehört eigentlich in die Ewigkeit, nicht in die Zeit. Wie in den Evangelien zu lesen 12 , ist Himmel oder Hölle seine eigentliche Zukunft, nicht die Erde. Sollte die Erde das Jüngste Gericht überstehen, wäre sie menschenleer. Allein schon die Thematisierung der Gott-Mensch-Einheit von Christus verrät Solipsismus. Wer sich an die beschämende U. a. Matthäus 18,8 f.: Ewiges Leben oder ewiges Feuer ist die wahre Zukunft des Menschen als eines verantwortlichen Einzelwesens. Das ist die Alternative von ewiger Belohnung (ewiges Leben) und ewiger Strafe (Feuer). Matthäus 25,46.
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Andersheit von Oben und Unten im Menschen hält, von Vernunft und Fleisch, der hat jeden Sinn für die fruchtbare Andersheit des Einen und Anderen in der Gestalt von Mann und Frau verdunkelt. Im Verhältnis von Mann und Frau findet der Mensch an sich selbst sein Genügen. Da soll ja nicht »alles« Mann werden, ja auch nicht »alles« Frau. Im Verhältnis von Oben und Unten in sich selbst findet der Mensch hingegen an sich selbst sein Ungenügen. Er will »ganz« nach oben. Das setzt Geschichte in Bewegung, eine geschichtliche Dramatik, die immer neu und immer weiter vom philosophisch-theologischen Erdichten und Erdenken in Schwung und das heißt in vermeinter Aufwärtsbewegung in Gang gehalten wird. Mann und Frau – das ist menschliche Verbundenheit im Möglichen, im Menschenmöglichen. Seele und Leib, Vernunft und Fleisch – das ist der Drang zur Entbindung vom Menschsein, das ist die tendenzielle Ausrichtung auf das Unmögliche, das dann möglich sein soll, wenn der Mensch als das Maß des Möglichen und Unmöglichen zu existieren aufgehört hat. Christus, nicht der historische Jesus, der dafür warb, für den Messias genommen zu werden, sondern der theologisch als Mensch in Einheit mit Gott erklärte Christus, war kein männlicher Mann. Er war nicht dazu vorgesehen und somit auch nicht dafür ausgerüstet, Leben durch Vereinigung mit einer Frau weiterzugeben. Das läßt die Konzilsreden von »vollkommen Mensch« und »wahrer Mensch« etwas vollmundig erscheinen. Ob der historische Jesus homosexuell war, ist für diese Überlegung ohne jedes Interesse. Die vernunftlastige Einheit von Gott und Mensch, die in Christus den, der ganz Mensch ist, zugleich als ganz Gott vorsieht, läßt kein Sich-der-Welt-Geben und Sich-dem-Anderen-Geben zu, das Züge des Erotischen hätte. Wer Hochzeit Feiernden die Liebe (agapê, Vulgata: charitas) predigt, die größer (meizôn) ist als christlicher Glaube und christliche Hoffnung 13 , hat den falschen Text gewählt. Es han13
1. Korinther 13,1–13. Für Liebe, lieben steht in den Evangelien und auch
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delt sich um die Nächstenliebe, die dadurch größer und mächtiger als Glaube und Hoffnung ist, weil sie nicht »fällt« (piptei), weil sie nämlich tätig endzeitgerichtet ist als Antwort auf die Liebe Gottes. Diese Liebe hat die Möglichkeit, sich auf einer Palliativstation zu erfüllen, ganz sicher aber nicht in der Hochzeitsnacht. Daß Christus nirgendwo das Hohelied anstimmt, die Bejahung des Lebens und der Liebe unter Menschen auf Erden, wird besonders deutlich in den ihm zugeschriebenen Worten zu kleinen Kindern. All seine Predigt ist ja, daß der Mensch in das Reich Gottes gehört und daß der Mensch all seine geistige und geistliche Kraft diesem letzten Ziel des wesenhaften Hingehörens zu widmen hat. Dazu bedarf es nicht der Geschlechtsreife. Der vorpubertäre Mensch ist für den Christus der Evangelien das Leitbild menschlicher Eignung für den Wohnsitz im Himmel: »Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kindlein, werdet ihr nicht in das Reich der Himmel kommen.« 14 »Lasset die Kindlein und hindert sie nicht, zu mir zu kommen, denn solchen gehört das Reich der Himmel.« 15
Christus gehört eigentlich in den Himmel. Die in ihm gedachte Einheit von Gott und Mensch wird spätestens mit dem Verschwinden in der Wolke bei der Auferstehung aufgelöst. Er ist nicht mehr Mensch, nur noch Gott. Er war auch nur »wahrer Mensch«, um den Menschen, der nicht eigentlich auf die Erde gehört, den Weg zu öffnen, (wieder) in den Himmel zu kommen, wo er im ersten und letzten hingehört. Dann aber muß er sich auch nicht fortzeugen. Die »Kindlein« sind nicht nur das bei Paulus agapê, agapan, Vulgata: charitas, deligere. Damit ist eindeutig nichtsinnliche Liebe angesprochen. 14 Matthäus 18,3. Es ist nicht von den Kindern (hai paides, pueri) die Rede, sondern von den Kindlein (ta paidia, parvuli). 15 Matthäus 19,14. In der Zürcher Bibel firmiert dieses Christuswort unter »Jesus der Kinderfreund«.
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Die Einheit von Jesus Christus: Kyrill von Alexandria
Vorbild für Erwachsene, wie der für das Himmelreich geeignete Mensch geartet zu sein hat. Sie sind auch selbst und unmittelbar die für das Himmelreich Vorgesehenen. Anders als in der Genesis, sind sie nicht vorgesehen, die Erde zu »füllen«. Die Erde gehört vielmehr von Menschen geleert. Das besorgt das Jüngste Gericht. Dann sind alle Menschen, die je gelebt haben, entweder im Himmel oder in der Hölle, die Kindlein aber mit Sicherheit, wenn man dem Worte Christi folgt, im Himmel. Die Einheit von Jesus Christus zu Ende gedacht, läßt aus der Verbindung von »vollkommen Mensch und vollkommen Gott« nur das »vollkommen Gott« übrig, vom Menschen, ob Kleinkind oder Erwachsener, nur das »Bei-Gott«. Der Christus des Matthäusevangeliums zum Beispiel sieht, anders als die Genesis in ihren beiden Menschenschöpfungsmythen, nicht die Erde als Wohnstatt der Menschen vor, sondern das Reich der Himmel. Weil jedoch in der Regel der Glaube dem Leben, nicht aber das Leben dem Glauben dient, geht das Leben auf der Erde weiter. Das will auch die Verkündigung, sofern sie am leibhaftig-lebendigen Menschen festhält und ihm die Liebe zum Leben predigt.
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10. Die Einheit von Volksgott und Gottesvolk: Hosea
I. Hosea hört auf Gott. Er heiratet, wie ihm befohlen, die Frau, die es mit vielen Männern getrieben hat. Er berichtet von Gott, der nicht der Mann der Hure Israel sein will, weil sein Volk, der Stamm Ephraim, ihm treulos geworden ist, dann aber doch seinen Sinn wandelt. 1 So trägt der Prophet seinen Jahweglauben aus. Der philosophische Leser aber gerät ins Nachdenken darüber, was mit der metaphorischen Deutung der Zweiheit von Gott und seinem Volk über die Zweiheit von Mann und Frau eigentlich gesagt ist. Das Bild macht Schule: Bricht das Volk mit seinem Gott, begeht es Ehebruch. Die Treulosen zeigen anderen Göttern außer (plên) Jahwe ihre Scham und schlafen mit ihnen. 2 Ehebruch verdiente im alten Israel die Höchststrafe: den Tod durch Steinigung. Der Bruch mit Gott ist das höchstmögliche Vergehen eines Volkes, das mit Gott einen Treuebund geschlossen hat. Rechtens also verdient solch abtrünniges Volk den Tod. Doch dann gehört es ebenso zu diesem Bild, daß der Gott Gnade walten läßt. Reue und Mitleid kommen ins Spiel. Der Gott bereut seinen Zorn. Er zeigt Empfindung, Bewegung des Gemüts. 3 Hosea 1,2 ff. Jeremia 2,1; 5,7; 9,1. Ezechiel 16,23. 32. 37; 23,37. 43. 45. Hosea wirkte in der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr., Jeremia 627 bis 585 und Ezechiel 593 bis 571 v. Chr. 3 Das Wort der Septuaginta für Mitleid, eleos, ist wohl ein Schallwort. So hat elelizô die Bedeutung zittern lassen, beben machen, erschüttern. Das Wort für Reue ist in ihr metameleia. Gleich dem metanoein, umdenken, ist mit metamelein eine Umkehr der Sorge angesprochen. 1 2
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Die Einheit von Volksgott und Gottesvolk: Hosea
Folgt man den Propheten als poetischen Wahrsagern Gottes, dann nehmen sie für die Darstellung des Bündnisses von Gott und seinem Volk den Menschen zum Vorbild: den Ehebund. Es ist das Verhältnis, das maßgeblich durch das Entweder-oder von Treue und Untreue geprägt ist. Gleich der ehelichen Verbindung von Mann und Frau ist die Zweiheit von Gott und seinem Volk die eines »Bundes«, das heißt eines Vertrags (diathêkê). Das Recht, das durch den Vertrag gesichert werden soll, ist das Recht auf Treue und somit das Recht auf Liebe. Daß Volksgott und Gottesvolk miteinander in einem Vertragsverhältnis stehen, bedeutet keine Versachlichung der Beziehung. Im Gegenteil, es geht um ihren eigensten Gehalt: um die Liebe, die dem Bilde nach eine erotische, dem Gehalt nach eine gnadenhafte und fürsorgliche ist (charis und agapê). 4 Wie Propheten die eheliche Liebe als menschliche schildern, bewirkt sie Weitergabe und Erhalt des Lebens: des »Samens« von Familie und Stamm. 5 Nimmt Gott sich – im Bilde – neugeborenen menschlichen Lebens an, um es großzuziehen und, wenn der Kairos da ist, es zur Frau zu nehmen 6 , dann hat er auch nichts anderes im Sinn, als Leben weiterzugeben und zu erhalten, Leben, dem er eigens zugetan ist, Leben, das mit ihm im Bunde lebt. Kann Gott in Liebe zu den Seinen »mein Volk« (laos mou) sagen, dann feiert er sich selbst als der Lebendige (theos zôn), der Söhne hat, zahllos wie der Sand am Meer. 7
Das Lieben (agapan) wird deutlich in Hosea 3,1 ausgesprochen: »Und der Herr sagte zu mir: ›Gehe noch einmal los und liebe eine Frau, die schändlich liebt und Ehebruch treibt, gleich wie der Gott liebt die Söhne Israels, auch wenn sie auf andere Götter sehen‹.« Das nimmt Hosea 2,21 f. auf: »Und ich verlobe dich mir auf ewig, und verlobe dich mir in Gerechtigkeit und Recht, und in Mitleid und Erbarmen, und verlobe dich mir in Treue.« 5 Hosea 4,1 ff.; 11,1 ff.; Jeremia 3,1 ff.; Ezechiel 16. 6 Ezechiel 16,6–8. 7 Hosea 2,1. 4
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II. Treuelosigkeit, Ehebruch, Hurerei – das liest sich bei Hosea als Vorbedingung wahrer Gottesliebe. Bedarf es für den Apostel Paulus der Gottesverfehlung, damit Menschen durch Gottes Gnade »gerecht« und das heißt bündnistreu 8 werden, dann beim Propheten Hosea des Bündnisbruchs des Gottesvolkes, um durch die Gnade seines Gottes in einem neuen Bündnis seiner ewigen Liebe versichert zu werden. Ist auch die eheliche menschliche Verbindung von Mann und Frau Vorbild für das Mann-Frau-Verhältnis von Gott und seinem Volk, so wird es durch diese Übernahme doch unendlich überhöht. Was Hosea wahrsagend als seinen Gott zu dichten weiß, ist wirklich erstaunlich: Er bringt Übermenschliches ins Spiel, ohne das menschliches Leben verloren wäre. Dieser Gott sagt über sich selbst: »Deswegen bin ich Gott und nicht Mensch.« 9 Er kann etwas, das kein Mensch kann: das Herz in sich selbst eine Kehrtwende vollziehen lassen. Für seine vertragliche Verbindung mit dem Volk steht sein Gemüt im Vordergrund, nicht seine Macht. Was ihn aber an seinem treulosen Volk bewegt und ihm zu Herzen geht, ist das Leben und Überleben. Wie in allem menschlichen, steckt auch im göttlichen Mitleid Selbstmitleid. Strafte er sein Volk, dann strafte er sich selbst: Es gäbe keinen möglichen Bündnispartner mehr. Gott zeigt ein menschlich höchst verständliches Gefühl: Er will, daß die ihm als ihrem Mann angetraute Frau ihn, und nur ihn liebt. Was er schlechtweg nicht ertragen kann, ist religiöses Fremdgehen: der Glaube an andere Götter, von Luther Abgötterei genannt. Hält er darum übermenschlich den Vernichtungszorn gegen sein abtrünniges Volk zurück, ja findet sein Gemüt zu einer neuen liebenden Zuwendung zu ihm, dann geschieht das im Vertrauen (Gott vertraut!), daß das Volk zu ihm zurückfindet und es mit keinem Baal mehr 8 9
Römer 5,8. Hosea 11,9.
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treibt. An diesem Tag wird das Volk zu seinem Gott sagen »Mein Mann« (O anêr mou) 10 und wechselseitig, mit gleicher Bedeutung, »Du bist mein Gott«, »Du bist mein Volk.« 11 Wie sich Israel (und Juda) in seinem Glauben versteht, steht es Jahwe nicht frei, sich ein anderes Volk zu suchen, das besser zu ihm hält. Dafür ist der Heilsplan zu genau ausgearbeitet. Die Wahrsager Gottes wissen den Gott fest an sein Volk gebunden. Vernichtungsphantasien, die ihm reichlich in den Mund gelegt werden, dramatisieren das Heils- und Gnadengeschehen, stellen es aber nie in Frage. Dafür ist auch das Mann-Frau-Verhältnis als Bild für das Gott-Volk-Verhältnis zu gut gewählt. Im Entscheidenden nämlich stimmt es nicht. Im Menschenvolk sind die Ehe- und Treuebrecher männlich und weiblich, in der GottVolk-Beziehung nur die Frau (das Volk, das meint »die Söhne Israels«). 12 Da bewährt sich die für den jüdischen Glauben so bedeutsame Wahrheit (emmeth) Gottes als seine Verläßlichkeit: Dramatisieren die Wahrsager Gottes auch noch so sehr die Beziehung des Gottes zu seinem Volk, so ist in ihrem gläubigen Heilswissen doch nicht vorgesehen, ja eben unmöglich vorgesehen, daß Gott endgültig mit seinem Volk die Ehe (den Bund) bricht. Hätte Gott nicht in seinem Herzen die Kehrtwende vollzogen vom feurigen Zorn 13 zum Mitgefühl, dann wäre etwas Unmögliches zu konstatieren gewesen: Gottes Ehe- und Treuebruch.
III. Wie es religiöser Rede eigen ist, hält es auch prophetische mit dem Menschenunmöglichen. Von Gott soll die Rede sein, von 10 11 12 13
Hosea 2,18. Hosea 2,23. Jeremia 7,9; Jakobusbrief 4,4. Zu »Söhne Israels« siehe u. a. Hosea 4,1. Hosea 11,9.
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seinen Taten, von dem, was er letztendlich mit seinem Volk im Sinn hat. Was der mit den Gottesfürchtigen verbundene Gott zu verkünden hat, ist sein Wille. Tut Gott, was er will, und nur, was er will, dann kann das dem Gottesfürchtigen dennoch nicht als Willkür erscheinen. Er ist zutiefst daran gehalten, in Gottes Tun das Gerechte und Gute zu sehen. Wie aber das Gott-Volk-Verhältnis entworfen ist, kann Gott unmöglich nach Belieben alles wollen. Auf das Ganze gesehen, das heißt auf das Ende, muß er das Gute wollen, das Gute und Gerechte für sein Volk. Dieses Wollen haben die Wahrsager in ihren Visionen im Ganzen zu teilen. Göttliche Rede, für die die Propheten einstehen, ist im Letzten Verheißung, nicht Drohung. Und sei es noch so fern, einmal ist die Vollendung für das Volk Gottes an der Zeit (kairou synteleias). 14 Wie es der Prophet Hosea schildert, wird es für Israel letztlich zu einer in ihrem Treuecharakter unüberbietbaren Ehe mit Gott kommen. Da wird ein Freier entworfen, der mit einem in jeder Hinsicht vollkommenen Brautpreis aufwartet: 15 Als erstes wird der Krieg verbannt. Der Friede herrscht auf ewig. 16 Das schließt notwendig ein, daß Gott Israel auf ewig freit. Doch welche Braut hält das aus, welche mag solche Freier? Werden die Söhne Israels wirklich mit ungeteilten, ganzen Herzen (kardiai teleiai) 17 »mein Mann« und »mein Gott« sagen? Der Prophet jedenfalls schiebt dieses Zeichen von Mitsprache und Einwilligung in das stürmische, ja übermächtigende Vorgehen Gottes ein. Feinde wie die Ammoniter, die der gewaltsamen Landnahme entgegenstanden, sind durch Mithilfe des Herrn ausgelöscht. Es gibt sie nicht mehr. Aber auch Dürre und Überflutung werden nicht mehr sein. Himmel und Erde sind ausgesöhnt. Das Land wird auf ewig fruchtbar sein. So denkt sich der Prophet als Wahrsager Daniel 12,4. 13. Jeremia 49,39. Hosea 2,18 ff. 16 Nicht weniger wird bei Jesaja (9,6; 32,7; 54,10) und Ezechiel (37,26) verheißen. 17 U. a. 1. Könige 8,61. 14 15
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Gottes das Reich des Messias auf Erden. Gott muß den Menschen nicht fragen, was für ihn gut und gerecht ist. Er weiß es auf ewig im Vorhinein, und genau dies Wissen ist nun zum Gehalt der ewig gültigen Verkündigung geworden. Das Ende der Geschichte ist erklärt. Was höchstmächtige Reue und entsprechendes Mitleid doch zuwege bringen: Wie sich Hosea liest, ist dem hurenden, gottesabtrünnigen Volk keine Zeitgrenze gesetzt für Gottes Zuwendung zu ihm. Die göttliche Art, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, und dies in Wahrnehmung göttlicher Prärogative, führt dazu, daß Heilsgeschichte nurmehr als Geschichte Gottes erzählt wird, als die seines Herzens und Gemüts, seiner Liebe und Gnade. Selbsthaft und eigenständig trägt das Volk nichts mehr dazu bei. Man ist versucht, an eine overprotecting mother zu denken, die das Kind krank macht. Daß das Volk dem Gott, die Frau dem Mann als etwas ganz Eigenes gegenübertritt und damit auch als Gleichrangiges, das darf unmöglich sein. Dafür sorgt schon göttliches Mitleid mit seiner asymmetrischen Art, wie es allem Mitleiden eigen ist: Es kommt von oben und hat damit wie von Natur etwas Erniedrigendes. Gerade dadurch, daß sich göttliche Gnade unabhängig vom Verhalten des Menschen macht, entdeckt sie ihre Absolutheit: die absolute Macht Gottes, die sein Volk ihm gegenüber absolut ohnmächtig macht. Die Konsequenz davon ist: Das Volk hat den Willen Gottes nicht zu verstehen, sondern hinzunehmen. Das messianische Reich auf Erden ist ein ewiges. Der Same Israels stirbt niemals aus. So kann dem Gott als Mann das Volk als Frau niemals sterben, der Mann der Frau in diesem Falle schon seiner Natur nach nicht. Das ist bemerkenswert: Denkt der Mensch an einen Brautpreis, der jeden menschenmöglichen überbietet und so ganz offensichtlich als ein unwiderstehlicher gemeint ist, dann greift er notwendig zu hoch. Sind Mann und Frau einander auf ewig und nicht bis der Tod sie scheidet versprochen, dann hat sich das, was eine Zweiheit darstellen sollte, in eine Einheit verwandelt. Kann keiner dem Anderen verloren159 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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gehen, weil ihr Bund kraft Willens des Einen ein ewiger ist, dann gibt es nurmehr ein Selbst. Erfahren Menschen Zeiten, zu denen sie noch nicht und nicht mehr selbsthaft sind, wie es beim Säugling und beim hinfällig Gewordenen der Fall ist, dann werden sie von den um sie Sorgenden mit Selbsthaftigkeit belehnt. Nicht Mitleid regiert oder gar Gnade, sondern das Recht auf InSorge-genommen-Werden. Das auf den ersten Blick das Gottesvolk in Ebenbürtigkeit mit dem Volksgott hebende Bild von einem Verhältnis gleich Mann und Frau, entdeckt bei genauerem Hinsehen, daß von einem vertraglichen Verhältnis zweier Partner nicht die Rede sein kann. Das liegt allem zuvor an der Glaubenstatsache, die im ganzen Alten und ganzen Neuen Testament vorherrscht, daß der Mensch kein Recht gegen Gott hat. Das Volk Israel als Braut und Frau seines Gottes hat keinen Rechtsanspruch, von Gott geliebt zu werden. Handelte Gott nicht aus Selbstüberwindung (Reue), Mitleid und Gnade, verlöre er seine Macht, die auf der Unerforschlichkeit seiner Gerechtigkeit beruht.
IV. Monotheistische Eschatologien, ob mit Fern- oder Naherwartung, haben ein großes Gemeinsames: Im Letzten sind Gott und Mensch Eins. Das ist Endziel und Vollendung (teleion, synteleia) des Homo religiosus. Der Versuch, in Volksgott und Gottesvolk eine Zweiheit zu sehen, sofern der Gott sein Volk durch Raum und Zeit führt, mußte scheitern. Zwar herrscht hier nicht Mystik, keine Sehnsucht des Einzelnen nach dem Einswerden mit Gott (»dann aber von Angesicht zu Angesicht« als teleion) 18 , aber selbst und gerade beim Propheten Hosea sind von seinem Ansatz her die Weichen gestellt, daß alles auf Eins hinausläuft. 18
1. Korinther 13,10–12.
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Das Volk vergeht sich an seinem Gott; Gott vergeht sich unmöglich an seinem Volk – das ist der Ansatz. Daß sich hier, dem Bilde nach, unmöglich der Mann an der Frau vergeht, sondern ausschließlich die Frau an dem Mann, liegt an der Gott zugedachten Gnadennatur. Schon Gottes Mitleidigkeit, die seine Affektumkehr begründen soll, ist eine Zumutung, wenn doch mitleidiges Handeln alles hat, um als Beleidigung erfahren zu werden. Was aber Gottes Liebe zu seinem Volk um jeden humanen Kredit bringt, ist ihre Ewigkeit. Die Liebe unter Menschen ist der Zeit ausgesetzt: einmal kann sie mit der Zeit erkalten – einseitig, beidseitig –, hält sie an, dann wird, ist die Stunde da, der Tod sie scheiden. Für den Menschen stehen Eros und Thanatos, glückt die Liebe, in engster Beziehung. Liebe, die sich auf Zeit, nicht auf den Tod verspricht, steht in der Freiheit des Menschen. Lösen sich nicht mehr Liebende ihre Beziehung auf, begehen sie nichts moralisch Verwerfliches. Auch die der Tod erst scheidet, handeln frei und gehorchen keinem Gesetz. Sie kosten frei die Endlichkeit ihrer Liebe aus. Die Ewigkeit der Liebe dagegen kennt keine Höhen und Tiefen, kennt vor allem nicht die Kostbarkeit der Zeit, die sich der Gewißheit der Endlichkeit der Liebe verdankt, für die der Tod einsteht. Gott als Bräutigam 19 , als Vater 20 – mögen Gläubige diese Bilder, die sie nicht weiter hinterfragen, auch noch so beglücken, weil sie das Gefühl von Zuwendung und Geborgenheit vermitteln, so mißbrauchen sie doch die Zweiheit von Mann und Frau. Die prophetisch in Anspruch genommene Zweiheit von Volksgott und Gottesvolk ist keine. Das Volk, ob gläubig oder abtrünnig, ist zu einem Rührungsfaktor geschrumpft, dazu da, den Gott seine abgründige Gerechtigkeit ausspielen zu lassen. Die Erdichtung utopischer menschlicher Verhältnisse versieht sich nur allzu leicht am Menschenerträglichen und -förderlichen. Die Entzeitlichung des Verhältnisses entmündigt das Volk voll19 20
Im Neuen Testament: Offenbarung 21,9; 22,17. Hosea 11,1; vgl. Jesaja 9,5; Ezechiel 16,6.
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ends. Mit ihrem »auf ewig« (eis ton aiôna) verspricht die als größtmögliche vermeinte Treuezusage mehr, als dem Menschen guttun kann. Bezieht Gott das Volk in seine Entrückung ins Zeitlose ein, dann hat er auch schon das Finale für es eingeläutet: Es hat keine Geschichte mehr, womit auch das Leben eines Volkes beendet ist. Das überschwängliche Gnadengeschehen nimmt dem Volk jedes eigene Recht, jede Selbsthaftigkeit und Gestaltungskraft. Was hier zu viel ist und zu weit geht, ist der Vorgriff auf das messianische Reich, in dem der Mensch nicht mehr Mensch ist, sondern bis zur Reglosigkeit den Willen Gottes widerspiegelt. Ist es einmal so weit, daß der Wolf beim Lamm Zuflucht findet, der Panther beim Böcklein lagert, ein kleiner Junge Kalb, Stier und Löwe gemeinsam auf die Weide führt 21 , dann ist das nicht nur ein Bild für das Ende der Geschichte des Gottesvolks und des Menschen, sondern auch für das Ende aller leibhaftigen Lebendigkeit. Die Erdichtung eines Gottes, der sich durch die Übermacht seiner Liebe Eins macht mit seinem Volk, basiert auf Todesphantasien, auf Vorstellungen von Un-Leben als dem ganz anderen Leben. Der Ausgriff auf letzte Gerechtigkeit und ewigen Frieden ist für den Menschen ein Griff zu weit.
V. Der Volksgott achtet auf die Differenz, die zwischen ihm und seinem Volk besteht, hält zu ihm, bei all seiner Gnade, Distanz. Seine Formel lautet: »Deswegen bin ich Gott und nicht Mensch« (dioti theos egô eimi kai ouk anthrôpos). 22 Das auf Distanz gehaltene Volk ist der auf Distanz gehaltene Mensch. Damit ist der Grund gelegt, daß eine bündische Partnerschaft mit Gott jede menschliche Wirklichkeit und Möglichkeit unendlich übertreffen muss. Wie in vorauseilendem Gehorsam kommt religiöse 21 22
Jesaja 11,6. Hosea 11,9.
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Die Einheit von Volksgott und Gottesvolk: Hosea
Poesie der Sorge Gottes entgegen, dem Menschen die Möglichkeit zu nehmen, ihm vollends gleich zu werden. »Wie einer von uns« ist er schon geworden 23 : Er teilt mit uns bereits das entscheidende Wissen. Das ist nicht das Wissen, was kommt, sondern das Wissen, welches Tun gut und welches böse ist. Damit er nicht auch noch ewig lebt und vollends Gott gleich wird, kann dieser aus Differenzsicherungsgründen gar nicht anders, als ihm den Zugang zum Baum des Lebens unmöglich zu machen. Doch das reicht nicht aus, um eine plausible Zweiheit zu garantieren, was religiöser Poesie und Theologie systembedingt auch nie gelingen wird. Um nicht durch Nähe und Gleichheit mit dem Menschen gemein zu werden, erzwingt die Idee von Gott als des signifikanten Nichtmenschen, ihn ins Absolute zu entrükken und das heißt auf absolute Distanz zu halten, was allem zuvor die Distanz zu dem bedeutet, was verständlich und begreifbar ist. Hätte Anselm von Canterbury als Gläubiger nicht den aussichtslosen Denk- und Vernunftweg zu Gott gesucht, sondern den des Glaubens, dann wäre er womöglich zu der Einsicht gelangt: »Gott ist das Größte, das geglaubt werden kann, und er ist größer, als daß er geglaubt werden könnte.« Die Fähigkeit des Menschen, es durch Glauben einem signifikanten Nicht-Menschen verdanken zu können, daß alles für sein Leben, Lieben und Sterben Relevante im Höchsten und Letzten gut war, ist und sein wird, verwandelt Unmögliches in Mögliches: Schlimmes und Schlechtes, schlimm und schlecht, wie es ist, wird zu Gutem. Religiöses Glauben ist in sich ein Transzendenzgeschehen. Der Überstieg erfolgt vom Unmöglichen ins Mögliche. Um das zu vermögen, wandelt sich der Glaube von einem hinnehmenden in einen schöpferischen. Er wird verantwortlich für das Geglaubte. Dazu braucht der Glaube die absolute Ferne Gottes, die ihn zu einem schlechtweg verborgenen macht, zu einem, dessen Gut- und Gerechtsein vollkommen unbegreiflich ist. Je mehr 23
1. Mose 3,22.
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Die Einheit von Volksgott und Gottesvolk: Hosea
aber der Glaube den unnahbaren, ganz Anderen erschafft, umso mehr nähert er sich ihm, um mit ihm Eins zu werden bzw. des Immer-schon-Eins-Seins mit ihm innezuwerden. Akte des Glaubens wie die Anrufung Gottes, die, wenn auch ritualisiert, »mit ganzem Herzen« (en hôle kardia, kardia teleia) 24 vollzogen werden, sind Momente der Innigkeit, was nur besagen kann, der Einheit des Glaubenden mit dem Geglaubten. 25 Es sind gerade die Absolutsetzungen Gottes, die unmöglich an der Einsicht vorbeiführen, daß Gott nicht vom Gottesglauben zu trennen ist. Eine Zweiheit vergleichbar der von Mann und Frau ist bei Gott und Mensch nicht gegeben, auch wenn der geglaubte Zürnende und Gnädige seinen Ort im Himmel hat, das treue oder untreue Volk den seinen auf der Erde. Der geglaubte Gott ist an sich selbst die Rechtfertigung Gottes. Der Glaube braucht keine von Philosophen und Theologen ausgetüftelte Theodizee. Der Glaube ist sie selbst. Braucht ein religiöser Glaube angesichts der Dinge, die dem Menschen auf der Erde widerfahren, eine Theodizee, dann hat der Glaube seine Kraft und damit sich selbst verloren. Er schafft nicht mehr das Transzendieren vom Unmöglichen ins Mögliche. Das ist kein menschliches Fehlverhalten, sondern ein Zeichen der Menschlichkeit seines Glaubens.
U. a. 1. Samuel 12,24; 1. Könige 8,61. Die Einheit von Glauben und Geglaubtem ist vergleichbar der Einheit von Denken und Zudenkendem, wie Aristoteles sie ausführt. Metaphysik Lamda 7, 1072b2.
24 25
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11. Die Zweiheit von Tag und Nacht
I. Tag ist es von Aufgang bis zum Untergang der Sonne, Nacht vom Untergang der Sonne bis zu ihrem Aufgang. Tag, das ist das Licht der Erdsonne, Nacht, das ist der Schatten der Erde. Das Licht der Sonne durchdringt nicht die Erde, scheint auch nicht rundherum um sie. Der Philosoph Anaxagoras (um 499– 427 v. Chr.) gebraucht das Wort periphôtezein, wörtlich: umlichten. 1 Das tut sie nur nach und nach. Alle Wesen, die mit einem Gespür für Licht und Dunkel den Planet Erde bewohnen, machen die Erfahrung eines fortwährenden Wechsels, den der Mensch als den von Tag und Nacht, Nacht und Tag benannt hat. Folgt dem Licht das Dunkel, dem Dunkel das Licht, so folgen einander Zeiten. Immer wieder ist es eine Zeitlang Tag und, darauf folgend, eine Zeitlang Nacht, entsprechend eine Zeitlang Nacht und, darauf folgend, eine Zeitlang Tag. Ist es Nacht, dann ist der Tag vergangen; ist es wieder Tag, dann die Nacht. Zeiterfahrung, die sich im Wechsel von Tag und Nacht vollzieht, ist Vergänglichkeitserfahrung, doch dies nicht allein. Da es nach jedem gelebten Tag Nacht und nach jeder überstandenen Nacht wieder Tag wird, ist die Zeit- und Vergänglichkeitserfahrung auch eine Wiederkehrerfahrung, das heißt die eines Rhythmus. Die Vergänglichkeit von Tag und Nacht ist eine Ersterfahrung der Vergänglichkeit gelebten Lebens und damit eine Vorerfahrung der Vergänglichkeit des Lebendigseins. Im Rhythmus Aristoteles, Meteorologica A 8, 345a25. In den Fragmenten der Vorsokratiker (trad./ed. Hermann Diels/Walther Kranz): Anaxagoras A.80, Bd. 2, Berlin 1952, S. 25.
