Resilienz im Krisenkapitalismus: Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit 9783839443392

Ob Klimawandel, Erschöpfung, Armut, Postdemokratie oder säkulare Stagnation: Die Krisenförmigkeit des Gegenwartskapitali

205 70 2MB

German Pages 234 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
1. Erschöpfung und Resilienz im Krisenkapitalismus: Problemaufriss
2. An den Grenzen der Verwertbarkei
3. Wenn Resilienz die Antwort ist, wie lautet die Frage? Zum Problem der Autonomie
4. Homo resiliensis: Vom Glück, allzeit gewappnet zu sein
5. Die Welt im Katastrophenmodus: Zur imaginären Kontur von Resilienz
Literaturverzeichnis
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Resilienz im Krisenkapitalismus: Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit
 9783839443392

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Stefanie Graefe Resilienz im Krisenkapitalismus

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

für Georg

Stefanie Graefe

Resilienz im Krisenkapitalismus Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit

Gefördert vom AK Postwachstum am Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (kolleg-postwachstum.de).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Korrektorat: Lara-Maria Myller, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4339-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4339-2 https://doi.org/10.14361/9783839443392 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt 1.

Erschöpfung und Resilienz im Krisenkapitalismus: Problemaufriss.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Power-Posen in der VUKA-Welt.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Wie wir regiert werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Leben in der Vielfachkrise.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Der Aufstieg der Resilienz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

2. An den Grenzen der Verwertbarkeit: Erschöpfung als umkämpftes Terrain. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

Im Dickicht der Befunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Erfahrung oder Erfindung: Widerstreitende Diagnosen.. . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Ein Knotenpunkt im Dispositiv.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 »Man fühlt sich ja unkaputtbar«: eine Fallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Erschöpfung, Krise und Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Verschwinden die Konflikte?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

3. Wenn Resilienz die Antwort ist, wie lautet die Frage? Zum Problem der Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.1 Vorbemerkung zum autonomen Subjekt.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.2 Vom Stress, autonom sein zu müssen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.3 Welche Autonomie? Eine vorläufige Heuristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3.4 Subjekt-Systeme, System-Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.5 Wider das organizational burn-out: Resiliente Organisationen.. . . . . . . . . 94 3.6 Kein Stress mit dem Stress? Resilienz als neue Arbeitstugend. . . . . . . . 98 3.7 Die Monopolisierung der Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

4. Homo resiliensis: Vom Glück, allzeit gewappnet zu sein. . . . . . 113 4.1 Sich selbst durch stürmische Zeiten steuern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.2 Im Stahlbad des Lebens – resiliente Kindheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

4.3 Trauma als Chance: Das Versprechen auf Wachstum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.4 Vom unternehmerischen Selbst zum Homo resiliensis.. . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.5 Die normative Kraft des Unglücks.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

5. Die Welt im Katastrophenmodus: Zur imaginären Kontur von Resilienz.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5.1 5.2 5.3 5.4

Rückblick und Antwort auf eine oft gehörte Frage.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Die heilende Kraft des Sozialen: Resiliente Gemeinschaften. . . . . . . . . . . 167 Resilienz oder: Die Unsicherheit umarmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Das Vulnerable ist politisch. Oder? Zu den Möglichkeiten der Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Literaturverzeichnis ������������������������������������������������������������� 197

1. Erschöpfung und Resilienz im Krisenkapitalismus: Problemaufriss Meine erste Begegnung mit Resilienz liegt schon mehr als ein Jahrzehnt zurück. Ich war damals gerade damit beschäftigt, einen kleinen Text zum Thema Erschöpfung zu verfassen – eine erste Annäherung an ein Thema, das mich in den folgenden Jahren begleiten sollte. Um mir einen vorläufigen Überblick über den langsam an Fahrt aufnehmenden Diskurs über Erschöpfung zu verschaffen, durchforstete ich die einschlägige Ratgeberliteratur, und so blätterte ich an jenem Tag durch einen Burn-out-Ratgeber, als meine Aufmerksamkeit plötzlich auf einer Seite hängenblieb. Stopp. Da war etwas. Vielleicht sollte ich der Ehrlichkeit halber hinzufügen, dass ich die Ratgeber nicht nur aus rein wissenschaftlichem Interesse gelesen habe. Tatsächlich hoffte ich auf einen für mich auch persönlich nützlichen Nebeneffekt – darauf, Anregungen zu finden, wie ich meinem eigenen, zum damaligen Zeitpunkt bereits recht manifesten Erschöpfungszustand abhelfen könnte. Zu viel Arbeit bei zu wenig Absicherung und konkreten Zukunftsperspektiven im akademischen Betrieb hatten mich an einen Punkt geführt, an dem ich vor allem eins sicher wusste: So konnte und sollte es nicht weitergehen. Um eine längere Geschichte abzukürzen: Die zweite Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Ratgeberlektüre hat mir nichts gebracht. Oder genauer gesagt: Zur Überwindung meiner Erschöpfung haben sich ein unbefristeter Arbeitsvertrag, ein inspirierendes Arbeitsumfeld und ein kompetenter Hausarzt als deutlich wirksamere Hilfsmittel erwiesen.

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1.1 Power-Posen in der VUKA-Welt Was aber war es, das mich beim Durchblättern jenes Ratgebers (Unger/ Kleinschmidt 2007) innehalten ließ? Es war nicht so sehr die Beschreibung der Depression als »Arbeitsunfall der Moderne« (ebd.: 21ff.) oder die Ausführungen zur Erschöpfungsspirale (ebd.: 89ff.) und auch nicht die Geschichte des Projektmanagers Georg  B., der aus lauter Überarbeitung »eines Tages vor seinem Computer zusammenbrach« (ebd.: 92). Nein, meine Aufmerksamkeit blieb in jener Passage hängen, in der ein Persönlichkeitstyp skizziert wird, der gegenüber Erschöpfung, Stress und Depression von sich aus immun zu sein scheint; ein Subjekt1, an dem die vielfältigen An- und Überforderungen der Gegenwart einfach abperlen, ohne Spuren zu hinterlassen. Dabei handelt sich, wie die Autor*innen2 erklären, um eine »starke Persönlichkeit«, die »Eigensinn hat und mit sich und der Welt in kontinuierlichem Austausch« ist, die »nicht an die Mythen der Arbeitswelt [glaubt] und sich nicht mit dem Versuch [stresst], ihnen zu folgen«, die »Kraft und Kreativität zugleich hat«, aber auch »ihre Grenzen kennt«, und die »Zugang zu ihren Gefühlen, zum Körper und seinen Rhythmen und zu den eigenen Bedürfnissen« hat und die – last but not least – »in gewisser Weise […] für das 1  I ch unterscheide hier und im Folgenden heuristisch die Begriffe Individuum, Subjekt und Selbst. Mit »Individuum« ist dabei der einzelne Mensch (im Unterschied zur Gruppe oder zum Kollektiv) bezeichnet, mit »Subjekt« demgegenüber das in historisch je spezifischer Weise als handlungsfähig adressierte Individuum. Das »Subjekt« ist somit eher ein analytischer als ein deskriptiver Begriff, es bezeichnet einen Fluchtpunkt gesellschaftlicher und kultureller Ordnungen, Praktiken und Diskurse (Reckwitz 2008: 11) und damit nicht nur das Individuum als handelnde Entität, sondern zugleich die (überindividuelle) Vorstellung davon, wie es handeln soll. Die Rede vom »resilienten Subjekt« bspw. verweist also darauf, dass Menschen resilient sein sollen. In diesem Sinne ist in der Moderne, streng genommen, das Individuum (wenn auch in empirisch unterschiedlichen Abstufungen) immer schon Subjekt und ist das Subjekt konstitutiv modern, was nicht bedeutet, dass jedes Individuum gleichermaßen handlungsfähig ist oder sein soll; vielmehr ist nicht nur die Bestimmung des Subjekts, sondern auch die Grenze zwischen »Individuum« und »Subjekt« variabel und umstritten. Das »Selbst« wiederum ist jener Teil des Subjekts, der als eine Art »wandelbarer Kern« aufgefasst wird, zu dem sich das Subjekt reflexiv in Beziehung setzt. 2  I ch orientiere mich im Plural an der Schreibweise Gender-Star und verwende im Singular gleichermaßen generisches Maskulinum wie generisches Femininum. Wo es genau darauf ankommt, welches Geschlecht die bezeichneten Personen haben, wird dies entsprechend kontextualisiert.

1. Erschöpfung und Resilienz im Krisenkapitalismus: Problemaufriss

System subversiv« ist, denn sie »ordnet sich nicht bedingungslos unter – auch nicht den Anforderungen einer globalisierten Arbeitswelt oder den aktuellen Ängsten einer Gesellschaft« (ebd.: 148). Wie die meisten anderen Menschen glaube auch ich nicht, dass Ratgeber die Welt oder Gesellschaft so darstellen, wie sie ist; wie viele andere Soziolog*innen meine ich andererseits schon, dass sie unter anderem mit dazu beitragen, »ein Vokabular für das Selbst und für das Aushandeln sozialer Beziehungen« (Illouz 2007: 21) zu entwickeln, das genauer zu entschlüsseln für ein Verständnis der Gegenwartsgesellschaft hilfreich sein kann. Das schien mir auch hier der Fall zu sein. Die in der skizzierten Beschreibung der erschöpfungsgefeiten Persönlichkeit enthaltene Doppelbotschaft lautet, dass »wir« (Ratgeber richten sich meist an ein fiktives Kollektiv der angeblich Gleichen oder wenigstens Ähnlichen) Grenzen ziehen und es mit Leistung und Optimierung nicht übertreiben und zudem die leibliche Dimension des menschlichen Daseins – die Bedürfnisse des Körpers, unsere seelische Verletzlichkeit und Emotionalität – nicht außer Acht lassen sollten. Das las sich in meinen Augen deutlich anders als das auch damals schon sattsam bekannte neoliberale Credo der lebenslangen Selbstoptimierung und Leistungsbereitschaft. Achtsam, ref lexiv, sensibel, subversiv – ich musste mir eingestehen, dass ich eigentlich auch ganz gerne so wäre wie diese »starke Persönlichkeit« aus meinem Burn-out-Manual, so fein- und eigensinnig zugleich, so realistisch und integer, so ganzheitlich und authentisch. Und wenn mir dieses Persönlichkeitsideal attraktiv erschien, dann ging es anderen vermutlich ähnlich. Ich fragte mich deshalb, ob diese Beschreibung nicht so etwas wie ein Indiz dafür sein könnte, dass das neoliberale »Skript der wünschenswerten Persönlichkeit« (ebd.: 2007: 124) mit seinem rastlosen Aktivismus und seiner unangenehmen Ellbogenmentalität überholt oder wenigstens in Überarbeitung begriffen ist. Und, falls das so wäre, was der Grund dafür ist. Heute weiß ich, dass in jener Beschreibung tatsächlich einige Elemente dessen enthalten sind, was inzwischen regelmäßig unter der Überschrift Resilienz als neues Ideal von Persönlichkeit und Lebensführung verhandelt wird. Dabei liegt die Betonung auf »einige«, denn manche Elemente finden sich in vergleichbaren aktuelleren Texten auch nicht wieder – namentlich die »Subversion«. So wird zum Aufbau beziehungsweise Erhalt der eigenen Resilienz zwar unter anderem empfohlen, sich an Kängurus ein Beispiel zu nehmen, die die Aufgabe, mit »Platzhirschen und Imponiergehabe« im eigenen Rudel zurechtzu-

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kommen, ebenso klaglos meistern wie Feuerstürme und Autoverkehr (Heller 2015: 4), aber diese Empfehlung wird zugleich mit der Mahnung verknüpft, »im Leben immer nur gegen etwas anzukämpfen, das man verändern kann, beziehungsweise nur so lange, wie es sich verändern lässt« (ebd.: 9). Statt sich zu streiten, solle man vor einem unangenehmen Gespräch lieber im Büro für zwei Minuten »Power-Posen« einnehmen (Amann 2015: 96) und beispielsweise im aufrechten Stand beherzt die Hände in die Hüfte stemmen. Die durchaus noch etwas ambivalente Aufforderung, nur aussichtsreiche Kämpfe zu führen, wird schließlich vereindeutigt, wo festgestellt wird, dass »resiliente Menschen« niemals »gegen das an[kämpfen], was ist« (Prieß 2015: 7), sich dafür aber durch die »Kompetenz« auszeichnen, »emotional f lexibel auf unterschiedliche Belastungssituationen reagieren zu können und je nach Anforderung den Erregungszustand herauf- oder herunterzuregulieren« (Fröhlich-Gildhoff/Rönnau-Böse 2015: 49), wodurch sie befähigt werden, sich geschmeidig durch unsere von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität gekennzeichnete Gegenwart, oder kürzer: die »Vuka-Welt« (Nagel/Heinrich 2017: 3) zu manövrieren, ohne ihre Energie in sinnlosen Auseinandersetzungen aufzubrauchen. Dieses Verschwinden der Subversion aus der Herrn und Frau Mustermensch nahegelegten Erschöpfungs-Prophylaxe wird zugleich (und meines Erachtens nicht zufällig) vom Auftauchen des Hinweises begleitet, dass »Burn-out »nicht nur von Stress« kommt (Prieß 2014) und erst recht »nicht vom Job« (Heinemann 2012, Hervorh. i.O.). Dieser Literatur zufolge sind es »weder Alltags- noch Arbeitsüberlastungen«, die zu Burn-out führen (Prieß 2014: 16), sondern »spannungsgeladene Beziehungen« (ebd.), namentlich im Privaten, und nur »wer seinen eigenen mächtigen Anteil erkennt […] und bereit ist, dafür Verantwortung zu übernehmen« (ebd.: 150), kann sich gegen Burn-out wappnen. Nicht beispielsweise die Reduktion von Arbeitsmenge und Arbeitszeit, die man gegebenenfalls gegen Widerstände von Vorgesetzten durchsetzen müsste, sondern die Intensivierung der »Eigen-Zeit, […] Ich-Zeit, […] Ich-Stärkungs-Zeit« schützt demnach vor Burn-out (Heinemann 2012: 214). Kurz: Der Aufstieg der Resilienz als Gegenmittel zur Erschöpfung in der einschlägigen Ratgeberliteratur scheint auf irgendeine Weise einerseits mit einer größeren Sensibilität für die leibliche Dimension des menschlichen Daseins, andererseits mit dem Verschwinden der Subversion als Charakterideal und zugleich mit einem Verstummen der Klagen über die Anforderungen der Arbeitswelt zusammenzuhängen.

1. Erschöpfung und Resilienz im Krisenkapitalismus: Problemaufriss

Die Frage, die ich mir ausgehend von diesen kursorischen Beobachtungen stellte (und immer noch stelle) lautet, wie dieser Zusammenhang genau beschaffen ist – und inwiefern er auf eine Überarbeitung neoliberaler Subjektideale zurückverweist. Seit damals habe ich jedenfalls zu beiden Themen, Erschöpfung und Resilienz, noch einiges mehr gelesen als Ratgeber und Kurzbeschreibungen idealer Subjektivität (die aber durchaus auch – siehe Kap.  4), habe Interviews mit Erschöpfungsbetroffenen geführt, an Tagungen teilgenommen, im Rahmen meiner wissenschaftlichen Arbeit mit Fachkolleg*innen sowie im Kontext meiner unterschiedlichen Lehrtätigkeiten mit jüngeren und älteren Studierenden, Arbeitnehmer*innen, Betriebs- und Personalräten diskutiert und den einen oder anderen Aufsatz zum Thema veröffentlicht.3 Systematisch aufgearbeitet habe ich den Zusammenhang aus Erschöpfung und Resilienz bislang jedoch nicht, und eben das ist das Anliegen des vorliegenden Essays: Mich interessiert, wie Erschöpfung als soziales Phänomen und Resilienz als einigermaßen neues Leitbild zueinander in Beziehung stehen. Diese Frage erscheint mir auch deshalb interessant, weil Resilienz, worauf nicht zuletzt die in den vergangenen Jahren drastisch angestiegene internationale mediale wie wissenschaftliche Diffusion des Begriffs verweist (Weiß/Hartmann/Högl 2017), weit mehr ist als »nur« ein psychologisches Modell. Resilient sollen nicht nur Subjekte sein, sondern auch Familien, Städte, Unternehmen, Ökosysteme, Regierungen, Finanzmärkte und Technologien (um eine kleine Auswahl zu nennen). Via Resilienz lässt sich deshalb, so jedenfalls meine Vermutung, nicht nur etwas über den Umgang mit Erschöpfung oder die Transformation von Subjektidealen, sondern auch über sich wandelnde Vorstellungen von Gesellschaft erfahren. Dass ich selbst lieber von Erschöpfung spreche als von Burn-out (Maslach/Leiter 2001; Burisch 2006), Stressdepression (Benkert 2005) oder anderen, diagnostisch präziseren Kategorien, hat seinen Grund übrigens darin, dass mich an dem Phänomen gerade seine Unschärfe interessiert. Dass es sich nicht um ein eindeutig definierbares Leiden handelt – ich komme in Kapitel 2 ausführlicher darauf zurück – und 3  G  raefe (2010c, 2011, 2015, 2017a, 2017b, 2019), Gahntz/Graefe (2016). Einige dieser Beiträge finden sich in Auszügen und überarbeiteter Form in diesem Buch wieder, namentlich Graefe (2011, 2015, 2017b) und Gahntz/Graefe (2016) in Kapitel 2 sowie Graefe (2019) in Kapitel 3.6.

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folglich die Grenze zwischen den »Kranken« und den »Gesunden« nicht eindeutig zu ziehen ist, macht die Erschöpfung aus soziologischer Per­ spektive gerade interessant. Zudem haben nicht nur Diagnostizierte, sondern hat fast jeder Mensch, wie sich bei beliebiger Gelegenheit auch von Nichtsoziolog*innen leicht überprüfen lässt, etwas zum Thema Erschöpfung zu erzählen. Und auch in diesen Erzählungen bildet sich ab, wie Gesellschaft aus der Sicht »der Leute« (Vobruba 2009) gegenwärtig funktioniert (oder eben nicht). Wie viele andere Autor*innen gehe also auch ich davon aus, dass es sich bei der Erschöpfung um ein Phänomen handelt, das auf eine noch näher zu bestimmende Weise typisch für die kapitalistische Gegenwartsgesellschaft und für die in ihr lebenden Menschen samt der sie betreffenden Anforderungen, Normen, Wünsche und Ängste ist. Dass sich deshalb durch die Erschöpfung hindurch etwas über die Gesellschaft, in der wir leben, erfahren lässt. Oder anders gesagt: Erschöpfung ist aus meiner Sicht eine im postfordistischen Finanzmarktkapitalismus (oder kürzer: im f lexiblen Kapitalismus) typische (wenn auch glücklicherweise meist nur vorübergehende) Erfahrung, und sie hängt mit der in dieser Gesellschaftsform vorherrschenden Kunst der Menschenführung oder Gouvernementalität zusammen, also mit der »Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert« (Foucault 2004: 261).

1.2 Wie wir regiert werden Gouvernementalität ist ein vielschichtiger Begriff. Der französische Philosoph Michel Foucault hat ihn im Blick auf die Geschichte der politischen Theorie seit dem 16. Jahrhundert entwickelt und in der Beschreibung eines spezifischen Machtprinzips kondensiert, das grundlegend für moderne liberale Gesellschaften ist, nämlich Macht als »Führung durch Selbstführung« (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 33). Seine Wirkung bezieht dieses Machtprinzip nicht zuletzt daraus, dass es permanent ref lektiert und überarbeitet wird: Gouvernementalität setzt – sowohl in der klassisch liberalen wie auch in der neoliberalen Variante – die Freiheit der Subjekte konstitutiv voraus und formt diese zugleich in spezifischer Weise. Dabei adressiert sie die Individuen nicht bloß als autonome Subjekte, sondern auch als Lebewesen; Gouvernementalität impliziert insofern immer schon eine Form der Biopolitik, wobei sich auch hier die jeweiligen Formen historisch wandeln (vgl. Graefe

1. Erschöpfung und Resilienz im Krisenkapitalismus: Problemaufriss

2007: 40-46; Lemke 2008). Führung durch Selbstführung materialisiert sich, wie in den zahlreichen Arbeiten der an Foucault anschließenden Governmentality Studies erforscht wurde,4 sowohl in staatlichen und managerialen Programmen als auch in (populär-)wissenschaftlichen Anleitungen zur besseren Lebensgestaltung. Und insofern liberale Menschenführungsprogramme notwendig die Freiheit des Subjekts voraussetzen, werden die jeweils vorherrschenden Leitbilder den Subjekten nicht bloß aufgebürdet, sondern von diesen auch aktiv mitgetragen, wenn nicht sogar explizit gewollt und verlangt. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich zahlreiche soziologische Arbeiten, auch außerhalb des engeren Kreises der Foucaultianer*innen, der Frage gewidmet, wie das solchermaßen zur Freiheit verdammte Subjekt der Gegenwart genau aussieht, was es umtreibt, welche Probleme es hat usw. Einige von ihnen sollen hier einleitend kurz in Erinnerung gerufen werden, da sie aus meiner Sicht nicht nur einige grundlegende Begriffe zum Verständnis der gegenwärtigen beziehungsweise – und das ist eben die Frage – zur gegenwärtig ausklingenden Situation liefern, sondern ihrerseits in der Zusammenschau eine Art Entwicklungsgeschichte jenes Phänomens erzählen, das ich hier der Einfachheit halber zusammenfassend als »neoliberales Subjekt« bezeichnen möchte. Am Übergang vom Fordismus zum Postfordismus taucht zunächst – und prominent – Richard Sennetts charakterloser, dafür aber in Arbeit, Privatleben und Moral gleichermaßen f lexibler Mensch (Sennett 1999) auf, der sich »wie ein Baum im Wind biegen kann, dann aber zu seiner ursprünglichen Gestalt zurückkehrt« (ebd.: 57) und somit bereits einen recht präzisen Ausblick auf jene Philosophie der Resilienz liefert, die Thema dieses Essays ist. Der f lexible Mensch ist ein arbeitsamer Zeitgenosse und als solcher im postfordistischen Unternehmen, das auf hyperkonkurrenten globalisierten Märkten unterwegs ist, mehr als willkommen. Seine ausgeprägte Kompetenz zur Selbstrationalisierung, Selbstökonomisierung und Selbstkontrolle ermöglicht es ihm, sogar unter Bedingungen abhängiger (und abhängigster) Beschäftigung als selbstständiger Unternehmer beziehungsweise als »Arbeitskraftunternehmer« (Voß/Pongratz 1998) zu agieren. Den Willen und die Fähigkeit, ein unternehmerisches Selbst (Bröckling 2007) 4  V  gl. Lemke (1997), Rose (1999), Bröckling/Krasmann/Lemke (2000), Dean (2009), Bröckling (2007, 2017), Angermüller/van Dyk (2010).

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zu werden, muss das neoliberale Subjekt freilich nicht nur im Kontext von Erwerbsarbeit unter Beweis stellen, sondern als Lebenshaltung begreifen. Dementsprechend ist es nicht nur Arbeitskraftunternehmerin, sondern auch in sozialpolitischer Hinsicht auf Effizienz, Kostenneutralität und private Initiative bedacht oder kurz: eigenverantwortliche Aktivbürgerin (Lessenich 2008). Für tradierte Vergesellschaftungsmuster hat es andererseits eher wenig Verwendung, was nicht bedeutet, dass das neoliberale Subjekt diese bekämpft; wo sie sich – etwa in Form der geschlechtlichen Arbeitsteilung im Privaten, der ethnisierten Lohnkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt oder auch in Form ererbten kulturellen Kapitals – als individuell nützlich erweisen, werden sie von ihm vielmehr stillschweigend affirmiert. Konformität ist ihm ein Graus; seine Individualität, Authentizität und Singularität (Reckwitz 2018) schätzt es mehr als alles andere. Das neoliberale Subjekt ist zugleich konkurrenzbewusst und teamfähig, ebenso ich-zentriert wie kommunikativ und politisch irgendwie liberal. Optimierung des bereits Vorhandenen, Neuerfindung des bislang Ungedachten (wobei beides ineinander übergeht) ist sein Mantra. Zu diesem Zweck kann es Qualitäten problemlos in Quantitäten übersetzen und damit messund steuerbar machen – auch »innere« Qualitäten, auch Gefühle. Ist das neoliberale Subjekt narzisstisch, wie manche vermuten (Eichler 2013: 457-481)? Im Sinne des Ursprungsmythos, bei dem Narziss am Ende seiner verliebten Selbstbetrachtung in den Fluss fällt, wohl eher nicht, sicherlich aber in dem Sinne, dass es von der Unverwechselbarkeit seiner selbst maximal überzeugt ist. Oder ist es ein in psychischer Hinsicht demokratisiertes Subjekt, eine »postheroische Persönlichkeit« (Dornes 2012) mit einer »aufgelockerten«, f lexibilitäts-affinen inneren Grundkonfiguration (ebd.: 350), die als Preis für ihr abgeschwächtes Über-Ich eine größere Verletzlichkeit in persönlichen Beziehungen in Kauf nehmen muss? Vielleicht, wobei die Lockerheit, wie man frei nach Rosa Luxemburg formulieren könnte, dann dort endet, wo die Konkurrenz um die Plätze an den Fleischtöpfen ins Ungemütliche kippt und nicht mehr Postheroismus und Kooperation, sondern Durchsetzungsfähigkeit, Zielorientierung und im Zweifel auch eine ordentliche Prise Rücksichtslosigkeit gefragt sind. Inzwischen allerdings schaut dem neoliberalen Subjekt schon seit längerer Zeit beim Blick in den Spiegel ein Gesicht mit eher niedergeschlagenem Ausdruck entgegen. Dabei handelt es sich um ein offenkundig durch und durch »erschöpfte[s] Selbst« (Ehrenberg 2004), das den Glauben an seine unbegrenzten Fä-

1. Erschöpfung und Resilienz im Krisenkapitalismus: Problemaufriss

higkeiten verloren hat und das, statt sich weiter abzurackern, eigentlich nur noch eines will: schlafen. Natürlich existieren Unterschiede zwischen den hier reichlich frei miteinander verhäkelten Diagnosen – etwa die stark normative Aufladung bei Sennett, die sich von der ökonomischen Funktionalität des Arbeitskraftunternehmers ebenso unterscheidet wie von der fast karikaturhaften Gestalt des aktivierten Bürgersubjekts oder des unternehmerischen Selbst. Aber diese Unterscheidungen sind vor allem methodologischer Natur, und sie sind mir für mein Anliegen weniger bedeutsam als die Gemeinsamkeiten der genannten Konzepte; zumal es sich ja – eben – um Konzepte oder Idealtypen handelt, die in der Wirklichkeit in Reinform kaum anzutreffen sind (was auch keiner der genannten Autoren behauptet). So sind f lexibler Mensch, aktiviertes Subjekt wohlfahrtsstaatlicher Austeritätspolitik, postheroische Persönlichkeit, unternehmerisches Selbst und Arbeitskraftunternehmer und schließlich auch das erschöpfte Selbst (das sich gewissermaßen als eine Art Schatten des neoliberalen Subjekts darstellt) zusammengefasst gleichermaßen soziologisch relevante wie mehr oder weniger eng miteinander verwandte Facetten eines einzigen, wenn auch veränderlichen Leitbildes von Subjektivität. Das neoliberale Subjekt ist eine »Realfiktion« (Bröckling 2007: 35) – und diese Realfiktion ist in den letzten Jahren ganz offenbar in eine Krise geraten (vgl. Demirović et al. 2010) – was freilich nicht bedeutet, dass sie an Relevanz verloren hat.

1.3 Leben in der Vielfachkrise Falls diese Einschätzung zutrifft, befindet sich das neoliberale Subjekt zumindest in guter Gesellschaft. Spätestens seit 2007/08 sind Krisendiagnosen in der Soziologie (vgl. Dörre/Lessenich/Rosa 2009) – und nicht nur dort – allgegenwärtig, und das hat seinen Grund. Insofern »alle entwickelten Volkswirtschaften von einem dekadenübergreifenden Trend abnehmender Wachstumsraten des BIP gekennzeichnet sind« (Reuter 2014: 557), steht seit geraumer Zeit nicht weniger als das für kapitalistisch-wohlfahrtsstaatliche Gesellschaften grundlegende Versprechen auf Wohlstand und damit letztlich die imaginäre Blaupause der entsprechenden sozialen Ordnungen, ihr »Gesellschaftsvertrag« auf dem Spiel. Lieferte das verlässliche Wachstum der Wirtschaft jahrzehntelang zugleich die Bedingung für die Glaubwürdigkeit des demo-

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kratischen Versprechens auf die Realisierung nicht nur politischer, sondern auch umfassender sozialer Rechte, dann wird dieses Versprechen im Zeichen der Wachstumskrise notwendig brüchig (Streeck 2016). In diesem Sinne sind Wachstumskrisen immer auch Legitimitätskrisen oder Krisen der Demokratie, die ihrerseits schon länger unter Verdacht steht, »Postdemokratie« geworden zu sein (Rancière 1997; Crouch 2008; Blühdorn 2013). Für eine Krise des Politischen spricht darüber hinaus die überaus erfolgreiche Wiederbelebung überwunden geglaubter Essenzialismen durch neue politische Akteure, welche die ganze Klaviatur von Ethnonationalismus über Kulturrassismus, Antigenderismus und Maskulinismus bis Neo-Autoritarismus bespielen. Nicht zuletzt zeichnen sich diese Akteure – und die ihnen in beeindruckender Geschwindigkeit nach rechts folgenden Parteien der angeblichen »Mitte« – auch durch einen beachtlichen Erfindungsreichtum in Bezug auf weitere Krisendiagnosen aus, namentlich in Bezug auf die angeblich apokalyptischen Ausmaße der sogenannten Flüchtlingskrise. Zugleich kann kaum Zweifel darüber bestehen, dass ein ungebrochenes Festhalten am Wachstum als Zielhorizont staatlichen Handelns die Krisendynamik vor allem unter ökologischen Gesichtspunkten mittel- und langfristig noch verschärft (AK Postwachstum 2016), verursacht die – aller diagnostizierten Wachstumsstagnation zum Trotz – nach wie vor exorbitante Steigerung des globalen Ressourcenverbrauchs doch ihrerseits eine fundamentale Krise der natürlichen Reproduktion, für die die Erderwärmung, Artensterben und mit kiloschwerem Plastikmüll im Magen verendenden Grindwale nur die offensichtlichsten Symptome darstellen; eine Krise, die zwar allenthalben skandalisiert wird, bislang aber gerade von jenen, die von der Externalisierung der sozialen und ökologischen Voraussetzungen und Folgekosten ihrer konsumbasierten »imperialen Lebensweise« (Brand/Wissen 2017; Lessenich 2018) am meisten profitieren, wenn überhaupt eher abstrakt erlebt wird, was wiederum nicht sonderlich erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass die Folgen von Naturkatastrophen zu etwa 90 Prozent Menschen in sogenannten Entwicklungsländern treffen (Merk 2017: 127). Insgesamt jedenfalls haben wir es offenkundig mit einer »historisch-spezifische[n] Konstellation verschiedener sich wechselseitig beeinf lussender und zusammenhängender Krisenprozesse im neoliberalen Finanzmarktkapitalismus« zu tun (Demirović et al. 2011: 13). Vor diesen Hintergrund stellen sich auch die steigenden Erschöpfungsraten im dreifachen Sinne als Krisensymptome dar: einmal, insofern

1. Erschöpfung und Resilienz im Krisenkapitalismus: Problemaufriss

sie auf mögliche Grenzen des Wachstums subjektiver Produktivitätspotenziale verweisen; zweitens, insofern die »Reproduktionskrise« (Jürgens 2010) und der damit einhergehende Glaubwürdigkeitsverlust des wohlfahrtsstaatlichen Versprechens sich in vielfacher Weise bis hinein in die privaten Lebenswelten – von fehlenden Kita-Plätzen über »Mietenwahnsinn« bis »Pf legenotstand« – durchschlägt und dort Erfahrungen von Überforderung, Verschleiß und Erschöpfung begünstigt (ebd.: 561), und schließlich, insofern Erschöpfung als soziales Phänomen und subjektive Erfahrung womöglich auch und nicht zuletzt auf ein Stottern jener »grausam optimistischen« neoliberalen Wunschökonomie (Berlant 2011) verweist, die die Subjekte glauben lässt, dass das, was ihnen die neoliberale Leitkultur als erstrebenswertes Leben in Aussicht stellt – Erfolg, Status, Anerkennung und Genuss in einer als weitgehend stabil erlebten gesellschaftlichen Umwelt – realistisch tatsächlich auch erreichbar ist. Nun sind Krisen im Kapitalismus bekanntlich nichts Ungewöhnliches, sondern für diesen, im Gegenteil, notwendig: Sie begründen die Erneuerungsfähigkeit und damit die Stabilität der kapitalistischen Re-/Produktionsweise. Die Vielfachkrise hat deshalb zwar systemischen und auch transformativen, nicht aber – bisher jedenfalls – systemüberwindenden Charakter: Sie leitet keine Revolution an, sondern eröffnet stattdessen den Raum für die Erneuerung der kapitalistischen Re-/ Produktionsbedingungen (zu denen auch die vorherrschenden Subjektivierungsprogramme gehören).5 Dabei ist nur schwer zu entscheiden, ob es sich in erster Linie um »materiale« Krisen oder vor allem um Krisendiskurse handelt. Wie Martin Endreß erklärt, ist »Krise« ein trivialer Begriff, der für alles und nichts passt und im Grunde nichts weiter

5  I ch verstehe Subjektprogramme als Klammer für die gesellschaftlich-historisch je vorherrschende Art und Weise, in der Individuen normativ, institutionell und alltagskulturell als legitime, handlungsfähige gesellschaftliche Subjekte adressiert und sozial (an-)geordnet werden; demgegenüber sind mit Subjektivierung die Praxisformen und Selbstverhältnisse (oder auch: die Lebensweisen) bezeichnet, die mit dieser Adressierung oder »Anrufung« (Althusser 1977) korrespondieren. Mit Foucault (1994) wiederum lässt sich davon ausgehen, dass Subjekte stets beides sind: handlungsfähig und unterworfen, und dass Subjektivierung folglich ebenso als Ermächtigung wie als Unterwerfung gedacht werden muss, wobei weder auf der Ebene des einzelnen Subjekts noch auf der Ebene sozialer Gruppen determiniert ist, in welchem Mischungsverhältnis Ermächtigung und Unterwerfung koexistieren.

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aussagt, als »dass wir es mit einer Übergangssituation zu tun haben«.6 Unbestreitbar ist zudem, dass die »diskursive Artikulation der ›Krise‹« – man denke an die Dämonisierung der griechischen Schuldenkrise als eine Art moralisches Versagen der Griech*innen, dem seitens der Europäischen Union mit wohlmeinender und gerade deshalb in der Sache unerbittlicher Konsequenz zu begegnen sei – tatsächlich bereits »ein Weg [ist], die Krise zu ›managen‹« (Athanasiou/Butler 2014: 206). Dies gilt in abgewandelter Weise freilich auch für die hier als Indiz einer Krise des Subjekts gedeutete Erschöpfung, weshalb ich diese nur ungern als Beleg für das Vorhandensein einer gesellschaftlichen »Pathologie« interpretieren würde, die sich einerseits »aufseiten der Subjekte als Störungen der psychischen und intersubjektiven Verhältnisse« und andererseits »›objektiv‹ als Erosion, Krisenhaftigkeit und Dysfunktionalität der infrage stehenden Praxiszusammenhänge und Institutionen« (Jaeggi/Kübler 2014: 526) zeigt – nicht, weil diese Beschreibung völlig falsch wäre, sondern weil die Terminologie der »Krankheit« in Bezug auf Gesellschaft analytisch nicht weit trägt. Nicht zuletzt verstellt sie den Blick darauf, dass, allen Krisenerscheinungen zum Trotz, der vorherrschende wohlfahrtsstaatlich-kapitalistische Reproduktionszusammenhang ja immer noch beeindruckend gut funktioniert (was man selbst wiederum als Krisensymptom deuten könnte, insofern es dazu führt, dass notwendige Systemveränderungen nicht vorgenommen werden). Anders als in der Semantik der Krankheit mit ihrem objektivistischen Unterton gehen im Begriff der Krise objektive Veränderungen und deren Wahrnehmung und Bewertung konstitutiv ineinander über: Eine Krise, die niemand als solche erkennt, ist keine (was in analytischer Hinsicht fraglos ein Nachtteil, epistemologisch aber auch ein Vorteil des Begriffs ist). Und wenn die Erneuerungsfähigkeit des Kapitalismus wesentlich von seiner Kapazität abhängt, zugleich handlungsrelevante wie epistemologisch überzeugende Antworten auf die solchermaßen konstitutiv stets doppelt verfassten Krisenerscheinungen zu bieten, so gilt dies auch – und gerade – für die Krise des Subjekts. Die Annahme, die ich im vorliegenden Essay plausibilisieren möchte, lautet, dass Resilienz eine konzeptionelle Antwort auf das für den Finanzmarktkapitalismus charakteristische und zugleich aus vielen guten Gründen nicht mehr fraglos glaubwürdige »Credo [der] Flexibili6  V  gl. www.deutschlandfunk.de/soziologiekongress-der-begriff-krise-ist-eigentlich.​ 11​48.​de.html?dram:article_id=299913 (01.04.2019).

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tät, Geschwindigkeit und Aktivierung« (Dörre 2009: 64) ist; eine Antwort freilich, die mit diesem Credo nicht bricht, sondern es unter veränderten normativen Vorzeichen weiter stabilisiert.

1.4 Der Aufstieg der Resilienz Was aber ist Resilienz? Zunächst mal ist das Konzept alles andere als neu. Es stammt bereits aus dem 19. Jahrhundert und bezeichnet ursprünglich die Eigenschaft eines Materials, nach einer Einwirkung von außen in seinen ursprünglichen Zustand zurückzukehren. Gemeint ist eine f lexible Widerstandsfähigkeit, die Subjekte ebenso wie Ökosysteme, Finanzmärkte oder Küstenstädte in die Lage versetzt, mit unvorhergesehenen Ereignissen, Krisen, Schocks (oder eben auch chronischem Stress) so umzugehen, dass es zu keiner nachhaltigen Beeinträchtigung kommt.7 Dabei reüssiert Resilienz nicht nur im Segment der Ratgeberliteratur, sondern hat auch auf wissenschaftlichem Terrain bereits eine beeindruckende Karriere vorzuweisen. Ob Psychologie, Ökologie, Betriebswirtschaftslehre, Erziehungswissenschaft oder Geographie, um nur einige Disziplinen zu nennen: Resilienz ist allgegenwärtig. Längst hat der Begriff darüber hinaus einen festen Platz im Vokabular internationaler politischer Großorganisationen erobert.8 Konzeptionell lassen sich zwei wesentliche Quellen der gegenwärtigen Karriere der Resilienz ausmachen. Zum einen die in den 1950er Jahren begonnene, insgesamt 40 Jahre andauernde Längsschnitt-Kohortenstudie der Psychologinnen Emily Werner und Ruth S. Smith auf der hawaiianischen Insel Kauai, die bis heute eine wesentliche Grundlage für psychologische und pädagogische Konzeptionen von Resilienz darstellt (Werner/Smith 1989). Das bahnbrechende Ergebnis dieser Studie war, dass sich von den etwa 30 Prozent der Studienteilnehmer*innen, die aufgrund von schwierigen familialen und sozialen Bedingungen als Hochrisikokinder eingeschätzt wurden, ein Drittel überraschender7  F ür einen Überblick zum Resilienzdiskurs vgl. Wieland (2011), Anderson (2015) Endreß/Maurer (2015), Wink (2016), Bröckling (2017), Karidi/Schneider/Gutwald (2017), Rungius/Schneider/Weller (2017), Bonß (2015), Meyen et al. (2017). 8  V  gl. The World Bank (2008, 2013), EU (2016), UNDP (2017), IFRC (2016), Anderies et al. (2013), Schmidt (2014), Kemmerling/Bobar (2017).

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weise »positiv« entwickelte. Diese Kinder schienen über die Fähigkeit zu verfügen, sich von widrigen Umständen nicht aus der Bahn werfen zu lassen und sich entgegen aller Erwartungen zu »kompetenten, selbstbewussten und fürsorglichen Erwachsenen« zu entwickeln (Werner 2006: 36), was als Hinweis auf ihre Resilienz, und das heißt hier: auf das Vorhandensein bestimmter, die Entwicklungsrisiken abschwächenden »Schutzfaktoren« gedeutet wurde, wie beispielsweise ein ausgeglichenes Temperament, Intelligenz, aber auch positive Beziehungen zu Erwachsenen in- und außerhalb der Familie. Resilienz ist demnach »die Konsequenz solch abschwächender Prozesse, die Risiken und Belastungen zwar nicht beseitigen, es dem Individuum aber ermöglichen, wirkungsvoll damit umzugehen« (ebd.: 29).9 Inzwischen wird Resilienz psychologisch umfassender als Prozesskategorie und insofern weniger als gegebene Eigenschaft des betreffenden Subjekts verstanden. Sie kann dementsprechend nicht nur gemessen, sondern auch trainiert und entwickelt werden, was wiederum die fundierende Annahme liefert für die sich ausbreitenden Angebote der Resilienzförderung, etwa in Kindergarten, Schule, Betrieb oder Coaching. Eine zweite, gänzlich anders gelagerte Quelle gegenwärtiger Resilienzkonzepte stellt das von dem Ökologen C.S. Holling im Jahre 1973 entwickelte Modell der »ecological resilience« (Holling 1973) dar, dessen bis heute weit reichender Einf luss nicht nur auf Ökologie, sondern auch auf Sicherheitspolitik, Managementtheorie, Kastastrophenschutz oder Entwicklungspolitik usw. usf. kaum überschätzt werden kann. Hollings zentraler Einsatz liegt dabei im radikalen Abschied von ökologischen Gleichgewichtsmodellen und in der Annahme einer prinzipiellen Elastizität und Regenerationsfähigkeit von Ökosystemen, die sich (erst) in Auseinandersetzung mit externen Schocks und Disruptionen ausbildet. Dabei grenzt er sein Konzept der »ökologischen Resilienz« von einer am Erhalt von Stabilität orientierten »engineering resilience« ab (ebd.) und argumentiert in späteren Arbeiten, dass sich Systeme in aufeinanderfolgenden und zugleich überlappenden »adaptive cycles« verändern (Holling 2001), in denen sich Phasen der Reorganisierung und Entspannung mit Phasen der Stabilisierung und des Wachstums in vorab nicht berechenbarer Weise abwechseln und auf diese Weise die »Evolution« des Systems ermöglichen: »evolution is like a game, 9  E in Überblick über psychologische Konzepte von Resilienz findet sich bei Fooken (2016).

1. Erschöpfung und Resilienz im Krisenkapitalismus: Problemaufriss

but a distinctive one in which the only payoff is to stay in the game« (Holling 1973: 18). Das Prinzip der nicht-linearen Komplexität gilt Holling zufolge nicht nur für ökologische Systeme, sondern ausdrücklich auch für sozialökologische Systeme (Holling 2001) und damit auch für gesellschaftliche Entwicklungen (Folke et al. 2010). Inzwischen jedenfalls ist Resilienz im ökologischen Fachdiskurs längst zu einem derart erfolgreichen »Modewort« avanciert (Weiß et al. 2017: 13), dass bereits vor einer »›Resilienzifizierung‹ von fast allem« (Groß 2014: 17) gewarnt wird. Erst in neuerer Zeit wird Resilienz auch als soziologisch relevantes Konzept diskutiert (Blum et al. 2016; Endreß/Maurer 2015), allerdings entwickelt sich eine eigenständige soziologische Resilienzforschung bislang erst in Ansätzen. Epistemologisch lässt sich Resilienz als Rationalitätsschema begreifen, das es einerseits ermöglicht, »Probleme entlang der Differenz verletzbar versus widerstandsfähig zu definieren« (Bröckling 2017: 125) und das andererseits an die Theorie komplexer Systeme anschließt, für die wiederum die Annahme zentral ist, dass Menschen, Maschinen, biologische Organismen und soziale Systeme in vergleichbarer Weise funktionieren und gesteuert werden können. Allerdings wäre es zu einfach, Resilienz als trojanisches Pferd zu betrachten, mit dessen Hilfe Grundannahmen der Theorie komplexer Systeme in Köpfe und Konzepte transportiert werden; entscheidend ist unter subjektivierungstheoretischen Gesichtspunkten vielmehr die enge Verbindung von kybernetischen Grundannahmen mit gouvernementalen Programmen der »therapeutic governance« (Pupavac 2016) oder »Psychopolitik« (Rau 2010). Alles in allem ist Resilienz nicht nur ein Modewort, sondern auch ein »Schlüsselkonzept des 21. Jahrhunderts« (Bröckling 2017: 113, vgl. Bürkner 2010) und damit eine Denkfigur, die – unter Umständen sogar auch dort, wo von Resilienz explizit (noch) gar keine Rede ist – etablierte Wirklichkeitswahrnehmungen, Problemlösungsmodelle und Anleitungen zur Selbst- und Fremdführung beeinf lusst und ihre Überarbeitung nahelegt. Resilienz als transformatives Paradigma stimmt uns nicht nur auf eine in multipler Weise ungewisse, undurchschaubare und deshalb eben prinzipiell auch bedrohliche Gegenwart ein, sondern gibt uns zugleich die Mittel an die Hand, mit dieser Situation fertigzuwerden. Wie aber kommt es von der Vielfachkrise – namentlich von der Krise des Subjekts – zu Resilienz als Krisenbearbeitungsvorschlag?

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1.5 Zu diesem Buch Eben dieser Frage möchte ich in den folgenden Kapiteln zunächst ausgehend vom Phänomen der Erschöpfung nachgehen und dabei schrittweise den thematischen Fokus erweitern. Dazu werde ich in Kapitel 2 auf Basis einer Übersicht über die vorliegenden Deutungen und Befunde vorschlagen, die Erschöpfung als einen in der f lexibel-kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft schlüssigen Modus der (individuellen oder kollektiven) Problematisierung der Beziehung von Subjektivität, Arbeit und psychosozialer Gesundheit aufzufassen. Damit ist schon angedeutet, dass ich der Erschöpfung ein in bestimmter Weise kritisches Potenzial zuschreibe, was entlang einer kleinen empirischen Fallstudie weiter veranschaulicht wird. Dabei wird auch deutlich werden, dass die Aktualisierung (und erst recht: Politisierung) der kritischen und konf liktiven Dimension der Erschöpfung unter den Bedingungen der Verlebensweltlichung von Konf liktkulturen wie der Entgrenzung des Konkurrenzprinzips überaus voraussetzungsvoll ist. Sofern der Erschöpfung also ein kritisches Potenzial innewohnt, handelt es sich dabei eher um einen »schwachen« Modus der Kritik, weshalb Erschöpfung als Problematisierungsweise wiederum systematisch anfällig ist für Strategien der Dekonf liktualisierung, wie sie sich neuerdings im Zeichen der Resilienz formieren. Kapitel 3 legt den Zusammenhang von Erschöpfung und Resilienz analytisch eine Ebene tiefer und fragt danach, auf welches Problem Resilienz in diesem Zusammenhang eigentlich Antworten zu geben verspricht. Wie zahlreiche Texte nahelegen, hängt das Phänomen der Erschöpfung eng mit dem Thema der Autonomie zusammen, das in der Gegenwartsgesellschaft (namentlich im Feld der Arbeit) auf paradoxe Weise ebenso handlungserweiternd wie -beschränkend wirkt: Eben weil »wir« autonome Subjekte sein sollen (und wollen), sind wir vor Überforderung nicht gefeit; weil wir dem Imperativ der Selbstverwirklichung gehorchen (sollen), verwandelt sich das Leben in ein Hamsterrad usw. usf. Das Kapitel stellt die These von der solchermaßen paradoxen Gestalt der Autonomie in der Gegenwartsgesellschaft zur Diskussion. Am Ende dieser Diskussion wird deutlich werden, dass es nicht »die« Autonomie ist, die den Subjekten des f lexiblen Kapitalismus zum Problem wird, sondern eine spezifische Fassung von Autonomie, die wiederum eng mit dem Konzept der Resilienz verwandt ist, weshalb unter der Überschrift Resilienz sowohl die Autonomie der (arbeitenden) Subjekte

1. Erschöpfung und Resilienz im Krisenkapitalismus: Problemaufriss

affirmiert als auch eine mögliche Kritik von Arbeitsbedingungen entschärft und umgelenkt werden kann. Kapitel 4 nimmt schließlich die Figur des resilienten Subjekts und damit das Gegenmodell zum »erschöpften Selbst« in den Blick und hinterfragt die dieser Figur eingeschriebenen Vorannahmen, Perspektiven und Konturen. Dafür skizziere ich zunächst den für das Konzept der subjektbezogenen Resilienz grundlegenden Begriff der Selbstregulation und frage nach dem darin implizierten Subjektverständnis, betrachte sodann die pädagogische Figur des resilienten Kindes und widme mich entlang des psychologischen Konstrukts vom »posttraumatischen Wachstum« dem der Semantik der Resilienz eingeschriebenen Glücksversprechen, bevor ich schließlich das resiliente Subjekt, wie es sich in populärwissenschaftlichen Beschreibungen darstellt, mit dem bereits umfassend analysierten unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007) konfrontiere. Dabei wird sich herausstellen, dass es vor allem der Topos der »Adaption« sowie die Betonung der produktiven Kraft des Unglücks sind, welche die Subjektivität des resilienten Subjekts ebenso begründen wie tendenziell vom unternehmerischen Selbst abheben. Kapitel  5 schließlich wendet den Blick vom Subjekt und seiner Erschöpfung ab und in Form eines tentativen Ausblicks auf die Welt und Gesellschaft hin. Die Frage lautet hier, was es bedeutet, das Soziale und das Gesellschaftliche von Resilienz her zu denken, was ich am Beispiel der »Community Resilience« sowie im Blick auf Resilienz als umfassendes Konzept von Sicherheit diskutiere. Kapitel und Buch schließen mit einer Ref lexion über die Möglichkeiten der Kritik von Resilienz; ein Nachdenken, das das Zugeständnis, dass es in bestimmten und begrenzten Bereichen durchaus sinnvoll sein kann, Resilienz zu untersuchen und zu stärken, ebenso einschließt wie die Warnung vor einer vermeintlich emanzipatorischen Umdeutung von Resilienz als generalisiertes Handlungsideal. Wo Text ist, sind auch Lücken, und so bleibt in dieser Einleitung abschließend noch festzustellen, was alles nicht in diesem Buch zu finden ist. Zu finden ist hier keine genaue Genealogie des Resilienzkonzepts in seinen vielfältigen unterschiedlichen Verwendungsweisen, und auch keine Überprüfung der operationalen Tauglichkeit der verschiedenen Definitionen von Resilienz. Ich frage also nicht danach, wie Resilienz angewandt werden müsste, um die viel beklagten Unschärfen des Konzepts in den Griff zu bekommen. Ebenso wenig findet sich in diesem

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Buch eine empirische Überprüfung der Konsequenzen angewandter Resilienzforschung auf konkrete Subjekte, Gruppen oder Prozesse. Auch bietet es keine gründliche Aufarbeitung der, insofern es um den complexity turn geht, im doppelten Sinne komplexen theoretischen Geschichte des (vor allem ökologischen) Resilienzkonzeptes. All dies zu bearbeiten wäre ohne jede Frage nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig. Doch abgesehen von dem tendenziell wiederum erschöpfenden Charakter eines solchen Projekts versteht sich der vorliegende Text vor allem als Denkanstoß sowie als Outline für weitere Arbeiten – und beschränkt sich deshalb auf die Frage, was die unterschiedlichen Einsätze von Resilienz konzeptionell verbindet - und damit auf die Frage nach den Fluchtlinien eines sich abzeichnenden neuen Modus, das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft zu denken.

2. An den Grenzen der Verwertbarkeit: Erschöpfung als umkämpftes Terrain Klagen über steigende Leistungsanforderungen, den täglichen Spagat zwischen Beruf und Privatleben, den Wahnsinn der Bürokratien, inkompetentes Führungspersonal, angespannte kollegiale Beziehungen, überbordende To-do-Listen, notorischen Zeitmangel und die oftmals vergeblichen Versuche abzuschalten, sind in hochindustrialisierten kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart längst ein fester Bestandteil der Alltagskommunikation geworden. Ob beim Geburtstagsbuffet, im hausärztlichen Sprechzimmer oder beim Friseur – die Erklärung für jedes nur denkbare persönliche Problem ist meist schnell zur Hand: Stress (Kury 2012). Den zahlreichen Anforderungen des spätmodernen Alltagslebens gerecht zu werden, Arbeit und sonstiges Leben halbwegs unter einen Hut zu bekommen, scheint für viele Menschen eine Art Utopie geworden zu sein – und das betrifft bei weitem nicht nur diejenigen, die bereits entsprechend diagnostiziert worden sind: Burn-out, Depression, Anpassungsstörung oder Stressdepression (im Folgenden bewusst unscharf unter dem Terminus »Erschöpfung« zusammengefasst, s. S. 11) sind längst keine Phänomene mehr, die als unglückliche Einzelschicksale begriffen werden. Sie können jede jederzeit ereilen, und wer bislang (noch) nicht betroffen ist, kann es zukünftig immer noch werden. Auch medial wird die Erschöpfung seit Jahren dokumentiert, kommentiert, interpretiert – und freilich auch dramatisiert: Von »totgeschwiegenen Volkskrankheiten« ist die Rede1, vom »Seeleninfarkt« (Dahlke 2014) oder auch von einer »weltweiten Epidemie« (Tucci/ Moukkadam 2017). Und natürlich befassen sich auch Medizin, Psychologie und Sozialwissenschaften mit dem Leiden an Leistungsdruck, Stress und Überforderung. 1  V  gl. https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/sehen-statt-hoeren/depressionen-​ bu​rn-out-100.html (01.04.2019).

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Das Narrativ der Sorge um Stress, Erschöpfung und Depression entsteht im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, aber erst im Nachgang zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 entwickelt es sich zu voller Blüte. Im Kern basiert es auf der doppelten Annahme, stressbedingte psychische Leiden hätten sich signifikant ausgebreitet, und Arbeit – genauer: Erwerbsarbeit – sei dafür eine zentrale Ursache. Diesem Narrativ zufolge kann Arbeit in verschiedener Hinsicht zum gesundheitlichen Risiko werden: zu viel, zu schlecht bezahlt, zu anstrengend oder zu unbefriedigend – oder auch alles zusammen. Ob wir es allerdings tatsächlich mit einem Anstieg von stressbedingten psychischen Leiden zu tun haben, ist äußerst umstritten. Darüber, dass es eine zunehmende Aufmerksamkeit für Erschöpfung gibt, besteht hingegen kaum Zweifel. Wenig bestritten wird zudem, dass sich Arbeitsformen und -verhältnisse signifikant gewandelt haben, ebenso wie Leitbilder gelingender Subjektivität und Vorstellungen von Gesundheit. Doch wie steht das eine zum anderen in Beziehung? Dieser Frage möchte ich im Folgenden nachgehen. Warum die Erschöpfung eine paradigmatische Erfahrung von Subjektivität am Beginn des 21. Jahrhunderts ist, wird dabei ebenso deutlich werden wie die Schwierigkeit, ihre Ursachen einwandfrei zu klären. Die leitende doppelte Grundannahme dieses Kapitels ist, dass Erschöpfung nicht nur ein vieldeutiges soziales Phänomen, sondern gerade aufgrund dieser Vieldeutigkeit in gesellschaftlicher Hinsicht produktiv ist. Stressbedingte Leiden stellen einerseits eine für die Gegenwartsgesellschaft typische Erfahrung dar und sind andererseits Gegenstand öffentlicher Diskurse, die versuchen, die »Natur« der Erschöpfung zu ergründen. Gerade weil Erschöpfung als soziales Phänomen, wie ich in diesem Kapitel plausibilisieren möchte, weder reines Diskursprodukt noch objektives Krankheitsgeschehen ist, lässt sie sich als sprechender Indikator des aktuellen gesellschaftlichen Wandels begreifen. Um dies zu zeigen, werde ich mich zunächst in das Dickicht der Befunde und der kontroversen Deutungen dieser Befunde in der öffentlichen Debatte um die Erschöpfung begeben (2.1). Danach wechselt die Diskussion auf die Ebene der sozialwissenschaftlichen Analyse, wobei ich zwei unterschiedliche Deutungen der Erschöpfung vorstellen und kontrastieren werde – Erschöpfung als Ergebnis gesellschaftlicher Transformation, namentlich der Subjektivierung von Arbeit und Erschöpfung als Indiz einer zunehmenden Therapeutisierung des Sozialen (2.2). Beide Betrachtungsweisen zusammenführend werde ich vor-

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schlagen, Erschöpfung als eine Form der gesellschaftlichen wie der individuellen Problematisierung der Beziehung von Arbeit, Gesundheit und Subjektivität im f lexiblen Kapitalismus zu verstehen (2.3). Im Anschluss daran möchte ich entlang einer kontrastierenden Fallskizze veranschaulichen, wie sich diese Konstellation in den Alltag erschöpfter Subjekte übersetzt (2.4). Dabei wird sich zeigen, dass die Erfahrung der Erschöpfung eine kritische Problematisierung der je eigenen Beziehung zur Erwerbsarbeit anleiten kann, aber keineswegs muss (2.5). Von dieser Beobachtung ausgehend werde ich im letzten Teil des Kapitels schließlich die instruktive These Alain Ehrenbergs vom »Verschwinden der Konf likte« (Ehrenberg 2004) aufgreifen und mit und gegen Ehrenberg weiterentwickeln (2.6).

2.1 Im Dickicht der Befunde Einen ersten Anhaltspunkt für eine Bestandsaufnahme der Erschöpfung liefert, wie sollte es anders sein, die Statistik. Hier scheint die Sache immerhin klar: Alles in allem haben wir es mit einer deutlichen Zunahme erschöpfungsbedingter Leiden zu tun. So nimmt der Anteil psychisch bedingter Arbeitsausfälle am gesamten Krankheitsgeschehen seit der Jahrtausendwende kontinuierlich zu, während der Krankenstand seit den 1980er Jahren insgesamt gesunken ist. Im Jahr 2016 wurden knapp 15 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage durch eine psychische Erkrankung verursacht; mehr als 40  Prozent aller Frühberentungen gehen inzwischen auf eine psychisch bedingte Erwerbsminderung zurück (DGPPN 2019). Wurde im Jahr 1997 noch etwa jede fünfzigste DAK-Versicherte einmal pro Jahr aufgrund einer psychischen Diagnose krankgeschrieben, so war es im Jahr 2012 bereits jeder zweiundzwanzigste (DAK 2013: 32). Zwar werden Atemwegs- und Muskel-Skelett-Erkrankungen nach wie vor häufiger diagnostiziert; im Vergleich zu anderen Diagnosegruppen steigen die Arbeitsausfalltage aufgrund psychischer Symptome seit Beginn der 1990er Jahre jedoch besonders deutlich an (Knieps/Pfaff 2014: 43). Bei den DAK-Versichterten etwa leiden ein Drittel der Männer und 36  Prozent der Frauen mindestens einmal im Jahr an einer psychischen Störung (DAK 2015: 9). Psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit verteilt sich nach Alter, Geschlecht, Beruf und Beschäftigtenstatus unterschiedlich. Generell sind mehr Frauen als Männer betroffen und ältere Menschen eher als

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jüngere. Die Bandbreite psychisch riskanter Branchen und Berufe ist groß; so gilt Arbeit im Gesundheitswesen (namentlich der Altenpf lege), in Lagerverwaltung und Logistik sowie in der öffentlichen Verwaltung als psychisch riskant (DAK 2015: 21), wie generell Berufe mit intensivem Kundenkontakt (statista 2018). Arbeitsinhaltliche Risikofaktoren für gesundheitsgefährdenden Stress sind das gleichzeitige Erledigen unterschiedlicher Aufgaben, vulgo: Multitasking, ein ständiger hoher Zeit- und Termindruck, ein zu geringer Einf luss auf Arbeitsinhalte und -abläufe, schlechte Führungsqualitäten sowie schlicht die zu bewältigende Arbeitsmenge, wobei sich durch die Kombination verschiedener Faktoren Belastungseffekte verstärken (BAuA 2017: 21). Ein besonders hohes Risiko, psychisch zu erkranken, resultiert schließlich aus Erwerbslosigkeit: Nicht nur schätzen Erwerbslose ihren allgemeinen Gesundheitszustand schlechter ein als Erwerbstätige: Störungen der psychischen Gesundheit treten bei ihnen auch zwei- bis viermal so häufig auf. Auch das Suizidrisiko ist bei Erwerbslosen deutlich erhöht (Pech/ Freude 2010). Größer noch als im Falle von Arbeitslosigkeit ist das Erkrankungsrisiko in Jobs, »bei denen hohe Anforderungen mit wenig Kontrolle und unfairer Bezahlung« zusammenkommen (Seiler/Jansing 2014: 50): Keine Arbeit scheint am Ende immer noch gesünder zu sein als miese Arbeit. Arbeitsstress spielt aber nicht nur im Zusammenhang mit expliziten Diagnosen psychischer Erkrankungen eine Rolle, sondern erhöht auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weshalb davon auszugehen ist, dass Arbeitsunfähigkeits-Statistiken die Bedeutung psychischer Belastung2 für das Krankheitsgeschehen nur bedingt realistisch abbilden (Albus/Ladwig/Herrmann-Lingen 2014). Bemerkenswert sind nicht nur die Zahlen, die den Anstieg erschöpfungsbedingter Leiden belegen. Bemerkenswert ist auch die zugehörige Textproduktion. Knapp 50 Millionen Ergebnisse listet Google zum Suchwort »Burn-out« auf, die »Depression« kratzt an der 100-Millionen-Marke. Bereits Mitte der 1990er Jahre existierten 5.500 wissenschaftliche Publikationen zu Burn-out (Kury 2012: 280). Doch nicht allein die kaum noch zu überblickende Menge an Ratgeberliteratur und Zeitschriftentiteln, Onlinequellen und Radio- und Fernsehbeiträgen, auch die Stereotypie der medialen Berichterstattung über die 2  D  a nicht jede Belastung für das Subjekt problematisch ist, wäre hier und im Folgenden korrekterweise und in der Terminologie des Arbeitsschutzgesetzes von »Fehlbelastung« zu sprechen; ich verzichte zugunsten der besseren Lesbarkeit darauf.

