Maritimer Imperialismus: Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875 bis 1914 [Reprint 2014 ed.] 9783486596205, 9783486566710

Die Arbeit von Rolf Hobson wendet sich der Frage nach den maritimen Verteidigungsbedürfnissen des Deutschen Reiches zu u

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German Pages 398 [390] Year 2004

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Maritimer Imperialismus: Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875 bis 1914 [Reprint 2014 ed.]
 9783486596205, 9783486566710

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Mit der vorliegenden Arbeit führt Hobson den Nachweis, daß aufgrund einer selektiven Rezeption Alfred Thayer Mahans, die wohl den Navalisten, nicht aber dessen seestrategische Einsichten zur Kenntnis nahm, ein der müitärischen Logik folgendes Rüstungskonzept korrumpiert wurde: Aus dem den Verteidigungserfordernissen des Deutschen Reiches entsprechenden Kalkül der „preußischen Schule" seestrategischen Denkens wurde das in sich widersprüchliche Abschreckungskonzept der „deutschen Schule", das mit der „Risikoflotte" Gestalt gewann. Der vergleichende Blick auf parallele Ausprägungen des Navalismus in Rußland und in Österreich-Ungarn unterstreicht den Befund, daß das Besondere der Wilhelminischen Seerüstung nicht in einer „innenpolitischen Krisenstrategie" lag, sondern in der dem Staatssekretär Admiral Tirpitz eigenen „politischen" Deutung der Seemacht.

Der Autor: Dr. Rolf Hobson ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im norwegischen Institut für Verteidigungsstudien, Oslo.

Umschlagabbildung:

Die letzte Fahrt der Hochseeflotte im November 1918 (Marineschule Mürwik)

Oldenbourg

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Rolf Hobson Maritimer Imperialismus •

Beiträge zur Militärgeschichte Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Band 61

R.

Oldenbourg Verlag München 2004

Maritimer Imperialismus

Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875 bis 1914

Von

Rolf Hobson Aus dem Englischen übersetzt von Eva Besteck

Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam, und dem Institut für Verteidigungsstudien, Oslo

R.

Oldenbourg Verlag München 2004

Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme -

Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhäldich © 2004 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Str. 145, D-81671 München

http://www.oldenbourg-verlag.de

Internet: Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages Übersetzungen, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfáltigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigen Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München

ISBN 3-486-56671-7

Inhalt Vorwort.VII Vorwort zur Originalausgabe.IX

Einleitung.1 Erster Teil Die sich wandelnden Mechanismen internationaler Rivalität, 1840-1914. Industrialisierung, Volkskrieg und die Grenzen von Land- und Seemacht.11 I.

Kongreßsystems, das Aufkommen des industrialisierten Volkskrieges und Deutschlands >halbhegemoniale< Stellung, 1850-1871.15

II.

Industrialisierung und die Wirkungsmöglichkeiten

Das Ende des

der britischen

Seemacht, 1840-1914.27

III.

Modernisierungswettläufe, Wettrüsten und Krieg, 1840-1914.43 IV. Maritimes Gleichgewicht, Seerecht und

die Grenzen der britischen Seemacht.63

Zweiter Teil

Seestrategie in einer sich industrialisierenden Welt,

1865-1895.85

I.

Der britische und der französische Übergang in die Moderne: Die Wiederentdeckung vergangener Muster.91 1. Großbritannien und die >Blue Water Schooh.92 2. Frankreich und die >Jeune EcoleFlotte gegen Englands Das erste und das zweite Flottengesetz, 1897-1900.256

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule seestrategischen Denkens.269 1. Die Ziele der Flottenrüstung.269 2. Zahlen, Verbündete und Geographie.283 3. Strategische Optionen und das Seerecht unter dem Primat des Tirpitz-Planes.296 4. Von Maltzahn bis Wegener: Die deutsche Schule und Geopolitik.309 III. Die Besonderheiten des Wilhelminischen Navalismus.321

1. Semiabsolutistischer Navalismus.321 Sozialimperialismus von Weber bis zu den >KehritesRisikoflottepolitischen< Deutung der Seemacht. Aufgrund einer vorherigen Abstimmung mit dem Autor blieben die Rechte für eine deutsche Ausgabe dieser ertragreichen Studie dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) vorbehalten. Übersetzungen, zumal von wissenschaftlichen Werken, stellen eine besondere Herausforderung dar, nicht zuletzt in wirtschaftlicher Hinsicht. Deshalb bedurfte es nicht nur der Unterstützung des MGFA und des IFS, sondern darüber hinaus auch eines Zuschusses aus dem »Ruhrgasprogramm« zur Förderung deutsch-norwegischer Projekte, um dieses anspruchsvolle Vorhaben realisieren zu können, das einer breiteren Rezeption des Werkes im deutschen Sprachraum dienen soll. Hier ist vor allem Kristin Eikeland Johannesen Senter for Europaforskning« und Herrn Prof. vom »Centre for European Studies Dr. Jarle Simensen (beide Universität Oslo) zu danken, die sich für die finanzielle Unterstützung des Vorhabens durch den Ruhrgasfonds eingesetzt haben. Es ist die Hoffnung der Beteiligten, daß die Schwierigkeiten, vor allem terminologischer Art, die bei dieser Übersetzung einer stark analytischen Dissertation zu einem zentralen deutschen marinegeschichtlichen Thema aus dem Englischen zu bewältigen waren, dem Leser weitgehend verborgen bleiben mögen. Wenn dies —

Vorwort

VIII

gelungen sein sollte, so ist dafür zahlreichen Mitarbeitern zu danken, die an der Erstellung der Übersetzung sowie der Betreuung des deutschen Manuskriptes bis zur Drucklegung beteiligt waren. Von Beginn an war Fregattenkapitän Dr. Frank Nägler Fachleiter Marine im MGFA zunächst als wissenschaftlicher Gutachter, danach als Berater in allen fachspezifischen Fragen in die Bearbeitung des Projektes eingebunden. Das Kernstück der Veröffentlichung bildet jedoch die akkurate und einfühlsame Übersetzung von Eva Besteck (Mainz), die hiermit mehr als ein Gesellenstück ihrer Fachkenntnisse als Anglistin und Historikerin vorgelegt hat. Die Schrifdeitung des MGFA unter der Leitung von Dr. Arnim Lang war für die weitere Betreuung des Projektes zuständig, die Koordination der Arbeiten übernahm Wilfried Rädisch, das Lektorat lag in den Händen von Jutta Wirth M.A. (Bovenden); die Textgestaltung war Aufgabe von Carola Klinke. Ihnen allen sei hiermit für das gezeigte Engagement gedankt. -



least möchte ich dem Autor Rolf Hobson und dem Leiter des norwefür Verteidigungsstudien, Prof. Dr. Rolf Tamnes, für die reiInstitutes gischen bungslose Kooperation der beiden Institute bei der Herausgabe dieses Bandes danken, eine Zusammenarbeit, die zuletzt 1997 mit einer internationalen Tagung zur Geschichte der norwegischen Deutschlandbrigade ihren Ausdruck fand und sich gewiß mit anderen Projekten erfolgreich fortsetzen läßt.

Last

not

Dr. Jörg Duppler Kapitän zur See und Amtschef des Militärgeschichtlichen

Forschungsamtes

Vorwort zur

Obgleich

die Arbeit

an

der

Originalausgabe

vorliegenden

Studie mich über mehr

Jahre gebunden

hat, als ich mich zu erinnern gewillt bin, denke ich gern und mit Dankbarkeit an die

mir zuteil gewordene Unterstützung zurück. Um mit dem grundlegenden Aspekt des Lebensunterhaltes zu beginnen: Zwei Arbeitgebern danke ich für großzügige Unterstützung, zum einen der HistorischPhilosophischen Fakultät der Universität in Trondheim (jetzt Norges teknisk-naturvitenskapelige universitet/Norwegens technisch-naturwissenschaftliche Universität, NTNU), zum anderen dem norwegischen Institut für Verteidigungsstudien (IFS) in Oslo. Zudem habe ich mehrmals gerade im rechten Augenblick zusätzliche Stipendien vom Norwegischen Forschungsrat und von der Ruhrgas Stiftung erhalten. Unzähligen Menschen bin ich für Rat, Hinweise und Anregungen verpflichtet. Zunächst möchte ich meinem akademischen Lehrer am Historischen Institut der NTNU in Trondheim, Professor Per Maurseth, für seine Geduld, seinen Sinn für das analytische Detail und seine äußerst wertvollen Kommentare danken. Sodann hat mich Professor Jarle Simensen, ebenfalls NTNU, immer wieder ermutigt, ebenso wie Professor Helge Pharo vom Historischen Institut der Universität Oslo. Professor Pharo war auch derjenige, dem ich meine ersten und noch ziemlich unklaren Vorstellungen zu dieser Studie vortrug und der daraufhin die ersten Empfehlungsschreiben verfaßt hat. Sehr dankbar bin ich Professor Wolfgang Mommsen, der meine vagen Ideen aufgegriffen und mich aufgefordert hat, meine Studien an der Universität Düsseldorf zu betreiben, die während meines mehrjährigen Aufenthalts in Deutschland in Heinrich-Heine-Universität umbenannt wurde. Nach meiner Rückkehr nach Norwegen gewährten mir die Professoren Olav Riste und Rolf Tamnes, der ehemalige und der jetzige Leiter des IFS, für meine Forschungen Freiheit und Zeit, was mir einen angemessenen Abschluß meiner Arbeit wohl erst ermöglicht hat. Von großem Nutzen waren für mich die zahlreichen Kommentare meines Kollegen am IFS, Tom Kristiansen, der die letzte Fassung meines Manuskriptes gelesen hat. Dirk Bönker, zur Zeit an der Johns Hopkins Universität in Baltimore, war so freundlich, einen ausführlichen Kommentar zum vorletzten Entwurf zu verfassen. Von Professor Avner Offer, Nuffield College (Oxford), stammen sehr hilfreiche Hinweise zu einer verdichteten Fassung, die ich der offenen Kritik wegen um so mehr schätze. Eingehend haben sich auch Professor John Hattendorf, United States Naval War College in Newport, und

Nägler, Militärgeschichtliches Forschungsamt in Potsdam, zu dem Manuskript geäußert. Nicht zuletzt möchte ich Professor Roger Chickering für seine umfangreiche Hilfe bei der Ausarbeitung der endgültigen Fassung danken. Frank

Vorwort

X

zur

Originalausgabe

Einzelne Überlegungen der Arbeit wurden im Laufe der Jahre als Referat unterschiedlichen Zuhörerkreisen vorgetragen. Deren Aufgeschlossenheit war für mich sehr ermutigend. Ich denke hier insbesondere an die Teilnehmer an Wolfgang Mommsens Oberseminar in Düsseldorf, an Stig Försters Oberseminar in Bern, an der Veranstaltung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und an dem Seminar des Historischen Instituts in Trondheim. Namentlich danken möchte ich Keith Bird, Tobias Philbin, Gary Weir und Andrew Lambert für ihre aufmunternde Unterstützung während des Zwölften Marinegeschichtlichen Symposiums in Annapolis. Nicht minder waren mir die Kommentare ein Gewinn, mit denen Olav Riste als Vorsitzender des Promotionsausschusses und die Professoren Stig Förster und Wilhelm Deist als Kontrahenten bei Verteidigung der Arbeit in Trondheim mein Projekt begleitet haben. In meinen besonderen Dank möchte ich schließlich auch die Königlich Norwegische Gesellschaft für Wissenschaft und Literatur einbeziehen, die mir 1999 ihren Preis für wissenschaftliche Verdienste verliehen hat. Die akademische Dankesschuld geht über in persönlichen Dank, der jenen Freunden gebührt, die mich von Anfang an in hohem Maße unterstützt haben. Patrick Kelly, Außerordentlicher Professor an der Adelphi Universität Long Island, hat mehr Entwürfe gelesen, als ich in der Erinnerung wahrhaben möchte. Seine dann stets einfühlsame Kritik gründete auf einer unvergleichlichen Quellenkenntnis. Er und seine Familie haben mich während meiner Aufenthalte auf der anderen Seite des Atlantiks das Vorbild amerikanischer Gastfreundschaft kennenlernen lassen. Dr. Boris Barth, zur Zeit an der Universität von Konstanz, erwies sich als eine nie versiegende Quelle der Inspiration und geistreicher Kommentare, sei es in Verbindung mit einem von mir geschriebenen Entwurf oder mit einem gezapften Bier weder das eine noch das andere konnten augenscheinlich seine klaren Einsichten vernebeln. Bei meinen wiederholten Aufenthalten in St. Petersburg boten Maria Barth (geb. Gerasimenko) und Yuri Michailovich Rapoport mehr als nur die sprichwörtliche russische Gastfreundschaft. Dr. Andreas Biefang und Susann Weineck haben dafür gesorgt, daß ich weiterhin mit deutschem Geist, italienischer Küche und französischem Wein in Berührung blieb. Tiefe Dankbarkeit empfinde ich gegenüber der Familie Knudtsen, die mir über Jahre ein zweites Zuhause in Trondheim bereitet hat. Zu danken habe ich insbesondere Dr. Margunn Skjei Knudtsen nicht nur für die gastliche Aufnahme und die persönliche Freundschaft, sondern vor allem auch für die Vermittlung jener Zuversicht, die bei der Verwirklichung meines Vorhabens doch immer wieder vonnöten war. Ich bezweifle, daß ich es ohne ihren unermüdlichen und energischen Ansporn —

geschafft hätte.

Dieses Buch ist meinen Eltern, Ingegjerd colm Hobson ( gestorben 1975 ) gewidmet.

Lyhmann

Hobson und

George

Mal-

»Die

Flotte, diese Schiffe, verblüffende Maschinen bürgerlicher Erfindung, die, in Betrieb gesetzt, Weltmacht produzierten, genau wie in Gauscnfeld gewisse Maschinen ein gewisses >Weltmacht< benanntes Papier produzierten.« Heinrich Mann: Der Untertan Kapitel VI

(1914),

Einleitung Von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wuchs die Kaiserliche Marine schnell zur weltweit zweitgrößten Marine heran. Der damalige Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Großaalmiral Alfred von Tirpitz, verfolgte das Ziel, die Hochseeflotte zu einem machtpolitischen Hebel zu machen, der Deutschlands Aufstieg in den Rang einer Weltmacht sichern sollte. Er glaubte, daß eine mächtige Schlachtflotte Großbritannien daran hindern würde, den erstarkenden Rivalen im Handels- und Kolonialbereich auf der anderen Seite der Nordsee zu vernichten. Ohne eine solche >Risikoflotte< würde Deutschlands künftiges Wirtschaftswachstum von der Gnade habgieriger Konkurrenten abhängen und das Land auf den Stand eines armen landwirtschaftlichen Staates absinken. Mit ihr aber könne das >Größere Deutschland< die Kolonien und Märkte kontrollieren und schützen, welche die Voraussetzung dafür seien, daß Deutschland zu einer der vier Weltmächte des zwanzigsten Jahrhunderts werden könne. Die deutsche Flottenrüstung unter Tirpitz wird seit vielen Jahrzehnten intensiv erforscht. Der Aufbau der Hochseeflotte wurde als eine der Hauptarsachen für das Aufkommen des englisch-deutschen Antagonismus bewertet. Das daraus erwachsende Wettrüsten mit Großbritannien wurde zum Modell für alle modernen Rüstungswettläufe. Das Flottenprogramm war einer der hervorstechendsten Aspekte der unberechenbaren und keinen Regeln folgenden Außenpolitik des wilhelminischen Deutschland und trug zu dem Entstehen der Spannungen bei, die zum Ersten Weltkrieg führten. Namhafte Historiker haben gesellschaftliche und politische Strukturen ausgemacht, von denen sie glauben, daß sie Deutschland in die Weltpolitik und zur maritimen Expansion getrieben haben; diese Besonderheiten der deutschen Gesellschaft können daher die Dynamik hinter der Außenpolitik erklären, die zu den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts geführt hat. Die Diskussion über Ursachen und Folgen der wühelrninischen Seemachtambitionen begann in den frühen 1920er Jahren und wurde eingeholt von der breiteren Debatte über die deutsche Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Tirpitz selbst wies, obwohl er 1916 aus dem Amt geschieden war, mit seinen

2

Einleitung

Memoiren und der Veröffentlichung von sehr selektiv zusammengestellten Dokumentenbänden den Weg1. Diese Verteidigung seiner eigenen Leistungen wurde in der Folge von einer ganzen Reihe von Apologeten des Großadmirals aufgegriffen, angefangen vom Vater seines Schwiegersohnes, Ulrich von Hasseil, bis hin zu rechtsorientierten konservativen Historikern2. Trotz ihrer offensichtlichen politischen Tendenz sind diese Studien wertvolle Quellenfundgruben. Die tendenziöse Auswahl von Quellen und deren gelegentliche Verfälschung kann heute durch Abgleich mit den Originalen, die im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg eingesehen werden können, deutlich gemacht werden. Tirpitz war stets eine verhaßte Zielscheibe für die Linke. Der erste radikale Historiker, der in seinen Studien über die wilhelminische Gesellschaft und Rüstungspoktik über bloße Polemik hinauskam, war der 1933 verstorbene Eckart Kehr3. Seine Interpretationen zeigten im streng konservativen Kreis deutscher Gelehrter zunächst wenig Wirkung, ab 1933 gelangte ihr Einfluß aber durch emigrierende Intellektuelle nach Übersee. In den 1960er Jahren kamen seine Ideen, diesmal gefeiert, nach Westdeutschland zurück, wo sie von einer neuen Generation kritischer Historiker aufgegriffen wurden. Ebenfalls in der Zwischenkriegszeit wurde eine Debatte von vordergründig professionellerer Natur geführt, besonders innerhalb der jüngeren Generation deutscher Marineoffiziere. Die Lehren und Fehler der Marinepolitik der Vorkriegszeit wurden in Fachzeitschriften, in Vorträgen an der Marineakademie und in der Presse diskutiert. Einer von Tirpitz' treffsichersten Kritikern war Vizeadmiral Karl Galster, der bereits einigen Aufruhr verursacht hatte, als er 1907 das Schlachtflottenprogramm4 öffentlich verdammt hatte und daraufhin vom Reichsmarineamt geächtet worden war. Er nahm seine Kampagne gegen Tirpitz in den 1920er Jahren wieder auf. Seine Verurteilung der >Risikoflotte< als militärisch nutzlos und politisch schädlich für die Beziehungen zu Großbritannien löste unter führenden Persönlichkeiten in der Marine Bestürzung aus5. Eine ernster zu nehmende Herausforderung, welche die Phantasie der jüngeren Mitglieder des Offizierkorps anregte, kam indes von Vizeadmiral Wolfgang Wegener. Er lehnte die Schlachtflotte nicht ab, sondern warf Tirpitz vielmehr vor, nicht gewußt zu haben, wie er sie einsetzen solle6. Eine Marine, in deren tonangebenden Kreisen die Anhänger der strategischen Auffassungen des Großadmirals bestimmend waren, bewahrte dessen Bild 1

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3 4

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Tirpitz, Erinnerungen; Tirpitz, Politische Dokumente; Tirpitz, Über den strategisch-taktischen Ursprung. Es existiert auch ein zweiter Band mit Dokumenten, der die Kriegsjahre abdeckt: Deutsche Ohnmachtspolitik im Weltkriege. Hasseil, Tirpitz; Hallmann, Krügerdepesche und Flottenfrage; Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau; Trotha, Großadmiral von Tirpitz. Kehr, Der Primat der Innenpolitik; Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik. Galster, Welche Seekriegs-Rüstung braucht Deutschland? Galster, England, Deutsche Flotte. Tirpitz' Nachfolger im Amt des Staatssekretärs, Capelle, schrieb an einen anderen engen Mitarbeiter aus Vorkriegsjahren, Hollweg, daß Galsters Buch künftigen Historikern wertvolles und teilweise objektives Quellenmaterial liefern würde, welches Tirpitz' Ruf großen Schaden zufügen würde. BA-MA RM 3/11679, Capelle an Hollweg, 10.11. und 22.12.1925. Wegener, The Naval Strategy of the World War.

Einleitung

3

der öffentlichen Infragestellung7. Dennoch sollte Wegeners Kritik in den Jahdem Zweiten Weltkrieg auf führende Persönlichkeiten der Marine anreund die Debatte über die Politik der Vorkriegszeit zeitigte ein Nachwirken; gend denken auf der Ebene der seestrategischen Theorie8. Die wichtigsten Ergebnisse dieser theoretisch-historischen Betrachtungen zum seestrategischen Denken stammen aus der Feder Herbert Rosinskis, der in den 1930er Jahren emigrierte9. Leider wurde in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Bedeutung von Rosinskis Werk für ein Verständnis der deutschen Marineentwicklung nicht erkannt. Der führende Historiker auf diesem Gebiet in den 1950er Jahren, Walther Hubatsch, machte eine Gratwanderung zwischen bloßer Apologie auf der einen Seite und sich auf Originalquellen stützender historischer Forschung auf der anderen Seite0. Gerhard Ritter stellte einige tiefschürfende Beobachtungen zu militärischen Aspekten der Tirpitzschen Politik an und stützte sich dabei in Teilen auf die Kritik an dessen Strategie aus den Jahren der Zwischenkriegszeit11. Aber wichtiger für die künftige Forschung war die Neubewertung der Welt- und Flottenpolitik, die von Rudolf Stadelmann und Ludwig Dehio eingeleitet wurde12. Diese beiden Historiker waren die ersten, die die offensiven politischen Intentionen der wilhelminischen betonten. Damit ebnete besonders Dehio den Weg für Fritz Fischers Marinepolitik umstrittene Beschreibung von Deutschlands >Griff nach der Weltmachtx und der Verantwortung des Deutschen Reiches für den Ersten Weltkrieg. Ab den 1960er Jahren bekamen Historiker Zugang zu den in alliierte Hände gefallenen deutschen Marinedokumenten, von denen der größte Teil über die Zeit des Zweiten Weltkrieges erhalten geblieben ist. Damit begann eine Ära sorgfältiger wissenschaftlicher Untersuchungen, in welcher viele der alten Apologien widerlegt wurden. Jonathan Steinberg war der erste, der aufzeigte, daß die Flottenrüstung von Anfang an gegen Großbritannien gerichtet war, und daß es daher die Akzeptanz dieser Zielsetzung im Jahre 1897 war, die >die Welt veränderten-\ Sechs Jahre später publizierte Volker Berghahn eine Studie, die bis heute ein Meilenstein in der Historiographie des wilhelminischen Kaiserreiches und seiner Marine ist14. Berghahn verknüpfte eine detaillierte Untersuchung der Marine-, Außen- und Innenpolitik bis ins Jahr 1908 mit einer Neuauflage der mit dem Namen Kehr verbundenen Deutung der politischen und gesellschaftlichen Strukturen im wilhelminischen Reich. Auf diese Weise gelang Berghahn einer der wichtigsten Beiträge zur Debatte über Ursachen und Folgen des deutschen Expansionismus. Sein Werk wurde ervor

ren vor

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9

10 11 12

Groos, Seekriegslehren.