1
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
von Tag und Nacht wirkt bereits der Rhythmus von Entstehen und Vergehen, Vergehen und Entstehen, was für das Lebendige besagt: der Rhythmus von Geburt und Tod, Tod und Geburt. Belehrt Wissenschaft den Menschen nicht eines Anderen, dann wird er sich den einen wie den anderen Rhythmus als ewig denken: »Tod und Leben ist Schicksal; daß es ewig ist wie Tag und Nacht, liegt in der Natur begründet; daß es Grenzen gibt für den Menschen, die er nicht überschreiten kann, beruht auf den allgemeinen Verhältnissen, in denen die Geschöpfe sich befinden.« 2
In anderer Übersetzung: »Leben und Tod sind vorbestimmt. Ihr ständiges Wechselspiel, wie das von Tag und Nacht, ist abhängig vom Himmel. Worauf die Menschen keinen Einfluß haben, das sind die Eigenschaften der Dinge.« 3
Damit ist die Vergänglichkeit für ewig geklärt: Der immerwährende rhythmische Wechsel, der nichts ruhen und bestehen läßt, gibt der Ewigkeit (ho aiôn) die Gestalt eines Kreises, der sein nicht endendes Kreisen der in ihm wirkenden Zweiheit verdankt. Das ewige Einander hat statt: Nie steht es sich gegenüber, nie ist es vereint zu einem Einen, sondern stets folgt das Eine dem Anderen so, daß es weder zu einem Einen werden noch ein Drittes und Viertes aus sich entlassen kann. Der immerwährende Wechsel, der vorführt, daß nichts von dem, was seine Zeit hat, ewig währt, ist das Urbild des Tröstlichen. Daß es für den Lebenden nicht ewig Tag und nicht ewig Nacht ist, schlägt sich nieder in dem Tröstlichen, daß die große, unzählbare Zeit 4 ihre Zeiten und mit ihnen das An-der-ZeitSein des Einen im Wechsel mit dem Andren hat, nichts aber, Zhuangzi (Richard Wilhelm) VI,1. S. 97. Zhuangzi (Stephan Schuhmacher) VI.2. S. 94. 4 Sophokles, Aias 646. Dort heißt es von der so bestimmten Zeit (in Ödipus auf Kolonos 609 die allmächtige genannt) sinngemäß, daß sie nichts für immer im Dunkeln beläßt, nichts für immer im Licht. 2 3
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
das ewig bleibt. Im Buch Prediger (3. Jahrh. v. Chr.) werden die menschlichen Dinge aufgeführt, die ihre bestimmte Zeit (kairos) haben: Pflanzen und Ernten, Niederreißen und Bauen, Weinen und Lachen. 5 Wie immer man sich am Gedanken der Ewigkeit versucht oder gar daran, ihr etwas für den Menschen Brauchbares abzugewinnen – nie kann in ihr etwas an der Zeit sein. Das hat seinen ersten Grund darin, daß Denkversuche zur Ewigkeit prinzipiell dem Einheitsdenken zugehören. Die etwas andere »Bergpredigt«, wie sie das Lukasevangelium überliefert, läßt die ewig Unseligen ewig weinen, die ewig Seligen ewig lachen. 6 Obwohl Ewiges und nichts Zeitliches gemeint ist, stellt sich wegen dessen Unvorstellbarkeit die Vorstellung eines Dauerweinens und Dauerlachens ein. Was sollte daran für den Lebenserfahrenen schon Verlockendes sein? Das Zusammenspiel von Sonne und Erde, das den Tag in die Nacht und die Nacht in den Tag wechseln läßt, ist als der Zufall, der es ist, ein Glücksfall. Zu keinem Zeitpunkt kann die Sonne die Erde, die, in leichter Abirrung durch die Nutation, um sich selbst kreist, im Ganzen um-lichten. Die Zweiheit von Tag und Nacht ist unhintergehbar. Der Glücksfall besteht nun darin, daß die Zweiheit von Tag und Nacht äußerst glücklich (auch der Mensch, als Produkt der Evolution ein Zufall, ein Glücksfall) einer Zweiheit von Grundweisen der Conditio humana entspricht: dem Wachen und Schlafen. Um das so zu sehen, muß die Entsprechung keine exakte sein. Den ganzen Tag wachen, die ganze Nacht schlafen – nein, der Mensch kann auch anders. Entsprechen tut sich hier nur, und dies aufs genauste, daß beim Schlafenden die Augen dunkel werden, beim Wachenden licht, so daß das Dunkel der Nacht dem Schlafenden ganz von selbst eine besondere Chance einräumt, wie dem Wachenden das Licht des Tags. Prediger 3,1 ff. Lukas 6,21. 25. Wörtlich heißt es: »Die ihr jetzt weint, werdet lachen. […] Die ihr jetzt lacht, werdet weinen«. Doch das Lachen im Himmel ist ebenso wie das Weinen in der Hölle keinem Ende ausgesetzt.
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
II. Die Nacht, so sagt es der Götter- und Titanendichter Hesiod (um 700 v. Chr.), gebiert unter anderem den Tod, den Schlaf und die Träume. 7 Daß Tod und Schlaf etwas je Eigenes sind, weiß schon der Götter- und Heldendichter der Ilias, der von beiden als Zwillingsbrüdern spricht. 8 Der Schlaf als leiblicher (kasignêtos) Bruder des Todes 9 ist der süß schmeckende, erquickende (hêdymos) Schlaf, also genau kein Todesschlaf. Der ist im Mythos eine Metapher für Tod, die der Dichter eigens kenntlich macht. So ist der eherne (chalkeos) 10 Schlaf der dem Lebensrhythmus entzogene dauerhafte, der eigentlich kein Schlaf, sondern eben der Tod ist. Der Mythos zeichnet den Schlaf als von düsterer Herkunft. Licht wird gegen Finsternis ausgespielt, Tag gegen Nacht, Wachen gegen Schlafen. Damit kommt er Philosophen entgegen, die den eigentlichen Menschen im geistig Wachen und Tätigen erkennen. Der Schlafende ist dann nicht mehr wert als einer, der nicht mehr lebt. 11 Da es aber Träume nicht allein im Schlafe, sondern auch im Wachen gibt, ist der Lebende kein beliebig Wachender. Haben Tagträumer nur Meinungen, dann der wahrhaft Wachende als einziger Einsichten. Zu leben heißt für ihn zu denken. 12 Ist der Mensch bei Philosophen wie Platon und Aristoteles seinem Wesen nach Vernunft, dann kann für sie nur ein wacher Mensch wirklich Mensch sein. Schlaf und Tod gehören gleicherweise nicht mehr zum Menschen. Tätige Vernunft ist Sache des Wachenden und Lebenden, weswegen es der Vernunftmensch dem erdachten Vernunftgott nach Möglichkeit gleichtun muß:
Hesiod, Theogonie 212. Ilias 16, 672. 682. 9 Ilias 14, 231. 10 Ilias 11, 241. 11 Platon, Nomoi VII 808bc. 12 Platon, Politeia V 476bd. 7 8
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
Er muß sich um Todlosigkeit (athanatizein) bemühen. 13 Sieht der Philosoph den Wesensweg des Menschen als den aus der Höhle des Lebens in das Licht des Geistes 14, dann wird mit dem Schlaf auch die Nacht, weil nicht zum Wesen des Menschen gehörig, verworfen. Das Leben, das leibhaft gelebt wird, hat, ohne Einsicht (gnôsis), im Dunkeln statt. Die Ineinssetzung von Leben und geistig Wachsein hebt die Zweiheit von Wachendem und Schlafendem auf, damit auch die von Tag und Nacht. Es gibt keinen Rhythmus mehr, sondern nur noch das Eine: das lichte Leben des Geistes. Wird die Fokussierung auf die Strahlkraft des Lichts absolut, dann hat Philosophieren sich einer Vision ausgeliefert, die es blind macht für menschliches Leben, Lieben und Sterben. Man begeistert sich an Platons Höhlengleichnis und überhört das fabula docet der Ikaroserzählung. 15 Die Zweiheit von Erdentag und Erdennacht ist unabdingbar für das Humanum, weil der Mensch unter den Bedingungen seiner Zugehörigkeit zur Erde so geworden ist, wie er ist. Einem Einheitsdenker wie Heidegger, der alles auf den einen Gedanken setzt, der für ihn der Gedanke des Seins ist, und damit auf die eine Existenzform: die geistige, müssen Zeiten, die, in rhythmischer Folge, im Wechsel sind, einer Zeit zugehören, die nur die uneigentliche sein kann. In Sein und Zeit heißt sie durchgängig die »vulgäre«. Die eigentliche Zeit, das ist die des Seins, ist der ekstatische Augenblick: die Einheit der geistigen Existenz mit dem Sein. Wie die Lichtmetaphysik bedient er sich zur Darstellung seiner Gedanken des »Lichts« und des »Dunkels«, die jetzt als Wörter der Seinsphilosophie ihre eigentliche Bedeutung repräsentieren und somit genau nicht als Metaphern gemeint sind. Ist es in Platons Höhle als dem Ort des lebendigen Menschen dunkel, dann in Heideggers seinslosen Welt, als dem 13 14 15
Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7, 1177b33–1178a8. Platon, Politeia VII 514a–516b. Ovid, Metamorphosen 8,183 ff.
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
Ort des gemeinschaftlich und gesellschaftlich lebenden Menschen, düster: »Die Verdüsterung der Welt erreicht nie das Licht des Seyns.« 16
Ist aber das Licht der geistigen Existenz nicht die Erdensonne, sondern das Licht des Seins, dann ist auch die Düsternis nichts, was eine Erdennacht hervorbringen kann. Nein, das ist die Nacht des Seins, die er das »eigentliche Dunkel« nennt. 17 Dieses aber ist, sobald der seinsphilosophische Zugriff ihm »entwacht«, das meint durch Aufklärung seines Seinscharakters entkommt, nichts, das mit dem Licht des Seins eine Zweiheit bildet. Das eigentliche Dunkel als Seinsgedanke ist der Gedanke der »Seinsvergessenheit«, für Heidegger im Vorfeld von Sein und Zeit das Initial, alles auf das EINE zu setzen: das SEIN.
III. Lichtmetaphysik, welche Version es auch sei, wirft Licht auf geistig Verwegenes, das den Menschen verdunkelt, der wir sind. Der Mythos ist mit seinem aufklärerischen Potential, was uns anbelangt, ungleich einsichtiger verfahren. Das Chaos, der aufklaffende leere Raum, so erzählt es Hesiod, ist der Anfang von Allem. 18 Es ist »wahrlich als Allererstes entstanden« – ein erstes Entstehen, ohne jedes Aus-Etwas. Dieses Erstentstandene zeigt nichts, was eine Gestalt, nichts, was einen Gehalt hätte. Das ist der Zweitgenese vorbehalten, die die mythische Selbstauslegung des Menschen bereits in ihren kosmischen Ursprüngen als von einzigartiger Einsicht geleitet zeigt. Für das Entstehen aus Etwas kommt Zweigeschlechtlichkeit ins Spiel – die höchstentwickelte
Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, S. 7. Martin Heidegger, Anmerkungen I–V (Schwarze Hefte 1942–1948) GA Bd. 97, S. 287. 18 Hesiod, Theogonie 116–125. 16 17
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
Form des Lebens. Das ist poetische Treffsicherheit im Erhellen unseres Von-wo-her. Kein Schöpfer, kein Demiurg wird bemüht. Das Chaos, der klaffende Abgrund, genügt als Stätte, um aus sich ein erstes, zum Zeugen und Gebären taugliches Paar hervorgehen zu lassen: den Erebos als den männlichen Part, der die Finsternis des Totenreichs verkörpert, und die schwarze Nacht als den weiblichen Part. Schwanger, weil in Liebe mit Erebos vereint, gebiert sie Äther (Himmelluftraum) und Tag. Die Nacht trägt den Samen der Finsternis aus und gebiert den Tag mit seiner hohen, lichten Räumlichkeit. Das ist erhellender Mythos, ist dichterische Selbstauslegung des Menschen als Aufklärung. Der große Tag hat seinen Ursprung in der großen Nacht als die reife Frucht der Finsternis, nicht aber hat die schwarze Nacht ihren Ursprung im lichten Tag. Gibt es nicht mehr Nacht allein, sondern Nacht und Tag, so sind sie für die Erdenbewohner allein im Wechsel, nie aber zugleich gegeben. Niemals gehen beide zusammen über die Erde, stets geht das Eine, so faßt es Hesiod ins Bild, zur Erde zurück, während das Andere von ihr aufbricht – wohin?, in das Haus der Nacht! Es gibt kein Haus des Tages, sondern allein das der Nacht, das so heißt, obgleich doch die Nacht es ganz dem Tag überläßt, solange es Nacht ist. Nachts ja ist es, daß die Nacht ihr Haus verläßt und auf die Erde zurückkehrt. Ob es Tag oder Nacht ist, zu keiner Zeit bewohnen beide das Haus der Nacht gemeinsam. Der Tag- und Nachtwechsel wird räumlich gedeutet: als Wechsel der Hausbewohnung. Entstammt, in poetischer Genealogie, der Tag der Nacht, dann fragt es sich, ob der Tag nicht doch etwas vom Nächtlichen mitbekommen hat. Nein, selbst wenn Hesiod Nacht und Tag sich näherkommen und einander ansprechen (prosagoreuein) läßt, so teilen sie sich doch nicht auf eine Weise einander mit, daß sie zu Hybridwesen würden. Auch wenn das Nicht-mehrNacht und Noch-nicht-Tag der Morgendämmerung als von eigener Dramatik erfahren werden kann, entsprechend die
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
Abenddämmerung 19 , so wird doch aus der Nacht kein Stück Tag wie auch aus dem Tag kein Stück Nacht. Entsprechend mußte Marcel Prousts Versuch scheitern, den Augenblick des Einschlafens wach zu erleben. Kein Schlafen ist ein Wachen, kein Wachen ein Schlafen. Der unmittelbare Übergang von Nacht zu Tag und von Tag zu Nacht in der Wüste demonstriert überzeugend die Ungefährdetheit der Zweiheit von Tag und Nacht.
IV. Auch die Genesis läßt das Dunkel dem Licht vorhergehen: »Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war unsichtbar und formlos, und Dunkel war über dem Abgrund.« 20 Das Verhältnis von Himmel und Erde beginnt im Dunkeln. Der Himmel ist geschaffen, aber noch ohne leuchtende Gestirne. Bloß das Firmament ist da, der feste Himmelsbogen. Am Anfang war es dunkel: Kein Dunkel war geschaffen, es war nur einfach nichts zu sehen von Himmel und Erde. »Und Gott sagte ›Es entstehe Licht!‹, und es entstand Licht«. Anders als der Himmel und die Erde wird Licht nicht gleich einem Machwerk geschaffen, sondern kraft des Wortes zum Entstehen gebracht. Jetzt sind Licht und Dunkel gegeben. Gott betrachtet das Licht für sich und heißt es gut. 21 Er vereint es nicht mit dem Dunkel, sondern scheidet beides ausdrücklich. Das Licht nennt er Tag, das Dunkel Nacht. »Und es wurde Abend und es wurde Morgen, Tag eins.« Der Gott der Genesis zählt das Ganze von Tagen und Nächten nicht nach Nächten, sondern nach Tagen. Der Tag eins ist einer: Er ist Tag und Nacht, Abend und Morgen. Mit Tag und In der Dichtung Eduard Mörikes kommt die Dramatik des Übergangs von der Nacht zum Tag, vom Schlaf zum Wachsein meisterhaft zur Darstellung. Siehe dazu Rainer Marten, Schatten der Erde – Schatten des Lebens, in: Communio (37. Jahrg.), Juli-August 2008, S. 388 f. 20 Hier und im folgenden eigene Übersetzung nach der Septuaginta. 21 Kalón als Bewertung der Sache, nicht des Aussehens. 19
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
Nacht kommt Bewegung in das Raumverhältnis von Himmel und Erde: die rhythmische Bewegung der Zeit. Da aber bereits der Tag eins von Gottes Schaffen und Entstehenlassen Teil menschlicher Selbstauslegung ist, hat die Genese von Raum und Zeit menschliche Lebenswelt im Blick, so daß Tag und Nacht, Abend und Morgen als Markierungen der kreisenden Zeit Zeit nicht nur als zählbare (chronos), sondern auch als bewertbare (kairos) in Betracht ziehen. So geben die Sterne, die nach des Gottes Willen am Himmel entstehen, nicht nur der Scheidung von Tag und Nacht eine besondere Gestalt, sie sind auch Zeitzeichen, wie es Festzeiten und Jahreszeiten sind. Kommt zu dem Zeitrhythmus von Tag und Nacht der Zeitrhythmus der Jahreszeiten hinzu und mit ihm der Wechsel der Länge und Kürze von Tagen und Nächten, dann erhält das, was der Rhythmus von Tag und Nacht an günstiger und ungünstiger Zeit für menschliches Verhalten entfaltet, erst Garanten, daß, auf den Tag und auf das Jahr gesehen, Zeiten ihr Besonderes haben. Macht der Gott die Sonne zum Licht, das den Tag, und den Mond zum Licht, das die Nacht beherrscht, dann heben die Lichter der Nacht (Mond und Sterne) die Scheidung von Tag und Nacht nicht nur nicht auf, sondern stärken sie. Noch klarer als die Dunkelheit zeigen Mond- und Sternenlicht an, daß es Nacht ist, und nicht Tag. 22 Das ist auch in Bildern zu sehen, wenn Künstler Licht und Dunkel nicht an Tagbildern vorführen, sondern eigens »Licht in der Nacht« malen. 23 Wie in Bildern von Caravaggio, Elsheimer, Georges de la Tour und El Greco zu sehen, erscheint dann das Licht als ein geistig-geistliches, das nicht, den umtriebigen Städten vergleichbar, die Nacht zum Theologie sieht hier eine Verbindung der Ewigkeit mit der Zeit: Zeit als gute Gabe Gottes. Die kalendarischen und kultischen Zeiten der Schöpfung sind als für die Gestaltung des Lebens bedeutungsvolle Zeit anzusehen. Siehe Reinhard Feldmeier/Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen, Tübingen 2011, S. 407 f. 23 Siehe Willibald Sauerländer, Der Kreter in Toledo, in: Süddeutsche Zeitung vom 7. April 2014. 22
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
Tage macht, sondern die Erhabenheit, auch Unheimlichkeit der Nacht intensiviert zum Ausdruck bringt.
V. Hesiod hat nicht nur beobachtet, daß Tag und Nacht einander abwechseln (im Haus der Nacht bzw. im Gang auf der Erde), sondern auch, daß Länge und Kürze der Tage und Nächte wechseln. Sternzeichen zeigen die Jahreszeiten an. Das hat zur Folge, daß sich für Ochs und Mensch die täglichen und nächtlichen Herausforderungen für die Lebensbewältigung ändern. Es gibt schwere und, als Höhepunkt des Winters, eine schwerste Zeit. 24 Für Heraklit ist das Grund zur Kritik. Hesiod verkenne, daß das Wesen (physis) eines jeden Tages ein und dasselbe ist. 25 Das ist die typische Verhaltensweise der Wesensphilosophie gegenüber lebenspraktischen Belangen. In diesem Falle akzeptiert sie nicht, daß Hesiod nicht nur die Bedeutung der Zweiheit von Tag und Nacht für die Rhythmizität der gelebten Zeit herausstellt, sondern auch die der Mannigfaltigkeit der Tage und Nächte durch die Unterschiedenheit ihrer lebenspraktischen Qualität. Für das Wesensdenken ist entscheidend, daß Tag und Nacht allein aus dem Wechselrhythmus ihres Eines-nach-dem-Anderen ihren Eigenwert gewinnen, nicht aber aus dem, was in ihnen geschieht. Hesiod gebraucht für den Ausdruck »lange Nächte« den Euphemismus für Nacht: »freundliche Zeit« (makrai euphronai). 26 Diesen Euphemismus gebraucht auch Heraklit, wenn er ein weiteres Mal Hesiod kritisiert, weil er nicht erkannt habe, daß Tag und Nacht eins sind. 27 Der Tag ist eines Wesens, und dies alle 24 25 26 27
Hesiod, Werke und Tage, 557. Heraklit, Fragment B 106. Hesiod, Werke und Tage, 561. Heraklit, Fragment B 57.
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
Tage – das ist die erste Einheit, die das Nachdenken über den Tag entdeckt, und nun die zweite: Tag und Nacht sind eins. Jetzt ist nicht die Einheit des Wesens gemeint. Versteht sich das Wesen des Tages aus dem Licht, das Wesen der Nacht aus dem Dunkel, dann sind Tag und Nacht evidenterweise nicht eines Wesens. Statt der Einheit des Wesens steht die Einheit der Zweiheit im Blick, die unauflösliche Verbundenheit von Tag und Nacht, der unausgesetzte Prozeß ihres Auseinanderhervorgehens. Das Umschlagen (metapiptein) ist das Wort für die Dynamik der Ein- und Selbigkeit einer rhythmisch geschlossenen Zweiheit. 28 Heraklit zeigt an drei geschlossenen Zweiheiten das den Lebensrhythmus kennzeichnende Umschlagen auf, das ein doppeltes, weil in sich kreisendes ist: Lebendes schlägt in Totes und Totes wieder in Lebendes um, Wachendes in Schlafendes und Schlafendes wieder in Wachendes, Junges in Altes und Altes wieder in Junges. Die Selbigkeit (tauto) und damit Einheit der je Zwei vollzieht sich im Umschlagen: Umschlagend ist dieses (Lebendes) jenes (Totes) und jenes (Totes) umschlagend dieses (Lebendes). Damit ist auch erklärt, inwiefern Tag und Nacht eins (hen) sind: Umschlagend ist der Tag Nacht, umschlagend ist die Nacht Tag. Läßt Heraklit schon nicht gelten, daß, jahreszeitlich bedingt, die Tage und Nächte das Leben höchst ungleich erschweren und erleichtern, was hätte er dann erst dazu gesagt, daß der Mensch ein und dieselbe Naturnacht nicht ein und dieselbe Nacht sein läßt? Ja, es ist in der Tat der Mensch, der die aus dem Zusammenspiel von Sonne und Erde garantierte Zweiheit von Tag und Nacht um des Humanum willen als eine durch sein Leben gelebte überhöht.
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Heraklit, Fragment B 88.
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
VI. Wird im Einheitsdenken von Daoismus und Hinduismus der Mensch auf den Weg gebracht, Leben und Welt zu überwinden, und predigen Philosophien und Religionen, die sich im Nahen Osten und in Europa entwickelt haben, mit ihrer Idee von geistiger Existenz, ob im Diesseits oder Jenseits, nicht weniger eine Abkehr von Leib und Leben, dann kehrt mit der rhythmisch geschlossenen Zweiheit voll das Leben zurück, das Leben und der Tod, der Tag und die Nacht des Menschen. Seit der Mensch selbst über Licht verfügt, und das reicht in die vorgeschichtliche Zeit zurück, hat er in die natürliche Folge von Tag und Nacht gestalterisch eingegriffen. Feuerlicht und elektrisches Licht geben ihm die Möglichkeit, den »Tag« zu verlängern, ja die Nacht zum »Tage« zu machen. Doch das ist metaphorische Rede. Die Nacht bleibt Nacht. Das ist ja das Bedeutsame, daß sie durch und für den Menschen zwei Zeiten erhält: die Zeit der Geselligkeit und die Zeit des Schlafes. Daß Tag und Nacht Zwei sind, wird durch die Zeitenteilung der Nacht noch einmal bestärkt. Nicht nur Wachen und Schlafen sekundieren die Zweiheit, sondern nicht weniger der lichte Tag und die lichte Nacht. Sagt Heraklit, daß die Welt der Wachenden die eine und gemeinsame ist, 29 dann fehlt die Unterscheidung der am Tag und der in der Nacht Wachenden. Ist die Wachheit des Tages durch die Subsistenzsorge geprägt, dann ist die der Nacht von dieser Sorge befreit. Die wache Zeit der Nacht vor der des Schlafs gibt dem Menschen eine Freiheit, die fruchtbarer für lebensteiliges Gelingen nicht sein könnte. Es ist die Freiheit zu einem Tun, das keinen anderen Zweck hat als sich selbst. Die Wachzeit des Tages ist die Zeit des um sich besorgten Lebens, die der Nacht die des in sich erfüllten Lebens. Der Zweiheit von lichtem Tag und lich-
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Heraklit, Fragment B 89.
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
ter Nacht entspricht die Zweiheit der Lebenswelt: die Welt des Wirklichen und die des Mehr-als-Wirklichen. Läßt sich heute bei Buschmännern noch das Leben von Jägern und Sammlern studieren, die bei hellem Licht eines Feuers den Wachteil der Nacht gemeinsam verbringen, 30 dann zeigt das sprachliche Verhalten eine erstaunliche Zweiheit. Dient die Unterhaltung der am Tag Wachen zu mehr als achtzig Prozent den ökonomischen und rechtlichen Problemen des um sich besorgten Lebens, mit einer Beigabe von Spaß und Lästerung, dann die der in der Nacht Wachen zu mehr als achtzig Prozent der Erzählung von Geschichten. Der Umgang miteinander am Tag ist eher nüchtern und auf Effizienz bedacht, der in der Nacht ist eher emotional und zielt auf Tränen und Lachen, auf Mitphantasieren. Der Mensch braucht im Rhythmus der Zeiten beides. Die knappe Zeit des wachen Tages und die weite Zeit der wachen Nacht, die Zeit der angespannten und die der entspannt-entspannenden Tätigkeiten. Wachsein heißt Tätigsein – angefangen mit Wahrnehmen und Denken. Sind bei den südafrikanischen Buschmännern mit anbrechender Dunkelheit und dem entzündeten Feuer alle Subsistenzaktivitäten eingestellt und beginnen die sozialen Aktivitäten, dann nimmt die Lebensenergie eher noch zu als ab. 31 Miteinander Singen und Tanzen, einander Zuhören, sich verstehend auf den Anderen einlassen – das alles sind Tätigkeiten, die den Menschen über das, was er am wachen Tag ist, hinausgehen lassen: Er wird zum Schaffenden einer Welt, die er nicht weniger braucht als die Welt der Subsistenzmittelproduktion. Es ist eine eigene Welt mentaler, emotionaler und körperlicher Bewegtheit. Gesteigertes gemeinsames Leben
Polly W. Wiessner, Embers of society: Firelight talk among the Ju/’hoansi Bushmen, hg. von Robert Whallon, University of Michigan, Ann Arbor, PNAS Early Edition, August 2014. 31 Physiologisch wird als Grund für eine Energiezufuhr bei hellem Feuer die durch es verursachte Verhinderung der Produktion von Melantonin angeführt. 30
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Die Zweiheit von Tag und Nacht
findet seinen Ausdruck in einer gesteigerten gemeinsamen Wirklichkeit. Wie Wildbeuter in vorgeschichtlicher Zeit den wachen Teil der Nacht leben und gestalten, wird sie zum Ursprung menschlicher Kultur.
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12. Die Zweiheit von Leben und Tod
I. Gibt es durch die Verbindung von Tag und Nacht für den Menschen Tages- und Nachtzeiten, so durch die Verbindung von Leben und Tod die Lebenszeit. Der Mensch wacht auf, tut sein Tagwerk, wird gesellig, schläft ein und wacht wieder auf – das ist der zeitliche Rhythmus des Lebens im Kleinen. Der Mensch kommt ins Leben, lebt, stirbt und kommt nicht wieder zum Leben – das ist der zeitliche Rhythmus des Lebens im Großen. Wie Tag und Nacht einander bedingen, so auch Leben und Tod. Den Tod findet nur ein Lebender. Es gibt kein menschliches Leben, das nicht tödlich wäre. Menschenzeit, ob alltägliche und allnächtliche oder Lebenszeit, ist endliche Zeit. Der kleine und der große zeitliche Rhythmus – das ist die ganze Zeitlichkeit des Menschen. Wie Leben sich zu menschlichem Leben entwickelt hat, das wir leben, versteht sich der Mensch darauf, den Tag und die Nacht zu brauchen, das Leben und den Tod. Wir sprechen vom eigenen Leben und vom eigenen Tod. Eigentum, das appellativ mit einem Mein auftritt, versteht sich immer schon aus einem Dein. Gelebtes Eigentum, wie es eigenes Leben und eigener Tod sind, zeigt Grenzen an, die verbindend, nicht trennend sind. Das Eigensein von Leben und Tod zeigt Intimitäten an: Mein Leben ist mir das nächste. Das sagt jetzt nicht, daß es mir näher als jedes andere ist, sondern daß es mir ein ungreifbares, unkonfrontierbares Nächstes ist: ein Intimus. Gleiches gilt vom eigenen Tod, der mir der nächste ist: ein Intimus, zu dem ich keine Distanz gewinne, weil er meinem Leben unmittelbar zugehört. Lebe ich, dann lebe ich mein Leben. Genauso gilt: Lebe ich, dann lebe ich meinen Tod. Es läßt sich den179 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Die Zweiheit von Leben und Tod
ken, daß beide Intimi miteinander kommunizieren: Das Leben versteht sich mit dem ihm eingeborenen Tod, der Tod mit dem Leben, dem er eingeboren ist. Doch Leben und Tod sind für den Menschen, der sein Leben zu führen versteht, nicht nur ungreifbare Intimi. Was ihm da unmittelbar eigen ist, ist ihm auch eigen als das, was er sich angeeignet hat: Er versteht sich auf die Lebendigkeit und Tödlichkeit seines einzigen und endlichen Lebens. Wer sich darauf versteht, sein eigenes Leben zu brauchen, wem es zu etwas geworden ist, das er braucht und das ihn braucht, der verdankt diese Reifung der Lebensführung, die es verdient, ein Werk der Lebenskunst genannt zu werden, dem Umgang mit anderem Leben, das Anderen das eigene ist, einem Umgang, der aus der Erfahrung lebt, daß das Brauchen Anderer in ihrem Eigenen das Brauchen des eigenen Eigenen möglich, ja eben auch nötig macht. Sich selbst nötig geworden zu sein, ist das erste Ergebnis der Kunst, mit anderem Eigenen das Eigene zu teilen. Lebenskunst als Kunst der Lebensteilung spielt das eigene Eigene nicht gegen das Eigene des Anderen aus. Ganz im Gegenteil, es gewinnt aus der Wechselseitigkeit von Mein und Dein das Mein. Mein und Dein bedingen einander – vom ersten Moment an. Es ist nicht altruistisch, generös, vorteilhaft (do ut des) das Eigene mit anderem Eigenen zu teilen, weil etwas Eigenes wie das Leben ursprünglich, das heißt aus seinem Eigengewordensein, ein geteiltes ist. 1 Wer das Eigene des Lebens teilt, teilt auch das Eigene des Todes. Das liegt unumstößlich daran, daß Leben und Tod einander bedingen. Lebensteilung ist stets auch Teilung der Endlichkeit und Tödlichkeit des Lebens, was für alle die heißt, denen ihr Leben und das der Anderen, mit denen sie es teilen, nötig geworden ist, daß sie um die Kostbarkeit der Lebenszeit wissen. Das ist das tragende Zeitverständnis Siehe dazu die reichen Befunde, die der empirische Anthropologe und Afrikanist Thomas Widlok in seinem jüngsten Buch Anthropology and the Economy of Sharing (Routledge, London/New York 2017) vorlegt. Ausdrücklich bestätigt er die Übereinstimmung von empirischen Befunden und philosophischen Gedanken zur Lebensteilung.