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»Burn-out-Gesellschaft« vermittelt den Eindruck, dass man es hier mit einer zwar veränderlichen, insgesamt aber stabil etablierten »Ordnung des Diskurses« (Foucault 1998) zu tun hat (Bröckling 2013). Und so drängt sich die Frage auf, was zuerst da war: die Erschöpfung als Resultat von Leistungsstress und problematischen Lebens- und Arbeitsbedingungen oder die Sorge um die Bedeutung, Entstehung und Auswirkungen von arbeitsbedingtem Stress. Weil diese Frage mehr als naheliegt, mischen sich in die mediale Dauerberichterstattung über die kollektiven Leiden der Seele seit einigen Jahren auch deutlich skeptische Töne. Allenfalls handele es sich um eine »gefühlte Epidemie« (Pawelzik 2011) in einem Land mit »Phantomschmerzen« (Haas 2013); vor einer allzu schnellen Verbreitung der »Modediagnose Burn-out« warnt auch das Ärzteblatt (Kaschka/Korczak/Broich 2011). Auch die DAK geht davon aus, dass die Prävalenz psychosozialer Leiden über die Jahre eher relativ stabil bleibt, dabei aber eine veränderte Wahrnehmung von Ärzt*innen wie Patient*innen die Diagnosekultur positiv beeinf lusst: Wo früher eine somatische Krankheit festgestellt wurde, werde inzwischen eher ein psychisches Leiden diagnostiziert (DAK 2013: 55f.); der Anstieg der Diagnosen sei folglich dadurch erklärbar, dass Ärzt*innen wie Patient*innen heute »offener mit psychischen Problemen umgehen« (DAK 2015: 7). Dass sich dieses Argument auch politisch nutzen lässt, zeigt eine Stellungnahme der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände: Nicht alle Anzeichen von Stress bei der Arbeit dürften als arbeitsbedingter Stress betrachtet werden (BDA 2017). Verwiesen wird auf eine gestiegene gesellschaftliche Aufmerksamkeit für psychische Leiden, die ärztliche Diagnosen beeinf lusse und individuelle Hemmschwellen senke, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Feinsinnig differenziert der Arbeitgeberverband zwischen Arbeit als Medium sozialer Integration auf der einen und problematischen »gesellschaftlichen Entwicklungen« auf der anderen Seite – Entwicklungen, die, etwa in Gestalt einer »Auf lösung traditioneller Sinn-, Werte- und Sozialstrukturen«, psychische Erkrankungen beförderten (ebd). Erschöpfung erscheint hier zugleich als bedauerliches Privatproblem psychisch labiler Einzelner wie als Indiz eines allgemeinen Werteverfalls – und die ebenso stabilisierende wie Sinn stiftende Erwerbsarbeit in beiden Fällen als angezeigtes Gegengift. Eine solche gezielte Dethematisierung von Belastungen durch die Erwerbsarbeit lässt sich wiederum als Spielart einer gezielten »Politik der Nicht-Existenz« (Vogelmann 2013) verste-

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hen, der es darum geht, sich aus einsichtigen Motiven möglichst nicht näher mit den Gründen für die alltagsweltlich recht plausible Annahme zu befassen, dass es in vielen Fällen eben doch die Erwerbsarbeit ist, die Menschen belastet und im Zweifel sogar manifeste psychische Probleme produziert. Für die größte Einzelgewerkschaft Deutschlands, die IG Metall, gibt es an diesem Zusammenhang wiederum keinen Zweifel: »Arbeitsstress und Zeitdruck sind allgegenwärtig und machen psychisch krank« (IG Metall Vorstand 2012). Für die u.a. von der IG Metall eingeforderte »Anti-Stress-Verordnung« sieht die Bundesregierung bisher allerdings keinen Anlass und lässt auf die entsprechende Anfrage der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE im September 2018 verlauten, die vorliegenden rechtlichen Instrumente reichten hier völlig aus; psychische Belastungen würden sowohl durch Unter- als auch durch Überforderung entstehen; es könne folglich »nicht das Ziel einer menschengerechten Gestaltung der Arbeit sein, Belastungen grundsätzlich zu reduzieren« (Deutscher Bundestag 2018: 19). Vielmehr komme es darauf an, sie an die Bedürfnisse und Ressourcen der einzelnen Beschäftigten anzupassen (ebd.) – individualisierte Prävention lautet hier offensichtlich die Perspektive, die recht deutlich bereits auf das Thema der Resilienz hinweist, das in Kapitel 3 und 4 ausführlich Thema sein wird. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin wiederum erklärt eher verhalten, es sei davon auszugehen, dass »ein bedeutender Zusammenhang zwischen Arbeit und mentaler Gesundheit« vorliege (Rose et al. 2016: 10); der Anteil arbeitsbezogener Faktoren am Anstieg psychisch bedingter Ausfallzeiten lasse sich jedoch nicht »hinreichend beziffern« (ebd.). Die Antwort auf die Frage, ob wir es tatsächlich mit einem Anstieg stressbedinger Leiden zu tun haben, scheint also vor allem eins zu sein: uneindeutig. Zweifelsfrei feststehen dürfte hingegen, dass die Erschöpfung selbst produktiv ist. Ob in Form von Selbsthilferatgebern, kassenfinanzierten Präventionsangeboten, Yogakursen, Omega-3-Fettsäuren oder Serotonin-Wiederaufnahmehemmern – die Erschöpfung stellt längst nicht mehr nur einen potenziellen »point of no return« dar, sondern ebenso einen »point of sale« (Liebl 2003: 113) . Nicht zuletzt leitet sie ein umfängliches Programm der richtigen Lebensführung an: Die eigenen Ressourcen kompetent managen, Belastungsgrenzen frühzeitig erkennen, regelmäßig Sport treiben, frisch und gesund essen, Beziehungen nicht vernachlässigen, sich maßvoll und den eigenen Werten gemäß engagieren und überhaupt den verschiede-

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nen Bereichen des eigenen Lebens einen angemessenen Platz im Alltag einräumen – so oder so ähnlich empfiehlt es unisono die einschlägige Ratgeberliteratur. Summa summarum gelten Burn-out, Depression & Co. in der Gegenwartsgesellschaft anders als ihre weitläufigen historischen Vorläufer – die Melancholie oder die Acedia (Ingenkamp 2012: 86ff.) – also nicht als seltene Erscheinungen, die Ausnahmepersönlichkeiten betreffen. Ebenso wenig handelt es sich um gesellschaftliche Synonyme für das schlechterdings Böse, wie Susan Sontag es am Beispiel des Krebsdiskurses des 20. Jahrhundert analysiert hat (Sontag 1981: 101). Und doch sind Niedergeschlagenheit und substanzielle Antriebslosigkeit keine den Menschen des 21. Jahrhunderts vorbehaltene Erfahrung, sondern vielleicht sogar so alt wie die Menschheit selbst. Neu aber ist die Vorstellung, dass es sich um Leiden handelt, die jede und jeden betref fen können, die mit Überforderung und Leistungsdruck zu tun haben und die darüber hinaus behandlungsbedürf tig sind. Wiewohl keine eigentliche Krankheitsdiagnose, steht im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit vor allem das von Herbert Freudenberger 1974 erstmalig beschriebene »Burn-out« (Freudenberger 1974). Freudenberger, Psychoanalytiker und engagierter Gesundheitsaktivist, hatte sich selbst und seinen Mitstreiter*innen in der »Free-Clinic-Bewegung« einen gesundheitsgefährdenden Idealismus attestiert: »We work too much, too long and too intensely« (ebd.: 161). Die Erfolgsgeschichte des Konzepts Burn-out basiert nicht unwesentlich auf der von Freudenberger gewählten Metaphorik des Ab- oder Ausbrennens, die dem realen Erleben einer aus Überengagement resultierenden, potenziell in einer zynischen Haltung gegenüber dem eigenen Klientel mündenden Frustration, welche typischerweise von körperlichen Beschwerden wie Kopfschmerzen, wiederkehrenden Infekten oder Verdauungsstörungen begleitet wird, einen treffenden und einprägsamen sprachlichen Marker verleiht. Nichtsdestotrotz sollte es von Freudenbergers Begriffsprägung bis zur offiziellen Anerkennung als Diagnose noch bis in die 1990er Jahre dauern; seitdem ist Burn-out – wenn auch nur als Zusatzdiagnose – im internationalen Diagnose-Klassifikationssystem ICD-10 aufgeführt. Demzufolge handelt es sich bei Burnout nicht um eine eigenständige Krankheit, sondern um ein »Problem mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung«3.

3  Vgl. www.icd-code.de/suche/icd/code/Z73.html?sp=Sburn-out (01.04.2019).

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Im Anschluss an Freudenberger wurden zahlreiche Versuche unternommen, Burn-out eindeutig zu definieren. Als Goldstandard gilt bis heute das »Maslach Burn-out Inventory« (Maslach/Jackson 1981), das ein Drei-Phasenmodell des Burn-out-Verlaufs entwirft: Emotionale Frustration, die typischerweise in helfenden Berufen entsteht, führt zu emotionaler Erschöpfung, was in der Folge eine Distanzierung von Arbeitsinhalten und Klienten, die sogenannte »Depersonalisation«, bewirkt. Was Burn-out – im Sinne einer exakten medizinischen Definition – genau ist, ist bis heute allerdings unklar. Nimmt man die verschiedenen Definitionen zusammen, so existieren mehr als 100 verschiedene Symptome, die auf Burn-out hindeuten können (vgl. Burisch 2006: 24ff.). Aus der unklaren Definition des Burn-out-Syndroms resultiert zwangsläufig auch ein Abgrenzungsproblem zu anderen Diagnosen, wie etwa emotionale Erschöpfung, depressive Episode, Anpassungs- oder Angststörung. Nicht zuletzt können auch physiologische Ursachen – etwa Schilddrüsenerkrankungen oder Nährstoffmangel – Burn-out-ähnliche Symptomatiken hervorrufen. Lange schon wird Burn-out auch aus psychomedizinischer Perspektive nicht mehr nur als typische Sozialarbeiter*innen-, Lehrer*innen- oder Manager*innenkrankheit verstanden. Als Risikofaktoren gelten nicht allein übertriebenes emotionales commitment der Arbeitenden, sondern auch Unternehmenskulturen, in denen Zynismus gegenüber Mitarbeiter*innen und Untergebenen an der Tagesordnung sind oder schlicht Arbeitsanforderungen, die »über die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit« hinausgehen (Maslach/Leiter 2001: 11). Anders als im Falle der Depression wird der gesellschaftliche Charakter des Burn-out-Syndroms kaum infrage gestellt; dass es sich um ein »Problem des sozialen Umfeldes, in dem Menschen arbeiten« (ebd.: 19f.; Hervorh. i.O.) handelt, ist weithin unstrittig. In diesem Sinne unterstreicht auch das Deutsche Ärzteblatt seine »gesundheitsökonomische und gesundheitspolitische Dimension« (Kaschka/Korczak/Broich 2011: 781)4, allerdings wird die Ärzt*innenschaft im selben Atemzug davor gewarnt, auf der Grundlage des diagnostisch bislang erst unzureichend validierten Burn-out-Begriffs »Arbeitsunfähigkeit […] oder Berentungen« zu bescheinigen (ebd.: 786). Deutlicher noch formuliert seine grundlegende Skepsis Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stif4  V  gl. Hillert/Marwitz (2006: 18): »Sich als ausgebrannt zu erleben, ist auch eine dezidiert politische Stellungnahme.«

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tung Deutsche Depressionshilfe, der für eine schärfere diagnostische Trennung zwischen der »schwere[n] Krankheit Depression« und dem »schwammigen Begriff Burn-out« plädiert (Hegerl 2012: 3). Die Vermischung beider Konzepte führe letztlich zu einer Verharmlosung oder sogar zur Fehlbehandlung der Depression. Wird Burn-out im öffentlichen Diskurs also einerseits als Leiden der besonders Engagierten dargestellt – metaphorisch verdichtet im Bild vom abgebrannten Streichholz (Haubl 2013: 169ff.) – steht es andererseits unter Verdacht, den wirklich Kranken die Show zu stehlen. Und Hegerls Warnung scheint Wirkung entfaltet zu haben, denn nach einem deutlichen Anstieg der Burn-out-Diagnosen seit 2004 (der sich aber auch dadurch erklärt, dass Burn-out überhaupt erst seit den frühen Nullerjahren diagnostiziert wird), ist die Zahl der Burn-out-Diagnosen bei den DAK-Versicherten zwischen 2011 und 2015 wieder gesunken. Demgegenüber rangieren Depressionen »auf Platz 1 der häufigsten Seelenleiden« (DAK 2015: 7). Und während die Häufigkeit von Depressionen mit der Höhe des sozioökonomischen Status sinkt, verhält es sich beim Burn-out-Syndrom umgekehrt (Busch et al. 2013). Dies spricht nicht nur dafür, dass Burn-out ein typisches Leiden von Mittelklasse-Angehörigen ist, sondern auch dafür, dass die Diagnose Burn-out im Verhältnis zur Diagnose Depression als deutlich weniger stigmatisierend erlebt wird.

2.2 Erfahrung oder Erfindung: Widerstreitende Diagnosen Die Einschätzungen im öffentlichen Diskurs um die Erschöpfung variieren also erheblich. Während sie auf der einen Seite als Effekt einer veränderten gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und Diagnosekultur gilt, wird sie andererseits als aussagekräftiges Indiz eines verallgemeinerten Risikos verstanden, durch Arbeit krank zu werden. Die Deutungen schwanken zwischen den beiden Polen Erschöpfung als (mediale, diskursive) Erfindung und Erschöpfung als objektiver Befund oder Erfahrung. Und diese Polarität der Deutungen spiegelt sich auch in den einschlägigen sozialwissenschaftlichen Perspektiven wider. Gilt Erschöpfung den einen als »subjektives Leiden an einer Sozialordnung, die von hypertrophen Wettbewerben und ökonomischen Wachstumszwängen geprägt ist« (Neckel/Wagner 2014: 536), beobachten andere ein »Diskursereignis von geradezu epidemischen Ausmaßen«

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(Bröckling 2013: 179). Wird die Erschöpfung also einerseits als typisches Leiden an der f lexibel-kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft gedeutet, wird die gesteigerte Aufmerksamkeit für psychisches Leiden andererseits vor allem als Diskursproduktion dechiffriert. Und obwohl erstmal gegenläufig, liefern beide Perspektiven, wie ich im Folgenden zeigen möchte, wichtige Einsichten in die ebenso komplexe wie hochgradig gesellschaftlich bestimmte »Natur« der Erschöpfung. Deutet man Erschöpfung als mehr oder weniger objektive Erfahrung, dann geht man davon aus, dass es »die Leistungs- und Aktivgesellschaft« ist, die »eine exzessive Müdigkeit und Erschöpfung« hervorbringt (Han 2010: 55). Aus dieser Perspektive erscheinen Burn-out und Depression als »Leiterkrankungen des f lexiblen Kapitalismus« (Voß/Weiß 2013) und als Folge eines gesellschaftlichen Strukturwandels seit den 1970er Jahren, der mit den Stichworten Flexibilisierung, Entgrenzung und Subjektivierung beschrieben wird. Bezogen auf Erwerbsarbeit geht es dabei um den gleichzeitigen Wandel der »äußeren« Beziehung von Unternehmen und Beschäftigten wie der Innerlichkeit der Arbeitssubjekte. Dabei spielt der Topos der Autonomie eine zentrale Rolle (worauf ich in Kap. 3 ausführlich zurückkomme); Arbeit im f lexiblen Kapitalismus eröffnet den Arbeitenden im Allgemeinen mehr Handlungsspielräume und ist weniger hierarchisch organisiert als sie es im Fordismus war. Mit der (inzwischen nicht mehr ganz so neuen) »neuen« Autonomie in der Arbeit (Peters 2001a) korrespondiert zugleich die stärkere Nutzbarmachung des »ganzen Menschen«– seiner Motivation, Kreativität, kommunikativen Fähigkeiten, sozialen Kontakte oder kurz: seiner Subjektivität. Galt Subjektivität im Fordismus noch als strukturelles Hindernis, das in durchrationalisierten Produktionsprozessen so weit wie möglich auszuschalten ist, avanciert sie im Kontext f lexibel-kapitalistischer Unternehmensorganisation zum ökonomischen Rohstoff wie zum unverzichtbaren Arbeitsinstrument. Flexibilisierte Arbeitszeiten und Betriebsstrukturen, steigende Mobilitätsanforderungen, zunehmend projektförmig organisierte und output-orientierte Arbeitsprozesse bewirken, so die arbeitssoziologische Zentraldiagnose, dass Autonomiepotenziale zunehmen, während parallel der »zeitliche, sachliche und soziale Druck auf die Beschäftigten« (Voß/Weiß 2013: 31) steigt. Konkret resultieren Belastungen im Kontext subjektivierter Arbeit und indirekter Steuerung unter anderem aus der zunehmenden Erosion des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit zugunsten einer markt-

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und erfolgsorientierten Leistungspolitik (ausführlich dazu Menz 2009), aus Widersprüchen zwischen betrieblichen Outputanforderungen und ethischen Vorstellungen der Beschäftigten (etwa zu guter Kundenorientierung, vgl. Nies 2019), aus der Gleichzeitigkeit der Erweiterung von Handlungsspielräumen und der Standardisierung von Arbeitsabläufen sowie schließlich aus der Entkopplung von Leistung und Beschäftigungssicherheit (Dunkel/Kratzer/Menz 2010: 360f.), und all das vollzieht sich vor dem Hintergrund einer messbar gestiegenen Arbeitsintensität seit Beginn der 1990er Jahre (ebd.: 357). Parallel steigen die Ansprüche der Beschäftigten an Inhalte und Gestaltung der Arbeit. Doch während Martin Baethge Anfang der 1990er Jahre noch davon ausging, die »positive Verankerung von Arbeit in der individuellen Identitätskonstruktion« (Baethge 1991: 10) würde Betriebe in absehbarer Zeit »das Fürchten lehren« (ebd.), kann inzwischen wohl als gesichert gelten, dass sich diese Furcht bis heute in recht überschaubaren Grenzen hält; eher sind es die Beschäftigten selbst, die sich vor den maßlosen Anforderungen der Erwerbsarbeit fürchten. Und dennoch: Die historisch neue Wertschätzung von Autonomie in der Arbeit ist nicht allein Herrschaftsprogramm, sondern auch Ergebnis von Kämpfen um die Humanisierung und Demokratisierung von Arbeit, und sie schließt – wie widersprüchlich und problematisch auch immer – an subjektive Wünsche der Beschäftigten nach Freiheit und Selbstentfaltung in der Erwerbsarbeit an. Dementsprechend handelt es sich um eine »doppelte Subjektivierung« (Holtgrewe/Voswinkel 2002), die wiederum Voraussetzung für die Transformation der fordistischen Arbeitnehmerin in die idealtypische »Arbeitskraftunternehmerin« (Voß/Pongratz 1998) ist, die aus eigener Motivation nicht nur ihr betriebliches Handeln, sondern ihr ganzes Leben unter die Maxime der Vermarktlichung stellt: Im Unterschied zur Arbeitnehmerin reicht es im Falle der Arbeitskraf tunternehmerin nicht mehr, diszipliniert und effektiv zu arbeiten, sondern sie muss und soll ihre Motivation, ihre sozialen Kontakte, ihr Wissen und ihre Selbstmanagement-Skills auch über die Grenzen der Arbeit hinaus pf legen und erweitern, um den umfänglichen Anforderungen von Arbeitsmarkt und Unternehmen zu entsprechen. Allerdings geht es beim Stichwort Subjektivierung nicht bloß um die Produktion, sondern ebenso um die Reproduktion: Veränderte betriebliche Steuerungsformen koexistieren mit der Rücknahme sozialstaatlicher Sicherungsgarantien, bei nach wie vor stabiler geschlecht-

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licher Ungleichverteilung von Reproduktionszuständigkeiten zulasten von Frauen (Jürgens 2010: 575). Die auf Flexibilisierung, Entgrenzung und Subjektivierung basierende Transformation von Arbeitskraft und Arbeitsformen wird zudem weiträumig gesellschaftlich f lankiert. Zielen betriebliche Systeme der »indirekten Steuerung« (Glißmann/Peters 2001) darauf ab, dass sich Beschäftigte als Unternehmer*innen im Unternehmen begreifen, verfolgt eine sozialstaatliche Politik der »Aktivierung« des verantwortlichen Bürgersubjekts (Lessenich 2008), auf makrosozialer Ebene Ähnliches: Man soll sich zuständig fühlen für die Entlastung öffentlicher Haushalte und die Allgemeinheit nicht über Gebühr für eigene Notlagen in Anspruch nehmen; eine Allgemeinheit, die berechtigt ist, das »gemeinwohlkompatible Handeln« der Bürger*innen einzuklagen und die sich »gegen jene Individuen schützen und verteidigen muss, die der Gesellschaft durch ›asoziales‹ Verhalten Risiken auferlegen« (ebd.: 121f.). Kurz: Subjektivierung ist nicht auf den Bereich der Erwerbsarbeit oder auf Erwerbstätige beschränkt, sondern ist ein umfassender gesellschaftlicher Prozess, der auch Kinder, Erwerbslose oder Rentner*innen betrifft. Alle sollen »die Verantwortung für die eigene Individualität« übernehmen (Eversberg 2014: 534). Subjektivierung von Arbeit und Reproduktion lässt sich aus dieser Perspektive als eine wesentliche Ursache für die Zunahme von psychischen Belastungen und, daraus resultierend, von Erschöpfung verstehen. Für die Frage nach dem Verhältnis von Arbeit und Reproduktion bedeutsam ist vor allem das Stichwort Entgrenzung: Wenn nicht nur Erwerbsarbeit, sondern das gesamte Leben der Arbeitskraftunternehmerin »immer mehr einem durchorganisierten Betrieb« gleicht (Voß/ Weiß 2013: 35), erodiert die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive Sphärentrennung zwischen Produktion und Reproduktion, Öffentlichkeit und Privatem, Arbeit und Leben (wenngleich, wie erwähnt, dabei die traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung nicht unbedingt verschwindet). Diese Konstellation bringt bisweilen paradoxe Effekte hervor – etwa wenn f lexibilisierte und subjektivierte Arbeit insbesondere von männlichen Beschäftigten, wie Arlie Hochschild gezeigt hat, als Freiraum gegenüber einem zunehmend taylorisierten Familienleben erlebt wird (Hochschild 2006) oder wenn sich in heterosexuellen Paarbeziehungen im urban-akademischen Milieu hinter der Fassade der Gleichberechtigung neue Formen der Konkurrenz zwischen den Geschlechtern entwickeln (Koppetsch/Speck 2015).

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Sowohl in der betrieblichen wie in der sozialpolitischen Anrufung eigenverantwortlicher und marktkonformer Subjektivität drohen darüber hinaus bei ausbleibender Erfüllung der jeweiligen Anforderungen spezifische Sanktionen, deren Spektrum von moralischem Druck bis hin zum sozialen Abstieg reicht. In diesem Sinne basiert Subjektivierung im f lexiblen Kapitalismus nicht allein auf dem Angebot einer positiven Identifizierung mit betrieblichen und gesellschaftlichen Anforderungen. Subjektivierung als Versprechen – auf Autonomie und Selbstverwirklichung – geht vielmehr mit Formen der direkten und indirekten Drohung (mit ökonomischem Abstieg, verweigerter Anerkennung als volles Bürgersubjekt oder sogar mit sozialem Ausschluss) einher. Die Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen und daraus resultierende Ängste vor Abstieg und Arbeitsplatzverlust unterfüttern somit eine (nicht zuletzt sozialpolitisch vorangetriebene) negative (und für die Subjekte häufig alternativlose) Form der Identifizierung mit den herrschenden Anforderungen (Eichler 2009: 102), worauf nicht nur die spektakulären Suizidserien unter leitenden Angestellten in französischen Großbetrieben verweisen (Rau 2009). Die im Zusammenhang mit Erschöpfung vielfach empirisch validierten Phänomene der beruf lichen Gratifikationskrise (Siegrist 2009) und des Ungleichgewichts von betrieblichen Anforderungen und subjektiven Kontrollmöglichkeiten (Karasek 1979) deuten darüber hinaus auf eine konstitutive Asymmetrie hin, die unter Krisenbedingungen eher größer als kleiner werden dürfte. Die doppelte Subjektivierung ist folglich in doppelter Hinsicht doppelt: Sie umfasst nicht nur Ansprüche (der Subjekte) und Anforderungen (des Betriebes oder des Staates), sondern ist ebenso Verheißung (auf Autonomie) wie Drohung (mit Abstieg oder Ausschluss). Alles in allem stellt sich die Erschöpfung aus dieser Perspektive also als eine für subjektivierte Arbeitsverhältnisse passgenaue Krankheit dar, eine Art Staublunge des 21. Jahrhunderts, wird mit der Subjektivität doch jener Teil des Menschen krank, der im gegenwärtigen Arbeits- und Wohlfahrtsregime am stärksten beansprucht und belastet wird. Die These einer aus den f lexibel-kapitalistischen Arbeits- und Lebensbedingungen resultierenden zunehmenden psychischen Verletzlichkeit der Subjekte wird freilich nicht von allen sozialwissenschaftlichen Interpret*innen geteilt. Einige ziehen diese Annahme sogar ausdrücklich in Zweifel (Dornes 2016; Ingenkamp 2012; Jurk 2008). Im weiträumigen Anschluss an die Tradition sozialwissenschaftlicher Medizin- und Psychiatriekritik, wie sie Michel Foucault mit seiner Ge-

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nealogie des »Wahnsinns« als Gegenbild bürgerlicher Vernunft in der Moderne Anfang der 1960er Jahre (Foucault 1996) oder Robert Castel in seiner wegweisenden Studie zur »Psychiatrisierung des Alltags« vorgelegt hat (Castel 1979), nimmt diese Perspektive Prozesse der Medikalisierung und Therapeutisierung in den Blick und analysiert die Art und Weise, wie Gesellschaft und Subjekte Gesundheit und Krankheit auffassen. Im Zusammenhang mit der Erschöpfung sind in diesem Zusammenhang vor allem vier Tendenzdiagnosen relevant: Erstens befassen sich die einschlägigen Arbeiten mit der Tendenz einer immer weiteren begriff lichen und normativen Entgrenzung von Gesundheit. Ist Gesundheit in der Moderne »zu einem vielfältig besetzten Wert höchster politischer Relevanz« (Labisch 1985: 76) geworden – und zwar nicht zuletzt dank ihrer »Bedeutung als scheinbar entpolitisierter, weil naturwissenschaftlich-wertneutraler Stützkonzeption« (ebd.) – so nimmt diese Aufwertung im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine ganz spezifische Form an. Gesundheit wird nicht mehr nur als Abschaffung oder Vermeidung von Krankheit verstanden, sondern als lebenslang immer wieder neu herzustellender Prozess und allgemeiner Idealzustand. Bereits 1948 erklärte die Weltgesundheitsorganisation, Gesundheit sei ein »state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity« (WHO o.J.: 1). Von dieser Definition ausgehend existiert eigentlich nichts mehr, das unter gesundheitlichen Aspekten irrelevant wäre – eine Annahme, die alltagsweltlich inzwischen so plausibel geworden ist, dass ihre Infragestellung fast schon befremdlich erscheint. Gesundheit erscheint in der Gegenwart als Indikator einer gelungenen Lebensführung, erfolgreicher sozialer Integration und persönlicher Erfüllung. Eine zentrale Rolle in diesem Paradigmenwechsel hin zur »symbolischen Gesundheit« (Brunnett 2009) spielt das von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky in den 1980er Jahren entwickelte Konzept der »Salutogenese« (Antonovsky 1997), das im Kern darauf basiert, die Dichotomie von Krankheit und Gesundheit als Kontinuum aufzufassen, wodurch es möglich werden soll, nicht vorrangig Krankheitsrisiken, sondern Gesundheitspotenziale in den Blick zu nehmen (ebd.: 29). Antonovskys Anliegen war es zudem, dem Begriff »Stress« seinen potenziell bedrohlichen Charakter zu nehmen. Stressoren, so Antonovsky, seien nichts »Unanständiges«, sondern »allgegenwärtig« (ebd.: 30), man solle sie folglich nicht bekämpfen, sondern Bedingungen schaffen, »die die aktive Adaptation des Organismus an seine Umgebung erleichtern«

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(ebd.).5 Die Annahme, dass Stress vor allem als eine mangelnde Anpassung des Organismus an gegebene Umweltbedingungen zu begreifen ist, impliziert dabei nicht nur einen spezifischen Blick auf Gesundheit, sondern auch auf die Erschöpfung – und sie liefert einen wesentlichen Baustein für das Ideal des resilienten Subjekts (auf das ich in Kap. 4 zurückkomme). Zweitens werden, so die an die Diagnose der Entgrenzung von Gesundheit anschließende Annahme, vormalige Krankheiten, vor allem aber bislang nicht-pathologisierte Verhaltensweisen zunehmend als therapeutisch bearbeitbare »Störungen« aufgefasst. Dies arbeite einer »Diagnoseinf lation« zu (Frances 2013), die sich nicht zuletzt in der Ausdifferenzierung und Vervielfältigung insbesondere von psychosozialen Krankheitsbildern in den einschlägigen medizinischen Klassifikationssystemen niederschlägt (prominente Beispiele sind hier etwa ADHS, Dysmorphophobie, Binge-Eating-Disorder u.a.). Von der rasanten Zunahme an Diagnosen und Verschreibungen profitiert, so die weitergehende Annahme, vor allem die Pharmaindustrie (vgl. Wehling u.a. 2007: 549), was sich exemplarisch entlang der Erfolgsgeschichte der sogenannten »neuen« Antidepressiva oder SSRI (Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer), die seit Ende der 1980er Jahre auf dem Markt sind, exemplarisch nachvollziehen lässt: Die SSRI versprechen nicht nur, nebenwirkungsärmer und somit alltagstauglicher zu sein als ihre Vorläufer. Ihre Wirkung besteht vor allem darin, die Patient*innen zu stimulieren und die für die Depression typische Handlungshemmung abzuschwächen. Bereits um die Wende zu den 1980er Jahren kommt es zu einer annähernden Verdopplung der Verschreibungen von Antidepressiva (Ehrenberg 2004: 169), und ein Ende des Booms der »Serotonin-Ökonomie« (ebd.: 216) ist nicht absehbar. Freilich bedeutet Boom nicht Heilung; allein in Deutschland hat sich im Zeitraum von 2000 bis 2013 der Konsum von Antidepressiva verdoppelt (Hillienhof 2013), während zugleich von einem Rückgang von Depressionen kaum die Rede sein kann. Parallel hat sich die Anzahl depressiv Erkrankter in der Weltbevölkerung laut Weltgesundheitsorganisation zwischen 2005 und 2015 um rund 18 Prozent erhöht (WHO 2017: 8). Erschöpfung – hier 5  M  atthias Leanza (2016) analysiert das Konzept der Salutogenese instruktiv als Technik einer »immunisierenden Optimierung« von Emotionen, die Gesundheit als »unerreichbaren Fluchtpunkt« entwirft, an dem sich das Handeln auszurichten hat (ebd.: 424).

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in Gestalt der Depression – stellt sich vor diesem Hintergrund vor allem als profitable Quelle pharmaindustrieller Wertschöpfung dar. Die Diagnoseinf lation führt drittens zu einer Pathologisierung und, damit einhergehend, Schrumpfung von Normalität. Befindlichkeiten, die vor noch nicht allzu langer Zeit als weitgehend undramatische Optionen menschlichen Daseins galten (etwa: zappelig sein, zu viel oder zu wenig essen, sich nicht schön finden, schüchtern sein u.a.) erhalten nunmehr Krankheitswert; ein Prozess, der von einer expandierenden Beratungsindustrie (Coaching, Mediation, Ratgeberliteratur, Selbstmanagementkurse) f lankiert wird (Illouz 2011; Maasen/Elberfeld/Eitler 2011; Traue 2010). Von dieser Diagnose ausgehend erscheint der Anstieg etwa von Burn-out-Diagnosen nicht als Indiz zunehmenden Leidens, sondern als Pathologisierung vormals alltäglicher Zustände ohne Krankheitswert. Auf diese Weise würden, so die weitergehende Kritik, nicht nur immer neue »Therapiebedürfnisse« geschaffen (Jurk 2016: 325) und die Unterscheidung zwischen »Depression, Angst, Stress, Schlaflosigkeit, Apathie, Anspannung [oder] Selbstzweifel« (ebd.) zunehmend unscharf; seelische Phänomene würden außerdem als die »immer gleichen biochemischen Entgleisungen des Hirnstoffwechsels« gedeutet (ebd). Die Normalitätsschrumpfung wird dieser Diagnose zufolge von einer Rebiologisierung subjektiver Seins-Zustände begleitet. Dabei steht die »gegenwärtige medikamentenzentrierte Behandlung psychischer Störungen« selbst unter Verdacht, eben jene Anormalitäten zu chronifizieren, die sie zwar nicht zu »heilen«, aber immerhin wirksam zu behandeln vorgibt (Hasler 2012: 165). Normative Entgrenzung von Gesundheit, Diagnoseinf lation und Normalitätsschrumpfung zusammengenommen begünstigen schließlich viertens den Prozess einer umfassenden Therapeutisierung des Sozialen, womit eine Form der Regierung des Subjekts und seiner Beziehungen gemeint ist, die den »Imperativ einer unabschließbaren ›Arbeit am Selbst‹ zum mehr oder weniger selbstverständlichen Prinzip der individuellen Lebensführung und der sozialen Organisation« (Anhorn/ Balzereit 2016: 24, Rose 2005) erklärt, wobei die Optimierung der individuellen psychophysischen performance nicht bloß zukünftige Krankheiten oder Beeinträchtigungen verhindern soll, sondern auch einer immer weiter ausdifferenzierten »Perfektionierung der menschlichen Natur« (Wehling et al. 2007: 564f.) zuarbeitet. Gesundheit und Krankheit erscheinen aus medizin- und therapeutisierungskritischer Perspektive zusammengefasst als Terrain einer

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biopolitischen, also auf »das Lebendige« zielenden umfassenden Regulation von Gesellschaft, die sich gleichermaßen auf medizinische Wissensproduktion stützt wie sie – hochgradig normativ aufgeladene – Formen der Selbstführung der Subjekte anleitet. Dabei betonen viele ältere wie jüngere Analysen die sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts entwickelnde epistemologische und programmatische Relevanz von Psychosomatik (Shorter 1994) und »Psychopolitiken«, die das Subjekt dazu anhalten, auch seinen Gefühlshaushalt ökonomisch zu verwalten und somit gleichsam »den stillen Unterbau neoliberaler Praxis« darstellen (Rau 2016: 660, vgl. Rau 2010). Konzepte wie das der »Emotionalen Intelligenz«, so Eva Illouz (2011), dienen einerseits als normative Begründung für die Überlegenheit des Lebensstils »der für den Produktionsprozess entscheidenden sozialen Gruppen« und liefern andererseits eine wissenschaftliche Begründung der »Anforderungen, die die neuen Formen des Kapitalismus an das Selbst stellen« (ebd.: 348f.). Dies wiederum kritisch zu ref lektieren wird für die Subjekte umso schwieriger, je mehr sich die »therapeutische Erzählung« durchsetzt, die die Kompetenz zur individuellen Selbstveränderung als vielleicht »wichtigste Quelle moralischen Werts in der Gegenwart« begreift und den an sich arbeitenden Einzelnen somit das angenehme Gefühl verschafft, moralisch und sozial kompetent zu sein (ebd.: 309). Aus der kritischen Perspektive auf Prozesse der Medikalisierung und der Therapeutisierung des Sozialen wird also nicht bestritten, dass viele Menschen sich gegenwärtig erschöpft fühlen. Dass sie aber ihre Erschöpfung als therapiebedürftige Störung verstehen (wodurch in der Konsequenz eben jene Statistiken zustande kommen, die den drastischen Anstieg der psychischen Erkrankungen und entsprechenden Verordnungen erst belegen), stellt sich aus dieser Sicht vor allem als Effekt der erfolgreichen Durchsetzung des psychomedikalisierten Zugriffs auf das Subjekt dar, das dabei als ebenso psychisch verletzlich wie auf Begleitung und Beratung durch Expert*innen angewiesen konstruiert wird. Der »objektive« Gehalt der Erschöpfung wird hier also kategorisch bestritten. Die heutige Gesellschaft mache allenfalls insofern depressiv, spitzt Konstantin Ingenkamp zu, als sie eine therapeutische Erzählung verbreite – die Erzählung der Depression (Ingenkamp 2012: 343). Ähnlich argumentiert auch Martin Dornes (2016), der auf Basis einer vergleichenden Sekundäranalyse der einschlägigen Statistiken feststellt, der Anteil psychischer Erkrankungen am gesamten Krankheitsgeschehen hätte sich in den letzten Jahren kaum verändert;

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vielmehr seien diese früher häufiger als körperliche Erkrankungen fehldiagnostiziert worden, würden alltägliche Befindlichkeitsstörungen heutzutage in Krankheiten umcodiert und seien die entsprechenden Diagnoseschlüssel der neuen Sensibilität für psychosoziale Leiden angepasst und entsprechend erweitert worden (ebd.: 123). Aus einer therapeutisierungskritischen Perspektive erscheint Erschöpfung, kurz gesagt, weniger als Konsequenz der systematisch verfeinerten Ausbeutung von Arbeitskraft, sondern vielmehr als Effekt einer systematisch verschobenen Wahrnehmung von Leiden unter dem Vorzeichen der weiträumigen Entgrenzung eines psychomedikalisierten Wahrheitsregimes.

2.3 Ein Knotenpunkt im Dispositiv Die beiden hier schematisch gegenübergestellten Perspektiven – Erschöpfung als Resultat der grundlegenden Transformation von Arbeits- und Lebensverhältnissen im Zuge der neoliberalen Wende und Erschöpfung als Gegenstand und Indiz der psychopolitischen Therapeutisierung des Sozialen – unterscheiden sich also in wesentlichen Punkten. Während die therapeutisierungskritische Perspektive die diskursive und medizinische Herstellung des Phänomens Erschöpfung in den Fokus der Analyse rückt (und dabei die Faktizität des Leidens anzweifelt), analysiert die arbeitskritische Perspektive Erschöpfung als Konsequenz der Transformation von Arbeitsverhältnissen, Unternehmensorganisation und Wohlfahrtsstaat (ohne der diskursiven Produktion der Erschöpfung einen eigenen analytischen Stellenwert einzuräumen). Beide Sichtweisen lassen sich als Formen von Gesellschaftskritik verstehen, die jeweils Unterschiedliches in den Blick nehmen: Die therapeutisierungskritische Perspektive untersucht die produktive Macht von gesundheitsbezogenen Wissensregimen. Dementsprechend steht diese Perspektive nicht nur einem positivistischen Verständnis von psychischem Leiden kritisch gegenüber, sondern, grundsätzlicher noch, dem Wahrheitsanspruch bio- und psychomedizinischen Wissens überhaupt. Demgegenüber untersucht die arbeitskritische Perspektive die Logik und die materielle Organisation f lexibel-kapitalistischer Steuerungsformen. Aus dieser Sicht verursacht entgrenzte, f lexibilisierte und prekarisierte Arbeit auch diesseits der manifesten Erschöpfung einen »Leidensdruck im individuellen Le-

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benszuschnitt« (Schröder 2009: 163), der insofern kritikwürdig ist, als er auf die Ausbeutung und Aneignung subjektiver Ressourcen im Rahmen kapitalistischer Wertschöpfung zurückverweist. Arbeitskritische und medizinkritische Perspektiven treffen sich andererseits in der Feststellung, dass es im Verhältnis von Subjektivität, psychosozialer Gesundheit und Arbeit in den letzten Jahrzehnten zu bedeutsamen Veränderungen gekommen ist. Dieser Wandel lässt sich beiden Perspektiven zufolge als intensivierte Subjektivierung sozialer Verhältnisse beschreiben: Menschen werden aufgefordert, ihre persönlichen Potenziale und Ressourcen eigenständig und möglichst aus eigener Motivation heraus zu optimieren, um ihre Erwerbs- und Leistungsfähigkeit zu steigern und zu erhalten. Zugleich wird diese Aufforderung, ebenso im Feld der Arbeit wie in dem der Gesundheit, an das Versprechen auf mehr Wohlbefinden, Zufriedenheit und Selbstbestimmung gekoppelt. Insofern beschreiben beide Perspektiven eine ähnliche Entwicklung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären. Zugleich produzieren beide Sichtweisen ihre jeweils eigenen Blindstellen. So stellt sich an die therapeutisierungskritische Perspektive die Frage, welche Rolle sie der Veränderung von (betrieblichen wie sozialpolitischen) Arbeitsverhältnissen und Steuerungsformen zuschreibt. Arbeitskritische Perspektiven wiederum stoßen potenziell dort an Grenzen, wo sie die produktive Wirkung von Diskursen, Wissensformen und Selbstführungsregimen unterschätzen. Subjektivität erscheint dann als »Objekt« veränderter Organisations- und Steuerungsformen und nicht als eine bereits in spezifischer Weise geformte und die Strukturen (mit-)gestaltende Entität. Diskurs- wie arbeitskritische Perspektive lassen somit auf jeweils unterschiedliche Weise die Frage unbeantwortet, wie das Verhältnis einer wahrgenommenen Zunahme an psychischem (Arbeits-)Stress, neuen Gesundheitsdiskursen und Subjektidealen zur darum wuchernden Aufmerksamkeits-, Text- und Theorieproduktion analytisch zu fassen ist. Und diese Frage ist tatsächlich alles andere als einfach zu beantworten. Denn weder liegt die Erschöpfung als bloße Erfahrung vor, die vom medialen arbeitswissenschaftlichen und (populär-)psychologischen Diskurs lediglich beschrieben würde, noch lässt sich bestreiten, dass sich Menschen in der Gegenwartsgesellschaft in bisweilen dramatischer Weise als emotional verletzlich erfahren – und dass dabei Überforderung, Leistungsdruck und Abstiegsangst eine wichtige Rolle spielen. Anders gesagt: Dass die Erschöpfung kein Phänomen darstellt,

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das sich der Betrachterin »objektiv« zu erkennen gibt, heißt nicht, dass sie nicht existiert. Sie existiert jedoch, um auf eine auch in diesem Kontext nützliche Unterscheidung von Karl Marx zurückzugreifen, nicht »an sich«, sondern vor allem »für sich«; sie legt weniger Zeugnis vom objektiven Leiden an der Gesellschaft ab als vielmehr davon, was in der Gesellschaft qualifiziert ist, als Leiden zu gelten. Zugleich weist die Erschöpfung als soziales Phänomen darauf hin, dass die Beziehung des Subjekts zu sich selbst in einer in diesem Ausmaß vormals unbekannten Intensität zum Ziel und Ankerpunkt von gouvernementalen Programmen, öffentlichen Diskursen und Wertschöpfungsstrategien geworden ist. Von dieser Überlegung ausgehend möchte ich eine Perspektive auf die Erschöpfung als soziales Phänomen vorschlagen, die die Stärken der hier skizzierten Ansätze aufgreift und im Modus einer wechselseitigen Kritik ihre jeweiligen Schwächen ausgleicht. Hilfreich dafür ist das Konzept des Dispositivs, wie es Michel Foucault in den 1970er Jahren skizziert hat (Foucault 1978). Ein Dispositiv ist Foucault zufolge eine Verknüpfungsordnung, in der Wissensformen, ökonomische Strukturen, institutionelle und subjektive Praktiken ineinandergreifen, ohne dass dieses Zusammenspiel in seiner konkreten Gestalt autoritär verfügt oder strukturell determiniert wäre (was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass keine Machtbeziehungen oder -interessen im Spiel sind). Es handelt sich um ein »entschieden heterogenes Ensemble, das [...] Gesagtes ebenso wie Ungesagtes umfasst. […] Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.« (Foucault 1978: 120f.) Der methodische Vorteil des Dispositivkonzepts liegt darin, dass es auf die anspruchsvolle, wenn nicht unmögliche Trennung zwischen »Diskurs« und »Praxis« verzichtet (vgl. ebd.: 125) und auf diese Weise die Frage der praktischen Vermittlung, Einübung und Reproduktion wissenschaftlich fundierter und zugleich das Alltagshandeln strukturierender Gewissheiten ins Zentrum der Perspektive rückt. Was dies konkret bedeuten soll, buchstabiert Foucault am Beispiel der Sexualität (Foucault 2003) aus. Ihn interessiert dabei vor allem, wie sich seit dem 18. Jahrhundert die Vorstellung von Sexualität (und sexueller Orientierung) als »biologische Tatsache« begründet und ausgebreitet hat. Dabei funktioniert ein Dispositiv entlang einer Logik der Nachträglichkeit: Bestimmte Subjektformen – in Foucaults Untersuchung sind dies beispielsweise »das familienplanende Paar« oder die »hysterische

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Frau« – erscheinen als ein der wissenschaftlichen Beschreibung Vorgängiges, obwohl sie durch die einschlägige Verknüpfung von Machtund Wissenspraktiken erst hervorgebracht werden. Das Dispositiv ist also eine sich nach und nach herausbildende vielschichtige Ordnungslogik, die erst im Ergebnis eine »Reduzierung der Komplexität sozialer Erzählung« ermöglicht (Denninger et al. 2014: 220). Foucault hat darüber hinaus gezeigt, dass und inwiefern die Hervorbringung des Wissensobjekts »Sexualität« historisch als Effekt und Instrument der Herausbildung bürgerlicher Individualität operierte. Die Sorge um den bürgerlichen Sex war dabei zugleich ein Instrument des Dispositives wie die – wissenschaftlich verfeinerte und sexualisierte – bürgerliche Identität eines seiner zentralen Effekte war. Parallelen zur Erschöpfung sind leicht zu ziehen: Auch hier tauchen in den einschlägigen Diskursen bestimmte Subjektfiguren immer wieder auf, etwa die Figur der »ausgebrannten High-Performerin« (Titton 2013), aber auch der »Jedermensch von nebenan«, bei dem eigentlich alles in Ordnung wäre, wenn nur der Gehirnstoffwechsel wieder normal funktionieren würde. Und auch im Kontext von Erschöpfung spielt die Praxis der sozialen Distinktion eine wichtige Rolle – etwa dann, wenn Burn-out vor allem als Leiden der angeblichen Leistungsträger*innen und Depression als Stigma und Krankheit der Abgehängten und Leistungsverlierer*innen gilt. Anders jedoch als im Falle des Sexualitätsdispositivs ist im Hinblick auf die Erschöpfung offensichtlich, dass die Rolle von Arbeit und Reproduktion zentral ist – und zwar sowohl im Erleben der Betroffenen wie im gesellschaftlichen Diskurs.6 Zudem stellt sich die Frage, ob die Erschöpfung selbst ein Dispositiv ausbildet oder ob sie nicht eher Teil eines solchen ist – oder beides. Konzeptionell scheint Letzteres schlüssiger: Erschöpfung als Teil eines umfassenden Dispositivs psychosozialer Gesundheit, welches das individuelle Leiden an subjektivierten Lebens- und Arbeitsformen ebenso umfasst wie salutogene Gesundheitskonzepte, verhaltensbezogene Präventionspraktiken, Techniken der Selbstoptimierung, mediale Skandalisierungen usw. Genauer gesagt, lässt sich die Erschöpfung als ein strategischer Knotenpunkt innerhalb des Dispositivs psychosozialer Gesundheit begreifen: Erschöpfung ist nicht nur ein vieldimensionales soziales Phänomen, sondern zugleich eine Form der Problematisierung des Verhältnisses 6  Z  u Foucaults Begriff von Ökonomie und seiner Kritik des Ökonomismus vgl. Graefe (2007: 123-145).

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von Subjektivität, Arbeit und Gesundheit im f lexiblen Kapitalismus. Eine Problematisierung wiederum ist weder »die Darstellung eines zuvor existierenden Objekts« (Foucault 2005: 826) (wie es arbeitskritische Perspektiven auf die Erschöpfung annehmen), noch »die Erschaffung eines nicht existierenden Objekts durch den Diskurs« (ebd.) (wie es diskurskritische Perspektiven auf die Erschöpfung nahelegen). Vielmehr lässt sie »etwas in das Spiel des Wahren und des Falschen eintreten und konstituiert es als Objekt für das Denken »sei es in der Form der moralischen Ref lexion, der wissenschaftlichen Erkenntnis, der politischen Analyse usw.« (ebd., vgl. Klöppel 2010). Wenn man also davon ausgeht, dass es sich bei der Erschöpfung weder um eine schlichte Tatsache noch um eine bloße diskursive Konstruktion handelt und zudem in Rechnung stellt, dass genau um diese Frage sozialwissenschaftlich wie gesellschaftlich gestritten wird, dann handelt es sich in Foucaults Sinne geradezu um ein Paradebeispiel für das, was er Problematisierung nennt – und das Dispositiv funktioniert als Subjektgenerator, eben weil es vielfältige und widerstreitende Möglichkeiten der Problematisierung eröffnet. Erschöpfung als Form der Problematisierung des Dispositivs psychosozialer Gesundheit zu denken, bedeutet folglich, sie weder als bloße »Erfindung« noch als objektive »Erfahrung« zu deuten. Vielmehr stellt sie eine Sprache zur Verfügung, in der der Zusammenhang von Gesundheit, Arbeit und Subjektivität bearbeitet werden kann – und damit potenziell auch eine Sprache der Kritik und des Konf likts.7

2.4 »Man fühlt sich ja unkaputtbar«: eine Fallstudie Was das im konkreten Arbeits- und Lebensalltag bedeuten kann, möchte ich im Folgenden entlang einer vergleichenden Fallskizze veranschaulichen. Grundlage dafür ist eine kleine explorative Interviewstudie, in der ich mit Menschen, bei denen in der Vergangenheit Burn-out diagnostiziert worden war, entlang folgender Leitfragen qua7  K  ritik als reflexive Praxis muss nicht notwendig in Konflikte führen oder Konfliktbereitschaft stärken, und Konflikte können auch ohne ausgearbeitete Kritik entstehen. Weniger als die genaue konzeptionelle Differenzierung zwischen beiden Phänomenen interessiert mich hier vor allem ihre Schnittmenge, also die kritische Praxis, die Reflexion und Handlung gleichermaßen und als wechselseitige Beziehung umfasst.

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litativ-narrative Interviews geführt habe: Wie beschreiben Betroffene im Rückblick den Krankheitsprozess, welche Rolle spielt dabei die ärztliche Diagnose, was sehen sie als Auslöser für die Erschöpfung, wie haben sie ihre Handlungsfähigkeit wiedererlangt und welche Konsequenzen in Bezug auf das eigene (Arbeits-)Handeln haben sie gezogen? Wie verändert sich durch die Erfahrung der Erschöpfung der Blick auf den eigenen Arbeits- und Lebenszusammenhang? Die beiden im Folgenden skizzierten Fälle sind keinesfalls repräsentativ für Erschöpfungserfahrungen im Allgemeinen oder in bestimmten Milieus; sie zeigen jedoch, wie unterschiedlich die Erfahrung der Erschöpfung ausfallen kann – auch unter vergleichsweise ähnlichen Ausgangsbedingungen. Maria8, die schon immer »eine soziale Ader« hatte, lebt in der hessischen Provinz, ist zweiundvierzig und Mutter einer erwachsenen Tochter. Einige Monate vor unserem Gespräch erhielt sie von ihrer Hausärztin die Diagnose Burn-out. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet die Sozialpädagogin neben ihrem Vollzeitjob in einer psychosozialen Beratungsstelle zusätzlich noch zehn Stunden wöchentlich als Honorarkraft in der ambulanten Obdachlosenhilfe: »So nach dem Motto, das schaffe ich.« Zwei Jobs hat und will Maria zu jenem Zeitpunkt aus guten Gründen: Zum einen reicht mit einem allein das Geld kaum aus, zum anderen befindet sich ihre langjährige Ehe in der Krise – und Maria ist über jede Stunde froh, die sie nicht zu Hause verbringen muss. Und zunächst bestätigt sich trotz Doppeljob, was sie viele Jahre über sich zu wissen glaubte: »Man fühlt sich ja unkaputtbar und denkt, den Job, das schaffe ich alles. Ich hab ja die Unterstützung von ganz vielen Leuten und das läuft alles super.« Doch irgendwann läuft es nicht mehr so super. Maria bemerkt, dass es ihr immer schwerer fällt, sich zu erholen. Die Arbeit strengt sie mehr und mehr an. Daneben geht ihre Ehe immer weiter »den Bach runter«. Das nimmt sie zwar »billigend in Kauf«, aber es setzt ihr doch zu. Eine Situation, bei der sie sich in ihrer fachlichen Leistung durch eine befreundete Kollegin ungerecht kritisiert fühlt, mündet schließlich in einem Zusammenbruch. Maria beobachtet sich selbst dabei wie von außen: »Ich hab mich selber gesehen, hab gedacht, das ist ein Film, irgendwo ist eine Kamera. Also das spielte sich ab wie im Kino, wenn man selber zuguckt und einfach gar nicht mehr so dieses Gefühl hat, man kann irgendwie eingreifen.« Die folgenden Wochen fühlt sie sich wie in einem Albtraum gefangen. 8  Eigennamen geändert.

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Ihr bricht der Schweiß aus, sobald sie sich ihrem Arbeitsort nähert, die Hände zittern. Ihre Hausärztin, die sie schließlich aufsucht, erklärt, sie leide an Burn-out. Maria ist froh, dass sie »nur« Burn-out hat – das »Wort Depression« hätte sie »als viel schlimmer« empfunden. Die Ärztin will sie krankschreiben und erklärt, sie müsse dringend Arbeitszeit reduzieren. Maria folgt diesem Rat nur teilweise. Krank zu Hause sitzen, am Ort ihres Eheunglücks, will sie nun gerade nicht. Aber sie schraubt ihr Pensum herunter, gibt den Doppeljob auf und nimmt das Angebot an, als Familienhelferin in einem sozialen Brennpunkt zu arbeiten. Ihre Erwartungen an sich selbst sind auch in der neuen Situation unvermindert hoch: »Ich hab den Anspruch, wenn ich diesen Jugendlichen übernehme, dass meine Hilfe auch sichtbar greift. Dass ich dann sagen kann, der geht wieder in die Schule, da ist wieder alles im Lot«. Ausführlich grenzt sie sich von Kolleg*innen ab, die sich aus ihrer Sicht zu wenig engagieren und die mangelnde Kontrolle durch das Jugendamt ausnutzen. Zu ihrem Arbeitsethos gehört nicht nur, sich nie zu verweigern und möglichst jeden schwierigen Fall zu übernehmen, sondern auch, rund um die Uhr bereit zu sein für ihre Klientel. Wochenende und Feierabend gibt es für sie nicht. Mit regulär nur vierzig statt wie vorher fünfzig Wochenstunden lässt der Druck zwar etwas nach. Doch nach wie vor ist Maria schnell erschöpft, dazu gesellen sich verschiedene Schmerzsymptome unklarer Herkunft. Auf die Frage, welche der verschiedenen privaten und beruf lichen Belastungen für sie am schwersten wiegt, gibt Maria eine eindeutige (und mich zunächst etwas überraschende) Antwort: das Geld, das, trotz Vollzeitstelle und freiwilligem Extra-Engagement, hinten und vorne nicht reicht – für das noch nicht abgezahlte Haus, für die bevorstehende Trennung und das Kind in der Ausbildung. Maria ist bei einem überregionalen privaten Träger angestellt, der seinen Angestellten Gehälter unter Tarif bezahlt und sich auf diese Weise im Angebotswettbewerb um staatliche Zuweisungen durchsetzen konnte. Dass sie unterm Strich kaum mehr verdient als die meisten der von ihr Betreuten, ist ihr deutlich bewusst. Sie beklagt, dass das »LangzeitHartz-IV«, was ja »so ein bisschen unsere Klientel« ist, die staatliche Unterstützung für selbstverständlich hält. Ihren Arbeitgeber nimmt sie dabei ausdrücklich in Schutz: Er sorge für eine kollegiale Atmosphäre und ein familiäres Betriebsklima; Blumenschmuck bei der Betriebsversammlung, eine freundliche persönliche Ansprache hier und dort:

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»Kleine Gesten, die das Leben lebenswert machen. Und wenn dann eine Anfrage kommt, kannst du mal hier, kannst du mal da, dann machen wir das auch.« Marias Geschichte zeigt, was bereits seit Freudenbergers (1974) Pionierarbeit gut bekannt ist: Soziale Arbeit schützt vor Burn-out nicht, im Gegenteil. Marias Arbeitsethos umfasst nicht nur ein ausgeprägtes Pf lichtbewusstsein, sondern geht so weit, aus unglücklichen Jugendlichen glückliche machen zu wollen. Arbeitsethos und Selbstkonzept als eine robuste und tatkräftige Person, die nicht jammert, sondern die Ärmel hochkrempelt, verstärken einander. Genau diese Kombination hat Maria bereits einmal über die Grenze zur Erschöpfung hinausgetrieben. Zum Zeitpunkt des Interviews hält sie sich gewissermaßen noch immer im Grenzgebiet auf. Dabei schwankt sie zwischen Affirmation und selbstkritischer Revision ihres hohen Anspruchs an sich selbst. Parallel gewinnt die »Betriebsfamilie« auch angesichts ihres privaten Familienunglücks eine Bedeutung, die über Arbeit und Entlohnung weit hinausgeht. Dafür nimmt Maria im Gegenzug auch schlechte Bezahlung und unbezahlte Mehrarbeit in Kauf. Anders Angela, achtundvierzig und Physiotherapeutin in einer süddeutschen Universitätsklinik. Sie kündigt gleich zu Beginn des Gesprächs an, dass es »ein bisschen emotional« werden könne. Ihre Burn-out-Erkrankung liegt zum Zeitpunkt des Interviews knapp zwei Jahre zurück, doch die Auseinandersetzung damit ist für Angela noch nicht abgeschlossen. Im Rückblick erscheinen ihr zwei Entwicklungen als Auslöser: Zum einen hatte man ihr auf ihrer Station neben der normalen therapeutischen Arbeit zusätzliche konzeptionelle Aufgaben überantwortet und dafür eine Reduktion von Patient*innenbehandlungen in Aussicht gestellt. Angela hatte gegen das erweiterte Aufgabenfeld keine Einwände gehabt, im Gegenteil: Sie liebt ihren Job und die damit verbundenen Herausforderungen. Doch zu der versprochenen Kompensation kam es nie. Stattdessen wurde, zum anderen, im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen Personal eingespart und die Arbeit auf die verbleibenden Kolleg*innen verteilt. Irgendwann, sagt Angela, »hab ich gemerkt, dass ich immer mehr angestrengt war«. Inzwischen weiß sie auch, warum: »Wir sind immer weniger Leute, ist also immer mehr Arbeit – klar, logisch.« Damals allerdings hatte sie das nicht so gesehen und stattdessen geglaubt, die zunehmende Erschöpfung hätte mit dem Älterwerden zu tun und sie müsse sich damit abfinden. Doch nach und nach nimmt die Erschöpfung überhand.

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Irgendwann legt sich Angela sich gleich nach der Arbeit, nachmittags um fünf, ins Bett und steht bis zum nächsten Morgen nicht mehr auf. Und ist dann immer noch müde. Parallel steigt, bedingt durch weitere Personalkürzungen bei gleichbleibendem Patient*innenstand, der Arbeitsdruck weiter an. Angela muss immer öfter in anderen Abteilungen einspringen, auch auf der Intensivstation, wofür sie nicht ausgebildet ist. Darüber gerät sie schließlich eines Tages mit ihrem Vorgesetzten, der sie bis dahin immer unterstützt hatte, in einen heftigen Streit. Danach ist sie wie unter Schock: »Bestimmt eine ganze Woche danach war ich noch so fertig, ich war so verletzt, ich hatte so eine Wut, ich hab geheult, geheult, jeden Morgen.« Sie fühlt sich »zerstört« und »ganz im Inneren getroffen«. Einige Wochen später, ihr geht es inzwischen immer schlechter, schickt ihre Lebensgefährtin sie zur Hausärztin. Die schreibt sie vorläufig krank, Diagnose: Burn-out. Angela sucht einen Psychiater auf, der ihr zu einer stationären Behandlung rät – und dazu, keinesfalls zu früh wieder anzufangen zu arbeiten. Derweil verschlechtert sich ihr Zustand, sie geht kaum noch vor die Tür und auch nicht mehr ans Telefon. Schließlich lässt sie sich in die Psychiatrie einweisen. Dort erfährt sie, dass Burn-out eine spezifische Variante der Depression und eine langwierige Krankheit ist. Für depressiv hält sie sich aber nicht, wie sie betont: »im Gegenteil«. Insgesamt fällt sie arbeitsmäßig fast ein Jahr aus und kehrt danach stufenweise wieder in den Job zurück. Rückblickend formuliert sie explizit die Notwendigkeit der Selbstsorge: »Mir hat eine Krankenschwester in der Psychiatrie gesagt, es ist meine Pf licht dafür zu sorgen, dass ich gesund bleibe, denn nur dann hat auch der Arbeitgeber was davon und die Patienten was davon. Also ich muss erst für mich sorgen und dann kann ich auch was geben.« Als sie nach einem halben Jahr erstmalig wieder für den Springerdienst auf der Intensivstation eingeteilt wird, wehrt sie sich erfolgreich dagegen, mit Unterstützung der Betriebsärztin und des Personalrats. Sie macht sich schlau in Arbeitsrecht, besteht darauf, Personalgespräche nur noch mit Begleitung aus dem Personalrat zu führen und setzt ihre aus der Krankheitszeit verbliebenen Urlaubsansprüche auch gegen den massiven Widerstand ihres Vorgesetzten durch. Als man ihr schließlich anbietet, bei gleichbleibendem Gehalt in eine weniger arbeitsintensive Abteilung zu wechseln, nimmt sie das gerne an. Zusätzlich reduziert ihre Arbeitszeit um ein Viertel – und macht in ihrem Job, wie sie erklärt, fortan ganz bewusst nicht mehr als unbedingt nötig.

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Aus der Sicht von Angela, die seit vielen Jahren gewerkschaftlich organisiert und in der hauseigenen Betriebsgruppe aktiv ist, ist die Personaleinsparung und daraus resultierende Arbeitsüberlastung die vorrangige Ursache für ihren Burn-out. Dies gefährde nicht nur ihre Gesundheit, sondern vor allem auch ihre Arbeitsmotivation: »Da hab ich Gewissensprobleme gekriegt, ich habe einen Auftrag in meinem Beruf, den konnte ich nicht mehr erfüllen.« Durch die Erfahrung des Burn-out sei ihr aber auch klar geworden, dass Arbeit in ihrem Leben einen viel zu großen Raum eingenommen hätte. Mit reduzierter Arbeitszeit wird es hingegen möglich, Lebenszeiträume anders zu füllen – mit privaten Kontakten, neuen Hobbys oder schlicht mit Nichtstun: »Hab mich vorher selbst ausgebeutet ohne Ende. Das mach ich jetzt nicht mehr. Da hat ein riesiger Lernprozess stattgefunden.« Für die Konsequenzen – dass Patienten auch durchaus mal nicht behandelt werden, weil dafür schlicht die Zeit fehlt – fühlt sich Angela nicht länger verantwortlich. Sie resümiert: »Mehr als arbeiten kann ich nicht, das hab ich jetzt begriffen.«

2.5 Erschöpfung, Krise und Kritik Die Geschichten von Maria und Angela ähneln sich in vielerlei Hinsicht. Beide Frauen können die Diagnose Burn-out für sich deutlich leichter akzeptieren als es bei der Diagnose Depression der Fall gewesen wäre: Depression erscheint ihnen eher als Krankheit der Persönlichkeit, während Burn-out auch ein Ausweis für eine hohe Leistungsmotivation ist. Der »Modebegriff« Burn-out erleichtert ihnen somit eine Interpretation ihres Leidens als etwas, das im Grunde Positives über sie aussagt. Beide beschreiben ihren Burn-out rückblickend zunächst als schleichenden Prozess, der dann in einem plötzlichen Zusammenbruch mündet. Auslöser ist jeweils eine Situation, in der signifikante Andere, die vorher Halt im stressigen Arbeitsalltag gaben, scheinbar ohne Vorwarnung den gemeinsamen Boden unter den Füßen wegziehen. Bei beiden Frauen resultiert daraus nicht nur eine vorübergehende Unfähigkeit, so weiter zu machen wie bisher, sondern auch eine regelrecht körperliche Abwehr und Angst vor dem Arbeitsort. Beide Gesprächspartnerinnen ringen zudem um persönliche Anerkennung und wollen in ihrer Arbeit nicht nur etwas »leisten«, sondern zugleich etwas »geben«. Arbeit ist für sie nicht nur Medium der ökonomischen

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und sozialen Reproduktion, sondern Sinn- und Selbststiftung zugleich. Dabei ist das »Selbst« allerdings nicht einfach gegeben, sondern muss durch die persönliche Hingabe in der Arbeit immer wieder neu hergestellt werden. Beide Geschichten zeigen zudem, dass eine f lexible, subjektivierte Arbeitsorganisation die Arbeitsmotivation erhöhen und genau deshalb mit einer intensiven Vernutzung der subjektiven Ressourcen einhergehen kann. In dem Maße, in dem nicht nur »personal values« und »professional values« (Thunman/Persson 2015: 12), sondern auch eigene Interessen und Unternehmensinteressen ineinander aufgehen, wird die »interessierte Selbstgefährdung« wahrscheinlicher, womit ein Verhalten beschrieben ist, »bei dem man sich selbst dabei zusieht, wie das persönliche Arbeitshandeln die eigene Gesundheit gefährdet – aus einem Interesse am beruf lichen Erfolg heraus« (Krause et al.: 192). Insofern sowohl für Angela als auch für Maria die Befriedigung durch ihre Arbeit von deren Nützlichkeit für andere und von den eigenen Wünschen nach Kollegialität und Anerkennung nicht zu trennen ist, scheint es sich allerdings – streng genommen, – weniger um ein rationales »Interesse« (wie der Begriff der interessierten Selbstgefährdung nahelegt), als vielmehr um eine Art »leidenschaftliche Verhaftung« (Butler 2001: 11) an die Arbeit zu handeln. Ähnlich wie die Befragten in der Untersuchung von Elin Thunman (2013) geben auch Angela und Maria an, »ihre Arbeit zu lieben und ihren Aufgaben mit großer Leidenschaft nachzugehen« (ebd.: 61). Das gesundheitsgefährdende Potenzial der Arbeit rührt daher, dass beide Gesprächspartner*innen ihre je eigenen Interessen (resp. Ansprüche, Wünsche, Emotionen) von denen der Kolleg*innen, Klient*innen, Patient*innen und Vorgesetzten nicht exakt trennen können und auch gar nicht trennen wollen.9 In den Geschichten von Maria wie Angela markiert die Burn-out-Diagnose insofern eine Zäsur, als sie in beiden Fällen, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, eine Ref lexion der eigenen Arbeitsweise und Arbeitshaltung, aber auch des Selbstkonzepts einläutet. Die unter der Überschrift Burn-out retrospektiv erzählte biographische Erfahrung oszilliert somit zwischen Ohnmacht und (neuer) Handlungsfähigkeit. 9  D  ies gilt für Arbeit mit und »am« Menschen, angesichts der »traditionellen Entgrenztheit dieser Arbeitsverhältnisse« (Nowak/Hausotter/Winker 2012: 274) in besonderer Weise, ist aber, wie u.a. die Untersuchungen von Thunman zeigen (Thunman 2013, Thunman/Persson 2015), nicht auf diese beschränkt.