Assmann, Gedanken. Rosinski, The Development of Naval Thought. Hubatsch, Die Ära Tirpitz; Hubatsch, Der Admiralstab. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd 2. Stadelmann, Die Epoche der deutsch-englischen Flottenrivalität; Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie.

13 14

Steinberg, Yesterday's Deterrent. Berghahn, Der Tirpitz-Plan.

Einleitung

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gänzt durch Wilhelm

Deists Analyse der Propaganda des Reichsmarineamtes und dessen Beziehung zu nationalistischen Pressure-groups15. Andere Wissenschaftler, die sich die Möglichkeiten der neu zugänglich gewordenen Marinearchive zunutze machten, deckten Themen ab, die in den eben erwähnten Studien von nachgeordneter Bedeutung waren. Gemeinsam war ihnen, daß sie den allgemeinen innenpolitischen Zusammenhang, der eine so bedeutende Rolle in Berghahns Auslegung spielte, in den Hintergrund rückten. Patrick Kellys Dissertation war die erste Studie, welche die Marinepolitik bis 1914 abdeckte6. Seine Darstellung von Tirpitz als einem bürokratischen Architekten eines Weltreiches, getrieben von Ressorteifer, kann leichter mit den verfügbaren Quellen in Einklang gebracht werden, als dies mit seinen weitreichenderen Behauptungen zu Tirpitz' antiparlamentarischem Kalkül der Fall ist. Paul Kennedy publizierte einige hellsichtige Analysen des strategischen Fundamentes des Tirpitz-Plane s und zeigte die nahezu unerklärlichen logischen Lücken< auf, mit denen dieser durchsetzt war17. Carl-Axel Gemzell präsentierte eine Studie zum strategischen Planungsprozeß der Marine, die sich soziologischer Methoden bediente, um die Entwicklung verschiedener strategischer Konzepte zu erklären18. Gemzells Werk wurde von Ivo Nikolai Lambis sehr detaillierter Beschreibung der deutschen Außenpolitik und der von der Marine betriebenen Planungen fortgesetzt. Jeder Forscher, der die Akten des Admiralstabes in Freiburg eingesehen hat, muß Lambi dankbar dafür sein, daß er diese in mühsamer Arbeit dechiffriert hat19. Sich auf Kellys Interpretation von als einem Bürokraten-Politiker Tirpitz stützend, produzierte Gary Weir die erste Studie über die Beziehung von Reichsmarineamt und deutscher Industrie20. Die bahnbrechende Forschungsleistung der 1960er und 1970er Jahre fand schließlich Eingang in Paul Kennedys Hauptwerk über das Anwachsen des englisch-deutschen Antagonismus, welches die Einsichten in die Diplomatie, Kolonial-, Marine- und Innenpolitik der beiden Länder zu einer monumentalen Synthese verband21. In den letzten Jahren erschienen eine unentbehrliche Dokumentensammlung zur wilhelminischen Rüstungspolitik22, Jörg Dupplers und Lawrence Sondhaus' Studien zur Vor-Tirpitz-Ära23, und vor allem Michael Epkenhans' bedeutendes Werk zur Marinepolitik zwischen 1908 und 1914, welches mit großer wissenschaftlicher Akribie die letzte chronologische Lücke geschlossen hat24. Epkenhans behandelte auch die Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes in Deutsch15

i'> 17

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Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda. Weiteres

aus dieser Zeit wurde gesammelt in: Marine und Marinepolitik. In zwei Überblicksdarstellungen ist viel von der Forschung der 1960er und 1970er Jahre zusammengefaßt: Petter, Deutsche Flottenrüstung; und Herwig, »Luxury Fleet«. Kelly, The Naval Policy. Kennedy, Strategie Aspects; Kennedy, Tirpitz, England, and the Second Navy Law; Kennedy, The Development of German Naval Operations Plans. Gemzell, Organization, Conflict and Innovation. Lambi, The Navy. Weir, Building the Kaiser's Navy. Kennedy, The Rise of the Anglo-German Antagonism. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik. Duppler, Der Juniorpartner; Sondhaus, Preparing for Weltpolitik. Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung.

5

Einleitung

land und schuf so einen neuen Forschungsmaßstab für dieses wichtige Gebiet der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. François-Emmanuel Brézet, der erste französische Historiker, der sich auf dieses Terrain begab, nahm die Entwicklung der Marinepolitik über zwei Jahrzehnte von Mitte der 1890er Jahre an in den Blick und behandelte technologische Aspekte der Konstruktionspolitik in größerem Detail als die meisten anderen Studien25. Für den Autor dieses Buches besteht eines der Hauptmerkmale der Historiographie zur wilhelminischen Marine in dem völligen Fehlen einer vergleichenden Perspektive. Deutsche Marinehistoriker waren schon immer ebenso besessen von Großbritannien, wie Tirpitz es war; aber selbst die Vergleiche, die zwischen der Marinepolitik Großbritanniens und Deutschlands oder zwischen deren Regierungsformen und Gesellschaften angestellt wurden, haben nicht immer mit dem Fortschritt der Forschung Schritt gehalten. Die Eigentiimlichkeiten des Tirpitz-Planes wurden meist den eigentümlichen Strukturen der deutschen Gesellschaft zugeschrieben, zugleich wurden aber die theoretischen Grundlagen solcher Vergleiche angefochten26. Der auf Ursachen und Ziele des deutschen Navalismus gerichtete Blick ist nicht durch Studien über den Navalismus anderer Länder erweitert worden. Dies hat es auch unmöglich gemacht, die Frage zu beantworten, welche Marine, wenn überhaupt, Deutschland brauchte, um seine lebenswichtigen Interessen zu verteidigen. Die Frage nach der Rolle, welche die Marine für die deutsche nationale Sicherheit gespielt hat, wurde in Avner Offers wichtiger Studie über den wirtschaftlichen Wandel und die strategische Verwundbarkeit gestellt27. Es kennzeichnet das Ausmaß der Probleme, mit welchen heutige historiographische Herangehensweisen durch die von Offer aufgeworfenen Fragen konfrontiert sind, daß dessen Ergebnisse zumindest von deutschen Historikern fast gänzlich ignoriert wurden. Neuere und auch nicht ganz so neue Untersuchungen bieten Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Ländern und die Gelegenheit für vergleichende Studien zu Themen, die bisher in der Geschichtsschreibung zur Kaiserlichen Marine keine Rolle spielten. Die Dilemmata maritimer Strategie, die für eine kontinentale Großmacht mit einer Marine zweiten Ranges bestanden, waren keine deutsche Besonderheit. Der zuerst ins Auge fallende Kandidat für einen Vergleich auf diesem Gebiet ist Frankreich. Theodore Ropps für eine lange Zeit nur schwer zugängliche klassische Studie zur französischen Marine bietet eine Vielzahl relevanter Informa—





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Brézet, Le plan Tirpitz.



Die stärkste Herausforderung kam von Blackbourn/Eley, The Peculiarities of German History. Auf dem enger gefaßten Gebiet der eigentlichen Marinegeschichte wurden die von Arthur Marder vorgelegten Interpretationen von Jon Tetsuro Sumida und Nicholas Lambert einer größeren Revision unterworfen. Ihre Erkenntnisse haben wichtige Konsequenzen für die Forschung zur wilhelminischen Marine. Vgl. Marder, The Anatomy of British Sea Power; ders., From the Dreadnought to Scapa Flow; Sumida, In Defence of Naval Supremacy; Lambert, Sir John Fisher's Naval Revolution. Offer, The First World War.

6

Einleitung

tionen auch für die Untersuchungen ihres deutschen Pendants28. James Phinney Baxter deckte mit seiner auch heute noch grundlegenden Arbeit jegliche Art von Themen ab, die auch für die Zeit von Belang sind, die auf den von ihm bearbeiteten Zeitraum folgt29. Das vergleichende Studium der Entwicklung modernen seestrategischen Denkens wurde dank der Bemühungen französischer Wissenschaftler auf eine neue Grundlage gestellt30. Es ist nun auch möglich, die besonderen Aspekte des deutschen Navalismus mit parallelen Phänomenen in Ländern, die bisher noch nicht in Betracht gezogen wurden, zu vergleichen: den Vereinigten Staaten, Österreich-Ungarn und Rußland31. Ein sehr wichtiges Thema, welches in der Historiographie der deutschen Marine bislang genausowenig Aufmerksamkeit erfahren hat, ist die Frage nach der Beziehung zwischen der maritimen Dimension nationaler Sicherheit, der Seestrategie und dem maritimen Gleichgewicht zwischen neutralen und kriegführenden Staaten genauer: dem Seerecht. Zwei besonders erhellende Studien von Carl Kulsrud und John Coogan liefern einen Rahmen für die Analyse dieser Fragen32. Die vorliegende Studie versucht, einige dieser Themen anzuschneiden, wo dies möglich ist, auf dem Wege des vergleichenden Ansatzes. Dabei wird auf viele der Forschungsergebnisse der oben genannten Wissenschaftler ebenso Bezug genommen werden wie auf die zahlreicher anderer. Zwar wurden einige neue archivalische Materiahen verwendet, als wichtigste Primärquellen haben sich jedoch bereits publizierte, bis dato aber noch nicht von Historikern verwendete Bücher und Artikel erwiesen. Die Studie vergleicht die Entfaltung modernen seestrategischen Denkens in den Großmächten und die Art und Weise, wie dort die Fragen bezüglich der maritimen Aspekte nationaler Sicherheit im Zeitalter der Industrialisierung und der wirtschaftlichen Spezialisierung angegangen wurden. Beide Themen werden innerhalb eines umfassenden interpretatorischen Rahmens behandelt, der das kontinentale und maritime Gleichgewicht der Mächte mit Seerecht und Seestrategie in Zusammenhang bringt. Im Hauptteil des Buches (Zweiter Teil, Kap. I-IV) wird die Entwicklung einer besonderen preußischen Schule des seestrategischen Denkens diskutiert, deren Leistungen wie auch deren Umformung zu einer deutschen Schule des seestrategischen Denkens unter dem Einfluß einer expansionistischen Seemachtideologie. Sodann werden die Ziele des Tirpitz-Planes sowie die ihm zugrundehegenden Überlegungen im Lichte des Verständnisses von Seekrieg, welches die preußische Schule in der Mitte der 1890er Jahre erreicht hatte, analysiert. Es werden außerdem einige langfristig innerhalb der deutschen Schule wirksame —

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Ropp, The Development of a Modern Navy. Ropps Dissertation wurde vor dem Zweiten Weltkrieg beendet, aber vor der Publikation stand sie in den Vereinigten Staaten nur als ein einziges Bibliotheksexemplar zur Verfügung. Baxter, The Introduction of the Ironclad Warship. Vgl. Masson, De la Mer et de sa stratégie; L'évolution de la pensée navale. Klassische Texte von Colomb, Mahan, Corbett, Castex und Wegener wurden von dem United States Naval Institute neu aufgelegt. Shulman, Navalism; Sondhaus, The Naval Policy of Austria-Hungary; Shatsillo, Russkij imperializm; Shatsillo, Poslednie voennye programmy; GatrelL Government, industry and rearmament. Kulsrud, Maritime Neutrality; Coogan, End of Neutrality.

Einleitung

7

Kontinuitäten skizziert. Auf mögliche Parallelen zwischen den innenpolitischen Voraussetzungen des deutschen Navalismus und dem anderer Länder wird als Anregung für weitere vergleichende Forschung hingewiesen. Auch möchte ich eine Erklärung dafür zur Diskussion stellen, warum sich die deutsche Historiographie ausschließlich auf den angeblichen Zusammenhang zwischen den Eigenarten der wilhelminischen Innenpolitik und denen ihrer maritimen Expansion konzentriert hat. Die Arbeit verfolgt die deutsche Marineentwicklung im Detail nur bis zur Verabschiedung des zweiten Flottengesetzes im Jahre 1900. Es wäre hier überflüssig, bis 1914 weiterzugehen, da diese Jahre sehr kompetent von Kelly, Kennedy, Berghahn, Deist, Lambi, Herwig, Epkenhans und Brézet abgedeckt wurden. Dennoch reichen einige Teile der letzten beiden Kapitel über das Jahr 1900 hinaus. Dies ist in der Absicht geschehen, Themen zu behandeln, die wie etwa das Seerecht oder der Navalismus anderer Staaten in der bisherigen Forschung nur geringe Beachtung gefunden haben und die zudem dazu dienen mögen, die dem Tirpitz-Plan zugrundeliegenden Überlegungen noch deutlicher hervortreten zu lassen. Angesichts der zentralen Rolle des deutschen Navalismus in der Geschichte des wilhelminischen Kaiserreiches und bezüglich der Ursachen des Ersten Weltkrieges muß jede neue Interpretation unvermeidlich die einschlägigen Studien aus dem riesigen Literaturberg heranziehen. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, wie viel ich den entsprechenden Historikern schulde. —

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Erster Teil Die sich wandelnden Mechanismen internationaler Rivalität, 1840-1914. Industrialisierung, Volkskrieg und die Grenzen von Land- und Seemacht

Die sich wandelnden Mechanismen internationaler Rivalität

II

Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelten sich die westlichen Gesellschaften durch die Verbreitung der Industrialisierung und die zunehmende politische Mobilisierung ihrer Bevölkerungen. Ihre Volkswirtschaften wurden durch unzählige Verbindungen ins Netz des Weltkapitalismus eingeflochten, und industrielle Massenproduktion steigerte die Produktionskapazität um ein Vielfaches. Neue Formen gesellschaftlicher Organisation fanden ein Forum auf dem sich herausbildenden politischen Massenmarkt, und die bestehende Verteilung von Wohlstand, Status und Macht wurde innerhalb politischer Systeme herausgefordert, welche sich als mehr oder weniger fähig erwiesen, in Konflikten regulierend zu wirken. Die internationale Politik war von diesen Veränderungen gleichermaßen betroffen. Die unangefochtene Vorherrschaft Europas und Nordamerikas innerhalb der Weltwirtschaft wurde durch die Ausdehnung ihrer mittelbaren wie auch unmittelbaren Herrschaft auf weite Gebiete Asiens und Afrikas zur Zeit des Hochirnperialismus noch gestärkt. Das Kräfteverhältnis zwischen diesen Staaten verschob sich, als unter den Bestimmungsgrößen militärischer Stärke die industrielle Kapazität mehr und mehr an die Stelle von Territorium und Bevölkerung trat. Das wachsende politische Interesse breiter Teile der Bevölkerung beschränkte sich nicht auf innenpolitische Fragen; die internationale Politik, zu Kriegs- wie zu Friedenszeiten, geriet zunehmend unter den Einfluß und in die Abhängigkeit von der Mobilisierung öffentlichen Drucks. Dieser einführende Teil umreißt einige der Veränderungen in den zwischenstaatlichen Beziehungen, die von der Industrialisierung und der politischen Mobilisierung während der zweiten Hälfte des >langen 19. Jahrhundert» hervorgerufen wurden. Parallel dazu werden jene Aspekte des Staatensystems bestimmt, welche den neuen Kräften vorangingen und welche weiterhin zur Gestaltung des Rahmens internationaler Beziehungen beitrugen. Das erste Kapitel behandelt die Industrialisierung des Kabinettskrieges und den Übergang zum industrialisierten Volkskrieg im Verlauf der um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika ausgetragenen Konflikte. Der Amerikanische Bürgerkrieg und die zweite Hälfte des Deutsch-Französischen Krieges setzten Kräfte frei, welche die totalen Kriege des 20. Jahrhunderts vorzeichneten. Das Ergebnis des Deutsch-Französischen Krieges katapultierte das neue Deutsche Reich zudem in eine >halbhegemoniale< Stellung auf dem europäischen Kontinent. Das Kongreßsystem der Großmachtkooperation und der gegenseitigen Zurückhaltung fand mit dem Ausbruch des Kiirnkrieges ein Ende, so daß das Tor zu territorialen Revisionen in Europa aufgestoßen wurde. Um 1875 wurde offensichtlich, was sich lange abgezeichnet hatte: Großbritannien und Rußland würden keine weitere Ausdehnung deutscher Macht hinnehmen; die beiden Flügelmächte wurden die De-facto-Garanten der Regelung von 1871. Von da an sah sich die Reichsführung nicht nur der Aussicht auf einen Konflikt mit einer anderen Großmacht gegenüber, der in einen unkontrollierbaren Volkskrieg abzugleiten drohte, sondern auch noch der Gefahr, daß ein solcher in einen Hegemonialkrieg gegen eine Koali-

12

Erster Teil

tion eskalieren konnte, deren Anliegen es sein mußte, das europäische Gleichgewicht wiederherzustellen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Folgen der Industrialisierung für Seemacht allgemein und besonders für die Seemacht Großbritanniens. Neue Technologien veränderten dramatisch die Möglichkeiten einzelner Schiffe und Flotten; die Abhängigkeit von einer leistungsfähigen industriellen und finanziellen Basis ließ die Wirtschaft zu dem entscheidenden Faktor bei der Bestimmung maritimer Macht werden; und die zunehmende wirtschaftliche Spezialisierung unter den entwickelten Volkswirtschaften und deren Integration in den Weltmarkt legten eine neue strategische Verwundbarkeit offen, welche der Seemacht neue Möglichkeiten eröffnete, ihr Gewicht zur Geltung zu bringen. Indem es sich an diese noch nie da gewesenen Veränderungen anpaßte, konnte Großbritannien seine Position als überragende Seemacht behaupten auch wenn um 1914 verschiedene andere Großmächte ebenfalls über mächtige Flotten ver-

fügten.

Diese Entwicklung war eine Folge der um sich greifenden Industrialisierung und wurde von einem neuen Phänomen in der internationalen Politik begleitet: dem Rüstungswettlauf. Dieser wird im dritten Kapitel behandelt. Die Ausbreitung der Industrialisierung, die zunehmend über die Wirtschaftskraft erfolgende Definition politischer Macht und die politische Mobilisierung moderner Gesellschaften machten den Rüstungswettlauf zu einem dauerhaften Merkmal internationaler Beziehungen. In seinen Auswirkungen war er von anderer Qualität als die Rüstungskonkurrenz der vorindustriellen Epoche. Soweit sich die Rüstungswettläufe nun zu einem regulierenden Mechanismus innerhalb des Staatensystems entwikkelten, konnte der Wettbewerb als Ersatz für den Krieg fungieren. Wenn allerdings die Rüstungsrivalität wegen zugrundeliegender politischer Antagonismen verstärkt wurde, konnte der Prozeß ebensogut eine destabilisierende Dynamik entfalten. Rüstungswettläufe militarisierten die Beziehungen zwischen Staaten und reduzierten so die Möglichkeiten der Diplomatie; außerdem festigten sie die andere innenpolitische Themen in den Hintergrund drängende Position nationalistischer Ideologien. Je stärker diese beiden Tendenzen wurden, desto wahrscheinlicher wurde es, daß ein Wettrüsten einen Krieg heraufbeschwor, indem sich eine Seite verlockt fühlte, einen Präventivkrieg zu eröffnen. Zwischen den vor 1914 zu Land und zur See ausgetragenen Rüstungsrivalitäten gab es jedoch wichtige Unterschiede, welche den jeweils möglichen Ausgang beeinflußten. Die Strategie scheint die entscheidende unabhängige Variable gewesen zu sein. Wegen der hohen Kapitalanlagen, des rapiden technologischen Wandels und der Anpassung der Strategie konzentrierte sich der Rüstungswettlauf zur See vor allem auf die qualitative Konkurrenz bei den Bauprogrammen. Qualitativer Vorsprung Heß es verlockend erscheinen, sich die Überlegenheit damit zu sichern, die Flotte der Zukunft zu schaffen, anstatt die existierende Flotte im Zuge der Zerstörung ihres Rivalen in Gefahr zu bringen. Die Technologie der Landkriegführung änderte sich in diesem Zeitraum nicht nur kaum, sie stellte vielmehr eine beständige Anlage dar. Die maximale militärische Wirkung konnte aus einem solchen Sy-