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menschlichen Lebens: Zeit ist keine Ewigkeit (aiôn). Zeit ist keine unendliche Zeit (anarithmos chronos). Zeit ist günstige Zeit (kairos). Zeitlich gesehen, ist das Leben eine Gunst. Weil das Leben endlich ist, ist seine Zeit wie von Natur aus kostbar. Weil aber die Zeit als Gunst auch wieder je ihre Zeit hat, ist die günstige Zeit wie von Natur kurz: »Schiebt nichts hinaus, denn die günstige Zeit ist für Menschen kurz bemessen.« 2
Ohne Tag und Nacht gäbe es keine Tages- und Nachtzeiten. Ohne Tod gäbe es keine Lebenszeit. Denkt man sich einen todlosen Menschen aus, für den es keine Zeit gibt, dann müßte es für ihn bloß die leere Ewigkeit geben, das zeitlose Jetzt (nyn achronon), das stehende Jetzt (nunc stans), die Ewigkeit, in der nichts an der Zeit ist und nicht geschieht, weil Geschehen ein zeitlicher Vorgang ist. Lebensteilung ist Todesteilung: Teilung der Endlichkeit des Lebens, weil das geteilte Leben nur so die Teilung des Lebens als Kairos ist.
II. Wissenschaft und Alltag, Philosophie und Religion haben den Tod negativ besetzt. Sie wollen nicht wahrhaben, daß Leben und Tod einander bedingen, und zwar auf fruchtbare Weise. Die Nacht müßte ein Feind des Tages und der Tag ein Feind der Nacht sein, sollte der Tod ein Feind des Lebens und das Leben ein Feind des Todes sein. Wie aber Philosophen sich gegen Nacht und Schlaf positionieren, weil sie für eine Denkkraft optieren, die nach Möglichkeit so gut wie fortwährend in Tätigkeit ist, so halten es alle mit dem todfreien Leben, ohne doch durch Nachdenken und Phantasieren mit einem ewigen Leben zurechtzukommen. 2
Pindar, Pythien IV 286.
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Die Zweiheit von Leben und Tod
Ein Wissenschaftler, der sich die Frage »Was ist Leben?« stellt, erkennt Leben im bewegten, sich erhaltenden Organismus, Tod im Verfall und Zerfall des Organismus in einen unbewegten »Gleichgewichtszustand«. 3 Aus Organischem wird Anorganisches – Tod, das ist die Zerstörung des Lebens, im Endeffekt das Nicht-mehr des Lebens. Nichtwissenschaftler teilen die negative Besetzung des Todes. Leichname verdienen mehr als Mist, daß man sie wegwirft, meint Heraklit. 4 Christus wird das Wort »Laß’ Tote ihre Toten begraben!« in den Mund gelegt. 5 Einen Menschen zu begraben ist kein gutes, sondern ein totes Werk, sagt Luther dazu. Die vertikale Anthropologie hat das Wort. Stirbt ein Mensch, dann stirbt er Anderen – das kommt nicht in Betracht. Wer Sterben und Tod nicht als soziales Geschehen sieht, sondern als Vorgang an einem vereinzelten Objekt verfolgt, wird sich in der Regel dafür interessieren, ob der Tod von außen oder von innen verursacht worden ist. Hat man noch vor kurzem gelehrt, daß der Tod von innen sich der Evolution des Lebens verdanke, 6 so behauptet man heute, daß der Tod »kurz nach dem Erwachen des Lebens selbst entstanden ist«. 7 Mit der Erkenntnis, daß der Tod zum Leben gehört, eröffnet sich für den Wissenschaftler eine positive Wertung des Todes: Er dient der Weitergabe und Höherentwicklung des Lebens. Dann aber ist auch Tod nicht mehr gleich Tod. Der Genetiker, der davon ausgeht, daß wir einen Vertrag mit dem Tod geschlossen haben, 8 unterscheidet zwischen dem nötigen Tod von innen Erwin Schroedinger, Was ist Leben? Die lebendige Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, 2. Aufl., München 1951 (Orig. WHAT IS LIFE? The Physical Aspect of the Living Cell, Cambridge 1944), S. 98–104. 4 Heraklit, Fragment B 96. 5 Matthäus 8,22. 6 Bernhard Hassenstein, Evolution und Werte, in: R. J. Riedl/F. Kreuzer (Hg.), Evolution und Menschenbild, Hamburg 1983, S. 64 f. 7 Nick Lane, Leben. Verblüffende Erfindungen der Evolution, Darmstadt 2013 (Orig. Life Ascending. The Ten Great Inventions of Evolution, London 2009), S. 310 ff. 8 Nick Lane, Leben, S. 324. 3
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und dem unnötigen Tod von außen durch Krankheit (alle Krankheiten des hohen Alters seien in absehbarer Zeit heilbar). Die Verlängerung der »Gesundheitserwartung« wird zum Programm, nicht der »Lebenserwartung«. 9 Mit dem nötigen Tod hat der Genetiker die Gattung im Blick, mit dem unnötigen das Individuum. Die Teilung des endlichen Lebens in Gemeinschaft und Gesellschaft, die jeden Tod von Bedeutung sein läßt, ist seine Sache nicht. Der Blick des Evolutionstheoretikers, der ihm einen deskriptiven Zugriff auf die Entwicklung des Lebens erlaubt, ist stets retrospektiv, nie prospektiv. 10 Das schließt ihn von einer Sinngebung für menschliches Leben aus, die darüber hinausginge, im Leben den Sinn des Lebens zu sehen, genauer gesagt im Überleben der Gattung und im Lange-gesund-Leben des Individuums. Weil es den individuellen Tod gibt, dessen Eintritt sich bestenfalls verzögern läßt, bietet sich ihm die Gelegenheit, ihn für notwendig zu erklären. Das ist Teil seines durch Rückschau gewonnenen Wissens und Sicherklärenkönnens. Der Tod wird für das Leben instrumentalisiert wie auch das Leben. Sieht der Genetiker im Leben einen Wert, dann nur, weil es sich erhält und höher entwickelt. Es ist wissenschaftlicher Beobachtung wert. Zu dem ganz anderen Interesse an menschlichem Leben, wie es Mythos, Philosophie, Kunst und Religion nehmen, hat er von Berufs wegen keinen Zugang und will er auch keinen haben.
Nick Lane, Leben, S. 337. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, Heidelberg 1978, S. 9. Siehe dazu Rainer Marten, Leben und Vernunft, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 38 (1984), S. 22. Überlegungen und Prognosen von Genetikern, daß die Evolution des Lebens durch die Evolution der Vernunft abgelöst und überhöht wird (Carsten Bresch, Zwischenstufe Leben. Evolution ohne Ziel?, München 1977, S. 247–299), sind im gegebenen Zusammenhang nicht zu thematisieren.
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III. Philosophen wie Aristoteles und Ernst Bloch denken über den Tod nicht weiter nach: Sie können mit ihm nichts anfangen. Leben ist für sie Tätigkeit, bei Aristoteles allem zuvor lustbetonte Tätigkeit, 11 bei Bloch eine mit großer Hoffnung verbundene. 12 Der Tod aber tut für sie eigentlich nichts anderes, als dem ein Ende zu setzen. Warum, hört man sie fragen, sollen diese Tätigkeiten ein Ende haben? Zu was soll das Ende lustvollen Schauens und Denkens, das Ende eines hoffnungsvollen Weges vom Noch-Nicht-Sein ins Einstmals-Sein gut sein? Hier sprechen die, die eigentlich nie schlafen, die niemals aufhören wollen. Wir finden sie wieder in den Protagonisten der Lebensverlängerung, wie Hufeland, der Arzt Goethes und Schillers, mit beredtem Einsatz einer war. 13 Auf wenigstens einhundertachtzig Jahre will er die Möglichkeit des Menschen erweitert sehen, lustund hoffnungsvollen Tätigkeiten nachzugehen. Wären Philosophen und Arzt nur Kindern gleich, die nicht schlafen gehen wollen, weil das Wachsein noch etwas verspricht, könnte man darüber lächeln. Doch die Sache ist ernster. Alle drei können mit dem Tod nichts anfangen. Sie erkennen in ihm nicht den Intimus, den dem Leben Nächsten, den das Leben braucht, um im Innersten einen festen Halt zu haben. Ja sie verstehen eben nicht, daß der eigene Tod und auch der eigene Tod Anderer zum Leben gehört, nicht als Fatum von außen und oben, sondern als ein ihm einwohnender Zuspruch zu sich selbst. Zählt Aristoteles gefürchtete Übel (kaka) auf, dann beginnt er mit der Schande, um nach der Unbeliebtheit den Tod als Letztes anzuführen. 14 Der Tod ist das Gefürchtetste (phoberôtaAristoteles, Eudemische Ethik XII, 1244b1–1245b19. Metaphysik Lambda 7, 1272b18 ff. 12 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1954/57). 13 Christoph Wilhelm Hufeland, Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern (Makrobiotik), Stuttgart 1975. 14 Aristoteles, Nikomachische Ethik III 9, 1115a10 f. 11
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ton). 15 Sollten noch Zweifel bestehen, ob hier ein eigenes Leben bedacht wird, das mit seinen Emotionen rein auf sich selbst bezogen ist, dann klärt die Rede vom »am meisten des Lebens würdig sein« 16 verläßlich darüber auf, daß es um das Individuum als vollendetes solus ipse geht, um das mit sich selbst beschäftigte Selbst. Anstatt primär, wie es die Erfahrung lehrt, von der Sozialität des Lebens und des Todes auszugehen, von Sorge um das Leben und Furcht vor dem Tod, die sich auf Nächste beziehen, bleibt man beim Einzelnen. Soll es nach Aristoteles der Tugendhafte sein, der am meisten das Leben verdient und dem daher der Tod am schmerzlichsten ist, dann verliert Tugendhaftigkeit ihre Bedeutung für das Humanum: Sie macht das Individuum verdienstvoll. Im übrigen kann die Vorstellung, durch Eigenleistung das eigene Leben wertvoll zu machen, als Grundlage einer zweifelhaften Eugenik dienen, wird doch damit wertvolles von wertlosem Leben geschieden. Aristoteles macht ausdrücklich, daß der Tugendhafte um seinen eigenen Wert weiß. Es geht nicht um Anerkennung und Schätzung durch Andere. Zudem erlebt er wach den dadurch gesteigerten Schmerz, daß er ein besonders wertvolles Leben verliert. 17 Mit der Güte des Lebens wächst das Übel des Todes – für den Künstler der Lebensteilung eine reine Gedankenlosigkeit. Der Wesensphilosoph, der in der Vernunft die Wesensbestimmung des Menschen erkennt, distanziert sich ausdrücklich davon, als Mensch an Menschliches zu denken (anthrôpina phronein), wenn damit die Sterblichkeit ins Blickfeld rückt. 18 Die am Einzelnen orientierte philosophische Anthropologie läßt als Lebensperspektive unmöglich etwas anderes zu als das Immer-weiter. Dem Tugendhaften geht es nicht um eine Weiterbildung seiner Tugendhaftigkeit, für die er weitere Zeit brauchte. 15 16 17 18
Aristoteles, Nikomachische Ethik III 9, 1115a26. Aristoteles, Nikomachische Ethik III 12, 1117b12. Aristoteles, Nikomachische Ethik III 9, 1117b13. Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7, 1177b32.
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Nein, er will sich selbst auskosten in seiner Werthaftigkeit. Der Tod ist ein zu fürchtendes Übel, weil er schmerzt, ja offensichtlich kränkt. Der Gedanke des heiter philosophierenden Marc Aurel, daß es nicht auf die Länge der Lebenszeit ankomme, weil man mit dem Tod die Gegenwart verlasse, die so gut wie ohne Ausdehnung ist, hätte ihn nicht überzeugt. 19 Berichtet Herodot vom höchsten Glück, in einem Augenblick höchster Tugendhaftigkeit zu sterben, 20 dann ist das für ihn keine Möglichkeit, weil er sich auf die Sterblichkeit nicht einläßt. Er kennt nur sich selbst, wenn es um den Wert des Lebens geht, nur den Eigenwert. Darum hat er auch niemandem Platz zu machen. Die Stelle räumen zu müssen, erscheint ihm widersinnig. Seine Maxime des »Immer-weiter!« ist gleich der des »Niemals enden!«. Auch Ernst Bloch kann dem Ende des menschlichen Lebens keinen Sinn abgewinnen: »Wir leben nicht, um zu leben, sondern weil wir leben«. 21 Lebend befänden wir uns in einem »leeren Daß«, in dem freilich das »bohrende Wozu« steckte. Das führe dazu, daß es sich ins »Noch-Nicht« entwickle. Das ist das große Wort seiner »Ontologie«: das »Noch-Nicht-Sein«. Immer unterwegs, endlos unterwegs – wer wollte schon aufhören im Voranschreiten, wenn man sich einzigartig auf der richtigen Spur weiß. Messianischer Eschatologie gewogen, zog sich die Spur ins Unendliche hin. Religion, die sich der Frage nach dem Sinn des Lebens annimmt, wagt es, das endliche Leben in Frage zu stellen. So geht die jüdisch-christliche davon aus, daß der Tod nicht hätte sein müssen, ja daß der Mensch in seiner Lebendigkeit als todlos gedacht war. Tod ist Strafe, ist Zeichen der Verfehlung an Gott. Das Stoßgebet eines evangelischen Theologen im 19. JahrhunKaiser Marc Aurel, Wege zu sich selbst, gr.-dt. (ed./trad. Willy Theiler), 2., verbesserte Aufl., Zürich/München 1974, III, 9, 1 f.; IV, 48, 4; V, 24. 20 Es sind zwei Söhne, die ihre Mutter im Wagen zum Tempel der Göttin bringen und bei der Ankunft aus Erschöpfung tot umfallen. 21 Ernst Bloch, Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins, in: ders., Philosophische Grundfragen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1961, S. 11. 19
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dert, das Karl Barth zitiert, genügt, um sich diese religiöse Lebenseinstellung zu vergegenwärtigen: »Gott bewahre uns vor der Gemeinheit der Gesinnung, der es so recht ist auf Erden, die es nicht anders, nicht besser haben will«. 22 »Nicht anders« – das Leben anders haben wollen, ein anderes Leben wollen, das nicht fleischlich (erotisch) und vergänglich (tödlich), sondern geistig und unvergänglich ist. 23 Die rechte Gesinnung ist demnach die Bereitschaft des Menschen, seinem Menschsein zu entsagen. Für ein Stück religiöser poetica abscondita genommen, ist die künstlerische Kraft dieses Entwurfs geradezu ungeheuerlich: die Selbstauslegung des Menschen in dem Drama, das den Menschen aufführt, der Schuld an seinem Menschsein ist, um ein Gott-Sohn-Verhältnis wirksam werden zu lassen, das ihn von seinem Menschsein erlöst. Das Problematische dieser wirkmächtigen Poesie besteht darin, daß sie den Tod vom Leben trennt, mit dem es zusammengehört und den es braucht. Die Wirklichkeit des Menschen künstlerisch dadurch zu überhöhen, daß der Mensch, der wir sind, abgeschafft wird – diese Selbstauslegung des Menschen beschwört nicht nur die Gefahr einer nachhaltigen Entfremdung des Menschen von sich selbst herauf, sondern auch die Ausbildung einer menschenverachtenden und das ist inhumanen Gesinnung.
IV. Die einzige Antwort auf die Frage des Lebens, die der Mensch wirklich kennt, ist der Tod. Er ist es, der dem Leben das Nichtwissen um sich selbst, um sein Woher und Wohin, Warum und Wozu, zum Geschenk macht. Seine Antwort lautet: Die Frage ist Siehe Rainer Marten, Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben, 2. Aufl., Freiburg 2015, S. 62 f. 23 Römer 8. 22
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Die Zweiheit von Leben und Tod
unbeantwortbar. Der Tod macht das Leben zu einem Rätsel, wodurch der Tod zum lebensbeherrschenden Rätsel wird. Wie Leben und Tod einander bedingen, so bedingen sie sich auch in ihrer Rätselhaftigkeit. Dieses doppelte Rätsel hat sich als unerschöpfliche Quelle und höchste Herausforderung menschlichen Künstlertums erwiesen. Nicht nur Lebenskunst, alle Künste schaffen an diesem Rätsel. Gibt es auf die Lebensfrage für den Menschen keine Antwort, dann ist er als Künstler frei, ihre Unbeantwortbarkeit zu gestalten. Die Freiheit reicht so weit, im Tod nicht das Ende des Lebens, sondern die Wiederkehr, 24 ja den Durchgang zu einem höheren Leben zu sehen. 25 Doch religiöser Poesie reichte die für das Leben favorable Gestaltung des Todesgeschehens nicht. Sie nutzte ihre Freiheit auch dazu, mit dem Tod den Menschen Qualen in Aussicht zu stellen, die alle im Leben erlittenen unendlich übertreffen. 26 Menschliches Leben geht nicht von Beginn an auf den Tod zu, 27 es handle sich denn um ein Neugeborenes ohne ÜberDie Mysterien in Eleusis feiern nichts anderes als die Wiederkehr des Lebens in zeitlicher Rhythmik: Leben – Tod – Leben. Christus wird ein Wort in den Mund gelegt, daß das Leben den Tod braucht, um als neues Leben wiederzukehren (Johannes 12, 24). 25 Für Paulus ist es das mit einem geistigen Leib (sôma pneumatikon) ausgestattete ewige Leben in einem Jenseits der Erde. Angelus Silesius hat ihm mit seiner Phantasie in 1256 Versen Gestalt gegeben. Eine Kostprobe: »Er (der Herr) trinket ihnen eines zu / Mit höchstem Wunsch und Gönnen, / Daß sie sich vor dem Großgetu / Nicht gnug verwundern können. / Der Wein ist ewge Süßigkeit, / Wird aus dem lautren Bronnen / Der heiligen Dreifaltigkeit / Vom heilgen Geist gewonnen.« Angelus Silesius, Sämtliche poetische Werke Bd. 3, 3. Aufl., München 1949, S. 307 f. 26 Christus kennt nur die Alternative »für mich oder gegen mich«. Für letzteres droht er mit unlöschbarem Höllenfeuer (pyr asbeston) (Markus 9,44). Auch hierzu eine Kostprobe von Angelus Silesius aus 568 Versen (ebd., S. 250): »Von unten brennet sie die Glut / Des Feuers und der Flammen, / Auf allen Seiten schlägt die Flut / Des Pfuhls ob ihn’n zusammen. / Von oben trauft das heißt Blei / Auf ihre nackten Glieder, / Bald trennet sie ein Strahl entzwei, / Bald schlägt sie Hagel nieder.« 27 Heidegger muß das für seinen Menschen als Seinswesen anders bestimmen, da dieser nicht aufwächst, reift, Leben weitergibt und altert, sondern 24
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lebenschance. Aus seiner Perspektive ist nicht geradewegs der Blick auf den Tod freigegeben. Endet es nicht durch vorzeitigen Tod, dann beschreibt sein Verlauf einen Halbkreis: Geborenwerden, Aufwachsen, Reifen, Leben Weitergeben (Kulmination), Altern, Sterben, um nur die elementaren Lebensvorgänge zu benennen. Menschliches Leben hat nie nur eine zeitliche, sondern, mit ihr verbunden, stets auch eine lebensweltliche Ausrichtung. So geht es beim Neugeborenen nicht allein und nicht einmal vorrangig um das Aufwachsen (Zunahme von Länge und Gewicht, Entwicklung der Kräfte und Fähigkeiten), sondern, damit die Entwicklung des Selbst statthaben kann, um Anwesenheit und Abwesenheit des fürsorglichen, ihn mit Selbsthaftigkeit belehnenden Anderen, auch um die eigene Zuwendung zu ihm und Abwendung von ihm (Suchen/Annehmen der Brust, Verweigerung der Brust). Das Wissen um den Tod setzt früh ein, lange vor Reifung und Kulmination. Ein toter Vogel wird als tot wahrgenommen, die Großmutter stirbt im Zimmer nebenan – das sind Erfahrungen der ersten Lebenszeit. Sie erwecken das Wissen um die Tödlichkeit eigenen Lebens. »Muß ich sterben?« – das ist eine Frage kleiner Kinder bei schwerer Erkrankung. Das Wissen um Leben und Sterben wird früh zu einer Einheit. Einmal dominiert die Lebensgewißheit, ein andermal die Todesgewißheit. Der Mensch lebt in dieser doppelten Gewißheit, auch wenn er sie sich nicht eigens bewußt macht. Sein Leben ist, ohne ihn darum zu verdrängen, nicht auf den Tod fixiert. Das verhindert allein schon die ansteigende Lebenskurve, mehr noch der Rhythmus der Zeit, der sie nie linear werden läßt. Im wiederkehrenden
da oder nicht mehr da ist. Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 215: »Das Dasein stirbt faktisch, solange es existiert«; S. 254: »Daß das je eigene Dasein faktisch immer schon stirbt«. Heidegger übergeht die Tatsache, daß allein Lebendiges stirbt und den Tod findet. Den Menschen, der lebt, läßt er allein »ableben«. Sterben und Tod im »eigentlichen« Sinne usurpiert er für seinen Seinsmenschen.
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Die Zweiheit von Leben und Tod
Wechsel von Tag und Nacht, von Jahreszeiten und im einmaligen Wechsel der Lebenszeiten gibt er dem zu lebenden Leben seine Zeitgestalt. Nicht der Tod kommt, sondern der nächste Tag, der Frühling, das Ende der Adoleszenz. Am wirkungsvollsten aber ist es der Andere, der Einem als Allernächster den direkten Blick auf den Tod verwehrt. Er ist es, der mehr als alle für das Leben bedeutsamen Dinge und Ereignisse in das eigene Leben eingreift. Gehört er zum lebensteiligen Verbund des Einen, dann konkurriert er mit dem Tod, was dessen lebenspraktische Bedeutung für den Einen anbelangt, ohne freilich mithalten zu können. Brauchen der Eine und der Andere einander in lebensteiliger Verbindung, dann geben sie sich Halt, bewirken aber auch Einhalt. Der Eine kommt nicht um den Anderen herum, um frei und unbegleitet auf ein vermeintlich ganz Eigenes zugehen zu können. Im lebensteiligen Verbund gibt es für den Einen Andere von einzigartiger Signifikanz: die Nächsten im Sinne der Intimi. Sie sind ihm mitgegeben oder durch Glücksfall und einvernehmliche Wahl zu eigen geworden. Der Umgang mit ihnen muß nicht von vollkommen ausgewogener Wechselseitigkeit sein, um doch von Achtung, Zuwendung, Zuneigung und Liebe geprägt zu werden. Stehen die Zeichen gut für die Entwicklung des Selbst, dann sind es die, die in Kindheit und Jugendalter durch fürsorgliche Liebe für Halt und Einhalt sorgen. Sie vervollständigen den Kreis der ausgezeichneten Anderen, die unerläßlich sind, soll ein Selbst fähig werden, mit anderem Selbst das Leben fruchtbar zu teilen. Finden aber Nächste zusammen, die zwischen das je eigene Leben und den je eigenen Tod treten, um sich auf das Leben und den Tod miteinander zu verbinden, dann rühren sie nicht nur gemeinsam an die Intimität des Lebens, sondern auch an die Intimität des Todes. Jetzt können die Nächsten mit der Stärke von Halt und Einhalt mithalten, die der Tod gibt und bewirkt. Im Blick des Einander ist der Blick auf den Tod freigegeben, und dies aus dem eigensten Interesse des Lebens, weil einander Nächste allein ein 190 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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endliches Leben zu brauchen verstehen. 28 Diese Nächsten willigen nicht nur ein, neues Leben und neuen Tod hervorzubringen, sondern auch das gemeinsame Leben und die gemeinsame Lebenszeit dadurch zu etwas einzigartig Kostbarem zu machen, daß sie es lebenskünstlerisch vermögen, in die Feier des Lebens die Feier seiner Endlichkeit einzubeziehen. Begegnet schon in jedem Anderen, der auf Zeit lebensteilig bedeutsam wird, mehr oder weniger erfahrbar das je eigene Leben und der je eigene Tod, so steht jetzt mit dem Anderen nicht nur unmittelbar das Leben vor Augen, sondern ebenso unmittelbar der Tod, das Leben und der Tod des Anderen, wie auch das eigene Leben und der eigene Tod. Auch der Mutter in ihrer fürsorgenden Liebe zum Kinde ergeht es so, und dies selbst noch im Bild der Pietà. Lebensgewißheit ohne Todesgewißheit ist blind. Erst sie öffnet Einem die Augen, daß das Leben ein einziger Kairos ist. Das Leben, das Lebenskunst als Gunst wahrzunehmen versteht, weiß sich als endlich. Das macht es kostbar, was besagt, daß es des ganzen Einsatzes bedarf, seiner Gunst gerecht zu werden. Das Leben ernst nehmen, es für sich und die Mitlebenden zu einer Notwendigkeit werden zu lassen, es zu wagen und aufs Spiel zu setzen, 29 es vor sich selbst und vor Anderen aufzuführen – das alles sind Weisen, den Kairos des Lebens herzustellen, der nicht bereits mit dem Leben als einem Faktum gegeben ist. Es ist die Todesgewißheit, die ihm eingibt, selbst alles zu geben. Todesgewißheit ohne Lebensgewißheit ist leer: das bloße Nicht-Länger, Nicht-Mehr stünde bevor. Aber die Todesgewißheit bedingt ja die Gewißheit des Lebens als eines endlichen und kostbaren, sie bedingt sie und braucht sie. Sie macht das Ja zum Der Dichter spielt die »armen Götter, oben am Himmel«, die nicht sterben können, gegen die Menschen auf der Erde aus, die das Glück haben, sterben zu können: »Ich aber, der Mensch, / Der niedriggepflanzte, der Tod-beglückte«. Heinrich Heine, Buch der Lieder, Hamburg 2014, S. 258 (aus »Sonnenuntergang«). 29 Siehe Rainer Marten, »Leben als Aufs-Spiel-Setzen«, in: ders., Lebenskunst, München 1993, S. 162–167. 28
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Die Zweiheit von Leben und Tod
Leben nicht nur möglich, sondern verlangt nach ihm. Sie ist der Anstoß, über das faktische Am-Leben-Sein und die Banalitäten der Lebensbewältigung hinaus menschliche Lebenswirklichkeit zu überhöhen. Todesgewißheit verlangt nach einem gesteigerten Leben. Das Rätsel des Todes und das durch es geschaffene Rätsel des Lebens sind vereint die Antriebskraft, das Leben nicht zu durchleben und abzuleben, bis es mit ihm zu Ende ist, sondern es zu einem Werk der Kunst zu machen. Das Leben ernst zu nehmen und im Vollzug seiner Steigerung aufs Spiel zu setzen, findet zu seiner Höchstform in der Weitergabe von Leben und Tod, diesem vereinten Rätsel. Gewagter kann seine Gunst nicht wahrgenommen und für seine Notwendigkeit eingetreten werden. Das einander Brauchen von Leben und Tod, Lebensgewißheit und Todesgewißheit ist ohne das einander Brauchen von Eros und Thanatos nicht in seiner letzten Steigerung gesehen. In ihr liegt der Schlüssel, Leben und Tod als die dynamische Zweiheit zu entdecken, die sie sind.
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13. Die Zweiheit von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit
Die Darstellung der dynamischen, in sich zusammengehörigen Zweiheit von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit ist der gewagte Versuch, beiden Begriffen mit Blick auf menschliche Lebensteilung ein neues Gesicht zu geben. Ausgang ist eine das Miteinander prägende Ungerechtigkeit, die, weil sie nicht nur besteht, sondern auch bestehen bleibt, nach einem der Ethik der Lebensteilung entsprechenden neuen Gerechtigkeitsbegriff verlangt. In der Ungerechtigkeit selbst die Möglichkeit der nötigen Gerechtigkeit zu sehen, das ist hier die eigentliche Herausforderung. Gelingt es, sie anzunehmen, dann ist aus dem »Recht des Stärkeren« als dem Wahrzeichen der unter Menschen herrschenden Ungerechtigkeit eine die lebensteilige Gerechtigkeit manifestierende Balance der Starken und Schwachen geworden. Gerechtigkeit der Lebensteilung gibt es nur in der Ungerechtigkeit, ist nur in ihr möglich und nötig. Für die, die ein »Leben im Falschen« diskutieren, muß das heißen: Wahres Leben gibt es nur im Falschen, ist nur in ihm möglich und nötig. Wer den Schoß der Mutter verlassen hat, ist ausgebürgert in einem einzigartigen Sinne: Er ist im Elend, ist eli-lendi, was in der Rechtssprache heißt, daß er in fremdes Land und damit aus dem Frieden der angeborenen Rechtsgenossenschaft ausgewiesen ist. Niemals wird er in den Schoß der Mutter zurückkehren. Allein das »zurück zur Erde« steht ihm offen, das sich dem »aus Erde« verdankt, folgen wir frühen Selbstauslegungen des Menschen (Genesis, Xenophanes). Seit sich der Mensch mit seiner unumkehrbaren Ausbürgerung auseinandersetzt, blühen wirkungsmächtige Schoßphantasien, die die Wiedereinbürgerung in die absolute Unselbsthaftigkeit versprechen, ob sie diese nun in einem neuen Himmel oder auf einer neuen Erde verorten. 193 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Die Zweiheit von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit
Miteinander lebende Menschen sind, vom Lebensursprung her wahrgenommen, eine Gemeinschaft von Ausgebürgerten. Der selbstlose Embryo, unfähig der Solipsist und Egoist zu sein, als der er sich von außen gesehen zeigt, kennt niemanden neben sich, auf den er Rücksicht zu nehmen hätte, auch keinen möglichen zweiten Embryo. Er nimmt sich, was er braucht, auch ohne Rücksicht auf die Geberin. Der Augenblick der Geburt ändert alles: Es ist der Augenblick der Überantwortung des Neugeborenen an die Zweiheit von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit im Verein mit seiner Überantwortung als ein Wesen, das ohne eigenes Selbst ist, an eine Gemeinschaft von Selbsten, deren es für seine Entwicklung zum Selbst bedarf. Das erste Selbst, das es braucht, um nicht ohne Gerechtigkeit in einen Abgrund von Ungerechtigkeit zu stürzen, erhält es durch Belehnung. Der sich selbsthaft um das Neugeborene Bemühende, angefangen mit Nährung, teilt sein Selbst dem Neugeborenen mit. Nicht anders handelt der Helfende, der den schlechthin Hilflosen mit einem letzten Selbst belehnt. 1 Deswegen ist der Augenblick der Geburt vor der Nivellierung durch die zu bewahren, die im Embryo schon zu viel vom Menschen und die das Neugeborene die ersten drei Lebensmonate noch im Uterusstadium sehen. Genau mit der Geburt stellt sich das Bedürfnis der Balance der Selbste bei aller gegebenen Ungleichheit ein, das Bedürfnis der Gerechtigkeit in der bestehenden Ungerechtigkeit. Dem Schwächeren gerecht zu werden, ist kein Fair Play. Das ist Ethik für konkurrierende Sportler und Geschäftsleute. Es geht vielmehr darum, daß beim Miteinander von Starken und Schwachen von beiden Seiten das Selbst ins Spiel kommt, ein Selbst, das selbsthaft, aber nicht selbstisch ist, bereit, wenn es die Situation erfordert, den noch oder schon Selbstlosen mit Selbst zu belehnen.
Siehe dazu Rainer Marten, »Das letzte Selbst«, in: Till Velten (Hg.), Sprechen über Demenz, Freiburg 2015.