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An diesem Punkt zeigt sich zugleich aber auch die deutliche Differenz der beiden Erzählungen: Während Maria zwar durchaus selbstkritisch ihr grenzenloses Engagement beschreibt, stellt sie ihr Arbeitsethos nicht grundsätzlich infrage. In Abgrenzung gegenüber den »schwarzen Schafen« unter den Kolleg*innen und gegenüber jenen, die sich nicht als Teil der »Unternehmensfamilie« sehen wollen, bekräftigt sie ihn vielmehr noch. Anders Angela, die ihren Anspruch gegenüber der Arbeit reduziert, von freiwilligem Überengagement auf »Dienst nach Vorschrift« umschaltet und sich bewusst nicht länger für die aus ihrer Sicht mangelhafte Versorgung der Patient*innen verantwortlich fühlt, sich also gewissermaßen – auch emotional – ent-bindet. Ihren Selbstanspruch, ihre einstige »leidenschaftliche Verhaftung« an die Arbeit, gibt Angela nach einem intensiven Prozess der – therapeutisch gestützten – Selbstref lexion schließlich auf. Zugleich differenziert sie im Laufe ihre Regeneration immer schärfer zwischen ihren eigenen Interessen und denen von Arbeitgeber und Patient*innen und zieht Stolz und Befriedigung aus der Erfahrung, sich nicht mehr und nicht immer alles gefallen zu lassen. In diesem Prozess verliert die Erwerbsarbeit für sie einen Gutteil ihres identitätsstiftenden Charakters und wird zu einem Lebensbereich unter anderem. Bei Maria hingegen setzt ein vorsichtiges Überdenken ihres Arbeitsethos erst ein, als ihr Körper und Arzt gleichermaßen signalisieren, dass sie »für nichts mehr garantieren können«. Ihr Vorhaben, wie sie es formuliert, zukünftig etwas »narzisstischer« zu werden, geht jedoch kaum mit einer Entidentifizierung mit Arbeitsanforderungen und -inhalten einher, im Gegenteil: Die Fürsorge für ihre Klient*innen, ihr bis an die Grenzen der Selbstverausgabung reichender Arbeitsethos, das Begehren nach Anerkennung und die negative Beurteilung der Arbeit ihrer Kolleg*innen existieren in einer auf den ersten Blick überraschend selbstverständlichen Weise nebeneinander fort. Zugleich wird das Gef lecht aus Entgrenzung, Anerkennungsbegehren und Abwertung anderer gezielt seitens des Arbeitgebers mobilisiert: Wer sich nicht um Arbeitszeiten und Freizeitansprüche schert, erhält im Gegenzug das beruhigende Gefühl, nicht nur alles zum Wohle der Klient*innen zu tun, sondern auch zum inneren Kreis der »Betriebsfamilie« zu gehören. Selbstverausgabung, emotionale Bindung und kompetitive Distinktion bilden somit eine Art affektives Dreieck, das nicht zufällig in jenem Moment aus der Balance gerät, als eine Kollegin, die Maria bis dahin für eine Verbündete gehalten hat, ihr die Anerkennung entzieht.

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Allerdings erleben die beiden Frauen ihren Burn-out auch unter recht unterschiedlichen Bedingungen. Nicht nur hat Maria Erziehungsverantwortung und macht eine Ehekrise durch, während Angela kinderlos ist und im Krankheitsverlauf von ihrer Lebensgefährtin durchgängig unterstützt und bestärkt wird. Maria lebt zudem in einer strukturschwachen Region, Arbeitsplätze sind rar und, wo vorhanden, kaum besser bezahlt und abgesichert als ihr jetziger. Realistische Jobalternativen, zumal zu besseren Konditionen, hat sie kaum. Der private Träger, bei dem sie angestellt ist, zahlt nicht nach Tarif, ein Betriebsrat existiert nur pro forma. Angela hingegen arbeitet im öffentlichen Dienst, kann auf funktionierende Interessenvertretungsstrukturen zählen, wird nach Tarif bezahlt und ist gewerkschaftlich organisiert und vernetzt, weshalb sie auf belastbare Unterstützungsstrukturen oder »Kritiknetzwerke« zurückgreifen kann. Außerdem sieht sie für sich eine Vielzahl vergleichbarer alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund bewirkt schließlich auch die Burn-out-Diagnose substanziell Unterschiedliches: Während Maria auf Anraten des Arztes einen ihrer beiden Jobs aufgibt, ansonsten aber so gut es geht weitermacht wie bisher, wählt Angela die (vorübergehende) Exit-Option, steigt insgesamt fast ein Jahr aus dem Beruf aus und nutzt alle verfügbaren Möglichkeiten der therapeutischen Unterstützung. Unterscheiden tun sie sich die beiden Geschichten somit auch darin, wie die Dimension der Kritik in ihnen auftaucht. Während Maria ihre vergleichsweise prekären Beschäftigungsbedingungen mit der von ihr wahrgenommenen Möglichkeit, ihr Selbst in und durch die Arbeit zu verwirklichen, vollständig zu verrechnen scheint, nimmt Angela im Verlaufe ihres Genesungsprozesses einen mehr und mehr kritischen Standpunkt gegenüber jenen Rationalisierungsmaßnahmen ein, die sie aus ihrer Sicht in die Erschöpfung getrieben haben. Der Vergleich der beiden Geschichten zeigt somit, dass erschöpfte Subjekte eine Burn-out-Diagnose für eine Entidentifizierung mit dem sie beherrschenden Arbeitsregime nutzen können – aber keineswegs müssen. In beiden Geschichten stellt die Erschöpfung ein im doppelten Sinne »kritisches Lebensereignis« (Filipp/Aymanns 2018) dar: Sie erzwingt eine Veränderung von Verhaltensroutinen, und sie wird subjektiv als überaus krisenhaft erfahren. Doch während sich die Burn-out-Erkrankung in Marias Fall als Verwandlung potenzieller sozialer Konf likte (um Prekarität, Ausbeutung, Lohndumping) in psychische Konf likte

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interpretieren lässt, fungiert die Erschöpfung in Angelas Fall als Ausgangspunkt einer kritischen Überarbeitung ihrer »leidenschaftlichen Verhaftung« an die Erwerbsarbeit. Sie entwickelt zunächst mental eine Distanz zu den von ihr als Zumutung erlebten Arbeitsanforderungen und setzt sich schließlich auch praktisch gegen diese zur Wehr. Erschöpfung erscheint hier als Ausgangspunkt einer individuellen Problematisierung der Beziehung von Subjektivität und Arbeit, die schließlich auch die Bereitschaft Angelas stärkt, mit ihrem Vorgesetzten in Konf likt zu gehen. Zwei Aspekte sind für diese neue Konf liktbereitschaft Angelas wichtig: Zum einen das psychopolitische Konzept eines veränderlichen Selbst – ich kann und muss an mir arbeiten, um etwas zu verändern –, zum anderen f lankierende soziale Netzwerke, die ihre Entidentifizierung mit Unternehmerethos und Arbeitsregime anregen und unterstützen, die also einerseits alternative »Identitätsanker« und andererseits sehr konkret Kontakte, Argumente und Legitimationsmuster für die Überarbeitung des eigenen Arbeitsethos zur Verfügung stellen. Anders als eine schematische Therapeutisierungskritik nahelegt, spielen Psycho-Techniken und -Diskurse dabei eine nicht zu unterschätzende unterstützende Rolle für Angela. Demgegenüber verwendet Maria das therapeutische Vokabular, um ihre leidenschaftliche Bindung an Arbeit und Arbeitgeber zu begründen und zu untermauern. Last but not least zeigt Angelas Geschichte auch, dass kollektivrechtlich abgesicherte Strukturen für eine ref lexive Neuinterpretation der eigenen Beziehung zur Arbeit und damit für die Entwicklung kritischer Handlungsfähigkeit eminent wichtige Ressourcen darstellen. Zusammengefasst stellt sich vor dem Hintergrund der beiden skizzierten Fallgeschichten die Kluft zwischen dem Versprechen auf Sinnschöpfung, Anerkennung und Selbstverwirklichung in der Arbeit und der Unmöglichkeit seiner Einlösung unter den Bedingungen von Vermarktlichung und Konkurrenz als zentrales Problem in der Beziehung von Arbeit, Gesundheit und Subjektivität dar – und die Erschöpfung bietet sowohl den Anlass wie auch ein (relativ interpretationsoffenes) Vokabular an, dieses Problem zu thematisieren und zu ref lektieren.

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2.6 Verschwinden die Konflikte? Erschöpfung als Krisenphänomen ist, so die Bilanz bis hierher, ebenso phänomenologisch uneindeutig wie gesellschaftlich produktiv: Sie stellt eine Form der Problematisierung der Beziehung von Arbeit, Gesundheit und Subjektivität im f lexiblen Kapitalismus dar und damit zugleich eine mögliche Quelle von individueller wie kollektiver Kritik. Diesen Zusammenhang möchte ich im Folgenden ausgehend von den auch hierzulande vielbeachteten Thesen des französischen Soziologen Alain Ehrenberg vertiefen, dessen Perspektive für meine Fragestellung in doppelter Weise instruktiv ist: einmal, weil sie die Grenzen zwischen den konträren Deutungstypen »Erfahrung« und »Erfindung« überschreitet und einmal, weil das Thema des Konf likts in Ehrenbergs Analyse eine zentrale Rolle spielt. Ehrenberg zufolge wird seelisches Leiden in der Gegenwartsgesellschaft nicht mehr verstanden als innerer Konf likt von Trieben und Normen, der sich typischerweise in Form der Neurose manifestiert, sondern als Handlungshemmung, wofür die Erschöpfung paradigmatisch ist, die Ehrenberg als »Krankheit der Unzulänglichkeit« (Ehrenberg 2004: 53) interpretiert. Nunmehr sei die »Frage bei der Handlung […] nicht: Habe ich das Recht, es zu tun?, sondern: Bin ich in der Lage, es zu tun?« (ebd.: 266, Hervorh. i.O.). Mit der Neurose als innerer Konf likt verschwinden, so Ehrenberg weiter, zugleich die äußeren Konf likte. Sorgte die Austragung und Befriedung antagonistischer sozialer Interessen in den westlich-europäischen Nachkriegsgesellschaften für gesellschaftliche Stabilität, so richtet das spätmoderne Subjekt seinen Unmut und seine Frustration nur noch an eine Instanz: sich selbst. Alles in allem haben wir es nach Ehrenberg gegenwärtig mit einer Gesellschaft zu tun, in der innere Konf likte an Bedeutung gewinnen, während kollektive soziale Konf likte ihre Relevanz verlieren – und in diesem Sinne mit einer umfassenden »Dekonf liktualisierung« der Gesellschaft (ebd.: 267f.). Interessanterweise präsentiert Ehrenberg seine Deutung der Erschöpfung in seinem zweiten Buch (Ehrenberg 2011) in deutlich optimistischerem Tenor. Zwar wird auch hier eine Gesellschaft beschrieben, in der einerseits soziale Konf likte verschwinden und sich andererseits psychosoziale Leiden ausbreiten. Doch wird die Erschöpfung hier als unvermeidliche Konsequenz aus den Prozessen der Globalisierung und Modernisierung analysiert; ein Prozess, der Anforderungen mit sich

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bringt, die zwar nicht alle erfüllen können, die selbst aber nicht infrage stehen. Das entscheidende Problem der Gegenwart, so Ehrenberg, »besteht [nicht] darin, die Ärmsten vor dem Wettbewerb zu schützen, als ihnen vielmehr die Mittel an die Hand zu geben, in diesen einzutreten und sich darin zu halten« (ebd.: 429). Vor diesem Hintergrund nun den Niedergang des sozialen Konf likts und den Wegfall korporatistisch verbürgter Sicherheiten zu beklagen, ist aus Ehrenbergs Sicht schlicht anachronistisch. Auch das Leiden an der Arbeit sei keineswegs neu, geändert habe sich bloß die gesellschaftliche Bewertung und damit auch das subjektive Erleben dieses Leidens. Die (aus Ehrenbergs Sicht typisch französische) Klage über soziale Kälte, Vereinzelung und Exklusion werde nunmehr in den Termini psychischen Leidens artikuliert und erlebt: »Angst und Depression sind eine Konstante in der Geschichte der Lage der Arbeiterschaft […]. Die Verwundbarkeit tritt zwar ständig zutage, aber es waren nicht diese Gefühle, die zählten und für das Handeln im sozialen Leben einen Wert besaßen. Heute hat das Gefühl des Leidens einen solchen Wert.« (Ehrenberg 2011: 428) Unternehmen und Arbeitnehmer*innen, so Ehrenberg weiter, stünden sich in der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft nicht länger als Gegner gegenüber, sondern seien gleichermaßen dem »Unvorhergesehe[n] im Wettbewerb« (ebd.: 422) ausgesetzt. Dieser Sicht zufolge lassen sich zeittypische Pathologien wie Burnout oder Depression also nicht nur nicht mehr auf konkrete soziale Konf liktlagen zurückführen, sondern erscheinen selbst als nicht intendierte Nebenfolge von Modernisierung, Fortschritt und Emanzipation; Prozesse, die »notwendig von einer Modifikation des Erleidens begleitet« (ebd.: 495, Hervorh. S.G.) werden. Die Frage ist allerdings, ob diese Diagnose so zutrifft und was aus ihr, etwa in demokratietheoretischer Hinsicht folgt; nicht ohne Grund ist soziologisch immer wieder auf die essenzielle Funktion von Konf likten für gesellschaftliche Stabilität und Integration verwiesen worden (Simmel 1992, Dahrendorf 1972). Doch Ehrenberg hat hier offenbar nicht Konf likte im Allgemeinen, sondern einen ganz bestimmten Typ sozialer Konf likte vor Augen, nämlich den Interessenkonf likt, der aus dem Antagonismus von Arbeit und Kapital hervorgeht. Und tatsächlich hat sich hier einiges verändert. Beverly Silver beschreibt, dass und wie Arbeiter*innenbewegungen weltweit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in eine schwere und anhaltende Krise geraten sind (Silver 2005). Der Niedergang der »labor militancy« (ebd.: 172) hängt dabei eng zusammen mit dem Siegeszug

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des Neoliberalismus als politisches Programm, das erfolgreich auf die Delegitimierung kollektiver Massenorganisierung und auf eine lückenlose Zurechnung der Verantwortung für das jeweilige soziale Schicksal auf das einzelne Individuum setzt. Dass diese Entwicklung nicht nur die Organisationsmacht der abhängig Beschäftigten, sondern auch (und vermutlich gravierender) ihre subjektive Konf liktbereitschaf t beeinträchtigt, ist einsichtig. Gleichwohl geht damit, worauf zahlreiche Analysen verweisen, kein generelles empirisches Verschwinden sozialer Konf likte einher. Für Westeuropa lässt sich vielmehr eine Ausweitung »nicht-normierter«, also solcher Konf likte beobachten, die sich nicht an die Spielregeln korporatistischer Kompromissfindung halten, sondern in Form von irregulären Betriebskämpfen, politischen Massenbewegungen und sozialen Unruhen eigene und neue Protestformen hervorbringen und sich thematisch vor allem an Anliegen der Lebenswelt – wie Bildung oder Wohnen – entzünden (Schmalz/Liebig/Thiel 2015). Die These vom Verschwinden sozialer Konf likte stimmt somit nicht nur unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten wenig hoffnungsfroh, sondern scheint auch keine ganz überzeugende Beschreibung der Gegenwart zu liefern: Nur weil soziale Konf likte nicht mehr in der vertrauten Weise in Erscheinung treten, sind sie nicht irrelevant geworden. Vielmehr kommt es zu einer Pluralisierung von Konf liktanlässen, Konf liktformen und Konf liktakteuren. Dass soziale Konf likte der Gegenwart ihre Energie vor allem aus lebensweltlichen Ansprüchen auf Teilhabe, Anerkennung oder öffentliche Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen beziehen deutet zudem darauf hin, dass sie sich selbst modernisiert haben – und nicht, wie Ehrenberg nahelegt, im Zuge von Modernisierungsprozessen überf lüssig geworden sind. Verlebensweltlichung bedeutet allerdings nicht, dass Konf likte nicht auch regressiv sein können. Auch ethnisierte Konf likte sind soziale Konf likte – und auch sie sind kein Relikt aus vergangenen Zeiten, sondern durch und durch modern (Blühdorn/Butzlaff 2018). Überzeugender scheint jedenfalls die zweite konf liktbezogene Annahme Ehrenbergs, wonach das »Verschwinden des Konf likts« von einem grundlegenden Umbau der Subjektivität f lankiert wird. Das Subjekt gerät demnach zunehmend zu sich selbst in Konf likt, aus äußeren Konf likten werden innere. Dieser Prozess hat zugleich eine spezifisch soziale Dimension: An die Stelle der Kämpfe zwischen sozialen Gruppen, schreibt Ehrenberg, tritt die individuelle Konkurrenz (Ehrenberg 2004: 267). Die Verallgemeinerung von Konkurrenzbezie-

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hungen begünstigt demnach die Umwandlung sozialer in psychische Konf likte. Dieser Gedanke scheint mir auch im Kontext der hier verhandelten Frage nach dem konf liktiven Charakter der Erschöpfung produktiv, weshalb ich ihn weiter vertiefen möchte. Verschwinden des Konf likts zugunsten der Verallgemeinerung von Konkurrenz – wie muss man sich das vorstellen? Georg Simmel zufolge ist Konkurrenz eine Beziehung von zwei Akteuren, in der »jeder der Bewerber für sich auf das Ziel zustrebt, ohne eine Kraft auf den Gegner zu verwenden« (Simmel 1992: 324). Konkurrenz ist damit ein Sondertyp sozialer Konf likte, der sich durch eine triadische Struktur auszeichnet: Zwei wollen dasselbe Andere. Natürlich ist auch die Konkurrenz nicht zwingend auf zwei Akteure begrenzt; es müssen aber mindestens zwei auf etwas Drittes »zustreben«, damit sich ihr soziales Verhältnis im Sinne Simmels als Konkurrenz bezeichnen lässt. Im Vollzug dieses Strebens, so die Pointe bei Simmel, entwickeln die Konkurrent*innen Motivationen, Kenntnisse und Fertigkeiten, die nicht nur ihnen selbst, sondern der Gesellschaft als Ganzes zukommen: Wer besser sein will als die Konkurrenz, strengt sich an und wächst gleichsam über sich selbst hinaus. Konkurrenz erscheint aus Simmels Sicht also ähnlich wie Adam Smiths »unsichtbare Hand des Marktes« als ein zwar indirekter, dafür aber grundlegender Modus des Sozialen (Werron 2010: 11). Und eben diese »ungeheure vergesellschaftende Wirkung« der Konkurrenz (Simmel 1992: 327) begründet, dass sie nicht als Kampf »aller gegen alle«, sondern vielmehr als »Kampf aller um alle« verstanden werden müsse (ebd.: 328, Hervorh. S.G.). Karl Marx hatte für Simmels Idee, über Konkurrenz ließe sich ein Allgemeininteresse verwirklichen, avant la lettre nur Spott übrig: »Wenn es heißt, dass innerhalb der freien Konkurrenz die Individuen rein ihrem Privatinteresse folgend das gemeinschaftliche oder rather allgemeine Interesse verwirklichen, so heißt das nichts, als dass sie unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktion aufeinander pressen und daher ihr Gegenstoß selbst nur die Wiedererzeugung der Bedingungen ist, unter denen diese Wechselwirkung stattfindet.« (MEW 42: 549ff.) Konkurrenz mit Freiheit gleichzusetzen (wie es implizit auch Ehrenberg tut), scheint in der Tat nicht erst in der Gegenwart, sondern vielmehr eine für die bürgerliche Gesellschaft generell typische »Albernheit« zu sein, beruht die der Konkurrenz innewohnende Freiheit doch auf dem Zwang, unter Konkurrenzbedingungen am Markt zu überleben. Und dieses Überleben lässt sich nur um den Preis

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einer ausgeprägten Konformität erreichen, das heißt in Übereinstimmung mit den jeweils vorherrschenden Markterfordernissen. Wenn Marx allerdings feststellt, Konkurrenz führe zur »völlige[n] Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen« (ebd.: 30), dann scheint dies für die beschriebene Gegenwartskonstellation eine fast noch zu harmlose Beschreibung zu sein. Konkurrenz im Postfordismus zeichnet sich, wie Michael Makropoulos in Anlehnung an Simmel betont, nicht nur dadurch aus, dass sie zwei Akteure parallel nach etwas Drittem streben lässt, sondern vor allem durch eine bestimmte Beziehung von Wirklichkeit und Möglichkeit (Makropoulos 2010), die der Sphäre der Kunst entstammt, nunmehr aber auf die Gesellschaft als Ganzes übergreift: Das Mögliche dominiert das Wirkliche. In der Folge werden Möglichkeiten und Wirklichkeiten immer weniger voneinander unterscheidbar, Grenzen des Mach- und Erreichbaren immer schwerer erkennbar. Es kommt, so Makropoulos, zu einer »abstrakten Fiktionalisierung des Wirklichkeitsbezugs«, in deren Folge sich die für jede kapitalistische Ökonomie grundlegende Konkurrenz konkreter Akteure um konkrete Güter »in die Abstraktion unendlicher Steigerung, schrankenlosen Wachstums und permanent überbietbarer Ziele« entgrenzt (ebd.: 223). Die »Last des Möglichen« (Ehrenberg 2004: 275), die Ehrenberg zufolge depressiv macht, beruht so gesehen auf einem fiktionalisierten Weltbezug, der ein Versprechen beinhaltet: Was du heute noch nicht erreicht hast, liegt spätestens morgen im Bereich des Möglichen – und wenn du es dann wieder nicht erreichst, kannst du keine objektiv gegebenen, sozialen oder gar natürlichen Begrenzungen dafür verantwortlich machen, sondern nur dich selbst.10 Was Simmel positiv hervorhebt – die Konkurrent*innen schauen einander nicht ins Gesicht, sondern parallel zueinander auf das begehrte Objekt – wird vor diesem Hintergrund bildlich als potenzielle Quelle von Überlastung greif bar: Man schaut die Andere nicht an, sondern an ihr vorbei auf das begehrte – im Zweifel fiktionale – Ziel. Die konkrete Rivalin verliert auf diese Weise gewissermaßen ihr Gesicht, und dies gilt umgekehrt ebenso: Wer »so verfährt, als ob kein Gegner, sondern nur das Ziel auf der Welt wäre« (Simmel 1992: 324), sieht den anderen nicht nur nicht an, sondern wird auch selbst nicht gesehen. 10  I ch komme in Kapitel 5 darauf zurück, dass und wie diese Entgrenzung des Möglichkeitshorizonts im Zeichen von Resilienz partiell geschlossen wird.

2. An den Grenzen der Verwertbarkeit

Sofern stimmt, dass wir uns als Subjekt erst durch die Wahrnehmung, Anerkennung und Antwort durch Andere konstituieren (Butler 2001), kann sich Individualität in einer Konkurrenzgesellschaft somit nur unter der Bedingung entfalten, dass Konkurrenzsituationen räumlich und zeitlich begrenzt sind. Genau diese Begrenzung aber erodiert im Postfordismus oder f lexiblen Kapitalismus. Spätestens wenn Individualität selbst ein Ziel von Konkurrenz darstellt, wie es unter Bedingungen neoliberaler Subjektivierung der Fall ist (wer schafft es am besten, sich am Markt als einzigartiges Subjekt mit unverwechselbaren Alleinstellungsmerkmalen zu positionieren?), gerät das Subjekt in eine systematische Falle: Seine Individualität wird zu etwas Drittem, das einerseits Bedingung des eigenen Subjektseins ist (und als solche angeeignet, also subjektiviert werden muss), wie sie andererseits als ein dem Subjekt äußerliches Objekt erscheint, das auch andere begehren. Somit verliert das konkurrierende Subjekt nicht nur die Konkurrentin aus dem Blick, sondern in gewisser Weise auch sich selbst. Anders gesagt: Unter den Bedingungen entgrenzter Konkurrenzverhältnisse muss Individualität, um als solche überhaupt wahrnehmbar zu werden, zugleich vergleichbar und dif ferent gegenüber (allen) anderen Individualitäten sein. Für das Subjekt ist damit die widersprüchliche Aufgabe verbunden, sein Besonders-Sein durch die Erfüllung überindividueller Bewertungsmaßstäbe unter Beweis zu stellen. Und das heißt auch: Ist Konkurrenz zu einem vorherrschenden Sozialmodus geworden, wird potenziell jede soziale Situation als psychischer Konf likt im Sinne Ehrenbergs erlebt – also als Scheitern an den (vermeintlichen) eigenen Möglichkeiten. Verschärft wird diese Dynamik dadurch, dass das Subjekt nicht nur mit allen anderen Individualitätsanwärter*innen um (s)ein »wahres Selbst« konkurriert, sondern auch mit sich selbst, muss es sich doch zwischen verschiedenen und scheinbar unendlich vielen Möglichkeiten des Selbst entscheiden. Diese »Tyranny of Choice« (Salecl 2011) wird nicht dadurch gemildert, dass die Optionen meist in Wirklichkeit so zahlreich gar nicht sind: Es ist ja gerade die Fiktion, stets die Option auf ein anderes, besseres oder auch »authentischeres« Selbst zu haben, die die konkurrenzielle Beziehung des Subjekts zu sich selbst und anderen auf Dauer stellt. Doch dabei handelt es sich eben nicht um die »Unterjochung« von Individualität, wie Marx glaubte, sondern um ihre gleichzeitige Aufwertung und Auf lösung im entgrenzten Spiel der Konkurrenz. Während eine »unterjochte« Subjektivität zumindest noch auf begehren kann, bleibt das Subjekt, das

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sich in einer hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaft als unverwechselbares Individuum immer wieder neu erfinden muss, in einer paradoxen Konformitätsfalle stecken, die umso schwerer zu erkennen ist, je ausdifferenzierter und vielfältiger die Angebote der fiktionalen Neuerfindung des Selbst ausfallen. Auf diese Weise stellt die »Kultur der Selbstzuständigkeit« (Wagner 2015: 9) nicht nur ein Kernelement neoliberaler Menschenführung dar, sondern lässt im subjektiven Erleben die Grenze zwischen sozialen Interessengegensätzen, verallgemeinerten Konkurrenzverhältnissen und inneren Konf likten zugunsten Letzterer verschwimmen. Nicht zuletzt aus dieser merkwürdigen Konstellation resultiert der inzwischen vielfach beschriebene »Optimierungswahn«, bei dem das Subjekt unter Einsatz mehr oder weniger anspruchsvoller Kulturtechniken – von Fitnesstracker über Traumreise bis Paarberatung – versucht, sich die eigene unverwechselbare Individualität erfolgreich anzueignen und sich zugleich davor zu schützen, Massenware zu werden. Gestützt wird diese Konstellation andererseits im Feld der Arbeit durch Managementstrategien, die zwecks Produktivitätssteigerung das Konkurrenzprinzip in den Betrieb und dort zwischen immer kleineren Einheiten und letztlich zwischen den Beschäftigten einführen (was ihre Anrufung als »Teams« oder »Betriebsfamilie«, wie Marias Fall zeigt, nicht ausschließt). Hier übersetzt sich die Paradoxie, ein ebenso vergleichbares wie einzigartiges Subjekt sein zu müssen, in die Paradoxie, ebenso teamfähig wie zugleich »besser« als die jeweiligen Anderen sein zu müssen. Das individuelle Streben nach »Authentizität«, das in subjektivierten Arbeitsverhältnissen eine wichtige Arbeitsressource darstellt (Thunman/Persson 2015), lässt sich vor diesem Hintergrund als Modus begreifen, mit den aus entgrenzten Konkurrenzverhältnissen resultierenden paradoxen Anforderungen zurechtzukommen. Ein besonderer Fall installierter Konkurrenz liegt darüber hinaus dort vor, wo die Verwirklichung von Beschäftigteninteressen als unvereinbar mit der Verwirklichung der Bedürfnisse von Patient*innen oder Klient*innen dargestellt wird, wie es häufig in Arbeitskonf likten im Sozial- und Gesundheitswesen der Fall ist. Aus dieser Konstellation scheint es schon logisch keinen Ausweg zu geben. Doch das stimmt nicht ganz, wie nicht zuletzt Angelas Geschichte in Kapitel  2.4 gezeigt hat. Die Erfahrung der Erschöpfung kann, unter günstigen Bedingungen, durchaus eine kritische Ref lexion der eigenen Arbeitsbedingungen anregen, und die wiederum kann die

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eigene »leidenschaftlichen Verhaftung« an die Erwerbsarbeit schwächen. Dass dabei die Diagnose Burn-out als auslösender Impuls wirken kann, zeigt, dass gerade diskursiv hoch aufgeladene »Modekrankheiten« positive Folgewirkungen zeitigen können, nämlich indem sie eine Sprache der Problematisierung anbieten, die Subjekte sich aneignen können, um auf ihr Leiden aufmerksam zu machen (vgl. Brunner 2014: 282). Darüber hinaus lässt sich diese Sprache auch kollektiv aneignen. Und auch solche »kritischen Aneignungen« und Arbeitskämpfe finden nicht im luftleeren Diskursraum statt, und sie setzen nicht nur Gegendiskurse und funktionierende »Kritik-Netzwerke« voraus, sondern auch die Bereitschaft, fiktionalisierte Konkurrenzbeziehungen zu erkennen und zu überwinden. Beispielhaft funktioniert hat dies auf kollektiver Ebene im Falle des sogenannten »Pf lege-Streiks« in der bundesweit größten Universitätsklinik, der Berliner Charité; ein Arbeitskampf, der in unterschiedlichen Etappen und Betriebseinheiten seit 2011 geführt wird und in dem Gesundheitsarbeiter*innen nicht nur um bessere Löhne, sondern zentral – und durchaus erfolgreich – für die Entlastung der Beschäftigten durch eine angemessene, höhere Personalausstattung kämpfen. In diesen Auseinandersetzungen wird der radikal dekonf liktualisierende Charakter des »Pf legeethos«, der hier maßgeblich die identifikatorische Bindung der Beschäftigten an die Erwerbsarbeit begründet, nicht nur öffentlich infrage gestellt und entschärft, sondern selbst zum Gegenstand von Auseinandersetzungen (Wolf 2017). Und insofern es dabei auch darum geht, die aus systematischer Personalknappheit resultierenden Belastungen von Beschäftigten ohne das »Wohl der Patient*innen« zu unterminieren, erweist sich die Erschöpfung (im weitesten Sinne) hier als diskursiver Rahmen, in dem die nicht bloß arbeitgeberseitig, sondern auch im öffentlichen Diskurs immer wieder unterstellte Konkurrenz von Patient*innen- und Beschäftigteninteressen ebenso ans Licht geholt und hinterfragt wird wie die »hohe Identifikation mit der eigenen Arbeit«, die dabei nicht aufgegeben, sondern selbst zum Anlass wird, »für die eigenen Interessen, die Interessen der KollegInnen und die der PatientInnen einzutreten« (ebd.: 25) – und damit zum Motor von Kritik und Konf likt. Tatsächlich liegt in der Verlebensweltlichung oder »Verwilderung« des Konf likts (Honneth 2011) über die traditionellen korporatistischen Spielregeln hinaus auch im emanzipatorischen Sinne eine Chance: Je mehr Arbeit und Reproduktion, Entlohnung und Gesundheit, Sicherheit

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und Anerkennung zu Anlässen und Zielen sozialer Konf likte werden, werden Formen der Regierung von Subjektivität – und damit einer der zentralen Machtvektoren der Gegenwartsgesellschaft – selbst politisiert. Umgekehrt ist zu vermuten, dass Konf liktformen, die die Dimensionen der Reproduktion, Lebenswelt und Subjektivität nicht adressieren, unter den gegebenen Bedingungen nur wenig Aussicht auf Erfolg beschieden ist. Allerdings braucht es für Kritik und Konf likt entsprechende Ressourcen, wie nicht zuletzt der Vergleich der Geschichten von Angela und Maria gezeigt hat. Möglicherweise lässt sich hier sogar im Bourdieuschen Sinne von einer Kapitalform (Bourdieu 2012) sprechen: Das je individuelle »Konf liktkapital« umfasst dann neben dem individuellen kritischen Bewusstsein um eigene Rechte, Interessen und Ansprüche und der subjektiven Konf liktbereitschaft zentral auch kritische Netzwerke, deren Mitglieder sich nicht nur wechselseitig der Legitimität ihrer Ansprüche versichern, sondern auch konkrete Konf liktressourcen (Kontakte, Wissen, Strategien) teilen, die das Konkurrenzprinzip entkräften und auf die im Konf liktfall individuell wie kollektiv zurückgegriffen werden kann. Wie bei den anderen Kapitalsorten sind allerdings auch hier die Kapitalausstattungen der Subjekte äußerst unterschiedlich beschaffen, wovon wiederum nicht zuletzt die Verarbeitung und die mittel- und langfristige Konsequenz einer individuellen Erschöpfungserfahrung abhängen kann. Im Unterschied zum ökonomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen Kapital führt mehr Konf liktkapital auch nicht unbedingt zu mehr gesellschaftlichem Erfolg und Anerkennung und es lässt sich dementsprechend auch schwerer in andere Kapitalformen umtauschen. Zudem trifft es in der Gegenwartsgesellschaft auf machtvolle Gegner: Prozesse der Therapeutisierung und der konkurrenziellen Subjektivierung delegitimieren den Konf likt als sozialen Modus der Demokratisierung (und bieten stattdessen alternativ emotionale Intelligenz, Achtsamkeit und gewaltfreie Kommunikation an). Ehrenbergs These von der depressiven Erschöpfung als Ausdruck des Verschwindens sozialer Konf likte zugunsten einer Verallgemeinerung von Autonomie und Konkurrenz lässt sich von diesen Überlegungen ausgehend folgendermaßen präziseren: Weniger als mit einem Verschwinden des Konf likts haben wir es mit einer Veränderung von Konf liktformen und Konf liktbereitschaf ten im Zeichen der Entgrenzung und Fiktionalisierung des Konkurrenzprinzips zu tun – eine Veränderung, die im Zweifel bis in die intimsten Zonen der Subjektivität

2. An den Grenzen der Verwertbarkeit

ausgreift und die Trennungslinie zwischen äußeren und inneren Konf likten unscharf werden lässt. Doch gerade in einer »Autonomiegesellschaft« kann die kollektive Problematisierung individuellen Leidens durchaus kritische und sogar konf liktive Wirkungen entfalten – sofern sie nicht vorzeitig befriedet und eingehegt wird, was Thema des folgenden Kapitels sein wird.

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3. Wenn Resilienz die Antwort ist, wie lautet die Frage? Zum Problem der Autonomie Wie im Kapitel zuvor festgestellt, ist die Erschöpfung ein uneindeutiges soziales Phänomen, weder fraglos gegebene Tatsache noch Diskursprodukt, weder pure Erfindung noch bloße Erfahrung. Zugleich stellt sie eine Form der Problematisierung der Beziehung von Subjekt, Arbeit und psychosozialer Gesundheit im f lexiblen Kapitalismus dar – eine Problematisierung, die kritische Wirkungen entfalten kann. So können Arbeitnehmer*innen die Erfahrung und Sprache der Erschöpfung nutzen, um sich individuell gegen entgrenzte Arbeitsanforderungen zur Wehr zu setzen. Aber auch in kollektiven Auseinandersetzungen kann, wie das Beispiel der Arbeitskämpfe für bessere Personalausstattungen in Krankenhäusern gezeigt hat, auf Erschöpfung als Legitimationsinstanz zurückgegriffen werden. Die in den vergangenen zwei Jahrzehnten gewachsene gesellschaftliche Sensibilität für arbeitsbedingte Leiden kann somit Kritik und Konf likt im Feld der Arbeit stützen. Allerdings hängt die Realisierung des kritischen Potenzials der Erschöpfung von vielfältigen Voraussetzungen ab und steht darüber hinaus in der Gefahr, von eben jenen Diskursen und Programmen eingeholt zu werden, die Stress und Überforderung maßgeblich mitverursachen. Namentlich die Aufforderung, »an sich selbst zu arbeiten«, um die eigene Marktfähigkeit zu sichern, lässt sich leicht in den Imperativ übersetzen, eigenverantwortlich für die eigene Stressresistenz zu sorgen. Ob und warum eine solche »dekonf liktualisierende Übersetzung« im Zeichen von Resilienz wahrscheinlicher wird, soll nun diesem Kapitel untersucht werden. Die Vorstellung, dass das zeitgenössische Subjekt »an sich selbst« arbeiten soll und kann, setzt bereits voraus, dass diese Arbeit nicht auf autoritäre Anordnung, sondern freiwillig erfolgt. Im Kern besagt das auch der Begriff der Subjektivierung: dass man das, was man tun soll,

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auch tun will (auch wenn dieses »Wollen« unter Bedingungen sozialer Entsicherung oftmals eher der Angst vor Ausschluss und Abstieg entspringt als einer positiven Zielvorstellung). Damit ist das Thema der Autonomie aufgerufen, um das es im Folgenden gehen wird. Dass die Zunahme an stressbedingten Leiden in der f lexibel-kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft mit der veränderten Rolle und Bedeutung von Autonomie zu tun hat, ist weithin unstrittig. Selbst Autor*innen, die die Aussagekraft der entsprechenden Statistiken bezweifeln, bezweifeln nicht, dass sich Menschen heute mehr als vor dreißig, fünfzig oder hundert Jahren der Anforderung ausgesetzt sehen, ihr eigenes Leben »autonom« führen zu müssen. Prominent hat diesen Punkt wiederum Alain Ehrenberg starkgemacht. Seit den 1970er Jahren hat, wie Ehrenberg im zweiten Teil seiner Genealogie der Erschöpfung erklärt, ein bedeutsamer Übergang stattgefunden: von der »Autonomie als Bestrebung« zur »Autonomie als Zustand« (Ehrenberg 2011: 302, Hervorh. i.O.). Demnach wandelt sich im Übergang zum Postfordismus der Stellenwert von Autonomie: vom Ziel emanzipatorischer Kämpfe zur gesellschaftlich weithin durchgesetzten Norm; Autonomie wird »zum beherrschenden Zug der Gesellschaft« (Ehrenberg 2010: 54). Mit Ehrenberg lassen sich Stress, Burn-out und Depression somit als Begleitsymptome eines äußerst widersprüchlichen Emanzipationsprozesses begreifen: Die Subjekte gewinnen an Freiheit und erleben gerade deshalb eine schmerzhafte Beschränkung ihrer Handlungsfähigkeit, die im Zweifel sogar Krankheitswert hat. Einer fiktiven Beobachterin müsste dies wohl merkwürdig erscheinen: dass die Leute mehr Freiheit erleben, ihr Leben f lexibler und selbstbestimmter gestalten können – ausgerechnet das macht sie krank? Eben dieser merkwürdige Zusammenhang soll im Folgenden in autonomietheoretischer Hinsicht genauer erschlossen und im Hinblick auf seine Bedeutung für die zunehmende Popularität des Resilienzkonzeptes ausgelotet werden. Dafür werde ich zunächst in Form einer kurzen Vorbemerkung skizzieren, dass und warum jegliche Rede über das »autonome Subjekt« notwendig prekär und vorläufig bleiben muss (3.1). Daran anschließend werde ich einige Schlaglichter auf die soziologische Debatte um Autonomie und Individualisierung werfen (3.2), um davon ausgehend in Form einer vorläufigen Heuristik drei zentrale Typen von Autonomie schematisch zu kontrastieren, nämlich Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstorganisation (3.3). Die leitende Annahme dabei ist, dass im Zusammenhang mit Erschöpfung

3. Wenn Resilienz die Antwort ist, wie lautet die Frage?

vor allem der letztgenannte Autonomie-Typus von Bedeutung ist, was in der einschlägigen soziologischen Debatte jedoch weitgehend unthematisiert bleibt. Wie sich Autonomie als Selbstorganisation gegenwärtig konzeptionell ausbuchstabiert, wird entlang neuerer Managementlehren (3.4) sowie im Konzept »organisationaler Resilienz« (3.5) nachvollzogen. Wie ich anschließend skizzieren werde, korrespondiert dem im Feld des betrieblichen Gesundheitsschutzes die zunehmend deutlicher formulierte Anforderung an Beschäftigte, resilient(er) zu werden (3.6). Abschließend und zusammenführend werde ich zeigen, dass und inwiefern Resilienz eine passgenaue Antwort auf das »Problem der Autonomie« – insbesondere, aber nicht nur im Feld der Arbeit – darstellt (3.7).

3.1 Vorbemerkung zum autonomen Subjekt Jede Beschäftigung mit Konzept und Praxis von Autonomie steht vor dem Problem, dass sie sich mit etwas befasst, das konstitutiv uneindeutig ist: Was in welchem Sprechkontext unter Autonomie verstanden wird, ist historisch wie situativ höchst variabel. Autonomie als Begriff ist in diesem Sinne »nicht nur offen für vielfältige Bedeutungen«, sondern ihm wohnt auch »eine erhebliche Ambivalenz inne« (Berka 2002: 27). Zudem ist Autonomie zweifellos ein Zentraltopos der jüngeren Geschichte der westlichen Moderne, der für unterschiedlichste Formen der Kritik von Gesellschaft in Anspruch genommen wurde und wird – und dies gilt sogar noch für die Kritik des Begriffs der Autonomie selbst. Der Verdacht, dass »das autonome authentische Subjekt nicht nur kein adäquater Hoffnungsträger, sondern vielmehr Teil des Problems ist« (Meißner 2010: 274), wird seit geraumer Zeit aus unterschiedlichen Richtungen formuliert. Infrage gestellt wird dabei vor allem die im Zuge der Aufklärung entstandene Idee, dass Autonomie »dem« Menschen als souveränem, vernünftig handelndem Einzelwesen eigen sein soll – eine Idee, die, so jedenfalls die Befürchtung, der Homogenisierung und Unterwerfung der Vielfalt und Kontingenz menschlicher wie nicht-menschlicher Lebensweisen und Lebensformen zuarbeitet. So betonen etwa feministische Kritiken, dass Menschen als gesellschaftliche Wesen notwendig und ausschließlich innerhalb von sozialen Beziehungen autonomiefähig werden, dass sie »cannot be autonomous in the absence of social relationships« (Barclay 2000: 67).

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Der grundsätzlich soziale Charakter der Autonomie hat dieser Kritik zufolge zwei Dimensionen: Autonomie hängt ebenso von sozialen Beziehungen ab, kann von diesen also begünstigt oder beschränkt und verhindert werden, wie sie andererseits selbst soziales Konstrukt ist. Davon ausgehend lässt sich Autonomie einerseits verstehen als »a characteristic of agents who are emotional, embodied, desiring, creative, and feeling, as well as rational, creatures« (Mackenzie/Stoljar 2000: 21) und andererseits als prinzipiell deutungsoffener Signifikant. Damit ist zwar keine grundsätzliche Absage an die Idee der Autonomie formuliert, wohl aber eine deutliche Skepsis gegenüber Vorstellungen, die Autonomie eng an die Voraussetzung der Souveränität, der Rationalität und der Unabhängigkeit des handelnden Subjekts knüpfen. Eine solchermaßen reduktionistische Autonomievorstellung leiste nicht zuletzt einer Infragestellung der Autonomiefähigkeit etwa von hochbetagten, verwirrten oder geistig behinderten Menschen Vorschub (Graefe 2011). Betont wird zudem, dass es sich bei Autonomie und Heteronomie weniger um kategoriale Gegensätze als vielmehr um ein Kontinuum zwischen zwei Polen handelt, die selbst abstrakte Idealtypen darstellen: vollständige Abhängigkeit oder Unterwerfung auf der einen, absolute Freiheit des Subjekts auf der anderen Seite. In Wirklichkeit aber »steht und stand [das Subjekt] niemals wirklich vor der Entscheidung. Souverän oder Untertan zu sein« (Meyer-Drawe 2000: 16). Die »Konzeption von Autonomie und Heteronomie« sei vielmehr »einem traditionellen dualistischen Denken geschuldet, das beide entgegensetzt, ohne ihre unauf hebbare Verwicklung zu beachten« (ebd.: 123). Autonomie ist der feministischen Kritik gemäß also konstitutiv relativ und relational. Dabei schließen beide Momente feministischer Autonomie-Kritik an die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts erfolgte Infragestellung des autonomen Subjekts im Kontext poststrukturalistischer Theoriebildung an. Diese Infragestellung wiederum hängt eng mit der Kategorie der Identität zusammen, ist doch die »Radikalität des Autonomieanspruchs des bürgerlichen Subjekts […] gebunden an die Wahrscheinlichkeit der Gewinnung einer stabilen Identität« (Meyer-Drawe 2000: 89). So kann die (Selbst-)Zuschreibung einer kohärenten Identität, wie Stuart Hall prägnant formuliert hat, zwar dabei helfen, »nachts ruhiger zu schlafen« (Hall 1994: 67). Dies ändert jedoch nichts daran, dass Identität nie vollkommen und abgeschlossen ist, sondern vielmehr, wie Subjektivität selbst, unhintergehbar prozessual (ebd.: 68).

3. Wenn Resilienz die Antwort ist, wie lautet die Frage?

Gemeinsam ist den genannten Revisionen von Identität und Autonomie, dass sie das, was diese Kategorien bezeichnen sollen, nicht als dem Subjekt Vorausgesetztes, sondern als Effekt von – vor allem sprachlichen – Schließungsprozessen begreifen. Auf kollektiver Ebene betrifft dies Konstruktionen nationaler, geschlechtlicher, ethnischer oder sexueller Identität, auf individueller Ebene die innerpsychische »Verwerfung« anderer Seinsweisen und Lebensformen (Butler 2001). Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Schließungen weder intersubjektiv noch intrasubjektiv jemals vollständig gelingen; Identität ist dementsprechend, wie Autonomie selbst, immer schon eines: unüberwindlich prekär. Das Insistieren auf einer evidenten Identität des als autonom gedachten Subjekts (mit einem Kollektiv oder mit sich selbst) erscheint vor diesem Hintergrund als vergeblicher Versuch der Kompensation eines grundlegenden Mangels – ein Mangel, der paradoxerweise selbst die Bedingung autonomer Handlungsfähigkeit oder agency darstellt: »Die Figur der Autonomie bewohnt man nur, indem man einer Macht unterworfen wird, eine Subjektivation, die eine radikale Abhängigkeit impliziert« (ebd.: 81). Dieser Sichtweise zufolge werden Menschen also nicht trotz, sondern aufgrund ihrer konstitutiven Verf lechtung in gesellschaftliche Beziehungen – und damit auch in Machtstrukturen – handlungsfähig. So gesehen stellt sich das autonome Subjekt selbst als eine problematische und illusionäre Abstraktion von den komplexen gesellschaftlichen Bedingungen seiner Entstehung dar. Andererseits kann Autonomie als Handlungsideal in einer Gesellschaft, die die Freiheit und Gleichheit ihrer Mitglieder als ihre eigene konstitutive Voraussetzung versteht, kaum aufgegeben werden. In diesem Sinne handelt es sich bei Autonomie nicht nur um eine »notwendige Illusion« (Meyer-Drawe 2000, Hervorh. S.G.), sondern zugleich– analog zur Gerechtigkeitsphilosophie Jacques Derridas – um eine »unmögliche« Erfahrung, eine »Erfahrung dessen, wovon wir keine Erfahrung machen können« (Derrida 1991: 33) und auf das wir dennoch nicht verzichten können. Ebenso wenig wie »wir« jemals vollständig autonom sein werden, können wir auf hören, um Autonomie zu kämpfen (Foucault 1994) – und kritische Theorien der Gesellschaft halten, explizit oder implizit, notwendig an einem »Begriff von Mündigkeit oder Autonomie fest, der sich den gesellschaftlichen Strukturen entgegenstellen kann« (Rössler 2017: 383). In dem damit eröffneten Spannungsfeld aus Notwendigkeit und Illusion stellt sich als zentrale Frage, wer und was jeweils gemeint ist,

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wenn von Autonomie die Rede ist. Auf welche Weise und mit welchen Folgen aktualisiert die jeweilige hegemoniale Form von Autonomie die ebenso notwendige wie produktive Illusion des autonomen Subjekts? Welche Handlungsräume werden im Namen der Autonomie geöffnet, geschlossen oder vorstrukturiert? Zu fragen ist aber auch nach dem Wandel der Bedeutung und Reichweite von Autonomie. Nicht zuletzt steht die hier skizzierte Kritik des autonomen Subjekts selbst unter Verdacht, einem überkommenen Bild von Subjektivität anzuhängen, insofern »das der modernistischen Idee nach identitäre Subjekt im Zuge der fortlaufenden Modernisierung abgelöst worden [ist] vom Ideal des vielschichtigen und f lexiblen, also eben gerade nicht mit sich identischen Subjekts« (Blühdorn 2013: 132, Hervorh. i.O.). Von diesem Einwand ausgehend bleibt nicht nur zu klären, in wessen Namen jeweils von Autonomie gesprochen wird, sondern auch, welche Autonomie gemeint ist, wenn von Autonomie die Rede ist.

3.2 Vom Stress, autonom sein zu müssen Der Gedanke, dass mehr Autonomie nicht automatisch mehr Freiheit oder gar Glück bedeutet, ist nicht neu. Nicht zuletzt begründet er ein zentrales soziologisches Narrativ über die jüngere Geschichte frühindustrialisierter Gesellschaften. Grob lassen sich zwei Varianten der soziologischen Thematisierung von Autonomie unterscheiden: eine eher konservative und eine eher modernisierungsfreundliche. Dabei beklagt die erstgenannte Variante den Verlust von Kollektivität und Sicherheit und empfiehlt mehr oder weniger deutlich die Rückkehr in die vermeintlich gesicherten Bahnen des Fordismus. In diesem Sinne konservativ argumentieren durchaus auch sich als links verstehende Autor*innen – prominent etwa Richard Sennett, wenn er Flexibilisierung als Verlust von Verlässlichkeiten und sogar als »Corrosion of Character« (Sennett 1999) auffasst, oder auch Oskar Negt, aus dessen Sicht wir in einem »Zeitalter von Vertreibungen oder von Bindungszerstörungen« leben (Negt 2010: 12), was nicht nur Depressionen begünstige sondern einer »Verkrüppelung der Gesellschaft« (ebd.: 19) gleichkomme. Demgegenüber begreift die zweite Variante das Leiden an der Autonomie eher als mehr oder weniger unvermeidliches Übergangsbeziehungsweise Modernisierungsphänomen. Diese Sicht vertritt

3. Wenn Resilienz die Antwort ist, wie lautet die Frage?

prominent wiederum Ehrenberg, der sich in seinem zweiten Buch scharf vom »Mythos der Schwäche der sozialen Bindung« abgrenzt (Ehrenberg 2011: 31) und die Notwendigkeit einer radikal subjektivierten Lebensführung betont: »Ohne eine gute Selbststrukturierung ist es unmöglich, selbständig auf geeignete Weise zu entscheiden und zu handeln – von hier ergibt sich die Identität der Kriterien für seelische Gesundheit und für eine gelungene soziale Integration.« (Ebd.: 478) Aus Negts rückwärtsgewandtem nicht mehr wird bei Ehrenberg also ein fortschrittsoptimistisches noch nicht: Zwar verfügen nicht alle Individuen über dieselben Kompetenzen, »Agenten ihrer eigenen Veränderung zu sein« (ebd.), weshalb diejenigen, die an der Umsetzung dieser Anforderung scheitern, mit wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung dazu angeleitet werden müssen. Die Prozesse der Individualisierung und Flexibilisierung selbst sollen und können jedoch nicht abgemildert oder umgekehrt werden. Tatsächlich liest sich Ehrenbergs Analyse streckenweise wie ein Handbuch der neoliberalen Menschenführung unter sozialdemokratischen Vorzeichen (was bekanntlich kein Widerspruch ist): Der Zug der Modernisierung ist unauf haltsam, doch nicht alle kommen mit – und über Mitkommen oder Zurückbleiben entscheidet die individuelle Autonomiekompetenz, und die wiederum lässt sich durch wohlfahrtsstaatliche Bildungs- und Betreuungsprogramme zum Positiven, das heißt in Richtung Flexibilität, Mobilität und kompetenter Selbstführung verändern. Der soziologische Begleitdiskurs dieses gesellschaftlichen Wandels wiederum solle sich konsequent von »jenem Lektüreraster der Welt, das die ›soziale Frage‹ ist, und der rituellen Macht, die sie auch heute noch hat«, verabschieden (ebd.: 483). Die Individuen müssten lernen, mit dem »Paradoxon der Autonomie« (ebd.: 407) zu leben. Ehrenberg greift hier ein Argument auf, das in anderer Fassung und prominent schon 1986 von Ulrich Beck formuliert worden ist, der auf die hochgradige Ambivalenz moderner Individualisierungsprozesse aufmerksam machte (Beck 1986). Ihm zufolge nehmen in der »Risikogesellschaft« nicht nur neue soziale und technologische Risiken zu, sondern auch biographische Optionen und der Grad, in dem diese individuell wie gesellschaftlich ref lektiert werden. Somit haben wir es in der individualisierten Gegenwart mit einem merkwürdig widersprüchlichen Verhältnis von (mehr) Autonomie und (mehr) Heteronomie zugleich zu tun: Die »individualisierte Privatexistenz [wird]

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immer nachdrücklicher und offensichtlicher von Verhältnissen und Bedingungen abhängig, die sich ihrem Zugriff vollständig entziehen« (ebd.: 211). Aus dieser Konstellation resultieren Beck und vielen anderen Autor*innen zufolge einige für das zeitgenössische Subjekt typische Handlungsdilemmata, die letztlich darauf hinauslaufen, dass man Individualisierung – und damit die eigene »Autonomisierung« – bejahen will und soll, die Formen dieser Bejahung aber nicht frei wählen kann; eine Konstellation, die ihrerseits auf dem unumkehrbaren Prozess der Modernisierung beruht, weshalb, so auch Beck, die »konservative Larmoyanz über den Werteverfall […] nicht nur selbstgerecht«, sondern »mit historischer Blindheit geschlagen« (Beck 1998: 32) ist. Dem Tenor der letztgenannten Diagnosen zufolge geht mit der Befreiung aus dem Mief der 1950er und 1960er Jahre zwar fraglos ein beträchtlicher Zugewinn an Handlungsoptionen für die meisten Menschen in den hochindustrialisierten Gesellschaften des globalen Nordens einher. Zugleich aber beschleunigt die »Multioptionsgesellschaft« (Gross 1994) die riskante Herauslösung der Subjekte und Biographien aus tradierten Bindungen (Beck/Beck-Gernsheim 1994), während die kapitalistische Konsumkultur bis in die letzten Winkel der privaten Existenz eindringt und eine Art Diktatur der privaten Wünsche errichtet, aus der es schon deshalb kein Entrinnen gibt, weil sie auf das Begehren der Subjekte antwortet und dieses zu befriedigen verspricht, was freilich meist nur vorübergehend gelingt. Mehr Autonomie bedeutet in diesem Sinne tatsächlich ein größeres Risiko, sich selbst gerade nicht als frei zu erleben. Man leidet in der f lexibilisierten Gegenwartsgesellschaft demzufolge nicht in erster Linie daran (wie vermutlich in allen bekannten Gesellschaftsformen zuvor), auf die eine oder andere Weise einem fremden Willen unterworfen zu werden, als vielmehr daran, den eigenen Willen nicht nur ausleben zu können, sondern dies auch zu müssen und selbst zu wollen. Ein weiterer Strang soziologisch-zeitdiagnostischer Befassung mit dem Topos der Autonomie fragt nach dessen emanzipatorischem Gehalt und seiner wechselvollen Geschichte. Dieser Perspektive zufolge stellt sich die »Frage des Subjekts« (Foucault 1994), die in den antiautoritären Kämpfen und Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre so nachdrücklich gestellt worden war, rückblickend als großzügiges Einfallstor für die Umwandlung der Autonomie dar – von einem ehemals kritischen Gegenkonzept in den überaus wirkungsmächtigen gesell-

3. Wenn Resilienz die Antwort ist, wie lautet die Frage?

schaftlichen Imperativ der Vermarktlichung sämtlicher sozialer Beziehungen, inklusive der Beziehungen des Subjekts zu sich selbst. Luc Boltanski und Ève Chiapello haben Ende der 1990er Jahre aufgezeigt, in welcher Weise die von den Neuen Sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre formulierte Kritik am fordistischen Disziplinarregime in Schule, Fabrik und Gesellschaft zu einem grundlegenden Umbau des im fordistischen Kapitalismus vorherrschenden normativen Gerüsts, seiner »Rechtfertigungsordnung«, beigetragen hat (Boltanski/Chiapello 1999). Eine wesentliche Rolle spielte dabei die um den Topos der Autonomie zentrierte »Künstlerkritik«, die die auf Gleichheit und Gerechtigkeit zielende »Sozialkritik« der traditionellen, namentlich gewerkschaftlichen Linken in den Hintergrund drängte. Doch angesichts der »Leichtigkeit, mit der sie [die Künstlerkritik, S.G.] der Kapitalismus vereinnahmen und für sich nutzen konnte« (ebd.: 375) verf lüssigte sich, so Boltanski/Chiapello, schließlich deren kritisches Moment. Zwar wurde das Prinzip des autoritären Kommandos in Betrieb, Organisation und Familie sukzessive von der horizontalen Logik des Netzwerkes abgelöst und Arbeitende aufgefordert, ihre Subjektivität oder »Persönlichkeit« in den Arbeitsprozess einzubringen. Doch führte dies gerade nicht zur Abschaf fung unternehmerischer oder überhaupt bürokratischer Herrschaft. Vielmehr wurde ein System indirekter Steuerung etabliert (Glißmann/ Peters 2001), dessen wesentliches Charakteristikum im Betrieb die (mehr oder weniger konsequente) Übertragung der Unternehmerfunktion auf die einzelne (abhängig) Beschäftigte darstellt – ein Vorgang, der arbeitssoziologisch, wie in Kapitel 2.2 ausgeführt, prägnant im Begrif f des »Arbeitskraftunternehmers« zusammengefasst wird (Voß/Pongratz 1998). Die »paradoxe Gestalt eines unselbständigen Selbständigen« (Peters 2001a: 39) bevölkert seit den 1980er Jahren aber nicht nur Betriebe und Organisationen, sondern steht zugleich im Zentrum jener Ökonomisierung des Sozialen (Bröckling et al. 2000), in deren Zuge das Prinzip der umfassenden staatlichen Absicherung sozialer Notlagen abgelöst wird vom Prinzip des selbstverantwortlichen Managements des je eigenen marktgerechten Lebenslaufs. Dementsprechend ist von der einstigen Künstlerkritik nicht viel übrig geblieben, was allerdings, wie Ève Chiapello betont, nicht ihre Daseinsberechtigung infrage stellt (Chiapello 2010, ich komme in Kapitel 3.7 auf diesen Punkt zurück).

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Boltanski/Chiapellos These, wonach der Kapitalismus in der Krise des Fordismus »nicht nur den ›subjektiven Faktor‹ für sich entdeckt, sondern im Zuge dessen auch Strategien und Praktiken legitimiert und ›aufgesogen‹ [hat], die ursprünglich als Kritik am System entwickelt und vorgebracht wurden« (van Dyk 2009: 667), stellt fraglos eine besonders interessante Form der soziologischen Berichterstattung über die paradoxe Logik der Autonomie in der Gegenwartsgesellschaft dar. In der weitläufigen Rezeption der Arbeit von Boltanski/Chiapello wurde die »Vereinnahmungsthese« oftmals allerdings nicht nur aufgenommen und reproduziert, sondern teilweise auch weiter radikalisiert und zugespitzt. Jegliche Kritik neoliberaler Steuerungsformen schien bisweilen, insofern sie den nächsten Zyklus der Vereinnahmung eröffnet, von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Allenfalls seien, so etwa Ulrich Bröckling, »Räume, in denen der Sog [der unternehmerischen Anrufung, S.G.] stärker oder schwächer wirkt« (Bröckling 2007: 288) zu analysieren. Wie Silke van Dyk angemerkt hat, bleibt in dieser Zuspitzung offen, ob das, was heute vereinnahmt wird, überhaupt mit dem übereinstimmt, was vordem kritisiert wurde (van Dyk 2009: 676). Oder anders herum: ob so etwas wie ein Überschuss unabgegoltener Gesellschaftskritik existiert, der in den neuen Formen der Herrschaft oder Gouvernementalität gerade nicht aufgeht. Von dieser Vermutung ausgehend – dass im Prozess der Vereinnahmung von Gesellschaftskritik im Namen der Autonomie nicht das Ganze der Autonomie vereinnahmt wird – stellt sich im Zusammenhang meiner Überlegungen hier nicht nur die Frage, wie Erschöpfung, Autonomie und Resilienz zusammenhängen, sondern auch, welche Autonomie mit welchen Folgen für das Subjekt im Übergang zum Postfordismus oder f lexiblen Kapitalismus an- und enteignet wurde (und wird) – und welche gegebenenfalls nicht.

3.3 Welche Autonomie? Eine vorläufige Heuristik Dass Autonomie ein historisch wie inhaltlich variables Handlungsideal ist, wurde bereits angesprochen: Was jeweils konkret mit Autonomie gemeint ist, variiert je nach Gegenstandsbezug und Sprechkontext. Insofern ist es gar nicht möglich, die Bedeutung von Autonomie abschließend zu klären und dies wird deshalb hier auch nicht passieren. Nichtsdestotrotz möchte ich versuchen, das »Problem der Autonomie«

3. Wenn Resilienz die Antwort ist, wie lautet die Frage?

ein wenig zu sortieren, und zwar indem ich die im skizzierten soziologischen Diskurs zentral thematisierten Typen von Autonomie aufgreife und in Form einer heuristischen Zuspitzung schematisch voneinander unterscheide. Eine wesentliche Differenzierung zweier auf den ersten Blick verwandter, konzeptionell aber deutlich verschiedener Vorstellungen von Autonomie findet sich bereits bei Georg Simmel. Er beschreibt, wie sich im 18. Jahrhundert ein »Individualismus« entwickelt, der darauf beruht, dass »der Mensch von allem, was nicht ganz er selbst ist, befreit wird« (Simmel 2008: 348), wodurch er letztlich auf sein zugleich individuelles wie allen Menschen gemeinsames »Wesen« zurückgeworfen wird. Den »Individualismus der Einzelheit«, der die Grundlage des auf klärerischen Freiheitsideals darstellt, unterscheidet Simmel vom »Individualismus der Einzigkeit«. Dieser wiederum entsteht in der Epoche der Romantik als eine Art Gegenbewegung zur auf klärerischen Idee der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen. Der romantische Individualismus beruht nicht auf Gleichheit, sondern »auf dem absolut Eigenen« (ebd.: 351), mithin auf dem, was das einzelne Individuum von allen anderen abhebt. Diese Unterscheidung aufgreifend differenziert auch Axel Honneth das Ideal der »autonome[n] Artikulation von Überzeugungen und Absichten« (Honneth 2010: 65), das in der Tradition der Auf klärung steht und auf eine universale, allen Menschen gemeinsame Fähigkeit zur Vernunft zurückverweist, vom romantischen Ideal der »Herausarbeitung jener einzigartigen, unverwechselbaren Eigenschaften […], in denen sich die Subjekte gerade unterscheiden« (ebd., vgl. auch Eberlein 2000). Diese Differenzierung aufgreifend lassen sich zwei für die Geschichte der Moderne grundlegende Typen von Autonomie unterscheiden, nämlich Autonomie als vernunftbasierte und universalistisch begründete Selbstbestimmung und Autonomie als auf die Entwicklung von Individualität zielende Selbstverwirklichung.