Die sich wandelnden Mechanismen internationaler Rivalität

13

durch eine immer detailliertere Operationsplanung herausgeschlagen wiederum die strategische Flexibilität enorm beeinträchtigte. Mit den werden, damals anerkannten offensiven Doktrinen und dem endlichen Reservoir an Restem nur

was

kruten, die in

quantitativen Rüstungswettlauf mobilisiert werden konnten, eine in umgekehrte Richtung wirkende Funktion, nämlich vorauszusehen, wann vorhandene Überlegenheit nicht länger ausreichen würde, um einen Sieg zu garantieren. Dadurch wuchs der Druck, einen Präventivkrieg zu gewann die

einem

Strategie

eröffnen. Großbritanniens wirtschaftliche und technologische Führungsposition ermöglichte es ihm, seinen Rivalen überlegen zu bleiben vom ersten maritimen Rüstungswettlauf mit Frankreich in den 1840er und 1850er Jahren bis zur Rivalität mit Deutschland im letzten Jahrzehnt vor 1914. Die seit der Jahrhundertwende zunehmenden finanziellen Belastungen riefen nur eine intensivierte Suche nach technologischen und strategischen Alternativen hervor, mit denen die Vorherrschaft der Royal Navy behauptet werden konnte. Aber der Sieg in dem neuen «tillen Krieg von Stahl und Gold< brachte für Großbritannien nicht den Besitz einer hegemonialen Herrschaft über die Meere mit sich, der sich schwächere Seemächte schlicht zu unterwerfen gehabt hätten. Das vierte und letzte Kapitel widmet sich den Grenzen der ungehinderten Ausübung der britischen Vorherrschaft zur See Grenzen, die von Großbritanniens Stellung innerhalb des maritimen Gleichgewichtes festgelegt und die im Seerecht zum Ausdruck gebracht wurden. Genau wie die Zwänge, die auf dem Deutschen Reich lasteten, sich in der Spannung zwischen einem potentiellen Hegemon und einer als Gegengewicht zu ihm fungierenden Koalition innerhalb des kontinentalen Gleichgewichtes ausdrückten, wiesen die Zwänge, die mit Großbritanniens überragender Seemacht einhergingen, auf Strukturen im europäischen Staatensystem hin, die über hunderte von Jahren zurückverfolgt werden können. Indem sie dem großen Wandel im Seerecht 1856 zustimmte, hatte die britische Regierung es für angeraten erachtet, die Existenz dieser Zwänge anzuerkennen sie hatten in der internationalen Politik Bestand bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Industrialisierung steigerte die Wirksamkeit von Seemacht als einem Mittel, mit dem wirtschaftlich Druck auf einige moderne Volkswirtschaften ausgeübt werden konnte. Dies bedeutete jedoch nicht, daß maritim schwächere Mächte, deren nationale Sicherheit jetzt von der Zufuhr strategisch wichtiger Rohstoffe aus Übersee abhing, zur hilflosen Beute der britischen >Boa constrictor< wurden. Blockade, vor allem die >Hungerblockadehalbhegemoniale< Stellung, 1850-1871 Ab 1818 hatte das Kongreßsystem der Kooperation zwischen den Großmächten einen festen Rahmen gegeben. Dies stellte für die internationale Politik eine bemerkenswerte Neuerung dar. Ein Vierteljahrhundert des Krieges gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich hatte den Staatsmännern der Restaurationszeit die Notwendigkeit des Friedens und der Stabilität vor Augen geführt1. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern im 18. Jahrhundert hatten sie die Revolution zu fürchten gelernt mehr, als sie sich voreinander fürchteten. Außerdem wußten sie, daß große Kriege nahezu gewiß Revolutionen entfesseln würden2. Dies brachte sie dazu, eine gewisse Zurückhaltung bei der Verfolgung nationaler Interessen zu wahren und die Aufrechterhaltung der Beschlüsse des Wiener Kongresses als ihre gemeinsame Verantwortung anzusehen. Das Kongreßsystem geriet unter Druck, als die Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten bei einer Anzahl von Problemen auseinanderliefen. Hinzu kam ein ideologischer Bruch zwischen den autokratischen östlichen Mitgliedern der Heiligen Allianz und den liberaleren westlichen Mächten. Dennoch: Noch nicht einmal die Revolutionen des Jahres 1848 konnten das bestehende Staatensystem zerstören, solange es im äußersten Fall durch die russischen Bajonette sanktioniert wurde. Bis 1851 schienen das Gespenst der Revolution verblaßt und die traditionellen Mächte wieder eingesetzt zu sein, ohne daß auch nur eine Grenze hatte neu gezogen werden müssen. Allerdings waren bedeutende Veränderungen eingetreten. Das Kongreßsystem, obgleich äußerlich wiederhergestellt, konnte nicht mehr darauf zählen, daß seine Mitglieder auch nur ein Minimum an Solidarität angesichts möglicher Infragestellungen des Wiener Abkommens aufbringen würden. Jede der einzelnen Mächte hatte Ambitionen, für die sich innerhalb des Systems kein Raum bot3. Die einzige mögliche Ausnahme stellte Großbritannien dar, das sich für europäische Angelegenheiten am wenigsten interessierte. Es konzentrierte sich in den folgenden Jahrzehnten auf den weiteren Ausbau seiner industriellen Volkswirtschaft, auf Verfassungsreformen und auf die Pflege seiner weltweiten Interessen. In Frankreich ergriff Napoleon III. ein Bonaparte, Abenteurer und Verfechter des Nationalstaates -



1

2 3

Schroeder, The Transformation, S. Geiss, Der lange Weg, S. 72. Gall, Bismarck, S. 157 f.



575- 582; Bartlett, Peace, War, S. 1 -23.

16

Erster Teil

durch einen Staatsstreich im Dezember 1851 die Macht. Auf diese beiden Mächte konnte man sich also nicht länger verlassen, wenn es darum ging, die Regelung von 1815 aufrechtzuerhalten. Vielmehr wollte Frankreich sogar einige ihrer tragenden Säulen zum Einsturz bringen. In Deutschland lebte die alte Rivalität zwischen Österreich und Preußen wieder auf. Die konservative Solidarität der drei rückwärtsgewandten Monarchien war scheinbar gerade wieder durch Rußlands bewaffnete Intervention in den Jahren 1848/49 bekräftigt worden. In Wirklichkeit warfen Rußlands Ambitionen auf dem Balkan und im Nahen Osten für Preußen und Österreich drängende Fragen auf. Die rücksichtslose Verfolgung eigener nationaler Interessen trat gegenüber der Kooperation, mit der bis dahin Konflikten zwischen den Großmächten vorgebeugt werden sollte, in den Vordergrund. Rußland und Frankreich trafen im Nahen Osten aufeinander. Als Rußland anfing, die Integrität des Osmanischen Reiches zu bedrohen, schritten Großbritannien und Frankreich ein, um ein Vorgehen gegen Konstantinopel zu verhindern. Sie schickten Flotten ins Schwarze Meer und erklärten Rußland schließlich im März 1854 den Krieg. Die Folgen des Krimkrieges schufen eine wesentliche Voraussetzung für die Veränderungen, die in den folgenden zwei Jahrzehnten in Mitteleuropa stattfanden. Rivalitäten zwischen den Mächten hatte es vor und nach dem Krieg gegeben, aber zwei Dinge hatten sich nach 1856 geändert. Zum einen löste sich, um mit Andreas Hillgrubers Worten zu sprechen, aües, was von den Großmächten an Gespür für eine europäische Verantwortung beim Kongreß von Paris bestanden hatte, in der von duellähnlichen Kriegen und bilateralen Friedensverträgen geprägten Folgezeit auf. Zum zweiten hatte sich das Kräfteverhältnis als Folge von Rußlands Niederlage und Großbritanniens fehlendem Engagement zugunsten solcher Staaten verlagert, die die Wiener Verträge mit größerer Vehemenz in Frage zu stellen trachteten als andere zuvor 4. Was von der Heiligen Allianz übrig geblieben war, zerfiel, als Österreich und Preußen sich für die Neutralität entschieden, anstatt Rußland gegen die westlichen Mächte zu unterstützen5. Als eine Folge seiner Niederlage beschäftigte sich Rußland während einer Zeit dramatischer innerer Reformen stark mit eigenen Problemen und war auch selbst an einer Revision des Pariser Friedens interessiert. Weder wollte noch konnte es die Wiener Ordnung in Mitteleuropa aufrechterhalten. Es blieb Österreich überlassen, sich dieser Aufgabe alleine anzunehmen. Österreich allerdings stellte sich als zu schwach heraus, um die vereinten Mächte Frankreich, Piémont und Preußen, die italienischen, deutschen und ungarischen nationalen Bewegungen davon abzuhalten, die territoriale und konstitutionelle Karte Mitteleuropas über eine Spanne von fünfzehn Jahren neu zu zeichnen. In der Zeit zwischen 1854 und 1871, als die Machtlosigkeit des Kongreßsystems den Weg dafür geebnet hatte, territoriale Revisionen durch bewaffnete Konflikte herbeizuführen, wandelte sich das Phänomen des Krieges unter dem Einfluß machtvoller neuer Faktoren. 4

5

Hillgruber, Die »Krieg-in-Sicht«-Krise; Geiss, Der lange Weg, S. 94 f.; Bartlett, Peace, War, S. 70. Taylor, The Struggle for Master)', S. 59 f.; Gall, Bismarck, S. 166.

I. Das Ende des

17

Kongreßsystems

Die Konflikte in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten verschiedene Merkmale gemeinsam, die sie sowohl von den Napoleonischen Kriegen als auch vom Ersten Weltkrieg unterschieden. In keinem waren alle Mächte involviert. Sie waren auch nicht zu Kriegen um die Hegemonie geworden, in denen eine Macht den Kontinent gegenüber der vereinten Opposition der anderen unter ihre Herrschaft zu bringen trachtete. Der Krimkrieg hätte sich beinahe zu einem Krieg um die Hegemonie entwickelt, aber Rußlands Versuch, das Mächtegleichgewicht umzustürzen, ging nicht über seine traditionelle Politik der Schwächung der Türkei hinaus. Die territoriale Integrität des Osmanischen Reiches wurde im Vertrag von Paris 1856 bestätigt. Die anderen Kriege der 1850er und 1860er Jahre wurden alle zumindest zu Beginn begrenzter Ziele wegen geführt. Ein signifikanter Unterschied zwischen diesen Kriegen und ihren Vorgängern bestand darin, daß die Folgen der Industriellen Revolution eine wichtige Rolle bei deren Ausgang spielten. Im längsten dieser Konflikte, im Krimkrieg, erwies sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Westmächte gegenüber dem riesigen, aber weniger entwickelten russischen Reich als überlegen. Sie besaßen die industrielle Kapazität, die es ihnen ermöglichte, das nötige Kriegsmaterial herzustellen, und sie verfügten über die Mittel, ihre Armee über weite Strecken zu versorgen. Rußland mangelte es an dem einen wie dem anderen. Ihre Finanzkraft erlaubte es den Westmächten außerdem, im Kriege den Belastungen standzuhalten, und dank ihrer überlegenen Seemacht konnten sie die Schwächen der russischen Wirtschaft aus—



nutzen.

Kriegsanstrengungen am nachhaltigsten behinderte, war der niedrige technologische Entwicklungsstand des Kaiserreiches. Dies war besonders offensichtlich angesichts des Mangels an Transportmöglichkeiten, wodurch der Kriegsschauplatz faktisch isoliert wurde. Die Flotten der Westmächte verschlossen den seeseitigen Zugang zu Sevastopol, und Rußland hatte keine Bahnlinie angelegt, Was die russischen

mit der die Halbinsel mit dem Rest des Landes hätte verbunden werden können. Die Versorgung der belagerten Stadt durch Pferdewagen über die Steppe erwies sich als nicht durchführbar. Neue Schiffe mit Dampfantrieb gewährleisteten die ununterbrochene Versorgung der alliierten Streitkräfte mit Waffen und Munition. Die Franzosen bauten sogar eine kurze Bahnlinie, um ihre Truppen zu versorgen6. Mit zunehmender Kriegsdauer geriet der russische Staat unter einen immer schwerer auf ihm lastenden Druck. Die wirtschaftliche Entwicklung des Reiches hinkte weit hinter jener der Westmächte hinterher; seine industrielle Basis wuchs zwar, blieb aber winzig im Vergleich zu dem riesengroßen, ineffizienten landwirtschaftlichen Sektor. Waffen- und Munitionsvorräte schrumpften, die Wirtschaft konnte dem nicht entgegenwirken, und die britische Blockade verhinderte die Importzufuhr aus dem Ausland. Daran gehindert, auf dem Seewege Getreide zu exportieren und damit in den Besitz von Devisen zu gelangen, mußte der Staat für die Kriegskosten auf Anleihen zurückgreifen und sich der Inflation bedienen, so daß er Anfang 1856 vor dem Bankrott stand7. Trotz einer riesigen Armee und einer

7

McNeill, The Pursuit of Power, S. 228-231 ; Creveld, Technology and War, S. 158.

Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers, S. 170-177.

18

Erster Teil

schier unbegrenzten Anzahl mobilisierbarer Rekruten hatte der russische Staat weder das industrielle noch das finanzielle Durchhaltevermögen, um einen langen Krieg durchstehen zu können. Rußlands technologische Unterlegenheit wurde durch seine wirtschaftliche Rückständigkeit gegenüber den Westmächten verschlimmert. Die Seeblockade verhinderte den Export von Grundstoffen über den Seeweg und schnitt Rußland so von seiner einzigen Quelle ausländischer Einkünfte ab. Die besonderen Umstände des Krimkrieges machten den wirtschaftlichen und finanziellen Druck, der durch Seemacht ausgeübt werden konnte, unverhältnismäßig effektiv. Der Chef des Großen Generalstabes, Helmuth von Moltke, wies 1873 darauf hin, daß schon eine einzige Bahnlinie vom Schwarzen Meer durch die Hauptstadt und bis nach Preußen diese Wirkung erheblich reduziert hätte8. So wie es damals aber verlaufen war, wurde Rußland durch die britische Seemacht an den Konferenztisch gezwungen9. Die darauffolgenden Kriege waren viel kürzer, so daß das wirtschaftliche Durchhaltevermögen der Kriegsgegner nicht im gleichen Maße auf die Probe gestellt wurde. Mehr und mehr setzte sich jedoch die Überzeugung durch, daß derjenige siegreich sein werde, der den technologischen Vorteil besitze, oder, um genauer zu sein, der es schaffe, den technologischen Vorsprung mit Hilfe geschickter Organisation zu nutzen. Die preußische Armee bewies dies in den drei Kriegen von 1864, 1866 und 187010. In einem Kommentar zum Sieg über Österreich wies ein scharfsichtiger zeitgenössischer Beobachter auf folgendes hin: »Unquestionably, the >needle-gun< did much, but organization did more. [...] The real secret of Prussia's success lies in the simple fact that the distribution and organization of her war forces was in every way adopted to her national peculiarities and requirements11.« Bei der Beschäftigung mit dem kurzen, zugleich blutigen Krieg von 1859 zwischen Österreich und Frankreich war Moltke, der gerade zum Chef des preußischen Generalstabes ernannt worden war, am meisten von der Art und Weise beeindruckt, wie die französische Armee die Eisenbahn nutzte, um 120 000 Soldaten in nur elf Tagen an die Front zu transportieren. Moltke richtete eine wenig später zur Abteilung aufgewertete Eisenbahnsektion ein, welche mit der kombinierten Nutzung von Telegraphen und Zugfahrplänen im Zusammenwirken mit der Aufmarschund Operationsabteilung eine radikale Geschwindigkeitssteigerung bei der Mobilisierung erzielen sollte. Die vom preußischen Generalsstabschef eingeführte systematische Integration der Eisenbahn in die Mobilmachungs- und Kriegsplanung war entscheidend für die Entstehung der Massenarmeen der Nation in Waffen. Preußens organisatorischer Vorteil verband sich mit der technologischen Spitzenstellung, die es durch die Einführung des Dreyse Nadelgewehrs und des stählernen

Hinterladergeschützes von Krupp gewann12. 8 9 10 11 12

Moltke, Die deutschen Aufmarschpläne, S. 32; Hamilton, Anglo-French Seapower, S. 189. Lambert, The Royal Navy, Anm. 15. Ropp, War in the Modern World, S. 161. Colomb, The Protection of Our Commerce, S. IV. Showalter, Railroads and Rifles; Howard, War in European History, S. 97 f.; Howard, Wars, S. 17; Bucholz, Moltke, Schlieffen, S. 40 f.; McNeill, The Pursuit of Power, S. 244.

Causes of

I. Das Ende des

Kongreßsystems

19

Industrialisierung des Krieges hatte zwei größere Konsequenzen während europäischen Konflikte in der Mitte des Jahrhunderts. Erstens steigerte die systematische Integration von Eisenbahnen und Telegraphen in die Mobilmachung und Kriegsplanung die Stärke der strategischen Offensive, und zweitens führte die gesteigerte Feuerkraft von Gewehren und Artillerie zu einer beträchtlichen Stärkung der taktischen Defensive13. Moltke erkannte dies schon 186514. In den Feldzügen von 1866 und 1870 gelang es dem preußischen Generalstab, die Technologie der Eisenbahn und der Telegraphenverbindung viel effektiver als bisher zum eigenen Vorteil zu verwenden. Preußen überwältigte die Österreicher und Franzosen sowohl mit der Geschwindigkeit seiner Mobilmachung als auch mit der überlegenen Truppenstärke, die es zum Schlachtfeld verlegen konnte. Außerdem hatten die Preußen gegenüber den Österreichern noch den taktischen Vorteil des Zündnadelgewehrs. 1870 verschob das Chassepotgewehr das Verhältnis wieder zugunsten der Die

der

taktischen Defensive, aber die französischen Linien konnten immer noch mit der Feuerkraft der neuen Kruppschen Stahlkanone durchbrochen werden. Die Konflikte der 1860er Jahre mobilisierten einige der mächtigsten politischen Kräfte dieser Zeit, obgleich die Feldzüge, die bis Sedan geführt wurden, lediglich von einer Handvoll Staatsmänner und Generale geleitet wurden. Der Kabinettskrieg schien zu neuem Leben erwacht im Nachhinein fand man die Gründe hierfür in einer Kombination temporärer Faktoren. Einige hatten mit der Konstellation der Großmächte zu tun besonders mit der Rückbesinnung Rußlands auf interne Probleme und einige mit den begrenzten politischen Zielen, für die die Kriege geführt wurden. Überdies konnte die preußische Armee, indem sie die im Zuge des industriellen Fortschritts verfügbar gewordene Technologie aufgriff, 1864, 1866 und 1870 schnelle, überwältigende Siege erringen. In den ersten beiden Fällen reichte die Entscheidung auf dem Schlachtfeld aus, um den Ausgang des Krieges zu bestimmen. Der dritte Fall jedoch zeigte, nach der Schlacht von Sedan, daß mit einem gewonnenen Feldzug nicht automatisch auch der Krieg gewonnen war. Der Kabinettskrieg in Europa war, selbst wenn technologische Entwicklungen und organisatorische Leistungen noch zu seinen Gunsten wirken mochten, am Ende. Mächtigere politische Kräfte, die ihre Wurzeln in der Französischen Revolution hatten, kamen erneut zur Geltung. Als das neue republikanische Regime in Paris »la guerre à outrance« erklärte, stellte dies eine »kopernikanische Wende der europäischen Kriegsgeschichte«15 dar und die Rückkehr eines Phänomens, welches seit den Tagen Napoleons nicht mehr in Erscheinung getreten war. In dem sich anschließenden Volkskrieg mußten die deutschen Armeen die Erfahrung machen, daß der Sieg auf dem Schlachtfeld für sich allein nicht mehr ausreichte, den Ausgang des Krieges zu bestimmen. Die Mobilisierung nationaler Energien auf beiden Seiten machte die zweite Phase des Deutsch-Französischen Krieges zu einem zermürbenden Abnutzungskrieg, in wel—





13 14

15

Johansson, Europas krig, S. 73. Moltke, Bemerkungen; Gat, Development of Military Thought, S. 67; Krause, Origins, S. 164. Förster, Der doppelte Militarismus, S. 33; Förster, Facing >People's Ware

Moltke and the

Erster Teil

20

Eindringling gezwungen sah, den auf die Fortführung des Krieges gerichteten politischen Willen der feindlichen Bevölkerung zu brechen. Fortan würden begrenzte, kontrollierte Kriege zwischen den europäischen Großmächten nicht mehr möglich sein. Eine Nation schaffte den Übergang zum industrialisierten Volkskrieg mit einem einzigen gigantischen Sprung. Die Verhältnisse, unter denen der Amerikanische Bürgerkrieg ausgefochten wurde, unterschieden sich deutlich von denen der zeitgleich ablaufenden europäischen Konflikte. Der Amerikanische Bürgerkrieg war ein Krieg um die Hegemonie, in dem es um die Herrschaft über einen sich über den Kontinent erstreckenden Staat ging. Er war von Anfang an ein Volkskrieg zwischen Gesellschaften, die zum größten Teil fest hinter ihren Regierungen standen. Die gegeneinander formulierten Kriegsziele absolute Unabhängigkeit der Konföderation und vorbehaltlose Aufrechterhaltung der Union machten einen Kompromiß unmöglich. Die Mobilisierung der Energien des Volkes machte den Krieg zu einem Wettkampf zwischen den politischen Willenskräften der sich gegenüberstehenden Gesellschaften. Letzten Endes konnte er nur gewonnen werden, indem die Moral der >Feindbevölkerung< gebrochen wurde. Im Gegensatz zur Situation in Europa machten es geographische Verhältnisse und die gleichmäßigere Verteilung neuer Technologien schwieriger, die Entscheidung auf dem Schlachtfeld herbeizuführen. Beide Seiten waren mit Gewehren ausgestattet, deren erhöhte Schußweite und Präzision die Wirkung von sowohl der chem sich der deutsche



-





Kavallerie als auch der Artillerie als Offensivwaffen aufhob. Die Artillerie behielt jedoch ihr vernichtendes Potential in den Fällen, in denen sie gegen angreifende Infanterie eingesetzt wurde. In der Bilanz stärkten diese Entwicklungen in entscheidendem Maße die taktische Defensive, was dazu führte, daß die Infanterie nur noch um den Preis schrecklicher Verluste in der Lage war, gut verteidigte Positionen in napoleonischem Stil einzunehmen16. In den europäischen Kriegen zeigte sich der preußische Generalstab mit seiner Organisationsleistung bezüglich des Einsatzes von Zügen und Telegraphen dem Gegner so weit überlegen, daß seine strategischen Offensiven die neue Kraft der taktischen Defensive überwältigen konnten; aber aufgrund der Weiten der Vereinigten Staaten wurde es zu einem nahezu unüberwindbaren Problem, den Schwung des Angriffs nach dem ersten strategischen Durchbruch beizubehalten: »the difficulties of supply in a very large and relatively thinly settled region proved a powerful aid to strengthening the strategic defensive«17. Der beiden Seiten offen stehende Zugang zu den neuen militärischen Technologien und deren niedrige Kosten bedeuteten, daß »the power of the defense offset much of the North's advantage of superior numbers«18. Die meiste Zeit führte dies, trotz wiederholter Versuche der Generale auf beiden Seiten, napoleonische Siege zu erzielen, zu einer Pattsituation auf dem Schlachtfeld. Selbst wenn —

16 17

is



Weigley, The American Wav of War, S. 90 f.; Beringer/Hattaway/ Jones/Still, Why the South Lost the Civil War, S. 14-16; On the Road to Total War. Beringer/Hattaway/ Jones/Still, Why the South Lost the Civil War, S. 16. Ebd., S. 32.