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Die Zweiheit von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit
I. Ungerechtigkeit herrscht. Die Einen sind im Vorteil, die Anderen im Nachteil. Das muß nicht erst nachgeprüft werden. Das ist die Ausgangslage des geschichtlichen Menschen zu jeder Geschichtszeit. Unbeschadet, ob für eine Population gesicherte Rechtsverhältnisse gegeben sind oder nicht, die Verhältnisse, in denen sich lebensteiliges Gelingen und Mißlingen entscheidet, sind nicht in Balance, sind keine gerechten. Dafür sorgen die natürlichen wie die geschichtlich gewachsenen Gegebenheiten gleichermaßen. Politische Gesetzgebungen sind im besten Falle Versuche, der herrschenden Ungerechtigkeit so weit Grenzen zu setzen, daß auch für durch Natur und Geschichte Benachteiligte ein Leben möglich wird, das sie als gelingend empfinden. Die Einen bewirtschaften fette, die Anderen magere Böden. Die Einen kommen in Tälern als Spiegelhalter auf die Welt, die Andern von Gegenüber als Winterhalter. Gewalttätigkeit unter Menschen und Heiratspolitik können für die jeweils Einen und Anderen etwas daran ändern, wodurch die grundlegende Ungleichheit jedoch nicht aufgehoben wird. Die Einen sind vital, die Anderen nicht, die Einen physisch die Stärkeren, die Anderen physisch die Schwächeren. Auch dafür gibt es Mittel, die Seiten zu ändern, ohne daß sich im Grunde etwas verbessert. Genügte im 19. Jahrhundert ein Kanonenboot, um die physische Stärke der Bewohner eines ganzen Landes schwach aussehen zu lassen, so ist es bibelgläubig die Kraft des stärkeren Gottes in der Steinschleuder, die den noch kindlichen (paidarion) David, rotblond und von schöner Gestalt 2 , den Stärksten, den Goliath, zu Fall bringen läßt. Auch hier ändert sich an der Ungerechtigkeit nichts. Allein ein Wechsel der Versklavten hat statt. 3
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1. Samuel 17,42 ff. 1. Samuel 17,9.
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II. Der Mythen erzählende und Religionen zum Leben bringende Mensch sieht das anders, will das anders. Er läßt die Tatsache nicht gelten, daß Ungerechtigkeit die Ausgangslage jeden menschlichen Einanders ist. Anstatt der erhellenden Aufklärung seiner selbst zuliebe, Natur und Gesellschaft entwicklungsgeschichtlich zu betrachten, bringt er gute Mächte ins Spiel, die vermögend genug sind, die für den Menschen relevanten Anfänge von Ungerechtigkeit frei-, ja zu etwas Schönstem und Bestem zu machen. Ohne daß das sogleich zutage träte, macht er damit den Menschen zum Herrn seiner Gegebenheiten. Primär sind sie gut. Da aber nichts, was der Zeit gehört, bleibt, sind sie von Beginn an der Gefahr ausgesetzt, schlechter, wenn nicht schlecht zu werden. Dafür muß er dann aber die Verantwortung tragen: Er wird schuldig. Monotheistische Religionen rechnen jede Gegebenheit, die der Mensch nur beklagen kann, einhellig ihm als Schuld zu. Seine schuldhafte Verfehlung besteht dann darin, daß er den erklärten Willen Gottes im Leben und Handeln verfehlt. Weil aber dieser Wille für das genommen wird, was zu vollkommener Gerechtigkeit führt, kann alles, was der Mensch aus eigenem Antrieb unternimmt, nur zu einem Werk der Ungerechtigkeit und das heißt der Sünde (hamartia) geraten. Wie Paulus und Augustinus sich die jüdischen Vorgaben für den Christusglauben aneignen, gelingt ihnen unbemerkt etwas Außerordentliches: Sie verlegen Ungerechtigkeit als Ausgangslage des Menschen von der Erde in den Himmel. Was sie nicht bemerken, zumindest nicht in seiner ganzen Konsequenz, ist die Alternative, die sie dabei erstellen: Der Mensch ist entweder bei Gott, ihm gleich, ja Eins mit ihm, oder das Verhältnis Gott-Mensch ist durch Ungerechtigkeit geprägt, ist es doch das unausgewogenste Verhältnis, über das hinaus kein unausgewogeneres zu denken ist. Allmacht gegen Ohnmacht, Ewigkeit gegen Endlichkeit – das läßt sich geradezu beliebig fortsetzen, wenn nur die Prädikate 196 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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von höchstem Niveau und extremster Art sind. Obwohl mit Adam und Eva eigentlich das erste menschliche Einander genannt und gedeutet ist, das Einander von Mann und Frau, wird doch der Mensch als Eines gesehen, um ihm in wunderreicher Selbstpoetisierung sich selbst als den Anderen zu Gott vorzuführen. Die erste Gegebenheit des Menschen ist so bleibend festgeschrieben als die des Einander von Gott und Mensch. Sobald und solange es sich dabei um ein Einander, nicht um Einheit handelt, ist das Gott-Mensch-Verhältnis durch absolute Ungerechtigkeit ausgezeichnet. Das ist dann nicht darum der Fall, weil der Mensch Unrechtes begangen hätte, sondern weil das Verhältnis bei dieser unüberbietbaren Unausgeglichenheit förmlich nach Ausgleich schreit. Das christliche Drama, wie es Paulus und Augustinus aufführen, nimmt in der menschenverschuldeten Entzweiung des Menschen mit Gott seinen Anfang und findet mit dem Gnade-vor-Recht- bzw. Gnade-als-Recht-ergehen-lassen Gottes sein Ende. In erhellender Aufklärung muß die Dynamik dieses Verhältnisses jedoch grundlegend anders gesehen werden: Die Ungleichheit des Einen und Anderen in ihrer Absolutheit steht für eine absolute Ungerechtigkeit dieses Verhältnisses. Nicht der Mensch ist ungerecht, selbst nicht der Gott, sondern ihr Einander. Keine menschliche Ungleichheit auf Erden kann jemals die einholen, die religiöser Glaube sich als eine im Himmel angelegte erdichtet hat. Im Übrigen ist es nur konsequent, wenn die Idee einer mit absoluter Wirk- und Deutungsmacht ausgestatteten Gerechtigkeit formal ihren Niederschlag in absoluter Ungerechtigkeit findet. Die methodisch gesicherte Unverständlichkeit einer absoluten Gerechtigkeit muß diese für den Menschen in seiner lebenspraktischen Ausganglage notwendig als Ungerechtigkeit erscheinen lassen. Die Vorstellung, daß am Anfang gerechte Ordnung herrscht, die, nachdem sie schuldhaft verlorengegangen ist, wieder hergestellt werden muß (und kann), ist in den Phantasien menschlicher Selbstauslegung stark vertreten. Dieses Wieder spielt nicht von ungefähr eine bedeutende Rolle, sobald der Mensch 197 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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geistig und geistlich auf der Spur seiner selbst zu sein versucht. Er muß dann nicht alles wagen, nicht alles aufs Spiel setzen, nicht alles ins Offene verlegen. Es gibt bereits ein gesichertes Gut: das heile vorgängige Einst. Er kann also zurück, ganz so, als dächte er, ohne es zu merken, an ein Zurück in den Schoß. Der späte Platon veranschaulicht das Zurück zur anfänglichen Ordnung am »Lauf der Welt«, wie ihn eine mythische Erzählung einmal als von Göttern gelenkt, ein andermal als von Göttern freigegeben darstellt. Die Götter halten alles in Ordnung, geben sie aber den Lauf der Dinge frei, übernehmen also »Welt« (kosmos) und Mensch die Verantwortung, dann ist anfangs alles noch einigermaßen in Ordnung, um aber mit dem Fortschreiten der Zeit vollends in Unordnung zu geraten. 4 Dieser Lauf wird als Weg vom Wissen ins Vergessen gedeutet: Anfangs erinnern die neuen Verantwortlichen noch die Lehre ihres »Meisters und Vaters«, um sie mit der Zeit völlig aus dem Gedächtnis zu verlieren. Auch dieses Erdichten und Erdenken der Geschichte des Menschen zeichnet ein Gegenbild zu ihrer Realität. Welt und Mensch werden schuldig gesprochen. Eigentlich wäre die desaströse Unordnung zu verhindern gewesen. Sind einmal aus den lebensfreundlichsten (kallista) die lebensfeindlichsten (adika) Verhältnisse geworden, ist also wieder einmal »die Welt aus den Fugen«, dann gilt auch hier schon, für theologische Philosophen bezeichnend: »Nur noch ein Gott kann uns retten.« 5 Da aber die Ausgangslage des Menschen nicht die Ordnung, sondern die Unordnung im Sinne von UnausgeglichenPlaton, Politikos 271a–274e. Platon, Politikos 273de: »Weshalb denn alsdann schon der Gott […], sich selbst wiederum (palin) an das Ruder stellend, alles […] wieder in Ordnung bringt (epanorthôn).« Vgl. »SPIEGEL-Gespräch mit Martin Heidegger am 23. September 1966«, in: DER SPIEGEL 30. Jahrg., 31. Mai 1976, S. 209: »Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen und Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten.« Wie alle Theologen kennt auch Heidegger das Menschliche nicht als das sogar Menschliche.
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heit und Unausgewogenheit ist, bedarf es keines Wieder, keiner Wiederholung, keines Zurück. Alles ist vielmehr neu. Der Mensch, von seinem geschichtlichen Anbeginn her, vergißt nicht, sondern lernt dazu. Für ihn gibt es keinen Kairos, sich gelegentlich aus der Eigenverantwortung zu entlassen und dem Willen einer unendlich höheren Macht zu überlassen. Die herrschende Ungerechtigkeit eröffnet die das Humanum entscheidende Alternative: sie entweder zu verschärfen oder zu entschärfen.
III. Geht es nach den Kräften des Lebens, die im lebendigen Einander ungebändigt ihre Vitalität ausspielen, dann ist die Wahl entschieden: Es gilt die Ungerechtigkeit zu verschärfen, solange und soweit dadurch der eigene Vorteil nicht gefährdet ist. Bereits Hesiod wußte und bejahte es, daß menschliches Leben agonal ist. Arbeitende wie Bauern und Handwerker liegen naturgemäß im Wettstreit miteinander: Der Eine ist darauf aus, erfolgreicher zu wirtschaften als der Andere. Benachbarte Bauern pflügen und säen nicht einträchtig nebeneinander, nein, sie streiten sich. Hesiod erfindet die Göttin des guten Streits (agathê Eris). 6 Sie regiert die auf Sicherung und Verbesserung der Lebensbedingungen gerichteten menschlichen Bemühungen. Noch im 20. Jahrhundert haben deutsche Bildungsbürger Universitäten und Gymnasien mit dem Spruch Homers verziert: »Immer edel zu sein und den Anderen überlegen« (aien aristeuein kai hypeirochon emmenai allôn). 7 Das fromme Amerika garantiert die Verschärfung der Ungerechtigkeit als Verfassungsrecht: Pursuit of happiness. Das ist die Aufforderung, den eigenen und eigensten Interessen nachzugehen – eine reine Ani6 7
Hesiod, Werke und Tage, 11–24. Ilias 6, 208.
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mation der Vitaleren. Daß ein Puritaner und Utilitarist sein »Glück« im gelingenden Einander sucht, kann nur meinen, wer sich an Ideologie und Wirklichkeit der US-amerikanischen Verfassung gröblich verschätzt. Die methodische Vorteilssuche des Einen gegenüber dem Anderen haben nicht die Väter der amerikanischen Verfassung erfunden, auch nicht ein Joseph Schumpeter oder Milton Friedman. 8 Diese Sache ist menschenalt. In seinem Werk Der gute Hausverwalter (Oikonomikos) bestimmt Xenophon (um 426–355 v. Chr.) Besitz als das, was Einer hat. Hat Einer Feinde, so ist das Besitz, den es zu nutzen gilt. Verwüstet der Feind vor der Stadt das Land, dann läßt sich das Land billig von denen kaufen, die den Ertrag von Neupflanzungen nicht abwarten können. Die kleinen Landbesitzer werden noch kleiner, die großen noch größer. Schon damals tut sich die Schere zwischen Arm und Reich gerne noch weiter auf. Wird im alten Griechenland der Ruf nach Neuaufteilung der Erde (anadasmos gês) 9 laut, dann verstehen diese Rufer nichts vom Wirtschaften, nichts von der Konkurrenz als einem »Streit zum Guten« (der Stärkeren). Das Leben ist ungerecht, nicht nur seine Ausgangslage. Man muß Glück haben, nicht zu den Benachteiligten zu gehören, aber man muß dieses Glück auch nutzen. Die Zunahme des Reichtums kennt seit Einführung der Geldwirtschaft nach oben keine Grenzen, bekommt ja Geld selbst »Kinder«. 10 Seine Grenzenlosigkeit teilt der Gelderwerb mit dem Wissenserwerb. 11 Beide Möglichkeiten wirken synergeJoseph Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmensgewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus (1911/1926), Nachdruck der 4. Auflage (1934), Berlin 1993. Milton Friedman, Es gibt nichts umsonst. Warum in einer Volkswirtschaft jede Mark verdient werden muß, München 1979 (Orig. There’s no such thing as a free lunch, Glen Ridge, N.J. 1975). 9 Herodot, Historiae IV,159. 163. 10 Aristoteles, Politik I 10, 1258a. 11 Rainer Marten, Maßlose Wissenschaft, in: Freiburger Universitätsblätter Heft 194 (2011), S. 61–67. 8
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tisch zugunsten der Verschärfung der herrschenden Ungerechtigkeit. Da mag der Philosoph noch so sehr reklamieren, daß der Mensch von Natur gesellig sei. 12 Sein daraus abgeleitetes Argument, daß die Besorgung des Notwendigen natürlich, die des Überflüssigen aber unnatürlich sei, überzeugt nicht. Strebt der Mensch, wie der Philosoph sagt, von Natur aus nach Wissen, so sind ihm von dieser Natur her keine Grenzen gesetzt. Ebenso verhält es sich bei der Vermehrung des Reichtums. Das philosophisch für »gut« erklärte Leben 13 und den philosophisch für »wahr« erklärten Reichtum 14 für einzig naturgemäß anzusehen, ist kein überzeugender Umgang mit dem Begriff der Natur. Ein Athener, der viel wagte, um viel zu verdienen, wählte das Seedarlehen (nautikôn). Weit mehr als die Stadt- und Kleinhändler sind es die Groß- und Fernhändler, die nicht nur sich, sondern auch ihre Stadt reich und damit mächtig machen. »Blühender Handel« bedeutet, daß die einen Städte mächtiger werden als die anderen. Die Anwohner des Mittelmeeres, die, wie Platons Sokrates veranschaulicht, aufs Ganze der Erde gesehen gleich Ameisen und Fröschen um einen Sumpf herum wohnen, 15 sind einander näher gekommen, weil sie voll ihre unmäßige Natur auslebten: Neugier und Profitgier. 16 Fernhändler sind keine Seeräuber. Was sie betreiben, ist in Ordnung, nicht außerhalb von Ordnung. Handel, auch konkurrierender, schützt sich gegenseitig, damit Handel gedeiht. Die Gesetze, an die sie sich halten, mögen ungeschrieben sein. Grenzenloses Gewinnstreben war im antiken Athen gesetzlich erlaubt, der sehr große Reichtum mit seinen Rechten und Pflichten näher bestimmt. Solon und Aristoteles konnten von diesem der Zerstörung des Gemeinwesens zuarbeitenden Verhalten nur Aristoteles, Nikomachische Ethik IX 9, 1169b18 f.; Politik II 6, 1278b19 ff. Aristoteles, Politik I 9, 1258a1. 14 Aristoteles, Politik I 8, 1256b30; I 9, 1257b17–20. 15 Platon, Phaidon 109b. 16 Raimund Schulz, »Abenteuer der Ferne«. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike, Stuttgart 2016. 12 13
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abraten, nicht aber gerichtlich dagegen vorgehen. Dabei hat Solons Vorschlag, die Superreichen zum Prassen zu verleiten, um ihr Reicherwerden zu bremsen, eine menschliche Note: Sie sollen lieben, wen immer sie wollen, und essen, was immer sie wollen, 17 freute er sich doch selbst nach Erledigung seines politischen Auftrags auf Dinge, die fröhlich machen: auf Werke der Aphrodite, des Bakchos und der Musen. 18 In allen heute florierenden Industriestaaten wird, welche spezielle Liberalität man auch übt, die Verschärfung der Ungerechtigkeit politisch unterstützt. Wer gegen Thatcherismus als besondere Form des Kapitalismus die soziale Marktwirtschaft, mit Betonung auf sozial, in Stellung bringt, den wissen die Jünger eines von Hayek nicht nur mit Hohn zu übergießen, sondern auch des Mißverstehens von Moral zu verdächtigen, wenn doch gnadenlose Konkurrenz die aktuelle Form ist, die Moral zu fördern. 19
IV. Konkurrierendes Sichmiteinandermessen hat gegenüber einem kriegerischen den lebenspraktischen Vorteil, in der Regel nicht für den Einen tödlich zu sein. Doch so »geregelt«, nämlich dereguliert, wirtschaftliche, und so »friedlich« sportliche Konkurrenz auch sein mögen, so geht es doch weit eher um erbitterten Kampf als um praktizierte Freundschaft. Schumpeter hat beispielhaft herausgestellt, daß es für die Wirtschaft fruchtbar ist, wenn Einer den Anderen niederkonkurriert bis hin zur Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz. Das ist die »große« Sicht eines »zum Besten von den Meisten«, die insgeheim mit der »unsichtbaren Hand« operiert, durch die der Egoismus zum einSolon, Elegien, Fragment 14, in Anthologia Lyrica Graeca (ed. Ernestus Diehl), Fasc.1, Leipzig 1949, S. 36. 18 Solon, ebd., Fragment 20, S. 39. 19 Friedrich A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München 1951 (Orig. The Road to Serfdom, Chicago 1944). 17
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zigartigen Förderer des Gemeinwohls wird. Schon der Hinweis auf die dabei erzeugte strukturelle Arbeitslosigkeit, die methodisch geleugnet wird, genügt, um zu zeigen, daß hier dem Gewinnen das Verlieren notwendig zur Seite steht. Im sportlichen Sichmessen, das zunehmend im Dienste finanziellen Gewinns steht, herrschen vergleichbare Verhältnisse. Was im heutigen Fußball ein gezieltes Foul ist, haben schon griechische Olympioniken vorgeführt, die beim Wagenrennen dem Anderen den Pflock aus den Naben ziehen lassen, damit beim Rennen das Rad sich löst und der Lenker zu Tode stürzt. 20 Konkurrenz in allen ihren Formen führt nur allzu leicht dazu, daß der Eine alles tut, um als Gewinner vom Platze zu gehen. Doch die dem Menschen zuzutrauende gewöhnliche Gemeinheit ist nicht der Grund, das Prädikat »gut« dem Streit unter Menschen in Form der Konkurrenz prinzipiell vorzuenthalten. Auf eigenen Vorteil und damit auf Übervorteilung des Anderen bedacht, hat Konkurrenz von Hause aus kein Teilen im Sinn. Wird ein Markt »geteilt«, dann geschieht das gewöhnlich in geheimer Absprache zuungunsten Dritter. Die größten und reichsten Firmen im 21. Jahrhundert verdanken ihren öffentlich bewunderten Erfolg einer, zumindest zeitweisen, Monopolstellung. Für den bösen Streit, der zum Schlechten führt, hat Hesiod ein Wort erfunden, das Freude am Übel des Anderen bedeutet (kakôchartes). Die in den Abgasskandalen der Automobilindustrie und in den Dopingskandalen der Leichtathletik im zweiten Dezennium des 21. Jahrhunderts aufgedeckten Vergehen und Verbrechen (oder sollte nur von Straftaten zu reden sein?) sprechen eindeutig dafür, in diesem Einer-gegen-den-Anderen keinen Streit zum Guten zu sehen. Gutes unter Menschen, das gut für Geselligkeit und lebensteiliges Gelingen ist, kann nur von einem Streit ausgehen, in dem um Ausgleich, um Balance, und das heißt zugunsten von Gerechtigkeit gestritten wird. Ein mythisches Vorbild dafür liefert Pelops, Enkel des Zeus. Siehe unter anderem Pindar, 1. Olympien.
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Das Geheimnis lebensteiliger Gerechtigkeit, die der auf neutraler Rechtsprechung beruhenden Gerechtigkeit vorausgeht, besteht darin, das eigene Recht vom Anderen zu bekommen und sich nicht selbst zu nehmen. Ich kann Recht bekommen, weil der Andere mir das Recht gibt, mit ihm zu rechten, das heißt einen Rechtsstreit durchzuführen. Dieses Recht hat Hiob gegen seinen Gott verzweifelt gefehlt. Das ist das Recht vor allem codierten Recht: das eigene Recht zu bekommen, das nur der Andere, nicht aber ich mir selbst geben kann. Es ist das grundlegende Recht der Lebensteilung. Das Allheilmittel der seit Jahrzehnten herrschenden und jetzt global gefestigten Wirtschaftsform, die Konkurrenz, um von Deregulierung und weiterem abzusehen, kann und will diesem Recht nicht stattgeben. Können Neoliberale auch mit Recht darauf verweisen, daß diese Wirtschaftsform die optimale ist, um – unausgewogenen – Wohlstand zu erzeugen, so zeigt sich für den Nachdenklichen nur, daß optimales Wirtschaften und Festigung der grundständigen Ungerechtigkeit zusammengehen. Jeder Vergleich unter Menschen, der zu dem Ergebnis kommt, dem Einen ein Mehr, dem Anderen ein Weniger zuzurechnen, entdeckt Unausgeglichen- und Unausgewogenheit und damit die Ikone der Ungerechtigkeit. Der aufgrund seiner ihm mitgegebenen und von ihm entwickelten Lebenskräfte Erfolgreichere verschärft durch seine vorteilhaftere Ausganglage die herrschende Ungerechtigkeit. Er muß deswegen nichts Unrechtes tun, nichts, was gegen herrschendes Recht ist. Aber er tut eben auch nichts, was in Anbetracht menschlichen Einanders zum Guten wäre. Er ist für sich, für seine Firma, für sein Land der Erfolgreichere, der er ist. Sein Selbst kann noch so breit besetzt sein, es bleibt ein solipsistisches, ein Selbst zugunsten seiner selbst. Mag er die Auswirkungen seines Tuns auch idealistisch verklären, wie es gängige Praxis ist, so bleibt er doch der Unausgeglichenheit und ihrer Verschärfung verpflichtet.
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V. Immer wird es Starke und Schwache geben, immer Arme und Reiche. Was dem geschichtlichen Menschen zu allen Zeiten von Natur und durch gesellschaftliche Entwicklung vorgegeben ist, macht es für ihn unausweichlich, sich dem Drama seiner Ungleichheit ausgesetzt zu sehen. 21 Nichts aber ist leichter, als sich eine falsche Vorstellung davon zu machen, was in diesem Drama zur Aufführung kommt, falls es anfängliche Gerechtigkeit als Antwort auf grundständige Ungerechtigkeit zur Darstellung bringt. Wer an die prinzipielle Generalität vernünftigen Handelns glaubt und nicht seine Partikularität erkennt, neigt zu der Auffassung, am besten müsse alles gleich werden: die Gerechtigkeit verlange, die Schwachen zu stärken und schließlich den Starken gleichzumachen, sie verlange ebenso, die Armen so weit zu entarmen, bis sie schließlich den Reichen gleich sind. Vorschläge, es besser umgekehrt zu versuchen und die Starken zu schwächen, die Reichen zu verarmen, wird es kaum geben, weil man ja in der Stärke wie im Reichtum die Ausgangsbedingungen für erfüllt ansieht, ein gutes Leben führen zu können. Wie es aber ein Kranksein gibt, das nicht therapierbar ist, und ein Gesundsein, das nicht vom Kränkeln bedroht ist, so daß sich das Verhältnis von Krank und Gesund erhält, was ja auf das Ganze einer Population gesehen sowieso der Fall ist, so muß Ein soeben erschienenes Büchlein über Ungleichheit verkündet auf seinem Äußeren, daß Ungleichheit eine der am meisten überschätzten Thesen unserer Zeit sei. In seinem Innern entdeckt es, daß »ökonomische Ungleichheit« (der Eine hat mehr als der Andere) gemeint ist. Die Ungleichheit der Ausgangslage kommt zwar gelegentlich in den Blick, wird aber nicht Thema. Die Schrift hat nicht mehr vor, als mit guten Argumenten gegen den ideologisch vertretenen Egalitarismus anzugehen. Allein die »unannehmbaren Ungleichheiten«, das Zuwenig der Einen und das Zuviel der Anderen, seien gesetzlich einzuschränken und zu verhindern. Ökonomische Ungleichheit sei an sich weder schlimm noch verwerflich. Für den geführten Diskurs ist das ein Einrennen offener Türen. Harry G. Frankfurt, Ungleichheit. Warum nicht alle gleich viel haben müssen, Berlin 2016.
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man auch von der Vorstellung Abschied nehmen, Verhältnisse wie die von Stark und Schwach, Arm und Reich ließen sich in Gemeinschaften und Gesellschaften so vereinseitigen, daß am Ende eines der Relata gänzlich verschwindet. Nein, die Idee einer allgemeinen und durchgängigen Stärke und eines entsprechenden Reichtums ist keine Idee von Gerechtigkeit. Bleibt es unter Menschen bei diesen Ungleichheiten, dann ist die maßgebliche Frage, wie es bei ihnen bleibt. Soll selbst und gerade anfängliche Gerechtigkeit dem Bild der Ausgeglichenheit entsprechen, dann ist genauer zu fragen, wie eine Ausgeglichenheit bei bleibender Ungleichheit aussehen soll. Muß dafür nicht doch eine gewisse Annäherung des Ungleichen anvisiert werden oder zumindest ein Mittleres zwischen dem Entgegengesetzten, das für die gelungene Balance angesehen werden könnte? Aristoteles sieht zwischen den zu Reichen und zu Armen 22 den Ausgleich im Mittelstand (hoi mesoi, die Mittleren). 23 In ihm sei ganz von selbst das Maß zu Hause und damit die Bedachtsamkeit (logos), nicht aber der Übermut (hybris) der beati possidentes und die Bösartigkeit der misera plebs. Das beidseitige Zuviel (hyper) ist Ausdruck bleibender Unausgeglichenheit und Maßlosigkeit. Nicht von ungefähr entstammen gute Gesetzgeber wie Solon (um 640–560 v. Chr.) und Lykurg (um 390–324 v. Chr.) dem Mittelstand. Stehen politisch die Oligarchen für die Reichen, die Demokraten für die Armen, dann ist der Gegensatz von Oligarchie und Demokratie in der aristotelischen Politie vermittelt: Die Bedachtsamkeit regiert, die Die üblichen Übersetzungen mit »sehr reich« und »sehr arm«, »very rich« und »very poor« verfehlen den aristotelischen Gedanken. 23 Aristoteles, Politik IV 9–11. Die politischen Auswirkungen der tendenziell zunehmenden Besitz- und Einkommensungleichheit, die seit Beginn der Geldwirtschaft zu konstatieren sind, bleiben sich bis heute gleich. Zur gegenwärtigen Diskussion siehe unter anderem Branko Milanović »Die ungleiche Welt«. Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, Berlin 2016. Stets sind es die Allzureichen, die die politische Kultur gefährden. 22
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Wohlberatenheit, die Mäßigung. Das aber schließt bedeutsamerweise den Gedanken ein, daß die Extreme positiv aufeinander eingestellt sind: »In den Demokratien muß man die Wohlhabenden schonen, […] in der Oligarchie wieder muß man sich aufwendig um die Unbegüterten kümmern.« 24 Das ist politisch gedacht und politisches Wunschdenken bis heute, trifft aber nicht Ungerechtigkeit, wie sie bleibende Ausgangslage der Lebenspraxis ist. Aristoteles’ politisches Denken ist ein Tugend- und damit ein Vermittlungsdenken. In allen extremen Positionen menschlichen Verhaltens haust die Untugend, in jeder Mitte der Extreme die Tugend. Die Extreme sollen nicht zum Austrag kommen, liegt doch in ihnen alles Schlechte, sei seine Wirkung groß oder klein. 25 Aristoteles läßt Stark und Schwach, Reich und Arm nur in moralischer Bewertung zu, um seinen Tugendgedanken durchführen zu können. Dafür braucht er das Zu-sehr, das dem ältesten und allgemeinsten moralischen Grundsatz »Nichts zu sehr« (mêden agan) 26 direkt widerspricht. Gegensätzliche zwischenmenschliche Verhältnisse, die als gegebene bleibend die Ausgangslage der Lebenspraxis bestimmen, sind jedoch keine moralischen Größen, sondern Tatsachen und als solche wertfrei.
VI. Wer sich auf die Kunst der Lebensteilung versteht, stößt sich nicht an Ungleichheiten der Menschen, sondern an den Umständen, die ein ersprießliches Verhältnis unter Ungleichen unmöglich machen. Es genügt, daß eine Seite sich im Selbstvorenthalt übt, und schon ist an ein selbsthaftes Einander nicht zu denken. Bloßes Miteinander-zu-tun-Haben ist keine Form von Lebensteilung, im Gegenteil. Selbst täglicher Umgang mitein24 25 26
Aristoteles, Politik V 8, 1309a14 f.; a20 f. Aristoteles, Politik IV 11, 1295b9 f.: megaloponêroi, mikroponêroi. Fragmente der Vorsokratiker Bd. I, S. 61–64.
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ander läßt eine Kluft zu, die jedes Teilen von Leben im Ansatz unterbindet. Ist es eine ökonomische Einsicht, daß Reiche gut an Armen verdienen (man erinnere nur die Mietshäuser im alten Rom!), dann nehmen beide Parteien nicht Anteil aneinander, sondern bleiben entschieden auf Distanz. Wenn die Großen und Wenigen an die Kleinen und Vielen zu billig gebaute Häuser zu teuer vermieten, ist das natürlich ein öffentlicher Mißstand. Doch der Lebenskünstler, der hier die Möglichkeit der Lebensteilung vertan, wenn nicht verraten sieht, macht keine Vorschläge, sie zu retten. Er sucht vielmehr nach den Gründen, die zwischen Arm und Reich eine Kluft entstehen lassen, die lebensteiliges Verhalten unmöglich machen. Politische und ökonomische Erwägungen, auch moralische, hält er nicht für unwichtig, sie sind nur nicht seine Sache. Er konzentriert sich auf den Riß, das Auseinander, das Nichtbestehen einer selbsthaften Beziehung. Die Wege kennt er bereits, die eine Gesellschaft geht, damit Reiche sich die Armen vom Leibe halten können: Die Armen werden politisch und räumlich ins Abseits gedrängt. Schon immer saßen die Reichen am Hebel der Macht und in der Mitte der Städte, die Armen außer Sicht-, Riech- und Hörweite rechtlos an ihren Rändern. 27 Heute geben gated communities ein aussagekräftiges Bild für die Undurchlässigkeit der Grenze zwischen höchst ungleichen Vermögens- und Machtverhältnissen. Jeder lebt sein eigenes Leben. »Tafeln«, Armenküchen, Wohlfahrtsdiners – das und viel ähnlich gut Gemeintes und gut Getanes läuft Gefahr, im Endeffekt gerade auch denen zu dienen, die die Distanz suchen. Ohnedies reicht es nicht aus, das zu heilen, was der Lebenskünstler im Tiefsten verletzt sieht: das gründende Recht der Lebensteilung, das ungeschriebene Recht auf selbsthaftes Einander. Scheitert das Zusammenleben von Ungleichen, dann heißt Für das Mittelalter: Michel Mollat, Die Armen im Mittelalter, München 1987 (franz. Orig. Paris 1978). Für das 20. Jahrhundert: Juan Goytisolo, Das Fest der Anderen, Reinbek 1990 (span. Orig. Barcelona 1956).