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Typen von Autonomie I Selbstbestimmung

Selbstverwirklichung

Basis

Vernunft

Individualität

Einfacher Modus

Selbstverfügung

Selbstbewusstsein

Erweiterter Modus

Selbstgesetzgebung

Selbst(er)findung

Kernbegriffe

Freiheit/Gleichheit

Bedürfnis/Wachstum

Positivhorizont

Mündigkeit

Authentizität

Schatten

Wahnsinn/Natur

Entfremdung/Erschöpfung

Autonomie als Selbstbestimmung meint zunächst, dass ich selbst – und nicht jemand anderes – über meine Handlungen verfüge, also Selbstverfügung. Kinder, Verwirrte oder Komapatient*innen sind in diesem Sinne nur teilweise bis gar nicht autonom, was damit zu tun hat, dass (wie auch immer im Konkreten definiert) Vernunf t als Grundlage von Autonomie gefasst wird. Ein Zustand reiner Selbstverfügung ist der zuvor skizzierten Kritik am westlich-liberalen Ideal des autonomen Subjekts zufolge allerdings auch in Bezug auf als mündig definierte Erwachsene wohl eher ein (freilich praxisrelevantes) Ideal denn fraglos gegebene Tatsache. Nichtsdestotrotz lassen sich im Konkreten deutliche Unterschiede in der Reichweite von Selbstverfügung feststellen: Wer in Ketten liegt, am oder unter dem Existenzminimum lebt, Schmerzen erleidet oder Gewalt ausgesetzt ist, ist in ihrer oder seiner Selbstverfügung fundamental beschränkt. Autonomie als Selbstbestimmung verweist zudem auf den wörtlichen Sinn des Begriffs, die Selbstgesetzgebung, was gewissermaßen eine Selbstbestimmung zweiter Ordnung ist. Hier entscheidet das Subjekt nicht nur über seine unmittelbaren Handlungen, sondern auch über die diesen Handlungen zu Grunde liegenden Regeln oder Normen. Kants kategorischer Imperativ, wonach die selbstbestimmten Handlungen des Vernunftsubjekts auf universal verallgemeinerbaren Maximen basieren sollten, gründet ebenso auf dieser Idee von Autonomie wie die Demokratie als Staatsform. Autonomie als Selbstgesetzgebung markiert dementsprechend nicht nur den Bruch mit allen transzendental begründeten Handlungsanleitungen, sondern legt zugleich das normative Fundament für die grundlegenden Werte der Freiheit und Gleichheit. Die Selbstverfügung des Subjekts unterscheidet sich von der Selbstgesetzgebung außerdem darin, dass

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Letztere auch die kollektiven, d.h. normativen, institutionellen (und im Zweifel sogar imaginären1) Rahmenbedingungen subjektiver Handlungen einschließt, während Erstere sich theoretisch bis zu einem gewissen Grad auch innerhalb eines heteronom gesetzten Rahmens entfalten kann. Zugleich impliziert die Idee der Selbstgesetzgebung insofern eine grundlegende Spannung, als sich das Subjekt frei entscheidet, sich selbst »Gesetze« aufzuerlegen, die seine Freiheit einschränken. Selbstbestimmung zielt sowohl im einfachen wie im erweiterten Modus letztlich auf die umfassende Mündigkeit des Menschen und damit sowohl auf seine unabhängig von Autoritäten entwickelte moralische Urteilskraft (Kant 1999) als auch auf die Möglichkeit, die jeweiligen Urteile in konkrete Handlungsweisen und Lebensformen zu übersetzen. Vorstellungen von Autonomie implizieren schließlich immer auch Vorstellungen von den Grenzen der Autonomie. Jeder Autonomietypus produziert somit seinen eigenen imaginären »Schatten«. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung wird in der Tradition der aufgeklärten liberalen Moderne als etwas verstanden, das allen Vernunftwesen eigen ist. Deshalb erscheint als ihr bedrohlicher Schatten, was unter Verdacht steht, das jeweils Andere der Vernunft zu verkörpern, namentlich Wahnsinn und Natur, womit im Konkreten – je nach Kontext – Frauen, Irre oder auch Kolonialisierte gemeint sein können (vgl. Hausen 1976; Scheich 1993). Demgegenüber gehorcht die Autonomie der Selbstverwirklichung einer anderen Logik. Sie zielt nicht auf das über sich selbst als Gleiches unter Gleichen verfügende Subjekt, sondern auf sich selbst als unvergleichliches, einzigartiges Wesen. Seine Individualität hat das Subjekt der Selbstverwirklichung jedoch nicht nur, sondern sie will im Laufe des Lebens entwickelt werden, etwa im Modus des Experiments: »[D]ie Subjekte erproben verschiedene Existenzformen, um im Lichte der gemachten Erfahrungen jenen Kern des eigenen Selbst verwirklichen zu können, der sie von allen anderen möglichst deutlich unterscheidet.« (Honneth 2010: 73) Autonomie als Selbstverwirklichung setzt dementsprechend auf einer ersten Stufe Selbstbewusstsein voraus, im doppelten Sinne der Wahrnehmung der eigenen Singularität wie des Zutrauens, diese zum 1  C  ornelius Castoriadis fasst Autonomie als Voraussetzung und Modus der kollektiven Produktion des »gesellschaftlich Imaginären« (Castoriadis 1990) und entwirft damit eine Vorstellung von Autonomie, die von jener im Resilienzkonzept implizierten Idee der Autonomie (Kap. 3.5) maximal weit entfernt ist, was hier leider nicht weiter diskutiert werden kann. Zum Zusammenhang von Castoriadisʼ Autonomiekonzeption und Arbeit im Postfordismus vgl. ausführlich Wolf (1999).

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Ausdruck bringen zu können. Erweitert wird das Selbstbewusstsein auf einer zweiten Stufe, auf der sich das Subjekt in sich selbst »findet«, wobei hier die Grenzen zwischen Selbstfindung und Selbsterfindung f ließend sind (Eberlein 2000: 42ff.).2 Das sich selbst verwirklichende Subjekt »stellt eine Zielprojektion dar: Der Mensch wird in Bedingungen hineingeboren, von denen er sich unter Umständen ein Stück weit emanzipieren kann, um sein ›wahres Selbst‹ […] zu verwirklichen« (Johach 2012: 89). Diese ehemals romantische Autonomievorstellung wird seit den 1960er Jahren in der Humanistischen Psychologie und den zugehörigen therapeutischen Strömungen wissenschaftlich ausgearbeitet und popularisiert und spielte in den antiautoritären Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre eine zentrale Rolle (Reichardt 2014). Autonomie als Selbstverwirklichung in der humanistisch-therapeutischen Fassung ist ein ebenso anspruchsvoller wie prinzipiell offener Prozess: Das »wirkliche Selbst« (Maslow 1973) muss immer wieder neu aktualisiert werden (Rogers 2009); dabei geben die subjektiven Wünsche und Bedürfnisse die Richtung für das persönliche Wachstum vor. Als positiver Zielhorizont von Autonomie als Selbstverwirklichung erscheint das gemäß seiner »inneren« Bedürfnisse handelnde, das authentische Subjekt.3 Selbstverwirklichung zielt letztlich auf ein Ununterscheidbarwerden von handelndem Subjekt und Selbst (s. S. 8) und damit auf die Auflösung der Differenz zwischen der Subjekt- und der Objektdimension menschlicher Existenz; ihr Schatten ist dementsprechend die Spaltung oder Entfremdung des Subjekts von sich selbst oder eben die Erschöpfung als Ausdruck der »Müdigkeit, man selbst zu sein«4 (Ehrenberg 2004). Nicht nur Ehrenberg zufolge ist es vor 2  E berlein unterscheidet Selbstfindung (die ein »wahres Selbst« voraussetzt) von Selbsterfindung oder Selbstproduktion (bei der äußeres »Material« angeeignet und im Sinne der Individualitätsproduktion umgebildet wird). Sie geht (im Jahr 2000) davon aus, dass Selbstproduktion in Gestalt von »Bastelexistenzen« die »heute verbreitetste Form des romantischen Individualismus« darstellt (ebd.: 42). Ich halte die Unterscheidung analytisch für produktiv, gehe aber davon aus, dass sich beide Formen der Selbstverwirklichung in der sozialen Praxis überschneiden. 3  C  arl Cederström weist darauf hin, dass das Ideal der Authentizität eine weit längere Geschichte hat und bis in die Antike zurückreicht. Er unterscheidet zwei Formen von Authentizitätsidealen: die »authentische« Beziehung des Subjekts zur Welt und die »innere Authentizität«, bei der es darum geht, das eigene, »wahre« Selbst zum Ausdruck zu bringen (Cederström 2011: 34). In der flexibel-kapitalistischen Gegenwart scheint vor allem die zweite Form von Authentizität relevant zu sein, die wiederum in den von Eberlein beschriebenen zwei Varianten auftritt. 4  So der Titel des Buches im französischen Original.

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allem diese Dimension von Autonomie, die Subjektivität in der Gegenwartsgesellschaft bestimmt (vgl. z.B. Honneth 2010). Interessanterweise wird andernorts – im Kontext der Debatte um indirekte Steuerung und die »neue« Autonomie der Arbeit (Wolf 1999, Peters 2001b, Stadlinger 2003) – ein weiterer Typ von Autonomie untersucht, der sich deutlich von den beiden bislang beschriebenen abhebt. Dabei handelt es sich um die Autonomie der Selbstorganisation.5 Typen von Autonomie II Selbstbestimmung

Selbstverwirklichung

Selbstorganisation

Basis

Vernunft

Individualität

Funktionalität

Einfacher Modus

Selbstverfügung

Selbstbewusstsein

Selbstständigkeit

Erweiterter Modus

Selbstgesetzgebung

Selbst(er)findung

Selbstregulation

Kernbegriffe

Freiheit/Gleichheit

Bedürfnis/Wachstum

Adaption/Autarkie

Positivhorizont

Mündigkeit

Authentizität

Selbsterhalt

Schatten

Wahnsinn/Natur

Entfremdung/Erschöpfung

Erstarrung/Kollaps

Bei der Autonomie als Selbstorganisation geht es im einfachen Modus um die Fähigkeit, selbstständig zu handeln; eine Fähigkeit, die bereits vor jeder (phantasmatischen oder reellen) Aussicht auf Selbstverwirklichung oder Selbstbestimmung das menschliche Überleben sichert. Autonom in diesem Sinne bin ich, wenn ich lebensnotwendige Handlungen auch ohne fremde Hilfe oder direkte Anweisung ausführen kann. Die Basis dieses Typs von Autonomie ist dementsprechend die Funktionalität des handelnden Subjekts beziehungsweise Akteurs. Von der Selbstverfügung (als einfacher Modus der Selbstbestimmung) unterscheidet sich die Selbstständigkeit (als einfacher Modus der Selbstorganisation) dadurch, dass es hier nicht um die Entscheidung, sondern um die Durchführung von Handlungen geht. Eine Handlung kann folglich durchaus selbstständig, aber nicht selbstbestimmt sein 5  F ür einen Überblick zu dieser Debatte vgl. Kastner (2003), zur Autonomie der Selbstorganisation auch Sichler (2006: 299-301).

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(die Schülerin, die eine im Unterricht gestellte Aufgabe auf ihre eigene Weise löst) wie auch umgekehrt selbstbestimmt, aber unselbstständig (der Hochbetagte, dessen Haushalt nach seinen Vorstellungen von einer bezahlten Haushaltshilfe geführt wird). Natürlich sind die Grenzen hier f ließend; die Abwesenheit von Anweisungen kann im Zweifel auch als Abwesenheit von Fremdbestimmung und damit als Selbstbestimmung aufgefasst werden. Der kategoriale Unterschied zwischen Selbstständigkeit und Selbstbestimmung liegt darin, dass auch eine Handlung, die eindeutig nicht selbstbestimmt ist – nämlich deshalb, weil sie sich nicht selbst bestimmen lässt – selbstständig ausgeübt werden kann, etwa im Falle der ref lexartigen Flucht vor einer Gefahr oder wenn es darum geht, lebensnotwendige Bedürfnisse zu befriedigen. Selbstständigkeit setzt Selbstbestimmung somit ebenso wenig voraus wie umgekehrt. In der erweiterten Form umfasst Selbstorganisation die Selbststeuerung oder Selbstregulation des Subjekts,6 bei der es nicht nur einzelne Handlungsakte selbstständig ausführt, sondern auf Umweltanforderungen selbstständig reagiert, indem es sich selbst (also Gedanken, Gefühle und/oder Verhalten) neu organisiert. Selbstständigkeit als einfache und Selbstregulation als erweiterte Form von Selbstorganisation verweisen weniger eng aufeinander, als dies bei den beiden anderen bisher genannten Typen von Autonomie der Fall ist. Denn Selbstregulation setzt Selbstständigkeit im erläuterten Sinne nicht kategorial voraus – auch ein in Handschellen gelegter Gefängnisinsasse kann meditieren und damit an seiner inneren Gelassenheit arbeiten. Ebenso kann umgekehrt jemand seinen Lebensalltag ganz oder wenigstens teilweise selbstständig gestalten, ohne sich dabei selbst zu regulieren (was für die meisten Angehörigen früherer Generationen eher die Regel als die Ausnahme gewesen sein dürfte). Theoretisch ausgearbeitet wird Autonomie als Selbstorganisation in Theorien komplexer Systeme (vgl. Sichler 2006: 300; Mainzer o.J.). Demzufolge ist das Telos der Selbstorganisation nicht Freiheit, Gleichheit oder Authentizität, sondern der Selbsterhalt oder das Überleben der sich selbst organisierenden Entität, wofür wiederum de6  I ch spreche im Weiteren von Selbstregulation, weil dies der Begriff ist, der im Kontext von (psychologischer) Resilienz vorrangig verwendet wird (s. Kap. 4.1), die Differenz von Selbststeuerung und Selbstregulation uneindeutig und für meine Fragestellung weniger relevant als ihr gemeinsamer Kern ist; zur möglichen Differenzierung vgl. Graf (2012: 302), die Selbststeuerung als Überbegriff für Selbstkontrolle und Selbstregulation definiert und dabei Selbstkontrolle als bewusste und Selbstregulation als potenziell auch reflexhaft erfolgende Verhaltensänderung begreift.

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ren Adaption an wechselnde Umweltbedingungen sowie ihre relative Autarkie zentral ist. Selbstorganisation ist insofern ein sehr spezifischer Typ von Autonomie, als sie nicht zwingend auf ein Autonomiebewusstsein des handelnden Subjekts und genau genommen nicht einmal auf ein handelndes Subjekt angewiesen ist, liegt sie doch auch dort vor, wo »eine Gattung sich selbst fortpf lanzt, ein Organismus sich selbst heilt, oder ein Grashalm von selbst wächst« (Peters 2001b: 161). Bezogen auf das menschliche Subjekt stößt die Autonomie der Selbstorganisation dort an Grenzen, wo Erstarrung Anpassung verunmöglicht oder die psychophysische Funktionalität des Subjekts kollabiert. Die Differenzierung von Autonomie in die drei Typen Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstorganisation macht deutlich: Es geht nicht bloß um »die« Autonomie, die paradox, zu viel ist oder von der falschen Instanz ausgeübt wird. Vielmehr ist Autonomie ein nicht nur selbst umstrittenes, sondern auch vielschichtiges Handlungsideal, das unterschiedliche Formen von Selbst- und Fremdbeziehungen umfasst. Zu vermuten steht vor diesem Hintergrund, dass nicht nur »zu viel« oder »zu wenig« Autonomie als Belastung erlebt werden kann, sondern auch das Fixiert-Werden auf einen bestimmten Typus von Autonomie. Wer zum Beispiel nicht selbstständig handeln kann, wird es mit jeder Form von Selbstbestimmung oder Selbstverwirklichung, die nicht nur theoretisch kohärent, sondern auch praktisch umgesetzt sein will, schwerer haben; Selbstverwirklichung ohne Selbstbestimmung ist bereits theoretisch kaum plausibel. Der merkwürdigste Fall eines denkbaren Ungleichgewichts ist die Selbstorganisation ohne Selbstbestimmung; in diesem Fall nämlich wird das Subjekt von sich aus tätig, bleibt dabei aber konstitutiv fremdbestimmt. Genau dies scheint nun in f lexibilisierten und subjektivierten Arbeitsverhältnissen der Fall zu sein. Zwar verlangen diese – etwa in Form von Projektarbeit, Zielvorgaben oder Benchmarks – vom arbeitenden Subjekt ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Selbstregulation. Jedoch erweitern sie nicht im selben Maß die Möglichkeiten der Selbstbestimmung, zumal nicht in ihrer erweiterten Form. So können Arbeitende zwar bestimmen, in welcher Reihenfolge, an welchem Tag oder zu welcher Uhrzeit sie ihre Arbeit erledigen, nicht aber die Rahmenbedingung von Produktion und Organisation. Letzteres ist freilich kein Spezifikum indirekter Steuerung, sondern grundlegend für jede Form abhängiger Arbeit im Kapitalismus. Kennzeichnend für postfordistische Arbeitsverhältnisse ist jedoch, dass mit steigenden Selbst-

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organisationsanforderungen in gewisser Weise tatsächlich Autonomie zunimmt, diese aber andererseits konstitutiv beschränkt bleibt. Insofern Autonomie vor allem die selbstständige Ausführung von Arbeitsanforderungen meint, sind Beschäftigte in Output-orientierten Steuerungssystemen nur in sehr bestimmter Weise autonom, nämlich im »gewährten Spielraum« (Peters 2001a: 25). Zugleich werden die oftmals erheblich gestiegenen Anforderungen an die Selbstorganisation von Versprechen auf Weiterentwicklung, Wachstum, Anerkennung – oder kurz: auf Selbstverwirklichung – f lankiert. Zugespitzt formuliert geht Selbstbestimmung im Kontext subjektivierter und f lexibilisierter Arbeit in Selbstorganisation auf, während Selbstverwirklichung den Subjekten als Kompensation der mit den erhöhten Selbstorganisationsanforderungen einhergehenden Belastungen in Aussicht gestellt (und umgekehrt auch von diesen eingefordert wird). Honneths Begriff der »organisierten Selbstverwirklichung« (Honneth 2010) trifft somit einerseits den entscheidenden Punkt, insofern er auf die enge Verzahnung von Selbstorganisation und Selbstverwirklichung verweist, und trifft ihn andererseits doch nicht, insofern er nicht auf die Diskrepanz von Selbstorganisationserfordernissen und Selbstverwirklichungsidealen abstellt, sondern auf die Totalität des Imperativs der »authentischen Selbstfindung«, die die Subjekte zur »Flucht in die depressive Erkrankung« zwinge (ebd.: 78). Plausibler scheint mir demgegenüber die Annahme, dass das »Gebot der persönlichen Optimierung […] mit dem performativen Anspruch auf die eigene Selbstverwirklichung heute […] eine kräftezehrende Verbindung« eingeht (Neckel/Wagner 2013: 16, Hervorh. S.G.): Eine Verbindung ist keine Identität, und das »Gebot der Optimierung« – oder kürzer Selbstoptimierung – nicht dasselbe wie Selbstverwirklichung. Zwar will Selbstoptimierung, ähnlich wie Selbstverwirklichung, das im Subjekt noch nicht realisierte Potenzial bergen (King et al. 2014). Doch geht es dabei weniger, wie im romantischen oder humanistisch-therapeutischen Konzept der Selbstverwirklichung, um die Entfaltung einer gefühlten oder »qualitativen« Individualität, die sich von gesellschaftlichen Imperativen so weit wie möglich befreit, als vielmehr um die Vermessung und Rationalisierung des Selbst im Sinne seiner verbesserten Konkurrenz- und Marktfähigkeit (Cederström/Spicer 2018). Insofern Selbstoptimierung sowohl »auf die bessere Anpassung an gesellschaftliche Entwicklungsprozesse als auch auf die Erhöhung der eigenen Zufrie-

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denheit« (ebd.: 35, Hervorh. S.G.) abzielt, stellt sie, genauer gesagt, eine Zwischenform von Selbstverwirklichung und Selbstorganisation dar.7 Auch die vielfach beschriebene und kritisierte neoliberale Logik der Selbstverantwortung lässt sich in diesem Sinne als Zwischentypus begreifen, und zwar zwischen Selbstbestimmung und Selbstorganisation: Stellt Selbst- oder Eigenverantwortung einen in Zeiten von Austerität und New Public Management überaus funktionalen Neoplasmus dar (Henning 2008: 376), so beruht diese Funktionalität zentral darauf, dass die Norm der Selbstverantwortung die Reorganisation des liberalen Wohlfahrtsstaats auf die Ebene des Subjekts übersetzt. Die Aufforderung, die Verantwortung für die eigene sozialpolitische Kostenneutralität zu übernehmen, ist somit einerseits nichts anderes als eine Rationalisierungstechnik, andererseits wird sie an die Anforderung der Ref lexion und Übernahme überindividueller Handlungsnormen geknüpft. Eigenoder Selbstverantwortung im neoliberalen Wohlfahrtsstaat verlangt von den Subjekten somit letztlich die adaptive Regulation ihrer eigenen »moralischen Urteilskraft« samt der zugehörigen Handlungskonsequenzen (namentlich: Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat senken). Kurz: Obwohl Autonomie als Selbstorganisation in der aktuellen soziologischen Debatte zum »Problem der Autonomie« eher kurz kommt, scheint sie sowohl in alltagspraktischer Hinsicht wie im normativen Gerüst der Gegenwart eine zentrale Rolle zu spielen. Nicht zuletzt und nicht zufällig ist die Logik der Selbstorganisation zudem ein Kernelement von Konzepten der Resilienz.

3.4 Subjekt-Systeme, System-Subjekte Über Autonomie als Selbstorganisation lässt sich kaum sprechen, ohne an ihre wechselvolle Geschichte als Utopie, revolutionäres Modell und experimentelle Form der Alltagsgestaltung zu erinnern. Was so radikal unterschiedliche Emanzipationsprojekte wie antikoloniale Befreiungs7  S elbstoptimierung und Selbstregulation hängen offenkundig eng zusammen. Doch anders als Selbstoptimierung zielt Selbstregulation nicht zwingend auf Steigerung oder Perfektionierung, sondern kann auch Stabilisierung oder Verlangsamung einschließen. Freilich ließe sich eine selbstregulative Stabilisierung als eine Art Selbstoptimierung zweiten Grades begreifen. Ich halte es aber für wichtig, den qualitativen Unterschied zwischen einem unmittelbaren Steigerungsimperativ und einem auf »optimierte Anpassung« zielenden Imperativ nicht aus dem Blick zu verlieren.

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kämpfe, Theorie und Praxis des Anarchismus, den Traum von einem autarken, naturnahen Leben (Lorenz 2014), selbstverwaltete Kinderläden in den 1970er Jahren oder die aktuelle Diskussion um »Commons« (Helfrich 2014) miteinander verbindet, ist die Idee eines autonomen, – das heißt hier: von den jeweiligen Macht- und Herrschaftszentren unabhängigen – Lebens und Wirtschaftens. Dabei handelt es sich offensichtlich um eine andere Form der Selbstorganisation als jene, die von subjektivierten Arbeitnehmer*innen und selbstverantwortlichen Staatsbürger*innen heutzutage verlangt wird, geht es doch bei letzteren nicht darum, Lebensmodelle »jenseits von Markt und Staat« (ebd.) zu entwerfen als vielmehr darum, sich selbst im Hinblick auf die Anforderungen von Markt und Staat effizient zu managen. In einem grundlegenden Beitrag zum Problem der indirekten Steuerung (Peters 2001b) weist Klaus Peters darauf hin, dass der Begriff Selbstorganisation zwei verschiedene Bedeutungen enthält. Selbstorganisation, so Peters, meint einmal, dass »Individuen […] selbst eine Organisation schaffen, »statt Mitglied in einer unabhängig von ihnen bestehenden Organisation zu werden« und zum anderen eine »Organisierung, die zum Gegenstand ihrer selbst wird« (ebd.: 160 f). Von dieser Unterscheidung ausgehend werde ich im Folgenden begriff lich zwischen Selbstverwaltung als Mittel (der Emanzipation) und Selbstorganisation als Selbstzweck (sie zielt auf den Erhalt der jeweiligen Organisation) unterscheiden und mit Hilfe dieser Unterscheidung nochmal einen Blick auf die für die Frage nach der problematischen Rolle der Autonomie in der Gegenwartsgesellschaft zentrale Vereinnahmungsthese werfen. Als wichtiger Vorläufer neoliberaler Unternehmenskultur stellen sich im Rückblick die kollektiven, selbstverwalteten Alternativbetriebe der 1970er und 1980er Jahre dar, die angetreten waren, mit basisdemokratischem Kollektivismus der kapitalistischen Eigentumsordnung wie dem gesellschaftlichen Sog der Individualisierung ein radikales Gegenmodell entgegenzusetzen – und die in ihrer großen Mehrheit ebenso radikal daran scheiterten, diesen Anspruch langfristig umzusetzen (Neumann 2008).8 Die meisten Kollektivbetriebe erwiesen 8  E ine ähnliche Entwicklung zeichnet Reichardt für die Neue Frauenbewegung nach; auch hier löste sich die Idee einer autonomen Selbstverwaltung sukzessive durch und in Prozessen der »Institutionalisierung, Professionalisierung und Pluralisierung« (Reichardt 2014: 154) auf.

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sich auf dem sogenannten freien Markt als nicht konkurrenzfähig und mussten deshalb entweder aufgeben oder das revolutionäre Moment ihres Modells konsequent der Notwendigkeit des wirtschaftlichen Überlebens unterordnen. So entstand aus einer Gegenkultur seit Ende der 1970er Jahre »eine neue Form der Arbeitsorganisation, die an die gegenkulturellen Selbstverhältnisse anknüpfte und zugleich ein entscheidendes Moment der neoliberalen Arbeitsorganisation vorwegnahm« (ebd.: 77) – namentlich die Bereitschaft, f lexibel und entgrenzt zu arbeiten. Auf diese Weise »entwickelte sich in den Alternativprojekten eine spezifische Form der Arbeitsmotivation, die dazu beitrug, das durch die Krise des autoritären Managements verursachte Vakuum wieder aufzufüllen« (ebd.). Galt Selbstverwaltung den Kollektivbetrieben also als Voraussetzung individueller wie gesellschaftlicher Emanzipation, so wurden diese Ansprüche im Zuge der Einpassung in die kapitalistische Konkurrenzlogik der Notwendigkeit einer ref lexiv gewordenen Selbstorganisation als eine auf das wirtschaftliche Überleben ausgerichteten Strategie untergeordnet – und genau in diesem Übergang liegt, bezogen auf Autonomie, das wesentliche Moment ihrer Vereinnahmung oder Enteignung. Allerdings bedeutet diese Verschiebung nicht, dass Autonomie aus dem Konzept der Selbstorganisation einfach verschwindet, sondern vielmehr, dass sie ihren Gehalt in entscheidender Weise verändert. Entstehung und Scheitern der bewegungsnahen Selbstverwaltungsprojekte vollzogen sich nicht zufällig parallel zu einer theoretischen Neuformierung, die in gewisser Weise an die für die Alternativökonomie konstitutive Kritik am bürokratisch-hierarchischen Zentralismus anschloss und Selbstorganisation als biologisches und soziales Phänomen entlang von Begriffen wie Komplexität, Dynamik, Nicht-Determinismus, Autonomie, Interaktion und Emergenz zu beschreiben versuchte (Hülsmann/Wycisk 2006: 333). Zwar ist die Grundidee der Selbstorganisation schon deutlich älter, doch erst in den 1960er Jahren entstand unter diesem Sammelbegriff ein umfangreiches interdisziplinäres Forschungsprogramm (Sichler 2006: 299). Die schließlich ab Ende der 1970er Jahre an Bedeutung gewinnenden, auf indirekte Steuerung zielenden Managementkonzepte greifen in Theorie und Praxis auf zentrale Elemente systemtheoretisch-kybernetischer Selbstorganisationstheorien zurück. Deren Grundannahmen zufolge erwächst die Autonomie eines Systems einerseits aus dessen »materielle[r] Offenheit« wie andererseits aus seiner »operationale[n]

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Geschlossenheit« sowie vor allem aus seiner Fähigkeit zur Selbstregulation (ebd.: 300). Wie und mit welchen autonomietheoretischen Implikationen die Grundannahmen der neueren Selbstorganisationstheorie in Managementkonzepten konkret ausbuchstabiert werden, hat instruktiv Jörg Stadlinger untersucht (Stadlinger 2003). Auch wenn diese Untersuchung nun schon mehr als anderthalb Jahrzehnte alt ist, hat sie kaum an Aktualität verloren. Bis heute gilt, dass »die Autonomie der Beschäftigten eine Schlüsselrolle für die neue Arbeitsorganisation« spielt (ebd.: 107), und auch die Vorstellung vom Unternehmen als Netzwerk, das den Zentralismus der Bürokratie überwindet (ebd.: 117), oder Konzepte des Change Management (ebd.: 118, vgl. Vahs 2015) sind nach wie vor aktuell. Interessant für die Frage nach der Logik des Autonomietypus Selbstorganisation ist vor allem Stadlingers Analyse evolutionär-systemisch9 orientierter Managementlehren. Denn zum einen werden in diesen Konzepten wesentliche Probleme und Fragen postautoritärer Steuerung im Anschluss an die Theorie komplexer Systeme ausgearbeitet. Zum anderen spielen Grundannahmen evolutionär-systemischen Managements auch in aktuellen Konzepten organisationaler Resilienz eine wichtige Rolle. Wie Stadlinger zeigt, schließt die evolutionäre Managementlehre nicht nur an die neuere Systemtheorie sowie an die sogenannte Kybernetik zweiter Ordnung an, sondern auch an die Freiheitslehre des Nobelpreisträgers Friedrich von Hayek. Stadlinger verweist in diesem Zusammenhang auch auf die sogenannte St. Gallener Schule (Stadlinger 2003: 122), die ihrerseits nach Auffassung des Organisationstheoretikers Rudolf Wimmer von erheblicher praktischer Relevanz ist, habe sie doch seit den 1990er Jahren »vielen Tausenden Führungskräften im deutschsprachigen Raum einen professionalen Halt und eine entsprechende Orientierung gegeben« (Wimmer 2012: 12). Grundlegend für systemisch-evolutionäres Management ist die Annahme vom Unternehmen als komplexes System, das in einer noch komplexeren Umwelt überleben und sich dafür in allen seinen Dimensionen und Elementen beständig selbst reproduzieren muss. Das Grundproblem von Steuerung besteht aus dieser Perspektive in der 9  D  er Begriff »systemisch« wird hier und im Folgenden nicht als analytischer Begriff verwendet, sondern aus der beschriebenen Literatur übernommen. Zur inflationären Verwendungsweise des Adjektivs »systemisch« samt der damit verbundenen Trivialisierung der soziologischen Systemtheorie vgl. Kühl (2015).

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Komplexitätsbewältigung, die zugleich als entscheidende Voraussetzung zur Sicherung der Überlebensfähigkeit des Unternehmens oder der Organisation aufgefasst wird. Konkret soll die Orientierung am Prinzip der Selbstorganisation dazu beitragen, die im Zuge von Globalisierung und »Hyper-Konkurrenz« drastisch gestiegenen Anforderungen an die strategische Flexibilität der Unternehmen zu erhöhen (Hülsmann/Wycisk 2006: 324). Im Kern geht der systemisch-evolutionäre Ansatz davon aus, dass sich Unternehmen idealerweise ähnlich wie natürliche Organismen von sich aus zu einer »spontanen Ordnung« entwickeln, welche, so Hayeks bekanntes Diktum, »das Ergebnis menschlicher Handlungen, aber nicht menschlicher Planung« (Hayek 2017: 104) ist. In einer liberalen Gesellschaft ist es Hayek zufolge der Markt, der, sofern er von staatlichen Regulierungen nicht verzerrt wird, die Herausbildung spontaner gesellschaftlicher Ordnung ermöglicht. Dabei bedeutet Spontaneität nicht Regellosigkeit; Ordnung entsteht vielmehr dadurch, dass ihre jeweiligen »Elemente in ihren Reaktionen auf ihre unmittelbare Umgebung gewissen Regeln folgen« (Hayek 2003: 4), wobei die Regeln den »Elementen nicht ›bekannt‹ sein müssen; es genügt, wenn die Elemente sich tatsächlich in einer Weise verhalten, die sich durch solche Regeln beschreiben lässt« (ebd.). Ein im Sinne des Ordnungserhalts funktionales Verhalten der beteiligten Subjekte ist aus dieser Perspektive somit auch dann möglich, wenn diese die Auswirkungen ihres Handelns nicht oder nur teilweise überblicken, ja mehr noch: Besonders funktional können gerade solche Regeln sein, die von den Beteiligten eher intuitiv erfasst werden (Stadlinger 2003: 126). Bei Hayek ist es der Preismechanismus, der in diesem Sinne für soziale Ordnung sorgt. Voraussetzung für den Preismechanismus als Ordnungsgenerator ist, dass der Preis nicht vom Einzelnen bestimmt werden kann, sodass jeder »gleichermaßen dem Druck ausgesetzt wird, auf den Preis zu reagieren« (Jankowski o.J.: 7). Auf diese Weise sichert der »wettbewerbliche Auslesemechanismus« (ebd.) gesellschaftliche Innovation und Fortschritt. Aus der Annahme einer sich analog zum Prozess der Evolution spontan herausbildenden Selektion resultiert Hayek zufolge auch der grundlegend freiheitliche Charakter spontaner Ordnungen, die nicht autoritär verfügt oder gelenkt werden können. Dabei handelt es sich freilich um eine andere Form der Negation von Herrschaft als im liberalen Modell der Demokratie, wird die Abwesenheit von Herrschaft

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hier doch als Eigenschaf t der sozialen Ordnung aufgefasst und nicht als Ergebnis demokratischer Entscheidungsprozesse. Nach evolutionären Grundprinzipien geführte Unternehmen lassen ihren Mitarbeitenden (zumindest in der Theorie) »absolute Freiheiten, wie sie die ihnen zugetrauten Aufgaben am besten erledigen. Im Gegenzug übernehmen die ›Befreiten‹ volle Verantwortung für ihr Handeln« (Phillip 2003: 97, vgl. Radatz 2003). Umgekehrt, so die Annahme, laufen linear-hierarchisch organisierte Unternehmen Gefahr, sich ihrer systemischen Umwelt, also dem Markt, nicht f lexibel genug anpassen zu können, was letztlich ihre Überlebensfähigkeit infrage stellt. Aus dieser Grundkonzeption ergibt sich schließlich auch eine bestimmte Perspektive auf das Thema der Autonomie. Systemisch-evolutionäre Managementlehren gehen von einer relativen operativen Geschlossenheit von Systemen beziehungsweise Organisationen aus, welche wiederum deren Autonomie begründet. Autonom ist das »Selbst« der Organisation, also »jene die eigene interne Vielfalt bündelnde Einheit, die ein System im Unterschied zu anderen für sich selbst« darstellt (Wimmer 2012: 40). Indem Autonomie primär als Autonomie der Organisation aufgefasst wird, geht auch die Autonomie der beteiligten menschlichen Subjekte in der Autonomie der Organisation auf. Organisationen beruhen somit strukturell auf dem Autonomieverzicht ihrer Mitglieder zugunsten der Organisation, welche ihrerseits die individuelle Autonomie ihrer Mitglieder nutzt, um im Zweifel und »im Dienste der organisationalen Leistungsfähigkeit gegen deren eigene Festlegungen zu handeln« (Wimmer 2012: 44). In »adaptiven Unternehmensstrukturen« bekommen »die Mitarbeiter und Subsysteme durch Prozesse der Delegation den notwendigen Freiraum zur Entwicklung verschiedener Variationsmuster von Kompetenzen« und versorgen auf diese Weise »das System mit der erforderlichen Flexibilität« (ebd.: 383). Insofern dieser Zusammenhang nicht autoritär verfügt werden kann, müssen die Organisationsmitglieder einen Anreiz erhalten, um ihre persönliche Autonomie aktiv in die Autonomie der Organisation einzuschreiben. Im Gegenzug für ihren Autonomieverzicht erhalten die Subjekte »die Möglichkeit […], ein identitätsstiftendes Profil zu gewinnen« (Wimmer 2012: 45). Demzufolge wird die Subjektivität der Organisationsmitglieder über die Identifikation mit der Organisation/dem Unternehmen einerseits aufgewertet, wie sie andererseits qua Autonomieverzicht gewissermaßen entwertet wird. Zugleich erfolgt die Identifikation auf Seiten der Subjekte nicht aus

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freien Stücken; vielmehr erzwingt Selbstorganisation als Steuerungsprinzip die »Internalisierung fremdgesetzter Werte und Normen«, die grundsätzlich »nicht in Frage gestellt werden dürfen« (Wolf 1999: 175). Entscheidend ist, dass es bei diesem »Deal« nicht (wie im hierarchischen Organisationsmodell) um die Erzeugung von Gehorsam geht. Vielmehr stellt der Zugriff auf die Subjektivität der Beschäftigten die materiale Voraussetzung für die organisationale Überlebensfähigkeit dar. Organisationen benötigen »einen stabilen Zugang zum psychischen Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitspotenzial ihrer Mitglieder sowie zu ihrem ganz persönlichen Erfahrungshintergrund« (Wimmer 2012: 45f.). Die Autonomie der Selbstorganisation bedeutet auf der Ebene des Subjekts somit, dass »das kreative Problemlösungspotenzial der Mitarbeiter« zwecks Sicherung der strategischen Flexibilität des Unternehmens »voll ausgeschöpft« wird (Hülsmann/Wycisk 2006: 385); Selbstorganisation als Managementstrategie setzt insofern die »Fremdorganisation« der Subjekte durch das Unternehmen immer schon voraus. In letzter Konsequenz läuft diese Konzeption, wie Jörg Stadlinger prägnant formuliert, auf eine »Subsumtion der Individuen unter den ihnen gegenüber verselbstständigten, ›von selbst‹ ablaufenden Unternehmensprozess« (Stadinger 2003: 126) hinaus; die Subjektivität menschlicher Individuen gerät zu einem »Spezialfall der Subjekthaftigkeit autopoietischer Systeme« (ebd.: 134). Die Originalität von Stadlingers Analyse liegt darin, dass er kybernetisch-systemtheoretisch orientierte Managementlehren nicht als theoretische Anleitung für indirekte Steuerung und/oder subjektivierter Arbeit versteht, sondern sie vielmehr umgekehrt als Versuch interpretiert, die bereits erfolgten empirischen Veränderungen in der Unternehmensorganisation und Arbeitswelt (sowie das damit aufgeworfene Problem der Autonomie) theoretisch einzuholen. Dies gelingt aus seiner Sicht jedoch nur teilweise; letztlich entgehe »auch der systemtheoretischen Interpretation der neuen Unternehmensorganisation deren Pointe vollkommen« (ebd.: 133) – die Pointe nämlich, dass in Systemen indirekter Steuerung die als Unternehmer adressierten Beschäftigten »auf der Basis der Verallgemeinerung eines bestimmten Typs von Autonomie, der mit einer spezifischen Form von Heteronomie verbunden ist«, instrumentalisiert werden (Stadlinger 2003: 133). Demnach geht der Autonomieverzicht der Beschäftigten im postfordistischen Unternehmen zwar mit einer realen Erweiterung von Autonomie – genauer gesagt: einer erweiterten Selbstständigkeit der Beschäftigten – einher.

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Vorausgesetzt ist dieser Erweiterung jedoch eine im Verhältnis zum traditionellen liberalen (oder auch humanistisch-therapeutischen) Autonomiebegriff signifikante Verschiebung der inhaltlichen Bestimmung von Autonomie: Autonomie meint nunmehr »die Eigendynamik der Bedingungen, die die Individuen in ihrem Verhalten bestimmen, ob sie es wollen oder nicht – also […] ihre Fremdbestimmtheit, ihre Heteronomie« (Peters 2001a: 31, Hervorh. i.O.). Allerdings fasst diese Interpretation Autonomie und Heteronomie als kategoriale Gegensätze, die zueinander in einem ebenso eindeutigen dialektischen Verhältnis stehen. Folgt man der weiter oben (Kap. 3.1) skizzierten Kritik am Idealbild des autonomen Subjekts, dann könnte man die Beschreibung entsprechend umformulieren: Im postautoritären Unternehmen werden Subjekte dazu gebracht, die »Eigendynamik der Bedingungen« (ebd.), denen sie ausgesetzt sind, als die entscheidende Bedingung ihrer eigenen Autonomie anzuerkennen. Autonomie wird dabei nicht negiert, sondern in spezifischer Weise bestimmt. Dabei werden die Subjekte zu Objekten ihres eigenen Zusammenhangs (Peters 2001b: 162) – etwa indem sie Grad und Bedingungen ihrer eigenen Rentabilität selbst überprüfen, wie es die Frage: »Rentier ich mich noch?« (Wagner 2005) auf den Punkt bringt. Genau genommen handelt es sich hierbei um eine doppelte Objektivierung: Das je eigene Selbst wird einerseits zum Objekt der organisationalen (Selbst-)Regulierung, andererseits wird das autonome Subjekt organisationsseitig als dieses objektivierte Selbst aufgefasst, also gewissermaßen um seine ref lexive (oder Subjekt-)Dimension zugunsten der funktionalen (oder Objekt-)Dimension bereinigt.10 Allerdings ist Objektivierung allein noch kein Spezifikum von Autonomie als Selbstorganisation. Vielmehr trifft auch auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung (erst recht auf Selbstoptimierung) zu, dass sich das Subjekt dabei in gewisser Weise selbst zum Objekt macht, wird doch das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst auf die eine oder andere Weise ref lexiv. Jedoch variiert der Grad der Objektivierung: Im Falle 10  V  on der in Kap.  2 beschriebenen »doppelt doppelten Subjektivierung« (s. S. 37) unterscheidet sich die doppelte Objektivierung dadurch, dass sie in letzter Instanz auf die Erwartungsseite der Subjekte, mithin auf die »normative Subjektivierung« (Baethge 1991), nicht angewiesen ist. Mit Pierre Bourdieus wissenschaftstheoretischer Forderung, die »Objektivierung zu objektivieren« (Bourdieu 1993) hat sie andererseits gemein, dass die Objektivierung zum Gegenstand ihrer selbst, d.h. zum Gegenstand von Kontrolle, Reflexion und Modulation wird.

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der Selbstbestimmung macht sich das Subjekt zwar zum Objekt der Ref lexion (was will ich?), nicht aber zwingend zum Objekt der Handlung (man wählt z.B. Politiker*innen, die gemäß der eigenen Selbstbestimmung handeln sollen). Im Falle der Selbstverwirklichung wird das Subjekt zum Objekt von Ref lexion und Handlung, allerdings wird die Subjekt-Objekt-Trennung teleologisch wieder aufgehoben: Das »authentische« Subjekt ist »ganzheitlich« oder »eins mit sich« (was wiederum einen wesentlichen Unterschied zur neoliberalen Selbstoptimierung darstellt, die nicht einmal theoretisch irgendwann auf hört, gilt es doch immer, noch etwas besser zu werden). Im Falle der unternehmerischen Selbstorganisation wird das Selbst unter Umständen auch ohne Selbstref lexion zum Objekt der eigenen Handlung, nämlich indem das Subjekt sein Verhalten intuitiv den veränderten Rahmenbedingungen im Unternehmen anpasst, wofür es im Gegenzug, wie Wimmer sagt, eine »Identität« erhält. Damit ist jedoch nicht die Identität des Subjekts mit sich selbst gemeint, sondern die mit dem Unternehmen oder den Unternehmenszielen. Insofern handelt es sich wiederum um eine Art Objekt-Identität, die vom Subjekt entweder als Teilidentität vom Rest seiner Subjektivität abgespalten oder aber umgekehrt als totale Identität zulasten eben jenes Restes internalisiert werden muss. Insofern diese doppelte Objektivierung nun einerseits in evolutionären Managementtheorien ausgearbeitet, andererseits der Logik subjektivierter Arbeit eingeschrieben ist, ist sie alles andere als neu. Tatsächlich schließt sie in gewisser Weise sogar an die früheren Erfahrungen emanzipatorischer Selbstverwaltung im Kontext der Alternativbewegung an, war doch auch hier die möglichst vollkommene Identifizierung der Beteiligten mit dem jeweiligen Projekt (und in diesem Sinne eine Art freiwilliger Selbstobjektivierung) eine wesentliche Bedingung der Mitgliedschaft. Im Unterschied zur Situation heutiger Arbeitskraftunternehmer*innen war das damit verbundene Problem in den Alternativprojekten allerdings oftmals auch Gegenstand heftiger Debatten und Auseinandersetzungen und konnte somit von allen Beteiligten »selbstbestimmt« bearbeitet werdenwerden (wenn auch mit für die Einzelnen nicht immer befriedigendem Ergebnis). Die Voraussetzung dafür jedoch waren die kollektivierten Eigentumsverhältnisse. Entsprechend ist diese Form der Autonomie für Beschäftigte in kapitalistischen Unternehmen konstitutiv versperrt. An ihre Stelle tritt im postfordistischen Unternehmen etwas anderes: die organisationale Resilienz.

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3.5 Wider das organizational burn-out: Resiliente Organisationen »Je ausgeklügelter die Mechanismen, über die Lebewesen verfügen, um ihre permanente Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen zu gewährleisten und ihre Desintegration zu verhindern, desto größer ihre Autonomie gegenüber der Außenwelt.« (Tanner 2008: 14) Mit diesen Worten fasst Jakob Tanner zusammen, was der Physiologe Walter B. Cannon Ende der 1920er Jahre als »Homoöstase« definierte: einen aus dem engen Zusammenhang von Autonomie und Anpassung resultierenden Gleichgewichtszustand, auf den natürliche Körper zustreben. Damit brachte Cannon schon früh auf den Punkt, was Jahrzehnte später als »organizational resilience« firmiert: eine »Spannkraft, die sie [die Organisationen, S.G.] erfolgreich unter sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontextbedingungen operieren und ihre Überlebensfähigkeit sichern lässt« (Wimmer 2012: 22). Glaubt man den einschlägigen Beschreibungen, entwickelt sich organisationale Resilienz analog zu natürlichen Prozessen, und ähnlich wie Ökosysteme streben auch Organisationen auf einen Gleichgewichtszustand zu, der freilich stets nur vorläufig erreicht wird und deshalb immer wieder neu hergestellt werden muss. Dass Unternehmen und Organisationen sich im f lexiblen Kapitalismus in einem Prozess permanenten Wandels befinden (und befinden müssen), ist nicht mehr als eine Binsenweisheit. Entsprechend variiert allenfalls die Dringlichkeit, mit der die Notwendigkeit des Wandels beschworen wird. Eine einfache Reorganisation von Unternehmensstrukturen reicht längst nicht mehr aus, wie es in einem aktuellen Lehrbuch der Organisations- und Managementlehre heißt, vielmehr müssten »sowohl die strategische Ausrichtung des Unternehmens als auch seine Organisation, seine gelebte Kultur und die eingesetzten Systeme und Technologien gleichermaßen« (Vahs 2015: 261) beständig neu austariert werden. »Change Management« müsse deshalb zu »radical change« werden, und dabei wiederum sei die zentrale Herausforderung der organisationale Umgang mit den Emotionen der Beschäftigten, namentlich mit der »Angst der Betroffenen vor […] fundamentalen Prozessen und ihren Auswirkungen« (ebd.: 265).11 Und weil die Emotionen 11  E twa wenn es – wie im Falle der Deutschen Telekom AG – darum ging, einen »bürokratischen Beamtenapparat« in »flexible, unternehmerisch handelnde Einheiten« (ebd.: 267) zu verwandeln.

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so wichtig sind, wird anderswo gefordert, Change-Management-Programme grundsätzlich von betrieblichen Resilienzprogrammen begleiten zu lassen, denn nur mit einer verbesserten psychischen Robustheit seien die permanenten Veränderungen zu verkraften (Kowalski 2012: 139). Aus dieser Perspektive verweisen die organisationale und die individuelle Resilienz also aufeinander. Auch Wimmer zufolge hängt organisationale Resilienz zentral von der affektiven Verfasstheit der Organisationsmitglieder ab, konkret von dem Vertrauen, das diese der Organisation entgegenbringen (Wimmer 2012: 46). Zugleich sei im Sinne der organisationalen Resilienz aber auch ein »gewisses Maß an Personalf luktuation« »vitalisierend« (ebd.). Wie genau unter den Bedingungen einer »gewissen« Personalf luktuation das Vertrauen der Organisationsmitglieder in die Organisation entstehen soll, erscheint hier auf den ersten Blick etwas rätselhaft. Das Rätsel löst sich jedoch, wenn man sich von der herkömmlichen Bedeutung des Terminus »Vertrauen« verabschiedet. Versteht man Vertrauen nicht in erster Linie als affektive Reaktion auf das kongruente, konsistente und konstante, kurz: »vertrauenswürdige« Verhalten des jeweiligen Gegenübers, sondern als Mittel, um die aus Inkongruenz, Inkonsistenz und Unbeständigkeit resultierende Verunsicherung zu bewältigen, wird deutlich, was hier gemeint ist: Man soll nicht deshalb vertrauen, weil die Situation bewältigbar und überschaubar erscheint, sondern deshalb, weil sie so unsicher ist, dass man sie ohne Vertrauen nicht wird bewältigen können. Ähnlich wie Autonomie wird Vertrauen hier also weniger normativ als vielmehr funktional aufgefasst. Und insofern die Mitgliedschaft der Mitglieder jederzeit infrage gestellt werden kann (und im Sinne der organisationalen Resilienz auch infrage gestellt werden muss – zu viel Sicherheit gefährdet Flexibilität und Adaption), präsentiert sich das Autonomie-Paradox hier in einer radikalisierten Form, wandelt sich doch nicht nur Autonomie von einer Forderung in eine Anforderung, sondern ist subjektive Autonomie auch dann noch eine zentrale organisationalen Ressource, wenn die Mitgliedschaft des Subjekts (und damit wiederum die Grundlage seiner Autonomie) seitens der Organisation negiert wird. Spätestens an dieser Stelle wird die Unterscheidung von Autonomie und Anpassung konzeptionell obsolet. Entscheidend für das Konzept der organisationalen Resilienz sind darüber hinaus bestimmte Annahmen über die organisationale »Umwelt«. Diese wird als grundlegend unkalkulierbar und krisenförmig begriffen, wodurch sich lineare Wachstumsaspirationen tendenziell

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delegitimieren. Organisationen müssten lernen, »einen bewussten, proaktiven Umgang mit der unvermeidlichen Zyklizität der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und mit den hier eingebauten systemischen Risiken zu gewinnen«; Wachstum per se sei kein sinnvolles strategisches Ziel mehr (Wimmer 2012: 22). Wirtschaftliche Entwicklungen, so auch der Organisationstheoretiker Stefan Tengblad, folgten unvorhersehbaren Mustern und könnten kaum mit Sicherheit vorausgesagt werden. Tengblads Konzeption organisationaler Resilienz basiert auf der expliziten Annahme der Parallelität von natürlicher Evolution und wirtschaftlicher Entwicklung: Das Überleben eines Unternehmens hängt ebenso von der Verfügbarkeit über Ressourcen ab wie von der Fähigkeit des Unternehmens, diese Ressourcen effektiv zu nutzen, »analogous to the natural world where animal survival depends on the ability to find digestible food that is sufficiently high in nutrient and energy content« (Tengblad 2018: 21). Organisationale Resilienz wird hier also als Strategie verstanden, auf dem kapitalistischen Weltmarkt auch unter verschärften evolutionären Selektionsbedingungen zu überleben. Zentral notwendig für dieses Überleben ist wiederum die Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft der Beschäftigten an die permanent notwendigen radikalen Veränderungsprozesse. Zwar seien »viele Führungskräfte beziehungsweise Mitarbeiter« ausreichend f lexibel, um sich auf die Geschwindigkeit der notwendigen Veränderungsprozesse einzustellen: »Sie sind im besten Darwin’schen [sic!] Sinne ›anpassungsfähig‹« (Kowalski 2012: 140). Andere jedoch verfielen »in ›Schockstarre‹, verweigerten sich oder machten Dienst nach Vorschrift« (ebd.). Am Ende führt die mangelnde Resilienz der Beschäftigten nicht nur in die individuelle psychische Erschöpfung, sondern trägt vice versa zum »organizational burn-out« (Greve 2019) bei, bei dem sich die gesamte Organisation »in einem erschöpften und paralysierten Zustand befindet und mit eigenen Ressourcen diesen […] Zustand nicht mehr positiv verändern kann« (ebd.: 248); ein Zustand, der das Unternehmen – analog zum Zusammenbruch des Subjekts am Ende der Burn-out-Spirale (vgl. Burisch 2006: 39f.) – im schlimmsten Fall in die Insolvenz führt. Auch hier spielt wiederum die Kategorie »Vertrauen« eine zentrale Rolle (Greve 2019: 196ff.). Führung sollte gerade in Krisenzeiten Vertrauen herstellen, dabei aber nicht aus dem Blick verlieren, dass die »Mitarbeiter« ihrerseits nicht immer vertrauenswürdig sind: Ihre Angst vor der Zukunft, die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz, die Verweigerung der

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Einsicht in die Realität oder das Misstrauen gegenüber Management und Berater könnten die erfolgreiche Therapie der ausgebrannten Organisation gefährden (ebd.: 198). Insbesondere Führungskräfte müssten lernen, sich durch radikale Unsicherheit nicht nur nicht verunsichern zu lassen, sondern »sich die Unsicherheit zum Freund zu machen«. Denn wenn »sicher ist, dass alles unsicher ist, dann ist die Unsicherheit sicher und somit kann die Führung in jedem Fall damit rechnen, dass es anders kommt als geplant, es länger dauert als zugesagt und die Versprechen nicht so eingehalten werden wie versprochen« (ebd.: 211). Vertrauen in und trotz Unsicherheit ist dementsprechend das Betriebsgeheimnis individueller wie organisationaler Resilienz. Zugleich wird die individuelle Resilienz von Führungskräften und Mitarbeiter*innen in aktuellen Management-Diskursen als zentrale Bedingung für das Überleben des Unternehmens unter sich permanent verändernden und kategorisch unberechenbaren Marktbedingungen adressiert. Prägnant wird dieser Zusammenhang im Imperativ »Agil anpassen!« (Häusling et al. 2014) auf den Punkt gebracht. Agility Management wird seit einiger Zeit als Steigerung wie als Alternative zum vergleichsweise behäbigen Change Management in Anschlag gebracht; gemeint damit ist vor allem, dass organisationales Handeln noch schneller, f lexibler und marktgerechter werden muss. Kurze Planungs- und Produktionszyklen mit schnellen Ergebnissen sollen »sofortiges Anpassen auf [sic!] veränderte Rahmenbedingungen« ermöglichen (ebd.). In der idealtypischen »agilen Organisation« arbeiten Beschäftigte folgerichtig weitgehend »selbstgesteuert«, und die Führung stellt dafür lediglich den Rahmen bereit. Zugleich gilt: Je agiler eine Organisation ist, desto resilienter ist sie auch. Ob nur Change oder schon Agility: Ansprüche auf Berechenbarkeit, Stabilität und Planbarkeit erscheinen in jedem dieser Modelle als bedenkliches Sich-Einrichten im Status quo. Jeremy Cooper und Melinda Walker weisen darauf hin, dass zeitgenössische Resilienzkonzepte – ihrer Ähnlichkeit zu Cannons Modell der Homöostase zum Trotz – gerade nicht (auch nicht vorübergehend) auf einen idealen Gleichgewichtszustand abzielen, sondern vielmehr – in Anlehnung an Hollings Konzept einer »ecological resilience« (Holling 1973, s. Kap. 5.3) – dem Prinzip der radikalen Ungewissheit folgen und dieses mit dem Prinzip der evolutionären Selektion verbinden: »[…] what the resilience perspective demands is not so much progressive adaptation to a continually reinvented norm as permanent adaptability to extremes of turbulence« (Walker/Cooper 2011: 156, vgl. Olsson et

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al. 2015). Konzepte wie das der agilen Organisation veranschaulichen diese Verschiebung: Anpassung im Sinne eines Durchstehens vorübergehender Krisensituationen alleine reicht nicht mehr, vielmehr ist ein Sich-Einrichten in radikaler Ungewissheit erforderlich. Wer dazu nicht bereit ist, riskiert zumindest den Verlust seiner organisationalen Identität, wenn nicht Schlimmeres. Oder wie es an anderer Stelle poetischer heißt: Lebende Systeme im Allgemeinen und Menschen im Besonderen sind »autonome Systeme, die nie fehl am Platz sind, die aber krank werden und sterben, wenn ihre Autonomie und der Fluss der Veränderung nicht mehr zusammenpassen« (Maturana/Bunnell 2003: 143).