I. Das Ende des

Kongreßsystems

21

gelegentlich derartige Siege errungen werden konnten, führten operative Siege eben nicht zu einer Entscheidung, da sie den Willen der gegnerischen Bevölkerung nicht

brechen konnten. Im Endeffekt wurden die Armeen zu Kanälen, durch welche beide einander verfeindeten Gesellschaften ihre Ressourcen leiteten in dem Bestreben, die der Gegenseite zu erschöpfen. In dieser langwierigen Kraftprobe zwischen moralischen und materiellen Ressourcen ganzer Gesellschaften spielte Seemacht eine wichtige Rolle bei der schließlichen Niederlage des Südens. Viel ist über die Wirksamkeit der Blockade der Unionsmarine geschrieben worden. Es besteht kaum Zweifel darüber, daß sie insofern wirkungslos war, als sie lediglich einen Bruchteil der Schiffe aufbrachte, die versucht hatten, die Häfen des Südens anzulaufen oder zu verlassen. Dennoch hatte sie eine bemerkenswerte Wirkung auf die Wirtschaft der Konföderierten und half so, deren Kriegsanstrengungen sowie die Moral der Bevölkerung zu untergraben. Als hierbei entscheidend sollte sich erweisen, daß während des Krieges also in Zeiten größten Bedarfs namentlich im Bereich des Überseehandels erheblich Schiffe die Häfen in des Südens einliefen oder aus ihnen ausliefen als in weniger den Jahren vor dem Krieg19. Selbst in dem vornehmlich durch die Landwirtschaft geprägten Süden war die wirtschaftliche Spezialisierung so weit vorangekommen, daß er unter erheblichen Druck geraten konnte, wenn sein Zugang zum Weltmarkt behindert wurde. Mit einer Plantagenwirtschaft, die auf der erschöpfenden Ausbeutung von Sklavenarbeit basierte, hatten sich die Südstaaten auf den Anbau von für den Export bestimmten landwirtschaftlichen Erzeugnissen konzentriert, mit denen die kapitalintensiven Fabriken des industrialisierten Nordens und Großbritanniens beliefert wurden. Die Konföderation unternahm gewaltige, beispiellose Anstrengungen, um den kriegsbedingten Ausfall auszugleichen, indem sie sich selbst industrialisierte. Obgleich keine ihrer Armeen wegen eines Versorgungsmangels auf dem Schlachtfeld geschlagen wurde211, bescherte die Blockade der Sezessionsregierung zusätzliche finanzielle Schwierigkeiten und verursachte Notzustände in der Bevölkerung, da sie diesen schwachen Punkt der Wirtschaft traf. War die Natur des Konfliktes gegebenermaßen die eines Kampfes zwischen zwei Gesellschaften, so waren das Untergraben der Moral und die durch die Blockade verursachte wirtschaftliche und finanzielle Erschütterung notwendige Vorbedingungen für einen Sieg des Nordens. Auch der Süden erkannte die Bedeutung des Wirtschaftskrieges und setzte auf den Meeren Handelsstörer gegen den Schiffsverkehr der Union ein. Die Tatsache, daß die berühmte C.S.S. Alabama und ihre Schwesterschiffe auf hoher See kreuzten, löste eine Panik aus und ließ die Versicherungsraten für die Handelsschiffahrt in astronomische Höhen klettern21. Handelsstörer der Konföderation konnten zwar lediglich Teile der Wirtschaft des Nordens belästigen, sie lieferten aber ein weiteres Beispiel für die neue Verwundbarkeit fortgeschrittener Volkswirtschaften, welche sich auf Industrie und Überseehandel stützten. Diese Lektion war einigen —



15 20 21

McPherson, Batde Cry of Freedom, S.

380- 382.

McPherson, Batde Cry of Freedom, S.

547.

Beringer/Hattaway/ Jones/Still, Why the South Lost the Civil War, S. 8-13, 59.

22

Erster Teil

der seestrategischen Denker der 1870er Jahre durchaus eine Lehre, besonders in Frankreich22. Zu dem Druck, unter dem die Konföderation an der Heimatfront zu leiden hatte, kam der direkte militärische Druck zweier Feldzüge, die sich von allem in Europa bis dahin Gesehenen unterschieden. Im Frühjahr 1864 hatte Ulysses S. Grant begriffen, daß die auf napoleonische Siege setzende Strategie einer operativen Entscheidungssuche, die beide Seiten auf dem östlichen Kriegsschauplatz seit drei Jahren verfolgten, keinen Weg aus der Sackgasse heraus bieten würde. Er strebte statt dessen die Zerstörung der feindlichen Armee wie folgt an: »an extension of the concept of battle until the battle became literally synonymous with the campaign: he would fight all the time, every day, keeping the enemy army always within his own army's grip, allowing the enemy no opportunity for deceptive manoeuvre, but always pounding away until his own superior resources permitted the Federal armies to survive while the enemy army at last disintegrated23.« Grants Vernichtungsstrategie brachte in der Tat die operative Entscheidung zurück, dies aber als Teil einer größer angelegten Strategie des Volkskrieges, in dem die Truppen des Feindes, seine menschlichen und materiellen Ressourcen und seine Moral unerbittlichem Druck bis zur Erschöpfung ausgesetzt wurden24. Dies wurde noch deutlicher mit William Tecumseh Shermans >march to the sea< nach dem Faü von Atlanta im September 1864. Der Feldzug der Unionstruppen durch Georgia und die Carolinas zerstörte feindliche Ressourcen und terrorisierte die Zivilbevölkerung. Sherman wollte ihnen zeigen, daß, »if they were sincere in their common and popular clamor >to die in the last ditchPeople's WarBrick and Mortan-Schule beeinflußt. Die Schule legte großen Wert auf den Bau befestigter Werften. Dies stellte einen Bruch mit der britischen Tradi—

tion dar, in der man sich bis dahin auf die Seeherrschaft als Schutz gegen eine Invasion verlassen hatte, und mit Frankreichs jahrhundertealter Praxis des Kreuzer18 19 20 21 22

Sandler, The Emergence of the Modern Capital Ship. Lautenschläger, Technology and the Evolution, S. 181. Creveld, Technology and War, S. 204. Hamilton, Anglo-French Naval Rivalry, S. 106-143. Ebd., S. 99 f.; Brodie, Sea Power, S. 85-88.

II.

Industrialisierung und die Wirkungsmöglichkeiten der britischen Seemacht

33

Verwüstung des Hochseehandels. Der Hauptgrund für diesen Wandel sehr die Befürchtung, daß »steam had bridged the Channel«, als die daß Erkenntnis, Dampfkriegsschiffe viel abhängiger vom Zugang zu sicheren für Nachschub und Reparaturen waren als ihre segelnden VorläuStützpunkten fer23. »Fleets were no longer seen as possessing their old flexibility. The radius of operations had shrunk, and the centres of those operations were fortified arsenals. Maritime fortresses were taking up in sea warfare the role occupied on land by land krieges

war

zur

nicht

so

fortresses24.«

Derartige Abweichungen von Prinzipien, die aus einem reichen Schatz historischer Erfahrung entstanden waren, konnten zum Teil als rationale Antwort auf den technologischen Wandel erklärt werden übervorsichtig und sich zur Orientierung auf die erprobten militärischen Theorien verlassend. Sie blieben nicht von Bestand25. Geschichte und Geographie gewannen ihre anerkannte Position in beiden Marinen zurück, obgleich die verschiedenen Schulen seestrategischen Denkens, die sich in den 1870er Jahren entwickelten, ebenso von einer Anzahl zeitgenössischer Faktoren bedingt wurden26. Die Entwicklung dieser Schulen oder, um Donald Schurmans Worte aufzugreifen, »the education of the navies«27 begann erst in den 1870er Jahren, als der Wechsel zu Dampfund Eisen eine vollendete Tatsache darstellte. Das wichtigste direkte Ergebnis dieses Übergangs war eine ungeheure Steigerung der überlegenen britischen Seemacht. Auf der taktischen Ebene beherrschte die Schlachtflotte die Heimatgewässer in einem Ausmaß, welches die jahrhundertealte Gefahr der Invasion praktisch verschwinden keß. Die weltweite Verteilung der britischen Stützpunkte und der britischen Kreuzer garantierte die Sicherheit der überseeischen Besitzungen und der Seeverbindungslinien28. Eine solche maritime Überlegenheit zu erhalten kostete doppelt so viel wie vor Ausbruch der Rivalität mit Frankreich; aber im Vergleich zu dem, was folgen sollte, war Sicherheit in diesen Jahrzehnten, in denen keiner der potentiellen Rivalen Großbritanniens die Ressourcen besaß, eine anhaltende Herausforderung zu wagen, verhältnismäßig günstig zu erlangen. Gladstonesche Sparmaßnahmen verbanden sich mit einer verringerten Präsenz in Übersee und lieferten bemerkenswerte Einsparungen im Marinehaushalt. Der hatte 1874 seinen Tiefstand erreicht und kam bis Mitte der 1880er Jahre nicht mehr auf den Stand von 186129. Gegen Ende des Jahrhunderts jedoch wurde es für Großbritannien zunehmend kostenintensiver, die eigene Überlegenheit einfach dadurch zu wahren, daß es mehr und zugleich bessere Schiffe baute, als dies rivalisierende Marinen tun konnten. Der wachsende Druck finanzieller Zwänge nötigte es, nach anderen Mitteln zur Sicherung seiner Vormachtstellung zu suchen. Hauptsächlich drei Faktoren trugen —

-



23 24

25 2f> 27 28 29

Bartlett, Great Britain and Sea Power, S. 237-245. Hamilton, Anglo-French Naval Rivalry, S. 131. Tunstall, Imperial Defence, 1815-1870, S. 824 ff.; Beeler, British Naval Policy, S.

2, Kapitel I. Schurman, The Education of a Navy. Lambert, The Royal Navy, S. 73 77. Bartlett, The Mid-Victorian Reappraisal; Beeler, British Naval Policy, Rise and Fall of the Great Powers, S. 153.

16-24.

Siehe Teil

-

S.

48-62; Kennedy, The

Erster Teil

34

dazu

bei, daß der Preis für Sicherheit angehoben wurde. Der erste war eine direkte

des sich fortsetzenden technologischen Wandels: Die zunehmend raschere Überalterung des Schiffsmaterials trieb die Kosten immer höher und dies schon in den 1870er und 1880er Jahren, zu einer Zeit also, in der sich Großbritannien gerade nicht direkt zu einem Rüstungswetdauf herausgefordert sah. Der Ausgabenanstieg durch das Veralten wurde durch einen zweiten Faktor, den Rüstungswettlauf mit Frankreich und Rußland, der in den späten 1880er Jahren begann, verschärft. An dritter Stelle ist zu nennen, daß ungefähr zur selben Zeit die Vereinigten Staaten und Deutschland anfingen, der Industriemacht Großbritannien ihre Führungsposition streitig zu machen. Als die beiden, wie auch Japan, in den 1890er Jahren begannen, ihre Ressourcen in ehrgeizige Marineprogramme zu lenken, konnte Großbritannien nicht länger darauf hoffen, die schlichte numerische Überlegenheit der Royal Navy in allen Seegebieten aufrechtzuerhalten. Jedoch ließ sich mit Hilfe diplomatischer Initiativen, durch das Ausstechen der Rivalen im Wege der Nutzung neuester Technologien, schließlich im Bereich der Strategie durch die Anpassung der operativen Planungen die für Großbritannien ungünstig verlaufende Entwicklung wieder zu dessen Vorteil wenden. Durch alle diese Maßnahmen konnte dort, wo es wirklich darauf ankam, auch künftig eine entscheidende numerische Überlegenheit der Royal Navy sichergestellt werden. Zudem gaben sie Grund zu der verlockenden Aussicht, die qualitative Überlegenheit in anderen Gebieten zu erlangen, und dies zu niedrigeren Kosten. Die immer rascher fortschreitende Überalterung war auf den technologischen Wandel in verschiedenen Sektoren zurückzuführen einige davon waren von direkter militärischer Relevanz, andere das Resultat des generellen industriellen Fortschritts. Eisenrümpfe hatten eine viel längere Lebenserwartung als Holzrümpfe, aber ständig wurden neue, kleinere und stärkere Maschinen entwickelt, und die früher eingebaute Anlage nutzte sich ab. Die Entwicklung im Bereich der Antriebsanlagen hatte zur Folge, »that vessels could not be fitted quickly during a crisis as in the past. Consequendy a far greater proportion of the warships deemed necessary for an emergency had to be built and equipped during peace time30.« Es war vor allem der Wettstreit zwischen Panzerung und Artillerie, der die Überalterungsgeschwindigkeit vorantrieb. Fortschritt im Bereich der Artillerie war die treibende Kraft dies ging soweit, daß Kriegsschiffe, die auf dem Reißbrett unsinkbar waren, drei Jahre später allerdings, als sie vom Stapel gelassen wurden, verwundbar geworden waren31. Der Wechsel von der Vorderladerkanone, aus deren glattem gußeisernen Rohr eiserne Kanonenkugeln verschossen wurden, zu dem aus Stahl gefertigten Hinterladergeschütz, aus dessen gezogenem Rohr panzerbrechende Granatenlanggeschosse abgefeuert wurden, fand in den 1860er Jahren statt32. In diesem Jahrzehnt hielt die Panzerung mit der Artillerie Schritt33, aber danach befand sich die Geschütztechnik »on a footing where it could progressively meet every development

Folge



-

30 31

32 33

Brodie, Sea Power, S. 119. Ebd., S. 175, 212-229; Sumida,

In Defence of Naval Supremacy, S. 10. 180.

Lautenschläger, Technology and the Evolution, S. Hamilton, Anglo-French Naval Rivalry, S. 113.

II.

Industrialisierung und die Wirkungsmöglichkeiten der britischen Seemacht

35

in ship-borne armour that the future was likely to bring forward«34. Alle Marinen mußten sich darauf einstellen, auch für sie gelte »one of the primary laws of the industrial age that obsolescence begins at the time a design is made, not at the time the equipment is completed for use«35. Mit der Zeit bedeutete dies für Großbritannien, daß es sich, wegen seiner weltweiten Interessen und seiner weltweiten maritimen Präsenz, in einem relativen Nachteil befand. Als Maschinenbaufertigkeiten und industrielle Kapazität auch in anderen Ländern aufkamen, fand sich Großbritannien in einer Position, in der es gezwungen war, die besten Schiffe der anderen Marinen zu übertreffen unabhängig davon, ob diese als direkte Herausforderung der Royal Navy gebaut worden waren. Während der Spannungen im Mittelmeer in den 1870er Jahren strebte Italien einen Ausgleich zu Frankreichs überlegenen Ressourcen an, indem es zwei Schlachtschiffe baute, die weltweit die schnellsten waren und die stärkste Artillerie trugen die Duilio und die Dándolo. Großbritanniens unmittelbare Antwort auf erstere war die Inflexible; ihr erster Kommandant, Kapitän zur See John Fisher, beschwerte sich allerdings 1882, daß sie schon wieder schwächer sei als die Dándolo36. Robert Whiteheads Erfindung des mit einem Eigenantrieb versehenen Unterwassertorpedos im Jahre 1868 läutete eine Entwicklung ein, die das Schlachtschiff als kompletten Anachronismus bloßzustellen drohte. In dem Vierteljahrhundert vor 1914 sollte der Torpedo die französische und die britische Seestrategie revolutionieren37. Das 1873 ins Leben gerufene Britische Torpedo Komitee warnte davor, daß »the most powerful ship is hable to be destroyed by a torpedo projected from a vessel of the utmost comparative insignificance«38. Der erste dieser Hinbedeutenden Waffenträgen bestand in dem Torpedoboot. Die Admiralität erkannte, daß das Torpedoboot für eine Schlachtflotte, die eine enge Blockade vor den feindlichen Häfen ausführte, eine ernsthafte Bedrohung darstellte. Gegen Ende der 1880er Jahre wurde die Torpedobootabwehr hauptsächlich von mittelkaHbrigen Schnellfeuergeschützen geleistet, die an Bord der Panzerschiffe aufgestellt wurden. Während der 1890er Jahre trat dann eine große Zahl an Torpedobootzerstörern zum Schutz der Schlachtflotte hinzu39. Die französische >Jeune Ecole< setzte ihre Hoffnungen auf die Entwicklung einer seefähigen Version des Torpedobootes für den Einsatz in einem >Guerre industriell auf hoher See. Dies würde die Aufgabe des Handelsschutzes beträchtlich komplizieren. Mit dem Aufkommen des Unterseebootes seit der Jahrhundertwende wurde der mnbedeutende Waffenträgen unsichtbar, und die Bedrohung, die nun vom Torpedo ausging, konnte mit der zur Verfügung stehenden Technologie nicht beseitigt werden. Die Folgen, die dies für Blokkadestrategien, Entscheidungsschlachten, Handelskrieg und für die Zukunft des Schlachtschiffes an sich hatte, waren tiefgreifend. —





34

35 36 37

38 39

Brodie, Sea Power, S.

198.

Ropp, The Development of a Modern Navy, S. 58.

Ebd., S. 80-84; Brodie, Sea Power, S. 216 f.; Sumida, In Defence of Naval Supremacy, S. 38 f. Lambert, Admiral Sir John Fisher, S. 641, 649 ff.; Lambert, Sir John Fisher's Naval Revolution.

Cowpe, The Royal Navy, S. 25. The Pursuit of Power, S. 279; Lautenschläger, Technology and the The Royal Navy, S. 33 f.; Creveld, Technology and War, S. 204 f.

Zit. nach:

McNeill,

Cowpe,

Evolution,

S.

184;

36

Erster Teil

In den 1880er Jahren war die Admiralität nicht gewillt, große Summen in den Schlachtschiffbau zu investieren. Die Geschwindigkeit des Technologiewandels und die anhaltende Verbesserung des Torpedos förderten den Eindruck, die Zukunft des Schlachtschiffes sei ungewiß40. Als allerdings wirksame Maßnahmen gegen die unmittelbare Bedrohung des Torpedobootes eingeführt waren, konnte sich ehe Aufmerksamkeit der Ingenieure auf die Kampfkraft britischer Schlachtschiffe konzentrieren, auf daß diese sich vor einer Konfrontation mit ihresgleichen nicht zu scheuen brauchten. Tests mit hochexplosiven Melinitgranaten bewiesen, daß die seit den späten 1870er Jahren gebauten teilgepanzerten Schiffe sehr verwundbar geworden waren41. Neue Schiffe mußten vollständig mit der neuen Stahlpanzerung, die in der ersten Hälfte der 1890er Jahre dank der Erfindungen von Creusot, Harvey und Krupp auf den Markt kam, verkleidet werderr12. Als Großbritannien in einem großen Kraftakt, dem Naval Defence Act von 1889 und dem Spencer Programme von 1893, seine dominierende Position zurückzugewinnen suchte, bündelte es die technologischen Fortschritte mit dem Bau zweier in sich homogener Klassen, den acht Royal Sovereigns und den neun Majesties. Andere Länder, mit den bemerkenswerten Ausnahmen Frankreich und Rußland, folgten in den 1890er Jahren mit ähnlichen Schlachtschiff- und Kreuzerklassen. Mit dem >Two Power Standard^ aufgestellt im Jahre 1889, erklärte Großbritannien seinen Willen, einen Überlegenheitsabstand zu der vereinigten Stärke der zweitund drittgrößten Macht zu wahren. Zu dieser Zeit hatte Italien noch die drittgrößte Flotte, so daß der »Two Power Standard< einen bequemen Überlegenheitsabstand zu den beiden Mächten bot, mit denen Großbritannien die schlechtesten Beziehungen unterhielt Frankreich und Rußland. Gegen Ende des Jahrhunderts jedoch stellte die Wahrung des Vorsprunges vor dem Zweibund eine wachsende Belastung der britischen Finanzen dar. Die französische Nationalversammlung bewilligte 1890 ein umfassendes zehnjähriges Bauprogramm, und mit dem Programm von 1900 gab es der Marinepolitik endlich eine solide Grundlage43. Rußland kündigte 1895 und 1898 Bauprogramme an. Obwohl seine finanzschwache Lage es nicht zuließ, diese in ihrem vollen Ausmaß umzusetzen, wurden beide Programme sofort mit der Steigerung des britischen Haushaltes beantwortet44. Trotz der offensichtlichen Unzulänglichkeiten der russischen Flotte sowie des strategischen Richtungsstreites in der französischen Marinepolitik und der Verwirrung in der Frage der Schiffstypen investierte Großbritannien seine Ressourcen in die Wahrung seines Vorsprunges vor den beiden Rivalen des Empire. Die Kosten dafür stiegen in den sieben Haushaltsjahren bis 1896/97 um 65 Prozent. In den folgenden acht Jahren lag der Gesamtbetrag der Ausgaben für die Marine um 78 Prozent über der Sum—

to 41 42

« 44

Marder, The Anatomy of British Sea Power, S. 123-126.

Ropp, The Development of a Modern Navy, S. 219. Ebd., S. 221 f. Ebd., S. 329-334.

Ropp, The Development of a Modern Navy, S. 195-198, 206 f., 240, 252, 290; Beskrovnyj, Armija i flot Rossii; Marder, The Anatomy of British Sea Power, S. 234 f.

II.

Industrialisierung und die Wirkungsmöglichkeiten der britischen Seemacht

37

me, die während der vorangegangenen Periode für die Marinebudgets aufgewandt worden war45. Der dritte Faktor, der zu der wachsenden finanziellen Belastung in Zusammenhang mit der Wahrung der maritimen Vormachtstellung beitrug, war Großbritanniens relativer wirtschaftlicher Rückgang. Obwohl seine Wirtschaft immer noch den Weltkapitalismus beherrschte und obwohl es nach wie vor die einzige wirkliche Weltmacht zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war, konnte es sich nicht länger leisten, seine Vorherrschaft zur See über eine behebige Kombination rivalisierender Mächte aufrechtzuerhalten. Im Zeitalter des >new navalism< begannen allegroßen Industriemächte, große moderne Schlachtschiffflotten zu bauen. Frankreich und Rußland waren zweitrangige, aber schnell wachsende Industriemächte. Die Vereinigten Staaten und Deutschland drängten sich in den Schlüsselindustrien, wie der Kohle-, Stahl- und Chemieindustrie, an Großbritannien vorbei an die Spitze. Auch Japan hatte sich im Zeitraum einer Generation gewandelt und lenkte seine Ressourcen in den Aufbau von Armee und Marine46. Das Anwachsen der Marinen Japans und der Vereinigten Staaten wurde von Großbritannien nicht als ebenso ernsthafte Herausforderung gesehen wie im Falle Frankreichs und Rußlands, aber schlicht und ergreifend aus geographischen Gründen hatte es weitreichende Folgen für die britische Seemacht: »As long as no important centre of naval power existed outside Europe, England's grip on the ocean portals of that Continent constituted in effect a global command of the seas47.« Zu der Zeit, als der Burenkrieg seine Ressourcen erschöpfte, begannen Politiker in London zu erkennen, daß Großbritannien nicht mehr auf allen Meeren gleichzeitig die überlegene Macht bereitstellen konnte. In den Jahren 1901/02 war das Ende der weltweiten Überlegenheit der Royal Navy, die ihren Höhepunkt in den 1860er Jahren erreicht hatte, gekommen. Großbritannien trat seine Vormachtrolle in der Karibik stillschweigend an die U.S. Navy ab und begab sich in eine regionale Allianz mit Japan48. Nach 1902 gründete Großbritanniens Vorherrschaft zur See nicht länger auf einer unangefochtenen globalen Überlegenheit, sondern auf einer europäischen Vormachtposition, abgestützt durch zwei außereuropäische diplomatische Pfeiler. Doch schon die Wahrung dieser Vormachtstellung wurde zu einem Problem. Die finanzielle Belastung, die der Preis für den Vorsprung vor Frankreich und Rußland war, wog schwer genug. Als eine dritte, neue Industriemacht Deutschland anfing, ihre Ressourcen mit den Flottengesetzen von 1898 und 1900 zu mobilisieren, waren führende Köpfe der konservativen Regierung davon überzeugt, daß der der maritimen auf Dauer durchgehalten werden nicht Anstieg Rüstungsausgaben —

-

könne49.