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das, daß der Eine und Andere nicht selbsthaft zueinander finden – sie wollen es nicht, vielleicht können sie es auch nicht, noch nicht. Dem Sinn für Lebensteilung ist damit die Grundlage entzogen: der Anstoß fehlt, den Streit zum Guten zu wagen, weil keiner mit den Augen des Lebenskünstlers der etwas anderen Art das grundständige Unrecht erkennt, das in der Ungleichheit als solcher besteht. Der Sinn fehlt, sich selbsthaft für anfängliche Gerechtigkeit einzusetzen, für eine Balance zwischen dem Einen und Anderen bei bleibender Ungleichheit. Mit einem Wort: Der Eine und Andere ist blind für die Chancen, die Ungleichheit für ein fruchtbares Miteinander bietet. Schreibt ein US-Amerikaner ein Buch über die schwarze und weiße Bevölkerung seines Landes, um von den Ungleichen als von zwei Nationen, das heißt als von ungleicher Geburt zu sprechen, dann nennt er als die drei in sich zusammengehörigen Gründe für das Scheitern ihres Zusammenlebens: getrennt, feindlich und ungleich. 28 Bei zwei der angeführten stimmt ihm der Lebenskünstler zu, beim letzten nicht. Ungleichheit ist ein Stimulans, das Leben gelingend miteinander zu teilen. Auch birgt sie Chancen, es auf eine überraschend fruchtbare Weise zu tun. Feindseligkeit dagegen verträgt sich mit keinem Streit, der mit der Aussicht geführt wird, daß der Eine vom Anderen sein Recht bekommt. Die Trennung wiederum sagt bereits aus, daß faktisch keine Verbindung besteht, die über ein feindliches Gegeneinander hinausgeht. Das ist für die Philosophie der Lebensteilung das einzig Bedeutsame: Der Streit um Überführung grundständiger Ungerechtigkeit in anfängliche Gerechtigkeit ist unmöglich geworden, die Ungleichen sind auseinandergeraten. Sie muß nicht eigens das Nachwirken der Sklavenhaltermentalität der Südstaaten in Betracht ziehen, die Unverhältnismäßigkeit im Vorgehen der weißen Polizei, auch nicht die Überlagerungen des Verhältnisses von Schwarz und Weiß durch religiöse und ökoAndrew Hacker, Two Nations: Black and White, Separate, Hostile, Unequal, New York 1992.
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nomische Ungleichheiten, um zu erkennen, daß diese Mitgift eine ungerechte ist. Das war sie freilich nicht von Anfang an. Solange die Siedlungsgebiete der Ethnien weit auseinanderlagen, so daß ein Zusammenleben gar nicht entstand, hatte die Ungleichheit keine praktische Relevanz. Die Perspektive Ungerechtigkeit-Gerechtigkeit ist erst dann aktuell, wenn die Unausgewogenheit durch Anderssein lebenspraktisch bedeutsam wird. Jetzt sind Vorkommnisse wie Verweigerung und Scheitern des Zusammenlebens möglich, Ereignisse, die dazu führen, daß sich die Ungleichen dem grundständigen Unrecht verschließen und mit ihm der Herausforderung zu einem Streit um das Recht des Andersseins. Gehen Verweigerung und Scheitern vornehmlich von einer Seite aus, dann liegt für gewöhnlich die Diskriminierung des Einen durch den Anderen vor. Sind beide Seiten gleicherweise daran beteiligt, wird es sich in der Regel um Feindseligkeiten handeln. In Kriegen zwischen Ethnien, wie sie im 20. Jahrhundert zwischen Deutschen und Franzosen, US-Amerikanern und Japanern geführt wurden, wird der Gegner methodisch diskriminiert, weil die eigene Hochwertung das befohlene Töten erleichtert, ja befördert, wenn es das von Minderwertigen ist. Herrscht nicht Krieg, sondern handelt es sich um friedliche Diskriminierung einer Ethnie durch die andere, wie in den USA und im Nahen Osten, dann ist die Schießbereitschaft relativ groß. Selbst dann aber, wenn es so gut wie völlig friedlich zugeht zwischen Ethnien, die Bewohner eines Landes und Anhänger desselben religiösen Kultus sind, kann eine verborgene Grenze zwischen zwei Bevölkerungsgruppen gezogen sein, die jeden Ansatz lebensteiligen Verhaltens verwehrt. In einer Höhenlage in Südtirol, im oberen Nonstal, sind im 12./13. Jahrhundert Bayern eingewandert. Seitdem wohnen sie in vier Dörfern in unmittelbarer Nähe zu italienischen Dörfern. Im selben Land lebend und denselben Glauben übend hat man über all die Jahre auf denselben Wegen die Versorgung des Konzils von Trient mit Nahrungsgütern gewährleistet. Das erste und stärkste Zeichen 210 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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dafür, daß für die Deutschstämmigen ein selbsthaftes Miteinander nicht in Frage kommt, ist, daß die verborgene Grenze als absolute Heiratsgrenze wirkt. 29 Die vitale Zurückhaltung wird durch Abwertung abgesichert. Die Italiener können nicht bauen, machen keine guten Weine, essen scheußliche Dinge (kleine Vögel und Schnecken), beerdigen ihre Toten nicht so, wie sie es tun. Der sich auf die Kunst der Lebensteilung Verstehende erkennt darin ein und denselben Grund. Die Deutschen wußten die Italiener nicht zu brauchen. Sie hatten an sich selbst genug: Die Härte der Selbsterhaltung in dieser schönen, aber unwirtlichen Gegend konnte das Bewußtsein, den Andersartigen überlegen zu sein, gut gebrauchen. Das betrifft auch die Konfrontationen. Man hatte mit den Italienern keinen bösen Streit. Den verlegte man ins Innere. Damit ist die schwierigste Frage vorbereitet, die sich dem Entwurf eines Rechts auf selbsthaftes Einander von signifikant Ungleichen stellt: Bleibt es bei Ungleichheit allein dann, wenn zumindest einseitig Abneigung gegenüber dem Anderen herrscht, oder kann der Streit darum, vom Anderen das Recht zu bekommen, anders zu sein, als ein Streit zum Guten auch dann geführt werden, wenn man einander zugeneigt ist? Wie Maler und Genetiker wissen, wird aus dem perfekt Ungleichen von Schwarz und Weiß, mischt man es, ein Grau. Nein, Mulatte als Endlösung des amerikanischen Problems, in der sich das Verschwinden des Ungleichen einem einander Zugeneigtsein verdankte, ist kein brauchbarer Entwurf für das Humanum. Die Ideologie der schöpferischen Indifferenz käme zum Zuge, die auf dem Wege der Nivellierung aus allem die Spannung und den Streit herausnehmen möchte, indem sie nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner sucht. 30 Ökumene ist ursprüngEigene Erfahrungen werden durch eine soziologische Studie gestützt: J. W. Cole/F. R. Wolf, The Hidden Frontier, New York/London 1974. 30 Mynona / Salomo Friedlaender, Schöpferische Indifferenz (ed. Hartmut Geerken/Detlef Thiel), Herrsching 2009. 29
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lich das Wort für die bewohnte Gegend, dann für die griechische Welt, abgesetzt gegen die der Barbaren, und schließlich das Wort für die bewohnte Erde, jetzt also unter Einschluß von Äthiopien, Indien und Skythien. 31 Doch die Erde als Wohnhaus des Menschen bringt ihre Bewohner nicht so zusammen, daß sie zusammenlebten und ihr Leben teilten. Ökumene als Stichwort für die Bemühung der beiden großen christlichen Kirchen, einen versöhnlicheren Umgang miteinander zu finden, bedarf der Präzisierung seiner Bedeutung, was eigentlich angestrebt wird: Soll der Katholik limitiert protestantisch, der Protestant limitiert katholisch werden oder ist auf lange Sicht ein Kompromiß vorgesehen, der eine Wiedervereinigung beider Kirchen darstellte? Wird diese Frage nicht pragmatisch verstanden, wie es für eng aneinander liegende Gemeinden und konfessionell gemischte Bevölkerung geraten ist, sondern von unserem Lebenskünstler beantwortet, dann kann dieser nur für eine Profilierung der Differenz plädieren. Das Diskriminierungspotential, das religiöse Orthodoxien untereinander zur Wirkung bringen, ist zumeist sehr viel größer als das unter Ethnien, die ein selbsthaftes Einander verwehren. Ist das der Fall, dann steht es auch nicht zur Disposition. Deswegen ist davon auszugehen, daß »Ökumene« unter Religionen kein Weg ist, zu einem tragbaren Zusammenleben zu gelangen. Die bislang wichtigste Frage ist beantwortet: Mit gegenseitiger Zuneigung ist nicht zu rechnen und sie ist auch nicht wünschenswert im Fall widerstreitender und zur Tötung des Anderen auffordernder Orthodoxien, weil dann verwischt wird, was in dem Streit zum Guten zu bewältigen ist. Die neue wichtige Frage lautet daher: Wie können ungleiche religiöse Überzeugungen miteinander zu der Erkenntnis kommen, daß ihre unterschiedliche religiöse Mitgift ein grundständiges Unrecht ist, das aus sich nach dem streitbaren Bemühen um anfängliche Gerechtigkeit verlangt? H. G. Liddell/R. Scott, A Greek-English Lexicon, Bd. 2, Oxford 1951, S. 1205.
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VII. Es gibt Menschen, die es unmöglich machen, mit ihnen wechselseitig in ein selbsthaftes Einander zu gelangen. Das sind die Fanatiker. Die Einen geben sich als von Gott und Heiligstem, die Anderen als vom mystischen Wesen ihres »Volkes« ergriffen. Mit ihnen läßt sich nicht reden. Sie kennen nur vereinten Fanatismus. Ihr Selbst spielt ihnen einen Streich: Es ist selbstisch geworden und damit nicht länger fähig, sich selbsthaft in ein Einander einzubringen. Religiöse und nationalistische selfishness ist eine das Humanum verwehrende Verhaltensart, die für den geschichtlichen Menschen zu allen Zeiten von erheblicher Bedeutung gewesen ist – geistig und geistlich, politisch und, wie noch zu erläutern sein wird, ökonomisch. Das Selbst, das Mystiker von Zhuang Zi bis Heidegger entwerfen, ist auf geistige Weise selbstisch. Es ist nur auf sich bezogen, nur mit sich beschäftigt. Es kann kein selbsthaftes Einander suchen und will es auch nicht. Doch sein Fanatismus ist ein stiller. Seine Inhumanität setzt sich nicht in Handlung um, sondern sucht den Weg reiner Vergeistigung. Wenn es sich öffnet, ja sich übereignet, dann dem All-Einen, keinem menschlichen Selbst. Sollte es freilich aus seiner ekstatischen Verzükkung ins Zeitliche mutieren, kann es zum Selbst eines religiösen und nationalistischen Fanatikers werden. Der Fanatiker denkt orthodox: Er ist im Recht. Handelt es sich um einen religiösen Fanatiker, dann kommt ein grundständiges Unrecht, wie es durch die Eigenheit seines Glaubens gegenüber anderem gegeben ist, unmöglich in Betracht. Treffen Fanatiker ungleicher Orthodoxien aufeinander, dann sind sie unfähig, im Anderen den eigenen Fanatismus wiederzuerkennen, dieses Feuer, das nichts als sich selbst erleuchtet. Das Selbst eines Fanatikers ist als selbstisches prinzipiell ein verarmtes, mag er auch einer unter vielen Gleichgesinnten sein. Was er im überhitzten Rechthaben mit anderen teilt, trägt keine Züge von Lebensteilung. Auch der (fanatische) Rassist und Nationalist ist 213 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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unfähig, das grundständige Unrecht zu sehen, das darin gegeben ist, daß Ethnien signifikant ungleich sind. Die Notwendigkeit zu erkennen, daß die eine von der anderen das Recht bekommt, die zu sein, die sie ist, wäre für sie eine abwegige Vorstellung. Rassisten und Nationalisten sind Einheitsdenker. Wird beim Mystiker das eigene Selbst im Stande seiner letzten Vergeistigung universell, bei dem, der das eigentliche Selbst des Menschen in der reinen Vernunft erkannt haben will, die Vernunft, dann werden beim Rassisten die vermeinte »eigene Art« universell und beim Nationalisten das vermeinte »eigene Volk«. Dem nationalistischen Mystiker bereitet es keine Schwierigkeit, das auch laut so zu formulieren: daß dann »das Menschentum sich als ›ein Volk‹ begreifen müsse«. 32 Völkische Metaphysik, die sich durchaus politisch in Gebrauch nehmen läßt, ist Solipsismus im Großen: Es gibt, wesensphilosophisch gesehen, nur ein »Volk«. Dieser selbstische Gegenentwurf zum lebensteilig-selbsthaften Einander von Ethnien findet seine Entsprechung in nationalistischer Ökonomie. Das entlarvt zunächst schon einmal das Armselige des geistigen Tiefgangs und Höhenflugs, wie es das Erdenken eines geschickhaften nationalen Auftrags ist. 33 Das geistig Selbstische ist von gleicher Banalität wie das ökonomische, von gleicher Engstirnigkeit. Der Neoliberale ist der König der selfishness. Er sieht sich frei, alle Vorteile, die sich ihm bieten und die er sich verschafft, zu nutzen. Aus dem individualistischen Vorteilnutzer kann der nationalistische werden, kommt er im Land zur Macht. Das ist selbstische Monomanie im Großen. Jedes grundständige Unrecht ist im Vorhinein getilgt. Die eigene »Nation« ist absolut gesetzt. Selbstisch zu sein, ist kein allzu verständliches, mit Nachsicht Martin Heidegger, Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39) GA Bd. 95, Frankfurt a. M. 2014, S. 170. 33 Martin Heidegger, Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931–38) GA Bd. 94, Frankfurt a. M. 2014, S. 66. Es handelt sich um eine der unzähligen Stellen, die Heidegger von einem »Auftrag des Deutschen« sprechen lassen. 32
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zu behandelndes Benehmen, sondern ein Verrat am Selbst und damit an einer Grundbedingung des Humanum: des selbsthaften Einander. Die mystische, wesensphilosophische, religiöse und nationalistische Verklärung von selfishness kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit der Absolutsetzung des Eigenen eine inhumane Grundhaltung eingenommen wird. Selbst wenn sich das Eigene mystisch ins All-Eine auflösen soll, bleibt es den ganzen geistig-geistlichen Weg über bei dieser Haltung. SelbstDenken, das viel vom Miteinander und Mitsein spricht, tut das, genau besehen, nur, um sich vom Anderen abzustoßen und abzusondern. Um ganz für sich sein zu können – als Einzelner, als geistige Existenz, als Religion, als politische und wirtschaftliche Einheit, gibt es, damit das optimal geschieht, nur eine Option: die Absolutsetzung. Stets ist dasselbe angezielt: das Eine bzw. der Eine wird zu Allem. Das bildkräftige Beispiel dafür ist das eine Volk als das Menschentum. 34 Das Einheitsdenken mit dem ihm immanenten Zug ins Inhumane ist nicht zuletzt dadurch ausgezeichnet, daß es nichts mit Gerechtigkeit anzufangen weiß. Das Eine wie das Absolute brauchen keine Balance.
VIII. Das Recht eines lebendigen Menschen auf Leben ist aufs engste verknüpft mit seinem Recht auf Selbstsein. Damit ist das Recht auf Leben als das Recht auf Lebensteilung angesprochen, auf Lebensteilung als Teilung des Rechts auf Selbstsein. Das Recht auf Leben eines neugeborenen Menschenkindes ist sein Recht auf Selbstsein, wie sein Recht auf Selbstsein sein Recht auf LeHeidegger hat unter Volk nie die Menge verstanden oder gar den Kriegerhaufen. Volk ist für ihn keine historische und auch keine biologische Größe, sondern ein rein geistiges Konstrukt, das dem erdichteten Geschickhaften des »Seyns« ein erdichtetes Geschickhaftes endlicher geistiger Existenz beigesellt, damit es im erdachten Drama des »Ereignisses« zu einem »wesenden« Selbstverhältnis von Schenken und Empfangen kommen kann.
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bensteilung ist. Das ist von größter Bedeutung für die Zweiheit von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit, wie sie gelingende und mißlingende Lebensteilung prägt. Neugeboren und noch ohne eigene Selbsthaftigkeit zu sein, ist eine menschliche Lebensform, wenn auch von relativ kurzer Dauer. Jede menschliche Lebensform ist auch eine Rechtsform, in der sich das Recht auf Leben ausspricht. Das macht es erforderlich, das Recht auf Lebensteilung grundsätzlich neutral darzustellen, nicht emotional. Gelingende Lebensteilung, wie sie unabdingbar Teilung des Selbstseins voraussetzt, geschieht, wenn beidseitig Selbstsein im Spiel ist, im besten Sinne des Wortes, »von selbst«. Es bedarf keiner Generosität und keines Erbarmens, wenn es darum geht, daß ein neugeborener Mensch sein Recht bekommt. Das gilt nicht weniger für den Dementen: Er hat ein Recht auf Demenz und mit ihr auf seine finale Lebensform. Das Recht des Neugeborenen und das des Dementen ist das auf Herstellung der Balance der Selbste und damit das Recht auf anfängliche Gerechtigkeit bei bestehender grundständiger Ungerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit ist keine Utopie: Sie ist möglich, weil sie wirklich ist. Ist sie durch Forschungen empirischer Anthropologen auch allein in kleinen Populationen nachgewiesen 35 , so genügt das, um für den eigenen Blick auf lebensteiliges Gelingen im Kleinen Bestätigung zu finden. Hat der Arme das Recht, arm zu sein, dann hat er das Recht, mit dem Reichen selbsthaft Beziehungen einzugehen und das heißt das Leben zu teilen. 36 Weil jetzt die Selbste im Spiel sind, Es ist wieder auf Thomas Widloks Buch Anthropology and the Economy of Sharing hinzuweisen (siehe oben S. 180 Anm. 1), in dem überzeugend nachgewiesen wird, daß lebensteiliges Gelingen keine Programme und normativ geleitetes Verhalten voraussetzt, sondern sich aus dem lebendigen Umgang von selbst ergibt. 36 Das setzt voraus, daß die Armut nicht das Leben unmöglich macht, sondern eine mögliche Lebensform ist. In meinem Buch Lebenskunst, München 1993, habe ich in dem Kapitel »Die Würde der Armen« (S. 197–300) die Probleme einer Lebensteilung der Armen ausführlich dargestellt. 35
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bleibt die Ungleichheit beider von der erreichten rechtlichen Balance nicht unberührt. Sie wird nicht gemindert, aber verändert. Arm und Reich beginnen, im Anderen etwas von sich selbst zu spüren, etwas von der Festigkeit und Widerständigkeit eigenen Selbstseins. Das ist der Anfang einer Mitwisserschaft, die verspricht, sich als gewissensbildend zu bewähren. Nun geht es nicht mehr um notdürftiges Miteinanderauskommen, sondern um notwendiges einander Brauchen. Geben sich Arm und Reich wechselseitig das Recht, das zu sein, was sie sind, dann ist das ein Vorschein menschlicher Solidarität. Wirkt sich die selbsthafte Beziehung zum Nutzen beider Seiten aus, dann hat kein berechnendes do-ut-des statt. Allein die Selbsthaftigkeit steht im Vordergrund und mit ihr das Von-selbst. Die Balance der Rechte ändert nichts am Stand von Armut und Reichtum, aber sie macht beider Miteinanderleben zu einem anderen: zu einem gesteigerten in überhöhter Wirklichkeit. Das Diskriminierungspotential der Ungleichheit mit ihrer banalen Realität belangt nicht mehr die Beziehung von beiden. Selbstisches Verhalten pervertiert das Selbst und sabotiert so sein eigenstes Vermögen: das Miteinander und Füreinander der Selbste. Stets garantiert es den Rückfall in die Banalität des Lebens. Selbsthaftes Verhalten dagegen, wie es der Natur des voll entwickelten Selbst entspricht, übt sich täglich in der Kunst der Balance. Wie es den Einen und Anderen dazu bestimmt, aufeinander einzugehen, verfährt es ernsthaft und gewissenhaft. Das Leben ist eine Schule des Selbst. In ihr wird nur Eins gelehrt und gelernt: Selbsthaftigkeit als Fundament gemeinsamen Gelingens. Wird auch Ungerechtigkeit, wie sie im »Recht« des Stärkeren ihren Ausdruck findet, das Humanum immer wieder in Frage stellen, so wird doch erlernte Selbsthaftigkeit immer wieder von selbst darauf die passende Antwort finden.
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I. Schon früh nutzt der Mensch das poetische Wort des Mythos, um sich über sich selbst aufzuklären. Mythische Erzählungen konkurrieren nicht mit menschlichem Erfahren, Erkennen und Wissen, sondern überhöhen die gewiß gewordene Wirklichkeit. Dazu dienen Bilder und vor allem Geschichten, die Bestehendes in seinem Werdegang darstellen. Das ist erhellender als jede Konstatierung von Fakten. Nicht von ungefähr hat sich der Zweiheit von Mann und Frau, dieser evolutionär vorgegebenen Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, der Mythos angenommen. Im ersten Buch der Tora, dem Buch vom Anfang von allem (Genesis), zeigt die Selbstauslegung des Menschen ihn im Augenblick seines Anfangs als Mann und Frau: »und es schuf Gott den Menschen, nach seinem Bilde schuf er ihn (auton). Männlich und weiblich schuf er sie (autous).« 1
Der erste Plural des Menschen ist der seiner Geschlechtlichkeit. Für vertikale Anthropologie kann es im Prinzip nur einen Menschen geben, weil die ihm angedichtete reine Vernunft eine ist, die sich – monotheistisch – in seiner Göttlichkeit manifestiert. Gehört jedoch zu dem, was den Menschen ausmacht, seine Geschlechtlichkeit, dann ist er unmöglich einer. Sie zeichnet ihn auch aus. Er hat sie sich angeeignet und überhöht. Die große philosophische Tradition ist blind dafür. Sie bleibt dabei, darin Tiergleiches und damit Unwesenhaftes zu sehen. Eine zweite Version des Anfangs des Menschen, die der Mythos der Genesis 1
1. Mose 1,27.
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erzählt, sieht von einer Simultanschöpfung der Geschlechter ab und läßt ihn mit der Bildung (plattein), nicht Schöpfung (poiein) des Menschen, der provisorisch Mann ist, beginnen: »da bildete Gott den Menschen aus der Erde des Ackers und blies ihm ins Gesicht den Atem des Lebens.« 2
Ackerboden gehört zum Menschen, der aus Erde ist, solange er lebt, und im Tode zu ihr zurückkehrt. 3 Belebt durch den Atem des Lebens ist die Erde das Fleisch, der Leib des Menschen. Er ist geformt und belebt und bereits provisorisch Mann, aber noch fehlt an seinem Menschsein etwas: die Zweiheit. »Da sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein (monon) ist.« 4
Damit der Mensch nicht allein ist, läßt Gott aus der Fleisch gewordenen Ackererde des provisorischen Mannes die Zweiheit des Menschen hervorgehen: »Und Gott, der Herr, gestaltete die Seite, die er dem Adam entnommen hatte, zu einer Frau. Und er führte sie zu Adam.« 5 »Deswegen verläßt der (zum Mann gewordene) Mensch seinen Vater und seine Mutter und heftet sich fest an seine Frau. Und die Zwei werden sein ein Fleisch.« 6
Der Mensch ist in seiner geschlechtlichen Zweiheit von einem Fleisch – so denkt und sagt es die mythische Selbstauslegung für die lebensteilige Verbindung von Mann und Frau. Ein Fleisch, so ist zu folgern, sind dann auch lebensteilige Verbindungen von Mann und Mann, von Frau und Frau, heben sie doch die grundlegende Zweigeschlechtlichkeit des Menschen nicht auf, sondern leben sie auf eigene Weise aus. Wäre der Mensch nicht zwei2 3 4 5 6
1. Mose 2,7. 1. Mose 3,19. 1. Mose 2,10. 1. Mose 2,22. 1. Mose 2,24.
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geschlechtlich, er wäre nicht Mensch. Das durch geschlechtliches Verlangen gestimmte Einander in jeder seiner Formen ist nicht nur der erste Grund für die Möglichkeit lebensteiligen Gelingens, sondern auch der stärkste Anstoß zur poetischen Überhöhung der Lebenswirklichkeit. Wer das nicht teilt und das den Menschen Auszeichnende einzig in seinen geistigen Kräften sehen will, hält es mit einer filosofia a solo. A solo – das ist die Anthropologie des Einzelnen, die mit dem UntenOben operiert, mit dem Nieder- und Hochschätzen. In compagnia – das ist die Anthropologie des Einander, die lebensteiligem Gelingen auf der Spur ist. Die erste christliche Theologie ist exemplarisch für die A-soloAnthropologie. Am Binnenverhältnis des Einzelnen interessiert, verweigert sie sich der Deutung der Genesis, daß der Mensch als Zweiheit geschaffen ist, um leiblich-geschlechtlich aufeinander bezogen zu sein. Ganz auf den Geist setzend, ist es für sie unerträglich, das Fleisch auch nur in die Nähe dessen kommen zu lassen, was für sie die Bestimmung des Menschen ist. Folgerichtig verkehrt sie das Bild lebensteiliger Zusammengehörigkeit der Genesis in das eines Abgrunds von Amoralität: »Oder wißt ihr nicht, daß, wer sich an eine Hure heftet, ein Fleisch ist? Die Zwei, heißt es, werden sein ein Fleisch. Wer sich aber an den Herrn heftet, ist ein Geist.« 7
Aus Adam und Eva in paradiesischer Unschuld (»Und es waren die Zwei nackt, Adam und Eva, und sie schämten sich nicht«) 8 sind Hurer und Hure geworden, aus der vereinten Zweiheit von Mann und Frau die unvereinbare von Himmel und Hölle, von göttlichem Geist und sündigem Fleisch (sôma psychikon). Die ganz auf die vertikale Menschensicht justierte Theologie will und kann nicht horizontal das zur Lebensteilung bestimmte Einander sehen. Geist und Fleisch, das Pneumatische und Psychi7 8
1. Korinther 6,16. 1. Mose 2,25.
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sche, wie Paulus es nennt, tragen ihre unversöhnliche Differenz am Einzelnen aus. Daß dieser nicht für sich das ist und hat, was den Menschen ausmacht, ist evident: Der Mensch schöpft nicht darin seine Möglichkeit aus, als Mensch zu reüssieren, daß der Einzelne Eins wird mit dem Geist (mit seinem geistigen Teil und dem Geist Gottes), sondern nimmt die intimste Möglichkeit lebensteiligen Gelingens darin wahr, daß er seine Pluralität, in welcher Form auch immer, konkretisiert. Menschwerdung vollzieht sich als Selbstwerdung. Das sich entwickelnde Selbst braucht den Umgang mit anderem Selbst. Wie sich das Mein aus dem Dein versteht, so das eigene Selbst aus dem eigenen Selbst des Anderen. Das Neugeborene hat kein entwickeltes Selbst. Es bedarf der Fürsorge und Liebe, was der Belehnung mit Selbsthaftigkeit gleichkommt. Und wie der Mensch auch nicht als Geist, sondern leibhaftig auf die Welt kommt, ist ein Beginn der Selbstwerdung auch der der Aneignung von Leiblichkeit und Sinnlichkeit. Das sind keine Parallelvorgänge, sondern Zusammengehöriges. Die Entwicklung zu eigenem Selbstsein beginnt mit Selbstwahrnehmung und Sichselbstkennenlernen. Das geschieht durch »In-Resonanz-Kommen« mit Anderen. Daß ein eigenes Selbst sich dem Einander verdankt, habe ich schon früh durch eine Erfahrung des Aristoteles belegt: »Wenn wir unser Gesicht sehen wollen, sehen wir in den Spiegel, wenn uns selbst, auf den Freund, denn er ist, wie wir sagen, das andere Ich (heteros egô)«. 9 Die Selbstentwicklung kommt zu keinem Abschluß. Das eigene Selbst braucht stets neu Umgang mit anderem Selbst, um sich zu bewähren, weiter zu gestalten und zu festigen. Wie die Hilflosigkeit am Anfang des Lebens, so bedarf auch die am Ende des Lebens der Fürsorge und Liebe Anderer, die für die Selbsthaftigkeit des Hilflosen einstehen. Lebensgeschichte kann als Geschichte des Selbstseins erzählt werden (Marcel Proust: das Selbst beim Friseur, das Selbst
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Aristoteles, Große Ethik II 15, 1231a21.
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vor und nach der Trennung von Albertine). Bringt Einer in praktischen Situationen, die es möglich machen und geraten sein lassen, sich selbst ein, dann variiert mit den Situationen auch das vorherrschende Wissen des Selbst um sich selbst. Dieses Wissen ist stets gehaltvoll und nie das einer »nackten Existenz«. Selbstsein und Sichselbstwissen als ekstatisches pures Daß ohne jedes Was ist eine Erfindung der Mystik. Ist einer von einfacher, ein Anderer von adliger Herkunft, ob für einen Glücksfall genommen oder für das Gegenteil, so stellt das nicht selten einen Grundgehalt des Sichselbstwissens und Sichselbstempfindens dar. Auch Religionen zeigen die Kraft, das Selbst eines Menschen zu prägen. Auf einzigartige Weise aber gehört die Geschlechtlichkeit zu eines jeden Selbstsein. Ein Junge oder ein Mädchen zu sein, ein Mann oder eine Frau – das kommt bei jedem selbsthaften Handeln mehr oder weniger ausgeprägt ins Spiel. Empfindet sich freilich eine Frau nicht als Frau, sondern als Mann, dann liegt es nahe, daß sie sich lebenspraktisch als Mann einbringt, wenn ihre Selbsthaftigkeit gefragt ist, und dies auch ohne erfolgte Geschlechtsumwandlung. Ausschlaggebend für die hier angestellten Überlegungen ist, daß sie geschlechtlich bestimmt ist, wenn auch anders, als die natürliche Mitgift es vorgezeichnet hat. Für den Mann, der sich als Frau empfindet, gilt Entsprechendes. Die Aneignung eigener Geschlechtlichkeit in ihrer Andersheit gehört, so oder so, zur Entwicklung des Selbst.