3.6 Kein Stress mit dem Stress? Resilienz als neue Arbeitstugend Vor dem Hintergrund des bis hierher skizzierten Zusammenhangs ist wenig verwunderlich, dass Resilienz in jüngerer Zeit auch im Feld des betrieblichen Gesundheitsschutzes als neues Zauberwort reüssiert (Faller 2013, vgl. Götze 2013), insbesondere im Zusammenhang mit der Frage, wie Unternehmen psychische Belastungen und damit auch kostenintensive Arbeitsausfalltage von Beschäftigten minimieren können. Resilienz fungiert dabei als Überschrift für einen kompetenten Umgang mit Stress und Überlastung im Sinne einer f lexiblen Widerstandsfähigkeit, die Subjekte in die Lage versetzt, mit unvorhergesehenen Ereignissen, aber auch mit chronischem Arbeitsstress so umzugehen, dass es zu keiner nachhaltigen Beeinträchtigung von Produktivität und/oder Erwerbsfähigkeit kommt. Angebote für Resilienztrainings, -coaching und -beratung boomen; Resilienzförderung erscheint zunehmend als »unverzichtbarer Baustein« in der Weiterentwicklung des betrieblichen Gesundheitsmanagements (Gunkel et al. 2014: 257). Zugleich wird das anhaltend hohe Niveau stressverursachter Arbeitsausfalltage weniger als Alarmzeichen für die Inkompatibilität der f lexibilisierten Arbeitswelt mit menschlichen Bedürfnissen von Beschäftigten gedeutet denn vielmehr als Indiz für deren (noch) unzureichende Resilienz. Unter der Überschrift »Kein Stress mit dem Stress« leiten beispielsweise die Initiative Neue Qualität der Arbeit und der BKK-Dachverband ihre Empfehlungen zum besseren präventiven Umgang mit den grassierenden stressbedingten Erkrankungen mit der »gute[n] Nachricht« ein, annähernd 80 Millionen psychisch bedingte

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Arbeitsausfalltage pro Jahr müssten kein Schicksal sein, wenn nur »alle Beteiligten« konsequent an der »Enttabuisierung« des Themas arbeiteten (INQA/BKK 2016: 2). Neben Coaching und Supervision werden hier ausdrücklich Resilienztrainings als Mittel der Wahl empfohlen. Diese sollen Mitarbeiter*innen dazu anleiten, ihre »Probleme eigenständig zu bewältigen, blockierte Denkvorgänge aufzuspüren und sie in Richtung Lösungsdenken zu verändern« (ebd.: 138). Vorbild ist hier, wie so oft im Resilienzdiskurs, das »Stehaufmännchen«, das sich von »Belastungen, Misserfolgen und Lebenskrisen« nicht unterkriegen lässt. Die gute Nachricht lautet: Ein Stehaufmännchen zu sein lässt sich lernen – nämlich durch das Training von Resilienz. Gemäß Arbeitsschutzgesetz sind Unternehmen dazu verpf lichtet, im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsschutzes Gefährdungsanalysen auch in Bezug auf mögliche psychische Stressoren durchzuführen. Damit haben Interessenvertretungen formal ein mächtiges Instrument zur Problematisierung f lexibilisierter Steuerungssysteme zur Hand. Die betriebliche Praxis zeigt allerdings, wie Karina Becker untersucht hat, dass die Durchsetzung von Gefährdungsanalysen auf zahlreiche Probleme stößt (Becker 2015). Lediglich 22  Prozent aller Betriebe in Deutschland verfügen gegenwärtig über eine gesetzlich vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung, in der auch psychische Belastungsfaktoren berücksichtigt sind (BAuA 2017: 93). Ein wesentlicher Grund dafür liegt im informellen Charakter der in den Unternehmen jeweils konkret getroffenen Gesundheitsschutzvereinbarungen. Galt im betrieblichen Gesundheitsschutz schon immer, dass die Ausgestaltung der gesetzlichen Vorgaben wesentlich von den Aushandlungen der betrieblichen Akteure vor Ort abhängt, so gilt dies vor dem Hintergrund der »Deregulierung der Arbeitsmarkt- und Arbeitsschutzpolitik« (Becker 2015: 182), die die Kontrolle von Gesundheitsgefährdungen im Betrieb sukzessive in die Hand der Unternehmerin verlagert, umso mehr. Und waren es in den »betrieblichen Arrangements als Teil des fordistischen Versprechens« (ebd.: 171) vor allem Frauen und Migrant*innen, die in diesen Arrangements auf der Strecke blieben, so gilt dies heute zusätzlich und vor allem für die prekarisierten Teile der Belegschaften, namentlich für Leiharbeiter*innen, die in der Regel unter deutlich belastenderen Bedingungen (Überstunden, Samstagsarbeit, wechselnde Arbeitsorte etc.) arbeiten als regulär Beschäftigte und zugleich weniger von gesundheitsbezogenen Aushandlungen mit dem Arbeitgeber profitieren. Auf diese Weise werden »gesundheitsrelevante Kosten und Ri-

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siken insbesondere jenen Beschäftigten aufgebürdet, die nicht (mehr) zur Kernbelegschaft gehören und auch keine Organisationsmitglieder sind« (ebd.: 165). Randbelegschaften werden hier also gegen Arbeitnehmer*innen, die (noch) in einem Normalarbeitsverhältnis stehen, ausgespielt. Gerade in großen Unternehmen sind darüber hinaus Teams und Gruppen »zu tragenden Säulen der Unternehmensstruktur« geworden (Siemens/Frenzel 2015: 1). Diese werden sowohl bei betrieblichen Reorganisationsmaßnahmen als auch generell zur Produktivitätssteigerung gezielt zueinander in Konkurrenz gebracht, wodurch einerseits Leistungsanreize gesetzt werden, andererseits aber auch Belastungspotenziale zunehmen (Hurtienne/Koch 2017: 145). In diesem Kontext wandelt sich auch die Aufgabe von Führungskräften. Stephan Siemens und Martina Frenzel zufolge besteht die Anforderung für Führungskräfte nunmehr vor allem darin, gegenüber den Mitarbeiter*innen »den Druck aus der sogenannten ›Umwelt‹ aufrechtzuerhalten und angemessen zu dosieren« (Siemens/Frenzel 2015: 7). Dabei dürfe der Druck nicht mit den alten Formen des »Befehls«verwechselt werden: Zwar werden Ziele vorgegeben und die Ergebnisse kontrolliert. Zugleich besteht ein großer Unterschied zu den alten Formen der Arbeitsorganisation: »Die Führungskraft gibt keinerlei Hilfestellung, wie das vorgegebene Ziel zu erreichen ist und sie darf diese auch nicht geben« (ebd.). Gilt dieses Prinzip für die indirekte Steuerung insgesamt (Peters/ Sauer 2005), so entfaltet es doch seine besondere Wirksamkeit gerade in Bezug auf Teams und Gruppenarbeit. Der ständige Leistungsdruck ist im Sinne der Produktivitätssteigerung profitabel, produziert aber bei den Beschäftigten Emotionen, namentlich negative, etwa Ärger, Angst oder Wut. Da die Führungskräfte als Adressat*innen dieser Emotionen kaum noch zur Verfügung stehen, richten sie sich entweder gegen die eigenen Kolleg*innen – oder aber gegen sich selbst. Auf der anderen Seite »verschwinden« die organisationalen Rahmenbedingungen des eigenen Arbeitshandelns im Teambeschluss. In der Folge erscheinen die Rahmenbedingungen den Beschäftigten oft schicksalhaft: »Wie das Unternehmen im globalisierten Wettbewerb als Schicksalsgemeinschaft im Großen erscheint, so das Team im Kleinen der unternehmensinternen Organisation« (Siemens/Frenzel 2015: 5). Teamarbeit erweist sich somit als eine äußerst effektive Strategie, Produktivität und »Agilität« von Beschäftigten zu steigern und zu-

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gleich potenzielle betriebliche Interessenkonf likte zu entschärfen. Darüber hinaus trägt sie zur Privatisierung psychischer Überlastung bei; Arbeitnehmer*innen tragen die emotionalen Konf likte, die aus indirekten Steuerungsformen emergieren, untereinander beziehungsweise mit sich selbst aus. Der gesellschaftlich und alltagsweltlich höchst wirksame Diskurs der Therapeutisierung (s. Kap. 2.2) begünstigt diese Konstellation, und so verwundert es nicht, dass sich, wie Mathias Heiden zeigt, Arbeitskonf likte in Betrieben zunehmend als »Scheinkonf likte« darstellen (Heiden 2014: 340), in denen nicht »das tatsächliche Konf liktpotenzial von Entfremdungen, Dequalifizierungen und Abstiegskämpfen Gegenstand der Auseinandersetzung ist« (ebd.). Zugleich übersehen die arbeitspolitischen Akteure (oftmals selbst wiederum aus einer strukturellen Überforderungssituation heraus) die naheliegenden Überlastungsquellen in der Arbeitsorganisation und betonen stattdessen die Verantwortung der einzelnen Beschäftigten für ihre Gesundheit und Stressresistenz. Auch in Bezug auf betriebliche Auseinandersetzungen ist somit ein »entpolitisiertes Durchschlagen gesellschaf tlicher Diskurse«, namentlich des Aktivierungs- und Selbstverantwortungsdiskurses, festzustellen (ebd.: 341, Hervorh. i.O.). Zwar erkennen viele Beschäftigte an, dass ihre Arbeit Stress erzeugt und führen dies auf indirekte betriebliche Steuerungsformen zurück. Dennoch nehmen sie das Unternehmen dafür nicht in Haftung, vielmehr wird »Gesundheit überwiegend als individuelle Disposition gesehen: Der eine hält dem Stress stand, der andere eben nicht« (Dunkel/Kratzer/Menz 2010: 361). Parallel hat sich um das Themenfeld Arbeitsstress längst eine Ratgeberindustrie entwickelt, die verspricht, Erschöpfung zu verhindern und Wohlbefinden zu steigern, sofern das Subjekt bereit und in der Lage ist, die Verantwortung für seinen Gesundheitszustand vollumfänglich und eigenverantwortlich zu übernehmen. Die darin implizite Moral beeinf lusst auch Ansprüche der Beschäftigten an den selbst im Prozess einer fortschreitenden Deregulierung begriffenen betrieblichen Gesundheitsschutz. Zwar lancieren einzelne Unternehmen inzwischen Maßnahmen zur Minderung des Erschöpfungsrisikos. Wie das Handelsblatt berichtet, lädt etwa SAP seine Mitarbeiter zu Achtsamkeitsseminaren unter dem Titel »Search inside yourself« ein, und Thyssen-Krupp bietet seinen Führungskräften ein Programm an, dass diese in »nachhaltige[r] Leistungssteigerung« schult und mit den einschlägigen neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung vertraut macht (Pans-

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ter 2018). Und dass es bereits im unternehmerischen Eigeninteresse liegt, »die knappe Ressource qualifizierter Arbeitskräfte nachhaltiger zu bewirtschaften« (Neckel/Wagner 2014: 541), stellen in einer gemeinsamen Erklärung sinngemäß auch Arbeitsministerium, Arbeitgeberverband und DGB fest (BMAS/BDA/DGB 2013). Nicht umsonst aber wird zugleich betont, dass »die Rahmenbedingungen der Arbeitswelt« so zu gestalten seien, dass sie »eigenverantwortliches und gesundheitsbewusstes Handeln« der Beschäftigten fördern (ebd.: 3). In diesem Sinne stellen auch die Autor*innen der Stressstudie der Techniker Krankenkasse mit deutlich mahnendem Unterton fest: »Jeder verfügt über individuelle Stellschrauben, um den eigenen Stress zu reduzieren oder ihm wenigstens angemessene Entspannungsmethoden entgegenzusetzen. Auch der Arbeitnehmer verpf lichtet sich in seinem Arbeitsvertrag, seine Arbeitskraft täglich zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört, dass er außerhalb der Arbeitszeit auch für Regeneration sorgt, um auch am nächsten Tag leistungsfähig zu sein.« (TK 2016: 54) Die arbeitsvertraglich festgeschriebene Treuepf licht des Arbeitnehmers gegenüber der Arbeitgeberin, die beispielsweise die Einhaltung von Gesundheitsschutzvorschriften im Umgang mit Maschinen einschließt, wird hier also nicht nur um eine allgemeine Pf licht zur Gesunderhaltung, sondern darüber hinaus um die Pf licht zur Bearbeitung auch arbeitsbedingter Belastung erweitert. Resilienz stellt sich vor diesem Hintergrund als Angebot dar, diesen spezifischen Anforderungskatalog begriff lich auf den Punkt zu bringen. Für die Realisierungsaussichten des kritischen Potenzials der Erschöpfung hat das freilich einschneidende Konsequenzen: Durch das Training von Resilienz sollen Arbeitnehmer*innen in die Lage versetzt werden, auf zukünftige Anforderungen gleich welcher Art f lexibel reagieren zu können. Sie »erhalten einen Immunschutz, der es nicht mehr erfordert, aufwändige und wenig verstandene Verfahren zur Gefährdungsbeurteilung heranzuziehen und die daraus folgende mühsame Ermittlung und Umsetzung von Maßnahmen durchzuführen« (Hurtienne/Koch 2017: 149f.). Freilich stellt sich hier die Frage, ob Resilienztrainings diesen »Immunschutz« überhaupt liefern können, was empirisch zu prüfen bleibt. Doch auch ohne Nachweis kann bereits jetzt gelten, dass Resilienzdiskurse die Tendenz steigender Anforderungen an die individuelle Gesundheitsprävention unterstützen, während psychische Fehlbelastungen im Zuge der fortschreitenden Deregulierung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes auf der Ebene der

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Verhältnisprävention oder Arbeitsorganisation kaum effektiv angegangen werden. Stattdessen wird einerseits betrieblicher Gesundheitsschutz informalisiert und andererseits die Kompetenz, im Hinblick auf die eigenen psychosozialen Ressourcen ein gelingendes belastungsbezogenes Selbstmanagement zu betreiben, in den Anforderungskatalog zeitgenössischer Arbeitskraft eingeschrieben: »To be resilient […] is both essential and rare, within an increasingly hostile working atmosphere.« (Pedersen 2018: 332) Von diesen Überlegungen ausgehend wird nicht zuletzt die vielfach ventilierte Annahme fraglich, zeitgenössische Arbeitsverhältnisse seien – ebenso wie das Konzept der Resilienz – grundlegend individuumszentriert. Zwar ist richtig, dass Resilienz von der Frage nach »Gestaltung der Arbeitsbedingungen« ab- und auf »personenzentrierte Intervention« hinlenkt (Hurtienne/Koch 2017: 150) und genau deshalb attraktiv für Personalabteilungen ist, die die Mühen einer umfassenden Gefährdungsbeurteilung psychischer Fehlbelastungen im Betrieb scheuen. Formal trifft ebenso zu, dass Resilienztrainings und Stressbewältigungsprogramme das Individuum als Maßstab von Gesundheit adressieren (Brunnett 2018: 339). Allerdings stellt sich die Frage, welcher Begriff von Individuum dieser Konstellation zugrunde liegt. Dass Systeme und Organisationen auf das Handeln Einzelner nicht angewiesen sind (Sichler 2006: 257), gilt auch und erst recht für f lexibilisierte Steuerungssysteme. Wie weiter oben ausgeführt, adressieren diese die Autonomie der Beschäftigten als Teilaspekt der verselbständigten Organisationslogiken und die Subjekte als »System-Subjekte«. Wie aber lässt sich die (nicht zuletzt über Resilienz vermittelte) umfassende Responsibilisierung des Subjekts im Zuge seiner gleichzeitigen managerialen Dezentrierung begreifen? Dieser Punkt lässt sich wiederum gut am Beispiel des Teams als ein zwischen Unternehmen und Arbeitssubjekt angesiedeltes Teilsystem erörtern. »Das Subjekt« im Sinne einer komplexen und umfassend entwickelten beziehungsweise noch zu entwickelnden Persönlichkeit steht hier gerade nicht im organisationalen Fokus, vielmehr »werden die Individuen zu Funktionsträgern im Team. Einzelne Eigenschaften von Team-Mitgliedern werden von den Teams (ggf. unterstützt durch Trainings) gestärkt und andere geschwächt« (Siemens/Frenzel 2015: 5). Dementsprechend ist es nicht die »Individualisierung« des Subjekts, der das entscheidende Belastungspotenzial zukommt, sondern seine strategische »Dividualisierung« (Eversberg 2014), die sich als eine für postfordistische Subjektivierungsbedingun-

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gen typische Dynamik der »Zerlegung der Menschen und ihrer Lebenszusammenhänge in einzelne, sub-individuelle […] Bestandteile und der Zerstörung oder Blockierung von Kohärenz zwischen diesen Bestandteilen« (ebd.: 26, Hervorh. i.O.) beschreiben lässt. Im Zusammenhang mit Resilienz geht es dabei vor allem um die Unterscheidung von im Sinne der nachhaltigen Sicherung der Produktivität der Arbeitskraft funktionalen (und folglich zu fördernden) und dysfunktionalen (und folglich zu externalisierenden) Kompetenzen, Ressourcen und Eigenschaften des Subjekts. Insofern ist zwar richtig, dass Resilienz das Individuum (und nicht die Organisation, das System, den Staat etc.) als verantwortliche Instanz für die je eigene Gesundheit adressiert, aber eben nicht das Individuum als autonomes Handlungssubjekt. Das ideale Arbeitssubjekt der krisenförmigen globalisierten Gegenwart, so lässt sich vorläufig zusammenfassen, akzeptiert die Härten des f lexibilisierten Arbeitslebens als unveränderliche Gegebenheiten und betrachtet es als seine ureigene Aufgabe, sich an diese Gegebenheiten selbst aktiv und produktiv anzupassen. Sofern es nicht das Glück hat, bereits von Haus aus eine ordentliche Portion Resilienz mitzubringen, ist es bereit dazu, mit Hilfe entsprechender Trainings zu lernen, seine Persönlichkeit um überf lüssige oder gar hinderliche Teildimensionen (etwa Pessimismus, mangelnde Flexibilität oder übertriebenen Perfektionismus) zu bereinigen, sodass diese den Prozess der f lexiblen Adaption an die ubiquitären Herausforderungen des modernen Arbeitslebens nicht unnötig blockieren. Insofern Unternehmen angesichts einer immer komplexeren Arbeitswelt sowohl die »Workability« als auch die »Employability« der Beschäftigten sichern müssen (Gunkel et al. 2014: 267) – nicht zu vergessen ihre »Agility« – wird psychische Gesundheit zu einer »Schlüsselressource« (ebd.) zeitgenössischer Arbeitssubjektivität und Resilienz als Kompetenz, psychische Gesundheit auch unter verschärften Krisen- und Belastungsbedingungen zu erhalten und immer wieder neu herzustellen, analog zur Schlüsselkompetenz. Die damit eingeläutete Perspektivverschiebung von Belastungen zu Belastbarkeiten (Bröckling 2017: 122) adressiert die Arbeitenden nur vordergründig als autonome Handlungssubjekte im herkömmlichen Sinn. Vielmehr werden sie aufgefordert, ihre Autonomie in sehr spezifischer Weise auszurichten und zu begreifen: als selbstständige und präventive Bewältigung von (vor allem psychischer) Überlastung wie als Subdimension einer das Individuum übergreifenden systemischen Autonomie – des Teams, der Abteilung, des Unternehmens oder auch der

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Gesellschaft. Davon ausgehend ist zu vermuten, dass die Unterscheidung zwischen denen, die resilient genug sind und denen, die es (noch) nicht sind zukünftig in- und außerhalb der Arbeitswelt wichtiger werden wird.

3.7 Die Monopolisierung der Autonomie Wie zahlreiche soziologische Analysen gezeigt haben, wird Autonomie den Menschen in der f lexibel-kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft auf mehrfache Weise zum Problem. Sie stellt nicht nur einen weithin geteilten Maßstab des »guten Lebens« dar, sondern auch eine Anforderung, die sich in f lexibel-kapitalistischen Arbeits- und Lebensverhältnissen häufig in Überforderung verwandelt. Dieser Zusammenhang wird soziologisch entweder als Problem verstanden, das aus einem Übermaß an Autonomie entspringt (die Subjekte scheitern daran, den vielfältigen Autonomieanforderungen gerecht zu werden) oder als Problem, das aus einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von erweiterter Autonomie und erweiterter Kontrolle resultiert. Beide Formen, das Problem der Autonomie zu denken (als Autonomie im Übermaß oder als widersprüchliche Autonomie) sind jeweils anschließbar an die Diagnose der Enteignung oder Vereinnahmung der von den Neuen Sozialen Bewegungen im Namen der Autonomie formulierten Gesellschaftskritik im Übergang zum Postfordismus. Das damit umrissene Problem der Autonomie habe ich in diesem Kapitel mit dem Ziel untersucht, eine vorläufige Antwort auf die Frage nach den Gründen für die aktuelle Konjunktur der Resilienz zu finden. Dafür habe ich Autonomie zunächst heuristisch in drei Typen unterteilt – Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstorganisation. Wie die Diskussion um die »neue« Autonomie der Arbeit gezeigt hat, werden im Zuge der indirekten Steuerung Selbstorganisationsanforderungen intensiviert und im selben Zuge Selbstbestimmungs- und Selbstverwirklichungspotenziale beschränkt oder, genauer gesagt, in bestimmter Weise »zugeschnitten«. Und insofern diese Konstellation nicht auf den Bereich der Erwerbsarbeit beschränkt ist, wird den Subjekten im f lexiblen Kapitalismus nicht Autonomie an und für sich, sondern eine spezifische Ordnung von Autonomie zum Problem. In deren Rahmen werden Subjekte vor allem dazu angehalten, sich gemäß der Anforderungen ihrer Umwelt f lexibel selbst zu organisie-

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ren. Insofern als »Umwelt« hier sowohl das je konkrete Unternehmen als auch – allgemeiner – »der Markt« fungieren kann, muss sich das Subjekt zugleich als Arbeitskraftunternehmerin (Voß/Pongartz 1998) und als »Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf« (Beck 1986: 217), sprich: als Unternehmerin der eigenen Arbeits- und Lebenskraft (Jürgens 2006) begreifen, und es muss muss zur Bewältigung dieser Aufgabe alle vorhandenen persönlichen Ressourcen selbstständig und eigenverantwortlich mobilisieren, erweitern und optimieren. Insofern haben wir es in der Gegenwartsgesellschaft tatsächlich mit einem »Paradoxon der Autonomie« (Ehrenberg 2011: 407) zu tun. Aber dieses besteht weniger darin, dass einerseits »die Persönlichkeit« der Arbeitnehmerin aufgewertet und diese andererseits – Ehrenberg bezieht sich hier auf das Beispiel des Call-Centers – mit einer tayloristischen Arbeitsorganisation konfrontiert wird (Ehrenberg 2011: 407). Paradox ist vielmehr, dass die Persönlichkeit, als die sich postfordistische Subjekte am Arbeitsplatz erweisen müssen, bereits das Resultat einer ökonomisierenden Reduktion und Dezentrierung von Subjektivität ist – und dass die solchermaßen reduzierte Arbeitspersönlichkeit nicht allein instrumentelle, sondern auch und vor allem soziale, kommunikative und emotionale Anteile umfasst. Insofern »die Norm, sich eine Persönlichkeit zu schmieden« in f lexibilisierten Arbeitsverhältnissen auf »die Fähigkeiten zur Organisation, zur Animation und zur Kommunikation – die Kompetenzen des Managers« abzielt (ebd.: 405), muss im Gegenzug alles, was der eigenen »managementization« (Maravelias 2011)12 zuwiderläuft, abgespalten oder aber in organisationale Kompetenz umgewandelt werden. Und auch wenn in hochqualifizierten Arbeitsfeldern selbstbestimmte Handlungsspielräume in den letzten Jahren und Jahrzehnten fraglos zugenommen haben, bleibt, sofern es sich eben um Spielräume handelt, Selbstbestimmung darin doch kategorisch beschränkt. Für weniger qualifizierte Arbeit, etwa im Bereich »einfacher Dienstleistungsarbeit« (Bahl 2014), gilt darüber hinaus, dass Selbstbestimmungspotenziale unter der allfälligen Drohung mit 12  M  aravelias beschreibt mit diesen Begriff a) die Ausdehnung von Management als ideologisches Konstrukt und praktische Anforderung in alle Bereiche des Alltagslebens, b) die Umwandlung jeder Form von Management in Selbstmanagement und c) die Idealisierung des sich selbst managenden (= organisierenden) Subjekts (ebd.: 107); vgl. auch Klikauer (2013), der die Ideologie des »Managerialismus« als funktionale Standardisierung, die mit dem Versprechen auf Individualität verknüpft wird, fasst.

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Prekarisierung und Sozialabstieg so gut wie nicht vorhanden, Selbstorganisationserfordernisse dafür aber eklatant hoch sind. Insofern die funktionale Reduktion von Subjektivität am Arbeitsplatz von den Subjekten selbst identifikatorisch aufgefangen, sozusagen überkompensiert werden muss, ist Managerialisierung13 ein »Sinnschmarotzer«, der auf den »Sinnzuschuss« der Subjekte angewiesen bleibt (Bohmann/ Lindner 2018: 232) und zugleich untergräbt, was er voraussetzt (Börner/ Oberthür/Stiegler 2018: 258), nämlich die autonome14 Handlungsfähigkeit des Subjekts. Davon ausgehend lässt sich auch die Erschöpfung als Folge der »Differenzen zwischen institutionalisierten (Autonomie-)Anforderungen, subjektiven (Autonomie-)Ansprüchen und individuellen Handlungsspielräumen« bestimmen (Petersen 2018: 49). Interessant ist besonders der Fall der oftmals als Herzstück neoliberaler Ideologie verdächtigten Selbstverwirklichung. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass Vorstellungen und Praktiken, die auf die Herstellung von Einzigartigkeit (Eberlein 2000) beziehungsweise Singularität (Reckwitz 2018) zielen, in der Gegenwartsgesellschaft eine erhebliche Bedeutung haben. Je mehr allerdings die »Kultur des (Selbst-)Unternehmerischen« auf die »Entfaltung des Humankapitals« abstellt (ebd.: 377), umso mehr muss das für das romantische Individualitätskonzept zentrale Moment des Schöpferischen oder des Experiments (Eberlein 2000: 42f.) der Kalkulation von Marktchancen weichen und wird die »authentische« Beziehung des Subjekts zu sich selbst auf ihre Markttauglichkeit zugeschnitten. Nicht das »Unfertige, Spontane und Kreative« (Reichardt 2014: 101) steht in der gegenwärtigen Selbstoptimierungskultur – anders als in ihren alternativbewegten Vorläufern – also auf dem Programm, sondern Perfektionierung, Planung und Produktivität. Darin ist zwar auch ein Glücksversprechen impliziert, das eng mit der Idee von Authentizität verknüpft zu sein scheint. Doch wendet sich dieses gerade nicht gegen »die konformistische Unterdrückung der menschlichen Natur durch kapitalistisches Nützlichkeitsdenken« (ebd.: 219), sondern ist, im Gegenteil, »fully integrated into corporate cultures« (Ceder­ström 2019: 89) und insofern vom kapitalistischen Nützlichkeitsdenken ununterscheidbar geworfen (was nicht bedeutet, dass es von Seiten der Subjekte nicht »affirmativ in Eigenmotivation 13  Hier verstanden als praktische Umsetzung der Autonomie der Selbstorganisation. 14  J edenfalls sofern man Autonomie, wie ich es hier vorschlage, als Zusammenspiel von Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstorganisation versteht.

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umgedeutet« werden kann (Schreiber et al. 2015: 27)). Ähnlich wie sich die Idee der kollektiven Selbstverwaltung im Übergang zum Postfordismus in die Praxis marktkompatibler Selbstorganisation transformierte, musste also auch die einst emanzipatorisch gemeinte Norm der Selbstverwirklichung erst marktkonform in Selbstoptimierung umgewandelt werden, um hegemonial werden zu können. Sich selbst am Arbeitsplatz und im Privatleben marktkonform zu organisieren bedeutet aber noch in einer weiteren Hinsicht nicht, sich selbst zu »verwirklichen« oder über sich selbst zu »verfügen«: Selbstverwirklichung wie Selbstbestimmung setzen gleichermaßen eine Differenz von Subjekt und umgebenden System voraus. Genau diese Differenz – die letztlich auf die Differenz von Autonomie und Anpassung zurückverweist – wird in f lexibilisierten, entgrenzten und subjektivierten Arbeits- und Lebensverhältnissen unscharf. Gezeigt hat sich in diesem Kapitel auch, dass die im Zeichen der Selbstorganisation erfolgte Umordnung der Autonomie im neoliberal-f lexiblen Kapitalismus unter der Überschrift Resilienz begrifflich und normativ eingeholt, explizit gemacht und in konkrete soziale Praktiken übersetzt wird. Zwar handelt es sich bei Resilienz fraglos um ein »Plastikwort« (Pörksen 1997), das nicht zuletzt dank seiner breiten bis beliebigen Anwendbarkeit auf unterschiedlichste gesellschaftliche Problembereiche erfolgreich ist. Zugleich aber impliziert Resilienz einen bestimmten Blick auf Individuum und Gesellschaft – und damit auch auf das soziale Phänomen der Erschöpfung. So wird Erschöpfung in den einschlägigen Angeboten und Diskursen rund um Resilienz zwar einerseits als reale Folge von Überlastung anerkannt. Doch andererseits wird sie als Konsequenz der mangelnden Adaption des Subjekts an seine systemischen Rahmenbedingungen und damit letztlich als Konsequenz seiner mangelnden Selbstorganisation gedeutet. Das bedeutet nicht, dass die Anforderung, ein authentisches, »ganzheitliches« Subjekt zu sein – auch und gerade im Kontext von Erwerbsarbeit – verschwunden ist. Die in Kapitel 2.4 entlang der Fallgeschichten von Maria und Angela skizzierte »leidenschaftliche Verhaftung« der Subjekte an die Erwerbsarbeit wird im Zuge der Durchsetzung der Resilienznorm womöglich sogar noch enger, wird nunmehr doch auch die Sorge um die eigene (psychische) Gesundheit – und damit ein in der Gegenwartsgesellschaft hoch relevanter Identitätsfaktor – explizit als Bedingung von Erwerbsfähigkeit und Produktivität (und damit als Bedingung der Integration in die Erwerbsarbeitsgesellschaft) aufgefasst.

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Je mehr sich Resilienz normativ durchsetzt, umso schwerer wird es für Arbeitssubjekte zukünftig werden, die Erfahrung der Erschöpfung als mögliche Exit-Option aus der (ebenso eingeforderten wie selbst mit vorangetriebenen) (Über-)Identifikation mit Erwerbsarbeit und Unternehmen zu nutzen. Zwei Einwände lassen sich hier formulieren: Erstens beruhen Zuschreibungen mangelnder Adaptionsfähigkeit oder Resilienz nach wie vor auf individualisierenden Zuschreibungen über die »Natur« des jeweiligen Subjekts, was der skizzierten System-Logik zu widersprechen scheint. Dem lässt sich entgegnen, dass Resilienzdiskurse zwar fraglos das Individuum als »Planungsbüro« adressieren, nicht aber im herkömmlichen Sinne als autonomes (also als unabhängiges, singuläres und souveränes) Handlungssubjekt. Vielmehr wird die Responsibilisierung des Subjekts von seiner Dezentrierung nicht nur f lankiert, sondern beide Prozesse bedingen einander. Wenn erschöpfte Beschäftigte aufgefordert werden, intensiver an ihrer individuellen Resilienz zu arbeiten, ist das Ziel dieser Arbeit immer die bessere Anpassung der Subjekte an die jeweiligen Systemanforderungen. Die Individualisierung der Bewältigung systemrelevanter Krisenerscheinungen und Belastungen folgt im Kontext von Resilienz somit in erster Linie einer funktionalen und weniger einer normativen Logik. Einfacher gesagt: Es geht nicht um das Subjekt – oder nur am Rande. Zweitens lässt sich einwenden, dass die skizzierte Verschiebung innerhalb der qualitativen Bestimmung von Autonomie auch weniger pessimistisch aufgefasst werden könnte, nämlich als eine Art Entgegenkommen zur weiter oben skizzierten (Kap.  3.1) Kritik des autonomen Subjekts. Und tatsächlich: Wenn das autonome Subjekt, wie unter anderem die feministische Kritik betont hat, notwendig auf einer illusionären Vorstellung von Autonomie beruht – also auf einer Vorstellung, die den eminent sozialen Charakter menschlicher Handlungsfähigkeit unterschlägt –, dann trifft diese Kritik auf die Figur des sich selbst organisierenden (und idealerweise resilienten) Subjekts möglicherweise nicht mehr zu. Denn hierbei handelt es sich gerade nicht mehr um das (fiktive) souveräne, solipsistische, (zweck-)rational handelnde Vernunftsubjekt, sondern um ein biopsychisch verletztliches Subjekt, dessen Emotionen, Beziehungen und Bedürfnisse nicht ignoriert, sondern vielmehr als systemisch relevante Ressourcen (an-) erkannt werden. Der Kritik am liberalen Subjekt- und Autonomiemodell scheint somit der Stachel gezogen zu sein. Tatsächlich macht es

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wenig Sinn, diese Kritik immer weiter vorzutragen ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass die infrage stehende Denkfigur nicht überzeitlich gültig, sondern veränderlich ist. Doch eben weil das so ist, bleibt auch (und erst recht) nach dem illusionären Charakter des autonomen, sich selbst organisierenden und resilienten Subjekts zu fragen. Alle skizzierten Autonomiekonzeptionen – die liberale, die romantische und die systemische – sind jedenfalls nicht nur in unterschiedlicher Weise funktional für die f lexibel-kapitalistische Gouvernementalität, sondern auch in je spezifischer Weise illusionär. Dabei besteht – wie die Diskussion bis hierher gezeigt hat – die Autonomie-Illusion im Kontext von Selbstorganisation und Resilienz jedoch offensichtlich nicht in der Unterstellung einer vorsozialen Souveränität oder Authentizität des Subjekts (wie im Falle der liberalen und romantischen Autonomie), sondern im konzeptionellen Ununterscheidbarwerden von Autonomie und Anpassung (was im folgenden Kapitel weiter untersucht wird). Zusammengefasst: Insofern Selbstorganisation im f lexiblen Krisenkapitalismus zur hegemonialen Autonomie-Anforderung geworden ist, ist Resilienz das dazu passende Leitbild – und zugleich ein machtvoller Motor der Dekonf liktualisierung der Erschöpfung. Allerdings ist der Vorgang mit der von Boltanski/Chiapello beschriebenen Vereinnahmung der Post-68er-»Künstlerkritik« aus zwei Gründen kaum vergleichbar. Denn anders die Künstlerkritik, die ihre Legitimität aus den vielfältigen sozialen Kämpfen und Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre bezog, hat die Erschöpfung keine soziale Bewegung initiiert und kaum zu einer nennenswerten Artikulation von Gesellschaftskritik geführt (von eher ungefährlichen Versuchen wie der Anti-Stress-Initiative der IG Metall abgesehen). Zudem haben wir es weniger mit einer Vereinnahmung, als vielmehr mit einer Monopolisierung von Autonomie zu tun, in der die Vielfalt der Autonomieoptionen zugunsten einer bestimmten Logik von Autonomie, der Autonomie der Selbstorganisation, reduziert wird (vgl. Tiqqun 2007: 122). Wie in Kapitel  2 ausgeführt, lässt sich die Sprache der Erschöpfung potenziell für arbeitskritische Mobilisierungen nutzen. Dieses konf liktive Potenzial des uneindeutigen Phänomens der Erschöpfung hat freilich auch eine – wiederum doppelte – Kehrseite: Vor dem Hintergrund der umfassenden Therapeutisierung des Sozialen (Kap.  2.3) läuft eine Arbeitskritik, die sich auf arbeitsbedingtes psychisches Leiden stützt, Gefahr, andere Begründungen von Kritik und Konf likt (etwa solche, die im Namen der Verteilungsgerechtigkeit oder auch

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im Namen eines »Rechts auf Faulheit« (Lafargue [1880] 2018), das keinen gesundheitlichen Mehrwert verspricht, erhoben werden) implizit zu delegitimieren. Darüber hinaus lässt sich der Spieß auch umdrehen: Gerade weil die psychische Verletzlichkeit des zeitgenössischen Arbeitssubjekts so groß ist, muss es für seine Resilienz sorgen. Auf diese Weise wird im Zeichen von Resilienz nicht nur das Management der aus den f lexibel-kapitalistischen Produktivitätsanforderungen potenziell resultierenden Überlastung explizit in den Anforderungskatalog zeitgenössischer Arbeitssubjektivität eingeschrieben, sondern dem sozialen Phänomen der Erschöpfung zugleich der potenziell kritische Stachel gezogen.

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4. Homo resiliensis: Vom Glück, allzeit gewappnet zu sein Wie im vorherigen Kapitel gezeigt, verspricht das Konzept der Resilienz die aus dem Leben im f lexiblen Kapitalismus resultierenden Verschleißerscheinungen im Subjekt selbst bearbeitbar zu machen. Zugleich schreibt Resilienz über den Umweg der Aufforderung, sich an riskante und unsichere »Umweltbedingungen« f lexibel anzupassen, die Norm der effizienten Selbstorganisation ins Subjekt ein. Resilienz stellt sich somit als passgenaues Angebot der Bearbeitung der Erschöpfung dar: Die Verantwortung für die psychische Belastung des Subjekts wird in die Frage nach seiner Belastbarkeit übersetzt und auf diese Weise an das Subjekt zurückdelegiert. So kommt es, wie ebenfalls in Kapitel 3 deutlich wurde, zu einer paradoxen Gleichzeitigkeit: Das (potenziell) erschöpfte Subjekt des f lexiblen Kapitalismus wird einerseits als privilegierter Ort der Herstellung von Resilienz, andererseits als »Systemsubjekt« adressiert, also als eine Instanz, die (nur) insofern autonom ist, als ihre Autonomie Bedingung und Bestandteil des Systems (der Organisation/des Unternehmens) ist. Zu klären bleibt, wie Resilienz als nicht nur organisationales, sondern auch explizit normatives Subjektprogramm konzeptionell ausbuchstabiert wird, inwiefern es an bereits etablierte Programme anschließt oder gerade nicht. Es stellt sich also die Frage nach der »Natur« des Homo resiliensis als sich gegenwärtig formierendes neues Leitbild von Subjektivität. Auf der Suche nach Antworten auf diese Frage werde ich im Folgenden zunächst zwei zentrale konzeptionelle Bausteine subjektbezogener Resilienz, nämlich Selbstregulation und Selbstwirksamkeit vorstellen (4.1). Resilienz als Subjektprogramm baut zentral auf der Annahme auf, dass Resilienz zwar lebenslang erlernbar ist, Grundlagen dafür vor allem aber in der Kindheit gelegt werden, weshalb die Subjektfigur des »resilienten Kindes« im pädagogischen Diskurs genauer betrachtet wird (4.2). Weiterhin soll Resilienz nicht nur Sub-

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jekte in unsicheren Zeiten stärken, sondern impliziert auch ein spezifisches Glücksversprechen, was entlang des psychologischen Konstrukts vom »posttraumatischen Wachstum« nachgezeichnet wird (4.3), bevor schließlich die Frage nach dem Neuigkeitswert des Homo resiliensis im Vergleich zu dem für neoliberale Gouvernementalität zentralen Leitbild des »unternehmerischen Selbst« gestellt wird (4.4) und abschließend die verschiedenen Fäden zusammengebunden und auf die Frage nach dem normativen Kern von Resilienz als Subjektprogramm zurückgeführt werden (4.5).

4.1 Sich selbst durch stürmische Zeiten steuern Emotionssteuerung, Impulskontrolle, Fehleranalyse, Zielorientierung, Selbstwirksamkeitsüberzeugung, realistischer Optimismus und Empathie – aus diesen sieben »Säulen« setzt sich das inzwischen vielfach kopierte und variierte Resilienzmodell des Autorenduos Karen Reivich und Andrew Shatté (Reivich/Shatté 2003) zusammen. Zugleich liefert es die Grundlage für den Resilience Factor Inventory (RFI)1, einen 60 Punkte umfassenden Fragebogen, mit dessen Hilfe sich der individuelle »Resilienz-Quotient« (RQ) ermitteln lässt und der seinen Nutzer*innen darüber hinaus verspricht, ihre nicht-resilienten Gedanken und Verhaltensweisen zu identifizieren (vgl. Jackson/Watkin 2004: 14). In Deutschland kam der RFI in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Einsatz, bei der vor dem Hintergrund alarmierender Burnout-Zahlen die Resilienz von mehr als 500 Mitarbeiter*innen und Führungskräften aus deutschen Unternehmen überprüft wurde. Das zentrale Ergebnis der Studie lautet – nicht ganz überraschend –, dass mehr Resilienz ein niedrigeres Burn-out-Risiko bedeutet (Mourlane et al. 2013: 11); die Resilienz der Mitarbeiter werde darüber hinaus wesentlich durch das Verhalten der Führungskräfte beeinf lusst. Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass Führungskräfte »über einen hoch-signifikant höheren RQ als Mitarbeiter« verfügen (ebd.: 9). Dabei sei allerdings nicht geklärt, ob der höhere RQ ein implizites Auswahlkriterium für Führungskräfte darstellt oder ob die Arbeit als Führungskraft den RQ verbessert. In jedem Fall sei auf Basis der Studienergebnisse so1  V  gl. http://rfi.adaptivlearning.com/ccs_survey/registrationnew6add.asp?survey_id​ =​11 (01.04.2019).

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wohl die Integration von Resilienztrainings für Mitarbeiter*innen in Programme des betrieblichen Gesundheitsmanagements zu empfehlen, als auch die Überprüfung des RQ bei der Auswahl von Führungskräften. Interessant ist zudem das Ergebnis, dass nur sechs der sieben Resilienzfaktoren einen messbar positiven Einf luss auf die psychische Gesundheit von Führungspersonal und Mitarbeiter*innen haben: Der »Resilienzfaktor Empathie« könne »nicht als protektiver Faktor gegen das Auftreten von Burn-out angesehen werden« (ebd.: 11) – ich komme später noch einmal auf diesen Punkt zurück (S. 149). Vier der abgefragten sieben Resilienzfaktoren wiederum – Emotionssteuerung, Impulskontrolle, Fehleranalyse und Zielorientierung – verweisen direkt auf das maßgeblich von dem kanadischen Psychologen Albert Bandura entwickelte Konzept der Selbstregulation (Bandura 1991), welches seinerseits eng mit dem fünften Faktor, der Selbstwirksamkeitsüberzeugung (Bandura 1995), zusammenhängt, das wiederum Optimismus (und damit den sechsten Resilienzfaktor) einschließt. Anders gesagt: Resilienz umfasst, gemäß dem Modell von Reivich/Shatté, Selbstregulation und Selbstwirksamkeit plus Empathie als optionaler Zusatz. Was aber ist mit Selbstregulation und Selbstwirksamkeit in diesem Zusammenhang gemeint? Bandura zufolge lässt sich Selbstregulation als dreistufiger Prozess aus Selbstbeobachtung, Selbstbewertung und Selbstreaktion verstehen. Dabei registriert das Subjekt in einer gegebenen Situation zunächst möglichst wertungsfrei die eigenen Gefühle und Gedanken und überprüft diese sodann entlang der je eigenen Zielvorstellungen. Daran anschließend wird das eigene Verhalten, Denken und Fühlen neu so ausgerichtet, dass die Zielerreichung wahrscheinlicher wird. Auch wenn es in der inzwischen überaus umfangreichen psychologischen und gesundheitswissenschaftlichen Selbstregulationsforschung vielfach modifiziert und erweitert worden ist (vgl. Kring/Sloan 2010; de Ridder/de Wit 2006), gilt Banduras Modell immer noch als grundlegend. Sein Konzept der Selbstregulation basiert (analog zu ähnlich gelagerten Begriffen wie Selbststeuerung oder Selbstmanagement) im Kern auf der doppelten Annahme, dass Subjekte erstens dazu in der Lage sind, ihre Gefühle und Gedanken als relativ unabhängige Elemente ihres Selbst wahrzunehmen und zweitens dazu, diese situativ variabel so zu verändern, dass sie zieladäquates Verhalten erzeugen. Gefühle und Gedanken fungieren in diesem Modell gewissermaßen als Indikatoren, die, analog zu Hayeks Preismechanismus (s. S. 89) die

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Notwendigkeit der Neuausrichtung des Subjekts im Hinblick auf seine selbst gesetzten »Zielvorgaben« anzeigen, die ihrerseits nicht fix sind, sondern im Zuge erfolgreicher Selbstregulation anspruchsvoller werden können. In neueren Ansätzen wird Selbstregulation zunehmend als multifaktorielles, also auch neurobiologisches und genetisches Phänomen gefasst (Strauman 2017), zugleich scheint auch die Reichweite des Konzepts grenzenlos geworden zu sein. So gilt die Fähigkeit zur Selbstregulation längst nicht mehr nur als Bedingung einer gelingenden Alltagsgestaltung, sondern eine defizitäre Selbstregulation auch als mögliche Ursache von Depressionen, aber auch von Schizophrenie oder Autismus (ebd.: 500f.) sowie von Suchterkrankungen, Kriminalität und vielem mehr (vgl. Gross 1998, Vohs/Baumeister 2018). Zentral hängt eine erfolgreiche Selbstregulation gemäß Walter Mischels berühmtem Marshmallow-Experiment2 nicht nur von der individuellen Fähigkeit zum »Belohnungsaufschub« ab (Mischel 2014), sondern vor allem von den Selbstwirksamkeitserwartungen des Subjekts und damit vom Vertrauen in »one’s capabilities to organize and execute the courses of action required to manage prospective situations« (Bandura 1995: 2). Selbstwirksamkeitserwartungen wiederum resultieren aus »mastery experiences«, bei denen das Subjekt die Erfahrung gemacht hat, anspruchsvolle und schwierige Herausforderungen erfolgreich bewältigen zu können (ebd.: 3). Weitere Faktoren, die Selbstwirksamkeitserfahrungen begünstigen, sind soziale Vorbilder, positive Bestärkung durch andere sowie die Abwesenheit von Stress und negativen emotionalen Reaktionen. Auf eine realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten kommt es dabei hingegen nicht unbedingt an: Allzu realistische Menschen, so Bandura, neigten dazu, bei schwierigen Aufgaben vorzeitig aufzugeben, weshalb ein »optimistic sense of personal efficacy« für eine erfolgreiche Lebensführung hilfreich sei (ebd.: 11f.). Zwar ist man sich in Bezug auf die Frage, ob die »Kontrollillusion« (Langer 1975) eher nützt oder schadet, in der einschlägigen psychologischen Literatur durchaus uneinig; Konsens ist aber, dass eine optimistische nicht mit übertriebener Selbstüberschätzung gleichzusetzen ist (vgl. Liening 2017: 46ff.) – und dass andererseits eine maßvolle Selbstüberschätzung durchaus nützlich sein kann, zumal unter Bedingungen, die für Optimismus wenig Anlass geben.

2  Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=Y7kjsb7iyms (01.04.2019).

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So entstehen stabile Selbstwirksamkeitserwartungen, wiederum Bandura zufolge, nicht nur relativ unabhängig von den tatsächlichen subjektiven Kontrollmöglichkeiten, sondern auch unabhängig von den objektiven Lebensumständen. Armut beispielsweise stelle erst dann ein Problem für die Beziehung von Eltern und Kindern dar, wenn die ökonomischen Beschränkungen die elterliche Selbstwirksamkeitserwartung schwächen (Bandura 1995: 15). Davon ausgehend lautet Banduras Ratschlag an betroffene Eltern, sie sollten sich wechselseitig darin unterstützen, den Glauben an ihre Fähigkeiten zur Kindererziehung auch unter den Bedingungen von Armut nicht zu verlieren. Insofern erst die wiederholte Bewältigung schwieriger Situationen dazu beiträgt, Selbstwirksamkeit auszubilden, scheint ein allzu leichtes Leben generell nicht sonderlich wünschenswert zu sein: »By sticking it out through tough times, [people] emerge stronger from adversity.« (Ebd.: 3; vgl. Cyrulnik 2001) Selbstwirksamkeit ist gemäß dieser Perspektive also eine zentrale (individuelle wie kollektive) psychologische Ressource zur Bewältigung von Krisenerfahrungen, die zugleich ohne Krisenerfahrung nicht ausgebildet werden kann: Ohne Krise keine Selbstwirksamkeit, ohne Selbstwirksamkeit kein handlungsfähiges Subjekt, zumal in einer Welt, die als grundlegend krisenhaft begriffen wird (worauf ich gleich zurückkomme). Im Rückgriff auf Kapitel  3 stellt sich die Frage, wo sich in dieser Konstellation das autonome Subjekt befindet: Wie hängen Autonomie und Selbstregulation beziehungsweise Selbstwirksamkeit konkret zusammen? Auf der Suche nach einer Antwort ist zunächst festzustellen, dass es sich ganz offensichtlich nicht um eine Frage handelt, die die Psychologie der Selbstregulation großf lächig umtreibt. Explizit taucht Autonomie nur selten in den einschlägigen Texten auf. Eine Ausnahme stellt hier der Ansatz des Medizinsoziologen Ronald Grossarth-Maticek dar, der die Fähigkeit zur Selbstregulation als wesentlichen Bestandteil personaler Autonomie begreift und eigens ein »Autonomietraining« entwickelt hat (Grossarth-Maticek 2000). Autonomie liefert seinem Konzept zufolge nicht nur die Voraussetzung für die Entwicklung von »Wohlbefinden, Lust und Sicherheit«, die wiederum die »Basis für langfristige Persönlichkeitsentwicklung und Reifung« bilden (ebd.: 5), sondern soll auch Krebserkrankungen positiv beeinf lussen. Grossarth-Maticek zufolge handelt es sich bei Autonomie zentral um die Fähigkeit, Wohlbefinden durch Eigenaktivität herzustellen (ebd.: XIX). Grundlage dieses Autonomiebegriffs ist ein spezifisches Menschenbild:

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»Der Mensch ist kein statisches Wesen, sondern befindet sich in permanenter Veränderung. Je nach Zustand seines Systems benötigt er unterschiedliche Reize und Bedingungen für seine Bedürfnisbefriedigung. Der Mensch hat die Fähigkeit, unterschiedliche Wirkungsfaktoren aus verschiedenen Bereichen durch bestimmte Steuerungsfaktoren zu ordnen und in ihrer Wirkung auf ein bestimmtes Ziel zu lenken.« (Grossarth-Maticek 2000: 17) Wie unschwer zu erkennen ist, wird Autonomie hier mit der Fähigkeit zur adaptiven Selbstregulation gleichgesetzt (vgl. Kap. 3.4). Dabei sieht sich »der Mensch« Einf lüssen aus unterschiedlichen »Bereichen« ausgesetzt und kann diese in bestimmter Weise (um-)lenken. Zugleich ist er selbst »System« und als solches einerseits relativ geschlossen, andererseits auf Außeneinf lüsse angewiesen. In diesem Modell stellt Autonomie also ebenso eine konstitutive Systemeigenschaft dar, wie sie andererseits mit einer spezifischen Aktivität, der Selbstregulation, zusammenfällt. Für Grossarth-Maticek, der bereits im Morgengrauen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik dem Leitbild des eigenverantwortlichen Idealbürgers wissenschaftliche Weihen verlieh – »wer nichts vom Staat erwartet, lebt länger« (vgl. Schumacher 2000) – hat Selbstregulation darüber hinaus eine eminent gesellschaftspolitische Relevanz: Soziale Systeme könnten durch die Verbesserung der Selbstregulation ihrer Mitglieder positiv beeinf lusst werden (ebd.: 145). Namentlich die westlichen Industriegesellschaften könnten sich auf diese Weise zu einer »vorbildhaften Weltkultur weiterentwickeln« (ebd.: 146), was allerdings voraussetze, dass das »Wiederauf leben sozialistischer Ideologien« verhindert werde (ebd.). Auch Bandura versteht Selbstregulation und Selbstwirksamkeit nicht nur als individualpsychologische, sondern auch als gesellschaftspolitische Desiderate. Tiefgreifende globale Veränderungen wie Ressourcenknappheit, Umweltzerstörung und Überbevölkerung könnten nur mit kollektiven Anstrengungen bezwungen werden (Bandura 1995: 37). Damit die Herausforderungen der Gegenwart bewältigt werden, müssen sich Bandura zufolge individuelle Selbstwirksamkeitserwartungen zu kollektiven aggregieren. Dabei kommt es auch auf kollektiver Ebene vor allem auf die inneren Bedingungen an, nicht auf die äußeren: »The psychological barriers created by beliefs of collective powerlessness are more demoralizing and debilitating than are external impediments.« (Ebd.: 38) Selbstregulation lässt

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sich zusammengefasst als Fähigkeit des Subjekts beschreiben, seine Handlungen, Emotionen und Gedanken ziel- und lösungsorientiert »umzuorganisieren«. Es handelt sich somit um eine spezifische Form der f lexiblen Kontrolle und Steuerung des Subjekts durch das Subjekt selbst, wobei und wofür es lernen muss, sich selbst als komplexes System in Auseinandersetzung mit ebenso komplexen (und tendenziell krisenförmigen) Umweltbedingungen zu begreifen. Insofern Selbstregulation mit Autonomie gleichgesetzt wird, wird autonomes Handeln vorrangig als Steuerung der eigenen Gefühle und Gedanken in Anpassung an veränderliche Umweltbedingungen aufgefasst. Dieser Prozess erfordert wiederum eine bestimmte mentale Verfasstheit des Subjekts: Es muss vom Gelingen seiner Selbstregulierungsaktivitäten überzeugt sein, um sie erfolgreich durchführen zu können. Selbstwirksamkeit als Überzeugung, die je eigenen Ziele auch tatsächlich zu erreichen, ist demnach das mentale Pendant zur Selbstregulation als praktische Form der Bearbeitung des Selbst. Darin impliziert ist wiederum eine spezifische Beziehung zum Außen oder zur Welt, insofern diese qua »mastery experiences« einerseits die für die Ausbildung von Selbstwirksamkeit und Selbstregulation notwendigen Hindernisse und Herausforderungen liefert, anderseits selbst immer nur vermittelt, also über die zu regulierende subjektive Wahrnehmung relevant wird. Insofern Selbstregulation und Selbstwirksamkeit, wie oben erläutert, als zentrale »Säulen« von Resilienz im Sinne der Fähigkeit »to solve the problems in your life and to meet the challenges that confront you« (Reivich/Shatté 2003: 22) gelten, stellt sich Resilienz somit einerseits als eine Art Realitätsprogramm, andererseits als ein Modus der Derealisierung dar. Realitätsprogramm ist es, insofern es nicht um Ideale, Utopien oder Ideologien geht, sondern um »echte« Probleme, die das Subjekt praktisch bewältigen muss. Andererseits soll es seine eigenen Einf lussmöglichkeiten auf die Umstände des eigenen Lebens aber auch dann nicht als gering einschätzen, wenn sie de facto gering sind. Vielmehr ist hier eine moderate Selbstüberschätzung gefragt. Dabei handelt es sich freilich um eine »sanfte« Derealisierung, nicht etwa um eine ideologische Verkennung (Althusser 1977), bei der das Subjekt meint, autonom zu handeln, während es sich in Wirklichkeit gerade dadurch der Macht (Autorität, Wahrheit, Norm) unterwirft (Charim 2002). Der Glaube, um den es hier geht, verkennt nicht, sondern löst die Differenz zwischen erkennen und verkennen auf: Weil es am Ende nicht darauf ankommt, wie die Dinge wirklich sind, sondern

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darauf, sie maximal effektiv zu bearbeiten, stelle ich mir die Welt so vor, wie es in der jeweils konkreten Situation für mich am nützlichsten ist. Und dies gilt auch für die Vorstellung vom eigenen Selbst.

4.2 Im Stahlbad des Lebens – resiliente Kindheiten Wie schon mehrfach erwähnt, macht es wenig Sinn, von Resilienz zu sprechen, wo alles in Ordnung ist und störungsfrei abläuft. Subjektbezogene Resilienzforschung interessiert sich deshalb vorrangig für pädagogische und psychologische Konstellationen, die das Subjekt nachhaltig erschüttern und seine Handlungsfähigkeit substanziell gefährden – und damit schon seit Werners/Smiths Pionierarbeit (Werner/ Smith 1989; vgl. S. 19) besonders für den Zusammenhang von Sozialisation und Resilienz. Grundannahme hierbei ist, dass sich resiliente Kinder bereits in sehr jungen Jahren erkennbar von ihren nicht-resilienten Altersgenoss*innen unterscheiden: Sie sind ausgeglichener, fröhlicher, intelligenter, extrovertierter und selbstbewusster. Entsprechend übersteht ein resilientes Kind etwa familiäre Gewalt, Armut, Scheidung der Eltern, Naturkatastrophen oder auch Krieg, ohne nachhaltige Beeinträchtigungen zu erleiden (Friedrich 2012). Resilienz im pädagogischen Kontext ist somit zunächst ein negatives Konzept; es geht in erster Linie darum, wie kindliche Subjekte die Abwesenheit entwicklungsförderlicher und protektiver Rahmenbedingungen bewältigen, um davon ausgehend dann die je individuellen Ressourcen oder Schutzfaktoren des Kindes freizulegen und zu fördern. Aus den dabei gewonnen Erkenntnissen wiederum lassen sich sodann resilienzfördernde Maßnahmen für alle Kinder ableiten (Wieland 2011: 181). Mit der Konjunktur des Resilienzkonzeptes in der Pädagogik geht, so die vielfach wiederholte Annahme, eine »dezidierte Abkehr vom ›Defizitblick‹« (Friedrich 2012) einher. Doch insofern sich Resilienz nicht trotz widriger Umstände, sondern wegen der »Herausforderungen, die diese negativen Bedingungen für die Entwicklung eines Kindes bergen«, entwickelt (ebd., Hervorh. S.G.), läuft sie am Ende, wie kritisch eingewandt wird, auf eine Betonung des »Unglücks als Bildungsprinzip« (Stamm/Halberkann 2015: 64) hinaus. Damit stehen Resilienz und Resilienzförderung unter Verdacht, die Norm der Bildungsgleichheit ad absurdum zu führen, erscheint doch im Kontext von Resilienz weniger die ungleiche Verteilung von Bildungschancen als pädagogisch

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zu lösende Aufgabe, denn vielmehr die individuell unterschiedlichen kindlichen oder jugendlichen Resilienzausstattungen (ebd.: 8). Doch nicht nur deshalb ist Resilienz aus pädagogischer Perspektive umstritten. Der Streit um das »Modewort Resilienz« (von Freyberg 2011) revitalisiert zudem die »alte Konf liktlinie […] zwischen denen, die Autonomie zum zentralen Ziel von Sozialisation erklären, und jenen, die eher eine gelungene Anpassung an bestehende soziale Strukturen und Vorgaben im Auge haben« (Wieland 2011: 201). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Zielobjekt der Resilienzförderung eher Kinder sind, die sich erfolgreich an soziale Normen und Anweisungen von Erziehungspersonen anpassen, oder solche, die sich diesen Maßstäben widersetzen. Die Frage ist keineswegs neu, wird nunmehr aber im Vokabular der Resilienz formuliert: Ist man resilient, wenn man tut, was man soll, oder gerade nicht? Norbert Wieland versucht, dieses Problem über die normative Kopplung von Resilienz an Autonomie zu lösen: Resilienzförderung solle sich »in den Dienst der Autonomiestärkung« stellen (ebd: 203). Dies könne gegebenenfalls die Toleranz gegenüber »antisozialem« kindlichem oder jugendlichem Verhalten einschließen, allerdings seien dann die Folgen des Verhaltens auf die Heranwachsenden selbst wie auf die Umwelt gegen die gewonnene Resilienz abzuwägen (ebd.). Auch Margherita Zander bemüht sich, das Problem am Beispiel der in diesem Zusammenhang gern herangezogenen Figur der Pippi Langstrumpf durch ein entschiedenes Einerseits-Andererseits zu lösen: Zwar sei Pippi fraglos ein Kind, das mit widrigen Lebensumständen erstaunlich gut zurechtkommt; andererseits jedoch sei ihr Verhalten aus pädagogischer Perspektive eher nicht unterstützenswert. Am Beispiel von Astrid Lindgrens Kunstfigur könne somit »nachvollzogen werden, dass es eine Balance zwischen der Eigenaktivität des Kindes, […] und den von außen – von der Gesellschaft – an das Kind gestellten Entwicklungsaufgaben zu erreichen gilt« (Zander 2008: 17). Beide Lösungsangebote können am Ende den konzeptionellen Knoten freilich nicht auf lösen, dass Resilienz logisch nicht zugleich als Kompetenz verstanden werden kann, soziale Anforderungen auch unter schwierigen Rahmenbedingungen zu erfüllen, wie als Kompetenz, sich diesen Anforderungen zu verweigern. Oder umgekehrt: Ist es sowohl ein Zeichen von Resilienz, gesellschaftlichen Normen zu gehorchen wie diese zu verletzen, dann ist so ziemlich alles, was Kinder und Jugendliche üblicherweise so tun, resilient (außer vielleicht eine

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offenkundige und nachhaltige Selbstschädigung). Gilt als Ausweis von Resilienz darüber hinaus ein »günstiger Entwicklungsverlauf« bei Heranwachsenden (Wieland 2011: 195), dann ist die Dimension der sozialen Anpassung dem Konzept bereits definitorisch eingeschrieben (wer definiert, was eine »günstige« Entwicklung ist?) und lässt sich auch über die Kopplung an Autonomie nicht entschärfen. Die im Resilienzkonzept implizierten »Normalitätsannahmen« stehen deshalb nicht von ungefähr unter Verdacht, »bestimmte klassen-, geschlechts- oder kulturspezifische Annahmen« beziehungsweise »normative Setzungen über ›gelungene‹ oder ›gesunde‹ beziehungsweise ›misslungene‹ oder ›entgleiste‹ Entwicklungen« (von Freyberg 2011: 223) zu untermauern. Die Figur des resilienten (also starken, robusten und selbstregulativen) Kindes kontrastiert zudem deutlich mit historisch älteren Vorstellungen vom »guten« oder »wünschenswerten« Kind. Im Rückblick auf die jüngere historische Entwicklung lassen sich grob drei Phasen kindheitsbezogener Leitbilder unterscheiden: vom »gehorsamen« Kind der 1950er und 1960er Jahre über das »freie, ungehorsame Kind«, das ab den späten 1960er und 1970er Jahren Einzug in pädagogische Diskurse hält, bis zum »vernünftigen« und (vor allem) lernwilligen Kind ab den Nullerjahren des neuen Jahrhunderts (Deckert-Peaceman/Scholz 2018). Dabei hebt sich insbesondere das letztgenannte Ideal deutlich von früheren antiautoritären Vorstellungen guter Kindheit ab. Zielte die antiautoritäre Pädagogik auf die möglichst umfassende Realisierung der kindlichen Bedürfnisse – mit allen damit verbundenen Problematiken (etwa der Unterstellung eines kindlichen Interesses an Sexualität mit Erwachsenen) – sowie auf ein Aufwachsen in möglichst repressionsfreien und »selbstregulierten« sozialen Räumen, und galten Wildheit, Unangepasstheit und Eigensinn von Kindern als Indizien einer gelungenen Kindheit, so ist das »gute, kreative und neugierige Kind« im frühen 21. Jahrhundert, ganz im Gegenteil, »ständig lern- und leistungsbereit«; es managt idealerweise professionell seine Bildungsbiografie und arbeitet systematisch an der Überwindung von Schwächen, im Zweifel mit der Unterstützung von Expert*innen (ebd.: 90). Das »ideale Kind« der Agenda-2010-Ära sorgt demnach also gewissermaßen freiwillig, wenngleich mit gezielter pädagogischer Unterstützung, für die Vermehrung seines Humankapitals, und es ist tendenziell eher weiblich, insofern dem Idealbild des vernünftigen Kindes eher traditionelles Mädchen- als Jungenverhalten entspricht.

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Interessanterweise spielt in beiden Modellen guten Kindseins, dem älteren antiautoritären wie dem neueren leistungsorientierten Modell der Begriff der Selbstregulation eine zentrale Rolle – allerdings in äußerst unterschiedener Bedeutung. Verstand man unter kindlicher Selbstregulation in den 1970er Jahren, dass die Gestaltung aller erziehungsrelevanten Bereiche (Ernährung, Schlaf, Sauberkeit, Spielen etc.) vor allem von den Kindern selbst untereinander kollektiv ausgehandelt werden sollte, sowie, dass die von Erwachsenen möglichst wenig normierten kindlichen Bedürfnisse maximal berücksichtigt werden (Reichardt 2014: 721), so geht es im fortgeschrittenen Neoliberalismus darum, dass das Kind als individuelles Subjekt lernt, sich im Sinne des oben skizzierten Vernunft- und Leistungsideals selbst zu regulieren (Deckert-Peaceman/Scholz 2018: 93). Analog zur Unterscheidung von Selbstverwaltung als kollektiver Prozess, der normativ auf die Emanzipation einer sozialen Gruppe zielt, und Selbstorganisation als Handlungserfordernis in verselbstständigten Systemlogiken (vgl. S. 86) hat sich folglich auch die Vorstellung kindlicher Selbstregulation fundamental gewandelt: Während das ältere Modell auf die »Freisetzung und Ausbildung kollektiver Bedürfnisse und Interessen zielt« (ebd.: 110), ist kindliche Selbstregulation in der Gegenwart zu einer psychologischen Kulturtechnik der Rationalisierung und ökonomischen Steuerung der je eigenen Gefühle und Handlungsorientierungen geworden. Dabei verschwindet das ältere Ideal des »freien« Kindes jedoch nicht, sondern wird in die neue Leitfigur eingearbeitet; im 21. Jahrhundert sollen Kinder idealerweise lernen, sich selbst als Gegenstand selbstregulativer Optimierung zu begreifen und dabei möglichst viel Spaß haben, sollen ihren Bedürfnissen folgen und die Anforderungen der Erwachsenenwelt erfüllen. Oder anders gesagt: Analog zu subjektiviert Arbeitenden im f lexiblen Kapitalismus sollen sie sich als Humankapital selbst regulieren – und das Ganze als lustvolle Verwirklichung ihrer Persönlichkeit erleben. Nicht zuletzt lässt sich die elterliche und erzieherische Sorge um die ebenso kindgerechte wie strategisch zu optimierende Kindheit auch als Reaktion auf die seit den 198oer Jahren multiplizierten Risikodiagnosen lesen (Baader 2014: 442): Wer in der »Risikogesellschaft« (Beck 1986) nachhaltig sozial erfolgreich sein will, muss nicht nur dazu in der Lage sein, auf wechselnde Anforderungen maximal ref lexiv und f lexibel zu reagieren, sondern auch dazu, sein Selbst den jeweils anstehenden Herausforderungen gemäß zu modulieren – und dies zu lernen kann im Lebenslauf nicht früh genug angesetzt werden.

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Entsprechend gelten spätestens seit dem »PISA-Schock« unzureichend geförderte Kinder aus sozialpolitischer Perspektive als bedeutsamer Verlust von Humankapital und damit als erhebliches gesellschaftliches Risiko; die Investition in das Bildungskapital von Kindern durch »early intervention« wird dementsprechend zu einem zentralen programmatischen Meilenstein des aktivierenden Wohlfahrtsstaates (Hendrick 2014: 470, Hervorh. i. O.).3 Was heißt das nun für die in jüngerer Zeit pädagogisch an Bedeutung gewinnende Vorstellung vom resilienten kindlichen Subjekt? Zwei Interpretationen sind denkbar: erstens, dass das resiliente Kind eine Weiterentwicklung des »vernünftigen«, das heißt lernbegierigen und sich im Sinne der Erfüllung von Leistungsanforderungen erfolgreich selbst regulierenden Kindes darstellt. Andererseits könnte das resiliente Kind auch eine Art Ergänzungsmodell sein – in dem Sinne, dass Resilienz vor allem jene Kinder brauchen, die erst einmal wenig Aussichten darauf haben, Leistungsanforderungen mit Spaß und die Befriedigung kindlicher Bedürfnisse mit Lernerfolgen verbinden zu können. Und auch eine Verbindung beider Optionen ist denkbar: das resiliente Kind als Ergänzung und Weiterentwicklung des vernünftigen, selbstregulativen und ökonomisch vielversprechenden Kindes. Für die letztgenannte Deutung spricht exemplarisch ein auf drei Jahre angelegtes wissenschaftliches Modellprojekt zur Resilienzförderung bei Roma-Kindern, von dem Margherita Zander und Martin Roemer berichten (Zander/Roemer 2016; vgl. Amaro Kher 2012). Die Autor*innen betonen den im Zeichen von Resilienz erfolgenden »Paradigmenwechsel im Menschenbild«: Pädagog*innen nähmen nunmehr »wie mit einer neuen Brille plötzlich nicht mehr nur Probleme und Defizite, sondern vor allem Potenziale und Möglichkeiten der zu fördernden Person und ihres Umfeldes« wahr (ebd.: 70). Prädestiniert für die Resilienzförderung seien die Roma-Kinder, weil diese als »Hoch-Risiko-Kinder« (ebd.: 61) mit Lebensbedingungen konfrontiert sind, die »von Unterbringung in Sammelunterkünften, chronischer Armut sowie Erfahrung von Flucht und Diskriminierung geprägt« sind (ebd.: 63). Und auch wenn der Förderungsprozess bei einigen Kindern durch Abschiebung oder erzwungenes Untertauchen der Familie »abrupt gekappt« worden sei (ebd.: 61), sei das Projekt insgesamt erfolgreich ge3  N  icht zuletzt sollen sich mit dem »Erfolgsfaktor« Resilienz bessere PISA-Ergebnisse erzielen lassen (OECD 2018).

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wesen. Konkret ging es darum, die Kinder darin zu unterstützen, eine sichere Bindung zu verlässlichen Bezugspersonen herzustellen, ihre schulische Leistungsfähigkeit zu verbessern, harmonischere Kontakte zu Gleichaltrigen auf- sowie individuelle Fähigkeiten und Neigungen auszubauen, soziale Kompetenzen und Problemlösefähigkeiten und schließlich mehr Selbstvertrauen zu entwickeln. Dabei handelt es sich offenkundig um Ziele, die »allgemein anerkannte pädagogische Prinzipien« (ebd.: 64) darstellen, sodass sich hier zunächst die Frage nach der Spezifik des Resilienzansatzes stellt. Tatsächlich scheint diese vor allem in der Perspektive auf die Objekte der pädagogischen Arbeit zu liegen. Jedenfalls legt das die Beschreibung des von den Autor*innen »Goliat« genannten Falls nahe. Goliat ist ein Roma-Junge, der zu Beginn der Projektlaufzeit durch sein besonders aggressives Verhalten auffiel, was seitens der Projektleitung als relevantes Hindernis für die Ausbildung individueller Resilienz gedeutet wurde. Entsprechend sei man pädagogisch bestrebt gewesen, »den Jungen in seinen Fähigkeiten und Neigungen zu stärken, gleichzeitig aber auch […], [sein] überschießendes männliches Imponiergehabe einzudämmen und seinen Verhaltensweisen einige eher weibliche Komponenten hinzuzufügen, damit er sein deutlich sichtbares Resilienzpotenzial besser ausschöpfen kann« (ebd.: 68). Goliat erscheint in dieser Beschreibung nicht nur aufgrund der vielfältigen sozialen Benachteiligung als ideales Objekt der Resilienzförderung, sondern zugleich als Ensemble unterschiedlicher Ressourcen und Kompetenzen, von denen einige unterstützt, andere gegen angemessenere ausgetauscht werden müssen – und ausgetauscht werden können. Dabei wird, im Sinne des Idealbilds vom »vernünftigen Kind«, sein aggressiv »männliches« Verhalten durch typisch »weibliche«, das heißt hier: sozial verträglichere Verhaltensmodule ersetzt. Das ideale kindliche Subjekt der Resilienz stellt sich hier also einerseits als Hochrisiko-Subjekt dar, das andererseits, insofern es als dividualisiertes Kompetenzbündel (s. S. 104) verstanden wird, partiell in der Lage ist, sich an die vorherrschenden Verhaltensstandards jener Gesellschaft anzupassen, in der es zugleich qua Herkunft nicht nur abstrakt, sondern sehr konkret von Abschiebung, Exklusion, Diskriminierung und Armut bedroht wird. Die letztgenannte Konstellation ist allerdings gerade nicht Gegenstand der pädagogischen Problematisierung. Stattdessen zielt die Resilienzförderung darauf ab, unter den gegebenen Bedingungen (und im Sinne des Idealbilds vom vernünftigen Kind aus liberal bürgerlichem Milieu)

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das Maximum aus Goliat herauszuholen. Zwar wollen die Autor*innen ihre Arbeit ausdrücklich als Sekundärprävention verstanden wissen, die nicht als Legitimation des Versagens »der Politik« herhalten soll. Jedoch bleibt systematisch unklar, worin dieses Versagen eigentlich besteht und wie die Verbindung zwischen beiden Ebenen – Resilienz und Exklusion – beschaffen ist, wie also die objektive Bedrohung der Lebenssituation des Kindes mit dem Bestreben, aus ihm ein psychisch robustes, sozial kompatibles, lernfreudiges und anpassungsbereites Kind zu formen, pädagogisch-konzeptionell vermittelt ist. Eine Auseinandersetzung oder gar Kritik von institutionalisiertem und alltäglichem Rassismus haben im Konzept der Resilienzförderung, wie es hier vorgestellt wird, offenbar keinen Platz. Stattdessen betonen die Autor*innen, dass es im Kontext von Resilienz nicht nur um die Bearbeitung vorhersehbarer oder »normativer« Entwicklungskrisen (also Adoleszenz, Ablösung vom Elternhaus etc.), sondern auch und vor allem um »nicht-normative« Risiken geht, also um Belastungen, die das üblicherweise erwartbare Maß übersteigen. Nicht-normative Risiken können z.B. eine chronische Krankheit oder schwere Behinderung, Trennung der Eltern, Gewalt in der Familie, aber auch ein »ungünstiger Charakter«, soziale Ausgrenzung, Diskriminierungserfahrung, Flucht, Krieg und Vertreibung sein (ebd.: 52).. Auch in dieser Beschreibung ist, genau genommen, bereits das Ideal vom vernünftigen Bildungsbürgerkind eingelassen. Denn für Goliat und die anderen Roma-Kinder ist soziale Ausgrenzung durchaus »erwartbar«, wenn auch nicht erwünscht. Der Unterschied zwischen Schicksalsschlägen, als ungünstig angesehenen individuellen Dispositionen und struktureller Ungleichheit wird in der gleichförmigen Subsumtion unter die Kategorie »nicht-normative Risiken« nichtsdestotrotz abgedunkelt. Und wenn darüber hinaus die »ebenso logische wie verblüffende Entsprechung« konstatiert wird, dass Resilienzförderung genau dort Lücken schließe, »wo arme Kinder deutlichen Mangel zu kompensieren haben« (ebd.: 70), wird die Frage nach den strukturellen Rahmenbedingungen noch einen Schritt weiter ins Unsichtbare verschoben. Dass arme oder von strukturellem Rassismus betroffene Kinder nicht allein Träger von Risiken und Potenzialen, sondern ebenso Träger von unveräußerbaren (Menschen-)Rechten sind, tritt zudem gänzlich in den Hintergrund der pädagogischen Problemwahrnehmung (vgl. Hendrick 2014: 475).