45

Sumida, In Defence of Naval Supremacy, S. 16-24; Lambert, Sir John Fisher's Naval Revolution, S. 3 f.

46

47 48 49

Kennedy,

The Rise and Fall of the Great Powers, S. 198-249; Friedberg, The Wean' S. 24-41. Sprout, Toward a New Order, S. 16; Hamilton, Anglo-French Naval Rivalry, S. 56 f. Friedberg, The Wean- Titan, S. 161 -180. Sumida, In Defence of Naval Supremacy, S. 23-28.

Titan,

38

Erster Teil

Dies bedeutete nicht, daß sich Großbritanniens Stellung als Weltmacht proportional zu seinem relativen wirtschaftlichen Rückgang verschlechterte. Es bedeutete lediglich, daß es jetzt kostspieliger wurde, seine Position als führende Seemacht zu wahren. Anstatt Sicherheit auf dem billigen Wege zu erhalten, geriet die bestehende Verteilung des Wohlstandes in der britischen Gesellschaft unter Druck, da die Parteien nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten für die Flottenrüstung und die Verteidigung des Empires suchten. Die Unionisten stimmten Joseph Chamberlains Vorschlag für eine Schutzzollpolitik zu, welche die notwendigen Staatseinnahmen innerhalb des Rahmens eines Reichszollvereines durch Besteuerung von Importen aufgebracht hätte. Die steigenden Ausgaben für das Militär und zaghafte soziale Programme hätten so finanziert werden können. Außerdem hätte es das Empire zusammengeschweißt auf Kosten der Masse britischer Konsumenten und ohne wachsende Belastung der besitzenden Klassen50. Die Wähler lehnten dieses Programm in drei aufeinander folgenden allgemeinen Wahlen ab. Die liberale Regierung, die 1906 an die Macht kam, hielt am Freihandel fest und erschloß schließlich neue, binnenstaatliche Einkunftsquellen. Der wichtigste Durchbruch erfolgte mit Lloyd Georges »People's Budget/ von 1909. Mit der Steigerung der Steuerbelastung der besitzenden Klassen gelang es dem Schatzkanzler, wachsende Ausgaben sowohl für die Sozialversicherung als auch für die Verteidigungsprogramme zu finanzieren. Trotz der steuerlichen Möglichkeiten, die letzten Endes gefunden wurden, um die notwendigen Ressourcen für einen Triumph im Rüstungswetdauf mit der deutschen Marine zu mobilisieren, waren sich Politiker zunehmend bewußt, daß sie mit finanziellen Einschränkungen arbeiten mußten51. Die Regierung und die Admiralität suchten nach Alternativen zur Sicherung der maritimen Vormachtstellung der Royal Navy. Eine mögliche Lösung, welche kurz vor Ausbruch des Krieges aufgegriffen wurde, bestand darin, dem Weg zu folgen, der mit der japanischen Allianz und mit dem karibischen Abkommen mit den Vereinigten Staaten eingeschlagen worden war. Dazu wurden die Ententes um eine maritime Dimension erweitert, welche die Spannungen zu den alten Rivalen verringerte. Diplomatie bot einen Weg, um die britische Vorherrschaft zur See dort auszubauen, wo sie in den europäischen Gewässern am dringendsten vonnöten war nämlich gegen Deutschland. Mit dem Briefwechsel Grey-Cambon im Jahre 1912 begann die seestrategische Kooperation zwischen Großbritannien und Frankreich; Anfang 1914 waren Gespräche mit Rußland über ein ähnliches Abkommen im Gange52. Einen früheren Lösungsweg, der teilweise auch beschritten worden war, hatte Admiral Fisher mit seiner Idee gewiesen, den finanziellen Zwängen mit einem radikalen technologischen Sprung zu entgehen, der die britische Vorherrschaft wiederherstellen würde, ohne dabei auf eine numerische Überlegenheit bauen zu —



50 51

52

Vgl. v.a. Mock, Imperiale Herrschaft.

Sumida, British Naval Administration, S. 14; Lambert, British Naval Policy, Sir John Fisher's Naval Revolution, S. 15-24, 29-37. Williamson, The Politics of Grand Strategy, S. 227-249, 334-339.

S. 598

f.; Lambert,

II.

Industrialisierung und die Wirkungsmöglichkeiten der britischen Seemacht

39

müssen53. Hierin spiegelte sich der Umstand, daß der Anstoß für die unter Edward VII. in Angriff genommenen Marinereformen von dem Druck der Regierung auf die Admiralität rührte, im Marinehaushalt zu beträchtlichen Einsparungen zu gelangen54. Mit der Kombination aus überlegener Geschwindigkeit und exakter Entfernungsmessung über große Distanzen war die Klasse der hvlnable-Schlachtkreuzer so konzipiert, daß sie sowohl Panzerkreuzer als auch Schlachtschiffe mit ihrem Fahrtüberschuß und ihrer weitreichenden Artillerie übertreffen konnte. Fisher hatte zunächst ins Auge gefaßt, daß qualitativ derart überlegene Schiffe Großbritanniens globale Verbindungslinien angesichts seiner französischen und russischen Herausforderer sichern sollten, selbst wenn es zu diesem Zeitpunkt für Großbritannien finanziell unmöglich geworden war, seine numerische Überlegenheit, die es in den 1870er Jahren besessen hatte, wiederherzustellen. Er war davon überzeugt, daß Geschwader des neuen Hybriden auch in Entscheidungsschlachten Schlachtschiffe ersetzen konnten. Hierfür wurden aber weniger Schiffe gebraucht, so daß im Kriegsfalle die Seeherrschaft sogar mit geringerem Kostenaufwand gesichert werden konnte55. Außerdem machte die schnelle Entwicklung des Torpedos und des U-Bootes den Aufmarsch riesiger, verwundbarer Großkampfschiffe in engen Seeräumen, ob im Rahmen einer Blockade des Gegners oder einer Schlacht gegen dessen Schlachtflotte, zunehmend riskanter. Diese technologischen Durchbrüche eröffneten die Möglichkeit einer radikalen Neudefinierung der Aufgaben, welche die Royal Navy bei der Verteidigung der Britischen Inseln und zum Schutz der britischen weltweiten Interessen zu erfüllen hatte: Fisher »envisaged the creation of two separate fleets, each comprising technologically

advanced, new-model warships. To defend Britain's imperial interests he developed the battle cruiser: a conceptually new type of warship designed to engage enemy warships at relatively long range before coming under effective fire itself, capable of either forming Une of battle or being deployed independendy on trade protection missions. [...] Also, he formulated the concept of >flotilla defenses a >sea deniaf strategy that depended on a force of torpedo boats and submarines whose capability to inflict heavy losses on troop transports and their escorts would deter or prevent invasion. Flotilla defense was intended to allow the Admiralty unprecedented flexibility in releasing its large armored warships, whenever necessary, for service in distant waters56.«

In den Worten Nicholas Lamberts bedeutete >Flotilla defences »that the Navy no longer had to maintain an overwhelmingly stronger battle fleet in home waters«57. Anfang 1914 hatte die Admiralität sich entschieden, Ressourcen vom Schlachtschiffbau weg in den Bau von Torpedobooten und U-Booten umzuleiten. Diese wurden so ausgelegt, daß sie eine enge Blockade deutscher Häfen hätten aufrechterhalten und damit wirkungsvoll die Nordsee für die deutsche Flotte hätten abriegeln können und dies mit einem Kostenaufwand, der einen Bruchteil von dem —

53

54 55 56

57

Sumida, In Defence of Naval Supremacy; Fairbanks, The Origins of the Dreadnought Revolution; Sumida, Sir John Fisher and the Dreadnought. Vgl. Lambert, Admiral Sir John Fisher, S. 641. Sumida, In Defence of Naval Supremacy, S. 51-61. Lambert, British Naval Policy, S. 598; Lambert, Sir John Fisher's Naval Revolution, S. 121-126. Lambert, Admiral Sir John Fisher, S. 659.

Erster Teil

40

überlegenen Schlachtflotte ausmachte. Fisher schlug nichts geringeres als eine Revolutionierung der Seestrategie vor, die durch die finanziellen Zwänge herbeigeführt wurde und die sich die den technologischen Entwicklungen zu verdankenden Möglichkeiten zunutze machte: »Before the outbreak of war in August 1914, a secret decision had been taken that amounted effectively to the abandonment of the Two Power (60 percent) Standard in batdeships58.« Eine dritter, strategischer und zugleich operativer Lösungsansatz, der ein Jahreiner

zehnt früher umgesetzt

wurde, bestand darin, die Vorteile

von

Großbritanniens

geographischer Lage und seiner Stützpunkte zu nutzen, um seine Überlegenheit über die deutsche Flotte zu verstärken. Dieser Ansatz wurde eingeleitet durch Fishers Verschrotten zahlreicher veralteter Schiffe, die Rückberufung mehrerer Schiffe aus Übersee, deren Neuverteilung auf die Mittelmeer-, Adantik- und Kanalflotten mit den Stützpunkten Malta, Gibraltar und Dover und letztlich mit der Konzentration

moderner Einheiten in heimischen Gewässern59. Wieder waren diese Maßnahmen finanziell motiviert; sie dienten aber auch der Steigerung der Schlagkraft derjenigen Verbände, die der erstarkenden deutschen Marine gegenüberstanden0. Der Wechsel von der französischen zur deutschen Marine als dem potentiellen Gegner fiel mit einem längerfristig verlaufenden Wechsel im Rahmen der operativen Planung zusammen, die sich von der engen Blockade weg orientierte61. Zwischen 1907 und 1914 bewegte sich die Admiralität fort von dem traditionellen Modell der engen Blockade feindlicher Häfen und verlegte sich statt dessen auf das Verfahren der weiten Blockade, die sie im Kanal und von dem neuen Stützpunkt in Scapa Flow durchführen wollte. Die verschiedenen steuerlichen, diplomatischen, technologischen und operativen Maßnahmen, die auf britischer Seite ergriffen oder zumindest eingeleitet wurden, zeigen, wie die neuen finanziellen Einschränkungen Großbritannien dazu zwangen, sich der Lage anzupassen, damit es seine maritime Überlegenheit in jenen Gebieten, welche von lebenswichtiger Bedeutung für seine nationale Sicherheit und die Sicherheit des Empires waren, aufrechterhalten konnte. Diplomatie sicherte das gute Einvernehmen mit den beiden nicht-europäischen Seemächten und schlichtete Großbritanniens koloniale Differenzen mit Frankreich und Rußland. Mit einem Federstrich konnte die Admiralität, indem sie ihrem Operationsplan vom Juni 1914 die weite Blockade zugrunde legte, die deutsche Bedrohung eindämmen. Und diese Maßnahmen wären in ihrer Wirkung durch die technologischen wie strategischen Lösungen noch gesteigert worden, die in der Admiralität diskutiert, allerdings vor Ausbruch des Krieges noch nicht voll eingeführt wurden. Dank der verschiedenen Maßnahmen, die seit der Jahrhundertwende ergriffen wurden, war Großbritanniens nationale Sicherheit 1914 nicht bemerkenswert schwächer, als sie es in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten gewesen war. Großbritannien »was the only world 58 59

60

Lambert, British Naval Policy, S. 615-621, v.a. S. 623. Marder, The Anatomy of British Sea Power, S. 483-496. Lambert, Admiral Sir John Fisher, S. 641; Lambert, Sir John Fisher's Naval Revolution, S. 97-115.

61

The Royal Navy; Lambert, The Royal Navy, Lambert, Sir John Fisher's Naval Revolution, S. 28

Partridge, S. 604;

S. f.

77; Lambert, British Naval Policy,

II.

Industrialisierung und die Wirkungsmöglichkeiten der britischen Seemacht

power of the age, and if its resources were widely scattered and slow to mobilize, they were also impossible to knock out in a limited war and were securely linked by the sea. The only threat that Britain could not face alone was a war with Europe

united under one rule62.« Gegen Ende der dritten Zeitspanne, d.h. in den fünfundzwanzig Jahren nach 1890, befand sich Großbritannien im wesentlichen in derselben Position, in der es sich über zwei Jahrhunderte befunden hatte: Es war die vorherrschende Seemacht innerhalb eines wiederhergestellten maritimen Gleichgewichtes. Seine Seemacht reichte aus, um seine nationale Sicherheit und seine Interessen in Übersee gegenüber jeder möglichen Bedrohung zu schützen mit Ausnahme der alten Gefahr eines europäischen Hegemons. Das Vordringen der Industrialisierung hatte die Verteilung maritimer Macht innerhalb des Gleichgewichtes verschoben, aber Veränderungen waren nichts Neues, da sich Seemächte im Auf und Ab befanden, seit es organisierte maritime Kräfte gab. Es war eher die unangefochtene Vorherrschaft der Royal Navy während des Viertel Jahrhunderts zwischen 1865 und 1890, die eine —

Anomalie dargestellt hatte. Selbst die Tatsache, daß

nicht-europäische Mächte Teil globalen Gleichgewichtes geworden waren, änderte die Sachlage nicht wesentlich, solange die Royal Navy in der Lage war, die lebenswichtigen Interessen Großdes

britanniens zu schützen. Was sich nach und nach mit der Verbreitung industrieller Kapazitäten und der Eisenbahn veränderte Paul Kennedy hat hierauf mit Nachdruck hingewiesen -, war die Eignung von Seemacht als als eines das auf Offensivwaffe, moderne Industriewirtschaften angewandt werden konnte63. Druckmittels, Schnelles Wachstum in Rußland und den Vereinigten Staaten schuf sicherlich riesige Zusammenballungen industrieller Macht innerhalb sich über den Kontinent erstreckender Wirtschaften, die in bezug auf viele wichtige Rohstoffe autark waren. Und obwohl Landmacht im Verhältnis zu Seemacht vielleicht an gewann, war es nichts Neues, daß die Vereinigten Staaten und RußlandBedeutung sich den Wirkungsmechanismen von Seemacht nahezu entziehen konnten. Während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts hatten die Planer in Whitehall bemerkt, daß die Verteidigung Indiens und Kanadas gegen jene beiden Mächte ein unlösbares Problem darstellte'4. Andere Industriewirtschaften wurden jedoch verwundbarer durch den Druck, den Seemacht ausüben konnte. Selbst wenn sie die Rohstoffe, Infrastruktur und Produktionskapazität besaßen, die wesentlich für die auf dem Land angesiedelten Kraftquellen Bergbau, Eisenbahnen, Schwerindustrie waren, verstärkte die wirtschaftliche Spezialisierung innerhalb der Weltwirtschaft ihre Abhängigkeit vom Überseehandel. Italiens Abstützung auf den Kohleimport über See stellte eine schwächende Beeinträchtigung dar. Auch die französische Industrie benötigte eine Rohstoffzufuhr von Übersee sowie die Möglichkeit, daß ihre auf den Weltmarkt gelangen konnten. Dies traf sogar noch stärker auf Exporte Deutschland zu. -





62

ö 64

Lambert, The Royal Navy, S. 71.

Kennedy, Rise and Fall of British Naval Mastery, S. 208- 239. Ebd., S. 250; Friedberg, The Wean' Titan, S.' 209-278; Orde,

S. 23-26.

The

Eclipse

of Great

Britain,

Erster Teil

42

Außerdem erkannten Planer in der Admiralität um 1904, wie Avner Offer gezeigt hat, daß Deutschland gefährlich abhängig von Nahrungsimporten aus Übersee war65. Die wirtschaftliche Spezialisierung hatte in der deutschen Wirtschaft eine Achillesferse freigelegt, genauso wie dies in Großbritannien um 1870 der Fall gewesen war. Eine britische Hungerblockade, die diese Schwäche auszunutzen wußte, konnte mit der Zeit eine untragbare Belastung für die deutsche Gesellschaft darstellen, sollte das Reich gleichzeitig in einen langwierigen Kontinentalkrieg verwickelt sein. Innerhalb der dritten Zeitspanne war auf die Verbreitung industrieller Kapazität das Anwachsen mehrerer moderner Marinen gefolgt. Die Royal Navy verlor die unangefochtene Vormachtstellung, die sie während des vorangegangenen ViertelJahrhunderts genossen hatte, und Großbritannien kehrte in die Position der vorherrschenden Macht im Rahmen eines maritimen Gleichgewichtes zurück. Indem es sich den Gegebenheiten angepaßt hatte, hatte es sichergestellt, daß es noch die notwendige Seemacht besaß, um seine nationale Sicherheit gegen eine Invasion und jegliche Bedrohung seiner Zufuhr von strategisch wichtigen Rohstoffen zu verteidigen. Als ein offensives Mittel zur Druckausübung auf einen Staat auf dem europäischen Kontinent war Seemacht im Hinblick auf die wahrscheinlichsten Feinde Großbritanniens, Frankreich und später Deutschland, wirkungsvoller geworden. Allerdings wurde die offensive Nutzung dieser Waffe durch eine Einschränkung behindert, die sich schon lange vor Beginn der Industriellen Revolution bemerkbar gemacht hatte: Dies war die Frage der Bereitschaft der anderen maritimen Mächte, ihre ungehinderte Anwendung hinzunehmen. Die Beschränkungen, denen der Einsatz von überlegener Seemacht unterlag, hatten schon so lange existiert, wie es ein Mächtegleichgewicht zur See gab. Sie wurden im Seerecht festgehalten. Seit der Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 war das Recht des Kriegführenden, den Handel des Gegners zu unterbinden, deutlich geschwächt. Dies stärkte die Position Großbritanniens in einem Krieg, in dem es seine Zufuhr von strategisch wichtigen Rohstoffen aus Übersee verteidigen mußte. Es schränkte Großbritannien allerdings auch entsprechend ein in seiner Fähigkeit, mit seiner Seemacht offensiv vorzugehen. Ob es wirklich mit seiner überlegenen Seemacht vollen wirtschaftlichen Druck würde ausüben können, lag im spezifischen Konfliktfall in den Händen der stärksten neutralen Seemächte. Solange es verschiedene Kraftzentren von Seemacht gab, konnte keine von ihnen eine hegemoniale Herrschaft über die Meere besitzen. Großbritanniens Macht innerhalb des maritimen Gleichgewichtes unterlag Beschränkungen mit weit zurückreichenden historischen Wurzeln, ähnlich jenen, die Deutschland nach 1871 auf seine Position als eine >halbhegemoniale< Macht auf dem europäischen Kontinent beschränkten66.

r>3 66

O ffer, The First World War, S. 229 232. Dieses Thema wird ausführlicher im vierten und letzten -

Kapitel dieses Teiles behandelt.

III. Modernisierungswetdäufe, Wettrüsten und Krieg, 1840-1914 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drückten sich Spannungen zwischen Staaten auch im Wettrüsten aus. Dies zeugte vom Einfluß neuer Technologien auf

die militärische Schlagkraft, aber auch von der politischen Mobilisierung der Bevölkerung, sowohl in ihrer Eigenschaft als Wähler als auch als ausgehobene Rekruten1. Das Wettrüsten verdient es aus zwei Gründen, als eigenständiges, neues Phänomen zwischenstaatlicher Beziehungen behandelt zu werden. Erstens spiegelte die im gegenseitigen Wettbewerb vorgenommene Steigerung militärischen Potentials einen grundlegenden Tatbestand des Industriezeitalters wider, nämlich daß militärische Vorbereitungen zu Friedenszeiten von da an einen weit entscheidenderen Einfluß auf den Ausgang eines Krieges haben würden, als dies in der vorindustriellen Zeit der Fall war2. Dies setzte einen hohen Preis darauf aus, auf der Höhe des technologischen Wandels zu bleiben, moderne Waffensysteme zügig einzuführen und die strategischen Theorien zu entwickeln, die gebraucht wurden, um diese Waffensysteme so wirkungsvoll wie möglich einzusetzen. Zweitens konnten solche Wettläufe größere Folgen für die Beziehungen zwischen den betroffenen Staaten haben. Sie führten zu Verschiebungen im Mächtegleichgewicht, die diplomatische Neuordnungen hervorbringen konnten. Sie vermochten aber auch, internationale Spannungen bis zu einem Punkt zu steigern, an dem sich in der Wahrnehmung der einen Seite ein >window of opportunity< zu schließen begann, und die daraufhin einen Präventivkrieg entfesseln konnte, um einen für sie zu einem späteren Zeitpunkt unter ungünstigeren Voraussetzungen auszufechtenden Konflikt zu vermeiden. Der wahrscheinliche Ausgang dieser neuen Form der Rivalität hing von dem spezifischen historischen und politischen Kontext ab, innerhalb dessen sie sich abspielte. Die im Wettbewerb erfolgende Steigerung militärischen Potentials3 war eine Folge der sich beschleunigenden Geschwindigkeit des technologischen Wandels. 1 2 3

Wight, Power Politics, S. 243 f. Huntington, Arms Races, S. 48 ff. Diese Formulierung umschließt sowohl den >Modernisierungswettlauf< als auch das >WettrüstenLevées en masseKult der Offensive^ dargestellt in den Offensivplänen der Mittelmächte, der die Wahrnehmung der militärischen Führung prägte. Sie beeinflußte die Einschätzung der Militärs bezüglich der Nutzungschancen des window of opportunity^ und der Notwendigkeit eines Präventivkrieges. Die Strategie war die entscheidende unabhängige Variable, welche jene Wahrnehmung formte, die den Ausgang des Wettrüstens zu Land bestimmte. Bei einem maritimen Wettrüsten konnte der Versuchung, der Bedrohung einer nachteiligen Veränderung des Kräfteverhältnisses mit einem Präventivschlag zu begegnen, leichter widerstanden werden. Dies hatte vor allem technologische Gründe. Zu Land bildete seit den 1860er Jahren das Eisenbahnnetz das Rückgrat jenes Systems, das über die Schlagkraft der Armeen entschied. Als erst einmal die wichtigsten Schienenstränge verlegt, Tunnel gegraben und Brücken gebaut waren, wurde es zum festen, einplanbaren Bestandteil von militärischen Operationen. Seine Wirksamkeit lag in der erfolgreichen Abstimmung von Mobilisierungsplänen und Fahrplänen begründet. Die für dieses System notwendige >software< konnte sicherlich in Grenzen noch verbessert werden der Preis hierfür war allerdings kein niedriger. Die Aufgabe, eine überlegene Macht während des Krieges zum entscheidenden Punkt zu transportieren mit anderen Worten, die Kunst der »came to be Strategie —, increasingly governed by the configuration of the rail network«59. Dies wirkte sich massiv auf Kosten operativer Freiheit aus, die des weiteren durch den Übergang von defensiver zu offensiver Operationsplanung eingeschränkt wurde60. Mit einer derartig hohen Kapitalinvestition und der vollständigen Abhängigkeit von ausgeklügelten Mobilisierungsplänen, die damit einherging, würden die Erfolgschancen eines offensiven Operationsplanes proportional zur Verbesserung der feindlichen Schlagkraft und Mobilisierungsgeschwindigkeit sinken. Bei einem so unflexiblen System mag es als ein leichtes erscheinen, den Zeitpunkt vorauszusagen, zu dem sich durch die Verlagerung im militärischen Kräfteverhältnis ein window of opportunity schließen würde. Zur See lag die Kapitalinvestition, die für jeden einzelnen Mann aufgebracht werden mußte, weit höher als bei Landstreitkräften. Allerdings wurde die Summe in zahlreiche bewegliche Einheiten aufgegliedert, die nicht einfach für den Transport, sondern für den Kampf, d.h. in Form von Waffensystemen, verwendet wurden

-



58

59 60

Herrmann, The Arming of Europe, S. 209-218; vgl. Van Evera, The Cult of the Offensive, S. 80-86; Gasser, Deutschlands Entschluß; Groh, Negative Intergration, S. 378-414; Förster, Der doppelte Militarismus, S. 254 f.; Williamson, Austria-Hungary, S. 121-135, 180-184; Fellner,

Austria-Hungary, S. 16. Creveld, Technology and War, S.