II. Wesensphilosophie läßt keine Andersheit des Selbst zu. Wie sie im Menschen ein Oben und ein Unten unterscheidet, kann für sie das Selbst nur das Oberste und Höchste sein, das die Desintegration aus der Lebenswelt voraussetzt. Wird, wie traditionell üblich, der konkrete Einzelne als ein Verbund von Leib und Seele, Körper und Geist, Sinnlichkeit und Geistigkeit gedeutet, 222 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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dann setzt sich der Gedanke des – emphatisch – eigentlichen und wahren Selbst zielsicher über die Verbindung hinweg, die als Analysen des Einzelnen als eines »Zusammenganzen« (das aristotelische synholon) gemeint sind. Für den Gedanken eines Selbst, das für das eigentliche Wesen steht, ist die Verselbständigung des Geistes zwingend. Seiner Konzeption entsprechend beim Höchsten angelangt, ist das geistige Selbst Eins mit sich; Andersheit kann in ihm und für es nicht gegenwärtig sein. Subjektivitätstheorie, die sich als Selbstverständigung der Subjektivität und das heißt des bewußten Lebens versucht, hält es ebenfalls mit einem Selbst, das keiner Anderheit und Andersheit bedarf, um es selbst zu sein. Sie geht davon aus, »dass ich mich im Selbstbewusstsein ursprünglich, also nicht vermittelt durch die Kontrasterfahrung zu anderen, als einzelnes Subjekt verstehen kann«. 10 Aristoteles’ Erfahrung, daß ich den Freund brauche, wenn ich nicht mein Gesicht, sondern mich selbst sehen will, ist kein möglicher Ausgang für diese Theorie. Deren Selbst ist ganz für sich und lebt aus seiner Immanenz. Beim Anderen zu sein, bedeutete Transzendenz. 11 Das bewußte Leben des einzelnen Subjekts, wie sie es reflektiert, ist das Leben des Bewußtseins, genauer: des Selbstbewußtseins. Läuft Kants kategorischer Imperativ, der nichts anderes als der Selbsterhaltungssatz der reinen Vernunft ist, auf die These hinaus »Es ist vernünftig, vernünftig zu sein«, dann tut es diese Selbstverständigung der Subjektivität ihm nach, wenn sie auf die emphatische Tautologie hinausläuft: »Der Sinn des Sichwissens ist, sich wahrhaft und gänzlich zu wissen«. Identität, soll das heißen, bedarf keiner Alterität, weil die Anderen keinen Zugang haben zum eigenen Selbstsein, das sich im Sichwissen abspielt. Die Anderen bedeuteten ja eine »Kontrasterfahrung«. Sie sind
Dieter Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt a. M./Berlin 2007/2016, S. 61. 11 Dieter Henrich, Denken und Selbstsein, S. 264–266. 10
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Fremdheit und Gegensatz, ohne mögliche konstitutive Bedeutung für das Eigene. 12 Der wahre Wert für das endliche einzelne Subjekt wird hier in seiner Selbständigkeit gesehen. So hat es verständlicherweise keine Tendenz, im All-Einen aufzugehen, obwohl es ihm ursprünglich entstammt. Die leitende Frage, »auf welche Weise die Einzelnen in die Einheit eingeschlossen und doch zugleich selbständige Einzelne bleiben können«, 13 findet eine überraschende Antwort: Sie können es, weil sie ursprünglich mit dem allbefassenden Einen etwas gemein haben: die »Selbstgenügsamkeit«. Das Eine ist vollkommen autark, die Einzelnen sind es ihrer Tendenz nach. »Abhängigkeiten« von Anderen werden zugestanden, was besagt, daß die Einzelnen leider auch etwas fremdgehen müssen. Das seiner selbst bewußte und gewisse Subjekt ist eigentlich sich selbst genug. Das Verhältnis zu Anderen erfordert dieser Theorie zufolge einen »Übergang«. Für das, zu dem das Selbstsein übergeht, wird das Wort Mitsein von Heidegger übernommen, das bei ihm ausschließlich für die uneigentliche Ausrichtung des Selbstseins steht. Mitsein mit Anderen hat die gleiche existenziale Bedeutung wie Verfallensein an die Welt. Mit dem Nachbarn zu reden, sei Flucht vor dem »eigensten eigentlichen Seinkönnen«. Bei dem Übergang vom Innenraum des Selbst Henrichs durch den Deutschen Idealismus inspiriertes Einheitsdenken, z. B. durch Hegels Gedanken der All-Einheit, des Absoluten und der Versöhnung der Vernunft mit der Religion, gibt allem, was das Selbst betrifft, den Charakter des Ursprünglichen und Spontanen: dem Wissen von sich selbst, der Selbstvertrautheit, eben jeder Form bewußter Selbstbeziehung. Er muß das, weil es für ihn keine Entwicklung des Selbst durch Umgang mit anderen Selbsten geben darf. Konsequenterweise liegt dann der Sinn des Lebens im Geistigen. Vermeinte letzte Fragen werden nicht nur gestellt, sondern beantwortet: die Fragen nach der Wahrheit und Ganzheit des Lebens. Siehe auch, u. a., ders. (Hg.), All-Einheit. Wege eines Gedankens in Ost und West, Stuttgart 1985, das Vorwort und den Beitrag »Dunkelheit und Vergewisserung«. 13 Dieter Henrich, Denken und Selbstsein, S. 267. 12
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zum Außenraum des Mit nun, wie ihn die Subjektivitätstheorie vorstellt, kommt kein wechselseitiges Selbstsein zustande. Bildet sich im Mitsein ein lebens- und handlungsteiliges Ensemble, dann sieht Heidegger das Lebewesen Mensch im Fokus, nicht aber das allein wesensfähige Seinswesen. Für die Subjektivitätstheorie ist das Wort gut gewählt, soll es doch den Übergang zu etwas bezeichnen, das nicht dem Sichselbstwissen des Subjekts zugehört, sondern etwas Fremdes ist und bleibt. Diese filosofia a solo führt ihren Gedanken der Verständigung über Subjektivität tatsächlich so, daß es zu Selbstsein mea sponte kommt.
III. Wird die Möglichkeit systematisch verneint, daß Ungleichheit des Menschen zu seinem Selbstsein gehört und damit das den Menschen Ausmachende nicht beim Menschen zu suchen ist, der unter Menschen lebt (interhuman), sondern allein im Einzelnen (intrahuman), dann ist die Sache menschlicher Gleichheit noch nicht gesichert. Werden Vernunft und bon sens für vollends einheitlich erklärt, so kann sich doch vertikale Anthropologie nicht gut mit dem Menschen begnügen. Die Selbstdynamisierung des desintegrierten Geistes, die sie auslöst, weist nach oben in die solipsistische Verlöschung, wenn nicht über den Menschen hinaus. Tut sie Letzteres, dann weist sie auch nach unten auf das, was unterhalb der Würde des Menschen ist. Die filosofia a solo, die kategorisch verneint, daß Mensch zu sein heißt, ein Leben in compagnia zu führen, macht den Menschen zu einem Mittelwesen zwischen Gott und Tier. Die Platzanweisung, die den Menschen als Nicht-Gott und Nicht-Tier bestimmt, läßt keine menschlichen Züge desselben mehr erkennen. Doch was als bloßes Ordodenken erscheinen mag, enthält in Wahrheit die dramatische Aufforderung, sich zwischen Gott und Tier zu entscheiden. Wie die Entscheidung aber auch ausfällt, eine für den Menschen kann sie unmöglich sein. Die Alter225 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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native »Gott oder Tier?« erlaubt keine Wahl, sondern fordert zu einem Bekenntnis auf: zu dem Bekenntnis, ganz auf das Höchstmögliche hin ausgerichtet zu sein und damit über sich hinaus. Das mit der Entscheidung für das Oben sich generierende Selbst ist kein Ergebnis gelungener Individuation und Sozialisation, ist keines, das sich in immer neuen Erprobungen durch Umgang mit anderen Selbsten festigt und bewährt. Als das – emphatisch – eigentliche ist es in einem Bereich ausgelagert, der über alles lebensteilige Bestreben erhaben ist. Nur so kommt die das Wesensdenken kennzeichnende Lebensferne und Lebensfeindlichkeit in ihm zur Geltung. Theologen, die genötigt sind, von einem bereits jetzt gelebten eigentlichen Leben der Gläubigen zu sprechen, aber doch zugleich zu verkünden haben, daß es erst im Himmel beginnt, gebrauchen gern das Intellekt besänftigende Wort »inchoativ«: Das eigentliche Selbst werde hier und jetzt »anfänglich« gelebt, ohne erklären zu können und erklären zu wollen, wie das angehen soll, daß ewiges Leben schon einmal im Zeitlichen seinen Anfang nimmt. Der Philosoph, der am Erdenken und Erdichten eines einzigen Gottes teilnimmt, eines Gottes freilich, der nicht gebraucht ist, um ihn für Hilfe in diesem Leben anflehen und letztlich als Erlöser von diesem Leben glauben zu können, sondern als Bild des vollendeten Geistwesens und höchstmächtigen Seinswesens, steht vor der gleichen Nötigung. Denkt er den wahren Menschen, das wäre zum Beispiel der wahrhaft vernünftige, sittliche und gerechte, als eschatologisch vertagt, dann muß er doch auch das mögliche Humanum unter den hier und jetzt gegebenen Bedingungen benennen können. Die Situierung des Menschen zwischen Gott und Tier hat für die europäische Philosophie ein eigenes Problem von Ganzheit geschaffen: Wann ist der Mensch ganz Mensch? Die formale Antwort lautet: Der Mensch ist ganz Mensch, wenn er sein Wesen ist. Bei ihrem Gehalt ist stets an die Geistigkeit des Menschen gedacht und damit an etwas, das nicht unter den Bedingungen eines leiblich-sinnlich gelebten Lebens steht. Philosophie bedient so das gerühmte metaphysische Bedürfnis des 226 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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Menschen mit der Idee eines pneumatischen Lebens auf Erden, das die ihm eigene Lebenspraxis innerhalb der als rein erdachten Geistigkeit eines Einzelnen absolviert. Spricht Kant als Anwalt der reinen Vernunft und nicht als charmanter Gastgeber bei Tisch, dann gibt es für das tatsächlich gelebte Leben kein gutes Wort. So sagt er doch allen Ernstes, daß er »nur noch aus Pflicht [lebt], nicht weil er am Leben den geringsten Geschmack findet«. 14 Solch ein Vernunftgebaren schließt die »intellectuelle Verachtung« 15 für das gelebte Leben ein. Kant wollte mit seinem Begriff der Kritik die Grenzen der (reinen) Vernunft bestimmen. Mit dem Konzept einer reinen Vernunft hat er die Grenzen menschenmöglichen Vernunftgebrauchs deutlich überschritten. Es kann nicht verwundern, wenn dem Leben entrückte Philosophie wesentliches Handeln in die geistige Selbstbezogenheit des Einzelnen verlegt. Bestimmt, wie Kant es will, reine Vernunft den Willen dazu, »ohne Einschränkung« ein guter zu sein, der allein das rein Vernünftige will, dann läßt er reine Vernunft praktisch werden: Sie wird reine praktische Vernunft. Die für das zu lebende Leben bedeutungslose Gesinnungsethik ist geboren. Schon Aristoteles hat propagiert, im Denken um des Denkens willen das wesentliche Handeln zu sehen: die gottgleiche Selbstverwirklichung des Göttlichen im Menschen in der Zeit. 16 Wer autark ist, braucht keine Freunde. Gott ist autark, 17 ebenso der, der durch göttliche Gaben genug hat. 18 Genau das gilt auch für den um seine Vervollkommnung bemühten Einzelnen: Er hat kein Verhältnis zu Anderen. 19 Wie sollte auch in sich vollImmanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 88. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 75. 16 Aristoteles, Metaphysik Lambda 7, 1272b25. 17 Aristoteles, Politik A 2, 1253a29. 18 Aristoteles, Nikomachische Ethik IX 9, 1169b3–8. 19 Aristoteles, Nikomachische Ethik IX 4, 1166a13–22. Hier wird die Selbstbezogenheit des Einzelnen, der in ethischer Vollkommenheit das Höchste und Beste im Sinn hat, als eine absolute vorgeführt: Er hat das einzig für sich selbst im Sinn. 14 15
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kommenes Handeln, das sich im Geist eines Einzelnen vollzieht, unter Menschen von Bedeutung sein? Heidegger, der die Zuwendung zum Leben, zur Welt, zum Anderen als Flucht vor dem eigentlichen Selbstseinkönnen deutet, hat mit seinem »existenzialen Solipsismus« 20 einen Weg gefunden, Handeln ganz Sache des Einzelnen in seiner Einzelnheit sein zu lassen, dies aber so, daß es jeden Prozeß- und damit Zeitcharakter verliert und, wie er es später denkt, auch jede Spontaneität. Handeln erhält den Ereignischarakter, das Jähe des Augenblicks, in dem das Seinswesen Mensch ekstatisch sein reines Daß ist. Ein Lebensbezug dieses Handelns ist ausgeschlossen. 21 Beginnt Heidegger den Brief über den Humanismus (1946) mit den Worten »Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug«, dann zeigt das nur seine wesensphilosophische Entschiedenheit, Handeln nicht Sache des Menschen, sondern einzig des Wesens des Menschen (des »Menschenwesens«) sein zu lassen. Das »Denken« als eigentliches Handeln und Wesensvollzug versteht sich als ein Sichselbstdarbringen, Sichselbstübereignen. 22 Das zeitlose Seinsereignis und das zeitlose Denkereignis koinzidieren. Damit soll der Augenblick der Authentizität, das heißt der absoluten Selbstheit gemeint sein. Ein Selbst wird vorgeführt, das nicht einmal mehr Zeit hat, mit sich selbst identisch zu sein.
IV. Auf das Geistige fixierte filosofia a solo verwehrt in all ihren Ausgestaltungen der Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit den Zugang zu menschlicher Selbsthaftigkeit. Doch allen Versuchen, den Menschen, wie er leibt und lebt, auszublenden und 20 21 22
Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 188. Martin Heidegger, Sein und Zeit, u. a. S. 284. Martin Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1949, S. 5.
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ein gänzlich dem Geistigen verpflichtetes Menschenwesen zu erschaffen, ist etwas zutiefst Menschliches zu eigen: das Verlangen, sich fortzuzeugen. Kein Leben ist weiterzugeben, aber Geist. Der lebenzeugende Eros wird überhöht. Wesenhaft ist allein der wesenzeugende Eros, der als pädagogischer und moralischer auftritt. Gehören beim Menschen zur natürlichen Lebenserzeugung Zwei, dann ist es bei der wesenhaften Geisterzeugung der Eine in seiner Einzelnheit. Die Gedanken der Priesterin Diotima über den Eros, die Platon seinen Sokrates im Symposion vortragen läßt, 23 vermitteln anschaulich die Selbsteinschätzung der Philosophie, mit ihrem Eros einzig das für den Menschen wirklich Wesenhafte zu bewirken, und dies ausdrücklich abgehoben gegen den Eros, der Mann und Frau verbindet. Die erotische Liebe bei Platon (erôs) ist die erzeugende Liebe – im Unterschied zu Gunst und Huld (charis). Lieben (eran) ist so die menschliche Möglichkeit, sich um Unsterblichkeit zu bemühen (athanatizein). Dieser Zug zum Unsterblichen wird verbal immer wieder vergöttlicht. Dennoch denkt der Philosoph an ein Weitergeben von Mensch zu Mensch. Der wahrhaft Liebende und sich Fortzeugende wird mit keinem Gott, wohl aber mit einem Helden verglichen: Es geht um Nachruhm (athanatos mnêmê) – die Überlebens- und damit Unsterblichkeitschance des Helden. Nun läßt sich aber auch Übles fortzeugen, wie auch Übeltäter erinnert werden. Das berühmte Wort aus dem Aias des Sophokles über die Fortzeugekraft der Charis: »Liebe ist es, die immer Liebe erzeugt«, findet in dieser Tragödie sein Gegenwort: »Oh Übel, Vorfahren der Übel!« 24 Um für einen heldengleichen Nachruhm des sich geistig Fortzeugenden zu sorgen, läßt Platon die Schönheit ins Spiel kommen. Auch die geistige Liebe braucht Schönheit, um Früchte zu erzeugen, die zum Guten sind. Die Liebe geht aber nicht auf das Schöne. Das wäre ja Endlichkeit, wollte der Liebende das Schöne bloß genießen. 23 24
Platon, Symposion 201e–212c. Sophokles, Aias 522; 1197; vgl. 866.
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Nein, er will sich im Schönen fortzeugen, und dies mit dem Schönen, das er in sie einbringt. Mit schönen Worten schönes Geistiges im Schönen fortzeugen – das ist der Schönheitsreigen der sich geistig fortzeugenden Liebe, Schönheit als Wort für die durch Geistigkeit gewonnene Sittlichkeit. Wie bei Aristoteles ist der geistig-sittliche Hochstehende, der sich durch liebenden Umgang mit Schönem für die Unsterblichkeit von geistig Schönem und Gutem einsetzt, wesentlich auf sich selbst bedacht. Er ist es, der Unsterblichkeit erlangen will, das heißt einen trotz Voranschreiten der Zeit unvergänglichen Nachruhm. 25 Natürliche Voraussetzung dafür ist, daß die das Leben weitergebende Liebe ihr Werk tut. Das jedoch wird im Symposion nicht diskutiert. Die Überhöhung der erzeugenden Liebe und die Überhöhung der Schönheit, in der sie ihr Werk tut, bedingen einander. Die niedrigste Form dieser Liebe ist die das Leben fortzeugende, die ihr entsprechende niedrigste Form der Schönheit die der leibhaften Erscheinung. Das, was diese Entsprechung von Liebe und Schönheit in den Augen des Philosophen als wahrhaft niedrig erscheinen läßt, sind Vielheit und Unreinheit. Schöne Männer und Jungen wie schöne Frauen und Mädchen gibt es zuhauf. Und niemand ist wirklich schön, weil niemand ohne Häßliches ist. Sokrates ist von Gestalt häßlich, sieht man aber auf seine Seele, dann entdeckt sich seine Schönheit. Was wäre dagegen der derzeit schönste Ephebe Athens, der sich vor Liebhabern nicht retten kann, gäbe er nicht, zöge Platons Sokrates ihn durch ein Gespräch geistig aus, den Blick frei auf eine »schön gewachsene« Seele? 26 Die Leben weitergebende Liebe ist eigentlich noch keine Liebe, die Schönheit des Leibes eigentlich noch keine Schönheit. Wirkliche Liebe gibt es für Platons Sokrates erst als Eigene Erinnerung: Heidegger fragt nach einer Aufnahme den Tontechniker, wie lange die Kassette denn hält. Der meint: »So zweihundert Jahre.« Heidegger darauf: »Ach, nur zweihundert Jahre.« 26 Platon, Charmides 153d2–154e1. 25
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geistig zeugende im wirklich Schönen: in der schönen Seele, dem ersten wirklich Schönen. Das soll nun also der einzig wahre Weg zur menschenmöglichen Vollkommenheit sein. Es ist der Weg des Mannes, der bei der richtigen Knabenliebe (orthôs paiderastein) seinen Anfang nimmt, und in der Schau des Schönen selbst in ekstatischer Zeitlosigkeit sein Ende findet, was für den Mann beinahe (schedon) seine Vollendung ist. 27 Damit erweist sich Platons Ideendenken, ein Meisterwerk europäischer Denkkunst, aufs Offenkundigste als eine grundlegende Irreführung der philosophischen Verständigung des Menschen über sich selbst. Der Mensch in seiner höchstmöglichen Vollendung sei ein männlicher, in die Mysterien des Geistes eingeweihter Enthusiast im Zustand der Ekstase. Schönheit gibt es aber nicht, schon gar nicht an und für sich (kalon kath’ auto meth’ autoû). Sie ist stets ein Werk menschlichen Künstlertums: eine Höchstleistung der auf Empfindung beruhenden Poesie. Schönheit wird durch den Wahrnehmenden wahrnehmend hervorgebracht. In diesem Falle ist es das Auge, das sich schöpferisch verhält. Die Ontifizierung der Schönheit ist die grundlegende Fehlleistung dieser so wirkmächtigen Deutung menschlicher Vollendung. Werden Sonnenuntergänge und Singvögel allgemein für schön angesehen, wird Schönheit reichlich unter jungen Menschen ausgemacht, dann beruht das nicht auf objektiven Feststellungen. Der Mensch als Künstler ist am Werk, der Tiefen seines Empfindens in Worte faßt. 28 Das vertikaler Anthropologie zwangsläufig zugehörige Einheitsdenken hintertreibt methodisch jedes Einander. Der ekstatische Vergeistigte, der das Schöne an und für sich »berührt«, 29 wäre, könnte es ihn geben, das einsamste Wesen der Welt, die sich fortzeugende Liebe im wirklich Schönen vollkommen erloschen. Platons Einheitsdenken schließt die Möglichkeit der 27 28 29
Platon, Symposion 211b6. Sie dazu Rainer Marten, Radikalität des Geistes, S. 261. Platon, Symposion 211b7.
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Einsicht aus, daß mit wahrnehmbarer Schönheit, angefangen mit der menschlichen Gestalt, und fortzeugender Liebe, angefangen mit der das Leben weitergebenden, Überhöhungen der Wirklichkeit angesprochen sind, die sich der poetischen Kraft des Menschen verdanken. Der Einsamste und Vollkommenste, den es sich als jähe, Wunder schauende Existenz erdenkt, ist jenseits lebensteiligen Gelingens, das sich dem geschlechtlichen Verlangen nach Zusammenleben verdankt.
V. Wesensphilosophie mit ihrem tendenziell alles vergeistigenden Einheitsdenken läßt sich nicht widerlegen. Sie ist die philosophisch vorherrschende Art, die Unbeantwortbarkeit der Frage, die der Mensch sich selbst ist, schöpferisch zu gestalten. Der Entwurf eines – emphatisch – wahren Menschen in reiner Geistigkeit beantwortet nicht die Frage nach dem Woher und Wohin, Warum und Wozu des Menschen, aber mit ihm ist etwas erdacht, der Rätselhaftigkeit des Menschen ein Gesicht zu geben. Es entspringt den geistigen Kräften des Menschen, daß er sich zum Rätsel wird und um sein Leben und seinen Tod als den Schatz seines Nichtswissens weiß. Ist der leitende Entwurf aller Wesensphilosophie auch nicht zu widerlegen, so ist es doch notwendig, ihn als den zu deuten, der durch seine Gestaltung der Unbeantwortbarkeit der Menschenfrage die philosophische Verständigung des Menschen über sich selbst in die Irre führt. Die in ihm enthaltene Sinngebung für das Geistwesen Mensch ist konträr zu dem, was das zu lebende Leben und das es beendende Sterben als Sinn zu brauchen verstehen. Wesensphilosophie genügt als Denkkunst sich selbst. Sie ist ohne Relevanz für menschliches Leben und Sterben. Das gilt gerade auch für Pädagogik und Ethik, die Platon so stark in sein Einheitsdenken einbringt, weil beides vollständig in den denkkünstlerischen Gesamtentwurf integriert ist. 232 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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Bleiben Leben und Sterben für den Menschen, fragt er nach ihrem Sinn, unbeantwortbar, dann auch das Weitergeben von Leben: Warum und wozu das Leben weitergeben? Warum und wozu Mann und Frau? Damit hat jede philosophische Erörterung der Zweiheit von Mann und Frau, die sie in das Sich-einRätsel-Sein des Menschen einbezieht, anzufangen. In ihr wird die biologische Tatsache der Zweiheit des Menschen nur konstatiert, um sogleich der Einsicht zu folgen, daß das mit ihr gestellte bleibende Rätsel bereits Resultat einer schöpferischen Überhöhung der Wirklichkeit ist. Damit ist das biologische Resultat der Entwicklung menschlichen Lebens, die Ungleichheit von Mann und Frau, die unübersehbar eine der körperlichen Gestaltung, aber mehr noch der physischen Kräfte und Möglichkeiten ist, nurmehr die Ausgangslage, über die Philosophie mit jeder ihrer Deutungen hinausgeht. Philosophie konkurriert nicht mit Wissenschaft und Realitätssinn, sondern hält sich an sie, indem sie von ihnen ausgeht. Mit ihrem ersten Schritt erreicht sie eine andere Ebene. Auf dieser soll jetzt aber nicht länger das Idealistische anstatt des Realistischen das Nachdenken über humane Möglichkeiten des Menschen inspirieren, sondern menschliche Lebensteilung, wie sie bereits gelingt.
VI. Es ist ein philosophischer Blick, der das Verhältnis von Mann und Frau in seiner Ungleichheit als eine grundständige Ungerechtigkeit sieht. Kein Biologe hat ihn, kein Jurist. Wer über Recht und Unrecht nach kultureller Praxis und codiertem Recht urteilt, hält sich an Tatsachen (institutional facts). Hat man damit zwar die Ebene verlassen, auf der der Genetiker operiert, so ist es doch nicht die der überhöhten Wirklichkeit, die der Philosoph mit Blick auf den Lebensteilungskünstler nutzt. Politische Gesetzgebung hat das Zusammenleben von Mann und Frau früh zu einer gesetzlichen Verbindung gemacht: zum Recht des Man233 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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nes auf seine eigene Frau und zum Recht der Frau auf ihren eigenen Mann. Beide Male benennt »eigen« ein Rechtsgut, kein Lebens- und Liebesgut, kein Vertrauensgut, nichts, was nach der Kunst der Lebensteilung verlangt. Man könne nicht in sein eigenes Haus einbrechen, nicht seine eigene Habe stehlen – ja, sagt Aristoteles, das ist ganz so, wie man nicht die Ehe mit seiner eigenen Frau brechen kann. 30 Das laut Eherecht Eigene, der eigene Mann und die eigene Frau, mag als Rechtsgut noch so hoch gehandelt werden, so ist es doch eben nur ein solches. Mit eigenem Leben und eigenem Tod ist rechtlich Eigenes unvergleichbar. Nicht von ungefähr stellt Aristoteles Ehebruch in eine Reihe mit Diebstahl und Mord. 31 Er gilt ihm fraglos als schweres Verbrechen, aber eben als etwas, das unter Strafe steht, weil es die öffentliche Ordnung bedroht. Religiöse Poesie hat versucht, der Institution Ehe einen anderen Status zu verleihen, um sie für unauflöslich zu erklären: als Gottesgebot und Gnadengeschenk (Sakrament). Christus werden die Worte der Genesis von der fleischlichen Einheit von Mann und Frau in den Mund gelegt, um sie als Gebot zu fassen: »Was der Gott zusammengespannt hat, soll der Mensch nicht trennen!« 32 Das ist eine Machtausübung über das Glaubensvolk, die über die politische hinausgeht. Jetzt geht es nicht um die soziale Ordnung einer durch dieselbe Gesetzgebung vereinten Bürgerschaft, sondern um die Herrschaft über die inneren Kräfte des Einzelnen, die sein Selbstsein formen. Um Macht über die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft zu haben, dringt sie in jeden Einzelnen ein und besetzt dort apodiktisch die Themen »Liebe« und »Tod«. Wer unter Androhung schärfster Sanktionen den Umgang eines Menschen mit seiner Sexualität aufs genaueste zu reglementieren sucht, könnte massiver in dessen Selbstsein nicht eingreifen. Kant hat nicht weniger vor, wenn er die von ihm erdachte reine 30 31 32
Aristoteles, Nikomachische Ethik V 5, 1131a6. Aristoteles, Nikomachische Ethik V 5, 1131a6. Markus 10, 9.
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Vernunft, die er zur moralisch gesetzgebenden und das Gewissen beherrschenden gemacht hat, dazu beauftragt sieht, dem zur Vernünftigkeit Verpflichteten vorzuschreiben, wie er es in Sachen Geschlechtlichkeit und Sterblichkeit unbedingt zu halten habe. Für die »Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften« macht er Ehe zur Vernunftpflicht: »[W]enn Mann und Weib einander ihren Geschlechtseigenschaften nach wechselseitig genießen wollen, so müssen sie sich nothwendig verehelichen, und dieses ist nach Rechtsgesetzen der reinen Vernunft nothwendig.« 33
Auch Kants reine Vernunft verfügt über Sanktionen: Wer sich unter diesen Gegebenheiten nicht vereheliche, verliere sein personales vernünftiges Selbst: er werde zur Sache. Mit der gleichen Vernunft spricht er dem Menschen auch jedes Recht auf Selbsttötung ab: Wer erst gerne lebt, dann aber, hört es mit den Lebensfreuden auf, das eigene Leben selbsthaft beenden will, bei dem erkennt er einen Selbstwiderspruch im Lebenswillen und damit für reine Vernunft Inakzeptables. 34 Politische, religiöse und vernunftphilosophische Gesetzgebung zur Zweigeschlechtlichkeit des Menschen geht davon aus, daß Mann und Frau von Natur füreinander bestimmt sind, und zwar, wenn sie sich vereinigen, zu einer dauerhaften Vereinigung. Die grundständige Rechtslage, die durch die Qualität der Unterschiedenheit der beiden Geschlechter gegeben ist, wird dabei nicht in Betracht gezogen. Das hat Folgen. Anstatt in der Ungleichheit von Mann und Frau eine für das Verhältnis grundlegende und bleibende Unausgewogenheit zu erkennen, die immer neu dazu herausfordert, zur Balance zu finden, hält man es für vorgegeben, daß der Mann in dem Verhältnis beider Geschlechter dominiert. Aus Naturgegebenheit wird institutionaImmanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Bd. VI., S. 277 f. »Lebenswierig« im Sinne von »lebenswährend«, »lebenslang«. 34 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. IV, S. 422. 33
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lisiertes Recht. Das führt dazu, die Ungleichheit von Mann und Frau für eine im wesentlichen, wenn nicht allein gesellschaftlich hervorgebrachte anzusehen. Wird sie zu einer rein gesellschaftlichen, dann lassen sich ab sofort gesellschaftliche Prozesse ins Visier nehmen, sie zu beseitigen. Werden sie angestoßen und führen sie zum Erfolg, dann gilt die Ungleichheit von Mann und Frau als nicht mehr existent. Doch am Verhältnis von Mann und Frau ist das größte Gut die Ungleichheit.
VII. Daß es gewichtige Stimmen gibt, die evidente Ungleichheit von Mann und Frau nicht zu akzeptieren und für völlige Gleichheit zu plädieren, hat gute Gründe. Die Geschichte des Menschen als die Geschichte der Zweiheit von Mann und Frau ist geprägt durch die Dominanz des Mannes. Die aber ist einzig legitimiert durch das »Recht des Stärkeren«. Amazonen und Walküren können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Ungleichheit des Geschlechts beim Menschen durch eine Ungleichheit der Physis im Ganzen sekundiert wird. Dieses erweiterte Nicht-inBalance-Sein ergänzt die grundständige Ungerechtigkeit, die im Verhältnis von Mann und Frau herrscht. Der »Stärkere« ist das Urbild der nicht gegebenen Balance. Das macht aus dem beanspruchten Recht des Stärkeren das die Geschichte des Menschen prägende Unrecht. Anstatt die so reiche Ungleichheit von Mann und Frau fruchtbar zu machen und in ihr die Herausforderung zu sehen, einen eigenen Weg der Ausbalancierung zu finden, hat der Mensch aus der staunenswerten Vorgabe der Natur das verbriefte Vorrecht des Mannes gemacht. »Und er (der Mann) wird über dich (die Frau) herrschen« – so der rechtende und richtende Gott des Paradieses zu Eva. 35 Die erste Rechtssetzung für menschliches Miteinander gilt in dieser my35
1. Mose 3,16.
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thologischen Selbstauslegung dem Verhältnis der Geschlechter in ihrer Alltäglichkeit. Der Gott, der Eva die Unterordnung unter den Mann verkündet, hat im Sinn, daß die Bildung Evas aus dem Fleisch Adams sie ein Zweites gegen ein Erstes sein läßt. Gerade auch in der Fortpflanzung wird die Funktion der Frau als eine dienende gesehen. Mit der ersten Rechtssetzung, die dem aus dem Paradies ausgeschlossenen und vom Baum des Lebens ferngehaltenen, geschichtlich gewordenen und seßhaft lebenden Menschen gilt, setzt dieser Gott faktisch ein doppeltes Unrecht. Sie erklärt die Herrschaft des Mannes über die Frau und die Ungleichheit von Mann und Frau im Sinne des codierten Rechts als rechtens. Ist jedoch Leitbild von Gerechtigkeit die Balance, dann paßt signifikante Ungleichheit überhaupt nicht in dieses Bild. Geht es nicht um das Faktum, sondern um das Recht, Mann und Frau zu sein, dann ist die anfängliche Rechtslage der Geschlechter mit ihrer signifikanten Ungleichheit unmöglich eine andere als die der Ungerechtigkeit. Das Matriarchat ist eine geschichtliche Leerstelle, das Patriarchat reichlich bezeugt, zum Beispiel als Vaterherrschaft im alten Rom (Pater familias). Er hob das ihm vorgelegte Neugeborene in den Kreis der Lebenden auf oder ließ es liegen. Vorrechte des Ehemannes in der Bundesrepublik Deutschland wie das der Bestimmung der Vorhangfarben in der gemeinsamen Wohnung entfielen erst mit dem am 1. Juli 1958 erlassenen Gleichberechtigungsgesetz. Das Recht des Stärkeren hat nicht nur unter Ethnien und Staaten, sondern auch in der Familie seine Überlebensfähigkeit bewiesen und beweist sie noch. Wo eine Frau List und Gift braucht, genügt einem Othello der Würgegriff. Es liegt wohl an der Selbsterfahrung, der Stärkere zu sein, daß sich damit auch das Selbstbewußtsein einstellt, der Höhere zu sein. Die Frau als das schwächere ist dann ein niedrigeres Wesen. So hat es die griechische, jüdische und christliche Kultur gehalten. Thales, einem der Sieben Weisen, wird der dreifache Dank an sein Glück zugeschrieben: erstens ein Mensch und kein Tier, zweitens ein Mann und keine Frau, drittens ein Grieche und kein 237 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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Barbar zu sein. 36 Bei den Juden waren Lesung und Lehre der Tora den Männern vorbehalten. Der jüdische Philosoph Philon von Alexandria hat im Manne die Vernunft, in der Frau die Sinnlichkeit gesehen. 37 Beim Apostel Paulus geht es zwecks Erniedrigung der Frau wunderlich zu: Christus sei der Kopf des Mannes, der Mann Kopf der Frau. Das wird erläutert: Der Mann sei Abbild und Abglanz (doxa) Gottes, die Frau Abglanz des Mannes. 38 Keinem dieser Urteilenden ist die Einsicht zugänglich, daß er mit dieser Selbstdiskriminierung des Menschen in seiner einander bedingenden Zweiheit sich selbst diskriminiert.