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Resilienz in der pädagogischen Praxis scheint somit eine ähnliche Funktion zuzukommen, wie dem äußerst erfolgreichen theoretischen (und anschlussfähigen) Konzept der »agency« (oder Handlungsfähigkeit) in der kindheitsbezogenen Forschung (Betz/Eßer 2016), bei dem es darum geht, Kinder als ebenso eigenständige wie eigensinnige Akteure, die aktiv an der Gestaltung ihrer Lebenswelt wie der Gesellschaft insgesamt mitwirken, sichtbar zu machen. Ähnlich wie die Resilienzperspektive grenzt sich auch der agency-Diskurs deutlich von Ansätzen ab, die vorrangig auf erziehungsseitig zu korrigierende Defizite von Kindern abstellen. Zugleich ist der agency-Begriff im Vergleich zum Resilienzkonzept deutlich weiter gefasst, zielt er doch nicht nur auf die (retrospektive oder präventive) Bewältigung kritischer Lebensereignisse, sondern auf Handlungsfähigkeit – oder Autonomie – insgesamt. Kritisch gegen den agency-Ansatz wird dementsprechend auch eingewendet, dieser sehe überall nur Handlungspotenziale; die konkreten Ermöglichungsbedingungen kindlicher Autonomie müssten deshalb nicht mehr genauer untersucht und gesellschaftlich situiert werden (ebd.: 307). Interessant ist im hier verhandelten Zusammenhang vor allem die Frage nach der Beziehung der beiden Konzepte: Ergänzen sich Resilienz und agency als normative Zielgrößen und konzeptionelle Perspektiven oder stehen sie zueinander in Konkurrenz? Das Fallbeispiel Goliat spricht eher für die letztgenannte Variante. Zwar wird auch er als aktiver Mitgestalter seiner sozialen Umwelt vorgestellt; nichtsdestotrotz wird davon ausgegangen, dass seine spezifische Handlungsfähigkeit angesichts der objektiven Vulnerabilität seines sozialen Situiertseins eher kontraproduktiv ist und pädagogisch umgesteuert werden muss. In einer merkwürdigen Doppelbewegung wird hier also einerseits Goliats agency als ontologisch unabdingbare Voraussetzung von Resilienz affirmiert und in ihrer konkreten Erscheinungsform andererseits zugleich als Hindernis für die Ausbildung von Resilienz aufgefasst. Thomas von Freyberg zufolge lässt sich die Konjunktur des Resilienzkonzeptes im pädagogischen Diskurs der Gegenwart als ein Prozess der erfolgreichen Integration ehemals emanzipatorischer Kritik – hier: an der disziplinarisch-pädagogischen »Defizitperspektive« – ins neoliberale Reformprojekt verstehen. Er plädiert dafür, anstatt immer wieder aufs Neue die Segnungen einer »positiven Pädagogik« im Zeichen von agency und Resilienz gegen die vermeintlich dominante, in

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Wirklichkeit aber schon seit Jahrzehnten desavourierte Defizitperspektive ins Feld zu führen, lieber umgekehrt danach zu fragen, ob »Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer verantwortlich, also auch zuständig und damit dann auch verpflichtet [sind] zu intervenieren, wenn sie feststellen müssen, dass […] die strukturellen Bedingungen ihrer Arbeit im krassen Widerspruch stehen zu den Anforderungen an eine gute Kindertagesstätte, an eine gute Schule, als Lebens, Lern- und Handlungsraum« (von Freyberg 2011: 236). Eine solche kritische Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen des je eigenen professionellen Handelns setzt konzeptionell jedoch voraus, dass es pädagogisch nicht in erster Linie um die Förderung der Anpassung an die jeweils vorherrschenden Bedingungen geht. Die Förderung von Kritik – sowohl seitens der pädagogischen »Objekte« wie der »Subjekte« – wird im Zuge der Durchsetzung der Resilienzperspektive allerdings erheblich erschwert: Insofern mit Resilienz die »Fähigkeit eines Systems« gemeint ist, »auf Krisen und Störungen ›angepasst‹ zu reagieren, indem es sich selbst erneuert, ohne sich grundlegend zu verändern« (Zander/Roemer 2016: 48f.), wird gerade nicht Kritikfähigkeit, sondern f lexible Anpassung als übergreifender pädagogischer Zielhorizont entworfen. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Beziehung von Resilienz und Autonomie im pädagogischen Resilienzdiskurs als zumindest unklar dar. Autonomie scheint einerseits zugleich Ergebnis wie Voraussetzung von Resilienz und andererseits, wie das Beispiel Pippi Langstrumpf zeigt, auf dem Weg zum resilienten Subjekt bisweilen auch hinderlich zu sein. Entsprechend ist Autonomie als Selbstbestimmung im Sinne der kritisch-ref lexiven Auseinandersetzung mit einer prinzipiell gestaltbaren Umwelt und auch Autonomie als Selbstverwirklichung im Sinne der Herausbildung eines unverwechselbaren Selbst (Kap. 3.3) aus dem Idealbild vom resilienten Kind nicht verschwunden, sondern in spezifischer Weise präsent: Im Zeichen von Resilienz ist selbstbestimmt, wer einerseits die Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit anerkennt, ohne unnötig dagegen zu rebellieren, und wer andererseits innerhalb dieser Grenzen sowie gemäß eines a priori gesetzten Verhaltensmaßstabs die Variationsbreite des eigenen Handelns maximal ausdifferenziert. Selbstverwirklichung wiederum verwandelt sich im Kontext pädagogischer Resilienz vom einstigen romantischen Ideal

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der »Unverwechselbarkeit« (Simmel 2008: 353) in den mittels geeigneter Selbstregulationstechniken anzufertigenden Glauben an die »ability to control one’s own destiny« (Reivich/Shatté 2003: 25) – auch und gerade unter Bedingungen der faktischen Nichtkontrollierbarkeit. Die Realisierungspotenziale beider Autonomiedimensionen hängen zentral von den (erlernbaren) Selbstregulationsfähigkeiten des heranwachsenden Subjekts ab. In der Konsequenz scheinen Autonomie und Resilienz ununterscheidbar zu werden – was auch bedeutet, dass Autonomie nicht als das Ergebnis einer meist konf liktiven Auseinandersetzung des heranwachsenden Subjekts mit seiner primären Umwelt konzipiert wird, sondern als psychisches Korrelat einer gelingenden Adaption an ebendiese Umwelt: Das autonome, weil resiliente Kind ist grundsätzlich einverstanden mit der Welt, in der es lebt; es kämpft weniger um Selbstbestimmung und Individualität als vielmehr um die Möglichkeit, den gesellschaftlichen Anforderungen trotz objektiv schlechterer Startbedingungen uneingeschränkt genügen zu können.

4.3 Trauma als Chance: Das Versprechen auf Wachstum Was für das resiliente Kind gilt, gilt freilich auch für Erwachsene. Im Zeichen von Resilienz sollen Menschen lernen, sich selbst, das heißt ihre Emotionen, Erwartungen und Handlungen auf eine bestimmte Weise zu regulieren, nämlich so, dass sie mit den Widrigkeiten des Alltags im Krisenkapitalismus besser zurechtkommen. Dabei steht Resilienz als psychologisches Konzept in einem engen Wechselverhältnis zum Gegen- beziehungsweise Komplementärbegriff des Traumas: Resilienz ist der Modus, in dem das Subjekt eine bereits erfolgte oder zukünftig drohende Traumatisierung erfolgreich bearbeitet und überwindet. Insofern verweist die aktuelle Popularität von Resilienz, wie José Brunner nachgewiesen hat (Brunner 2014), genealogisch auf die im Kontext der industriellen Revolution neu auftauchenden Schockerfahrungen und die sich darum etablierenden wissenschaftlichen Diskurse zurück, etwa im Zusammenhang mit den ersten Eisenbahnunglücken im 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert wiederum sind es vor allem die Vietnamveteranen in den 1970er Jahren sowie die Opfer sexueller Gewalt im Kontext der Neuen Frauenbewegung, die auf das Vokabular des Traumas zurückgreifen, das sich schließlich im Nachgang zu 9/11 immer weiter ausdifferenziert und verbreitet. Und insofern es in die-

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sen letztgenannten Diskursen und politischen Auseinandersetzungen zentral um von Menschen verursachte Traumatisierungen geht, sind »wissenschaftliche Diskurse über Traumatisierung immer auch Diskurse über die Grenzen des Ichs, die Formierung von Identitäten durch Gewalt, über den gesellschaftlichen Rahmen und die politische Kultur, die bestimmte soziale Gruppen und Individuen gewalttätigen Handlungen anderer aussetzen« (ebd.: 23). Über den Umweg des Traumas impliziert Resilienz somit eine teleologische und darüber hinaus auch eine explizit ethische Dimension, geht es doch um nicht weniger als um die Frage, ob, und falls ja, wie Gewalt, die Menschen Menschen zufügen, gesellschaftlich thematisiert und bearbeitet wird. Die Komplementarität von Trauma und Resilienz tritt noch deutlicher zutage, wenn man zwei weitere Konzepte gegenüberstellt: die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die posttraumatische Reifung oder Posttraumatic Growth (PTG). Als charakteristisch für Erstere gilt das ungewollte innere Wiedererleben der traumatisierenden Situation, das Vermeiden und darauffolgende Abf lachen von Gefühlen bei gleichzeitiger Tendenz zur permanenten Übererregtheit (Maercker 2009: 17). Die traumatische Erfahrung setzt sich in der posttraumatischen Belastungsstörung gewissermaßen im Subjekt fest und selbstständig fort – und dies umso mehr, je weniger Resilienz der oder die Betroffene aufweist.4 Entsprechend gilt Resilienz umgekehrt als Vermögen, auch schwere Gewalterfahrungen mittel- und langfristig unbeschadet, das heißt ohne die Ausbildung der genannten Symptome zu überstehen. Im Konzept der posttraumatischen Reifung wiederum wird dieses negative Telos des Resilienzkonzepts ins ausdrücklich Positive gewendet. In der klinischen Arbeit mit Traumatisierten habe sich, so Insa Fooken, gezeigt, dass, »manche Personen die mit dem [traumatisierenden] Ereignis zusammenhängenden nachfolgenden persön4  D  ie Ausbreitung des Konzepts der posttraumatischen Belastungsstörung hat einerseits eine erstaunliche wissenschaftliche wie alltagsdiskursive Karriere zu verzeichnen und wird andererseits ausgesprochen kritisch diskutiert (vgl. Pupavac 2016; Fassin/Rechtman 2009, Becker 2014). Brunner (2014) schlägt hier eine vermittelnde Sichtweise vor, indem er die »gesellschaftliche Kommunikationsfunktion« (ebd.: 289) hervorhebt, die psychomedizinische Fachbegriffe ausüben, obwohl (beziehungsweise weil) sie nicht »als unumstrittene, objektive, universelle und wahrheitsgetreue Beschreibungen psychischer Phänomene« zu verstehen sind (ebd.) – etwa indem sie, wie im Falle der PTBS-Diagnose, Gewaltbetroffenen »einen gesellschaftlich anerkannten Opferstatus« verschaffen (ebd.: 285).

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lichen Veränderungen aus der Retrospektive heraus subjektiv als eine besondere Erfahrung seelischer Reifung einschätzen« (Fooken 2009: 70). Eine größere Wertschätzung des Lebens, intensivere menschliche, vor allem familiale Beziehungen, ein inneres Gefühl der Stärke, veränderte Prioritäten und ein erfüllteres spirituelles Leben gelten als zentrale Symptome des durch ein Trauma verursachten persönlichen Reifungsprozesses (Tedeschsi/Calhoun 2004). Dabei sei »Reifung«, so Fooken, eine »organismische Metapher, die positiv konnotiert ist und auf einen natürlichen, das heißt der (menschlichen) Natur innewohnenden Prozess verweist« (Fooken 2009: 68). Das zwecks Messung dieses Reifungsprozesses entwickelte Posttraumatic Growth Inventory (Tedeschi/Calhoun 1996) erfasst entsprechend das Ausmaß, in dem ein traumatisierter Mensch für sich neue Handlungsmöglichkeiten erkennt, seine oder ihre Beziehung zu anderen Menschen intensiviert, persönliche Stärken ausbaut, von einer größeren Wertschätzung des Lebens berichtet und Fragen der Religion mehr Bedeutung beimisst (vgl. Fooken 2009: 79). Im Unterschied zu Resilienz gilt die posttraumatische Reifung nicht nur als präventive beziehungsweise retrospektive Bewältigungsstrategie, sondern vor allem als Generator von Lebenssinn. Resilienz stellt dafür eine Vorstufe oder günstige Ausgangsbedingung dar, insofern sie es dem Subjekt ermöglicht, »Widrigkeiten, extreme Risiken und aversive Lebensumstände« (ebd.: 66) zu überstehen und schließlich »zu einer neuen, positiv bewerteten Selbst- und Weltsicht« zu gelangen (ebd.: 74). Nicht die Wiedererlangung von Stabilität nach einem Krisenereignis steht im Kontext des PTG also im Fokus, sondern eine »durch einen Bruch – das Trauma – verursachte Veränderung zum Besseren« (Brunner 2014: 271f.). Posttraumatisches Wachstum beschreibt somit, so auch die Nestoren des Konzepts Richard Tedeschi und Lawrence Calhoun, eine grundlegende positive Transformation des Subjekts, »a qualitative change in functioning« (Tedeschi/Calhoun 2004: 4). Ihrer Auffassung nach ist allerdings denkbar, dass gerade resiliente Menschen weniger prädestiniert für posttraumatisches Wachstum sind – nämlich genau, weil »these people have coping capacities that will allow them to be less challenged by trauma, and we posit that the struggle with the trauma is what is crucial for posttraumatic growth« (ebd.). Ist Resilienz also Voraussetzung oder Hindernis für posttraumatisches Wachstum? Die Antwort auf diese Frage hängt wiederum von der jeweiligen Definition von Resilienz ab – und die Tatsache, dass Resilienz PTG dem

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einschlägigen Diskurs zufolge sowohl behindern als auch begünstigen kann, zeigt einmal mehr die Variabilität, um nicht zu sagen: Unbestimmtheit des Resilienzkonzepts. Dessen ungeachtet haben beide Behauptungen – Resilienz als begünstigender versus Resilienz als hinderlicher Faktor von PTG – eine gemeinsame Schnittmenge in der Perspektive auf »human suffering as offering the possibility for the origin of significant good« (ebd.: 2). Die Deutungsoffenheit des Resilienzkonzeptes ermöglicht es darüber hinaus, Resilienz schlicht als das zu definieren, was posttraumatisches Wachstum begünstigt: Insofern es dem PTG-Diskurs zufolge nicht das Trauma selbst ist, das die Entwicklung zum »höheren Selbst« ermöglicht, sondern die Auseinandersetzung des Subjekts mit dem traumatischen Ereignis, lässt sich Resilienz als Fähigkeit verstehen, sich in einer wachstumsförderlichen Weise mit traumatischen Erlebnissen auseinanderzusetzen – auch wenn diese Fähigkeit paradoxerweise die Abwesenheit von Resilienz voraussetzt. Wichtig dafür ist vor allem, dass das Ereignis wirklich traumatisch ist, denn erst die Erfahrung eines »highly distressing set of circumstances that significantly challenges people’s understanding of the world and their place in it« (ebd.: 13), birgt die Chance auf persönliches Wachstum – eine Chance, die nicht oder nur geringfügig traumatisierten Menschen nicht in derselben Weise offensteht (ebd.: 5). Als Kronzeug*innen der posttraumatischen Reifung gelten in der einschlägigen Literatur, vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen nicht ganz überraschend, die Überlebenden der Schoah, oder genauer gesagt: manche Überlebende. Insa Fooken nennt in diesem Zusammenhang als Beispiele Primo Levi und Viktor Frankl. Frankl, dessen Eltern, Bruder und erste Ehefrau von den Nationalsozialisten ermordet wurden und der selbst Theresienstadt, Auschwitz und Dachau überlebte und nach dem Krieg mit Logotherapie und Existenzialanalyse seine eigene psychoanalytische Methode entwickelte, hat mit seinem Buch »… trotzdem Ja zum Leben sagen« (Frankl 1981), so jedenfalls die im hier skizzierten Teildiskurs immer wieder vorgetragene Deutung, eine philosophisch-psychoanalytische, zudem in eigener biografischer Erfahrung begründete Grundlage sowohl für die Idee der posttraumatischen Reifung wie auch für Resilienz geliefert.5 Ähnliches hat 5  Ü  berraschend selten wird dabei allerdings inhaltlich auf den psychoanalytischen Ansatz Frankls eingegangen, stattdessen wird er meist aufgrund seiner Biografie als Nestor von Resilienz und PTG adressiert.

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wiederum Levi, so Fooken, trotz seiner unbestreitbaren Verdienste als Zeitzeuge des Holocaust, nicht vorzuweisen. Denn während Levi »trotz langjähriger posttraumatischer Reifungs- und Anpassungsprozesse im Kontext des beginnenden Alters letztlich von seinen Erlebnissen neu ›eingeholt‹ wird und Suizid begeht«, sei es Frankl gelungen, »die posttraumatische Reifung über die Zeit hinweg stabil aufrechtzuerhalten und den von ihm entwickelten existenzialanalytischen Ansatz […] als ein generatives Vermächtnis an nachfolgende Generationen weiterzugeben« (Fooken 2009: 66). Während Resilienz hier also zunächst durchaus beiden prominenten Schoah-Überlebenden attestiert wird, scheint am Ende nur Frankl für das Gütesiegel der »posttraumatischen Reifung« qualifiziert.6 Fooken scheint sich dessen bewusst zu sein, dass man derartige Vergleiche als heikel empfinden könnte, weshalb sie die Frage nach einer gegebenenfalls problematischen normativen Grundierung der Idee von der posttraumatischen Reifung selbst stellt: »Ist die […] Aussage, dass ›das, was uns nicht umbringt, uns stärker macht‹, nicht Ausdruck eines blanken Zynismus?« (ebd.: 67) Die Antwort fällt freilich erwartbar negativ aus: Man müsse zwar vorsichtig sein, aber es gebe eben doch Gründe dafür, »dass es sinnvoll und auch in ethischer Hinsicht zu rechtfertigen sei, sich im Forschungskontext von Traumata und Lebenserschwernissen mit den Phänomenen der Resilienz und der posttraumatischen Reifung […] zu befassen« (ebd.), was nicht bedeute, dass »Traumata und Widrigkeiten […] per se ›gut‹ oder akzeptabel« seien (ebd.: 68). Das Problem, dass für das Konstrukt der posttraumatischen Reifung die Annahme konstitutiv ist, dass Traumatisierungen in einem Ausmaß entwicklungsförderlich sind, wie es weniger gewaltsame Erfahrungen nicht sind, bleibt freilich bestehen. Den verschiedenen Thematisierungen des Zusammenhangs von Schoah und Resilienz beziehungsweise posttraumatischem Wachstum gemeinsam ist, dass sie die Perspektive von der Frage nach den Ursachen, den Verantwortlichen und den womöglich bis heute fortbeste6  D  ass die Bewertung hier entlang qualitativer Kriterien gefällt wird, heißt nicht, dass sie sich nicht auch quantifizieren ließe. So kommt eine vergleichende Studie zweier polnisch-jüdischer Emigrant*innenkohorten vor und nach 1939 zu dem Schluss, dass »Holocaust survivors seem to have a significantly lower risk to die younger than comparisons without a Holocaust background« (Sagi-Schwartz et al. 2013), was möglicherweise – neben anderen Erklärungsansätzen – auch auf die größere Resilienz der Holocaust-Überlebenden zurückzuführen sei und somit als illustratives Beispiel für posttraumatisches Wachstum interpretiert werden könne (ebd.).

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henden Kontinuitäten des Nationalsozialismus verschieben zur Frage nach der psychischen Verfasstheit der Überlebenden, die dadurch zugleich in gewisser Weise um ihren Opferstatus »bereinigt« und als nicht nur handlungsfähige, sondern – im Falle ihres Überlebens – als erfolgreich handelnde Subjekte adressiert werden. In der Perspektive auf die höchst wertvollen Potenziale des posttraumatischen Wachstums gerät die Schoah somit implizit nicht nur zu einem selbst nicht weiter zu befragenden Schicksalsereignis, das in einzelne Biografien hineinragt, sondern wird darüber hinaus, wie der oben zitierte Vergleich der Biografien Levis und Frankls zeigt, in der Logik der Konkurrenz, das heißt hier: im Hinblick auf den Maßstab der posttraumatischen Reife, neu vermessen. Darüber hinaus lässt die in den genannten Darstellungen mehr oder weniger deutlich implizierte Annahme, das erfolgreiche Überleben eines Genozids hänge nicht zuletzt von der je individuellen »Resilienz« der Opfer ab (z.B. Greene et al. 2012), die überwältigende Mehrheit der Nichtüberlebenden mit wissenschaftlicher Begründung unsichtbar werden. Doch nicht nur im Hinblick auf die Vergangenheitsbearbeitung, auch im Hinblick auf die Gegenwart ist nach den Implikationen des Konstrukts vom posttraumatischen Wachstum zu fragen. Zwar scheint dieses Konstrukt auf den ersten Blick nichts mit jener Logik neoliberaler Selbstoptimierung gemein zu haben, die »ständige Leistungssteigerung und Selbstverbesserung als notwendig erachtet, um mithalten zu können im niemals stillstehenden Wettbewerb« (King et al. 2014: 283). Wenn allerdings betont wird, dass posttraumatische Reifung nicht bereits dann vorliegt, wenn man sich im Anschluss an eine erfolgte Traumatisierung reifer fühlt, sondern erst dann, wenn der Selbstwahrnehmung auch Taten folgten (Davis/Nolen-Hoeksema 2009: 647; Hobfoll et al. 2007: 349); dann scheint gewissermaßen erst das posttraumatische Aktivsubjekt eine größere persönliche Reife für sich in Anspruch nehmen zu können. Andererseits folgt die inhaltliche Bestimmung des posttraumatischen Wachstums weniger einem neoliberalen als vielmehr einem traditionell-konservativen Schema: Wie skizziert, ist »reif« im Sinne des PTG, wer sich mehr als zuvor auf seine Familie konzentriert, an kleinen Dingen des Lebens Freude hat und Fragen der Religion einen größeren Stellenwert beimisst. Eine stärkere Kritik- und Konf liktfähigkeit ist hingegen kein Indiz von Reife und persönlichem Wachstum. Vor diesem Hintergrund ist wenig verwunderlich, dass ein positiver Befund in Sachen PTG nicht notwendig mit

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freundlichen Menschen- oder demokratischen Gesellschaftsbildern korreliert. Hobfall et al. (2007) kommen auf Basis ihrer Befragungen in New York nach 9/11 und Israel während der Al-Aksa-Intifada zu dem ernüchternden Ergebnis, dass posttraumatisches Wachstum nicht nur mit erheblichem »psychological distress« einhergeht, sondern auch mit »more right-wing political attitudes, and support for retaliatory violence« (ebd.: 345). Und eben weil PTG einen Zusammenhang zu »rigid, right-wing support of violence and ethnocentrism« (ebd.: 352) aufweist, müsse es deutlicher als ambivalentes Phänomen konzipiert werden, also als Zustand, der sich auf der einen Seite durch verbesserte Funktionalität, Konstruktivität und Selbsttranszendenz auszeichne, andererseits aber auch die Option auf dysfunktionale, illusionäre und destruktive Einstellungen beinhalte (ebd.). Interessanterweise taucht in diesem Zusammenhang erneut die Frage auf, ob ein gewisses Maß an Illusionen über die eigene Handlungsfähigkeit beziehungsweise Selbstwirksamkeit nicht psychologisch wünschenswert sei. Hobfall et al. versuchen dieses Problem zu lösen, indem sie, wie erwähnt, auf die Notwendigkeit verweisen, den (ggf. verzerrten) Selbstwirksamkeitserwartungen auch Taten folgen zu lassen (ebd.: 360), was allerdings im Falle von ethnozentrischen, autoritären und sonstigen menschenfeindlichen Einstellungsmustern als eher zweifelhafter Ratschlag erscheinen muss. Andere Autor*innen wiederum definieren posttraumatisches Wachstum als »janusköpfiges« Phänomen, das einerseits die neue positive Weltsicht Traumatisierter trotz oder gerade wegen des jeweils erlittenen Schicksals umfasse und ihnen somit eine zufriedenstellende Anpassung an die neue Lebenssituation ermögliche, andererseits aber auch einem »naiven Optimismus« den Boden bereiten könne, der eine gelingende Anpassung behindere (Zöllner/Maercker 2004: 47; vgl. Bonanno/Rennicke 2005). Parallel wird darauf bestanden, dass Illusionen »adaptiv und funktional palliativ« sein können (Fooken 2009: 82); entsprechend schade es auch nicht, auch die eigene Traumaverarbeitung entgegen aller Evidenz positiv zu deuten. Dies wiederum scheint ein Erfolgsrezept für alle möglichen gesellschaftlichen Problemlagen darzustellen, werden Resilienz und PTG doch schließlich auch als sozialpolitischer Zielhorizont im Zeichen des demografischen Wandels propagiert: Auch die Alterung der westlichen Gesellschaften hätte erhebliches Traumapotenzial, dem »präventiv mit Resilienzfaktoren und […] mit einer Art antizipatorischer posttraumatischer Transformation«, vorzugsweise

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in Form einer gesellschaftlich etablierten »Erzählung des Meisterns« zu begegnen sei (ebd.: 82).7 Abgesehen von der durchaus kontrovers zu diskutierenden Frage, ob eine wissenschaftlich untermauerte Sicht auf Alter(n) als Trauma tatsächlich zur Verbesserung der Lebenssituation älterer Menschen beiträgt, legen wiederum andere Studien nahe, es sei gerade für ältere Menschen angezeigt, sich eine möglichst realistische Vorstellung ihrer eigenen Zukunft zu machen (Cheng et al. 2009). Kurzum: Die Frage nach der heilenden oder schädigenden Kraft von rosaroten Brillen zu beantworten, gerät bei näherer Betrachtung offenbar zu einem ähnlich erfolgversprechenden Projekt wie das, einen Pudding an die Wand zu nageln, was insofern bemerkenswert ist, als es sich bei der Behauptung einer nahezu grenzenlosen schöpferischen »Kraft der Gedanken« immerhin um eine zentrale Grundannahme aller bislang skizzierten Konzepte – von Salutogenese über Resilienz bis hin zum posttraumatischen Wachstum – handelt. Was aus dieser grundlegenden Unklarheit folgt, liegt jedoch auf der Hand: Überlebende wie Antizipierende eines Traumas sollten in der Lage sein, im je konkreten Fall sehr fein zwischen förderlichem Optimismus und schädlichem Illusionismus zu differenzieren, sie müssen positiv in die Zukunft blicken, aber auch den erlittenen Verlust oder Schmerz nicht leugnen, und sie sollten das rechte Maß an Handlungsbereitschaft aufbringen, um Wachstum und Anpassung langfristig zu verbinden, ohne dabei in übertriebenen Aktivismus zu verfallen. Kaum vorstellbar, dass einem gewöhnlichen Individuum diese anspruchsvolle Aufgabe, zumal in einer schweren Krisensituation, ohne engmaschige Betreuung durch psychologische Expert*innen gelingt. Deutlich scheint das Konzept der Posttraumatischen Reifung schließlich, schon allein sprachlich, mit Vorstellungen von Autonomie als Selbstverwirklichung zusammenzuhängen. Allerdings zeigt ein Vergleich mit den einschlägigen Grundlagentexten der Humanistischen Psychologie auch hier einige deutliche Diskrepanzen. Während sich das Wachstum des posttraumatisch gereiften Subjekts im indivi-

7  F ooken bezieht sich hier auf Harris/Keady (2008), die vorschlagen, das Ideal des »erfolgreichen Alter(n)s« (vgl. van Dyk/Graefe 2009) durch das Positivbild vom »resilienten Alter(n)« zu ersetzen, um Negativstereotypen in Bezug auf Demenz vorzubeugen. Dafür müsse Resilienz zum verbindenden Ziel für alle älteren Menschen, mit Demenz oder ohne, erklärt werden (Harris/Keady 2008: 7).

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duellen Überleben von Vernichtung, Krieg oder Terror begründet, war für den Begründer der klientenzentrierten Gesprächstheorie, Carl Rogers, klar, dass jeder Mensch »eine zielgerichtete Tendenz zur Ganzheit, zur Verwirklichung vorhandener Anlagen« (Rogers 1985: 268, Hervorh. S.G.) in sich trägt– also nicht bloß oder vor allem Traumatisierte. Und um aus der »latenten Neigung« eine tatsächliche Reifung folgen zu lassen, braucht man Rogers zufolge weder Gaskammern noch Flugzeugattentäter, sondern wertschätzende Beziehungen, Freiheit und Respekt. Zentral ist hier außerdem der Gedanke einer angeborenen Autonomie des Subjekts. Entsprechend betont Abraham Maslow, dessen Modell der Bedürfnispyramide zufolge Selbstverwirklichung das höchste Bedürfnis des Menschen darstellt, das »autonome Selbst« dürfe nicht »als ein Instrument der Anpassung behandelt werden« (Maslow 1973: 185). Maslow spricht andererseits aber auch von »Grenzerfahrungen«, die das Subjekt in Richtung größerer Reife vorwärtsbewegen, was auf den ersten Blick ein ähnlicher Gedanke wie die im Konzept des PTG implizierte Idee von der Reifung durch Trauma zu sein scheint. Tatsächlich aber hat Maslow hier andere, um nicht zu sagen gegensätzliche Erfahrungen vor Augen: Es handelt sich um »ästhetische Grenzerfahrungen« (ebd.: 208) beziehungsweise um »Grenzerfahrungen reiner Freude« (ebd.: 91) oder auch um die Erfahrung einer Auf hebung zwischen Subjekt und Objekt im Vollzug einer Liebesbeziehung (ebd.: 90). Zahlreiche Arbeiten haben auf die komplizenhafte Rolle der Humanistischen Psychologie bei der Durchsetzung neoliberaler Gouvernementalität hingewiesen (Straub 2012; Maasen et al. 2011). Insbesondere das therapeutisch-humanistische Ideal der Selbstverwirklichung steht unter Verdacht, einem »Narrativ der Krankheit und des psychischen Leidens« zuzuarbeiten (Illouz 2007: 95), das in jedem noch so banalen Alltagsproblem ein potenziell pathologisches Scheitern der Person ausmacht. Im Konstrukt der PTG wird diese Figur radikalisiert: Hier wird das Leiden als Bedingung für persönliches radikal umgekehrt: und Reife aufgefasst. Im semantischen Feld von Trauma und Resilienz findet das menschliche Subjekt nicht durch die Erfahrung von Freiheit, Kunst und Liebe zu sich selbst, sondern durch Krieg, Genozid und Terrorattacken. Im Vergleich dazu erscheint das humanistisch-therapeutische Selbstverwirklichungsideal retrospektiv als regelrecht harmlos. Wie bis hierher deutlich geworden ist, basiert Resilienz als Subjektprogramm grundlegend auf der Annahme, dass Menschen ontologisch verletzlich, ergo: »traumatisierbar« sind; Resilienz ist in diesem Sinne

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ein – via Resilienzförderung auch präventiv einzusetzendes – Traumabewältigungsprogramm. Die Popularisierung des Resilienzkonzeptes als Strategie der erfolgreichen Lebensführung erweitert die Grundannahme der Vulnerabilität (auf die ich ausführlicher in Kap.  5.4 zurückkomme): Weil Menschen schwere und nachhaltige Schocks nicht nur theoretisch und in Ausnahmefällen erleben und erleiden, sondern weil Traumatisierungen jederzeit und überall stattfinden können, stellt Resilienz eine letztlich für alle Menschen überaus sinnvolle Weise des Selbst- und Weltbezugs dar. In der scheinbaren Bescheidenheit des Resilienzkonzeptes ist somit eine Art immanenter Teleologie oder genauer gesagt: ein existenzielles Versprechen eingelassen, das eine Oberf lächen- und eine Tiefendimension aufweist, insofern es dem Subjekt erstens ganz pragmatisch Mittel an die Hand gibt, angesichts schwerwiegender und im Zweifel sogar lebensbedrohlicher Ereignisse psychisch stabil und sozial funktional zu bleiben. Darüber hinaus stellt Resilienz dem Subjekt zweitens die Option in Aussicht, über sich selbst hinauszuwachsen, also die Möglichkeit einer Art ego-bezogenen Transzendenz, und zwar in Gestalt der posttraumatischen Reifung. Die Karriere des PTG-Konzeptes verdeutlicht zugleich, in welchem Ausmaß Trauma und Resilienz wechselseitig aufeinander verweisen. Gemeinsam stecken sie ein spezifisches »diskursives und institutionelles Feld« ab, auf dem nicht nur »nationale wie auch internationale professionelle Auseinandersetzungen ausgetragen« (Brunner 2014: 269) werden, sondern auf dem darüber hinaus das Verständnis des menschlichen Subjekts mit den Instrumenten der positiven Psychologie neu vermessen und normativ gefasst wird. Ein gutes, weil trauma-erprobtes und deshalb resilientes Subjekt handelt, denkt und fühlt vermutlich in etwa gemäß der von der American Psychological Association (zuerst im Anschluss an 9/11 veröffentlichten; vgl. Fooken 2009: 72) Empfehlungen: Es ist vernetzt und vermeidet es, Krisen für unüberwindbar zu halten. Es akzeptiert, dass Veränderungen zum Leben gehören und wendet sich stets seinen eigenen Zielen zu. Es ist entscheidungsfreudig und bereit, sich selbst immer wieder neu zu entdecken. Es hat ein positives Selbstbild, betrachtet die Dinge aus dem richtigen Blickwinkel und bleibt auch im Angesicht der Katastrophe stets hoffnungsvoll (APA 2019). Und es begreift, so wäre zu ergänzen, Gewalt von Menschen

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gegen Menschen nicht als kollektiv zu überwindende Katastrophe8, sondern als natürliche Tatsache des Daseins, die für das lernbereite Subjekt ungeahnte Wachstumsmöglichkeiten bereithält.

4.4 Vom unternehmerischen Selbst zum Homo resiliensis Resilienz meint nicht also nur, wie im vorherigen Abschnitt deutlich wurde, die psychische Selbstorganisation des Subjekts unter unsicheren Umweltbedingungen, sondern impliziert auch ein spezifisches Glücksversprechen: Resiliente Subjekte sind dazu befähigt, den allfälligen Stürmen des Alltags standzuhalten. Sie sind aber nicht bloß gesünder oder zufriedener als ihre weniger resilienten Zeitgenoss*innen. Wer an schrecklichen Erlebnissen nicht zerbricht, so der Tenor der Beschreibungen posttraumatischen Wachstums, gewinnt etwas ganz Besonderes hinzu, nämlich psychische Reife und somit eine Art ethische Überlegenheit den weniger geprüften Mitmenschen gegenüber. So offensichtlich hier eine »Logik der Besonderung« (Reckwitz 2018) im Spiel ist, so stellt sich doch die Frage, um welche Besonderung es sich handelt. Ein Großteil der Debatte um subjektbezogene Resilienz und posttraumatisches Wachstum kreist um die Figur des »Lebenssinns«, der mithilfe einer bestimmten psychischen Verfasstheit erreicht, bewahrt und gesteigert werden kann und damit einer deutlich anderen Logik zu folgen scheint als der Logik der Konkurrenz und Vermarktlichung. Doch auch die gegenteilige Deutung scheint plausibel: dass Resilienz nicht mehr darstellt als eine weitere Facette des neoliberalen Subjekts (Kap. 1) – und die Konjunktur von Resilienz somit eine wenig originelle Neuauf lage inzwischen gut bekannter Denk- und Subjektfiguren. Diese Deutung legt jedenfalls Ulrich Bröckling nahe, der das resiliente Subjekt als eine reduzierte Variante des von ihm prominent beschriebenen »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) auffasst: »Die Nähe dieser Subjektivierungsfigur zu dem, was ich an anderer Stelle als unternehmerisches Selbst beschrieben habe, […] liegt auf der Hand: Auch die Unternehmerinnen und Unternehmer des eigenen Le8  D  abei handelt es sich womöglich um eine besondere Variante jener Tendenz zur Dethematisierung und Euphemisierung von Gewalt, die nach Jürgen Martschukat (2013) charakteristisch für die Selbstbeschreibung der westlichen Moderne ist.

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bens handeln unter Bedingungen von Ungewissheit und müssen in der Lage sein, sich fortwährend an Veränderungen ihrer Umwelt anzupassen. Während diese allerdings mit jeder Investition eine Wette auf die Zukunft eingehen und so ihren Nutzen zu maximieren suchen, ist der Horizont des resilienten Selbst darauf zusammengeschnurrt, künftige Krisen und Katastrophen zu überstehen. Fertig wird es mit dieser Aufgabe indes genauso wenig wie das unternehmerische Selbst mit der Akkumulation seines Humankapitals. Weil die Fähigkeit, Störungen zu absorbieren, so flüchtig ist wie wirtschaftlicher Erfolg, darf es mit der Arbeit an seiner Resilienz niemals nachlassen.« (Bröckling 2017: 139) Zweifelsohne finden sich zahlreiche Überschneidungen zwischen dem unternehmerischen Selbst (das sich metaphorisch wohl in keinem Begriff so treffend verdichtet wie in dem der »Ich-AG«) und dem Homo resiliensis (der sich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts um die Rolle als umfassendes Leitbild des richtigen Handelns wie des guten Lebens bewirbt). Doch dass es sich bei Letzterem allenfalls um eine Schrumpfform von Ersterem handelt, wie Bröckling nahelegt, scheint mir diskussionswürdig. Meiner Meinung nach existieren zwischen beiden Figuren, dem unternehmerischen Selbst und dem resilienten Subjekt, durchaus einige interessante Differenzen, und diese sollen im Folgenden genauer ausgelotet werden. Was ich dabei nahelegen möchte, ist, dass das resiliente Subjekt zwar keine radikale Alternative, wohl aber eine relevante Verschiebung innerhalb der neoliberalen Subjektideologie darstellt. Um dies zu zeigen, werde ich mich im Folgenden an der in den Governmentality Studies präferierten methodologischen Perspektive orientieren. Diese interessiert sich bekanntlich weniger für die empirisch messbaren Transformationen von Subjektivität als vielmehr für die Art und Weise, in der »das Subjekt in bestimmten historischen Momenten zum Problem [wird]« sowie dafür, »welche Lösungen für dieses Problem gefunden [werden]« (ebd.: 23). Dieser Zusammenhang wiederum wird in den Governmentality Studies üblicherweise anhand von Texten mit programmatischem Charakter untersucht. Dabei handelt es sich oft um Texte, die sich nicht an ein vorgebildetes Publikum wenden, also z.B. Texte aus dem Segment der populärwissenschaftlichen Ratgeberliteratur. Diese Methode soll auch im Folgenden tentativ angewandt werden, das heißt entlang eines kursorischen Abgleichs von Bröcklings instruktiver Analyse der »Bauanleitungen« (ebd.: 65) des unternehmerischen Selbst mit Ausschnitten aus der aktuellen Re-

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silienz-Ratgeberliteratur, wobei dieser Abgleich keinen Anspruch darauf erhebt, eine tatsächliche Programmanalyse vorzulegen, sondern lediglich die Aufmerksamkeit schärfen soll für einige interessante Verschiebungen hegemonialer Subjektivierungsprogrammatiken, wie sie sich gegenwärtig abzeichnen. Grundlegend für das Leitbild des unternehmerischen Selbst ist Bröckling zufolge eine enge Liaison aus Freiheit und Notwendigkeit, Selbstverwirklichung und Effizienz: »Zwischen dem Streben nach Selbstverwirklichung und dem nach wirtschaftlichem Erfolg klafft nicht länger ein unversöhnlicher Gegensatz, beide verstärken sich vielmehr wechselseitig.« (Ebd.: 52) Effizienz und Selbstverwirklichung folgen gleichermaßen dem »Imperativ eines unabschließbaren Wachstums« (ebd.: 61), dem zufolge »mehr« immer besser als »weniger« und Stillstand gleichbedeutend mit Versagen oder Niederlage ist. Interessanterweise verschwindet das Versprechen auf Selbstverwirklichung aus dem unternehmerischen Imperativ auch dann nicht, wenn es – etwa im Rahmen von sozialpolitischen Sanktionsarchitekturen wie der Hartz-IV-Gesetzgebung – durch staatlich verordnete »behaviouristische Verhaltensmodifikation« (ebd.: 60) gleichsam verordnet wird, gemäß der Losung: Finde zu dir selbst, damit du auf dem Arbeitsmarkt mehr Chancen hast. Demgegenüber stellt die einschlägige Resilienzliteratur überwiegend nicht wirtschaftlichen Erfolg, sondern »innere Stärke« (Siegrist 2017) oder »psychische Widerstandskraft« (Berndt 2013) in Aussicht. Gleichwohl ist das Thema »Effizienz« in vielen Ratgebern implizit präsent, und in manchen auch ganz explizit, so zum Beispiel in dem Buch des Unternehmers und Resilienzcoachs Dennis Mourlane (2014), der uns bereits als Autor der Resilienzstudie der Bertelsmann-Stiftung (Mourlane et al. 2013; vgl. S. 114) begegnet ist und laut Eigenauskunft9 deutscher »Exklusivanbieter« des vom Nestor der Positiven Psychologie, Martin Seligmann, in Pennsylvania entwickelten Resilienztrainings ist. Bereits im Titel seines Buches »Resilienz. Die unentdeckte Fähigkeit der wirklich Erfolgreichen« wird die Schnittstelle zwischen unternehmerischem Selbst und resilientem Subjekt programmatisch aufgerufen: Resilienz als Erfolgsgarant, der die Marktfähigkeit des Subjekts boostet. Doch während der Markt für das unternehmerische Selbst von fraglos zentraler Bedeutung ist – nur »wenn und soweit der 9  Vgl. https://www.mourlane.com/ (01.04.2019).

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Markt als privilegierter Ort gesellschaftlicher Integration fungiert […], kann das unternehmerische Selbst zur hegemonialen Subjektivierungsfigur aufsteigen« (Bröckling 2007: 76) –, zeichnet Mourlane diesbezüglich ein eher unentschiedenes Bild: Märkte wollen erobert werden, aber sie bergen für das Subjekt auch die Gefahr, »selbst erobert zu werden« (Mourlane 2014: 25). Die Globalisierung offeriere »enorme Chancen«, aber eben auch Risiken (ebd.). Und während die von Bröckling untersuchte Literatur vor maskulinen Siegertypen mit Risikobereitschaft, Innovationsdrang, Leistungsbedürfnis (Bröckling 2007: 64) und »potenzielle[n] Champions« (ebd.: 63) nur so strotzt, taucht bei Mourlane ein ganz anderes, uns aber bereits bekanntes role model auf, nämlich niemand anderes als der »resilience superstar« (Gutman 2011) Viktor Frankl (Mourlane 2014: 30ff.).10 Mourlane zufolge unterscheiden sich die bloß »Erfolgreichen« von den »wirklich Erfolgreichen« wie Frankl dadurch, dass Erstere zwar Zeit ihres Lebens auf der Überholspur unterwegs waren, sich genau deshalb aber »nicht um ihre Familie gekümmert« und »eigentlich keinen Spaß im Leben gehabt« und zudem noch die »eigene oder die Gesundheit anderer Menschen kontinuierlich ruiniert haben« (ebd.: 35), während die »wirklich Erfolgreichen« Erfolg haben, ohne dabei ihre Lebensfreude oder Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Während das unternehmerische Selbst, wie Bröckling zeigt, auf wundersame Weise Effizienz und Hedonismus versöhnt, versöhnt das resiliente Subjekt also gewissermaßen Effizienz und Sorge – und zwar im doppelten Sinn von Selbst- und Fürsorge. Die skizzierte Differenz tritt noch deutlicher hervor, wenn man die jeweiligen Zielhorizonte vergleicht. So produziert die für das unternehmerische Selbst grundlegende »Identifikation seiner selbst als Ware« (Bröckling 2007: 66) zwangsläufig eine Spannung im Subjekt: Es muss radikal gegensätzliche Anforderungen in Einklang bringen, namentlich einen »rückhaltlose[n] Einsatz für die Firma« mit einem »achtsa10  M  ourlane bietet übrigens eine plausible Erklärung für die notorische Instrumentalisierung der Biografie Frankls durch die Resilienzliteratur, war Frankl doch nicht nur Auschwitz-Überlebender und Philosoph, sondern auch erfolgreicher Selbstunternehmer; dass er »nacheinander die Lager Theresienstadt, Auschwitz und Dachau« überlebte und seine Erfahrungen anschließend in einem Buch (Frankl 1981) verarbeitete, das zu einem »Weltbestseller, in 26 Sprachen übersetzt« und allein in den USA neun Millionen Mal verkauft wurde, qualifiziert ihn offenbar dafür, Zeugnis abzulegen, »wozu der menschliche Geist fähig ist« (Mourlane 2014: 29).

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me[n] Umgang mit den eigenen Kräften« (ebd.: 71). Dies gilt gleichermaßen für das resiliente Subjekt, allerdings findet hier eine auffällige Gewichtsverlagerung statt: Von rückhaltloser Verausgabung liest man in Resilienzratgebern eher wenig, von Achtsamkeit hingegen viel. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn Resilienz einerseits als Königsweg zu wirtschaftlichem Erfolg beworben wird, im selben Atemzug aber markige Sätze wie »Geld macht nicht glücklich« (Mourlane 2014: 36) fallen. Die widersprüchliche Anforderungslogik besteht demzufolge im Falle von Resilienz darin, dass man sich beruf lich verausgaben soll, obwohl beziehungsweise gerade weil es dem Subjekt nicht in erster Linie um Profitmaximierung zu tun ist. Resilient und (deshalb) erfolgreich ist man entsprechend, wenn man eher zufällig und nebenbei – siehe Viktor Frankl – reich wird, während man eigentlich eine ganz andere Mission verfolgt, nämlich die, ein sinnvolles Leben auch dort zu führen, wo das eigene Überleben fraglich geworden ist. In diesem Sinne entspricht Mourlanes feine Differenzierung zwischen »Erfolgreichen« und »wirklich Erfolgreichen« nicht nur der Differenz zwischen unternehmerischem Selbst und resilientem Subjekt, sondern auch der zwischen dem Prinzip der Nutzenmaximierung und dem Prinzip der Sinnmaximierung (das freilich auch ökonomisch lukrativ ist). Auch der Neurowissenschaftler Raffael Kalisch verweist in seiner Schrift »Der resiliente Mensch« (Kalisch 2017) immer wieder auf prominente Resilienzvorbilder. Neben Viktor Frankl, der auch hier selbstredend nicht fehlen darf (ebd.: 205), werden als Vorbilder angeführt: der vom NS-Regime ermordete Theologe Dietrich Bonhoeffer (ebd.: 201), der Musiker Ray Charles, der trotz »Rassenhass« (ebd.: 177) und Erblindung im Kindesalter zu einem der »erfolgreichsten schwarzen Musiker seiner Generation« (ebd.: 178) wurde und Jürgen Vietor, der überlebende Co-Pilot der von der Rote-Armee-Fraktion 1976 nach Mogadischu entführten Lufthansa-Maschine. Es ist übrigens auffällig, dass in der einschlägigen Resilienz-Literatur weitaus häufiger Männer als vorbildliche Beispiele für resiliente Persönlichkeiten genannt werden als Frauen. Falls diese doch einmal zur Sprache kommen, sind sie in aller Regel nicht prominent. So hat etwa die von Kalisch präsentierte »Elisabeth« zwar eine schier unglaubliche Häufung privater Schicksalsschläge durchgestanden, geschichtlich bedeutsam sind diese aber nicht, und was Elisabeth für ihre beispielhafte Rolle in Kalischs Buch qualifiziert, ist weder das Verfassen von Weltbestsellern noch der Widerstand gegen Diktatur oder Diskriminierung, sondern lediglich, dass es ihr gelungen

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ist, »all die Jahre nicht zu verzweifeln, obwohl sie wahrlich Grund dazu gehabt« hätte (ebd.: 21). Männer hingegen taugen sowohl in der prominenten wie in der profanen Fassung als Resilienzvorbilder. So berichtet Kalisch von einem »jungen Mann«, der durch Burn-out seinen Job bei einer Bank verloren hat und darüber im Nachhinein »froh und dankbar« ist (ebd.: 207). Dieses Beispiel scheint im Umkehrschluss außerdem nahezulegen, dass zwischen Auschwitz-Überlebenden und ausgebrannten Bankangestellten in Bezug auf Resilienz offenbar höchstens eine graduelle Differenz besteht. Bedeutsamer ist ihre Gemeinsamkeit, nämlich, dass sie sich von Rückschlägen, welcher Art auch immer, nicht unterkriegen lassen und negative Erfahrungen nach Bedarf in nützliche und förderliche umdeuten. Diese Aufgabe klingt nun womöglich komplizierter als sie ist; tatsächlich wird sie, wie Kalisch weiterhin berichtet, auch von Mäusen, genauer gesagt: von manchen Mäusen bewältigt. Während nicht-resiliente Mäuse, setzt man ihnen einen besonders aggressiven Artgenossen in den Käfig, nachhaltig verstört und verunsichert werden, passen sich resiliente Mäuse der ungemütlichen Zwangssituation qua veränderter Genexpression dynamisch und aktiv an (ebd.: 57) und bleiben auch nach Beendigung des Experiments entspannt. Ebendiese Exemplare, also »Mäuse, die trotz einer längeren Erfahrung von Unterlegenheit nicht sozialaversiv werden«, könne man »als Modell für Aspekte der menschlichen Resilienz bezeichnen« (ebd.: 55). Die ideale Maus im Modell des unternehmerischen Selbst hätte demgegenüber wohl versucht, den unliebsamen Käfiggenossen im Kampf der Kräfte zu besiegen oder zumindest erfolgreich einzuschüchtern. Mit einer »längeren Erfahrung von Unterlegenheit« jedenfalls hätte sie sich sicher nicht abgefunden. Insofern zeigt das Mäusegleichnis: Das resiliente Subjekt ist dynamisch adaptiv, vorübergehender oder auch andauernder sozialer Unterlegenheit nicht grundsätzlich abgeneigt, und genau deshalb auf lange Sicht erfolgreich. Statt klug in vielversprechende Möglichkeiten zu investieren (vgl. Bröckling 2007: 93), übt es sich vielmehr in der Kunst der »Extinktion« (Kalisch 2017: 169  ff), womit eine Mentaltechnik bezeichnet ist, bei der unangenehme Erfahrungen samt der damit verbundenen Gefühle (Angst, Ohnmacht, Verzweif lung) rückwirkend unschädlich gemacht werden. Extinktion ist gewissermaßen die ver-

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gangenheitsbezogene Komplementärtechnik zur zukunftsgerichteten, optimistischen Selbstwirksamkeitsüberzeugung (s. S. 117).11 Aggressivität und Rücksichtslosigkeit, wie sie in den »Bauanleitungen für die Ich-AG« (Bröckling 2007: 65) als eine Art Kerntugend des unternehmerischen Selbst immer wieder aufscheinen, sind in resilienzbezogenen Programmatiken guter Subjektivität allerdings nicht einfach verschwunden. Sie haben jedoch gewissermaßen die Seiten gewechselt und sind von einem wesentlichen Charakteristikum des idealen Subjekts zu einem Merkmal seiner Umwelt geworden. Insofern das resiliente Subjekt angehalten wird, »auf den Körper zu achten« (Siegrist 2017: 23ff.), die Fähigkeit zur kontemplativen »Innenschau« (Mourlane 2014: 30) zu kultivieren und schließlich und vor allem »Leid mit Würde zu tragen« (ebd.: 31), scheint es sich in einer Umwelt zu bewegen, die im günstigen Fall ausgeblendet, im weniger günstigen stilvoll erlitten werden muss. Resiliente Subjekte sind deshalb auch nicht zuallererst mit der »Exploration der eigenen Wünsche« (Bröckling 2007: 66) befasst, sondern stellen sich die folgende Frage: »Welchen ›schweren Sturm‹ habe ich selbst überstanden und was ›in mir‹ hat dazu geführt, dass ich dies geschafft habe?« (Mourlane 2014: 32). In gewisser Weise schlägt das resiliente Subjekt also dem rastlosen und im Zweifel auch überehrgeizigen unternehmerischen Selbst mittels Nichtinvestment und Extinktion ein Schnippchen. Wie sich durch notorische Zurückhaltung in einer konkurrenzbasierten Ökonomie Gewinn erwirtschaften lässt, ist freilich nicht ganz einfach zu erklären. Entsprechend verwirrend gerät die Anweisung: Die Ellbogen sollen Sie schon einsetzen und »auch für etwas kämpfen« instruiert Mourlane seine Leser*innen, aber das heiße nicht, dass »Sie auf der anderen Seite nicht auch etwas für Ihre Mitmenschen tun können« (Mourlane 2014: 188). Das Ganze versteigt sich schließlich zu der folgenden Formel: Je integrer man sei, desto höher die Wahrscheinlichkeit, auch »beruf lichen Erfolg zu haben« (ebd.). Den Beweis für diese Behauptung bleibt der Autor freilich schuldig, und das von ihm selbst später aufgeführte Beispiel Steve Jobs, auf das ich weiter unten zurückkomme, belegt auch eher das Gegenteil.

11  H  ier stellt sich die Frage, ob Extinktion wiederum posttraumatisches Wachstum fördert oder eher verhindert. Das von Kalisch präsentierte Beispiel Jürgen Vietor spricht eindeutig für die erste Option; hier scheint die Fähigkeit zur retrospektiven mentalen Löschung als Vorstufe der posttraumatischen Entwicklung.

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Nun könnte man Aussagen wie die letzteren als eine Art implizite Kapitalismuskritik lesen. Tatsächlich aber scheint es darum zu gehen, das kapitalistische Konkurrenzprinzip mit einem höheren Sinn aufzuladen und mithilfe einer naturalistisch begründeten Auslagerung zu entprofanisieren. Resilienz sei, so Mourlane, der intelligente Einsatz knapper Ressourcen (ebd.: 102). Doch anders als in der neoklassischen Theorie sind knapp im Kontext von Resilienz nicht die Güter, sondern die individuellen oder kollektiven Einf lussmöglichkeiten auf Umwelt und Schicksal. Entscheidend ist deshalb die Fähigkeit, zwischen Beeinf lussbarem und Nichtbeeinf lussbarem zu unterscheiden (ebd.: 104). Als Beispiel dafür muss diesmal Oskar Schindler herhalten, der NSDAP-Mitglied und folglich kein Systemgegner oder gar Widerstandskämpfer war, sondern im Gegenteil versucht hat, »von den Veränderungen, die der Zweite Weltkrieg und das Naziregime brachten, finanziell zu profitieren«, und der dennoch oder gerade deshalb mehr als eintausend Menschen das Leben gerettet hat (ebd.: 111), was ihm gelang, weil er »keine Ressourcen darauf [verschwendete], das gesamte Regime zu stürzen« (ebd.). Kurz: Es geht um die eigenen begrenzten Ressourcen, nicht die des Marktes oder der Umwelt, mit denen man sparsam haushalten muss, was dann ebenso mit »Sinn« wie mit wirtschaftlichem Erfolg belohnt wird. In dieser Hinsicht ist das resiliente Subjekt seinem Vorgänger also treu geblieben: Es möchte Geld verdienen und schneller sein als die Konkurrenz. Somit folgt auch Resilienz, sofern sie nicht als Charaktereigenschaft, sondern mit Kalisch und vielen anderen als dynamischer Prozess aufzufassen ist, in der Tat, genau wie das unternehmerische Selbst, dem »Prinzip der Unabschließbarkeit« (Bröckling 2007: 71): Man ist nie ein für allemal resilient und Resilienz insofern eine Lebensaufgabe (vgl. Bröckling 2017: 116). Dabei geht es allerdings weniger darum, sich permanent zu steigern, als vielmehr darum, sich permanent (neu) auszutarieren. Der Steigerungsimperativ weicht hier dem Imperativ der stets noch zu verbessernden »agilen Anpassung« (s. Kap.3.5). Vor diesem Hintergrund wird auch plausibel, warum die für das unternehmerische Subjekt so zentrale Kreativität (Bröckling 2007: 159ff.) im Zusammenhang mit Resilienz eher blass bleibt. Während Kreativität strukturell auf dem Abstand vom Wirklichen zum Möglichen basiert (Makropoulos 2010; s. S. 60), entsteht Resilienz, wo Menschen bereit sind, das Wirkliche grosso modo so zu nehmen, wie es ist sowie dazu, im Zweifel ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit ein wenig nachzujustieren. Das resiliente Subjekt ist insofern weniger »kreativer

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Nonkonformist und pedantische Krämerseele« (Bröckling 2007: 125) in einer Person als vielmehr glücklicher Konformist ohne größere Ambitionen, etwas Neues zu schaffen, bietet doch die allzeit Schocks, Turbulenzen oder auch Traumatisierungen bereithaltende Umwelt bereits mehr als genug Abwechslung. Damit verschwindet allerdings auch jenes potenziell kritische (und deshalb hochgradig paradoxe Element) aus der Figur des unternehmerischen Selbst, das in der gezielten Überschreitung von Regeln das eigentliche Erfolgsrezept erkennt: Klassische neoliberale Gouvernementalität fordert die Subjekte dazu auf, »anders zu sein« (ebd.: 285; vgl. Foucault 2004: 342), womit das für dieses Subjektivierungsprogramm charakteristische Zentralparadox benannt ist: Konformität durch Abweichung. Demgegenüber lautet das zentrale, nicht minder paradoxe Versprechen der Resilienz, unbesiegbar durch Verletzlichkeit zu werden: »vulnerable, but invincible« (Kalisch 2017: 63, vgl. Werner/Smith 1989). Hier wird das – im Kern immer noch disziplinarische – Register Norm/Abweichung also vom Register Ohnmacht/ Sieg abgelöst, eine Verschiebung, die zugleich auf den latent autoritären Zug des Resilienzkonzeptes verweist. Mit »Sieg« ist allerdings, zumindest vordergründig, nicht der Sieg über die wirtschaftliche Konkurrenz gemeint, sondern der über die Widrigkeiten des Lebens, welche zwar durchaus auch Niederlagen im ökonomischen Kampf um den Platz an der Sonne sein können, aber auch noch vieles andere mehr. Insofern das unternehmerische Selbst »Produkt und Produzent, Chef und Untergebener, Lieferant und Kunde in einer Person« (Bröckling 2007: 66) und folglich tagaus, tagein mit der Verwaltung seiner selbst als Humankapital befasst ist, ist es zugleich »Subjekt und […] Objekt individueller Wahlentscheidungen« (ebd.: 94); es verfügt »souverän über das eigene Leben« (ebd.). Allerdings hat diese Souveränität auch eine dunkle Seite, wie Bröckling betont. In der Objektdimension nämlich ist das unternehmerische Selbst auf den Status des »nackten Lebens« zurückgeworfen: »Wenn das Leben zur ökonomischen Funktion wird, bedeutet Desinvestment Tod« (ebd.); wer beispielsweise nicht angemessen in die eigene Gesundheitsvorsorge investiert, nimmt der neoliberalen Eigenverantwortungsideologie zufolge letztlich sein vorzeitiges Ableben oder zumindest sein den herrschenden Aktivitätsstandards nicht entsprechendes Alter(n) in Kauf (van Dyk/Graefe 2009). Das resiliente Subjekt kehrt dieses Verhältnis um: In Form der überall lauernden Möglichkeit, traumatisiert zu werden, und der darin implizierten Chance, sich selbst in eine »hoch resiliente Persönlichkeit« (vgl.

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Mourlane 2014: 40f.) zu verwandeln, verliert das »nackte Leben«, das sich in Anlehnung an den italienischen Philosophen Giorgio Agamben als umfassender Entzug subjektiver Handlungsfähigkeit und damit als Reduktion von Subjektivität auf bloßes Überleben begreifen lässt (Agamben 2002; vgl. Graefe 2007: 106), nicht einfach nur seinen Schrecken. Es erscheint zugleich als Medium der Selbstverwirklichung wie als nicht zu unterschätzender Konkurrenzvorteil gegenüber denjenigen, denen das Schicksal bislang existenziell schwere Prüfungen erspart – oder man sollte wahrscheinlich korrekter formulieren: vorenthalten hat. Wer sich von prekären Arbeitsverhältnissen, schwindender sozialer Absicherung, überbordenden Arbeitsanforderungen oder rassistischer Diskriminierung nicht auf halten lässt, der hat nicht nur ein »schwere[s] Schicksal« bewältigt, sondern, mehr noch, eine unvergleichliche »Erfolgsformel« gefunden (Resetarits 2017). Dabei lässt sich die Produktivität von Trauma und Unglück auch quantifizieren: Um in den vollen Genuss des »Stahlbad-Effekts« (Kalisch 2017: 197)12 zu kommen, sollten es nicht weniger als drei, aber auch nicht mehr als vier robust negative bis traumatische Ereignisse im Leben sein, die das Subjekt durchgestanden hat (ebd.: 71f.). Kurz: Das »nackte Leben« wandelt sich von der »dunklen Seite« des Subjekts zu einer Ressource. Was das heißt, verdeutlicht Mourlane wiederum an einem prägnanten Beispiel, nämlich anhand der Biografie von Steve Jobs, dem 2011 verstorbenen Apple-Gründer. Jobs, der wohl mit Fug und Recht als quasi perfekte Verkörperung des unternehmerischen Selbst gelten kann, gehört auch aus Sicht von Mourlane »zu den beruf lich erfolgreichsten Menschen unseres Planeten« (Mourlane 2014: 190). Hinsichtlich der Frage, wie es um Jobsʼ Resilienz bestellt war, fällt das Urteil nichtsdestotrotz zwiespältig aus. Jobs hätte zwar fraglos einige sehr starke Resilienzfaktoren aufzuweisen gehabt – namentlich Zielorientierung, Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Optimismus und Impulskontrolle. Andererseits sei es mit seiner Empathie nicht weit her gewesen – so sie denn überhaupt existierte, habe es sich allenfalls um eine »funktionale«, nicht aber um eine authentische Empathie gehandelt (ebd.: 198). Wer sich nun fragt, wie beides zusammengeht, der unübertreff liche ökonomische Erfolg und die ambivalente Resilienzbilanz, dem legt Mourlane nahe, die 12  I nwiefern Kalisch hier die aufgrund ihrer deutlichen Nähe zu Ernst Jüngers »Stahlgewittern« mindestens ambivalente Metaphorik bewusst ist, lässt sich schwer einschätzen.