168 f. Van Evera, The Cult of the Offensive, S. 86 f. Bestes vgl. Bucholz, Moltke, Schlieffen, S. 165-179.

Beispiel

hierfür bietet der

Schlieffcnplan,

III.

Modernisierungswettläufe

59

den. Fortdauernder

technologischer Wandel drohte diesen Systemen mit einer sich ständig steigernden Überalterungsgeschwindigkeit, die für die Seestreitkräfte eine weit höhere Kapitalinvestition erforderlich machte als für die Landstreitkräfte. Schiffe stellten keine gleichbleibende Größe dar; sie konnten entsandt werden und fielen der Überalterung anheim; technische Neuerungen erzielten eine ständige Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit. Aus diesen Faktoren ergaben sich zwei bedeutsame Folgen für den strategischen Spielraum. Erstens besaß eine Flotte von einer bestimmten Größe und auf einem bestimmten technologischen Niveau weit mehr Optionen, Überlegenheit dort zu sichern, wo es am meisten darauf ankam. Sie konnte neu verteilt und ihre Operationspläne konnten überarbeitet werden, um sie auf neue Herausforderungen vorzubereiten. Zweitens war derselbe strategische Spielraum auch für den Bau der nächsten Generation im Rahmen der fortgesetzten Weiterentwicklung dieser Waffensysteme gegeben. Er wurde durch die Möglichkeiten erweitert, die der technologische Fortschritt eröffnete. Die künftigen Fähigkeiten von Waffensystemen wurden vom Flottenprogramm bestimmt, welches wiederum ein Produkt des technologischen Fortschritts darstellte und eine Anpassung der Theorie an diese veränderten technologischen Begebenheiten aufwies61. Dies wirkte sich folgenreich auf den Ausgang eines maritimen Wettrüstens aus. Die Versuchung, auf das Mittel des Präventivkrieges zurückzugreifen durch ein window of opportunity zu springen, solange es noch offen steht —, erwächst aus einem Vergleich der gegenwärtigen Möglichkeiten mit den zukünftigen Folgen eines Wettrüstens für das militärische Kräfteverhältnis. Rüstungswetdäufe zur See waren Wettbewerbe zwischen Programmen, die darauf ausgerichtet waren, künftige Begebenheiten mit zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu dem fast ausschließlich zahlenmäßigen Wettrüsten zu Land orientierte sich die Entwicklung von Flottenprogrammen an qualitativen Verbesserungen als einem Kernelement. Der Wettkampf verschiedener Schiffstypen, die Steigerung der Wasserverdrängung, Panzerung und Artillerie waren die sichtbaren Zeichen maritimer Rivalität; aber viele weniger offensichtliche qualitative Verbesserungen konnten die Fähigkeiten der Schiffe auf weitaus dramatischere Weise steigern so zum Beispiel eine Wirkungssteigerung des Antriebes oder der Geschütztechnik oder der Feuerleitung. Einige der technologischen Neuerungen schienen eine regelrechte Revolution anzukündigen: der Torpedo, die Mine, der Zeppelin, das drahdose Telegraphensystem und allen voran das Unterseeboot. Mehrere der wichtigen Steigerungen der Fähigkeiten müssen jedoch als das Ergebnis sich häufender Veränderungen auf verschiedenen Gebieten gesehen werden62. Eine Marine, die ausreichend flexibel war, um ihre Strategie und Taktik auf die sich wandelnden Technologien abzustimmen, konnte ihre Fähigkeiten so ausrichten, daß sie gegen direkt anstehende wie auch gegen künftige Bedrohungen gewappnet war. Dies bedeutete nicht, daß immer eine technologische Lösung zur Hand war, um ein künftiges Ungleichgewicht auffangen zu können, oder daß nie -



61 2

Lautenschläger, Technology and the Evolution, S. Ebd., S. 174,220.

173.

60

Erster Teil

ein Admirai je einen Präventivschlag gegen einen wachsenden Rivalen in Erwägung gezogen hätte. Ganz im Gegenteil schlug in den Jahren 1904 und 1908 Sir John Fisher, Erster Seelord, König Edward VII. vor, die deutsche Flotte auszulöschen, ehe ihr nicht mehr beizukommen sei63. Es bedeutete vielmehr, daß mit den steil ansteigenden Kosten dafür, daß ständig modernes Schiffskapital mit noch modernerem Schiffskapital übertroffen werden mußte, ein verbessertes Konstruktionsprogramm, welches sich der neuesten technologischen Errungenschaften bediente, eine Umverteilung der vorhandenen Schiffe oder ein modifizierter Operationsplan künftigen Bedrohungen mit weit weniger Menschen- und Materialverlusten begegnen konnten, als dies bei einem Präventivschlag der Fall war. Mit dem, was die neueste Forschung über Fishers weitreichende Pläne für den Schlachtkreuzer und das Unterseeboot zu Tage gefördert hat, wird deutlich, daß er viel mehr Energien dafür aufbrachte, radikale Änderungen für das Bauprogramm der Royal Navy abzuwägen, als für die Planung, der Hochseeflotte ein >Kopenhagen< zu bereiten. Diese Änderungen schienen nicht nur das Versprechen einer wirkungsvollen Überlegenheit über die wachsende deutsche Flotte zu bergen, sondern Großbritannien sogar seine weltweite maritime Vormachtstellung zurückzugeben64. Warum sollte man mit einem Präventivschlag die Zerstörung von teuren Schlachtschiffen riskieren, wenn sich durch die Verbindung technologischer Lösungen mit einer neuen Taktik ein einfacherer und kostengünstigerer Weg anbot, um beim Wettrüsten die Nase vorn zu behalten? In Situationen, in denen weder ein technologischer noch ein strategischer Ausweg gefunden werden konnte, würde man einen Präventivkrieg als einen möglichen Ausgang des maritimen Wettrüstens tatsächlich erwarten; zeigte sich aber in den Jahrzehnten vor 1914 zumindest, daß die Entscheidung zugunsten eines Präventivkrieges weit eher das Ergebnis des quantitativen Wettrüstens zu Lande war65. Zur Zusammenfassung dieses Abschnitts: Die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorkommenden destabilisierenden Rüstungswettläufe waren keine Produkte demokratisch-Hberaler Einbildungskraft. Sie nahmen sich aber auch nicht wie ein von der Technologie getriebener Prozeß, wie ein auf die Katastrophe zusteuernder Moloch aus. Sie waren allerdings durch den zusätzlichen Anstoß politischer Motive heftiger als die bloßen Modernisierungswettläufe der Streitkräfte; außerdem konnten sie eine gewisse Eigendynamik entfalten, da sie die öffentliche Meinung mobilisierten. Dies geschah nicht zuletzt aufgrund der wachsenden Militarisierung internationaler Politik, die durch sie hervorgerufen wurde. Der Ausgang 63

64

65

Marder, From the Dreadnought to Scapa Flow, S. 112 ff. Als er diesen Vorschlag zum ersten Mal machte, antwortete der König: »My God, Fisher, vou must be mad!« Vgl. Marder, The Anatomy of British Sea Power, S. 496 500. Sumida, In Defence of Naval Supremacy; Lambert, Admiral Sir John Fisher; Lambert, British Naval Policy; Lambert, Sir John Fisher's Naval Revolution. -

Dieser Unterschied zwischen dem wahrscheinlichen Ausgang eines Wettrüstens zu Lande und dem eines Wettrüstens zur See relativiert die deutsche Angst, Fisher werde der Hochseeflotte ein >Kopenhagen< bereiten. (Es wird hier angespielt auf die Wegnahme der dänischen Flotte durch einen britischen Verband im Jahre 1807, die ohne vorausgegangene Kriegserklärung erfolgte.) Vgl. Steinberg, The Copenhagen Complex. Beobachtungen \'on generellerem Charakter finden sich in Huntington, Arms Races, S. 55, 75-79.

III.

Modernisierungswettläufe

61

Rüstungsrivalitäten hing von der jeweiligen Hemmschwelle der betroffenen Gesellschaften vor einem Krieg ab, die zu verschiedenen Zeiten und abweichend von Kultur zu Kultur unterschiedlich ausgeprägt war. Im Gegensatz zu heute war die europäische Gesellschaft in übersteigertem Maße kriegsgeneigt. Ein größerer Krieg stellte keineswegs eine undenkbare Option dar. Dadurch öffneten sich die Tore für ein Wettrüsten, das zum Präventivkrieg ausufern konnte. Die Militarisierung von Politik gab der Versuchung Auftrieb, einen Offensivkrieg aus rein militärischen Gründen zu entfachen, um seine Stellung im Mächteverhältnis zu verteidigen, ehe das Wettrüsten eine Verschlechterung brächte. Dieser Ausgang war wahrscheinlicher im Falle des quantitativen Wettrüstens zwischen Landstreitkräften zum einen wegen der Höhe der festgelegten Kapitalinvestitionen und zum anderen wegen des Mangels an strategischem Spielraum, den ein solches Wettrüsten mit sich brachte. Das Wettrüsten zu Land wurde sehr wahrscheinlich durch die Übertragung von Spannungen aus anderen Gebieten hervorgerufen. Landstreitkräfte konnten verhältnismäßig leicht gegeneinander gehalten werden: Man zähle die Soldaten und vergleiche die Eisenbahnen. Folglich paßte dieses Wettrüsten besser in das einfache Aktions-Reaktions-Modell. Diese Form der Interaktion war, wie Bebel hervorhob, in sich destabilisierend wegen der wachsenden Versuchung einer Seite, sich aus rein militärischen Gründen in den Krieg zu flüchten; außerdem schien die Starre der Strategie, vor allem wenn diese noch durch den >Kult der Offensive< verhärtet wurde, dem Wettrüsten eine klare Ziellinie vorzugeben, an der es sich entschieden haben würde. Rüstungswettläufe zur See waren mit größerer Wahrscheinlichkeit als Mittel zur Ausübung politischen Drucks auf einen bestimmten Gegenspieler angestoßen worden. In einem größeren Ausmaß als zu Lande wurden beim maritimen Wettrüsten politischer Wille, Produktionskapazität und technologisches Know-how der beteiligten Gesellschaften gegeneinander ausgespielt. Obwohl das maritime Wettrüsten zwischenstaatliche Beziehungen tatsächlich destabilisierte und militarisierte, tendierte es aus zwei Gründen weniger dazu, in einem Präventivkrieg zu enden, als dies bei Rüstungswettläufen zu Land der Fall war. Erstens fehlte, wie im folgenden von Huntington zusammengefaßt, dem maritimen Wettrüsten der abzusehende klare Endpunkt: »A rapid rate of innovation means that arms races are always beginning, never ending. In so far as the likelihood of war is decreased by the existence of an equality of power between rival states, a qualitative arms race tends to have this result66.« Zum zweiten lag die Schwelle für eine Kriegseröffnung bei den führenden Marineoffizieren und ihren politischen Vorgesetzten wahrscheinlich höher, als dies bei den Verantwortlichen für die Landstreitkräfte der Fall war: Im Gegensatz zu toten Soldaten, die schnell zu ersetzen waren, zog sich dies bei zerstörtem Schiffsmaterial bedeutend länger hin; das Risiko, welches sich für die nationale Sicherheit durch den Verlust wertvoller Schiffe in einem derartigen Untervon



nehmen ergab, war dementsprechend größer. Die strategische Flexibilität, die sowohl mit dem Gebrauch der vorhandenen Seemacht als auch mit deren weiterer silent war of steel and gold< with her maritime rivals. This had been a war not only of great naval programs but of strategic and tactical theory and preparation for war, in which every factor of industry, finance, and public opinion had played a part57.« Die

67

Ropp, The Development of a Modern Navy, S. 357.

IV. Maritimes Gleichgewicht, Seerecht und die Grenzen der britischen Seemacht Das maritime Wettrüsten zwischen Großbritannien und Frankreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts stellte das erste Beispiel einer Rüstungsrivalität zwischen modernen Gesellschaften dar. Der Wiederaufstieg der französischen Marine in den 1830er Jahren trug zu dem Modernisierungswetdauf des Rüstungsmaterials bei, an dem sich Großbritannien, die Vereinigten Staaten und zu einem geringeren Ausmaß Rußland beteiligten. Diplomatische Spannungen zwischen Großbritannien und Frankreich im Rahmen der Orientkrise von 1839/40, verstärkt durch neu erwachte nationalistische Ressentiments, verschafften den beiden Marinen den Bezugspunkt ihrer Anstrengungen und intensivierten den Wettbewerb, der zwischen ihnen herrschte. Mit Ausnahme der zwei Jahre einer Allianz gegen Rußland während des Krimkrieges setzte sich die maritime Rivalität zwischen den beiden über ein Vierteljahrhundert hinweg fort. Sie kulminierte in drei intensivierten Rüstungswettläufen, von denen jeder zwei bis drei Jahre dauerte1. Obgleich Cobden die französische Bedrohung für übertrieben hielt und für die Panikattacken die regierende Klasse verantwortlich machte2, waren dies in der Tat lebenswichtige Fragen der nationalen Sicherheit, welche die öffentliche Meinung in Großbritannien bewegten. Unsicherheit bezüglich der neuen MögHchkeiten, die sich mit dampfgetriebenen Kriegs- und Transportschiffen verbanden, schürte Invasionsängste, und die wachsende Bedeutung des Überseehandels für eine sich industrialisierende Wirtschaft schien das Land einer Unzahl von Gefahren auszusetzen, sollte die Royal Navy je die maritime Vorherrschaft verlieren. Sich gegen derartige Bedrohungen (ob nun real oder übertrieben) zu schützen war das Hauptmotiv dafür, im Wettrüsten mit Frankreich die beherrschende Führungsrolle

zurückzugewinnen.

Was aber war mit der La Royale? Wie lagen ihre Chancen, die Oberhand über ihren Rivalen zu gewinnen? Und sollte sich dies, wie die energischen Gegenmaßnahmen und die überlegenen Ressourcen Großbritanniens vor Augen führten, als unerreichbares Ziel erweisen, wie könnte dann eine unterlegene Marine Frankreichs nationale Sicherheit gegen Bedrohungen jeglicher Art von Seiten der maritimen Vorherrschaft der Royal Navy schützen? Im Verlaufe der Rivalität mit Großbritannien kamen führende französische Strategen und Politiker zu verschiedenen 1

Baxter, The Introduction of the Ironclad Warship, S. 65-68, 119-180; Hamilton, Anglo-French Naval

2

Rivalry.

Cobden, The Three Panics.

64

Erster Teil

Antworten auf diese Fragen. Sie können dazu dienen, die Rolle von zweitrangigen Marinen innerhalb des maritimen Gleichgewichtes zu veranschaulichen. Sie führen auch zu der Beachtung des Seerechts als eines Ausdruckes dieses Kräfteverhältnisses. Die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 kennzeichnete einen bedeutenden Wandel im maritimen Kriegsvölkerrecht gleichsam eine >maritime Revolution^ die als Folge einer Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen der Royal Navy und den zweitrangigen Marinen gedeutet werden kann. Die Deklaration diente bis zum Herbst 1914 als Stützpfeiler im Gerüst internationaler Beziehungen. Die Probleme der nationalen Sicherheit der zweitrangigen Seemächte und die strategischen Optionen, vor die sie sich gestellt sahen, können am besten vor dem Hintergrund des maritimen Kräfteverhältnisses und des korrespondierenden Kriegsvölkerrechts analysiert werden. Die für die französische Marinepolitik während der Rivalität mit Großbritannien formulierten Ziele mögen als erste Illustration dieser strategischen Alternativen dienen. Fast so schnell wie technologische Neuerungen die Fähigkeiten von Kriegsschiffen zu verändern begannen, wurden in Frankreich auch schon Stimmen laut, die davon ausgingen, daß der zahlenmäßigen Überlegenheit der Royal Navy durch den Gewinn des qualitativen Vorsprungs beizukommen sei. 1822 durchforstete Henri-Joseph Paixhans den damaligen Stand maritimer Technologie auf der Suche nach Bereichen, in denen moderne Neuerungen zu einer spürbaren Verbesserung militärischer Fähigkeiten führen könnten3. Obgleich beim Schiffbau, mit Blick auf die Takelage, das Geschützwesen, die Erziehung usw. noch Steigerungen möglich schienen, war es wie er aus seinen Untersuchungen schloß offensichtlich, daß die Qualitätssteigerung weder auf einzelnen Gebieten noch auf breiter Front einen großen militärischen Vorteil bringen und so zur sofortigen und entscheidenden Überlegenheit führen würde. Jedoch könnte mit dem Ersatz der Kanonenkugel durch die Granate und durch die Einführung des Dampfantriebes gerade jene entscheidende maritime Überlegenheit verwirklicht werden, die das Ziel der Bemühungen sei4. Paixhans glaubte, wie auch die Anhänger der >Jeune Ecole< fünfzig Jahre später, daß kleine, billige und stark bewaffnete Schiffe das Schlachtschiff hinwegfegen, die großen Marinen demütigen und Entscheidendes zum Zustandekommen der >Freiheit der Meere< beitragen würden5. Die Idee, das maritime Gleichgewicht durch dampfgetriebene Kriegsschiffe wieder im Sinne Frankreichs herzustellen, wurde vom Prinzen de Joinville, dem Sohn Louis-Philippes und Befehlshaber der Flotte, 1844 erneut aufgegriffen6. Zum Schrecken der britischen Öffentlichkeit behauptete er, die Einführung einer dampfgetriebenen Marine befähige Frankreich dazu, »den verwegensten Aggressionskrieg«7 zu führen. 1846 stimmte die französische Kammer für eine erhebliche Steigerung des Marinehaushaltes. Der Abgeordnete, der über das Gesetz Bericht —



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3 4 3 '•

7

Vgl. Paixhans, Nouvelle force maritime. Vgl. ebd., S. 49.

Taillemite, Paixhans et sa nouvelle force maritime, S. 119.

Joinville, Note sur l'état. Ebd., S. 710; vgl. Bardett, Great Britain and Sea Power, S.

155-160.

IV. Maritimes

65

Gleichgewicht

erstattete, machte deutlich, wie die Marine zur britischen Führung aufschließen sollte: »Wenn Frankreich durch die zahlenmäßige Unterlegenheit seiner seefahrenden Bevcilkerung dazu verurteilt ist anzuerkennen, daß es eine Macht gibt, die mehr Kriegsschiffe bemannen kann, dann kann dieser Unterschied dadurch aus der Welt geschafft werden, daß dieser Macht eine andere Art von Gewalt entgegengesetzt wird, welche der industrielle Einfallsreichtum Frankreichs schaffen kann und muß8.« Über die nächsten zwei Jahrzehnte befand sich der französische Schiffbau an der Spitze der technologischen Entwicklung, vor allem unter der engagierten Führung von Dupuy de Lome, der 1857 zum >Direktor der Schiffbauten< ernannt wurde9. Dennoch erwies sich Großbritanniens Führung als so dominierend, daß auch Frankreichs Streben nach der technologischen Spitzenstellung nicht die »supériorité subite et decisive«, die Paixhans sich erträumt hatte, hervorbringen konnte. Ob man nun die nationalen Ressourcen, die Zahl der modernen vorhandenen oder in Bau gegebenen Kriegsschiffe oder deren Kampfkraft miteinander verglich die französische Marine schien 1865 zu einer Unterlegenheit verdammt, die nach 1871 zur unabänderlichen Tatsache wurde. Es waren auch schon lange vor Beginn des maritimen Wettrüstens Stimmen zu hören gewesen, die Frankreich für eine Herausforderung der britischen Vorherrschaft im Alleingang wenig Chancen ausrechneten sei es qualitativ oder quantitativ. RückbHckend auf die Revolutions- und Napoleonischen Kriege schrieb Baron Portal, der erste wirkungsvolle Marineminister der Restaurationszeit, als er 1823 seinen Abschied nahm, daß der >Guerre de course< die einzige Form des Seekrieges darstelle, mit der Frankreich hoffen könne, Großbritannien in irgendeiner Form Schaden zuzufügen. Andere führende Marineexperten zogen graduell weniger pessimistische Schlüsse aus Frankreichs Erfahrungen in maritimen Konflikten; sie hielten einen Geschwaderkrieg noch für möglich, allerdings nur, falls die französische Schlachtflotte als Teil eines antibritischen Bündnisses zweitrangiger Mächte auftrat10. Dieses Modell hatte sich für die Marine Ludwigs XVI. im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg als sehr erfolgreich erwiesen. 1832 wies Admiral Jean Grivel die Argumente des Erzbischofs Pradt, eines bekannten Publizisten, zurück, der von Frankreich verlangt hatte, es solle die Hoffnung aufgegeben, eine Marine zu besitzen, welche die Fähigkeit habe, etwas gegen das Gewicht der britischen Marine ausrichten zu können. Grivel trat für die Vorbereitung eines Kreuzerkrieges gegen exponierte britische Handelsinteressen ein, von dem er glaubte, daß schon der Gedanke daran London davon abhalten würde, Frankreich anzugreifen. Außerdem sei der Erzbischof im Irrtum, wenn er die die maritime Bündnismöglichkeiten mit anderen Seemächten zu einer Zeit, da sich Macht Rußlands und Amerikas im Wachstum befinde, ausschließe1 ' : —



K

9

10 11

Zit. nach englischer Fassung in Brodie, Sea Power, S. 41. Baxter, The Introduction of the Ironclad Warship, S. 4 und passim; McNeill, The Pursuit of Power, S. 227; Masson, Histoire de la marine, Bd 2, S. 74-85; Gille, Le premier navire cuirassé. Masson, Histoire de la marine, Bd 2, S. 17-22. Grivel, Considérations navales, S. 192.