VIII. Das auf vertikaler Anthropologie gründende Ordodenken ist nur konsequent, wenn es daran festhält, den Menschen nicht als Zweiheit zu sehen, sondern als Einheit: als Mann. Werden zur Veranschaulichung der Stellung der Frau in der Hierarchie des Lebendigen Unterscheidungen wie Gott und Mensch, Mensch und Tier, Vernunft und Sinnlichkeit angeführt, dann ist das wertende Oben und Unten im Menschen nur auf eine Rangordnung in ihrer Wertschätzung ungleicher Wesen und Wesenskennzeichnungen übertragen. Der Apostel Paulus, der wirkmächtigste christliche Theologe, weiß es aus seiner Lektüre der Genesis: »Und der Mann ist nicht geschaffen um der Frau willen, sondern die Frau um des Mannes willen«. 39 Das gibt der Frau einen Wert, einen Lebenssinn: Sie ist für den Mann da. Die Frau ist so freilich nicht dazu ausersehen, dem Leben des Mannes einen Sinn zu geben. Eva empfängt, trägt aus und gebiert, Diogenes Laertius, Vitae philosophorum, gr. (ed. H. S. Long), Bd. I, Oxford 1964, S. 14. 37 Albrecht Oepke, art. gynê, in: Theologisches Wörterbuch des Neuen Testaments (ed. Gerhard Kittel), Bd. I, Stuttgart 1953, S. 782. 38 1. Korinther 11,3. 7. 39 1. Korinther 11,9. 36
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aber der Mann ist es, der zeugt und sich fortzeugt. Es sind dann ja auch zwei Söhne die Nachkommen des ersten Menschenpaares. Hilft die Frau bei der Fortpflanzung des Lebens, dann auch bei seiner Erhaltung. Sie leistet ihren Beitrag drinnen, der Mann tut das eigentliche Werk draußen. Ein lebenspraktisch aufeinander eingespieltes Paar hat einander nötig. Deswegen sind die Zwei aber nicht schon gleichen Rechts. Das aus ökonomischer Sicht gelingende Verhältnis von Mann und Frau hebt die grundständige Ungerechtigkeit des Verhältnisses nicht auf, kann sie sogar noch verhärten. Von gelingender Lebensteilung kann nicht die Rede sein, da diese sich niemals rechnet. 40 Gelingt Mann und Frau, die sich miteinander verbinden, ihr Leben zu teilen, dann ist die grundständige Ungerechtigkeit ihres Verhältnisses in Gerechtigkeit überführt. Nicht die physischen Kräfte werden sich gleich, nicht die Aufgaben in der Gesellschaft. Das Selbst des Einen und Anderen ist es, das jetzt miteinander in Balance ist und sich bedingt. Nichts geringeres als eine Teilung des Menschseins hat statt. Damit das gelingen kann, ist der geforderte Selbsteinsatz groß. Das einander Nötighaben, das in diesem Sichteilen wirksam ist, gerät in eine gänzlich andere Dimension als das, das sich im guten Haushalten bewährt. Nicht sich ergänzende Fähigkeiten und Eigenschaften kooperieren. Das eine und andere Selbst sind es, die sich gegenseitig nötig haben. Es sind Selbste, die ohne jede Möglichkeit der selfishness das Verhältnis austragen. Ihr Kennzeichen ist die Selbstlosigkeit. Hat ein Mann die Frau und eine Frau den Mann als Selbst nötig, dann ist das die einzigartige »Metaphysik« des Lebens: Der Eine sorgt sich in dem Verhältnis um das Selbst des Anderen, nicht um das eigene. Braucht das des Anderen das eigene nicht mehr, weil es plötzlich das eines anderen Anderen braucht, dann wird er es freigeben. Es ist eine Höchstleistung des Freiheitsgebrauchs, eine selbsthafte Beziehung, die dem eiSiehe oben den Hinweis auf Thomas Widlok, Anthropology and the Economy of Sharing, S. 180, Anm. 1; S. 216, Anm. 35.
40
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genen Selbst die lebensteilige Erfüllung bedeutet, aufzulösen zugunsten des anderen. Das gilt für jede Form von erotischer Liebe, sofern der Eine und Andere einander nicht allein als Sexualpartner, sondern zuvor zur Lebensteilung nötig haben, gilt aber auch für die fürsorgende Liebe. Das Kind braucht das Selbst der Eltern und die Eltern das Selbst des Kindes. Die Auflösung der Symbiose ist die Freigabe des Kindes durch die Mutter, die Emanzipation nach Römischem Recht die Freigabe des Sohnes durch den Vater in die Selbstverantwortung. Ausgerechnet die Zweiheit von Mann und Frau, diese stärker als jede andere das Selbst des Menschen belangende Ungleichheit, die sich als wirkungsmächtigste Ungerechtigkeit unter Menschen erweist, bietet die Chance menschlichen Gelingens. Tragen Selbste, in freier wechselseitiger Übereignung, diese Ungleichheit aus, so wird aus naturgegebener Ungerechtigkeit sie überformende Gerechtigkeit. Die Überhöhung der Wirklichkeit der Ausgangslage, die sie grundlegend verändert, ist ein Werk der Lebenskunst. Sie allein versteht es, das Werk der Natur, das sich zum Vorteil und Vorrecht des Mannes auswirkt, zur Herstellung einer Balance zu nutzen, die Leitbild des Humanum ist. Eine erotische Beziehung, in der zwei Selbste, das eine wie das andere, frei von allem Selbstischen sind, zeigt in jeder ihrer Formen lebensteiliges Gelingen an. Die große philosophische Tradition will dagegen die Herrschaft der Vernunft über die unvernünftigen Kräfte, die des Ich über das Es. Homunculi werden erschaffen, die die Erfüllung ihres gekappten Menschseins in der Vergeistigung und Veraugenblicklichung finden. Erdachte Eigentlichkeit steht gegen gelebte Selbsthaftigkeit. Menschenentwürfe, die von der Überzeugung ausgehen, daß unmöglich im Leben Erfüllung zu finden ist, wollen nicht wahrhaben, daß es eine Höchstform gelebten Menschseins ist, in geschlechtlich geprägter Paarigkeit sein Leben zu teilen. Das Ausleben der Geschlechtlichkeit des Menschen ist in jeder ihrer Formen geprägt durch die Zweiheit von Mann und Frau. Ohne diese Zweiheit wäre kein Mensch geschlechtlich. 240 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Die Zweiheit von Mann und Frau
Männer, die sich von Männern angezogen fühlen und Verlangen nach ihnen haben, und Frauen, denen es mit Frauen entsprechend ergeht, leben ihre Homosexualität in bewußter Differenz zur Heterosexualität, ganz davon abgesehen, daß sich in ihren Beziehungen die Beziehung von Mann und Frau abbilden kann. Gelebte Homosexualität hebt die natürliche Mitgift nicht auf, die die Geschlechtlichkeit des Menschen dazu bestimmt, daß er des einen und des anderen Geschlechts ist. Die Ungleichheit und Andersheit ist ihre fundamentale Gabe.
IX. Hilfsbedürftige brauchen Helfer, Menschen in Not brauchen Retter – erotisches Brauchen und Verlangen ist demgegenüber ganz eigener Natur. Die hebräische Bibel kennt kein Wort für Eros, sondern spricht von »erkennen« (»Adam erkannte Eva, seine Frau, und sie wurde schwanger«) 41 und allgemein von »verlangen« und »begehren«. 42 Im Hohelied sagt der Liebende zur Geliebten: »Du bist ganz und gar schön, meine Freundin«, und sie sagt über ihn: »… und ganz Verlangen. Das ist mein Geliebter«. 43 Sie spricht seinen Eros, seine Liebe an, und eben die ist Verlangen (die Septuaginta schreibt kai holos epithymia). Eros als liebendes Verlangen – ja, so ergeht es dem Menschen, der selbsthaft seine Geschlechtlichkeit lebt. Das unmittelbarste Verlangen der Sichliebenden ist das nach ihrer Gegenwart: nach dem einander Sehen und Berühren. Für den Päderasten, der, wie Platons Sokrates ihn zeichnet, als wirklich Liebender in der Intimität mit dem ihn wirklich Widerliebenden sein Verlangen stillt, um ein andermal, bei neu erwachtem Verlangen, dies Ge1. Mose 4,1. Siehe Rabbi David Shlomo Rosen, Die biblische Liebe aus jüdischer Sicht, in: Akten des Kongresses »Die Liebe hört niemals auf«, Vatikanstadt Februar 2016, S. 47–55. 43 Hohelied 4,7; 5,6. 41 42
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schehen zu wiederholen, 44 ist kein Bund fürs Leben mit seinem Liebling vorgesehen. Weil es sich aber um wirklichen Eros handeln soll, gilt die Wirklichkeit des leiblichen Geschehens als eine durch seelisches Geschehen überhöhte: Ergießt sich Samen in den Leib, dann auch schon Liebe (Eros) in die Seele. 45 Doch das liebende Verlangen unter denen, die von gleicher geschlechtlicher Reife sind, reicht auch weiter: Es verlangt nach dem Zusammenleben. Ist schon gesellschaftliches Zusammenleben die Probe auf das Humanum, dann ist das Wagnis, sich als geschlechtlich geprägtes Paar ohne Bedingung und Einschränkung für das Leben zu verbinden, darin unüberbietbar, wie es menschliches Gelingen aufs Spiel setzt. Selbsthafte erotische Beziehungen berühren das Rätsel menschlichen Lebens. Sie bejahen das Rätsel, indem sie seiner Unenträtselbarkeit Gestalt geben. Sie verändern die Lebenswirklichkeit durch künstlerische Überhöhung. Liebendes Verlangen ist keine romantische Selbsttäuschung, keine Lebenslüge, sondern ein Werk der Kunst. Das Empfinden (Prousts sentir) bewährt sich als schöpferische Kraft. Wird das Verlangen durch Schönheit erweckt, dann ist diese kein objektiver Befund, sondern ein Werk schöpferischer Empfindung. 46 Freilich ist nicht alles, was unter Liebeskunst firmiert, eine das Leben steigernde und die Lebenswirklichkeit überhöhende Kunst. Ovid etwa hat mit seiner Ars amatoria keine Schrift über die Kunst verfaßt, in einer erotischen Beziehung menschliches Gelingen aufs Spiel zu setzen, sondern über die Technik, wie Männer am effizientesten Mädchen dazu bewegen, sich auf Intimitäten einzulassen. Lebenskünstler, die sich auf geschlechtliche Liebe als eine Kunstform des Lebens verstehen, übertreffen die Naturform geschlechtlichen Verlangens. Sie erweisen sich damit als Akteure der einzig möglichen Metaphysik: durch schöpferisches 44 45 46
Platon, Phaidros 255e2. Platon, Phaidros 255d2. Siehe oben S. 231.
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Empfinden über die Natur hinauszugehen – die Natur überhöhend, ohne sie aufzugeben. Jede künstlerische Gestaltung der Unlösbarkeit des Rätsels, das der Mensch sich selbst ist, unternimmt eine Sinngebung des Lebens. Anders als religiöse und noetische (philosophische, mystische) Poesien, die den Sinn unseres Lebens in seiner Überwindung sehen und uns etwas Unmögliches in Aussicht stellen, hält es die Kunst des liebenden Verlangens bei der Sinngebung des Lebens ganz mit dem Leben. Es ist ihre Freiheit der Kunst, das selbsthafte Einander der Liebenden in die Sinngebung des Lebens einzubringen, ja zum ersten Grund alles Lebenssinns zu machen. Die lebenskünstlerische Überhöhung dieses Einanders klingt nach reinster Metaphysik: »Der Geliebte ist mein und ich bin sein.« 47 »Ich gehöre meinem Geliebten und mein Geliebter gehört mir.« 48 »Ich gehöre meinem Geliebten und er ist mir zugewandt.« 49
Gibt der Mensch seinem Leben einen Sinn, dann hat er gar keine andere Wahl, als über das Ja zum puren Am-Leben-Sein hinauszugehen. Er instrumentalisiert dann das Leben nicht für einen Zweck, auch nicht sich selbst für das Leben. Es geht um seine Intensivierung und Steigerung. Liebendes Verlangen ist keine poetische Luxurierung des Lebens für Wenige. Wie Selbsterfahrungsberichte aus Konzentrationslagern der Nationalsozialisten belegen, vermag es selbst unter widrigsten, durch Unmenschlichkeit geprägten Lebensbedingungen, seine schöpferische, das bloße Am-Leben-Sein überhöhende Kraft zu bewahren. 50 Jede Hohelied 4,7. Hohelied 6,3. 49 Hohelied 7,11. 50 Zwei exemplarische Belege: der Film La vita e bella von Roberto Benigni (1998) und das Buch »Der Betrachter«. Aufzeichnungen 1991–2001, Reinbek 2016, von Imre Kertész, das von den Schrecken von Auschwitz und vom Glück, ein Mensch zu sein, handelt. 47 48
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Sinngebung, die lebensteiliges Gelingen in menschlichen Beziehungen jedweder Art außer Betracht läßt, macht sich verdächtig, anders als sie vorgibt, gar nicht auf das Humanum zu zielen. Wer Unglück und Elend, Alltäglichkeit und Mittelmäßigkeit für den Grundtatbestand menschlichen Seins und Tuns erklärt, um Menschen, zumeist die »Wenigen«, aus ihrem gewohnten Leben und Handeln, aus ihrer Lebenswelt, ja von ihrem Menschsein wegzulocken an einen Ort und zu einem Sein grundlegend anderer Art, ist, so ernst sein Ansinnen, so tief seine Gedanken und so verwegen seine Phantasien auch sein mögen, praktizierender Inhumanist. Selbst wenn das vermeintlich angezielte Humanum »unversehens« zu einem Divinum gerät, verheißt das für den Menschen nichts Gutes. Allein schon die Desintegrierung des Geistes aus der Lebenswelt und die Neutralisierung, wenn nicht Diskriminierung der Geschlechtlichkeit genügen für diesen Verdacht. Liebendes Verlangen, das, in Gegenseitigkeit, nach Zusammensein, Intimität und Zusammenleben verlangt, ist die Muse aller Künste. Es ist das gemeinsam mit der Gewißheit des Todes. Menschliches Gelingen braucht überhöhte Wirklichkeit. Die Künste von Wort, Ton, Bild und Bewegung, die der Mensch sich beigebracht hat, geben ihm einzigartig die Möglichkeit, über sich hinauszugehen: über die Banalität, ja Frivolität seines alltäglichen Lebens, auch über den Verfolg eigener Interessen. Dabei verläßt und verliert er nicht sich selbst. Im Gegenteil, er schafft selbsthaft mit an der die Wirklichkeit des Realitätssinnes überhöhenden Veränderung. Kommen Werke der Kunst zur Aufführung, die sich Impulsen des Liebesverlangens und der Todesgewißheit verdanken, dann feiert der Mensch sich selbst als sein bleibendes Rätsel. Erst durch Werke der Kunst und das mitschaffende Wahrnehmen von ihnen wird der Mensch vollends zum Lebenskünstler.
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X. Gehört Geschlechtlichkeit zum Menschsein, geht ihre Entwicklung mit der des Selbst einher, dann sind Menschen, die gänzlich ihrer geschlechtlichen Triebhaftigkeit ausgeliefert sind, ohne mögliche Selbsthaftigkeit. Es gibt Menschen, bei denen sich kein Selbst mehr zeigt: nach schwerster Folter, im letzten Stadium der Demenz. Der Enkidu des Gilgameschepos war, bevor er durch eine dazu beorderte Hure humanisiert und der Freund des Gilgamesch wurde, ein Wilder. Wilde können dazu erdichtet sein, ein menschengleiches Wesen vorzuführen, das kein Mensch ist. Ihm wäre dann womöglich zuzutrauen, als Geschlechtswesen nicht über Selbsthaftigkeit zu verfügen. Deswegen kann wohl allgemein für geschlechtliches Verlangen des Menschen, ganz sicher aber für liebendes Verlangen gesagt werden, daß es selbsthaft ist, beim eher gefühlslosen und mehr triebhaften mit der Einschränkung, daß es in der Regel das eines selbstisch handelnden Selbst ist. Damit ist gesagt, daß es nicht das Männliche und das Weibliche gibt. Kein Mann hat ein Wesen des Mannes zu exekutieren, keine Frau ein Wesen der Frau. Das geschlechtliche Gebaren von Mann und Frau ist, bei aller möglichen Triebhaftigkeit, mit Notwendigkeit frei. Gebärdet ein Mann sich, klischeehaft, als besonders männlich und nimmt er das Gehabe eines Machos an, so übernimmt er damit keine Rolle wie auf der Bühne, sondern er ist das, als was er sich inszeniert. Auch wenn er sein Verhalten wechselt, niemals wird er die Möglichkeiten, sich als Mann zu inszenieren, auch nur annähernd ausschöpfen. Bring er sich als Mann ein, dann muß er notwendig von seiner Freiheit Gebrauch machen. Das Mannsein, ist nur im geringsten Selbstsein im Spiel, verlangt den Künstler. Leben als Werk der Lebenskunst ist ein Werk der Selbstgestaltung. Freilich braucht ein Mann nicht notwendig die Bühne, um zu »spielen«. Doch man erkennt dann auch, daß es Theater ist. Durch diese Möglichkeit entkommt er aber nicht der Notwendigkeit, sich zu inszenieren, wenn er sich selbsthaft 245 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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als Mann in praktische Situationen einbringt. Wer Theater spielt, dem schaut man zu. In lebensteiliger Praxis zu einem gewissen Teil auch Beobachter zu bleiben, ist ein eigenes Talent. Nein, der Künstler, der beim Mann gefragt ist, der seine Geschlechtlichkeit inszeniert, ist nicht der Mime, sondern der Lebenskünstler. Er wird in seiner Selbsthaftigkeit auf andere Selbsthaftigkeit antworten. Inszeniert er sich als besonders männlich, dann ist er auch so. Gleiches gilt von der Frau. Inszeniert sie sich als betont unfraulich, dann inszeniert sie sich doch als Frau. Nur eine Frau kann unfraulich sein. Gibt sie sich so, dann ist sie es auch. Sollte dabei eine Klischeevorstellung von dem, was fraulich ist und was unfraulich ist, im Spiel sein, dann prägt eben diese Klischeevorstellung – zum lebensteiligen Gelingen oder Misslingen – die künstlerisch überhöhte Wirklichkeit.
XI. Lautet ein erster Satz, daß es Leben nur um den Preis des Todes gibt, dann lautet der dazugehörige zweite, daß es Leben nur um den Preis der Weitergabe von Leben gibt. Im Bild des Mythos der Genesis muß das heißen: Ohne Eva gibt es keinen Tod, gibt es aber auch das Fortleben des Menschen nicht. Menschen bringen Kinder zur Welt und ziehen sie auf. Das ist in der heutigen Kultur des Eros nicht nur Sache von Mann und Frau. Auch gleichgeschlechtliche Paare haben daran Anteil, indem sie Möglichkeiten wahrnehmen, Kinder zu haben und großzuziehen, etwa durch Adoption. Es ist ein bemerkenswerter Einfall, sich den biblischen Bericht von der Schöpfung des Menschen vorzunehmen, um mit ihm, durch ein Bild veranschaulicht, zu argumentieren, daß nicht nur zum Leben, sondern auch zum Tod Zwei gehören. Der Evangelist Philippus (2. Jahrh. n. Chr.) sieht einen Zusammenhang zwischen der Zweiheit von Mann und Frau und menschlicher Endlichkeit: 246 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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»Als Eva in Adam war, gab es keinen Tod. / Als sie von ihm getrennt wurde, entstand der Tod. / Wenn sie wieder in ihn hineingeht und er sie zu sich nimmt, wird es keinen Tod mehr geben.« 51
Wäre Adam nicht provisorisch Mann, sondern bliebe er der einzige Mensch, ein singulus, den es nur einmal (semel) gibt, dann hätte der Tod keine Chance bei ihm. Zum menschlichen Tod, so deutet es der frühchristliche Text, gehören Zwei: Mann und Frau, dies aber mit der Besonderheit, daß sie, weil die Frau aus dem Mann entstanden ist, eines Fleisches sind. Entstammen Adam und Eva keiner Simultanschöpfung, sondern wird Eva dem Adam entnommen, dann liegt dem die Vorstellung zugrunde, daß der erste Mensch, der nur ein nicht entbundener, nabelloser sein kann, alles Menschliche in sich enthält – man muß es nur aus ihm herausholen bzw. aus ihm hervorgehen lassen. Wie sie der Selbstauslegung des Menschen zugehört, wird die Geschichte der Schöpfung Adams so erzählt, daß sie mit der Emanation des zweiten Menschen aus dem ersten fortfahren muß. Würde aus Adam kein Mann, dann lebte er nicht in einem verständlichen Sinne von Leben. Adam lebt – er ist von Gott mit Lebensatem behaucht, das meint er ist beseelt. Aus der Erde des Ackers gebildet, ist er dazu bestimmt, als ins Paradies Versetzter, es zu bebauen und zu bewachen. 52 Er ist noch nicht erdfähig, ist noch nicht des Todes. Dazu bedarf es, daß er durch Eva, die Frau, zum Mann wird. Der Mythos hat Mann und Frau vor Augen, die seßhaft sind, Leben und Tod fortzeugen und sich durch Ackerbau erhalten. Solange Adam einziger Mensch ist, »lebt« er diesseits von Eros und Thanatos. Der Mensch hat dadurch sein Entstehen, so deutet es Philippus, daß seine Trennung in eine reale Zweiheit statthat, die keine bloß numerische, sondern auch durch Andersheit
Das Neue Testament und frühchristliche Schriften (trad./comm. Klaus Berger/Christiane Nord), 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2015, S. 1098. 52 1. Mose 4,1. 51
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geprägte ist. Erst wenn es Leben fortzeugende Liebe gibt, gibt es den Tod. Wenn Eva wieder in Adam hineingeht und er sie zu sich nimmt, wird der Tod nicht mehr sein. Was ist das für ein Nichtmehr-Sein des Todes gegenüber dem, das dem Christusgläubigen versprochen ist: Wenn er bei Gott wohnt, und dies für ewig, ist der Tod nicht mehr. 53 Im ewigen Leben ist der Mann kein Mann mehr, auch provisorisch nicht, und die Frau keine Frau mehr. Der Mensch ist Einer geworden, der nichts von dem enthält, was den Menschen, der mit Eros und Thanatos begabt ist, auszeichnet. Die Entmenschlichung schlechthin hat statt. 54 Philippus dagegen spielt mit dem Gedanken, daß der Mensch seine Erdenfähigkeit aufgibt, die geschlechtliche Differenz und mit ihr Liebe und Tod erfordert. Ist Eva wieder in Adam aufgenommen, dann ist sie keine Frau und Adam kein Mann mehr. Das In-Sein erbringt keine Intimitäten. Für sie bedarf es der Differenz. In beiden Versionen des inexistent gewordenen Todes ist jede menschliche Zweiheit getilgt. Geht es ins Eine zurück, dann ist es zum Menschsein erst gar nicht gekommen. Geht es zur Vollendung in das Eine, dann ist das Menschsein überwunden. Liebendes Verlangen als Geschenk der Zweiheit ist das Geschenk der Intimität. Nächste Nähe – das ist keine Einheit, sondern eine Hochform der Zweiheit als selbsthaftes Einander. Ist zeit des Lebens der Tod dem Leben der unüberbietbare Intimus, so erweisen sich gerade dadurch Leben und Tod als Zweiheit. Herrscht im Einverständnis der Sichliebenden das Einverständnis zwischen Leben und Tod, dann finden beide Intimitäten zusammen. Die nächste Nähe von Liebe und Tod spürt der Mensch dann, wenn der Tod die Liebenden trennt: Er spürt den Schmerz der Trennung der Zwei, der Auflösung des Einander, wie ihn einzigartig nur die neue Leere und Einsamkeit zu spüren geben Apokalypse 21,4: kai ho thanatos ouk estai eti. Matthäus 22,30: »Nach der Auferstehung werden die Menschen nicht mehr heiraten und geheiratet werden, sondern wie Engel im Himmel sein.«
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kann. Gibt es Leben allein um den Preis des Todes und um den Preis seiner Weitergabe, dann kommt noch ein dritter Preis hinzu, der zu entrichten ist: der Schmerz. Schon früh ist für die zu erhoffende Stärke der Liebe die sichere Stärke des Todes zum Vorbild gewählt worden: »daß mächtig wie der Tod die Liebe, streng wie das Totenreich die Liebesleidenschaft.« 55
Endlichkeit hat eine räumliche und eine zeitliche Dimension. Zeitlebens beenden die Liebenden einander: Sie leben zusammen und sind »Eins« nur als die Zwei, die sie sind. Zugleich leben sie in der Gewißheit, daß ihr Leben und ihre Liebe endlich ist. Unendliches Leben ist ein Produkt solipsistisch-vertikaler Anthropologie. Der Einzelne, für den traditionelles Einheitsdenken das ewige Leben vorsieht, ist so gut wie durchgängig der sich vergeistigende Mann. Der hat seine Männlichkeit überwunden, das Leben und die Welt. Er hat keine Frau bei sich, weil er keine brauchen kann. Mystik, Philosophie und Theologie haben hierzu vergleichbare Muster entworfen. Tod-Feinde wie der Apostel Paulus 56 sind Lebens-Feinde. Sie halten nichts von geschlechtlicher (»fleischlicher«) Liebe, nichts vom Leben, das der Mensch lebt. Augustinus, der »Vater« der christlichen Kirche, ist sich da mit Paulus einig: »… er [Augustin] hat nie aufgehört, eine Welt zu ersehnen, in der es keinen Beischlaf mehr gäbe. Den Einwand, daß dann die Menschheit aussterben müßte, beantwortete der Bischof mit einem sehnsüchtigen Aufschrei: ›Oh, wenn dies doch alle wollten!‹« 57
Der Äon (aiôn, aevum) menschlichen Lebens hat auf der Erde statt. In erster Bedeutung besagt Äon Lebenskraft. 58 Sie nimmt Hohelied 8,6. 1. Korinther 15,26. 57 Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, S. 135. 58 Ilias 16,453; 19,27. 55 56
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im Laufe eines Lebens erst zu, dann wieder ab. Lebenskraft, wie sie dem Menschen eignet, ist endlich und hat ihren Kairos. In ihrer Hochzeit befähigt sie den Menschen, Leben weiterzugeben. Dadurch erhält die erdichtete Ewigkeit von Menschen (ewiger Himmel oder ewige Hölle) 59 keine Konkurrenz, da es noch kein Mystiker, Philosoph oder Theologe verstanden hat, die Unendlichkeit für den verlockend zu machen, der das endliche Leben auf der Erde als Fest feiert. Lebenszeit, die zweite Bedeutung von Äon, 60 nennt die Zeit, solange Lebenskraft in wechselnder Stärke den Lebenden sein Leben führen läßt. In ihr begegnen sich, in fortwährender Veränderung, die Generationen. Wem für seine Lebenszeit das Leben nötig wird und mit ihm das der lebensteilig Anderen, der weiß auch, daß er und die Anderen den Tod brauchen, so daß Generationen sich an Generationen reihen. Wer gegen den Tod und somit gegen das Leben ist, will am liebsten, daß Eva wieder in Adam verschwindet. Lebensteilung – das ist das Fest des endlichen Lebens. Es ist zu feiern in den Wiederholungen seiner durch ihr künstlerisches Gelingen überhöhten Alltäglichkeit und Allnächtlichkeit, Geselligkeit und Einsamkeit. Gießt freilich Pandora, dieses von Göttern gefertigte schöne Übel (kalon kakon) aus ihrem Füllhorn über den Menschen zu seiner Bestrafung sein Menschsein aus, das da ist Krankheit, Alter und Tod, dann vergißt sie bei dem, was sie als den Unsegen von oben meint, doch nicht das einzigartige Übel, das sie dem Menschen zu widerfahren lassen weiß: die Frauen (gynaikes). Was sind schon Erdbeben, Kriege, Vergewaltigungen gegen das Unheil und Schlechte (pêma, kakon), das sie den sterblichen Männern bringen! Dazu noch das Dilemma: Fliehen die Männer die Heirat, dann bleiben sie im Alter ohne Pflege. 61 Das ist das klassische Schema: das Leben schlechtreden, den Tod und die Frauen. Damit soll der Mensch durch 59 60 61
Matthäus 25,46. Herodot, Historiae 1,32,5. Hesiod, Theogonie 585–605.
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sein Menschsein bestraft sein. Pandora, dieses göttliche Talmi, sei ein Wunder zu schauen (thauma idesthai). Für den erhellend aufklärenden Philosophen ist es ein Wunder, daß dieser Verrat am Leben menschenalt und menschenweit überzeugt. Der Preis, um den es das Leben gibt, der darin gipfelt, daß es Leben nur um den Preis der die Lebenswirklichkeit überhöhenden verlangenden Liebe gibt, wird für zu hoch angesehen. Die Zweiheit von Mann und Frau hat auch diese Jahrtausende überlebt, die Zweiheit, die allein dem Menschen seine Möglichkeiten des Lebens und Liebens, Sterbens und Leben Weitergebens eröffnet. Bejaht der Mensch sich ganz, nicht aber einzig seine geistigen Kräfte, dann bewahrt er sich die Chance, solange die Erde bewohnbar ist, im lebensteiligen Gelingen das Leben zu feiern. Es ist die Chance, daß er seine Anstiftungen zur Selbstabschaffung überlebt und sich als das Rätsel, das er sich selbst ist, erhält.