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Krebserkrankung und schließlich auch den frühen Tod von Steve Jobs als folgerichtige Konsequenz aus seiner bei allem Erfolg letztlich doch unzureichenden Resilienz zu begreifen (ebd.: 212f.). Demzufolge hat Jobs es nicht nur an Loyalität seiner Familie und Firma gegenüber fehlen lassen, er hat zudem die Erfahrung des »nackten Lebens«, die die Krebserkrankung ihm bot, nicht im Sinne der Überarbeitung seiner »schwachen Resilienzfaktoren« (ebd.: 197) – und damit als Erfolgsressource – genutzt.13 Wie schon erwähnt, befindet sich das unternehmerische Selbst, wie Bröckling herausarbeitet, in einem permanenten Antagonismus: Es soll einerseits auf sich selbst achten und sich andererseits rückhaltlos für »die Firma« einsetzen (Bröckling 2007: 71), soll sich selbst verwirklichen und Gewinne maximieren. Daraus resultiere eine »strukturelle Überforderung«, die aber gewollt sei, erzeuge sie doch genau jene produktive Spannung, aus der die Produktivität des Selbstunternehmers hervorgehe (ebd.). Auch Kalisch thematisiert eine mögliche Überforderung der Subjekte (Kalisch 2017: 90f.), die aus der doppelten Anforderung, produktiv und resilient zu sein, erwachsen kann. Könnte es sein, so seine rhetorische Frage, dass das Wissen um Resilienz den Druck auf Arbeitnehmer*innen zukünftig noch weiter erhöht? Seine Antwort: In der Tat sei davon auszugehen, dass Resilienz zu einer Grundanforderung zukünftiger Arbeit werde: Das »wird so kommen« (ebd.: 111). Aktuell aber könne von Überforderung noch keine Rede sein, dafür seien bisherige betriebliche Resilienztrainings noch viel zu »harmlos« (ebd.). Der Beruhigung folgt die Drohung auf dem Fuße, denn Resilienztrainings der Zukunft, so Kalisch, würden sich fraglos zu einer »ernsthaften Angelegenheit« (ebd.: 112) wandeln – und ja, das würde dann wohl den Druck erhöhen. Nichtsdestotrotz handele es sich letztlich um eine positive Entwicklung, und wie die schöne resiliente Arbeitswelt zukünftig aussehen könnte, skizziert er mithilfe eines fik13  I nteressant ist, dass Mourlane hier dem Resilienzfaktor »Empathie« indirekt sogar eine anti-karzinogene Wirkung zuschreibt, während er im Rahmen der Bertelsmann-Studie (Mourlane et al. 2013), zusammen mit seinen Co-Autoren zu dem Schluss kam, dass Empathie für die Burn-out-Prävention keine wesentliche Rolle spielt (s. S. 115). Empathie scheint somit zur Prävention kleinerer Leiden verzichtbar, im Falle lebensbedrohlicher Erkrankungen aber eine Art Ass im Ärmel darzustellen. Warum Empathie eben doch »erfolgreicher und glücklicher« macht (als Jobs es war), erklärt Mourlane damit, dass Empathie zum einen ermöglicht, die Perspektive zu wechseln, zum anderen erleichtert sie die Steuerung, genauer gesagt: die Aussteuerung der negativen Emotionen (ebd.: 53).

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tiven Zukunftszenarios: Krankenkassen finanzieren die neurobiologische Überwachung der individuellen Stressresistenz am Arbeitsplatz, worauf hin Beschäftigte im Zweifel ein maßgeschneidertes Resilienztraining verordnet bekommen, das ihre Resilienz und damit zugleich ihre Produktivität steigert, etwa in Form eines Videospiels, »mit dem sie kognitive Fähigkeiten und hilfreiche Denk- und Verhaltensmuster trainieren« (ebd.: 91).14 Zugleich und andererseits besteht Kalisch aber auch auf den potenziell widerständigen Charakter von Resilienz – erst Resilienz ermögliche Resistenz. Und so lässt er es sich schließlich nicht nehmen, seinen Leser*innen mit hörbarem Pathos zuzurufen: »Ermächtigt euch! Sprengt die Ketten« (ebd.: 211). Mit »Ketten« sind hier freilich nicht prekäre Arbeitsverhältnisse, kapitalistische Eigentumsordnungen, tyrannische Vorgesetzte oder endlose Arbeitstage gemeint, sondern die beschränkenden emotionalen und kognitiven Muster der Subjekte. In dieser kleinen Sequenz vollzieht sich folglich eine komplette Umdeutung des abendländischen Emanzipationsparadigmas: Befreiung wird nicht mehr als Befreiung von Herrschaft durch fremde Instanzen aufgefasst, sondern als Befreiung von den eigenen »habits of mind – habits we can cultivate and change« (Zolli/Healy 2012: 19, Hervorh. i. O.). Summa summarum wird im Zeichen von Resilienz einerseits also dazu aufgefordert, individuelle Grenzen der Produktivität und Leistungsfähigkeit anzuerkennen, und dazu, Karriere und Beruf nicht allzu wichtig zu nehmen. Leistungs- und Produktivitätsimperative selbst werden jedoch nicht nur nicht infrage gestellt, sondern als kontingente und prinzipiell unbeeinf lussbare Umweltbedingungen aufgefasst, wodurch Erfahrungen von Überforderung und Erschöpfung 14  T atsächlich sind Szenarien wie das von Kalisch entworfene alles andere als ferne Zukunftsmusik. In dem chinesischen Unternehmen Hangzhou Zhongheng Electric etwa werden im Rahmen eines von der Regierung unterstützten Feldversuchs Arbeiter*innen Helme aufgesetzt, mit denen sich Hirnströme und »mentaler Stress« messen lassen, woraufhin die entsprechenden Arbeiter*innen dann ggf. nach Hause geschickt werden oder andere Aufgaben zugeteilt bekommen, wodurch das Unternehmen in zwei Jahren eine Umsatzsteigerung von 140 Millionen Yuan erzielt haben soll (Chen 2018). Von einem ähnlichen Projekt in den Niederlanden berichtet Phoebe Moore in ihrer Studie über das »Quantified Self in Precarity« (2018: 166ff.). Die Frage, inwiefern digitale Quantifizierungstechniken die Durchsetzung des Resilienzparadigmas, zumal in »agilen« Unternehmenskulturen, beschleunigen und erleichtern, ist überaus relevant, kann hier aber nicht weiter verfolgt werden.

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letztlich auf das Subjekt selbst, genauer: auf dessen mangelnde Resilienz, zurückgeführt werden können. Zugleich wird das Selbst, das heißt: die je eigenen Emotionen und Gedanken, als privilegierter Ort der Herstellung von Resilienz entworfen. Emotionale Selbstregulation, im Zweifelsfall angeleitet durch Expert*innen, stellt im Kontext subjektbezogener Resilienz somit nicht bloß eine Handlungsoption unter mehreren dar, sondern im Grunde die überhaupt sinnvollste und rationalste Form des Handelns. Anders als beim unternehmerischen Selbst wird die ökonomische Nutzenmaximierung in subjektbezogenen Resilienzkonzeptionen zudem ganz in den Dienst der Sinnmaximierung gestellt: Wer resilient ist, kann aus jeder denkbaren Situation des Lebens Sinn generieren, und dass dies auch ökonomisch nützlich ist, ergibt sich gewissermaßen von selbst. Schließlich, und der Kritik an unrealistischen Steigerungsimperativen zum Trotz, impliziert Resilienz auch eine Entwicklungsperspektive: Mehr Resilienz ist immer besser als weniger Resilienz – und im Zweifel auch ökonomisch lukrativ. Somit stellt sich subjektbezogene Resilienz zusammenfassend als der Versuch dar, die biophysischen wie ethischen Begrenztheiten des unternehmerischen Selbst zu überarbeiten, ohne dabei die Grundregel der freiwilligen Selbstvermarktlichung infrage zu stellen. Nicht zuletzt wird das resiliente Subjekt als eines entworfen, das grundsätzlich auch mit sozialem Abstieg, Exklusion und Armut zurechtkommt. Auch in dieser Hinsicht scheint es das Ergebnis einer Art Realitätskur zu sein, der sich das unternehmerische Selbst unterziehen musste. Die frohe Botschaft lautet nunmehr, dass zwar keineswegs alle auf eine Gewinnerposition rechnen dürfen, dafür aber immerhin alle resilient werden können. Resilienz ist auch in dieser Hinsicht ein passgenaues Konzept des f lexiblen Krisenkapitalismus.

4.5 Die normative Kraft des Unglücks Wie das vorliegende Kapitel gezeigt hat, impliziert Resilienz als Subjektprogramm einerseits den Glauben an die Macht des Faktischen und andererseits die Überzeugung, dass sich jedes noch so negative Erlebnis in etwas Positives oder, in Gestalt des posttraumatischen Wachstums, sogar in etwas außerordentlich Positives verwandeln lässt. Zugleich wird die mentale und emotionale Selbstregulation, die sowohl die Technik der moderaten Selbstüberschätzung als auch die der retro-

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spektiven »Extinktion« unangenehmer Erlebnisse einschließt, im Kontext von Resilienz zu einer zentralen Technologie des Selbst (Foucault 1993). Diese besteht letztlich darin, die Beziehung des Subjekts zur Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt einer optimierten Funktionalität f lexibel zu konfigurieren. In seinem Essay über den »kapitalistischen Realismus« weist Mark Fisher in Anlehnung an die Arbeiten des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan auf die kategorisch unbestimmbare Natur des Realen hin: »Das Reale ist ein nicht repräsentierbares X, eine traumatische Leere, die nur in den Brüchen und Inkonsistenzen der offenkundigen Realität entdeckt werden kann.« (Fisher 2013: 26) Entsprechend sollte man, so Fisher, allen Äußerungen, die sich auf Realität berufen, zutiefst misstrauen – in der Regel manifestiere sich darin nichts anderes als reine Ideologie. Fisher bezieht sich hier vor allem auf die unzählig oft wiederholte Rede von der angeblichen »realistischen« Alternativlosigkeit des Neoliberalismus. Die Warnung, dass wir es meist mit Ideologie zu tun haben, wo von Realität die Rede ist, hat in »postfaktischen Zeiten« (Neiman 2017) gerade nicht an Relevanz verloren, tritt doch, wie beispielhaft der US-amerikanische Präsident Donald Trump nicht müde wird vorzuführen, »an die Stelle der kritischen Prüfung [zunehmend] ein Wahrheitsspiel, das allein mit der Währung Aufmerksamkeit arbeitet, die in Form von Likes und Links ihre digitale Verstärkung erfährt« (van Dyk 2017: 365). In dieses Muster fügen sich Konzepte subjektbezogener Resilienz insofern ein, als hier als »real« vor allem das aufgefasst wird, was sich im Subjekt mental abbildet, wobei die Differenz zwischen Abbild und Abgebildetem, anders als im Falle Trumps, nicht bestritten wird. Niemand stellt infrage, dass Krieg, Diskriminierung oder Abschiebung für das betroffene Subjekt unangenehm, bedrohlich und beängstigend sind. Behauptet wird allerdings, dass das objektiv Unerfreuliche dieser potenziellen Lebensereignisse für das Subjekt nicht handlungsrelevant sein muss. Davon ausgehend erklärt sich auch, warum Kritikfähigkeit im Zeichen von Resilienz nicht als pädagogischer Zielhorizont entworfen wird: Es macht ganz einfach keinen Sinn, Irrelevantes zu kritisieren – im Zweifel verhindert es sogar die sinnvolle Arbeit an der inneren Repräsentation der äußeren Umwelt. Darin impliziert ist, wie ebenfalls deutlich geworden ist, eine bestimmte anthropologische Annahme: Weil Menschen überall und jederzeit verwundbar sind, ist Resilienz jederzeit und überall sinnvoll,

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garantiert sie doch Handlungsfähigkeit auch inmitten von Chaos, Unsicherheit und Stress. So gesehen, scheint auch die subjektbezogene Resilienz der Logik der Homöostase (S. 94) zu folgen und auf die Wiederherstellung eines vormaligen Gleichgewichtszustands zu zielen. An dieser Stelle setzt der Diskurs um posttraumatisches Wachstum ein, der etwas in Aussicht stellt, das mehr ist als eine bloße Rückkehr zum Status quo: das Über-sich-Hinauswachsen des Subjekts. Dieses Potenzial zur Transzendenz hat freilich nicht jeder Mensch, sondern nur diejenigen, die schwerwiegende, also »reale« Traumatisierungen erlitten haben. Solche Traumatisierungen wiederum können theoretisch zwar auch von Naturkatastrophen, Krankheiten oder Verkehrsunfällen herrühren. Die übergroße Mehrzahl der Beispiele in der einschlägigen Literatur bezieht sich jedoch auf menschengemachte Gewalt, das heißt auf Terror, Krieg und Genozid, denen damit indirekt ein erhebliches therapeutisches Potenzial zugeschrieben wird. Und was für die spektakulären menschengemachten Katastrophen gilt, gilt in abgeschwächter Form auch für die alltäglichen: Armut oder soziale Ungleichheit – man denke an das Beispiel der sozial unterlegenen, aber resilienten Käfigmaus – versprechen zwar nicht im selben Ausmaß subjektive Transzendenz wie Folter oder Krieg, doch auch sie lassen sich, eine gute Selbstregulation vorausgesetzt, mental abfedern, wodurch schließlich der Weg für die persönliche Sinnmaximierung frei wird. Nicht zuletzt angesichts dieser starken Betonung der Sinndimension liegt die Frage nach der normativen Dimension von Resilienz nahe. Oberf lächlich betrachtet scheint klar: Gutes Handeln ist Handeln, das individuelle Resilienz fördert und vice versa. So gesehen handelt es sich allenfalls um eine Art Minimalethik. Doch angesichts des Pathos, mit dem das resiliente Dasein als gutes oder wenigstens deutlich besseres Leben beworben wird, steht zu vermuten, dass es doch um mehr geht. Tatsächlich scheint Resilienz mit einigen besonders unappetitlichen Seiten des unternehmerischen Selbst aufzuräumen. Wie Lutz Eichler herausgearbeitet hat, ist die erfolgreiche Selbstunternehmerin nicht nur im alltagssprachlichen, sondern auch im engeren psychoanalytischen Sinne Narzisstin. In Reinform verfügt sie über ein »grandioses Selbst«, »das sich, seine ›Ideen‹ und seine Tatkraft bewundert und [das] andere bewundern sollen«; andere Menschen werden hingegen vom unternehmerischen Selbst nicht als eigenständige Subjekte anerkannt, sondern lediglich als ›Selbsterweiterungen‹ wahrgenommen« (Eichler 2013: 394f.). Von grandiosen Subjekten oder Subjektfantasien erfährt

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man im Kontext subjektbezogener Resilienz wenig, von geläuterten jedoch viel: Insofern resilient ist, wer positiven Lebenssinn aus dunklen Erfahrungen generiert, erscheinen diese Erfahrungen geeignet, das Subjekt in eine bessere Version seiner selbst zu verwandeln. Doch dieser Vorgang scheint das Subjekt andererseits, wie ebenfalls skizziert, gerade nicht gegenüber Ethnozentrismus, Nationalismus und Autoritarismus zu immunisieren. Bereits Aaron Antonovsky hatte darauf hingewiesen, dass das für sein Konzept von Salutogenese (das, wie in Kap.  2.2 gezeigt, mit dem der subjektbezogenen Resilienz eng verwandt ist) grundlegende Erleben von Kohärenz nicht automatisch mit moralisch wertvollen Haltungen und Handlungen korrespondiert. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die »gute Gesundheit der Nazis, von religiösen Fundamentalisten, patriarchalischen Männern, Kolonialisten, aristokratischen und kapitalistischen Unterdrückern«, welche ein starkes Kohärenzgefühl »nur auf Kosten ihrer Opfer« erreichten; zudem betont er, dass das Konzept der Salutogenese nicht als Anweisung zur richtigen Lebensführung verstanden werden, sondern »nur das Verständnis von Krankheit und Gesundheit erleichtern« soll (zit.n. Franke 1997: 189). Eben diese Unterscheidung wird im Diskurs um subjektbezogene Resilienz aufgeweicht: Wer dem Gebot der selbstregulativen Sinnmaximierung nicht Folge leistet, riskiert einiges, wie Mourlanes Interpretation des Krebstods von Steve Jobs zeigt, aber auch Fookens Bewertung von Primo Levis Suizid: Der »vorzeitige Tod« (vgl. Feldmann 2010) des nicht ausreichend resilienten Subjekts erscheint hier in dem Maße als folgerichtig, in dem Resilienz als zentrale Voraussetzung für ein langes, erfolgreiches und gesundes Leben gilt. Insgesamt scheint Resilienz also einerseits ein in moralischer Hinsicht zunächst neutrales Konzept zu sein, das andererseits, vermittelt über eine quasi-religiöse Auf ladung mit der Denkfigur der »Läuterung«, einen moralischen Eigenwert enthält. Dieser Eigenwert wiederum besteht im Kern in der Annahme, dass man für sich selbst (das heißt in erster Linie für die eigenen Gedanken und Gefühle) Verantwortung übernehmen soll, während man sich zugleich konsequent von der Vorstellung verabschiedet, belastende oder krisenhafte Rahmenbedingungen des eigenen Lebens oder des Lebens von Anderen (mit-)beeinf lussen zu können. Die Frage ist wiederum, was nun an dieser spezifischen Moral eigentlich neu ist. Wie Foucault in seiner Vorlesung von 1979 erklärt, fehlt dem Sozialismus »eine gouvernementale Vernunft, eine Definition dessen, was

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[…] eine Rationalität der Regierung wäre, d.h. ein vernünftiges und berechenbares Maß des Umfangs der Modalitäten und der Ziele des Handelns der Regierung« (Foucault 2004: 134). Anders der Neoliberalismus, der ein Regierungsprogramm konzipiert, welches die Individuen dazu auffordert, aus sich selbst und aus ihrem Leben »so etwas wie ein ständiges und vielgestaltiges Unternehmen [zu] machen« (ebd.: 334). Dabei wird, wie Foucault weiter ausführt, der Staat nicht als Souverän gedacht, der die Individuen zur richtigen, das heißt hier: unternehmerischen Lebensführung anweist. Vielmehr zielt neoliberale Gouvernementalität auf das Projekt »einer Gesellschaft, in der es eine Optimierung der Systeme von Unterschieden gäbe, in der man Schwankungsprozessen freien Raum zugestehen würde, in der es eine Toleranz gäbe, die man den Individuen und den Praktiken von Minderheiten zugesteht, in der es keine Einflussnahme auf die Spieler des Spiels, sondern auf die Spielregeln geben würde und in der es schließlich eine Intervention gäbe, die die Individuen nicht innerlich unterwerfen würde, sondern sich auf ihre Umwelt bezöge« (ebd.: 359). Eine solche Gesellschaft würde nicht nur dem Homo oeconomicus, sondern auch dem resilienten Subjekt ein ideales Habitat bieten: Es wird nicht dirigiert, sondern bewegt sich in einer sich permanent verändernden Umwelt, in der es sich immer wieder neu justiert. Jedoch unterscheidet sich Foucaults Skizze des US-amerikanischen Neoliberalismus in einem wesentlichen Punkt von der in der Resilienzliteratur aufscheinenden Gesellschaftsvision: Eine politische Gestaltung der Rahmenbedingungen oder Spielregeln stellt aus der Perspektive von Resilienz keine realistische Option dar. Und während Erfolg in der neoliberalen Konzeption des Selbstunternehmers auch das Ergebnis glücklicher Fügungen sein kann, muss man im Kontext von Resilienz etwas erlitten haben, um in den wahren Genuss von Sinn, Wachstum, Reife und Erfolg zu kommen. Darüber hinaus impliziert die Humankapitaltheorie, wie Foucault ausführt, eine konsequente Absage an anthropologische oder psychologische Konzeptionen des Subjekts (ebd.: 348f.), was auch bedeutet, dass sich eine moralische Bewertung etwa kriminellen Verhaltens erübrigt; der »Verbrecher« wird »in keiner Weise auf der Grundlage von moralischen oder anthropologischen Merkmalen gekennzeichnet oder verhört« (ebd.: 350), sondern als ein Homo

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oeconomicus aufgefasst, der in eine »Handlung investiert, […] sich einen Ertrag davon erhofft und […] das Risiko des Verlusts akzeptiert« (ebd.). Freilich trifft dies allenfalls auf der Ebene der Theorie und nicht auf der Ebene der neoliberalen Praxis zu (worauf ich gleich zurückkomme). Doch nicht einmal theoretisch wird das Subjekt im Zeichen von Resilienz als ausschließlich ökonomisch rational handelnder Akteur, sondern gewissermaßen als ökonomisch handelnder Produzent von Lebenssinn aufgefasst, wodurch nicht nur die Grenze zwischen Ökonomie und Moral erodiert, sondern auch der anti-anthropologische und -moralische Charakter des Homo oeconomicus. Geoffroy de Lagasnerie zufolge ist es genau diese Absage an anthropologische, psychologische und damit auch moralische Aussagen über die Natur des Subjekts, die Foucault am Neoliberalismus besonders interessiert, um nicht zu sagen fasziniert hat (de Lagasnerie 2018: 132ff.). Anders als Foucault, der 1984 starb, wissen wir heute, dass sich der real existierende Neoliberalismus gerade nicht durch eine Abstinenz moralisierender Programmatiken der »richtigen Lebensführung« auszeichnet. Die umfassende »Responsibilisierung« der Bürger*innen ist vielmehr eines seiner zentralen Merkmale (Brown 2015). Responsibilisierung als Regierungstechnik wiederum impliziert, wie Nikolas Rose und Filippa Lentzos erklären, eine Ethik der Selbstregierung (Rose/ Lentzos 2017: 28), und genau dafür leiste das Konzept der Resilienz einen nicht zu unterschätzenden Beitrag. Dieser Sichtweise zufolge lässt sich Resilienz als eine Art und Weise verstehen, die neoliberale Norm des selbstverantwortlichen unternehmerischen Handelns auf ein breiteres ethisches Fundament zu stellen; die Vielfalt der neoliberalen »techniques of self-government« (ebd.) werde unter der Überschrift Resilienz in eine umfassende Ethik der Lebensführung integriert. Die deutlich erkennbare Sympathie von Rose/Lentzos für Resilienz als erweiterte Form neoliberaler Responsibilisierung müsste angesichts der bisherigen Erfolgsgeschichte des Resilienzkonzeptes nicht weiter erstaunen, wäre Nikolas Rose nicht einer der profiliertesten Analysten neoliberaler Gouvernementalität und hätte er nicht bereits in den 1990er Jahren hellsichtig beschrieben, dass und inwiefern die »Mechanismen, durch die der Einzelne […] für das Management der ihn bedrohenden Risiken verantwortlich gemacht wird, […] ein Feld [eröffnen], dessen Kennzeichen Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Angst sind« (Rose 2000: 99) – was sich als ebenso akkurate wie aktuelle Beschreibung der mit Resilienz verbundenen Programmatik lesen

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lässt. Nunmehr aber stellt Rose gemeinsam mit seiner Co-Autorin fest, Responsibilisierung oder Resilienz15 per se zu kritisieren käme einer irrealen Bezugnahme auf das »phantasm of an omnipotent neo-liberalism« (2017: 9) gleich; Tatsache sei vielmehr, dass wir selbst und unsere Gesellschaften in so vielerlei Weise als vulnerabel betrachtet werden müssten, dass Resilienz darauf die denkbar beste Antwort darstelle (ebd.: 14f.). In diesem Argument verweben die beiden Autor*innen Foucaults Souveränismuskritik mit der in das Resilienzparadigma eingewebten Anpassungsethik: »If no authorities can deliver total security, if total security is a costly fantasy, then perhaps resilience is a more economical alternative, indeed perhaps a more liberal alternative, drawing as it does, not on an image of an overwhelming and powerful authority that will protect us, but on the resources of each of us and all of us as vital creatures, that is to say, creatures with the will to survive and the capacity to adapt to our milieu.« (Ebd.: 12) Via Resilienz werden hier kybernetisch-evolutionäre Perspektiven auf Gesellschaft an die altbekannte neoliberale Moralisierung individuellen Verhaltens geknüpft. Auf diese Weise erscheint Resilienz als eine Art Türöffner für eine neue Lust an der Responsibilisierung des Subjekts in der krisenförmigen Gegenwartsgesellschaft. Diese folgt gerade nicht einer Logik der »neoliberale[n] […] Umwidmung von Verantwortung [in] unverwundbare und niemandem verpf lichtete Unabhängigkeit« (Athanasiou/Butler 2014: 149), sondern, ganz im Gegenteil, dem Gebot einer allzeit verwundbaren und gerade deshalb moralisch gebotenen Verantwortungsübernahme für sich selbst, die zugleich systematisch über das Selbst hinausweist: Im Zeichen von Resilienz, so Rose/Lentzos, werde das Individuum als moralisches Subjekt konzipiert, das enge Verbindungen zu anderen eingeht; Verbindungen, die eine »specific moral collectivity« (Rose/Lentzos 2017: 18) formen.16 Subjektbezogene Resilienzkonzepte tragen, zusammengefasst, nicht nur, vermittelt über die Figur der Läuterung, erkennbar christlich-religiöse Züge, sondern binden diese zugleich an den für den Neolibera15  Tatsächlich setzen Rose/Lentzos beide Begriffe mehr oder weniger synonym. 16  I ch komme auf den Zusammenhang von Resilienz, Vulnerabilität und Community ausführlicher in Kapitel 5.2 zurück.

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lismus des »Dritten Weges« zentralen Topos der Eigenverantwortung (Schröder/Blair 1999; s. Kap. 3.3), welcher im Kontext von Resilienz in eine psychosoziale Konzeption des Subjekts eingearbeitet wird. Aus dieser Konzeption wird das für den Selbstunternehmer konstitutive kapitalistische Prinzip der Konkurrenz einerseits scheinbar gelöscht, andererseits genau dadurch gestärkt, dass es, ebenso wie andere strukturelle Dimensionen von Herrschaft und Macht, im Modus der Nichtthematisierung zu einer nicht verhandelbaren Umweltbedingung von Subjekten und Communities erklärt wird. Zu behaupten, dass Resilienz religiös fundiert ist, stimmt freilich nicht ganz. Denn auch Religiösität wird im Zeichen von Resilienz in spezifischer Weise neu gedacht. Die enge Verbindung von Religiösität und Resilienz begründe sich nicht, wie Andrew Zolli und Ann Mari Healy erklären, in dem Glauben an eine höhere Instanz oder ein Leben nach dem Tod, sondern darin, dass Religiösität verbesserte Resilienzwerte verspricht (Zolli/Healy 2012: 169). In diesem Argument ist wiederum ein bestimmtes Verständnis des Prozesses der Subjektivierung impliziert. In seiner Theorie der ideologischen Anrufung hatte Louis Althusser darauf hingewiesen, dass es die materiellen Praktiken sind, die den »Glauben« an die (hier: göttliche) Autorität produzieren (und nicht, wie gemeinhin angenommen, umgekehrt). In diesem Zusammenhang zitiert er den Theologen Pascal: »Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben.« (Althusser 1977: 138), was Isolde Charim in ihrer Interpretation des Althusser’schen Anrufungsmodells folgendermaßen präzisiert: »Knie nieder und Du wirst glauben, immer schon geglaubt zu haben.« (Charim 2002: 156) Resilienz als Subjektivierungsmodus, folgt man Zolli/Healy, gehorcht einer wiederum anderen Logik der Anrufung: Man muss nicht an Gott glauben, um resilient zu werden, sondern man muss an die resilienzförderliche Funktion von Religion glauben, um religiös zu werden. Das funktioniert freilich auch ohne Religion, wie in Kapitel  3.4 gezeigt. Hier ist es das »Vertrauen«, das die Subjekte ihrem Arbeitgeber beziehungsweise dem sie umgebenden »System« entgegenbringen sollen – und zwar nicht, weil diese vertrauenswürdig sind, sondern deshalb, weil es das Vertrauen selbst ist, das individuelle und damit auch organisationale Resilienz stärkt. Vielleicht liegt der deutlichste Abstand zwischen Homo resiliensis und unternehmerischem Selbst in der Betonung der schöpferischen Kraft von Unglück, Leid und Trauma bei zugleich weiträumiger Abwe-

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senheit von Kreativitätsimperativen.17 Hatten Tony Blair und Gerhard Schröder noch emphatisch eine Gesellschaft beschworen, die »erfolgreiche Unternehmer ebenso positiv bestätigt wie erfolgreiche Künstler und Fußballspieler und die Kreativität in allen Lebensbereichen zu schätzen weiß« (Schröder/Blair 1999), so scheint Kreativität im Kontext von Resilienz allenfalls auf den Status eines willkommenen Nebeneffektes zu schrumpfen: Das resiliente Subjekt ist nicht kreativ, sondern reaktiv, es bezieht seinen Lebenssinn, seine Handlungsfähigkeit und schließlich auch seine Reife aus singulären Erfahrungen von Gewalt, Schmerz und Ohnmacht. Oder anders gesagt: Kreativität als Vermögen, Neues zu schaffen, gerät zu einer kontingenten Randbedingung. Und im selben Maße, wie die Beziehung von ökonomischem Nutzen und subjektivem Sinn zugunsten von Letzterem umgekehrt und menschliches Unglück als Sinngenerator par excellence betrachtet wird, wird schließlich jede Kritik am Kapitalismus, die dessen ökonomische, soziale oder ökologische »Sinnlosigkeit« ins Zentrum stellt, selbst sinnlos. Wo individuelle »Stahlbad«-Erfahrungen nicht nur funktional nützlich sind, sondern Lebenssinn versprechen, wo »dunkle Ereignisse« in Erfolgschancen umgedeutet werden, und wo die umfassende normative Responsibilisierung des Subjekts als einzig realistischer Umgang mit Krise, Chaos und Unsicherheit erscheint, da erübrigt sich in letzter Konsequenz die Kritik an Gewalt, Unterdrückung oder sozialen Hierarchien. Resiliente Subjekte leben letztlich weniger im »permanenten Ausnahmezustand« (Exner 2013: 7), als vielmehr in einer Zone, in der die Differenz von Normalität und Ausnahme, Profanem und Heiligem, Existenziellem und Alltäglichem, sozialem und nacktem Leben, aber auch von »guter« und »schlechter« Gesellschaft irrelevant geworden ist. Genau hier liegt das gefährliche Moment des Resilienzkonzeptes. 17  E ine Ausnahme findet sich bei Hildenbrand, der Resilienz als Voraussetzung von Kreativität fasst: »Je schwieriger die Bedingungen sind, umso größer ist die Chance, dass schöpferisch gehandelt wird« (Hildenbrand 2006: 207) – was freilich eine ebenfalls diskussionswürdige Annahme darstellt. Im Kontext ökologischer und sicherheitstechnologischer Resilienzkonzepte (Kap. 5.3) wird Resilienz in der fortgeschritteneren Variante durchaus als Bedingung für Innovation nach dem Prinzip des embrace uncertainty gefasst. Der Unterschied zu herkömmlichen Vorstellungen von Kreativität ist gleichwohl, dass der kreative Impuls im Zusammenhang mit Resilienz nicht aus dem Subjekt und seinem Erfindungsreichtum, sondern aus der bedrohlichen Umwelt entspringt. Oder anders gesagt: Die künstlerische Dimension wird aus der Vorstellung eines prinzipiell offenen Möglichkeitshorizonts (Makropoulos 2010) entfernt – aus Kunst wird Schicksal.

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5. Die Welt im Katastrophenmodus: Zur imaginären Kontur von Resilienz Wie einleitend erwähnt sollen nicht nur erschöpfte Arbeitnehmer*innen und Unternehmen resilient werden, sondern auch Finanzmärkte, Regenwälder, Demokratien, Infrastrukturen und vieles mehr. Im letzten Kapitel dieses Essays wird es darum gehen zu überlegen, was es bedeutet, wenn Resilienz nicht nur als Handlungsvorschlag für bedrängte Subjekte ins Spiel gebracht wird, sondern als eine jener »natürlichen« Kategorien, die unsere politische Vorstellungskraft prägen (Neocleous 2013). Nicht zuletzt ist Resilienz eine Metapher, und Metaphern formieren Wirklichkeitswahrnehmungen, auch unterhalb ihres beabsichtigten Einsatzes (Lakoff/Johnson 2007). So impliziert die Metapher der Resilienz (von resilire, zurückprallen, s. S. 19) eine spezifische Zeitlichkeit: Es stellt sich immer erst im Nachhinein heraus, wie resilient man wirklich war. Dementsprechend bin ich resilient im Hinblick auf ein Ereignis, das »gewesen sein wird« (Bröckling 2017: 134). Diese Logik der Antizipation teilt Resilienz freilich mit ähnlichen Begriffen wie dem der Prävention. Doch anders als bei der Prävention greift Resilienz erst nach dem Ereignis. Es handelt sich somit um eine antizipierte Reaktion, nicht um eine dem Ereignis zuvorkommende Aktion. Darüber hinaus entwirft Resilienz als Metapher das Objekt der Einwirkung (im Falle menschlicher Resilienz also: das Subjekt) in doppelter Weise: Zum einen kann es Zeitpunkt, Form und Ausmaß der Einwirkung nicht mitbestimmen oder -gestalten. Zum anderen, und wichtiger, kann es die Einwirkung selbst nicht verhindern: Eingewirkt wird in jedem Fall, die Bezeichnung »resilient« unterscheidet lediglich die günstigere von der weniger günstigen Form der Reaktion des Objekts. Anders gesagt: Wer oder was resilient werden soll, wird zugleich metaphorisch selbst dort als strukturell reaktiv und passiv adressiert, wo im Namen von Resilienz Aktivität und Agilität eingefordert werden.

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Nicht zuletzt ausgehend von den metaphorischen Implikationen des Begriffs Resilienz stellt sich die Frage, was es bedeutet, wenn gesellschaftliche Probleme zunehmend als Probleme aufgefasst werden, die mithilfe von Resilienz bearbeitet werden können und sollen. Dieser Frage möchte ich im Folgenden in Form eines skizzenförmigen Ausblicks nachgehen. Dafür werde ich im Anschluss an eine kurze Bilanzierung der bisherigen Argumentation (5.1) am Beispiel des Topos der »Community Resilience« diskutieren, dass und inwiefern Resilienz dazu beiträgt, die Differenz zwischen dem Sozialen (als lebensweltlicher Nahraum) und der Gesellschaf t (als abstrakte Hintergrundbedingung des Sozialen) unscharf werden zu lassen (5.2). Darauf hin werde ich die »katastrophischen« Implikationen und Variationen von Resilienz als Sicherheitslogik in den Blick nehmen (5.3) und danach fragen, ob und inwiefern im Zeichen von Resilienz die angebliche Unregierbarkeit der Welt zum Ausgangspunkt von Sicherheitspolitiken (im weitesten Sinne) wird, in denen sich Strategien der psychopolitischen Responsibilisierung der Bürgersubjekte mit potenziell autoritären Politiken der Angst kreuzen. Wo von Resilienz die Rede ist, ist explizit oder implizit immer auch von Verletzlichkeit die Rede. Eine kritische Auseinandersetzung mit Resilienz schließt deshalb auch die Frage ein, ob »wir« tatsächlich so verletzlich, so gefährdet und so ausgesetzt sind, wie es Resilienzdiskurse nahelegen. Diese alles andere als leicht zu beantwortende Frage erhält noch mehr Gewicht, wenn man sie mit dem prominent von Judith Butler formulierten Vorschlag, Vulnerabilität als Ausgangspunkt widerständiger politischer Praktiken zu verstehen, konfrontiert. Vor diesem Hintergrund werde ich abschließend (5.4) die Beziehung von Resilienz und Vulnerabilität diskutieren und danach fragen, inwiefern Resilienz auch ein gesellschaftskritisches Potenzial bereithält – und ob sich, falls das der Fall sein sollte, damit die Notwendigkeit einer Kritik der Resilienz erübrigt.

5.1 Rückblick und Antwort auf eine oft gehörte Frage Als Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu Erschöpfung und Resilienz im Krisenkapitalismus habe ich in diesem Essay die widersprüchliche »Natur« der Erschöpfung gewählt. Wie ich in Kapitel  2 vorgeschlagen habe, lässt sich die Erschöpfung als eine Form der gesellschaftlichen Problematisierung der Beziehung von Arbeit, Subjektivi-

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tät und Gesundheit im f lexiblen Kapitalismus verstehen. Erschöpfung ist ein eminent soziales Phänomen, gesellschaftlicher Diskurs und individuelles Leiden zugleich, und sie lässt sich für eine (individuelle wie kollektive) Konf liktualisierung von Arbeit unter den Bedingungen von Flexibilisierung, Subjektivierung und sozialer Entsicherung nutzen. Auf der anderen Seite kann Erschöpfung, vermittelt über den Umweg der Therapeutisierung, auch Ansatzpunkte für Strategien der Dekonf liktualisierung bieten, wie die Fallgeschichten von Maria und Angela gezeigt haben. Davon ausgehend ist Alain Ehrenbergs These vom »Verschwinden des Konf likts« in der Gegenwartsgesellschaft zugleich richtig und falsch: richtig, insofern die Konf liktualisierung von Arbeit – sowohl auf individueller wie auf kollektiver Ebene – vor dem Hintergrund der eingeforderten »leidenschaftlichen Verhaftung« der Subjekte an ihre Arbeit, eines weiträumig entgrenzten Konkurrenzprinzips und sich ausbreitender therapeutisierender Programmatiken fraglos äußerst anspruchsvoll geworden; falsch, insofern sie deshalb weder unmöglich noch überf lüssig ist. Der Doppelcharakter von Erschöpfung als Problematisierungsweise hängt jedoch nicht nur mit ihrer uneindeutigen »Natur«, sondern auch und vor allem mit dem Thema der Autonomie zusammen, das ich in Kapitel 3 untersucht habe. Einer verbreiteten Lesart zufolge lässt sich die Zunahme stressbedingter Leiden – von alltäglicher Überforderung bis zu den einschlägigen klinischen Diagnosen – als Konsequenz aus den in der f lexibel-kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft deutlich gestiegenen subjektiven Autonomieerwartungen einerseits und gesellschaftlichen Autonomiepotenzialen andererseits deuten. Letztere wiederum seien, namentlich in Form intensivierter Flexibilisierungs- und Steigerungsimperative, Ergebnis einer machtvollen Vereinnahmung ehemals gesellschaftskritischer Diskurse ins neoliberale Programm der Menschenführung. Doch auch wenn ich diese Deutungen prinzipiell teile, bleibt doch die – wiederum doppelte – Frage bestehen, warum erstens eine Zunahme an Handlungsoptionen und Wahlfreiheiten die Anfälligkeit der Subjekte für Erschöpfung steigert und zweitens, ob wir es im Neoliberalismus tatsächlich mit einer Vereinnahmung von Autonomie zu tun haben oder nicht eher mit ihrer systematischen Rekonfiguration. Während die einschlägigen soziologischen Zeitdiagnosen vor allem Autonomie als Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung in den Blick nehmen, erhöhen sich unter den Bedingungen der »doppelt doppelten« Subjektivierung (sie umfasst Ansprüche und An-

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forderungen und ist Drohung und Verheißung zugleich, s. S.37) vor allem die Anforderungen an die Selbstorganisationsfähigkeiten der Subjekte. Autonomie als Selbstorganisation folgt jedoch einer substanziell anderen Logik als Selbstverwirklichung oder Selbstbestimmung, wie ich am Beispiel von Konzeptionen des adaptiven Managements gezeigt habe, die nicht nur Unternehmen, sondern auch Beschäftigte als (Teil-)Systeme adressieren, deren »Überleben« von ihren Fähigkeiten zur unternehmerischen Selbstorganisation und damit zur »agilen Anpassung« an veränderliche, unkalkulierbare und radikal unsichere Umweltbedingungen abhängt; eine Konstellation, die von den Subjekten wiederum identifikatorisch aufgefangen und bearbeitet werden muss. Weiter gefasst lässt sich das Prinzip der Selbstorganisation als indirekter Steuerungsmodus auffassen, der einerseits an die Wünsche der Subjekte nach mehr Autonomie anschließt und diese zugleich in spezifischer Weise umlenkt – sei es in Form der Adressierung abhängig Beschäftigter als selbständige Unternehmer*innen, sei es in Form konsumvermittelter Selbstoptimierungsangebote oder sei es in Form von sozialpolitisch begründeten Eigenverantwortungsdiskursen. Letztlich wird den Subjekten der f lexibel-kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft somit nicht Autonomie an und für sich zum Problem, sondern vor allem eine spezifische Fassung von Autonomie – Autonomie als Selbstorganisation –, die Selbstverwirklichungs- und Selbstbestimmungserwartungen aufgreift und auf die Logik der Selbstorganisation engführt: Autonomie wird im f lexiblen Kapitalismus also nicht einfach nur entgrenzt, sondern zugleich in spezifischer Weise »monopolisiert«. Erschöpfung stellt sich davon ausgehend als eine mögliche Reaktion des Subjekts auf die erlebte Kluft zwischen seinen oder ihren Autonomieerwartungen und den je konkreten Autonomieerfahrungen dar. Parallel wird die Logik von Autonomie als Selbstorganisation in jüngerer Zeit unter der Überschrift Resilienz popularisiert, normativ aufgeladen und programmatisch nicht zuletzt gegen das kritische Potenzial der Erschöpfung in Anschlag gebracht: Im Zeichen von Resilienz werden Subjekte aufgefordert, sich im Hinblick auf den Erhalt und die Steigerung ihrer Produktivität besser selbst zu organisieren, indem sie eigenverantwortlich ihre Stressresistenz optimieren und ihre Belastbarkeit erhöhen. Resilienz lässt sich in diesem Sinne nicht nur als passgenaue hegemoniale Antwort auf die Erschöpfung, sondern auch als Antwort auf das Problem der Autonomie im Postfordismus oder f lexiblen Kapitalismus verstehen: Sie stellt die Möglichkeit in Aussicht, die Folgeschäden

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der Intensivierung von Produktivitätsimperativen im Subjekt selbst zu bearbeiten und schreibt die Logik der Selbstorganisation dabei zugleich tiefer ins Subjekt ein. Die – nicht zuletzt unter ökologischen Gesichtspunkten mehr als problematische – Intensivierung und Extensivierung des konsumistischen Selbstverwirklichungs- beziehungsweise Optimierungsbegehrens auf Seiten der Subjekte (Blühdorn 2013: 131ff.) lässt sich vor diesem Hintergrund auch als Reaktion auf diese Konstellation und damit als Versuch der Kompensation eines grundlegenden Mangels an Autonomie deuten, der umso stärker erlebt wird, je mehr Autonomie ubiquitär in Aussicht gestellt wird. Von diesen Überlegungen ausgehend habe ich in Kapitel 4 das im Konzept der Resilienz implizierte Bild vom Subjekt in den Blick genommen. Dafür habe ich zunächst einige Grundannahmen psychologischer und pädagogischer Perspektiven auf Resilienz skizziert und den darin eingewobenen Wirklichkeitsbezug untersucht. Subjektbezogene Resilienz adressiert weniger die Lebenswelt des Subjekts als (mit-)gestaltbares Objekt des eigenen Handelns, sondern vor allem deren mentale und emotionale Repräsentation im Subjekt, das heißt die je eigenen Gedanken und Gefühle. Vermittelt über Techniken der kognitiven Selbststeuerung verspricht Resilienz, die situativ jeweils notwendige Anpassung des Subjekts an kontingente Umweltbedingungen zu erleichtern. Dass Resilienz aber nicht bloß ein geschmeidigeres Durchkommen in Aussicht stellt, sondern darüber hinaus eine Art Glücksversprechen enthält, habe ich entlang des psychologischen Konstrukts vom Posttraumatischen Wachstum diskutiert; ein Konstrukt, das persönliche Erfüllung, Entwicklung und Reife an die Erfahrung von Traumatisierung knüpft. Darin impliziert ist nicht nur eine tendenziell naturalisierende Sichtweise auf Gewalt, sondern auch ein spezifischer Subjektbegriff: Zu sich selbst findet das Subjekt durch das ontologische Ausgesetztsein in kategorisch unverfügbaren Bedingungen. Auch diese Denkfigur impliziert eine Dezentrierung des autonomen Handlungssubjekts, diesmal jedoch weniger im Zeichen von produktivistischen Systemimperativen als vielmehr im Zeichen einer als katastrophisch entworfenen Realität, wobei die Katastrophe nicht als radikaler Ausnahmezustand befürchtet, sondern als Wachstumsgelegenheit begrüßt wird. Die Gegenüberstellung der neoliberalen Zentralfigur des unternehmerischen Selbst mit populären Programmatiken von Resilienz hat schließlich gezeigt, dass das resiliente Subjekt, wenig überraschend, mit dem unternehmerischen Selbst eng verwandt ist. Zugleich aber finden sich

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zwischen beiden Subjektfiguren auch einige interessante Differenzen. So stellt sich der Homo resiliensis nicht nur als ökonomisch handelndes, sondern zugleich als biophysisch komplexes und verletzliches Subjekt dar, dem es zudem eher um Sinn- als um Gewinnmaximierung zu tun ist; ein Subjekt, das, anders als das unternehmerische Selbst, weniger leistungswillig und kreativ zugleich ist, als vielmehr »vulnerable, but invincible« (Werner/Smith 1989). Das resiliente Subjekt ist handlungs- und konkurrenzfähig (und damit letztlich auch produktiv), weil es kategorisch verletzlich ist und nicht souverän über die Bedingungen seiner Existenz und seiner Produktivität verfügt. Nicht zuletzt ist der Homo resiliensis ein Subjekt, das sich im Zweifel auch in seine soziale Deklassierung willig einfügt oder diese sogar als willkommene Gelegenheit zur persönlichen Resilienzstärkung begrüßt. Summa summarum stellt sich Resilienz als ein in dreifacher Hinsicht dekonf liktualisierendes Konzept dar: Es impliziert erstens die doppelte Dezentrierung des Handlungssubjekts (das sich als Teil von Systemen und selbst als adaptives System begreifen soll), zweitens die Normalisierung der Katastrophe (sie ist als jederzeit mögliche Option einerseits auf Dauer gestellt und verliert andererseits genau dadurch ihren exzeptionellen Charakter) sowie drittens die Ontologisierung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen (von sozialer Exklusion und Ungleichheit bis zum Versagen der ökologischen Krisenbearbeitung) als unverfügbare Umweltvariablen. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, dass jeglicher Bezug auf Resilienz intentional der skizzierten Dreifachlogik folgt – im Gegenteil. Wohl kaum ein Satz begegnete mir während ich an diesem Buch arbeitete und gelegentlich davon berichtete so häufig wie dieser: »Ja, aber … hat Resilienz nicht doch auch was Gutes?«1 Meine Antwort auf die »Ja, aber …«-Frage fällt in der Regel etwa so aus: Ich erkläre, dass es mir um Resilienz als Konzept geht (dieser Hinweis klärt zugegebenermaßen meist noch nicht besonders viel). Dass ich gar nicht bestreiten kann oder will, dass es Lebenssituationen gibt, in denen wir alle ein 1  N  icht ganz so oft, aber auch nicht selten wurde ich gefragt, was das eigentlich sei, Resilienz. Diese letzte Frage zeigt, dass der Begriff der Resilienz, seiner imposanten Karriere im (populär-)wissenschaftlichen und politischen Diskurs zum Trotz, im Alltagsdeutsch noch nicht voll angekommen ist. Während »to be resilient« im Englischen auch diesseits elaborierter Diskurse eine durchaus positive Form der Hartnäckigkeit, Unerschütterlichkeit und Ausdauer ausdrückt, gibt es Vergleichbares im Deutschen nicht.

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Quentchen Resilienz gut gebrauchen können. Dass es ohne jede Frage angenehmer und im Hinblick auf den eigenen Gefühlshaushalt auch ökonomischer ist, an Dingen und Umständen, die man sowieso nicht beeinf lussen kann, nicht zu verzweifeln. Dass jede, die schon einmal auch nur unter akuter Arbeitsunlust gelitten hat, die Vorzüge einer halbwegs funktionierenden emotionalen Selbstregulation zu schätzen weiß. Dass es mir zudem nicht darum geht, den im Feld der Resilienz aktiven pädagogisch-therapeutischen Akteur*innen üble Absichten oder gar die Mitgliedschaft in einer Art neoliberalem Geheimbund zu unterstellen. Und ja, dass sogar die psychologische Instrumentalisierung der Biografien von Schoah-Überlebenden (Kap. 4.3) sich letztlich nicht aus dem Anliegen speist, die Verbrechen des NS zu verharmlosen, sondern aus dem, deren Auswirkungen besser zu begreifen. Nichts spricht zudem dagegen, mit Kindern, die von Abschiebung bedroht und alltäglicher Ausgrenzung ausgesetzt sind, Theater zu spielen, Ausf lüge zu unternehmen und ihnen Zuwendung durch vertrauenswürdige Erziehungspersonen zukommen zu lassen (Kap. 4.2). Nichtsdestotrotz möchte ich das »Ja, aber …« wiederum mit einem »Ja, aber …« beantworten. Dass erstmal nichts dagegen spricht, benachteiligte Kinder, chronisch Kranke, Gef lüchtete, Gefolterte und auch gestresste Arbeitnehmer*innen darin zu unterstützen, dass sie nicht depressiv werden, sich nicht ohnmächtig und handlungsunfähig fühlen, heißt nicht, dass Resilienz als Konzept unproblematisch ist. Der Teufel steckt, wie so oft, einerseits im Detail, andererseits im großen Ganzen. Oder anders gesagt: Auch in Bezug auf Kinder, Gef lüchtete und Erschöpfte erübrigt sich die Ref lexion der weiteren Implikationen des Resilienzkonzpetes auch dann nicht, wenn es sich im Konkreten bisweilen als nützlich erweist.

5.2 Die heilende Kraft des Sozialen: Resiliente Gemeinschaften Als Ausgangspunkt für eine solche Ref lexion bieten sich Ansätze an, die Resilienz selbst kritisch auffassen, ohne das Konzept deshalb für obsolet zu erklären. So diskutiert etwa Esther Kleefeldt auf Basis ihrer professionellen Erfahrungen in der psychotherapeutischen Arbeit mit Gef lüchteten instruktiv die Chancen und Grenzen resilienzorientierter Beratungsarbeit in diesem Feld (Kleefeldt 2018). Dabei kritisiert sie den

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essenzialistischen (Resilienz als Eigenschaft), dualistischen (resilient/ nicht-resilient) und schließlich und vor allem den individuumszentrierten Bias von Resilienz (ebd.: 33ff.). Resilienz müsse stattdessen als eminent kontextabhängige Fähigkeit gefasst werden, die sich nicht linear, sondern in »Kreisläufen, die durch vielfältige Wechselwirkungen gekennzeichnet« sind (ebd.: 36), entfaltet. Vor allem müsse die (für subjektbezogene Resilienz grundlegende) Unterscheidung von Risiko- und Schutzfaktoren die »Vielzahl weiterer möglicher Einf lussfaktoren, die nicht im Individuum, sondern in der Umwelt zu verorten sind«, berücksichtigen: »Soziale Unterstützung durch Familie, Freunde, Gruppen und Gesellschaften, auch in Form von professioneller Unterstützung« (ebd.: 40, Hervorh. i.O.). In ähnlicher Weise thematisieren auch Maike Rönnau-Böse und Klaus Fröhlich-Gildhoff (2015), die Resilienzförderprogramme im vorschulischen Bereich maßgeblich mit entwickelt haben (Korn 2019), berechtigte Kritiken am Resilienzkonzept. Dabei problematisieren auch sie eine mögliche, »stark subjektivistische bzw. individualistische Sichtweise von Resilienz« (ebd.: 23) und verweisen zudem auf die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung des Konzepts. Der Kritik einer mit Resilienz potenziell einhergehenden gesellschafts- und strukturblinden und in diesem Sinne individualisierenden Reduktion wird in diesen Ansätzen also insofern begegnet, als sie ausdrücklich – wie dies allerdings auch schon Emmy Werner und Ruth Smith (1989) getan haben – die Bedeutung des sozialen Kontextes betonen (vgl. auch Gabriel 2005). Schutzfaktoren, die Resilienz stärken, sind demnach nicht nur bestimmte Eigenschaften des Subjekts selbst, als vor allem gelingende Beziehungen zu signifikanten Anderen. Resilienz stellt sich davon ausgehend als pädagogisch-therapeutische Intervention dar, die geeignet ist, die Handlungsfähigkeit besonders verletzlicher Menschen gerade deshalb zu erweitern, weil sie diese nicht als isolierte »Monaden«, sondern als sozial vielfach kontextualisierte Subjekte auffasst. Dass eine solche Herangehensweise im konkreten Fall Sinnvolles bewirken kann, soll hier wiederum nicht bestritten werden. Nichtsdestotrotz möchte ich nach dem noch in dieser Kritik an Resilienz implizierten Subjekt- und Gesellschaftsverständnis fragen. Zunächst fällt in beiden genannten Beispielen einerseits die offenkundige Nähe der für die jeweilige pädagogisch-therapeutische Intervention formulierten Zielvorstellungen zum Anforderungskatalog neoliberaler Subjektivierung auf: Gef lüchtete etwa sollen lernen, nicht in »Passivität, Resigna-

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tion und Stagnation« zu verharren und »ihr Leben mehr als vorher in die Hand […] nehmen« (Kleefeldt 2018: 62). Sie sollen, mit anderen Worten, aktiv werden, wodurch sie im Umkehrschluss als vor der therapeutischen Intervention noch (zu) passive Subjekte adressiert werden, die in ihrem eigenen Interesse mobilisiert werden müssen. Kinder wiederum sollen nicht nur zu verbesserter Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbststeuerung, Selbstwirksamkeit und sozialer Kompetenz angeleitet werden (Rönnau-Böse/Fröhlich-Gildhoff 2015: 18), sondern auch einen »adäquaten Umgang mit Stress« (ebd.: 19) erlernen. Im einen wie im anderen Fall handelt es sich um Kompetenzen, die sich kaum von jenen unterscheiden, die im f lexiblen Kapitalismus typischerweise von Callcenter-Agent*innen, Führungskräften oder Langzeiterwerbslosen verlangt werden. Insofern Resilienzförderung auf die Erzeugung eines emotional kompetenten, kooperationsfähigen, selbstref lexiven und stressresistenten Subjekts zielt, stellt sie sich hier also als Modus dar, das »kulturelle Skript der wünschenswerten Persönlichkeit« (Illouz 2007: 124) für äußerst heterogene soziale Gruppen pädagogisch-therapeutisch aufzuschließen. Andererseits und darüber hinaus soll Resilienz aber nicht individualistisch, sondern als ausdrücklich soziales Phänomen aufgefasst werden – und das Subjekt als konstitutiv eingebunden in soziale Beziehungen und Netzwerke. Resilienz, so verstanden, nimmt die Kritik am solipsistischen Souveränismus des autonomen liberalen Subjekts (Kap. 3.2) ernst: »Niemand ist allein krank«, so Kleefeldt (2018: 81), auch »Familie, Gemeinschaft und Gesellschaft« müssten in den therapeutischen Prozess einbezogen werden und insbesondere »die Gemeinde« müsse als Moderatorvariable der resilienten Entwicklung« (Rönnau-Böse/Fröhlich-Gildhoff 2015: 158) verstanden werden. In diesen Aussagen wird das Individuum also als sozial relationales Individuum aufgefasst, wodurch das Paradigma der Resilienz »entindividualisiert« werden soll. Morus Markard zufolge lässt sich »Sozialität« als die »anschauliche« Dimension von Gesellschaft verstehen, während »Gesellschaftlichkeit« – also Institutionen, Strukturen, soziale Verhältnisse – »kein anschaulicher, kein unmittelbarer Erfahrungstatbestand« ist (Markard 2007: 7, Hervorh. i.O.). Jedoch ist Unanschaulichkeit, wie Markard weiterhin betont, nicht dasselbe wie Unerfahrbarkeit; Gesellschaftlichkeit wird also durchaus erfahren, aber stets vermittelt, was wiederum bedeutet, »dass Erfahrungen, sofern sie nicht auf diese Momente hin [die gesellschaftlichen Strukturen, S.G.] analysiert werden,

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unvollständig und schief analysiert werden« (ebd.). Genau dies scheint bei der hier skizzierten »individualisierungskritischen« Resilienzförderung der Fall zu sein: Sie bezieht die Sozialität als »anschauliche« Seite von Gesellschaft in den therapeutisch-pädagogischen Zugriff auf das Subjekt ein – und verkennt eben darin deren eminent gesellschaftlichen Charakter. Diese Verkennung ermöglicht es beispielsweise, die für Gef lüchtete existenzielle Frage des Rechtsstatus als einen unter mehreren möglichen Schutz- oder Risikofaktoren zu subsumieren (Kleefeldt 2018: 71). Zugleich »bahnt« sie die Perspektive der Beratenden in einer bestimmten Weise, die – trotz aller Kritik am Individualismus des Resilienzkonzeptes – selbst radikal individualisierend ist, insofern sie das Subjekt und dessen Lebenswelt als privilegiertes Terrain der Herstellung und Ausbildung von Resilienz (und damit von Handlungsfähigkeit unter schwierigen Bedingungen) entwirft.2 Davon auszugehen, dass subjektives Leiden nicht nur sozial kontextualisiert stattfindet, sondern systematisch mit gesellschaftlichen Verhältnissen vermittelt ist (Markard 2007: 8.), stellt deshalb nicht kategorisch den Nutzen resilienzorientierter Förderung infrage (dieser wäre im Konkreten zu prüfen), sondern vielmehr das darin implizierte Verständnis von »Sozialität«, aus dem die Verbindung zur »Gesellschaftlichkeit« konzeptionell zwar nicht gelöscht, aber gewissermaßen an den Rand geschoben wird; Flucht als »politisches, soziales, gesellschaftliches und nicht zuletzt rechtliches« Phänomen etwa spielt für die Beratungsarbeit konzeptionell nur insofern eine Rolle, als sich daraus eine individuell je spezifische Kombination aus Ressourcen und Stressoren ergibt, was sich exemplarisch wiederum im Begriff der »Selbstorganisation« (Kleefeldt 2016: 80) abbildet, der hier vor allem die psychische Reorganisation des Subjekts unter veränderten Lebensumständen meint.3 Die damit aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Sozialität und Gesellschaftlichkeit stellt sich auch – und erst recht – in solchen Anwendungskontexten von Resilienz, in denen »das 2  E rhellend ist im Hinblick auf die ambivalente Gleichzeitigkeit aus Ermöglichung und Limitierung von Handlungsfähigkeit die Analyse von Simon Bohn zur Rolle des Resilienzkonzeptes im Kontext psychosozialer Beratung für Studierende an deutschen Hochschulen (Bohn i.E.). 3  U  nd nicht z.B. die politische Selbstorganisation von Geflüchteten, die sich gegen die Beschränkung ihres Rechtsstatus und die Verweigerung von citizenship zu Wehr setzen (Scherschel 2018) – Selbstorganisationsaktivitäten dieser Art scheinen keine Relevanz in Bezug auf Resilienz zu haben, also keinen »Schutzfaktor« darzustellen.

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Soziale« nicht nur als wichtiges Add-on der je individuellen Resilienz, sondern als die zentrale Ressource für Resilienz aufgefasst wird. Community Resilience stellt im internationalen Diskurs um Katastrophenschutz einen seit Jahren an Bedeutung gewinnenden Topos dar, an dem sich Zielobjekte der Förderung ebenso wie Methoden neu ausrichten. Parallel kommt es zur »Migration« des Konzepts der Community Resilience aus dem engeren Terrain des Katastrophenschutzes in eine Reihe anderer Themenfelder – »health and wellness, public safety, youth development, environmental sustainability« (Magis 2010: 401; medico international 2017). Grundannahme der Community Resilience ist, dass individuelle Resilienz nicht ausreicht, um der den jeweiligen Adressat*innen der Schutzmaßnahmen drohenden »series of traumas, many of which are as yet unimagined« angemessen zu begegnen (Wilson/Arvanitakis 2013). Zugleich verweist der Topos der Community Resilience auf einen grundlegenden Perspektivwechsel in den einschlägigen internationalen Diskursen und Programmen – vom einzelnen Individuum oder Haushalt zur kollektiven Selbstorganisation der bedrohten Bevölkerung in lokalen Zusammenschlüssen und Gemeinden. Dabei folgt die Grundidee der Community Resilience den bereits bekannten Grundannahmen von Resilienz: Es geht darum, die Ressourcen des jeweiligen Kollektivs zu ermitteln, zu stärken und auszubauen – vor dem Hintergrund einer von permanenter Veränderung und Unsicherheit gekennzeichneten Umwelt. Interessanterweise wird das »Objekt« der Resilienzförderung im Diskurs um Community Resilience selbst erst als dieses Objekt hervorgebracht. Das Internationale Rote Kreuz etwa definiert Communities als Gruppen von Menschen, die auf einem gemeinsamen Territorium oder auch weiter voneinander entfernt leben können, die über ähnliche kulturelle Gewohnheiten und Ressourcen verfügen und die denselben Bedrohungen und Risiken ausgesetzt sind, »such as disease, political and economic issues and natural disasters« (IFRC 2016: 21). Bereits vor der Klassifikation als »resilient« wird die Community hier als sozialer Akteur entworfen, der existiert, weil es Katastrophen gibt. Die Bindung an ein bestimmtes Territorium wird andererseits nicht als Existenzbedingung von Communities definiert, was vermuten lässt, dass als Community hier auch nicht-traditionale Gemeinschaften gelten sollen. Resiliente Communities, so das IFCR weiter, wissen Bescheid über die sie betreffenden Bedrohungen, sind »gesund«, können die Grundbedürfnisse ihrer Mitglieder befriedigen, weisen sozialen Zusammen-

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halt auf, haben wirtschaftliche Möglichkeiten, eine funktionierende Infrastruktur, nutzen die vorhandenen natürlichen Ressourcen auf angemessene Weise und sind vielfach intern sowie mit anderen Communities vernetzt (ebd.: 26). Entsprechend bietet das Rote Kreuz Programme zur Resilienzstärkung von Communities an, bei denen es zentral darum geht, mithilfe von Schulungen durch freiwillige Helfer*innen in den jeweiligen Bevölkerungsgruppen das Bewusstsein um Bedrohungen sowie um die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zu erweitern. Dabei versteht sich das Rote Kreuz als »Begleiter« oder »Helfer« der Communities, der mit diesen »auf Augenhöhe« zusammenarbeitet. Dies funktioniere allerdings nur, wenn die Mitglieder der Community »progressively take responsibility for managing their change process« (ebd.: 15). Längst ist die Arbeit mit und an der resilienten Community, wie Usche Merk berichtet, im Feld der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zu einer Schlüsselkategorie avanciert (Merk 2017: 126). Dabei wird Community Resilience zugleich als Antwort auf die dramatisch angestiegenen humanitären Herausforderungen der Gegenwart entworfen wie andererseits als Methode, um den traditionellen Topdown-Modus humanitärer Hilfe in Richtung von Partizipation und Empowerment zu überwinden. Resilienz stellt in dieser Perspektive eine Art »natürliche« soziale Ressource dar, die durch Praktiken der »good governance« gesteigert und ausgebaut werden kann (Zebrowski/ Sage 2017: 3). Auf diese Weise arbeitet Resilienz nicht nur der Selbstorganisation vulnerabler Bevölkerungen zu, sondern auch einer Dezentralisierung des Regierens (Methmann/Oels 2017: 63).4 Parallel wird Resilienz als technokratische »Strategie des Krisen- und Risikomanagements« konzipiert (Merk 2017: 132, vgl. Duffield 2016) und offen als 4  A  llerdings würde es zu kurz greifen, die Rhetorik von Empowerment, Community und Partizipation als bloße Verschleierung ökonomischer oder politischer Machtinteressen zu deuten. Wie Sangeeta Kamat am Beispiel des südindischen Bundesstaats Andhra Pradesh zeigt (2015), basiert die »New Development Architecture« strukturell tatsächlich auf der Mobilisierung demokratischer Partizipation lokaler Bevölkerungen, hier: auf einer komplexen regionalen und überregionalen Struktur von Mikrokredit-Selbsthilfegruppen, die selbstorganisiert arbeiten und ihre kollektiven Entscheidungen gemäß Konsensprinzip fällen. Dabei handele es sich, so Kamaat, um eine Form basisdemokratischer Partizipation, die allerdings strukturell in radikal ungleichen Herrschaftsbeziehungen (hier: zwischen Hilfegeber*innen und Hilfenehmer*innen) verankert ist; Beziehungen die selbst von der demokratischen Bearbeitung ausgenommen bleiben (vgl. Swyngedouw 2005).