66

Erster Teil au contraire les pouvoirs maritimes n'ont représenté de chances d' un équilibre prochain. Je ne conçois guère comment un homme d'Etat a pu supposer que, si l'Amérique du Nord engageait une lutte sérieuse avec l'Angleterre, les vaisseaux de l'Union manqueraient de relâches dans les mers d'Europe. 11 faudrait pour cela qu'il n'y eut plus de France riveraine, ou que notre politique eut

»Je crois, quant à moi, que jamais autant

éprouvé d'étranges changemens [sic]; car toute

nation qui marche; comme L'Amérique; vers l'affranchissement maritime; est virtuellement l'alliée des marines secondaires; et réciproquement.«

Gleichzeitig mit dem materiellen Wiederaufbau der französischen Marine in den 1840er Jahren dachten einige Wortführer daran, eine Schlachtflotte zu schaffen, die als Kernstück eines Bündnisses zweitrangiger Seemächte fungieren konnte. Das Ziel hierbei sollte nicht sein, die maritime Vorherrschaft der Royal Navy ernstlich herauszufordern, sondern den >Tyran de la mer< davon abzuhalten, seine Macht auszunutzen, indem man die latente Bedrohung eines überlegenen Seebündnisses gegen ihn aufrechterhielt. Prinz Napoleon beschrieb diese Haltung 1861 auf prägnante Weise, als er unter ausdrücklicher Berufung auf ein Axiom traditioneller französischer Politik dem Senat erklärte, daß, sollte es denn überhaupt eine Position geben, die Frankreichs Stellung gegenüber Großbritannien stärke, sie darin liege, sich zum Kern aller zweitrangigen Seemächte zu entwickeln12. Auch Paixhans schien sich mit dieser Haltung abgefunden zu haben. Seine Aufzeichnungen aus dem Jahre 1849 beweisen, daß er nicht länger den direkten qualitativen oder zahlenmäßigen Wettbewerb mit Großbritannien befürwortete. Mit dem Hinweis darauf, daß die Vereinigten Staaten zur drittwichtigsten Seemacht avanciert waren, schlug er Frankreich vor, die goldene Mitte zu wahren: »Il y a maintenant trois grandes puissances maritimes au lieu de deux. La France n'a donc plus besoin de se ruiner pour avoir autant de marins et autant de vaisseaux que l'Angleterre: car il nous suffira désormais d'avoir dans les mains un poids maritime suffisant pour faire pencher la balance entre les Anglais et les Américains. Et nous aurons cette gloire de la faire toujours pencher dans le sens de l'intérêt général des nations13.«

Was sich hinter diesem »allgemeinen Interesse« verbarg, kommt in einigen anderen Äußerungen zum Vorschein. Thiers behauptete von dem Flottenbauprogramm von 1846, daß sein Zweck darin liege, eine Flotte zu schaffen, welche zwar nicht (selbst) in der Lage sein müsse, die Meere zu beherrschen, dafür aber jede andere Vorherrschaft auf den Meeren verhindern können müsse14. Die Enquête parlementaire sur la marine militaire (1849-1851) hob die >Freiheit der Meere< als ein Ziel der französischen Marinepolitik hervor15. 1857 ließ Napoleon III. Bismarck wissen, »er möchte Preußen vergrößert und insbesondere es zu einer Seemacht werden sehen, welche im Verein mit Frankreich und den Seemächten zweiten Ranges in der Lage wäre, England die Spitze zu bieten. Er wünsche die Unabhängigkeit der Meere und daß nicht eine Macht Beherrscherin dieses Elements sei«16. Bismarck gibt in seinen Memoiren 12

13 14

15

16

Siehe Baxter, Iron Warship, S. 151; vgl. Hamilton, Anglo-French Rivalry, S. 119, 302; Hamilton, Anglo-French Sea Power, S. 166-190, 170.

Paixhans, Constitution militaire, S. 187.

Vgl. Brodie, Sea Power, S. 4L Hamilton, Anglo-French Naval Rivalry, S. 303. Zit. nach: Poschinger, Fürst Bismarck, S. 293. Bismarck nicht zum erfolgten Zeitpunkt fest. Er unterrichtete Lord

hielt den Inhalt dieser Unterhaltung Loftus darüber am 29. Juü 1870. Sein

IV. Maritimes

Gleichgewicht

07

Napoleons Aussagen wie folgt wieder: »Es fehle an Seemächten zweiten Rangs, die durch Vereinigung ihrer Streitkräfte mit der französischen das jetzt erdrückende Übergewicht Englands aufhöben. Eine Gefahr für sie selbst und für das übrige Europa könne darin nicht liegen, weil sie sich ja zu einseitig egoistisch-französischen Unternehmungen nicht einigen würden, nur für die Freiheit der Meere von der engli-

schen Übermacht17.« Admiral Hamelin, Marineminister in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre, wies daraufhin, daß die Marine über das Ziel hinaus, Frankreichs afrikanische Kolonien und seine ausgedehnten Küsten zu schützen, einen offensiven Auftrag hatte: »S'il est en Europe et jusque de l'autre côté de l'Atlantique, un besoin généralement senti, c'est celui de donner pour garant à la liberté des mers l'établissement d'une sorte d'équilibre maritime. Avec la perspective des alliances sur lesquelles, fort de ces sympathies, il nous est permis de compter, tous les projets offensifs sont possible«18. Was verrieten diese Aussagen über das Verhältnis von Frankreichs Seemacht zu seiner nationalen Sicherheit? Seit den Tagen Baron Portals scheinen die meisten Politiker und Admírale begriffen zu haben, daß Frankreich nicht auf sich allein gestellt in einem Zusammenprall der Schlachtflottcn gegen Großbritannien bestehen konnte. Sollte Frankreich alleine bleiben, müßten sich die Hauptaufgaben der Flotte auf Handelskrieg und Küstenverteidigung beschränken. Nur mit Verbündeten, an der Spitze einer Koalition zweitrangiger Marinen, könne es eine direkte Konfrontation mit der Macht der Royal Navy in Erwägung ziehen19. Ein solches Bündnis könne die Freiheit der Meere, die alle zweitrangigen Seemächte gegen die britischen Anmaßungen zu verteidigen wünschten, aufrechterhalten. Napoleon III. mag dennoch auch den Gedanken an eine Marine gehegt haben, die stark genug gewesen wäre, auf sich alleine gestellt den britischen Ambitionen Einhalt zu gebieten. Diese hätte von der Idee her wohl der Tirpitzschen Risikoflotte gegüchen und ihm freie Hand gegeben, eine abenteuerliche Außenpolitik ohne Angst vor britischer Intervention zu betreiben. Baxter schätzt die Lage folgendermaßen ein: »If the exigencies of domestic politics would lead him [Napounmittelbares Interesse daran, den Argwohn der Briten angesichts der französischen Ambitionen zu wecken, ist offensichtlich zwei Wochen zuvor hatte der Deutsch-Französische Krieg begonnen. Aber der Bericht ist durch eine weitere Unterhaltung bestätigt, die Bismarck zu Beginn des Jahres mit Lothar Bucher geführt hatte, der ihm später beim Schreiben seiner Memoiren behilflich war. Diese erste Fassung findet sich in Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, vgl. Poschinger, Fürst Bismarck, S. 21 f., 293 f. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, S. 189. Beide Fassungen stimmen darin überein, daß Napoleon Preußen drängte, Hannover und die Elb-Herzogtümer zu annektieren, um dessen maritimes Potential zu vergrößern. Dies stimmt mit späteren Zeugnissen überein. Als die SchleswigHolstein-Frage in ihrer Unterhaltung in Biarritz im Oktober 1865 wieder auf den Tisch kam, »sagte Bismarck Napoleon III. geradeheraus, daß Preußen auf den Erwerb Holsteins hoffe, da es sich nachhaltig wünsche, so zu einer Seemacht zu werden.« Napoleon »deutete keinen Einwand gegen diesen kleinen Gewinn an.« Vgl. Bernstein, Napoleon III and Bismarck, S. 138; Coler, Bismarck und die See, S. 590 f.; Steinmetz, Bismarck und die deutsche Marine, S. 18. Coler und Steinmetz haben eine jeweils nützliche, aber ungenaue Auswahl von Zitaten zusammengestellt. Dieses Thema hat noch nicht die ihm gebührende wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. Zit. nach: Masson, Histoire de la marine, Bd 2, S. 90. Ebd., S. 108 f. -

17

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«

68

Erster Teil

león III.] to further attempts at expansion which involved a sharp clash of French and British interests, might not the existence of a strong French fleet lead England to stop and count the cost, especially if she had not yet regained the lead in ironclad building which she had allowed France to obtain20?« Welchen Umfang mußte ein solches Abschreckungsmittel also haben? Der Abstand, der durch das Verhältnis von zwei französischen Schiffen auf drei englische gegeben war, wurde weithin als sinnvoll erachtet21. Ob ein solches Verhältnis erreicht werden konnte, war davon abhängig, wie Großbritannien seinen Überlegenheitsabstand festlegte, den es zur Verteidigung seiner Sicherheit benötigte. Sowohl Castlereagh im Jahre 1817 als auch die Admiralität im Jahre 1856 hielten an dem fest, was später der >Two Power Standard< genannt wurde. Zu Zeiten, in denen keine direkte Bedrohung durch irgendeine Kombination möglicher Gegner bestand, konzentrierte man sich darauf, einen möglichst großen Überlegenheitsabstand an Schlachtschiffen zur französischen Marine zu wahren22. In beiden Fällen war die Schlußfolgerung einfach: Eine französische Flotte, die zwei Drittel der Größe der Royal Navy ausmachte, war unvereinbar mit dem >Two Power Standard< (mit der Ausnahme, daß die drittgrößte Marine weniger als halb so groß war wie die französische). Kein britisches Kabinett konnte der La Royale erlauben, sich für länger als nur einen Moment einem solchen Verhältnis anzunähern. Gesetzt den Fall, daß irgendwelche französischen Staatsmänner es angestrebt hätten, eine Schlachtflotte zu bauen, die stark genug gewesen wäre, um Großbritannien an einer Intervention zu hindern, wären sie durch fünfundzwanzig Jahre maritimer Rivalität eines Besseren belehrt worden. Paixhans' ursprüngliches Ziel, die französische Überlegenheit durch einen qualitativen Vorsprung zu erreichen, erwies sich als ebenso illusorisch; allerdings nahm die >Jeune Ecole< wieder die Idee 20

21

22

Baxter, The Introduction of the Ironclad Warship, S. 148. Der verdiente Admiral Jurien de la Graviere schrieb einem englischen Freund im Jahre 1860, daß er in gewissen Grenzen nichts gegen E.nglands Wunsch, der Herr der Meere zu sein, einzuwenden hatte. Er fuhr fort: »Wir wünschen aber nicht, daß Ihre Sicherheit dergestalt sein möge, daß Sie sich im Stande wähnten, uns so zu behandeln, wie es Ihnen gefällt.« (Baxter, S. 149); vgl. Taillemite, Stratege ou littérateur, S. 40 f.

Coutau-Bégaric verfolgt die Ursprünge der Risikotheorie bis zu Jean Grivels Schrift von 1832 zurück (Coutau-Bégarie, Réflexions, S. 39). Wie oben erwähnt, erachtete Grivel die Drohung mit einem ausgedehnten Handelskrieg als Frankreichs erfolgversprechendste Handhabe gegen britische Ambitionen, während die Möglichkeit eines Bündnisses der zweitrangigen Seemächte die Freiheit der Meere sichern würde. Es wäre präziser, den Begriff >Risikotheorie< für die VorstelGegner lung von einer unterlegenen Schlachtflotte zu reservieren, die ganz allein einen stärkeren vom Angreifen abhalten kann, die also die absolute Sicherheit einer zweitrangigen Seemacht gegen einen solchen Angriff gewährleisten kann. und Vgl. Bardett, Great Britain and Sea Power, S. 180; Brodie, Sea Power, S. 41; Baxter, Brodie Bardett sehen Gemeinsamkeiten zwischen diesem Kalkül und dem von Tirpitz; vgl. Lambert, The Royal Navy, S. 86. Bardett, Great Britain and Sea Power, S. 23-27, 125, 214, 274 und bes. S. 276, Anm. 3; Baxter, The Introduction of the Ironclad Warship, S. 119 f.; Beeler weist in British Naval Policy darauf hin, daß die Überlegenheit der Royal Navy in den 1860er und 1870er Jahren dergestalt war, daß sie es mit konnte. Der >Two Power jeder denkbaren Kombination von verbündetenmitMächten aufnehmen dem Naval Defence Act von 1889 zum FunStandard< lebte wieder auf und wurde offiziell dament der britischen Marinepolitik; vgl. Marder, The Anatomy of British Sea Power, S. 105-116; Sumida, In Defence of Naval Supremacy, S. 14 f.

IV. Maritimes

Gleichgewicht

69

Fähigkeiten auszunutzen durch die Anpassung der Doktrin an die Möglichkeiten, welche die technischen Entwicklungen eröffneten. Auf der anderen Seite implizierte Baron Portals resignierte Hinnahme der britischen Überlegenheit und sein Vorschlag, sich auf Küstenverteidigung und Handelskrieg zu konzentrieauf,

neue

ren, daß Frankreich als maritime Macht abdanken sollte. Es verbheb die dazwi-

schenliegende Option, die Position der führenden zweitrangigen Marine anzustreum, wenn nötig, als Kernstück eines maritimen Bündnisses gegen Großbritannien zu fungieren. Historische Erfahrung lieferte eine gewisse Rechtfertigung für die Behauptung, daß eine solche Marinepolitik die französische nationale Si-

ben,

cherheit stärken würde. Dies entsprang der Erkenntnis der Tatsache, daß die zweitrangigen Seemächte, ob nun als neutrale oder kriegführende Mächte, ein gemeinsames Interesse an der Abwendung der ungehinderten Ausübung der britischen Vorherrschaft zur See hatten. Die >Freiheit der Meere< war eine der Kernpunkte der amerikanischen Außenpolitik23. Die Vereinigten Staaten leisteten der britischen Schmälerung ihrer Rechte als einer neutralen Macht entschieden Widerstand, bis es darüber sogar 1812 zum Krieg kam. Die russische Marine war keineswegs unbedeutend, und immerhin war es Katharina II. gewesen, die 1780 das Bündnis der >Bewaffneten Seeneutralität< zur Aufrechterhaltung der Rechte neutraler Staaten initiiert hatte. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts hatte ein maritimes Kräftegleichgewicht zwischen der vorherrschenden Royal Navy auf der einen und einer latent vorhandenen (und manchmal auch aktiv hervortretenden) Koalition aus mindestens drei zweitrangigen Marinen auf der anderen Seite bestanden. Dieses Gleichgewicht war während des Kampfes gegen Napoleons Streben nach der Hegemonie über den Kontinent zusammengebrochen. Ab Mitte der 1830er Jahre rückte es aber durch das Wiederaufleben der französischen und russischen Marine24 und das Erstarken der Vereinigten Staaten wieder in den Bereich des Möglichen25. Diese latent bestehende Koalition, auf dem gemeinsamen Interesse der Aufrechterhaltung der Freiheit der Meere fußend, legte die Grenzen der britischen Seemacht fest. In einem Konflikt zwischen Großbritannien und einer oder mehreren der zweitrangigen Mächte würden die neutralen Seemächte entscheiden, was ihrer Auffassung nach einen Mißbrauch der britischen Seemacht darstellte26. Der maritime Aspekt französischer nationaler Sicherheit war verbunden mit dem maritimen Kräfteverhältnis, von dem La Royale einen Teil bildete. Die Funktionsweise des maritimen Gleichgewichtes wurde vielleicht am besten von Sir Eyre Crowe beschrieben. In seinem bekannten Memorandum vom 1. Januar 1907 unterstrich er, daß der furchterregende Charakter der Seemacht »makes itself felt the more direcdy that a maritime State is [...] the neighbour of every country accessible by sea. It would therefore be but natural that the power of a State supreme at sea should inspire universal jealousy and fear, and be ever exposed to the

23 24 25

26

Semmel, Liberalism and Naval Strategy, S. 152-154; Savage, Policy of the United States. Bartlett, Great Britain and Sea Power, S. 28, 54. Vgl. die Argumentation des Staatssekretärs Martin van Buren im Jahre 1830, als er vorschlug, mit Rußland einen Vertrag auszuhandeln, der die Prinzipien des Bündnisses der >Bewaffneten Seeneutralität< wieder bekräftigen sollte. (Savage, Policy of the United States, S. 336-345). Vgl. Semmel, Liberalism and Naval Strategy, S. 54.

Erster Teil

7(1

of being overthrown by a general combination of the world. Against such a combination no single nation could in the long run stand«. Nur indem er seine Interessen mit »the primary and vital interests of a majority, or as many as possible, of the other nations« in Einklang bringe, könne der See- und Inselstaat die Gefahren einer solchen Koalition abwenden. Diese Interessen waren, nach Crowe, zum ersten die nationale Unabhängigkeit und zum zweiten der Frei-

danger

handel27. Das Gleichgewicht zwischen einer vorherrschenden Royal Navy auf der einen und verschiedenen zweitrangigen Marinen auf der anderen Seite schützte vor dem Mißbrauch britischer Seemacht Mißbrauch in der Bedeutung einer Bedrohung der lebenswichtigen Interessen einer Mehrheit der maritimen Mächte. Die latent vorhandene antibritische Koalition hielt London davon ab, seine maritime Vorherrschaft in etwas zu verwandeln, das einer kontinentalen Hegemonie geglichen hätte28. Je stärker seine Seemacht nationale Souveränität zu verletzen oder den alleinigen Interessen des britischen Handels zu dienen schien, desto größeren Unmut würde London bei den davon Betroffenen hervorrufen. Wenn man sich einmal der Anschaulichkeit halber einer Verallgemeinerung bedienen wollte, so könnte die Funktionsweise dieses Mechanismus mit der Clausewitzschen Beschreibung des kontinentalen Mächtegleichgewichtes als eines Netzwerkes sich überschneidender Interessen verglichen werden. Dieses elastische >Netz< tendierte stark dazu, zu seiner ursprünglichen Form zurückzukehren und so die Existenz unabhängiger Staaten eher zu bewahren, als sich den großen Umverteilungen von Macht anzupassen. Je stärker eine Macht versuchte, die >natürliche< Form des Netzes zu verändern, desto enger schweißte dies die entgegenwirkenden Mächte, die es in seinen Ursprungszustand zurückzuversetzen suchten, zusammen. Eine Macht, die sich nicht im Konflikt mit dem gesamten Netzwerk befand, hätte ein stärkeres Interesse daran, es zu verteidigen, als es umzuformen. Dieser Mechanismus stellte die letzte Garantie für nationale Sicherheit dar29. Dieses Verständnis vom kontinentalen Mächtegleichgewicht (das Clausewitz einzig bekannte) könnte auf die See ausgeweitet werden, um zu veranschaulichen, warum eben die Sicherheit zweitrangiger Seemächte nicht davon abhing, daß sie der vorherrschenden Macht ebenbürtige Marinen besaßen. Ausgerechnet Bismarck erklärte dem Reichstag im Jahre 1885, warum Frankreich (oder auch Deutschland), um sich seiner Besitzungen sicher zu sein, nicht danach streben müsse, mit Großbritannien zu konkurrieren. Er lehnte das Argument ab, daß Deutschland nur dann eine Kolonialpolitik verfolgen könne, wenn es auf See genauso mächtig wäre wie —

27 28

29

British Documents on the Origins of the War, Bd 3, S. 402 f. ist, im Blick auf Friedenszeiten davon zu sprechen, Spätere Kapitel werden zeigen, daß es falsch daß Großbritannien die >Seeherrschaft< besessen habe. Herrschaftsausübung war eine Kriegszu einer handlung, da im Begriff impliziert ist, daß eine Macht von der maritimen Vorherrschaft Art direkter Kontrolle übergegangen ist, die ein Merkmal der Hegemonie einer Landmacht darstellt. Hierin liegt auch die Begründung dafür, daß Clausewitz die Wahrscheinlichkeit, durch die Funktionsweise des Mächtegleichgewichts Verbündete zu finden, in seiner Behandlung der Faktoren, die der Verteidigung des Staates dienten, als letztes besprochen hat; vgl. Clausewitz, Vom Kriege, VI, 6, S. 638-643.