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Nachwort
I. Philosophie von Platons Sokrates bis zum späten Schelling, Mystik von Zhuang Zi bis zu Heidegger, diese großen Traditionen geistiger und geistlicher Verständigung des Menschen über sich selbst, fragen mit Bedacht am Menschen, der wir sind, vorbei. Sie lassen Möglichkeit und Wirklichkeit seines lebensteiligen Gelingens außer Betracht. Ihnen kommt es allein auf die Bestimmung eines Wesens des Menschen an. Damit wollen sie ihm nicht sagen und zeigen, was er ist, sondern was er zu sein hat. Die Perspektive ist bei allen die gleiche: Die Bestimmung des Wesens wird im Allgemeinen und Einen gesucht und gefunden. Der Blick ist nach oben gerichtet, über den Menschen, der wir im Einzelnen und Besonderen sind, hinaus. Das Eine, das sie als das Wesen ausmachen, ist der emphatisch Mensch genannte Mensch: der wahre und eigentliche. Die Anthropologie, die diesem spekulativen und spirituellen Ausgriff auf ein Wesensallgemeines und Wesenseines implizit oder explizit zugrunde liegt, ist eine ebenso solipsistische wie vertikale: Sie hält sich an den Einzelnen, und zwar – er wird aufrecht vorgestellt – an sein Oben, an das Geistige. Die Vertikale wird wertend verstanden: Das Oben, das Geistige, ist das eigentlich Wertvolle, das Unten, das Leibhaft-Sinnliche, das eigentlich Wertlose. Der Wesensblick, einmal nach oben gerichtet, gewinnt eine eigene Dynamik. Wie Mystiker und Philosophen sich einer vertikalen Anthropologie überlassen, geraten sie an die, nicht selten durchlässige, Grenze zwischen dem Einen eines Menschenwesens und dem Einen eines Gotteswesens. Nicht von ungefähr führt die befolgte Anthropologie bei diesen Traditionen in West 252 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Nachwort
und Ost dazu, daß ihre Aufklärung des Menschen über seine Bestimmung ihn überhöht ins Nicht-mehr-Menschliche. Was sie als das Humanum vorgeben, ist eigentlich kein Humanum mehr, sondern ein Divinum. Das eine Wesen des Menschen bestimmt sich aus dem einen Wesen Gottes. Nicht der eine Volksgott, der keinen anderen Gott neben sich zuläßt, ist gemeint. Das einheitliche Wesen des Menschen, das durchgängig als rein geistiges entworfen wird, kann nur göttlichen oder quasi-göttlichen Wesens sein, wenn Gott kein bestimmter ist. Der eine Gott – das ist der eine, an Wirkungsmacht nicht zu übertreffende Geist Gottes. Die Vorgabe eines rein geistigen Wesens des Menschen in absoluter Vereinzelung und vollkommener All-Einheit fordert den Menschen, der wir sind, auf, vom gelebten Leben und der Lebenswelt zu lassen und sich ganz für das Nach-Oben zu verwenden, was insbesondere verlangt, sich aus jeglicher Bindung an Andere zu lösen, mag sie affektiv oder rational geprägt sein. Ein Unmensch wird gezeichnet, und doch, ja wohl gerade deswegen, erregt und bewegt der Appell, der von der Emphatik des Geistigen lebt, aufs erstaunlichste das menschliche Gemüt – selbst heute noch. Man kann nicht wahrhaben und will auch nicht wahrhaben, daß dieses aus der methodischen Konsequenz einer Erhöhung und Reinigung des Geistes geborene Wesen des Menschen ein Phantom ist. Es gibt kein Wesen des Menschen, wie es die vertikale Anthropologie der filosofia a solo zeichnet. Die Quelle des Humanum, ja die Vollendung des Humanum im radikal vereinzelten und ebenso radikal verallgemeinerten Menschen als reinem Denk-, Vernunft- und Geistwesen zu sehen, mag für Philosophen, Theologen und Mystiker die Höchstleistung ihres Erdenken- und Erdichtenkönnens darstellen; den Menschen, der auf menschliches Gelingen aus ist und dem es im Prinzip offensteht, trifft es nicht nur nicht, sondern widerspricht ihm im Ganzen und in jedem Detail. Kein Mensch existiert und lebt selbsthaft als Mensch ohne jeden Umgang mit anderen Selbsten. Alles traditionelle Ansinnen einer Verwesent253 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Nachwort
lichung des Menschen hat sich zielsicher den Weg zum Menschen verbaut, der ein Mensch ist. Der Entwurf des Einen und All-Einen als Existenzform des entindividuierten, ganz wahrer Mensch gewordenen Einzelnen ist, bei aller Begeisterung, die er erweckt, genau das Gegenteil von dem, der als Lebenskünstler mit dem Leben ernst macht, was dazu führt, daß ihm das eigene und das der Anderen notwendig ist. Das traditionelle Vorgehen, ein Wesen des Menschen zu bestimmen, gewinnt seine Überzeugungskraft bemerkenswerterweise durch eine Inversion des Humanum: Lebendigkeit, Leibhaftigkeit, Sinnlichkeit, Endlichkeit (Tödlichkeit), worin sich der Lebenskünstler auszeichnet, wird zum Verachtenswerten, zu dem, was nicht eigentlich zum Menschen gehört. Für die filosofia in compagnia ist das der Ernstfall: Das Menschenunmögliche wird beschworen und mit ihm das Unmenschliche.
II. Gibt es kein Wesen des Menschen, wie es monotheistische und monopneumatische Entwürfe vorsehen, weil es evidenterweise der Möglichkeit und Wirklichkeit gelingenden Menschseins widerspricht, dann ist diese Einsicht erst einmal zu feiern. Die Propheten des wahren Menschen haben keine Macht mehr, die menschliche Gattung in die Pflicht zu nehmen, mit ihrer Mitgift zu hadern, ja sie zu verachten, wenn nicht zu verteufeln. Fällt mit dem Wesen die Wesensbestimmung, dann als Erstes die Einheitsbestimmung, die ein entindividuiertes geistiges Selbst vorgibt, das auf nichts als sich selbst bezogen ist. Das ist die Stunde der horizontalen Anthropologie. Sie allein wird dem Menschen gerecht, der, mehr oder weniger gesellig, mehr oder weniger gelingend, in Gemeinschaft und Gesellschaft mit Anderen lebt, und sich, zeitlich wie räumlich begrenzt, auf der Erde zu Hause weiß. Anstatt wie trunken in einem all-einen Phantomselbst unterzugehen, geht er selbsthaft auf Andere zu, versteht er sich auf 254 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
Nachwort
Umgang mit Anderen in allen Formen des Sicheinandermitteilens. Von nicht geringerer Bedeutung ist es, nicht eschatologisch vertagt oder in asymptotischer Annäherung unterwegs zu sich selbst zu sein. Nur wer als Lebenskünstler beim Anderen anzulangen vermag, vermag es auch bei sich selbst. Die Evolution, die zum Auftreten des Menschen auf der Erde führte, hat damit keinen Plan verfolgt. Wie der vorgeschichtliche und geschichtliche Mensch aus der Entwicklung menschlichen Lebens hervorgeht, ist er das Ergebnis von kausal operierendem Zufall. Beginnt der Mensch, sein Leben selber zu gestalten und fruchtbar zu machen, ja wird es ihm notwendig, dann schlägt die Passivität im Sichentwickeln in Aktivität um. Aus Beobachtung wird Wissen, aus Werkzeuggebrauch Kunst, aus Ritualisierung von Verhalten Kult. Der Mensch bildet Sprachvermögen aus, bebaut Land, baut Städte, gebraucht Schrift, treibt Handel, schafft Institutionen und Herrschaftsstrukturen. Das Gilgameschepos führt uns vor, daß bereits um 3000 v. Chr. die Prostitution in der Stadt Uruk geregelt war. Die Hure Shamhat erhält den Auftrag, Enkidu, den Wilden, durch Liebes- und Sprachunterweisung zu zähmen. Mit dieser Sicht scheint sich eine neue Zugangsweise zum Menschen zu eröffnen. Anstatt ihm ein Wesen anzudichten, werden Merkmale seiner Einzigkeit aufgelesen. Doch gerade professionelle Merkmalsammler sind es, die nicht eigentlich auf den Menschen, sondern vielmehr auf das sehen, wogegen er sich als etwas abhebt, das sich nicht auf gleicher Höhe mit ihm befindet. Werden Sprache, Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Gebrauch von Symbolen angeführt, dann sind geistige Fähigkeiten angesprochen, sinnliche und leibliche aber von der Deutung der Einzigkeit ausgeschlossen. Aufs Neue herrscht die vertikale Anthropologie. Da wird im Anthropologen der Theologe wach, der Meister in der Tradierung religiös-poetischer Merkmale: Er nimmt Sünde (sin) und Erlösung (redemption) hinzu. 1 Wieder kommt nicht der 1
J. Wentzel van Huyssteen, Human Origins and Religious Awareness. In
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Nachwort
Mensch, der wir sind, zur Darstellung, sondern sein Wesen, erdichtet als geistig-geistliche Überwindung sündhafter, also selbstverschuldeter Fleischlichkeit und Todhaftigkeit. Die erreichte rein pneumatische Existenz ist zwar unmöglich die des Menschen, dafür aber die seines Wesens. Wie in der Wesensphilosophie verflüchtigt sich in religiöser Wesenspoesie das Wesen in seiner eschatologischen Bestimmung: Es wird bis zum Ende der Zeiten vertagt.
III. Es gibt freie Geister, die frei und bejahend mit sich selbst umgehen, mit ihrer Natur, ihrem Leben und ihrer Endlichkeit. Sie tun das ohne Resignation. Sie haben kein Bedürfnis, sich den Dogmen von Religionen und Weisheitslehren anzuvertrauen, weil sie deren Vorstellungen vom Defizit des Menschen, nichts Besseres und Höheres als Mensch zu sein, nicht teilen. Solche Geister sind eher rar. Ein herausragendes Beispiel ist der Autor der Selbstbetrachtungen (Ta eis heauton), der Kaiser Marc Aurel (121–180 n. Chr.). 2 Die souveräne intellektuelle Redlichkeit, die sich in solch einer aufklärerischen Haltung manifestiert, hat dennoch keine Macht, eine Mehrheit der Menschen zu überzeugen. Das liegt an der Einseitigkeit ihres Verständnisses und des Gebrauchs ihrer sinnlich-geistigen Kräfte. Mit ihrer Option für den Realitätssinn übergeht sie die Tatsache, daß der Mensch immer schon mehr zu seinem Leben braucht, als es zu erhalten und zu bewältigen: Er braucht dessen Überhöhung. Genau dazu ist er Künstler, und dies in einem sehr weiten Verständnis von Kunst. Wird heute von Anthropologen die Lüge gefeiert, weil Search of Human Uniqueness, in: Studia Theologica. Nordic Journal of Theology, Vol. 59 No. 2 (2005), S. 106; 125. 2 Zu Marc Aurel siehe Rainer Marten, Die Möglichkeit des Unmöglichen, S. 18–32.
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Nachwort
sie im Dienste der Evolution steht, 3 dann ist diese vermeinte Ehrenrettung der Lüge in Wahrheit eine sehr einseitige Deutung ihrer Möglichkeiten, wenn sie doch so ganz in den Dienst der Lebensbewältigung gestellt wird. Die Kunst macht aus dem, was mit »Dichtung und Wahrheit« diskret als Lüge angesprochen wird, die höhere Wahrheit. Darum ist es nicht angezeigt, einer Aufklärung schon darum recht zu geben, weil sie den redlichen Intellekt unmittelbar überzeugt. Kunst muß freilich für sich wissen, daß sie ihre höhere Wahrheit selbst zu verantworten, nicht aber für ein Diktat höherer Mächte zu nehmen hat. Der Mensch braucht Übernatürliches. Das ist kein psychologisches, schon gar kein philosophisches Urteil, sondern ein historisches. Alle Kräfte, die dazu taugen, sich am Übernatürlichen und Unmöglichen zu versuchen, hat der Mensch von Anfang an zu diesem Zweck aus dem Realitätssinn desintegriert. Was er dabei hervorgebracht hat, sind Werke, die die Menschheitsgeschichte geprägt haben. Schauen wir auf philosophische und heilige Schriften, auf Poesie im engeren und weiteren Sinne, schauen wir auf Tempel und Dome, Pagoden und Moscheen, nicht zuletzt auf kultisches Handeln, das sie belebt, dann zeigt sich, daß der Mensch guten Grund hat, sein Künstlertum zu bejahen. Die Gefahr besteht, daß er um sein Künstlertum nicht weiß oder es bewußt verdeckt. In beiden Fällen übergeht er, was durch die Desintegration aus dem Realitätssinn geschehen ist. Er wähnt oder gibt vor, in höherer Realität zu sein, ja in der einzig wahren, die nicht er verantwortet, sondern die von höheren Mächten geschaffen und verwaltet wird. Hier muß erhellende, nicht entzaubernde philosophische Aufklärung einsetzen, die Metaphysik und Theologie nicht leisten wollen oder nicht leisten können, sondern abwehren. Sie läßt sich kurz fassen: Es gibt nichts Übernatürliches für den Menschen, das er nicht selbst geschaffen und zu einem solchen gemacht hat. Ist ihm Siehe Volker Sommer, Lug und Trug – Triebfedern der Evolution, in: Süddeutsche Zeitung vom 14. Dezember 2016, S. N2.
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dies Künstlertum nicht bewußt oder macht er sich blind dafür, dann verfehlt er mit seinem künstlerischen Potential, aus dem er schöpft, sich selbst.
IV. Erfolgt die Selbstauslegung des Menschen auf dem Wege der Desintegration des Intellekts aus dem Realitätssinn, dann ist es unausweichlich, daß der Mensch mit Bezug auf sich selbst Abgrenzungen vornimmt, die es realiter für ihn im Leben nicht gibt. Exemplarisch dafür sind die Abgrenzungen des Seelischen vom Leiblichen, des Geistigen vom Körperlichen und des Geistigen vom Sinnlichen (Kant: Mundus sensibilis atque intelligibilis – das atque mit abgrenzender Funktion). Mit den Unterscheidungen von Leib und Seele, Körper und Geist, sinnlich und geistig zu operieren, ist wissenschaftlich und auch im Alltäglichen nützlich. Ist aber an Abgrenzungen gedacht, die auf eine real gemeinte Verselbständigung des Einen und Anderen zielen, dann beginnt menschlicher Selbstbetrug, der kein Betrug an der Welt, in der wir leben, ist, sondern ein Betrug am eigenen Künstlertum. Was hier als voneinander abgegrenzt angeführt wird, sind keine Zweiheiten, sondern Teile eines, wie Aristoteles es nennt, Zusammenganzen (synholon). 4 Wichtig ist an solch einem speziellen Ganzen, daß seine Teile nicht von gleicher Art und nicht von gleicher Funktion für die Ganzheit sind. Das Synholon ist kein Symbolon, wie es zwei Ringhälften sind, die wieder zum ganzen Ring zusammengefügt werden. Sind Seele und Leib für Aristoteles ein Zusammenganzes, dann wird der Leib als beseelt, die Seele als leiblich gebunden gedacht. Der Leib steht für die Stofflichkeit und Möglichkeit des Ganzen, die Seele für seine Geformtheit und Wirklichkeit. Es geht also um integrale Bestandteile des konkreten Menschen in der Sicht der ver4
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tikalen Anthropologie. So hat es Aristoteles gehalten, sofern er nicht als Metaphysiker argumentierte. Der sah ja in der Denkseele das eigentliche Ganze des Menschen, um ihn auf diese Weise zu vergöttlichen. Doch die Tendenz ist in der großen Tradition der Philosophie allgegenwärtig, der Seele und dem Geist eine Chance für sich allein zu geben. Da wird Platons Sokrates der Leib zum Kerker der Seele, so daß die reale Trennung der Seele vom Leib erst das wahre geistige Seelenleben verspricht. Auf religiös-christliche Weise hat der Mystiker Eckhart nichts anderes im Sinn, wenn er bedächtig erklärt, daß eher der Leib in der Seele als die Seele im Leibe ist, die Seele, aus der alles entfernt ist, um allein dem Geist Gottes Platz zu machen. Selbst der Aufklärer Kant hat für seinen Freiheits- und Moralgedanken die Welt des Geistigen von der des Sinnlichen so scharf getrennt, daß am Ende alle seine Versuche scheitern mußten, zwischen beiden Welten zu vermitteln, um die rein erdachte Moral auch praktisch wirksam werden lassen zu können. Er hat sich nicht einmal gescheut, das Postulat der Unsterblichkeit für sie aufzustellen, um seinen auf einer total verselbständigten Vernunft basierenden Moralgedanken retten zu können.
V. Menschlicher Geist hat, verlegen sich philosophische Spekulation und theologische Spiritualität ganz aufs Geistige, die abwegige Tendenz, sich selbst genug zu sein. Wähnt er sich erst einmal ganz für sich selbst, dann interessiert er sich auch nur noch für sich selbst. Der sich selbst denkende Gott, der ganz Denken ist, wie Aristoteles ihn als das von ihm am liebsten selbst zu Realisierende im Buch Lambda der Metaphysik entwirft, ist ein schrecklich schönes Beispiel dafür. Seine lustvollste Aktualität ist nicht einmal Selbstbefriedigung. Das wäre ja noch eine Ersatzhandlung. Nein, dieser Gott ist wirklich als autark gedacht: Er braucht niemand Anderen, weil er niemand Anderen brau259 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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chen kann. In ihm fallen das Sein und das Eine zusammen: Er ist, in Eins, das einzig wahre Sein und das einzig wahre Eine. Die Tendenz des sich ganz für sich wähnenden Geistes ist eine rein vertikale. Er duldet nichts neben sich, kann nichts neben sich brauchen. Er denkt sich als das Höchste, für das alles »Andere« ein Unteres und Niederes, eigentlich gar nicht in Betracht Kommendes, weil absolut Geschiedenes ist. Wie es für monotheistische Religionen, bekennten sie sich zu ihrer selbstgeschaffenen Wahrheit, nur eine einzige geistige Verfehlung, moralisch Sünde genannt, geben kann, nämlich einen anderen Gott zu verehren, ganz so, als gäbe es überhaupt einen zweiten und dritten, so wäre es auch in der Philosophie eine systemische »Sünde«, den Geist in seinem Höchsten anders als das einzig Eine zu denken. Heideggers als jäh und ereignishaft gedachtes »Sein selber«, das ja kein Seiendes ist, ja kein Was und Etwas, ist zwar ein anders gestalteter Gedanke, darum aber doch nicht weniger in die Falle des reinen Geistes gefallener als der autarke Gott des Aristoteles. Seit Philosophen den Menschen darüber aufklären, daß in seinem geistigen Potential sein einziges Wahrheits- und Wesenspotential liegt, wohlgemerkt im Geistigen, das von allem Ungeistigen als real geschieden gemeint ist, blüht zwar die Metaphysik, mit ihr allerdings auch das Verkennen und Verleugnen menschlichen Künstlertums und der Selbstverantwortung des Menschen für all seine geistigen Entwürfe. Desintegrierte geistige Kräfte sind frei dafür, ein schöpferisches Eigenleben zu führen. Was Einer, der diese Freiheit wahrnimmt, denkt und sagt, ist losgelöst von seinem gelebten Leben und Weltaufenthalt. Was jetzt entsteht, gehört einer Welt an, in der geistiges Schaffen nach eigenen Regeln verfährt, seien sie bereits als bewährte vorgegeben oder im Zuge des Denkens und Erdenkens neu erprobt. Damit beginnt eine Introversion des Geistes, die von aller Körperlichkeit, Welthaftigkeit und Verbundenheit mit Anderen abstrahiert. Reine Selbstidentität herrscht. Was jetzt als wahres und eigentliches Menschsein verstanden werden soll, 260 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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ist von allem Selbstsein gelöst, das sich im Umgang mit anderem Selbst entwickelt und bewährt hat, eine Entwicklung, die, noch vor allem Spracherwerb, für den Fötus im Mutterleib beginnt. So hat die radikale Freiheit des desintegrierten Geistes Verwandtschaft mit der radikalen Freiheit des handelnden Subjektes des Neoliberalismus: Der Selfmademan handelt, gut nach Adam Smith, ohne Rücksicht auf Andere, weil in seinem selbstischen Streben isoliert von allen Anderen. Dieser Verweis ist philosophisch nicht absurd. Er zeigt hier zur rechten Zeit darauf, daß die Tendenz des sich rein für sich wähnenden Geistes unausweichlich einen unmenschlichen Zug hat. Es bleibt bei keiner bloßen Loslösung vom leibhaft Lebendigen und gegenständlich Welthaften, sondern die geistige Erniedrigung all dessen, dem der Geist nun nicht mehr zugehört, steht, ob gewußt oder nicht, von Anfang an auf dem Programm. Das Kapitel Alpha 2 der aristotelischen Metaphysik bietet eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich in aller Kürze vorführen zu lassen, zu was die in der philosophischen Tradition übliche Introversion des verselbständigten Geistes führt. Die Konzeption eines isolationistischen, sich ganz auf sich selbst beziehenden Selbst des Geistes setzt eine real gemeinte Trennung des Geistigen vom Sinnlichen voraus. Sinnliches Wahrnehmen, so hält es der Philosoph fest, ist Allen gemein, es sei ja auch leicht und nichts Weises (sophon). Rein geistiges Erkennen dagegen ist nur Wenigen vorbehalten, wenn nicht gar, wie er spekuliert, einem Einzigen in der Gestalt einer zu einem Eigenwesen verselbständigten Denkkraft. Und schon zeigt sich, daß die Ausrichtung des Geistes auf sich selbst, die zumindest im Letzten nur die Ausrichtung auf das Eine des Geistes und damit auf den Geist als das einzig Eine sein kann, untrennbar mit einer menschlichen Auf- und Abwertung verbunden ist. Der ganz dem Geistigen Zugewandte ist in einem höheren Sinne Mensch als der auch dem Sinnlichen Zugewandte, obgleich ja auch dieser dabei seine geistigen Kräfte nutzt. Damit ist erhellender Aufklärung schon mit dem Beginn der metaphysischen Tradition die 261 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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Aufgabe gestellt, den Nachweis zu führen, daß, anders als Metaphysik es zulassen kann, Sinnlichkeit und Leiblichkeit zum Selbst des Menschen gehören. Aristoteles sucht am Anfang der Metaphysik die Wissenschaft, die am meisten Wissenschaft ist. Es ist die Suche nach der Philosophie in ihrer vollendeten Gestalt, die Sache eines Weisen ist. Diese Wissenschaft ist leicht zu finden, weil nichts weiter dazu nötig ist, als denkendes Erkennen mit Höchstwertungen zu versehen und das heißt einer Spur von Superlativen zu folgen. In rascher Folge wird sie als die schwierigste, genaueste und gebietendste ausgelobt, als die lehrbefähigste und beste, die als die des zuhöchst Wißbaren im Wissen um das Göttliche kulminiert und eigentlich Sache Gottes ist. 5 Das Eine, auf das der Geist mit der ihm zugedachten wesenseigenen Konsequenz zielt, erhält dabei vierfache Gestalt: Es ist erstens das Stärkste und Mächtigste. Im Letzten sind es nicht oberste Gründe und Ursachen, sondern muß es das Eine sei, aus dem sich Alles ableiten und begründen läßt, das wirklich ist. Daß die mächtigste Wissenschaft am Ende Sache des einen Gottes ist, kommt dem Philosophen nicht von ungefähr in den Sinn, ist es doch sein systemischer Grundgedanke. Nimmt der Mensch das erkennende Denken als das vom Philosophen zum höchsten erklärte Vermögen sich selbst vor, dann führt es ihn über sich hinaus, da es in Vollendung kein menschliches, sondern ein göttliches ist. Es ist zweitens das Vollkommenste und Beste. Der Weise sieht in dem Einen nicht nur die höchste Seinsmacht, sondern auch die höchste Seinsvollkommenheit. Das Eine ist schlechthin autark: Es bedarf seiner selbst und nichts sonst. Die größtmögliche Inversion des Metaphorischen hat statt: Leben, wie es Menschen mit Menschen teilen (syzên), wird zur Metapher, introvertiertes Leben des Geistes zum eigentlichsten und lustvollsten. Der eine Gott, und nur er, ist es, der in seiner Ewigkeit des 5
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Sichselbstdenkens dem Philosophen in seiner Zeitlichkeit als unerreichbares Vorbild des Humanum dient. Das ist das Kuriosum: Philosophie, die sich im Wesentlichen der Absolutsetzung des Geistes verschreibt, macht das spekulativ entworfene Humanum zum Divinum. Ewiges, lebendiges, lustvolles und nichts als sich selbst denkendes Denken ist das Schönste und Wertvollste, das ein gänzlich der Reinheit des Geistes verpflichtetes Denken sich denken kann. Es ist drittens das Allgemeinste und Umfassendste. Das als ewiger Denkakt lustvoll lebende Wesen ist einzigartig KonkretAllgemeines. Die Welt in ihrer Mannigfaltigkeit hängt an ihm. Alles ist vom Einen erfaßt und umfaßt. Als Inhaber der wissendsten Wissenschaft ist der eine Gott der einzig wahrhafte Sachwalter der Wahrheit. Es ist viertens das Einzig-Eine und All-Eine. Das Denken, das sich selbst denkt, kennt nichts, das in Unterschiedenheit zu ihm gedacht wird. Es denkt kein Etwas, kein Stück Welt. Dies von der filosofia a solo erdachte Denkwesen ist sich selbst Ein und Alles. Mag auch die Welt mit ihrer Mannigfaltigkeit an ihm »hängen«, so ist sie doch nichts, das zu ihm gehörte. Sinnlich und leibhaft Zugängliches ist ohne wahres Sein. Nimmt das Geistige sich für sich selbst als das, was ihm das einzig Werthafte ist, dann sind Sinnliches und Körperliches für unwert erklärt. Aristoteles’ Deutung der wissendsten Wissenschaft als einer göttlichen ist die konsequente Selbsterschließung des desintegrierten Geistes. Sie ist modellhaft für monotheistische Philosophie: Der Rückgang auf das Eine des Geistes als das Mächtigste, Beste und Umfassendste kann nur im Geist als dem All-Einen enden. Die Freiheit des Denkens, ein reines Denken zu erdenken, das sich selbst genug ist, weil es nichts außer, neben und gegen sich hat, ist eine künstlerische. Alle Ausflüge in Metaphysisches sind mehr oder weniger gelungene Proben der Denkkunst. Findet menschliches Denken sich von sich aus im Göttlichen wieder, dann ist das Erdenken gottgleicher, ja göttlicher Möglichkeiten des Menschen doch reines Menschenwerk. Erdenkt das Denken 263 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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ein All-Eines und noch dazu sich mit ihm Eins, dann ist das kein Erfahrungsbericht einer erfolgreichen Transzendenz. Der Denkende, der das denkt, ist Mensch und bleibt Mensch. Ins Übernatürliche ausgreifende Philosophie will das nicht wahrhaben. Sie will wirklich bei Übernatürlichem angelangt sein. Schon Kants Gedanke einer reinen Vernunft genügt, um Philosophie auf ihr nicht zu überbietendes Selbstmißverständnis aufmerksam zu machen: sie habe die Möglichkeit, ja den (sich selbst gegebenen) Auftrag, Menschenunmögliches in Menschenmögliches zu verkehren. Es gibt keine reine Vernunft, die die Vernunft eines lebendigen Menschen wäre. Kant ist das gleichgültig. Um sich argumentativ schlüssig Freiheit im Bereich des – rein – Intelligiblen erdenken zu können, setzt er sie als möglich und wirklich, obwohl sie unmöglich und unwirklich ist. Als innigstes Anliegen der traditionellen filosofia a solo entdeckt sich, das eigentliche Selbst des Menschen nicht beim Menschen zu finden, wie er leibt und lebt, nicht beim Menschen, der wir sind. Sie weiß sich erst dann erfolgreich am Ende ihrer Anstrengungen, wenn ihr das zu denkende Humanum zu etwas gerät, das gegen Menschlichkeit spricht, die sich vom gelingenden Miteinander her versteht. Metaphysik, die ihren poetischen Charakter verkennt und sich realistisch mißversteht, warnt prinzipiell vor einer »Vermenschlichung« des Menschen. 6 Für den derzeitigen (Dezember 2016) russischen Patriarchen stellen in die Verfassung geschriebene Menschenrechte einen »ketzerischen Götzendienst am Menschen« dar. 7 Platon erklärt gegen Protagoras’ Satz der Aufklärung, daß der Mensch das Maß aller Heidegger spricht sich vehement gegen seine »Vermenschlichung«, ja »Vermenschung« aus, weil das seinem Entwurf des Menschen als eines Seinswesens im Sinne des ekstatisch-ereignishaften Daß widerspricht. Martin Heidegger, Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39), GA Bd. 95, Frankfurt a. M. 2014, S. 82 f.; 275 et al. 7 Kerstin Holm, »Unterwerft euch! Die russische Kirche will das Volk zu Sklaven machen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Nov. 2016. S. 11. 6
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Dinge ist (nämlich was für ihn wirklich und was unwirklich ist), Gott für das Maß aller Dinge, 8 Heidegger jeden Humanismus, der den Menschen im Sinn hat, der wir sind, für einen Inhumanismus, weil der Mensch nicht Sache des Menschen, sondern dem mystischen »Sein selbst« übereignet ist. 9
VI. Daß der Denkkünstler nicht den Menschen, der wir sind, in seinem Denken abbildet, sondern sein Wesen überhöht bis ins Göttliche, ist sein gutes Recht. Doch das Limit seiner Freiheit ist überschritten, wenn er beginnt, den Menschen als Menschen zu diskreditieren. Wer den Menschen so denkt, daß er besser gar nicht existiert, als so zu bleiben, wie er ist, wozu auch die gehören, die über metaphysische Phantasie verfügen, ist nicht geeignet, nachdenklich an der Selbstauslegung des Menschen mitzuwirken. Er übt Verrat am Künstlertum. Metaphysik gehört zu den großen Möglichkeiten, die Unbeantwortbarkeit der Frage, die der Mensch sich selbst ist, zu gestalten. Das aber besagt, daß keines ihrer Worte als Antwort gedeutet werden darf, als Wort dazu, wie es um den Menschen wirklich steht. Die Menschenfrage lautet nicht, wie sie gerne zitiert wird, »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?«. 10 Dieses Wissenwollen ist vorentschieden durch den metaphysischen, realiter nicht einlösbaren Gedanken einer reinen theoretischen und reinen praktischen Vernunft. Sie lautet vielmehr »Woher und Platon, Nomoi IV 716c. Vgl. Theaitetos 152a. Martin Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1947, S. 32: Hier fragt Heidegger, ob er seinen »Humanismus« so nennen soll, »der gegen allen bisherigen Humanismus spricht.« In den Schwarzen Heften (GA Bd. 94 und 97) sind christlicher und goethischer Humanismus Hauptziel seiner geistigen Verachtung. 10 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (ed. Raymund Schmidt), Hamburg 1952, S. 728. 8 9
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wohin, warum und wozu?«. Die stärkste Gewähr für die Unbeantwortbarkeit dieser Frage ist die Endlichkeit. Sie ist es auch, die den Menschen in verschiedensten Kulturen dazu getrieben hat, nicht mit sich selbst zufrieden zu sein und Wege zu suchen, sich zu übersteigen. Dieses Buch ist nicht geschrieben, um sich gegen diese künstlerischen Versuche zu wenden, sondern gegen die Diskreditierung des Menschen, in die sie ausarten. Der Mensch ist Mensch und bleibt Mensch. Was sich an ihm ändert und verändert, ist menschliches Geschehen, menschliche Entwicklung, in zunehmendem Maße von ihm selbst zu verantwortende. Der durch vertikale Anthropologie geförderte Pneumatismus bzw. Spiritualismus hat sich in seinem realistischen Selbstmißverständnis als Feind und Verächter des Menschen, der wir sind, etabliert. Als stärkste Kraft der systemischen Entmenschlichung des Menschen durch geistig schaffende Künstler hat sich der Gedanke des Einen bewährt, des einen Geistes als der einen Seinsmacht. Darum gilt es Klarheit darüber zu schaffen, daß das Humanum nicht in Wahrheit ein Divinum ist, sehr wohl aber mitunter das Divinum in Wahrheit ein künstlerischer Ausdruck des Humanum.
VII. Menschliches Gelingen nicht als Gelingen eines erdachten Wesens, sondern als das des geteilten Lebens zu deuten, erfordert philosophisch den Wechsel von der filosofia a solo zur filosofia in compagnia und damit den von der vertikalen zur horizontalen Anthropologie. Die große, wirkungsmächtige Tradition der Wesensphilosophie in West und Ost hat mit ihrer metaphysischen Gestaltungskraft den Menschen außerhalb des Menschen verlegt. In Gegenstellung zu ihr geht es um eine Neuorientierung der Verständigung des Menschen über sich selbst. Vier Zweiheiten sind es, die lebensteiliges Gelingen als die maßgebliche Gestalt des Humanum ermöglichen. Die Zweiheit 266 https://doi.org/10.5771/9783495813751 .
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von Tag und Nacht schafft in ihrer Dynamik dem Menschen die Zeiten, die er braucht, um auf der Erde zu seinem Leben unter Menschen zu finden. Die Zweiheit von Leben und Tod eröffnet dem Menschen seine Lebenszeit und läßt ihn durch ihre Dynamik die Kostbarkeit dieser Zeit erkennen. Die Zweiheit von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit stellt sich in ihrer Dynamik als das Drama menschlichen Selbstseins dar, das auf dem Spiel steht, entweder als selbsthaftes sich lebensteilig zu bewähren oder als selbstisches Lebensteilung unmöglich zu machen. Gelingt selbsthaftes Einander der Ungleichen, dann ist das Spiel gewonnen: Die grundständige Ungerechtigkeit bleibt bestehen, aber die beteiligten Selbste sind in Balance. Sie geben einander das Recht, die Ungleichen zu sein, die sie im Leben sind. Die Zweiheit von Mann und Frau stellt uns in aller Klarheit vor Augen, daß höchstes menschliches Gelingen nicht darin besteht, mit einem höchsten Wesen in radikaler Vereinzelung Eins zu werden, sondern in der lebenskünstlerischen Gestaltung des Ensembles der Geschlechter.
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