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Instrument der Kostenreduktion verhandelt, etwa indem in internationalen humanitären Programmen Resilienz als Selektionskriterium eingesetzt wird, um Gefährdungspotenziale und Verwundbarkeiten potenzieller Hilfeempfänger zu berechnen, und »so die verwundbarsten Menschen in den gefährdetsten Gebieten zu identifizieren« (Merk 2017: 130, vgl. IFCR 2016: 22) und auf dieser Grundlage wiederum die Mittelverteilung zu rationieren. Resiliente Communities sollen also sehr unterschiedliche Aufgaben bearbeiten: den überfälligen Abschied vom postkolonialen Paternalismus der Geberländer, die selbstorganisierte Vorbereitung auf Krisen, Schocks und Katastrophen und schließlich die Reduktion der Kosten im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit (Merk 2017: 141f.).5 Zugleich ist »Community« nicht nur ein operativer Begriff, sondern wiederum eine Metapher, und zwar eine, die eine bestimmte Vorstellung von Wärme, Aufgehobensein, Heimat und Sicherheit transportiert (van Dyk 2018: 531; Joseph 2002). Die (Wieder-)Herstellung von Community Resilience im Rahmen der Wiederauf bauprogramme nach dem Hurrikan Katrina in New Orleans (2005) etwa versprach in diesem Sinne vor allem den am massivsten betroffenen Stadtteilen nicht nur eine substanzielle Verbesserung von Infrastruktur und Wohnsituation, sondern auch eine gestärkte gemeinsame Identität sowie die Kommunikation auf Augenhöhe mit Expert*innen, Privatunternehmen und Stadtregierung in einem gemeinsamen, partizipativen Prozess. Auf der Basis seiner Analyse der Effektivität der entsprechenden Wiederaufbauprogramme kommt Roberto E. Barrios allerdings zu dem Ergebnis, dass Resilienz hier vor allem bedeutete, New Orleans im Allgemeinen und die am meisten betroffenen Quartiere im Besonderen »in terms of capitalist utility and financial cost-benefit« (Barrios 2011: 125) zu reorganisieren, was in den entsprechenden Quartieren zu einem Anstieg der Mieten von bis zu 40 Prozent geführt und damit genau jene soziale Segregation stabilisiert habe, die die extrem ungleiche Verteilung der von Katrina verursachten Todesopfer und Schäden erst verursacht hatte (vgl. Zebrowski/Sage 2017: 9, Clark 2015, Tierney 2015). Dieser Kritik 5  A  m Beispiel der EU-Globalstrategie (EU 2016), in der der Terminus Resilienz nicht weniger als 40 mal vorkommt, zeigen Wolfgang Wagner und Rosanne Antholt (2016), dass und inwiefern Resilienz hier als neues »Leitmotiv« fungiert, das eine doppelte Botschaft transportiert: Krisen sind nicht zu verhindern und werden staatlicherseits nur noch bedingt abgefangen. Davon ausgehend indiziert Resilienz einen »clear shift of responsibilities from the EU to local communities« (ebd.: 424).

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zufolge wird im Zeichen der Post-Katrina-Community-Resilience also Sozialität adressiert und mobilisiert, während wiederum Gesellschaf tlichkeit – hier etwa: Eigentumsverhältnisse, soziale Hierarchien, Exklusion, struktureller Rassismus – aus der Definition des Gemeinsamen ausgelagert wird.6 Resilienz als Ressource von Communities zu verstehen, impliziert nicht nur eine bestimmte Beziehung von Sozialität und Gesellschaftlichkeit, sondern auch ein bestimmtes Verständnis des Sozialen. Wie in Kapitel 4.5 erwähnt, hat Nikolas Rose den neoliberalen Zentraltopos der Eigenverantwortung bereits Ende der 1990er Jahre analysiert (Rose 2000). Dieser Analyse zufolge erodiert im Kontext neoliberaler Gouvernementalität nicht nur die Grenze zwischen der Sphäre des Marktes und der Sphäre des Sozialen, sondern es verändert sich zugleich die Bedeutung des Terminus »sozial«. Das Soziale, so Rose, wird nicht länger als »eine Art Apriori des politischen Denkens« (ebd.: 76, Hervorh. i.O.) verstanden. Das sicherheitspolitische, fordistische Verständnis des Sozialen rücke vielmehr zugunsten einer neuen Rationalität von Regierung in den Hintergrund. Dabei handelt es sich Rose zufolge um eine Rationalität, in der »die kollektive Logik der ›Community‹ eine Verbindung […] mit dem am Einzelnen orientierten Ethos neoliberaler Politik eingeht« (ebd.: 86). Während das Regieren über Community in Großbritannien als Prototyp des liberalen Wohlfahrtsstaats (Esping-Andersen 1997) schon eine längere Tradition hat, gewinnt es im deutschen konservativen Modell erst in jüngerer Zeit an Bedeutung. Inzwischen arbeitet man aber auch hierzulande mit wachsendem Nachdruck an der Herstellung eines Raums zwischen Markt und Staat, der widersprüchliche Anforderungen konf liktfrei zu verknüpfen verspricht, etwa gestiegene Bedarfe nach sozialen Dienstleistungen mit dem austeritätspolitischen Gebot der »schwarzen Null«. Die Community (ob im Konkreten als Nachbarschaft, Stadtteil oder engagierte Zivilgesellschaft adressiert) wird dabei als Sphäre aufgefasst, in der – vorzugsweise in Form von »post-wage work« (van Dyk 2018), also nicht oder kaum bezahlter Freiwilligen- oder »Bürgerarbeit« – »sowohl die

6  P  ointiert bringt diesen Zusammenhang ein Plakat zum Ausdruck, das 2006 an verschiedenen Stellen in New Orleans auftauchte, versehen mit der Aufschrift »Stop calling me resilient. Because every time you say, ›Oh, they’re resilient‹ that means you can do something else to me. I am not resilient.«, www.noladefender.com/con​ tent/dont-call-me-resilient, (01.04.2019) (vgl. Bracke 2016: 71).

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mangelnde Gemeinwohlorientierung und soziale Integrationsleistung marktförmiger Allokation als auch das […] Risiko staatlicher Ressourcen-Fehlallokation und mangelnder Flexibilität« kompensiert werden soll (Haubner 2019). Community wird auch hier nicht essenzialistisch (als familiäre oder ethnische Bindung) definiert, vielmehr werden gerade sogenannte »Neo-Gemeinschaften« und Netzwerke als zentrale Akteure der wohlfahrtsstaatlichen Krisenbewältigung – von demografischem Wandel und Pf legenotstand bis zur sogenannten »Flüchtlingskrise« – adressiert.7 Die über den Topos der Community vermittelte Responsibilisierung des als sozial (nicht gesellschaf tlich) konstituierten Subjekts erfolgt in der f lexibel-kapitalistischen Gegenwart zugleich offensiv im Zeichen der Krise des Wohlfahrtsstaats und affirmiert somit auch dort die normative Logik der Resilienz, wo von Resilienz (noch) gar keine Rede ist. Den in jüngerer Zeit politisch-programmatisch an Bedeutung gewinnenden Zusammenhang von Community und Resilienz im Zeichen von Krise und Katastrophe bringt wiederum Nikolas Rose, zusammen mit Filippa Lentzos, prägnant, wenn auch diesmal weniger kritisch, als vielmehr affirmativ (s. S. 156) auf den Punkt: »On the one hand, securing individuals against adversity, whether poverty, urban violence, or even catastrophic external events such als floods or terrorist attacks, is beyond the power of the state alone; on the other, innovative actions – whether by loving parents, inspiring teachers, ressourceful communities – can ensure not merely survival but flourishing in novel and more effective, perhaps more democratic ways, by maximizing resilience.« (Rose/Lentzos 2017: 42) In Konzepten von Community Resilience wird Gemeinschaft, zusammengefasst, in zweifacher Weise als Ressource verstanden: als soziale Ressource, insofern sie die Krisenfestigkeit der Community stärken und Lebensqualität auch diesseits staatlicher Intervention erhöhen soll; als gesellschaf tliche Ressource, insofern qua Gemeinschaft lückenhafte staatliche Versorgungsstrukturen aufgefüllt oder ersetzt werden 7  I nstruktiv zur Konzeption dezentraler Demokratie (hier für den britischen Kontext) ist auch die von dem Labour-nahen Institute for Public Policy Research (IPPR) herausgegebene Broschüre »The Relational State« (Cooke/Muir 2012), in der eine (post-) wohlfahrtsstaatliche Vision von Regierung qua Community entworfen wird.

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sollen. Im ersten Fall ist Gesellschaftlichkeit konzeptionell unsichtbar, im zweiten wird sie als Problem adressiert, das auf der Ebene der Gesellschaftlichkeit selbst nicht (mehr) zufriedenstellend lösbar ist. Beides bedeutet wiederum nicht, dass in Konzepten von Community Resilience Gesellschaftlichkeit und/oder Staatlichkeit tatsächlich abwesend sind, wie das Beispiel New Orleans veranschaulicht. Vielmehr wurde der Topos der Community Resilience hier dazu genutzt, um gesellschaftlich etablierte Machtverhältnisse zu bekräftigen und auszubauen (Bulley 2013). Diese Konstellation wiederum bezieht ihre normative Kraft nicht nur aus dem im Begriff der Community eingewobenen Ideal einer von Modernisierung und Individualisierung unverdorbenen Lebenswelt, sondern auch aus der konstitutiven Kopplung von Community und Resilienz im Zeichen von Krise oder Katastrophe. Zugespitzt lässt sich Resilienz als programmatisches Scharnier zwischen einem sich abzeichnenden »Community-Kapitalismus« (van Dyk 2018), der sich ideologisch ironischerweise gerade auf die Kritik von Ökonomisierung, Vereinzelung und Produktivismus stützt, und einem bereits gut etablierten »Katastrophenkapitalismus« (Klein 2009) verstehen, der in Hurrikans, Krieg oder Flutkatastrophen einerseits neue Profitmöglichkeiten entdeckt und andererseits entweder besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen oder aber solche, die nicht vulnerabel genug sind, preisgibt – und in einem wie im anderen Fall ihre Gemeinschaftlichkeit feiert.

5.3 Resilienz oder: Die Unsicherheit umarmen Dafür, die Welt als unsicheren Ort und die Zukunft von Mensch, Gesellschaft und Natur als radikal ungewiss zu erleben, gibt es in der Gegenwart wahrhaftig genug Gründe. Ob wiedererstarkender Nationalismus, voranschreitender Klimawandel oder die Überwachung des Lebens durch digitale Großkonzerne: Selbst in den Wohlstandsinseln des globalen Nordens, wo die demokratischen und sozialen Sicherungsinstitutionen noch halbwegs zu funktionieren scheinen, wird die Zukunft von vielen Menschen als überaus ungewiss erlebt. Galt linken Gesellschaftskritiker*innen die Rede vom Ende der Geschichte (Fukuyama 1989) über viele Jahre hinweg als Inbegriff des für den »kapitalistischen Realismus« (Fisher 2013) typischen Zynismus, so hat sich auch in linken Debatten längst die Sorge um die Zukunft ausgebrei-

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tet und die Alternativlosigkeit schon deshalb eine neue Dimension erreicht, weil nicht einmal begriff lich eine Alternative zum Status quo in Sicht ist: Aus der Demokratie ist längst Postdemokratie geworden, aus Emanzipation Selbstvermarktlichung, aus Individualität Narzissmus, aus Nachhaltigkeit grüner Lifestyle usw. Zugleich ist offensichtlich, dass es der kapitalistische Zentralimperativ des »Immer-weiter-so« selbst ist, der für die vielfältigen Krisenerscheinungen verantwortlich zeichnet. In diesem Sinne sind, wie einleitend erwähnt, alle genannten Krisen eine einzige Krise, nämlich die Krise des finanzialisierten und globalisierten Wachstumskapitalismus. Dass Kapitalismus Krisen provoziert, ist wiederum nichts Neues; neu ist aber das Ausmaß von Krisenerscheinungen und Krisenwahrnehmungen (wobei die einen von den anderen, wie auch bereits festgestellt, genauso abhängen wie umgekehrt). Reinhart Koselleck unterscheidet drei semantische Modelle der Krise: die Geschichte als Dauerkrise, die Krise als Überschreitung einer Epochenschwelle und die Krise als jüngstes Gericht oder Letztentscheidung (Kosselleck 2006: 207ff.), und er hielt schon vor mehr als einem Jahrzehnt das letztgenannte Modell als das für die Beschreibung der Gegenwart passende. Angesichts dessen, dass sich die »Kraft zur Selbstzerstörung des autonomen Menschen vervielfacht hat«, gehe es jetzt darum, »alle Kräfte darauf zu richten, den Untergang zu verhindern« (ebd.: 216). In dieser Deutung fällt die Krise als Normalität mit der Katastrophe als radikal Anderes der Normalität zusammen. Im allgemeinen Verständnis lässt sich die Katastrophe eigentlich gerade nicht als Dauerzustand denken, stellt sie doch »eine extreme Form menschlicher Erfahrung bzw. deren Ex-post-Rationalisierung« dar, die eben durch die Etikettierung als »Katastrophe« überhaupt erst zugänglich wird (Voss/Dittmer 2016: 180). Insofern im Zeichen von Resilienz die Differenz von Krise und Katastrophe unscharf wird, scheint Kosellecks Vorschlag, die gegenwärtige Krise als »jüngstes Gericht« zu verstehen, einerseits aus dem Inneren der Resilienzlogik heraus formuliert zu sein, andererseits aber auch im genauen Gegensatz dazu, adressiert sie doch nicht das adaptive Systemsubjekt, sondern den »autonomen Menschen«, der zumindest theoretisch in der Lage ist, die Katastrophe aufzuhalten – eine Option, die dem Homo resiliensis kategorisch nicht mehr offenzustehen scheint. Nicht nur existiert eine enge Wahlverwandtschaft von Resilienz und Katastrophe sondern, allgemeiner, auch von Resilienz und Sicher-

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heit (Kaufmann 2015). Dabei steht Resilienz für ein vergleichsweise junges Sicherheitsparadigma, das einige bedeutsame Veränderungen im politischen Denken von Sicherheit sowie in konkreten Sicherheitsprogrammen anzeigt (ausführlich dazu: Folkers 2017). So wird unter der Überschrift Resilienz in vielen Ländern der sogenannten westlichen Welt seit Beginn des Jahrtausends, namentlich im Anschluss an 9/11, eine Neukonfiguration von Sicherheitspolitiken im engeren Sinne (Terrorabwehr, Katastrophenschutz) vorgenommen (Lentzos/Rose 2008), die entlang der Begriffe precaution, preemption und preparedness beschrieben wird (ebd.; Blum et al. 2016; Bröckling 2017). Demnach tritt im 21. Jahrhundert die fordistische Logik der precaution, die auf die Vermeidung, Kontrolle und Verhinderung riskanten Verhaltens zielt, ebenso wie die zugehörige Logik der preemption im Sinne der beizeiten und beherzt zu ergreifenden Gegenmaßnahme sukzessiv zugunsten von preparedness als eines »Imperativ[s] des ›umfassenden Vorbereitetseins‹« (Lentzos/Rose 2008: 83) zurück. Resilienz firmiert dabei »als wesentliche Eigenschaft eines Systems, die auf preparedness abstellt, und zugleich als Ziel des Regierens, das heißt als Fähigkeit, die es zu erlangen gilt« (Blum et al. 2016: 157). Insofern preparedness das Leben der Staatsbürger*innen als grundsätzlich gefährdet voraussetzt, signalisiert sie zugleich eine »Hinwendung zur (Bio-)Unsicherheit«, in deren Bearbeitung der Staat weniger als allmächtiger Kontrolleur denn vielmehr als eine Art Sicherheitsunternehmer oder Netzwerkagent auftritt, der unterschiedliche Zuständigkeiten, Kompetenzen und Akteure koordiniert (Lentzos/Rose 2008: 100, vgl. Zebrowski 2009: 33f.).8 Zugleich wird Sicherheit nicht mehr nur als Behördenangelegenheit aufgefasst, sondern zur Aufgabe jeder einzelnen Bürgerin erklärt (Chandler/Reid 2016: 27), während Politiker*innen ihrerseits nicht zu betonen müde werden, dass vollständige Sicherheit eine nicht (mehr) erreichbare Illusion darstellt. Kurz: Das für den fordistischen Wohlfahrtsstaat konstitutive sicherheitspolitische Versprechen auf Sicherheit der Staatsbürger*innen »from cradle to grave« (Evans/Reid 2014: 99) wird im Zeichen von Resilienz in die Ankündigung einer grundsätzlich nicht mehr beherrschbaren Unsicherheit – im Bereich der Terror-

8  F ür eine instruktive Analyse der »Biounsicherheit« als eine neue Form der Biopolitik, die auf das »Leben jenseits seiner selbst« abzielt, vgl. Folkers (2017: 343-352).

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abwehr ebenso wie bei der Prävention von Naturkatastrophen oder in der Wirtschafts- und Finanzpolitik – übersetzt.9 Allerdings basiert auch die Logik der preparedness, wie Pat O’Malley argumentiert (2010), immer noch auf der Idee eines Abfederns und damit der Vermeidung von Bedrohungen, und er verweist am Beispiel von resilienzbasierten Ausbildungskonzepten für Soldat*innen in den USA und Australien darauf, dass sich parallel eine andere Sicherheitslogik etabliert, derzufolge Bedrohungen nicht nur als Normalität akzeptiert, sondern darüber hinaus affirmiert und begrüßt werden sollen. Die Affirmation von Unsicherheit nach dem Prinzip des »embracing risk« (ebd.: 4f.) zielt darauf, Angriffe, Anschläge oder sonstige unberechenbare Ereignisse für die Arbeit an der eigenen (in diesem Fall: militärischen) Resilienz zu nutzen. Resilienz stellt sich hier als expertengestützte Anleitung zu einer »anticipatory governance« (ebd.: 28f.) von Bedrohungen dar, die diese zugleich als willkommene Gelegenheiten begrüßt. Hatte schon Ulrich Beck auf das »politische Potenzial von Katastrophen« hingewiesen und die Risikogesellschaft als »katastrophale Gesellschaft« beschrieben, in der der »Ausnahmezustand zum Normalzustand« zu werden droht (Beck 1986: 31, Hervorh. i.O.), so radikalisiert sich diese Tendenz im Zeichen von Resilienz dort, wo Katastrophen als bedrohlich und innovativ zugleich aufgefasst werden. Für die »›culture‹ of resilience that turns crisis response into a strategy of permanent, open-ended responsiveness« (Walker/Cooper 2011: 154) ist demnach nicht allein die Entgrenzung von Unsicherheit und die politische »Instrumentalisierung dieser sehr subjektiven Zustände von Zweifel, Angst, Unruhe etc.« (Lentzos/Rose 2008: 77) charakteristisch, sondern auch die Verheißung auf (individuelles, ökonomisches, gesellschaftliches) Wachstum durch Unsicherheit (Zebrowski 2013: 167, vgl. Kap. 4.3). Ganz in diesem Sinne etwa feiert Judith Rodin, die ehemalige Präsidentin der Rockefeller-Stiftung, welche das global operierende Pro-

9  H  ier ist allerdings wichtig, nicht aus dem Blick zu verlieren, dass es sich keineswegs bloß um Diskurse handelt; vielmehr lässt sich das Argument auch umkehren: Neoliberale Finanzialisierung bewirkt – hier am Beispiel der schrumpfenden Städte gezeigt – eine tatsächliche Bedrohung des Lebens und Wohlbefindens von Bevölkerungen, die allerdings von Resilienzprogrammen nicht erfasst wird (Filion 2013). Dementsprechend scheitern diese Programme systematisch an der ihnen eigenen »inadequacy relative to the risks generated by capitalism’s creative destruction and the exacerbation of this phenomenon in the present neoliberal epoch« (ebd.: 36).

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gramm »100 resilient cities«10 finanziert, die Post-Katrina-Entwicklung in New Orleans als Erfolgsgeschichte, würden hier doch knapp ein Jahrzehnt nach der Katastrophe »all kinds of new areas of economic activity« erblühen (Rodin 2014: 272), während die Stadt vor Katrina noch ein Ort ohne jegliches innovatives Potenzial gewesen sei; nunmehr sei sie »strategic and smart« (ebd.). Nicht nur Hurrikans, auch Klimawandel, Regierungskrisen, Verstädterung und demografischer Wandel bieten Rodin zufolge exzellente Optionen auf die »Dividende der Resilienz«, es handele sich um »great opportunities to improve lives and livelihoods in the good times as well« (ebd.: 281), jedenfalls solange man sie nicht ungenutzt verstreichen lässt: »Never let a good crisis go to waste« (ebd.: 284, Hervorh. i.O.). Etwas weniger emphatisch kommt auch eine Studie des einf lussreichen Stockholm Resilience Center zu dem Schluss, dass resiliente Systeme, ist die Transformation erst unausweichlich, über alle notwendigen Voraussetzungen für Reorganisation und Innovation verfügen (Li/Crépin/Folke 2018: 341). Innovativ sind Katastrophen aber nicht nur in ökonomischer, sondern auch in politischer Hinsicht, wie eine vergleichende Studie zur »nationalen Resilienz« in den USA und Israel feststellt: Staatsvertrauen und Patriotismus in den USA seien durch die Anschläge vom 11. September 2001 deutlich angestiegen, und auch in Israel konnte ein beträchtliches Maß an »Liebe zum Vaterland« und patriotischer Aufopferungsbereitschaft festgestellt werden, was von den Autoren der Studie als erfreuliche »psychopolitical consequences« der »exposure to terror« gedeutet wird (Canetti et al. 2013: 508).11 Resilienz, verstanden als ein im Spektrum von preparedness bis embracing risk angesiedeltes politisches Denken von Sicherheit, verweist zurück auf die für die Theorie komplexer Systeme grundlegende Annahme der prinzipiellen Ungewissheit der Welt. Melinda Cooper und Jeremy Walker (2011) zufolge sind in diesem Zusammenhang vor allem zwei theoretische Interventionen aus der ersten Hälfte der 1970er Jahre grundlegend: C.S. Hollings Resilience and Stability of Ecological Systems (1973, s. S. 20) und die Nobelpreisrede Friedrich von Hayeks, The Preten10  Vgl. https://www.100resilientcities.org/ (01.04.2019). 11  D  abei handelt es sich nicht nur um unterschiedlich weitreichende, sondern auch um verschiedene Konzeptionen von Resilienz; Bracke schlägt deshalb vor, zwischen konservativer, adaptiver und progressiver Resilienz zu unterscheiden (Bracke 2016: 55). Allerdings folgt auch die »progressive« Resilienz letztlich einer reaktiven und adaptiven Logik, vgl. Folke et al. (2010).

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ce of Knowledge ([1974] 1989). Ungeachtet ihres unterschiedlichen disziplinären Backgrounds verfolgen beide Texte dasselbe Anliegen, nämlich eine grundsätzliche Infragestellung der analytischen Kategorien Gleichgewicht und Intervention. Ökologische wie ökonomische Systeme verfügen der von Holling wie Hayek proklamierten Auffassung gemäß über keine innere Uhr, die sie von sich aus Richtung Stabilität und Gleichgewicht treibt, und ihre Veränderungsdynamik ist zu komplex, als dass externe Interventionen voraussehbare Ergebnisse erzielen könnten. Im Gegenteil, das Nicht-wissen-Können der menschlichen Beobachterin natürlicher oder ökonomischer Systeme reicht so weit, dass es das Nicht-Wissen um das Nicht-Wissen einschließt: Es ist die Wirklichkeit als »unknown unknown«, die Hollings und Hayeks Kritik von Kausalitätsdenken und Interventionismus begründet (Chandler 2014: 50). Im Falle Hayeks richtet sich die Kritik nicht nur gegen die bis dato in politischer Praxis wie Wissenschaft dominierende keynesianische Wirtschaftslehre, sondern auch gegen die Grundannahmen der Neoklassik. Freilich kann er sich damit bis auf Weiteres auch innerhalb seines eigenen theoretischen Lagers nicht durchsetzen; der real existierende Neoliberalismus, so jedenfalls Walker/Cooper, gehorcht in den folgenden Jahrzehnten weniger der Hayek’schen Epistemologiekritik als vielmehr den Grundannahmen der u.a. von Milton Friedman und Gary Becker vertretenen Chicagoer Schule, die wiederum als Vordenker jener Ökonomisierung des Sozialen gelten, die sich vordergründig als »Rückzug des Staates« darstellt, tatsächlich aber eine gezielte staatliche Politik der Marktliberalisierung ist (Lemke et al. 2000: 26). In dieser Fassung ist ökonomisches Handeln zwar auch mit dem Problem des Nichtwissens konfrontiert, aber es handelt sich dabei nicht um die »unknown unknowns«, sondern um ein vorläufiges Nichtwissen (die »known unknowns«), das durch die korrekte Kalkulation und Deutung des Marktgeschehens rational bearbeitet und überwunden werden kann. Entsprechend erkennt der real existierende Neoliberalismus die »nonlinear causality« ökonomischer Realitäten zwar an, konzipiert sie jedoch als epistemologisches und nicht, wie Hayek, als ontologisches Problem (Chandler 2014: 51).12 12  E ine interessante alternative Deutung bietet Schmidt (2014) an, die Resilienz als Versuch interpretiert, einen der Theorie des Neoliberalismus von Anfang an innewohnenden Widerspruch zu überwinden: den Widerspruch zwischen der Konzep-

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Walker/Cooper zufolge gewinnt die Hayek’sche Grundannahme der radikalen Kontingenz und daraus folgenden Nichtsteuerbarkeit der Ökonomie an voller Bedeutung erst nach der Finanzkrise von 2007/08, was sich unter anderem in der zunehmenden Anwendung kontingenzbezogener finanzpolitischer Instrumente, der »new me­th­ ods of futurology, contingency planning and crisis response« (Walker/ Cooper 2011: 152) abbilde. Angesichts der Tatsache, dass Forderungen nach einer besseren Regulierung der Finanzmärkte im Nachgang der Krise weitestgehend13 folgenlos blieben, während mehr als großzügige steuerfinanzierte Bankenrettungsmaßnahmen zugleich nichts anderes als eine massive staatliche Intervention darstellen, erscheint die These einer zunehmenden Durchsetzung der Hayek’schen Ontologie (die freilich nicht allein auf Hayek zurückgeht) erstmal eher abwegig. Plausibel ist sie andererseits, insofern sich der neoliberale Staat in der Bankenrettung als Souverän präsentiert, der über das Prinzip der »Sozialisierung der Kosten und der Privatisierung der Risiken« die Kontingenz und Nichtregulierbarkeit des Finanzsektors absichert (vgl. Davies 2017: 159ff.) – und damit die Resilienz von Volkswirtschaften an die »Flexibilität und Veränderungsbereitschaft von Arbeitnehmern und Wählern« (Brinkmann et al. 2017: 650) knüpft. Sowohl für Hayek wie für Holling ist weiterhin grundlegend, dass zwischen ökologischen Systemen einerseits und ökonomischen oder sozialen andererseits kein prinzipieller Unterschied besteht.14 Dabei nimmt Hayek zwar an, dass Ökonomie und Sozialwissenschaften im Verhältnis zu Naturwissenschaften mit (noch) höheren Komplexitätsgraden zu tun haben (Hayek 1989: 4), während für Holling auch die Geschichte menschlicher Gesellschaften der dynamischen Logik des ökologischen »adaptive cycle« folgt – auf »angehäufte Rigiditäten« folge tion des Homo oeconomicus als rationaler Entscheidungsakteur einerseits, der in einer »complex, autopoietic world« andererseits agiere (ebd.:404). Zur Kritik der hier skizzierten »postliberalen« Argumentation, wonach Resilienz einen bedeutsamen Wandel neoliberaler Gouvernementalität indiziert vgl. Joseph (2013). 13  D  arauf, dass es im Nachgang zur Finanzkrise partiell durchaus auch zu Regulierungsversuchen im eigentlichen Sinne gekommen ist und die hier zitierte Perspektive deshalb womöglich zu apodiktisch ist, verweist Folkers (2017: 460, vgl. Bieling 2014). 14  » If the Mont Pèlerin Society and the Resilience Alliance have anything in common, it is the attempt to forge a broad transdisciplinary philosophy capable of unifying nature and society under a single set of all-encompassing concepts.« (Walker/Cooper 2011: 147)

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zwangsläufig, wie er am Beispiel der Sowjetunion erläutert, der Kollaps (Holling 2001: 95). Doch diese Unterschiede sind nur graduell. Die Analogie von Ökologie und Ökonomie ist bis heute eine in zahlreichen Publikationen des von Holling mitgegründeten Stockholm Resilience Center verbreitete Grundannahme (Folke et al. 2010). Von dieser Grundannahme ausgehend ist es wiederum mehr als plausibel, dass Resilienz von vielen Autor*innen nicht nur als sicherheitspolitische Innovation im Anschluss an 9/11 und die Finanzkrise interpretiert wird, sondern auch als Antwort auf die Krise der Nachhaltigkeit.15 Dabei handelt es sich insofern um eine doppelte Krise, als sie sowohl das Scheitern der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele umfasst, wie sie auf den UN-Konferenzen seit Anfang der 1990er Jahre vereinbart worden sind, als auch – und damit zusammenhängend – die erfolgreiche Integration der kritischen Dimension von Nachhaltigkeit ins Programm neoliberaler Governance unter dem Vorzeichen »grüner Modernisierung«; ein Programm, das bekanntlich verspricht, ökologische und ökonomische Interessen widerspruchsfrei verbinden und befrieden zu können. Vor dem Hintergrund des mit beiden Entwicklungen einhergehenden Verlusts der »euphorisierende[n] Wirkung der ›Nachhaltigkeit‹« (Exner 2013: 3) und angesichts ihres offenkundigen »Leerformelcharakter[s]« (Barth et al. 2016: 318) wird Resilienz zunehmend auch als politisches Alternativkonzept zu Nachhaltigkeit ins Spiel gebracht.16 Während einige Autor*innen die zentrale Differenz von Nachhaltigkeit und Resilienz in einer problematischen normativen Unbestimmtheit Letzterer sehen (Hummel 2017), betonen andere die damit verbundenen Möglichkeiten (Ostheimer 2017, Exner 2013); weiterhin wird die im Vergleich zur Nachhaltigkeit größere »toughness« von Resilienz begrüßt (Barry 2012: 84; vgl. Tappeser et al. 2017: 42). Beide Argumente zusammengenommen stellt sich Resilienz als das gegenüber der Nachhaltigkeit politisch aussichtsreichere Trans15  Z  ebrowski (2013) argumentiert andererseits, dass es gerade der Erfolg des Nachhaltigkeitsdiskurses und der »environmental governance« ist, der die Übertragung ökologischer Denkmodelle auf Finanzsphäre oder Bevölkerungen plausibilisiert (ebd.: 168f.). 16  A  us der Perspektive sozialökologischer Resilienz, wie sie u.a. von Holling und dem Stockholm Resilience Center vertreten wird, ist Resilienz eine Ermöglichungsbedingung von Nachhaltigkeit: »Managing for resilience enhances the likelihood of sustaining development in a changing world where surprise is likely.« (Folke et al. 2002: 440)

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formationsversprechen dar, insofern es mehr Raum für Interpretation und Gestaltung eröffnet und zugleich – dank seines katastrophischen Grundzugs – den Ernst der Lage deutlich macht.17 Genau dieser Punkt wird andererseits aber auch als das zentrale Problem von Resilienz aufgefasst. Insofern wir im Zeichen von Resilienz aufgefordert werden, »to learn from catastrophes so that societies can become more responsive to a fate which is worse and still simmering on the horizon« (Evans/Reid 2014: 30), und insofern Resilienz zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen Naturkatastrophen, Klimawandel und Terroranschlägen keine prinzipielle Differenz erkennt (vgl. Bonß 2015: 20), legitimiert das Konzept, so die Kritik, Politiken der Angst (Evans/Reid 2014: 92-95), namentlich die psychopolitische Verlagerung der Sicherheitsproblematik ins Innere des Subjekts. Auf diese Weise werde Krisenbewältigung durch Krisenwahrnehmungsbewältigung ersetzt und eine paradoxe, weil ihrerseits politische Depolitisierung von Gesellschaft als »Natur« bekräftigt. Doch so einleuchtend diese Kritik auch ist, so stellt sich die Frage nach ihren Konsequenzen. Folgt, wie bei Evans/Reid (2014), aus der Kritik am impliziten Katastrophismus des Resilienzkonzeptes, dass bereits das Sprechen über Klimawandel problematisch ist, dann schießt diese Kritik nicht nur offensichtlich übers Ziel hinaus, sondern offenbart zugleich ein tieferliegendes analytisches Problem: dass nämlich die Kritik am Katastrophismus der Resilienz Gefahr läuft, die neben der Verallgemeinerung im Konzept der Resilienz zugleich implizierte Trivialisierung der Katastrophe zu übersehen und zu entproblematisieren – noch dazu in einer Semantik, die selbst dem Wörterbuch der Resilienz zu entstammen scheint: Am Beispiel des Grolar-Bären, einem Hybrid aus Eisbär und Grizzly, der eine Folge der schrumpfenden arktischen Eisf lächen und damit des Klimawandels ist, werde deutlich, so Evans/Reid, wie aus der Katastrophe das »woundrous phenomenon of the emergence of new forms of life« (ebd.: 164) hervorgehe. Doch die in internationalen Policy Papers ventilierte Behauptung, »deep uncer17  C  haris Boke (2015) zeigt entlang einer ethnographischen Studie, wie Resilienz im Kontext des Transition Town Movements verstanden und politisch operationalisiert wird. Sie kritisiert dabei vor allem die im Resilienzkonzept implizierte Zeitlichkeit, die einerseits den Rückbezug auf eine idealisierte Vergangenheit, andererseits den Vorgriff auf die katastrophische Zukunft nahelege und damit im Umkehrschluss eine kritische Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Problemen und politischen Prozessen erschwere.

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tainty« sei nunmehr das Grundprinzip von Regierung (The World Bank 2013: 64)18 und Resilienz der Modus, mit diesem Umstand umzugehen, lässt sich kaum mit der Gegenbehauptung, es gebe überhaupt kein Problem, außer Kraft setzen. Die theoretisch wie politisch anspruchsvolle Aufgabe lautet vielmehr, den Katastrophismus zu kritisieren, ohne dabei die Katastrophe aus dem Blick zu verlieren; eine Katastrophe, die, wie sich mit Ingolfur Blühdorn sagen lässt, darin besteht, dass die »Politik der Nicht-Nachhaltigkeit […] vom als unvermeidlich betrachteten Wandel der Umwelt- und Klimabedingungen ausgeht und sich auf den Ausbau der individuellen und gesellschaftlichen Fähigkeiten zur Anpassung an das gewissermaßen Schicksalhaf te und der Kapazitäten zur Bewältigung (resilience) seiner sozialen Implikationen konzentriert« (Blühdorn 2013: 252, Hervorh. i. O.).

5.4 Das Vulnerable ist politisch. Oder? Zu den Möglichkeiten der Kritik Spätestens an diesem letzten Punkt ist die Frage nach Alternativen aufgeworfen, oder genauer gesagt: die Frage, wie und mit welcher Perspektive die Regierung der Katastrophe im Zeichen der Resilienz kritisiert werden kann – eine Frage, die im Rahmen dieses Essays nicht abschließend beantwortet, zum Schluss aber zumindest angerissen werden soll. Wenn Resilienz, wie ich hier versucht habe zu plausibilisieren, eine Popularisierung veränderter Konzeptionen von Regierung im Zuge des complexity turn und damit eine sehr spezifische programmatische Antwort auf die Vielfachkrise darstellt, deren Anwendungsbereich von resilienzbezogenen betrieblichen Gesundheitskonzepten bis hin zur (Nicht-)Steuerung der Finanzmärkte reicht, und wenn, wie ich ebenfalls zu plausibilisieren versucht habe, die die jeweiligen Teilantworten verbindende Basislogik von Resilienz die Auf lösung der Grenze zwischen Normalität, Krise und Katastrophe, die responsibilisierende Dezentrierung des Subjekts als Systemsubjekt19 sowie die Dethemati18  Z  ur Rolle von »uncertainty« in Policy Papers der Weltbank, des UNDP, der OECD und des World Resource Institute vgl. ausführlich Schmidt (2014). 19  E ine weitergehende Analyse müsste den Unterschied resilienzbezogener Dezentrierungen, die »systemisch« verfasst sind (etwa im Kontext subjektivierender Teamarbeit in flexibilisierten Unternehmensstrukturen), und solchen, die kommunitaristische Logiken der Gemeinschaftlichkeit aufrufen, genauer bestimmen.

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sierung von Gesellschaft (als die das Soziale organisierende Abstraktheit) darstellt, dann bleibt zu fragen, wie eine Kritik verfasst sein kann, die sich nicht damit begnügt, den Spieß umzudrehen und die Figur des souveränen autonomen Subjekts wiederzubeleben, das Herr seiner selbst und der Welt ist, und sich deshalb weder von Klimawandel noch Wirtschaftskrisen beunruhigen lässt. Zudem ist zumindest denkbar, dass Resilienz zwar eine in mehrfacher Hinsicht problematische Antwort auf die Krisensituation der Gegenwart bietet, deshalb aber noch nicht die Fragen falsch gestellt sind, auf die Resilienz zu antworten versucht – etwa die Frage nach der Regierbarkeit von Komplexität, dem Realitätsbezug und den Folgekosten linearer Wachstumsmodelle sowie nach den Grenzen der liberalen Figur vom souveränen und autonomen Handlungssubjekt (Kaufmann 2013; Schmidt 2014; Folkers 2017). Den letzten dieser drei Punkte möchte ich im Folgenden aufgreifen: Wenn Resilienz die falsche Antwort auf die richtige Frage nach dem Subjekt darstellt, wie könnte eine bessere Antwort lauten? Einen prominenten Vorschlag hat Judith Butler formuliert, die fordert, Subjektivität und Politik ausgehend von der Figur des vulnerablen Subjekts neu zu begründen (Butler 2003; Athanasiou/Butler 2014; Butler/Gambetti/ Sabsay 2016). Dieser Vorschlag ist für die hier geführte Diskussion insofern hochinteressant, als er Vulnerabilität gerade nicht als Terrain psychopolitischer Intervention, sondern, im Gegenteil, als Ausgangspunkt für eine politische Kritik der Gegenwart versteht und damit auch an wachstumskritische Post-Nachhaltigkeitsdebatten anschlussfähig ist. Die Annahme, dass Menschen verletzlich sind, ist ebenso ein Grundelement liberaler Sicherheitskonzeptionen (Foucault 2006) wie immer schon Anlass und Begründung für emanzipatorische Kämpfe um und gegen politische, ökonomische Herrschaft gewesen. Im Zeichen von Resilienz wird diese Grundannahme, wie ausgeführt, in zweifacher Weise erweitert: Vulnerabilität wird nicht mehr primär auf das menschliche Subjekt bezogen, sondern zugleich als Eigenschaft von Ökosystemen, Finanzmärkten oder Demokratien aufgefasst. Aber auch stressgeplagte Arbeitnehmer*innen sind nur deshalb fähig, ihre Resilienz zu verbessern, weil sie stressanfällig, also vulnerabel sind. Vulnerabilität ist somit eine Bedingung für Resilienz. Zugleich stellt Resilienz aber auch die Überwindung von Vulnerabilität beziehungsweise Vulnerabilitäten (ich komme weiter unten auf diese Differenz zurück) in Aussicht: Wer resilient ist, ist weniger verletzlich. Resilienz wäre

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dann das Gegenteil von Vulnerabilität. Letzteres stimmt jedoch etwa aus der Perspektive von Hollings Modell des adaptive cycle wiederum nicht (Holling 2001), stellt in diesem Modell doch die Überwindung von Vulnerabilität gerade keinen teleologischen Horizont der Entwicklung dar, sondern einen prinzipiell vorübergehenden Zustand. Sicher lässt sich folglich nur festhalten, dass Vulnerabilität und Resilienz einander wechselseitig bedingen und begründen (Bürkner 2010; Bonß 2015: 18; Kaufmann/Blum 2013). Ist Vulnerabilität somit einerseits konstitutiv für das Paradigma der Resilienz, wird andererseits von Butler und anderen vorgeschlagen, Vulnerabilität als konstitutiv für emanzipatorisches politisches Handeln und Gesellschaftskritik zu verstehen. Butler zufolge stellt Vulnerabilität den verleugneten Untergrund des souveränen, autonomen Subjekts der westlichen Moderne dar: Dass Menschen verletzt werden können, dass sie körperliche und sterbliche Wesen sind, begründet ihre Abhängigkeit von anderen und zugleich die Möglichkeit, (politisch) zu handeln. Dabei begreift Butler Vulnerabilität nicht nur als Zustand, der aus einer materiellen Abhängigkeit des Subjekts resultiert, sondern auch und vor allem aus ihrem symbolischen Angewiesensein auf soziale Bindungen: »Um einen Namen zu erhalten, die Bezeichnung, die angeblich Einzigartigkeit verleiht, sind wir voneinander abhängig.« (Butler 1998: 47) Diese Abhängigkeit, dieses Angewiesensein kann politisch gewendet werden, indem es der Unsichtbarkeit und Leugnung entzogen wird – namentlich in solchen politischen Artikulationen, die auf kein vorausgesetztes kollektives Subjekt zurückgreifen und die nicht den institutionalisierten Spielregeln staatlich legitimierter Konf liktaustragung folgen, wie etwa im Fall der Besetzung des Istanbuler Gezi-Parks, der Occupy-Camps an der Wall Street oder der Proteste gegen die Folgen der Austeritätspolitik in Griechenland und Spanien (Butler/ Gambetti/Sabsay 2016). Dabei lässt sich Vulnerabilität Butler zufolge in zweifacher Weise politisieren: Zum einen, indem die allen Menschen prinzipiell eigene Verletzlichkeit und Abhängigkeit performativ sichtbar gemacht und auf diese Weise der maskuline Souveränismus des liberalen Subjekts zurückgewiesen wird. Zum anderen, indem konkrete Bedrohungen und Verletzungen skandalisiert und mit politischen Forderungen versehen werden (Butler 2016: 26). Genauer gesagt schließt die zweite Form der Politisierung die erste in sich ein: Wer Verletzungen sichtbar macht, stellt damit zugleich die Vorstellung des souveränen Subjekts infrage.

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In dieser Konzeption des Politischen sind also offensichtlich zwei Formen von Vulnerabilität im Spiel: eine ontologische und als solche unhintergehbare Verletzlichkeit des menschlichen Subjekts auf der einen Seite, und die je konkrete, politisch zu skandalisierende Verletzung auf der anderen Seite. Insofern ontologische und politische Ebene aufeinander verweisen, geht es auch in den konkreten Kämpfen, wie Butler betont, »nicht um eine einfache Aufnahme der Ausgeschlossenen in eine etablierte Ontologie, sondern um einen Aufstand auf der Ebene der Ontologie« (Butler 2003: 50) sowie darum, »wach zu sein für die Gefährdetheit des Lebens an sich« (ebd.: 160). Jedoch scheint die Unterscheidung von (ontologischer) Vulnerabilität und (konkreter) Verletzung trotz ihres explizit politischen Anspruchs eine rein analytische Unterscheidung zu sein. Zwar betonen Butler und Athena Athanasiou (hier entlang der analogen Begriffe von Enteignet-Sein und Enteignet-Werden), dass es sich um zwei unterschiedliche Analyseebenen handelt (Athanasiou/Butler 2014: 14ff.), sie liefern jedoch kein Kriterium dafür, wie in konkreten gesellschaftlichen Prozessen die eine von der anderen Ebene zu unterscheiden wäre. Zugleich legt die Rede vom »Aufstand auf der Ebene von Ontologie« nahe, dass es dem Butler’schen Ansatz gerade nicht um diese Unterscheidung, sondern vielmehr um die Unmöglichkeit dieser Unterscheidung geht: Weil wir verletzbar sind, werden wir verletzt. Diese letztgenannte Aussage ist fraglos einleuchtend, denn sie bringt in der Tat zur Sprache, was die liberale Figur des politisch handelnden (Rechts-)Subjekts ausspart und was in jüngerer Zeit, etwa unter dem Stichwort »Care« auch in Deutschland, verstärkt zu politisieren versucht wird (z.B. Winker 2015). Nichtsdestotrotz produziert Vulnerabilität, sofern ontologisch aufgefasst, ein doppeltes Abgrenzungsproblem: gegenüber reaktionären Bezugnahmen auf Vulnerabilität einerseits und gegenüber psychopolitischen andererseits. So liefert die Setzung von Vulnerabilität als ontologisches Faktum nicht nur kein eindeutiges Unterscheidungskriterium zwischen Verletztsein (das, weil ontologisch, zu af firmieren ist) und konkretem Verletztwerden (das, weil politisch, zu skandalisieren ist), sondern kann auch nicht ausschließen, dass, etwa im Kontext von Migrationsdebatten, die angebliche Vulnerabilität der Mehrheitsgesellschaft zur Legitimation der Exklusion von Minderheiten herangezogen wird. Ebenso schwierig ist die Abgrenzung gegenüber jenen psychopolitischen Diskursen der Viktimisierung, die für bestimmte Bevölkerungsgruppen »eine moralische

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Ökonomie obligatorischer Verwundbarkeit« (Athanasiou/Butler 2014: 159) etablieren (vgl. Merk 2017). Zwar ist das Anliegen der von Butler und anderen vorgeschlagenen Perspektive eindeutig nicht, menschliche Subjekte gegen die drohende Katastrophe zu immunisieren, dennoch ist die Politik der Vulnerabilität von der Semantik der Resilienz über weitere Strecken kaum unterscheidbar, etwa wenn Butler erklärt, dass wir als menschliche Subjekte verkörperte Kreaturen seien, die den Strukturen, von denen ihr Überleben abhängt, ausgesetzt sind (2016: 19) und diese Strukturen zugleich als komplexe Umweltbedingungen, soziale Beziehungen und Netzwerke definiert, »by which the human itself proves not to be divided from the animal or from the technical world« (ebd.: 21). Wie erwähnt wird Vulnerabilität auch im Kontext wachstumskritischer Debatten als Grundlage für Transformation gefasst, so etwa in John Barrys Analyse der »politics of actually existing unsustainability« (Barry 2012). Dieser Analyse zufolge kann die Einsicht in die Vulnerabilität der hochtechnisierten Moderne einen neuen ökologischen Realismus begründen, der sich von der »autistischen ›Malestream-Phantasie‹« der Beherrschung und Kontrolle absetzt (ebd.: 24). Vulnerabilität ist also auch aus dieser Perspektive nicht nur ein Merkmal und eine Folge von (in diesem Fall: technologischer) Herrschaft, sondern zugleich der positive Untergrund für die Transformation in eine nachhaltige und resiliente Gesellschaft. Auch für Barry hängt Vulnerabilität eng mit »dependency«, die er analog zu Butler als intersubjektive Relationalität versteht, zusammen (ebd.) Beispielhaft lasse sich die Gestalt dieser intimen Verbindung aus Vulnerabilität und Abhängigkeit sowohl in nachhaltigen, vormodernen Weltanschauungen (die er gleichwohl nicht idealisieren möchte) als auch »in the cultural and psychological aftermath of people who have experienced some calamitous natural disaster« (ebd.: 37) beobachten. Die Krise der Nachhaltigkeit beruht aus Barrys Sicht, wiederum analog zu Butler, ebenso auf der Leugnung von Vulnerabilität wie nicht-nachhaltige Politik umgekehrt vielfache Vulnerabilitäten produziert. Anders aber als bei Butler fällt die Antwort auf die doppelte Tatsache der Vulnerabilität bei Barry eindeutig aus: Resilienz (ebd.: 78ff.). Resilienz sei ein notwendiges Element dessen, was es bedeutet, ein gesundes Subjekt in einer gesunden Gemeinschaft zu sein, so Barry, und resilient zu sein heiße zudem, angesichts unvermeidlich negativer Veränderungen, die alle Menschen und alle Gesellschaften betreffen, überlebensfähig zu bleiben (ebd.:

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80). Wie weiter oben schon erwähnt, stellt Resilienz aus seiner Sicht im Vergleich zur Nachhaltigkeit zudem das »toughere« Konzept dar und ermöglicht eine Art Upgrading von Nachhaltigkeit (ebd.: 83ff.) nicht zuletzt deshalb, weil es eine explizit psychologische Dimension enthält und die Notwendigkeit von »coping, adaption und creativity« betone (ebd.: 83ff.). Während Barry also Resilienz als begriff lichen Anker für den Übergang in eine nachhaltige. resiliente Gesellschaft begreift und die psychopolitische Mobilisierung von Vulnerabilität nicht nur nicht kritisiert, sondern selbst vorschlägt, problematisieren Athanasiou/Butler sehr wohl eine mögliche Überschneidung mit dem »sozialtherapeutischen Imperativ« (2014: 144), benennen aber wiederum kein Kriterium dafür, wie dieser neoliberale Imperativ von der Politik der Vulnerabilität unterschieden werden kann. Den Versuch, Letztere als Emanzipationsprogramm von einer Politik der Resilienz als Herrschaf tsprogramm trennscharf zu unterscheiden, unternimmt hingegen Sarah Bracke (2016). Dafür unterzieht sie das Resilienzkonzept einer scharfsinnigen Kritik, indem sie es als eine machtvolle Form der Zirkulation hegemonialer Machtlogiken beschreibt, die die Makroebene der Ökologie und Ökonomie mit der Mikroebene der Subjekte kurzschließt (ebd.: 52). Zugleich differenziert sie zwischen einem »first world subject« der Resilienz, das sich von Terrorismus, Naturkatastrophen (und es lässt sich hinzufügen: Arbeitsstress) bedroht sieht und einem im globalen Süden lokalisierten »subalternen« resilienten Subjekt, das Kolonialismus, Ausbeutung und Strukturanpassungsprogramme überlebt hat und dessen solchermaßen erprobte Resilienz nunmehr als moralischer und ökonomischer »Rohstoff« in der globalen Katastrophenökonomie verhandelt wird (ebd.: 58ff.). Analog zum Begriff des »grausamen Optimismus«, den Lauren Berlant in ihrer Beschreibung der Wunschökonomie des Neoliberalismus geprägt hat (Berlant 2011),20 erkennt Bracke auch im Zusammenhang mit Resilienz einen grausamen Optimismus, insofern Resilienz einerseits die Verbundenheit mit anderen Menschen und der Welt betont, und andererseits dazu aufruft, sich mit dem jederzeit möglichen Verlust von Lebensmöglichkeiten und Zukunftsperspekti20  » Cruel optimism« meint nach Berlant »the affective attachment to what we call ›the good life‹, which is for so many a bad life that wears out the subjects who nonetheless, and at the same time, find their conditions of possibilities within it.« (Ebd.: 27, s. S. 17)

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ven zu arrangieren. Schließlich kommt sie (im exakten Gegensatz zu Barry) zu der Einschätzung, dass sich Resilienz kaum emanzipatorisch wenden lässt, basiere das Konzept doch auf einer »colonization of the imagination« und damit nicht zuletzt auf dem Ausschluss der Möglichkeit, sich eine Welt jenseits der Resilienz vorzustellen (Bracke 2016: 63). Zugleich aber, so Bracke, lasse sich das Beharren auf Vulnerabilität als ontologische Kategorie auch gegen Resilienz in Anschlag bringen. Resilienz ziele darauf ab, Verletzlichkeit zu überwinden, sei also ein Gegenbegriff zu Vulnerabilität. Im Unterschied zu Resilienz sei die Ontologie der Vulnerabilität darüber hinaus auf Relationalität und sozialer Interdependenz gegründet (ebd.: 73). Hier zeigt sich aus meiner Sicht das zentrale Problem einer auf Vulnerabilität gestützten Konzeption von Kritik oder Emanzipation: Sie verkennt, dass die gegenwärtigen Formen der Regierung gerade nicht auf die Figur des souveränen autonomen Subjekts zurückverweisen, sondern dieses faktisch bereits für obsolet erklärt haben. Entsprechend lässt sich die Logik der Resilienz, zumal in Bezug auf die »subalterne« Variante des resilienten Subjekts, kaum mit Interdependenzen und sozialer Verbundenheit kontern, wird Resilienz doch auch und gerade im globalen Süden, wie weiter oben gezeigt, vornehmlich als Community Resilience und damit als eminent soziale Ressource21 adressiert. Nicht zufällig ist Vulnerabilität auch für die Durchsetzung dezentraler oder »neokommunitaristischer« (Davies 2017: 165ff.) Governance-Programmatiken im globalen Norden ein wichtiger Topos. Darüber hinaus scheint mir fraglich, ob Resilienz tatsächlich darauf abzielt, Vulnerabilität ontologisch zu überwinden. Angesichts der oben skizzierten wechselseitigen Bedingtheit beider Konzepte bleibt Resilienz auf Vulnerabilität angewiesen: Wer nicht verletzlich ist, braucht auch keine Resilienz. Und schließlich trifft die von Bracke zu Recht als normative »biopolitische« Matrix des Resilienzkonzeptes kritisierte Vermischung von »life as such, and a particular instance of life« (Bracke 2016: 72) genauso auf die Butler’sche Vulnerabilitätskonzeption zu, wie die weiter oben zitierte Formulierung vom »Aufstand auf der Ebene der Ontologie« zeigt.

21  Z  ur Kritik des im Konzept sozialökologischer Resilienz implizierten Ressourcenbegriffs und der damit verknüpften Ausblendung von Macht- und Verteilungsverhältnissen vgl. MacKinnon/Driscoll Derickson (2013).

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Im Ununterscheidbarwerden von emanzipatorischen Vulnerabilitäts- und hegemonialen Resilienzdiskursen liegt, wie wiederum Evans/ Reid (2014) feststellen, die »tragedy of vulnerability« (ebd.: 104). Butlers Ansatz, so Evans/Reid weiter, impliziere einen Vorschlag, über Subjektivität nachzudenken, der genau jenen Epistemen und Machtregimen zuarbeite, »that the left today has to combate« (ebd.: 106). In der Tat: Wer Vulnerabilität sagt, muss damit rechnen, Resilienz als Lösung präsentiert zu bekommen. Evans/Reid zufolge kehrt Butler mit ihrer Ontologisierung der Vulnerabilität zu den Ursprüngen des Liberalismus und der fundamentalen Sorge um die Sicherheit des der Welt schutzlos ausgesetzten menschlichen Subjekts zurück (ebd.: 107). Das Kernproblem liegt aus ihrer Sicht in dem impliziten Vitalismus der Butler’schen Konzeption, der eine scharfe Abgrenzung gegenüber einem ökologisch begründeten Denken der Resilienz verunmögliche (ebd.: 108). Demgegenüber schlagen sie vor, Vulnerabilität zu denaturalisieren und das menschliche Subjekt als fundamental politisches Subjekt zu begreifen, das fähig ist, »to secure itself from those elements of the world it encounters as hostile to its world« (ebd.: 43). Dieser Kritik zufolge sollte die Annahme einer ontologischen Vulnerabilität durch die Annahme einer ontologischen Souveränität des menschlichen Subjekts ersetzt werden – eine nicht zuletzt eingedenk der feministischen Kritik am autonomen Subjekt (Kap. 3.1) wenig befriedigende Alternative. Richtig ist gleichwohl, dass sich bei Butler und den anderen zugehörigen Texten kaum Hinweise darauf finden, dass Verletzbarkeit auch überwunden werden kann, oder auch nur schlicht darauf, dass Sicherheit möglich und herstellbar ist, etwa durch gesellschaftliche Institutionen. Die Institution der (Menschen-)Rechte beispielsweise steht aus Butlers Sicht vielmehr grundsätzlich unter Verdacht, die Figur des solipsistischen autonomen Handlungsakteurs zu revitalisieren – und darüber die ontologische Bedingung der Vulnerabilität, des Ausgesetztseins und der existenziellen Abhängigkeit der Einzelnen unsichtbar zu machen (Butler 2016: 15f.). Erst die Anerkennung der »Idee wechselseitiger Abhängigkeit von Leben, die ineinander eingelassen sind« könne ein »Prinzip der Gleichheit und Verbundenheit« begründen (Butler/Anathasiou 2014: 151). Es stellt sich hier freilich die Frage, wie ein »Prinzip der Gleichheit« ohne Insititutionen wie die des (Menschen-)Rechts in einer modernen Gesellschaft abgesichert werden soll, wie also das »Ausgesetztsein« des Subjekts im gesellschaftlichen Alltag auch diesseits von situativen Platzbesetzungen, wissenschaftli-

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chen Debatten oder künstlerischen Aktionen anerkannt und zugleich begrenzt werden kann. Butlers Konzeption scheint an manchen Stellen tatsächlich nahezulegen, dass sich Politik in der performativen Verkörperung und wechselseitigen Anerkennung der jeweiligen Vulnerabilität erschöpft oder sich vorrangig um die Frage dreht, ob jedem Typ von Ausgesetztsein auch das gleiche Maß an Anerkennung zuteil wird. Damit allerdings würde jede Form der politischen Imagination, die über die Skandalisierung und Kommunikation von Ohnmacht hinausweist, sinnlos. Zugespitzt formuliert: Wenn nicht die Überwindung von Vulnerabilität (als ontologische Bedingung), sondern vielmehr ihre Af firmation den Horizont politischen Handelns darstellt, scheinen paradoxerweise auch Gewalt und Herrschaft eine zwar unerwünschte, immerhin aber ontologisch korrekte Anerkennung der conditio humana darzustellen. Und davon ausgehend wäre letztlich auch folgerichtig, Resilienz als emanzipatorisches Komplementärkonzept von Vulnerabilität zu begreifen, impliziert Resilienz zumindest noch die Vorstellung eines aktiven Umgangs mit der eigenen Ohnmacht. Angesichts dieser Problematik schlägt wiederum Checchi (2018) vor, nicht nur Widerstand, sondern auch Herrschaft als im ontologischen Sinne vulnerabel aufzufassen: »power is vulnerable too« (ebd.: 6). Auch Andreas Folkers plädiert im Anschluss an Butler dafür, ausgehend von der »Ethik der Verwundbarkeit« eine sowohl kritische als auch affirmative »Politik der Sicherheit« (Folkers 2017: 467, Hervorh. i.O.) zu entwickeln. Beide Argumente weisen einerseits auf den wichtigen Punkt hin, dass sich Vulnerabilität allein als zentraler Ausgangspunkt für politische Mobilisierungen vielleicht schon deshalb nicht eignet, weil Angst und Ohnmacht schlechte Ratgeber sind, zumal in Situationen, die Handlungs- und Konf liktbereitschaft erfordern. Zugleich regen sie dazu an zu überlegen, ob eine Ontologisierung von Vulnerabilität nicht zwangsläufig ebenfalls auf eine Ontologisierung von Macht und Herrschaft hinausläuft: Dass politisches Handeln und Widerstand Dinge zum Besseren bewegen können, lässt sich bei Butler et al. tatsächlich allenfalls erahnen. Erstaunlich wenig erfährt man in diesem Zusammenhang auch darüber, wer eigentlich von den zahllosen Vulnerabilitäten profitiert. Mit der Betonung der umfassenden Abhängigkeit aller von allen geraten Machtstrukturen und Herrschaftsinteressen als konkrete Adressaten von Kritik und Konf likt aus dem Blick – eine weitere Ähnlichkeit zur Logik der Resilienz, die zwar erlaubt, das Subjekt und

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»das Soziale« zu problematisieren, Macht und Herrschaft aber als nicht weiter zu befragende Umwelt abdunkelt. Kehrt man diese Denkfigur um, dann wäre danach zu fragen, ob es nicht die mit Resilienz verknüpfte politische Epistemologie selbst ist, die nahelegt, nach den Grundlagen politischen Handelns auf der Ebene der Ontologie zu suchen. Freilich kann nicht bestritten werden, dass die Wahrnehmung von Vulnerabilität, zumal im ökologischen Kontext, politische Mobilisierungen anregen kann, wie zuletzt die Proteste im Hambacher Forst oder auch die Fridays-for-Future-Schüler*innen-Demonstrationen gezeigt haben. Doch ohne ein Quentchen Urteilsfähigkeit, Unabhängigkeit, Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und ja, auch Selbstverwirklichungsbegehren oder kurz: ohne Autonomie im Sinne einer kollektiven kritischen Handlungsfähigkeit (Graefe 2010a) wären derartige Mobilisierungen wohl kaum möglich – und dies stimmt auch dann noch, wenn die Bewegungen selbst, was leider realistisch ist, in Bezug auf die vorherrschende Politik der Nicht-Nachhaltigkeit ihrerseits nachhaltig wirkungslos bleiben. Anders gefragt: Muss tatsächlich entschieden werden, ob »der« Mensch an und für sich immer und überall autonom oder aber immer und überall verletzlich ist? Oder, wichtiger noch: Kann es überhaupt entschieden werden? Und warum sollte gerade diese Entscheidung die Voraussetzung für politisches Handeln liefern? Was wäre, wenn Menschen nicht aufgrund, sondern trotz der ihnen eigenen Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Abhängigkeit von anderen unter bestimmten Umständen politisch handlungsfähig werden können? Ist nicht genau diese Art der Gegenüberstellung – autonom oder vulnerabel – ein Effekt ebenjener die Gegenwart kontaminierenden Diskurse, gegen die sich kritisches Denken wenden sollte? Zweifellos wird es in einer komplexen globalisierten Welt nicht einfacher, Konf likte auszutragen, die weder essenzialistische Ressentiments bedienen noch direkt oder indirekt dazu beitragen, die katastrophalen globalen Folgewirkungen der imperialen Lebensweise (Brand/Wissen 2017) zu stabilisieren. Allerdings ist es nicht zuletzt die Behauptung der Volatilität, Undurchschaubarkeit, Komplexität und Ambiguität der »VUKA-Welt« (s. S. 10) selbst, die emanzipatorische Kämpfe und Konf likte delegitimiert und untergräbt – sei es auf Ebene betrieblicher Auseinandersetzungen um Gesundheitsschutz, sei es in der Frage der Durchsetzung von Klimaschutzzielen, sei es in Bezug auf die Anerkennung der Gültigkeit von Menschen- und Staatsbürger*innenrechten unabhängig vom Zufall der Geburt oder sei es in Bezug auf

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die unangefochtene Stabilität der, allen Komplexitätsbeschwörungen zum Trotz, konzeptionell im Grunde eher schlichten und gerade deswegen brutalen kapitalistischen Ausbeutungs- und Eigentumsverhältnisse. Nicht zuletzt im Zeichen der Resilienz fordert man uns dazu auf, die Kategorie des Konf likts (und damit verwandte Kategorien wie Antagonismus, Interesse, Entscheidung oder auch Fortschritt) ad acta zu legen: »Das Politische wird […] in einen vermeintlich umfassenderen systemischen Betrachtungshorizont hineindiffundiert und damit potenziell negiert.« (Rungius/Schneider/Weller 2017: 46) Für eine bessere Gesellschaft zu streiten (und sich zugleich darum zu streiten, was eine bessere Gesellschaft ist), stellt sich aus dieser Perspektive letztlich als etwa ebenso sinnvolles Unterfangen dar, wie es eine Demonstration gegen die Abfolge der Jahreszeiten wäre. Damit verlangt uns Resilienz als Denkfigur (die, wie gesagt, auch dort am Werk sein kann, wo explizit von Resilienz nicht die Rede ist) eine Form der Konformität ab, die sich von bisher bekannten Formen der Konformität (Lipp 1975) deutlich unterscheidet: Es ist nicht die selbsternannte oder göttliche Autorität, nicht die überlieferte Tradition, nicht die disziplinarische Norm und in letzter Instanz auch nicht die stets noch zu steigernde Produktivität, an der wir unser Denken, Handeln und Fühlen ausrichten sollen. Sondern die jederzeit mögliche Katastrophe, das unberechenbare Ereignis, die allgegenwärtige Bedrohung (was freilich nicht ausschließt, dass deren Beschwörung für die Mobilisierung, Stabilisierung und Steigerung von Autorität, Ressentiment oder Ausbeutung genutzt wird). Nicht Kritik und Konf likt erscheinen im Zeichen von Resilienz als rational und ethisch plausible Bezugspunkte, sondern Vulnerabilität, Emotionalität und Gemeinschaft, und dass diese Verschiebung auch von herrschaftskritischer Seite mit teils erheblichem Pathos gestützt und affirmiert wird, macht die Sache der Kritik nicht gerade leichter. Freilich sind Menschen sterbliche, verletzliche und zutiefst voneinander abhängige Wesen. Zugleich aber sind sie, sind wir – was seinerseits als ontologisch verifiziert gelten darf – zur Imagination fähig, und diese Fähigkeit umfasst mehr als die präventive Antizipation von Ohnmacht, Chaos und Gewalt und den Entwurf angeblich komplementärer Gegenwelten, aus denen alle Widersprüche auf wundersame Weise verschwunden sind. So herum betrachtet sind wir im Zeichen von Resilienz umso mehr dazu aufgefordert, uns nicht anzupassen und abzufinden mit der Welt, in der wir leben, sondern im Gegenteil darauf zu bestehen, dass wir sie verändern können – nicht etwa, weil wir vollständig souverän und

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rational oder aber ausgesetzt, ohnmächtig und unwissend wären, sondern weil »wir« beides sind: autonom und abhängig, verletzlich und (trotzdem) handlungsfähig, unwissend und vernunftbegabt. Und wir sind und bleiben aufgefordert, Strukturen und Machtverhältnisse, die Lebensgrundlagen zerstören und Ausbeutung, Ausgrenzung und Angst befördern, als das zu begreifen, was sie sind: nicht ontologisch, sondern menschengemacht. Die Kritik dieser Verhältnisse ist, um ein berühmtes Bonmot zu zitieren, vor allem eins: alternativlos – so sehr man es uns auch anders einzureden versucht.

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Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

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Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

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Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)

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Anna Henkel (Hg.)

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