IV. Maritimes

Gleichgewicht

71

Großbritannien: »dann hätten wir immer noch ein Bündnis von England und Frankreich zu fürchten. Die sind immer noch stärker, als eine einzelne Macht jemals in Europa sein kann und sein wird. Dies ist daher ein Ziel, das nie erstrebt werden kann«. Aber am Beispiel Frankreich könne man sehen, schloß Bismarck, daß sich eine schwächere Seemacht trotz allem ihrer kolonialen Besitzungen sicher fühlen könne, wenn sie sich nur auf ihr eigenes Vermögen, ihren Mut und ihr Prestige verließe, »sowie auf die Gerechtigkeitshebe anderer Staaten«30. Wenn das maritime Gleichgewicht die entlegenen kolonialen Besitzungen sicherte, konnte es kaum eine geringere Bedeutung für die Gewährleistung der gemeinsamen lebenswichtigen Interessen der schwächeren Seemächte haben. Kurz vor dieser Reichstagsrede war Bismarck in zwei Unterredungen mit dem französischen Botschafter, Baron Courcel, auf den Vorschlag eines anti-britischen Bündnisses zurückgekommen. Bismarck verwies auf das Bündnis der >Bewaffneten Seeneutralitätx (1780) und schlug vor, gemeinsam mit Frankreich ein maritimes Gleichgewicht herzustellen. Großbritannien solle erkennen, daß, »si les marines des autres nations s'unissent, elles lui feront contrepoids sur l'Océan, et l'obligeront à compter avec les intérêts d'autrui. Pour cela, il faut qu'elle s'habitue à l'idée qu'une alliance franco-allemande n'est pas une chose impossible. Au bout de compte, cette coopération des marines secondaires, groupées autour de la France pour résister à la prépondérance de la marine anglaise, est dans les traditions de votre politique«. Der deutsche Reichskanzler beendete seine Ausführungen mit dem Hinweis, daß

dies die Idee Napoleons »des Großen« gewesen sei und daß ihm dies auch von Napoleon III. bei ihrem ersten Zusammentreffen im Jahre 1857 nahegelegt worden sei31. Die Analogie zum kontinentalen Gleichgewicht hilft bei der Veranschaulichung der Rolle, die eine zweitrangige Marine bei der Verteidigung nationaler Sicherheit spielen konnte. Es gab jedoch auch wichtige Unterschiede bei der Funktionsweise des maritimen Gleichgewichtes in der Moderne. Ein Seekrieg wurde in einem anderen politischen Rahmen geführt als ein Krieg zu Lande. Dies war deshalb der Fall, weil der Schauplatz, auf dem der Konflikt ausgetragen wurde, für die unbeteiligten Staaten von gleicher Bedeutung war. Im Landkrieg konzentrierten sich Politik und Strategie fast ausschließlich auf die gegnerische Beziehung zwischen den Kriegsteilnehmern. In Kriegen zwischen Seemächten mußten die Antagonisten jedoch auch eine dritte Partei einkalkulieren: die neutralen Staaten. Seekrieg, in viel stärkerem Ausmaße als Landkrieg, »involved the interests of nations not otherwise entangled in the combat between the belligerents32«. 30

31

32

Rede vom 10.1.1885, zit. in Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 31. Documents diplomatiques français, Bd 5, Nr. 246, 247, 249, 404, 405, 407, 25.4.1884 (S. 268); Nr. 407, 23.9.1884 (S. 424). Vgl. Taylor, The Struggle for Mastery, S. 295-298; Bismarcks Briefe an den deutschen Gesandten in St. Petersburg aus den Jahren 1885 und 1887, Die große Politik, Bd 14, S. 416, Bd 6, Nr. 1253; und Steinmetz, Bismarck und die deutsche Marine, S. 72. Kulsrud, Maritime Neutrality, S. 107. Ich bin Kulsrud sehr zu Dank verpflichtet für seine erhellende Darlegung der Beziehung zwischen Machtpolitik und Seerecht. Das gleiche gilt für Coogan, The End of Neutrality, S. 17 f.

Erster Teil

72

Wie Crowe feststellte, hatten die zweitrangigen Seemächte ein gemeinsames Interesse daran, einen britischen Angriff auf die lebenswichtigen Interessen einer oder aller Mächte zu verhindern, besonders wenn dieser deren nationale Souveränität verletzen oder in deren ungehinderten Zugang zum Seehandel eingreifen sollte. Hier gilt dann auch die Analogie zur Clausewitzschen Beschreibung der Wirkungsweise des Gleichgewichtes: Der Versuch, die maritime Vorherrschaft Großbritanniens in eine Hegemonie zu verwandeln, würde die Formierung einer Koalition zur Verteidigung gemeinsamer Interessen provozieren. Das Besondere am politischen Rahmen des Seekrieges war die Tatsache, daß es auch neutralen Mächten darum ging, ihnen wichtige Interessen in Konflikten zu verteidigen, an denen sie selbst nicht direkt beteiligt waren. Das Ausmaß, in dem die kriegführenden Mächte ihre Seemacht gegeneinander einsetzen konnten, wurde durch das Maß begrenzt, mit dem die neutralen Mächte auf der Wahrung ihrer Rechte bestanden. Die Regeln des Seekriegsrechtes waren Ausdruck dieses speziellen Aspektes der Seekriegführung. Selbst wenn ein reiner Seekrieg ohne kontinentale Dimension sich denken ließe, der die gemeinsamen Interessen der zweitrangigen Mächte in lebenswichtigen Fragen nationaler Sicherheit nicht herausforderte, hätten die neutralen Mächte immer noch bedeutende Interessen gegen die Anmaßungen der Kriegführenden zu verteidigen. In einem solchen hypothetischen Fall wären sie weniger um den Ausgang des Krieges besorgt als um die Art und Weise der Kriegführung. Die Kaufleute würden nicht nur auf die ungehinderte Nutzung der See als Verkehrsader hoffen, sondern auch darauf, sich auf Kosten der Kriegführenden zu bereichern, indem sie ihnen soviel von ihrem Handel wie möghch wegschnappten. Es war dieses Wechselspiel zwischen den drei Parteien, den Kriegführenden und den Neutralen, welches den Seekrieg vom Landkrieg unterschied. Solche Kriege stellten »on the one hand a struggle between belligerents, on the other a contest between one or both belligerent parties and the neutrals«33 dar. Die Bemühungen der Kriegführenden, durch die Unterbindung des Handels mit dem Gegner Druck auf den anderen auszuüben, wurden durch die Handelsinteressen der Neutralen behindert, die ihren eigenen Handel ungeachtet des Krieges fortsetzen und auf Kosten der Kriegführenden ausdehnen wollten. Wenn sie die Respektierung ihrer Interessen forderten und ihre Forderungen mit Seemacht untermauerten, riskierte es der Kriegführende, der diese Interessen ignorierte, zusätzlich zu der Kampfkraft des Gegners noch mit der vereinten Stärke der Neutralen konfrontiert zu werden. Diese Bedrohung stellte für die vorherrschende Seemacht mehr als für alle anderen ein Hemmnis dar, weil sie am ehesten versucht war, ihr Potential in vollem Umfang zu nutzen34. Dadurch aber riskierte sie, sich die Neutralen zu Gegnern zu machen und sie zu einer militärischen Reaktion zu provozieren. Umgekehrt hatte

33 34

Kulsrud, Maritime Neutrality, S. 108.

In der Sprache der Marinestrategie wird die Kontrolle, welche die Drucks ermöglicht, als >Seeherrschaft< bezeichnet.

Ausübung

wirtschaftlichen

IV. Maritimes

Gleichgewicht

73

der schwächere Kriegführende ein Interesse daran, die Rechte der Neutralen zu wahren und sie zu ermutigen, sich zu organisieren, um diese aufrechtzuerhalten35. Dieser spezielle politische Rahmen des Seekrieges schlug sich in der Entwicklung des Seekriegsrechts nieder. In der Frühen Neuzeit, als zentralisierte Staaten ein Gewaltmonopol gewannen, rangen verschiedene Seemächte um die führende Stellung. Es entwickelte sich ein Kräftegleichgewicht, das dem europäischer Staaten zu Land ähnelte, welches aber Regeln folgte, die die Betroffenen zu ihrem eigenen Nachteil ignorierten. Trotz ständig wechselnder Konstellationen innerhalb dieser Staatengemeinschaft wurde ein Kodex völkerrechtlicher Bestimmungen geschaffen, um die Verhältnisse zwischen den Kriegführenden und deren eigenen Kaufleuten, wie auch denen der neutralen Staaten, mit denen sie in Kontakt kamen und in Konflikt gerieten, zu regeln. Das Seekriegsrecht war über Jahrhunderte die wichtigste und ausgefeilteste Sammlung des Völkerrechts in Europa. Im Gegensatz zu den viel späteren und zum großen Teil erfolglosen Versuchen, die Gesetze des Landkrieges zu kodifizieren36, stellte der Kodex des Seekriegsrechts in der internationalen Politik eine reale Größe dar. Er wurde in letzter Instanz von der maritimen Stärke, die hinter ihm stand, sanktioniert und war Ausdruck der Kräftebalance, die zwischen Kriegführenden und Neutralen zu jeder Zeit gegeben war. Die Rechte der Neutralen setzten der ungehinderten Ausübung von Seemacht Grenzen solange die Neutralen von den ihnen zur Verfügung stehenden Kräften Gebrauch machten, um diese Rechte aufrechtzuerhalten37. Dennoch gab es keinen reinen Seekrieg, und das maritime Kräfteverhältnis kann nicht isoliert untersucht werden es war untrennbar verbunden mit dem kontinentalen Kräftegleichgewicht. Letzteres hatte bei den Überlegungen neutraler Mächte (in Europa) immer Priorität genossen. Unabhängig davon, wie viel sie durch den Handel mit den Kriegführenden verdienen konnten, lag es nicht in ihrem Interesse, das Erstarken einer Kontinentalmacht zu fördern, die ihre nationale Unabhängigkeit bedrohen konnte. Wenn es keine unmittelbare Bedrohung des Mächtegleichgewichtes zu Land gab, taten sich die neutralen Mächte zusammen, um der Beanspruchung ungehinderter Rechte des Kriegführenden durch die vorherrschende Seemacht entgegenzutreten. In den Fällen, in denen der schwächere Seekriegführende eine große Landmacht war und sich auf einen europäischen Eroberungszug begab, verflüchtigte sich das Bestreben der Neutralen, der Geltendmachung der Rechte der Kriegführenden zu widerstehen. In Hegemonialkriegen brach die Neutralität zusammen, weil die unmittelbare Gefahr, die die kontinentale Hegemonie einer Landmacht verkörperte, die durch die vorherrschende Seemacht entstandenen kommerziellen Unannehmlichkeiten überlagerte. Der pohtische Rahmen, in dem sich der Seekrieg vom Landkrieg unterschied, wurde in dem Raum zwischen der durch eine Macht drohenden kontinentalen Hegemonie und den anmaßenden Forderungen der vorherrschenden Seemacht —





-

35 36 37

Kulsrud, Maritime Neutrality, S. 70, 110. Roberts, Land Warfare. Phillips/Reede, Neutrality, S. 11, 15, 17; Coogan, The End of Neutrality, S. 20, 24, 27, 53; Ripp, The Development of a Modern Navy, S. 319.

Erster Teil

74

errichtet. Innerhalb dieses Raumes waren die Rechte der Neutralen und das Seekriegsrecht ein bei maritimen Konflikten zu beachtendes Faktum, durch das den Kriegführenden, insbesondere der vorherrschenden Seemacht, Grenzen gesetzt wurden. Wenn die vorherrschende Seemacht sich allerdings in einem gegen die hegemonialen Ambitionen einer Kontinentalmacht gerichteten Konflikt befand, brachen Neutralität und Seerecht zusammen. Die Ereignisse des letzten Drittels des achtzehnten Jahrhunderts veranschaulichen die Funktionsweise der maritimen Kräftebalance, wie eine Verschiebung der wechselseitigen Beziehungen maritimer Mächte Änderungen im Seerecht mit sich brachte und warum das Seerecht außer Kraft trat, als das kontinentale Gleichgewicht bedroht erschien. Gegen Ende des Siebenjährigen Krieges erreichte die britische Seemacht ihren Höhepunkt. Trotzdem lehnte das Kabinett 1761, obwohl sich die Royal Navy einer nahezu unbestrittenen maritimen Vormachtstellung erfreuen konnte, Pitts Ruf nach einer Weiterführung des Krieges gegen Frankreich ab. Der Duke of Bedford wies darauf hin, daß ein Seemachtmonopol aus der Perspektive der Neutralen »at least as dangerous to the liberties of Europe as that [monopoly of land power] of Louis XIV« sein würde38. Das Kabinett befürchtete, daß die neutralen Mächte, sobald Frankreichs kontinentale Ambitionen beschnitten wären, die britische Einmischung in ihren profitablen Seehandel nicht länger dulden würden. Dies wurde im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg nachhaltig bestätigt. Frankreichs Beteiligung in diesem Konflikt stellte einmal keine Bedrohung der kontinentalen Mächte dar. In einer bemerkenswert kurzen Zeitspanne hatte es eine ungeheuer starke Marine neu geschaffen, welche die Royal Navy in mehrerlei Hinsicht übertraf. Die französische Unterstützung der amerikanischen Kolonien konnte unter dem Banner einer populären Kampagne für die >Freiheit der Meere< gegen die Anmaßungen des britischen >Tyrannen< vonstatten gehen39. Als Großbritannien versuchte, seine traditionellen Rechte des Kriegführenden in vollem Maße zur Geltung zu bringen, taten sich die nördlichen Seemächte im Bündnis der >Bewaffneten Seeneutralität< (1780) zusammen40. Sie weigerten sich, die Gültigkeit der >01d Rule< oder >Rule of 1756< zu akzeptieren, und verlangten die Anerkennung der Immunität des neutralen Handels41. Zum ersten Mal war Großbritannien zum Nachgeben gezwungen und mußte das neue Prinzip >Frei Schiff, frei Gut< anerkennen ein Wandel, von dem die französischen Kriegsanstrengungen wirtschaftlich profitierten42. Großbritanniens Isolation und maritime Schwäche trugen bedeutend zu seiner militärischen Niederlage in den rebellierenden Kolonien bei. Dieser Kontext veranschaulicht eine wichtige Folge des besonderen politischen Rahmens von Seekrieg. Es war im Interesse des schwächeren Seekriegführenden, die Rechte der Neutralen zu wahren und die neutralen Mächte dazu zu ermutigen, sich zusammenzuschließen, um diese zu verteidigen. Solange Frankreich keinen —



-

38

39 411 4'

42

Zit. nach: Kennedy, The Rise and Fall of British Naval Mastery, S. 132. Kulsrud, Maritime Neutrality, S. 9- 12; Girault de Coursac, Guerre d'Amérique. Feldbaek, Dansk neutralitetspolitik. Kulsrud, Maritime Neutrality, S. VI, 79-82, 106, 111, 113, 150. Ebd., S. 59, 99, 125, 138; Semmel, Liberalism and Naval Strategy, S. 14-16.

IV. Maritimes

Gleichgewicht

75

expansionistischen Eroberungszug durch Europa plante, konnte es auf die Unterstützung der Neutralen hoffen. Doch nur wenige Jahre nach der Gründung des Bündnisses der >Bewaffneten Seeneutralität< begannen die neutralen Mächte zu fürchten, daß britische Schwäche das Tor für ein neuerliches französisches Hegemoniestreben öffnen würde, und sie pochten nicht mehr auf die bedingungslose Respektierung ihrer Rechte: »Fear of French domination set a line of demarcation beyond which aid given to France could not extend, and reduced the remon-

of the neutral maritime powers in the second half of the war to little more demonstrations. [...] It was clearly recognized that the unimpaired of Great Britain was essential to the maintenance of the balance of power strength in Europe43.« Die Französische Revolution brachte weitere Veränderungen mit sich. Von Beginn des Krieges 1793 an Heß Frankreich von seiner zuvor erfolgreichen Politik der Respektierung der neutralen Flagge und der Ermutigung der Seemächte, sich gegen Großbritanniens Anspruch auf die Rechte des Kriegführenden zu vereinen, ab. Vielmehr verlangte es ausgedehnte Rechte des Kriegführenden für sich selbst, indem es sich auf einen uneingeschränkten Wirtschaftskrieg verlegte, zu dem der Kaperkrieg ebenso zählte wie eine ganze Reihe von Maßnahmen im Rahmen der selbstauferlegten Handelssperre, die in der napoleonischen Kontinentalsperre gipfelten44. Dennoch drohte dieser Übergang vom Kabinetts- zum Volkskrieg zur See nicht, die Neutralität auszulöschen. Im Gegenteil, wenn beide Kriegführenden von ihren Rechten umfassenden Gebrauch zu machen suchten, verschlimmerten sie die Konflikte mit den Neutralen45. Es waren die Drohung einer französischen kontinentalen Hegemonie und die britischen maritimen Gegenmaßnahmen, welche die neutralen europäischen Mächte dazu veranlaßten, die Verteidigung ihrer Rechte aufzugeben, und sie zwangen, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden46. Die erfolgreichen Feldzüge der französischen Armee sorgten dafür, daß die Erneuerung des Bündnisses der >Bewaffneten Seeneutralitätx nur von kurzer Dauer war. Es fiel der britischen >Force majeure< im Angriff auf Kopenhagen (1801) und der wachsenden Besorgnis Rußlands im Bück auf die französischen Ambitionen zum Opfer47. Als sich Napoleon dann nach 1805 die Hegemonie über den Kontinent zu sichern suchte, waren die Seemächte nicht mehr in der Lage, auf der Anerkennung der grundlegenden Rechte der Neutralen zu bestehen. Dänemark-Norwegen versuchte dies zwar, wurde aber durch die britische Beschlagnahme seiner in Kopenhagen liegenden Flotte (1807) in ein Bündnis mit Frankreich gedrängt. In Europa war die Neutralität und die damit einhergehenden Rechte im Ringen zwischen der hegemonialen Macht auf dem Kontinent und der Herrscherin der Meere erdrückt worden. Nur noch die Vereinigten Staaten fühlten sich sicher genug, sich für die >Freiheit der Meere< einzusetzen. Jahre des Gegensatzes in bezug auf die strances

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43 44

« 4Í>

47

Kulsrud, Maritime Neutrality, S. 326 f. Ebd., S. 139; Phillips/Reede, Neutrality, S.

27

ff, 49 ff; Coogan, The End of Neutrality, S.

Phillips/Reede, Neutrality, S. 73-94. Hattendorf, Maritime Conflict; Phillips/Reede, Neutrality, S. 95 ff. Semmel, Liberalism and Naval Strategy, S.

21 ;

Feldbaek, Denmark and the Armed Neutrality.

19 f.

Erster Teil

76

britische Praxis des Durchsuchungsrechts gipfelten 1812 im Krieg zwischen den beiden Ländern48. Diese Ereignisse des halben Jahrhunderts zwischen dem Siebenjährigen Krieg und dem Ende der Napoleonischen Kriege geben Aufschluß über die Parameter, innerhalb derer der besondere politische Rahmen der Seekriegführung lag. Das Seerecht spiegelte die Entwicklung der maritimen Kräftebalance und die Interessenkonflikte der betroffenen Staaten: »If the world wars of 1793-1815 established one legal principle beyond challenge, it was that neither belligerents nor neutrals could dictate maritime law. Future law, like past law, would be shaped by belligerents and neutrals balancing contradictory interests on the seas against the political and strategic implications of possible policies«49. Während des langen Friedens, der auf die langen französischen Kriege folgte, kulminierte die allmähliche Herstellung eines neuen maritimen Mächtegleichgewichtes mit der Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 in einem sehr bedeutenden Wandel des maritimen Kriegsvölkerrechts: Großbritannien entschloß sich, scheinbar aus freien Stücken, die Immunität der neutralen Flagge anzuerkennen, womit es das Völkerrecht dem Ideal der >Freiheit der MeereKriegsgebiet< vermint und gefährlich erklärte70; die folgende deutsche Bekanntmachung einer durch Unterseeboote durchgesetzten Kriegszone war nicht weniger ein Rechtsbruch, aber sie stellte eine nicht so wahllose Bedrohung neutraler Leben und neutralen Besitzes dar wie die britischen Minen71. Diese Maßnahmen standen in direktem Widerspruch zur britischen Vorgehensweise im Russisch-Japanischen Krieg und zu der Position, die Großbritannien auf der zweiten Haager Friedenskonferenz von 1907 und der Londoner Seerechtskonferenz von 1909 vertrat; sie waren schließlich auch unvereinbar mit den Bestimmungen der Pariser Seerechtsdeklaration, die es 1856 unterzeichnet hatte72. -



66 67 68 Fleet-in-being< zu behalten. Im Zeitalter des Dampfantriebes war der Sieg so gut wie sicher. Für demjenigen mit der zahlenmäßigen eine schwächere Schlachtflotte war es daher sinnlos, sich auf ein Kräftemessen mit einem stärkeren Gegner einzulassen im Selbstmord lag kein militärischer Nutzen. Es war daher eine logische Schlußfolgerung Aubes, daß es in einem künftigen Krieg keine Schlachten bis zum letzten Mann geben würde, daß die Seeherrschaft automatisch der stärkeren Seite zufallen würde, daß die sich gegenüberstehenden Schlachtflotten während des Krieges aus Angst vor Torpedoangriffen in ihren Häfen bleiben würden und daß die schwächere Seite sich zum Handelskrieg als einziger Alternative zur Tatenlosigkeit gezwungen sehen würde. Aubes Schlußfolgerungen entpuppten sich als exakte Vorhersage einiger der hervorstechendsten Merkmale des Krieges zur See in den Jahren 1914 bis 191879. Obgleich Aubes Zweifel bezüglich des Nutzens des Schlachtschiffes etwas voreilig waren, stellten sie ein Korrektiv zum Verständnis von Seeherrschaft und der zentralen Rolle der Schlachtflotte, wie es von der »Blue Water Schook vertreten wurde, dar. Gegen Ende des Jahrzehnts waren Colombs historische Darstellungen zu der fundamentalen Rolle der Seeherrschaft für Großbritannien erschienen, und Mahan hatte ihm beigepflichtet; beide bestanden darauf, daß das Erlangen und Ausüben von Herrschaft mit den Mitteln der Entscheidungsschlacht und der Blokkade die Aufgabe von Schlachtschiffgeschwadern sei. Noch ehe ihre Ausführungen ein breites Publikum in vielen Ländern überzeugt hatten, sagte Aube voraus, daß der technologische Wandel den Wert ihrer Thesen deutlich relativieren würde. Wenn die Seeherrschaft, wie dies Herbert Rosinski viel später hervorgehoben hat, die Fähigkeit beinhaltete, den Gegner zu beherrschen, so würde sich das dem Schlachtschiff hierbei zufallende Gewicht verringern. Es wäre unwahrscheinlich, daß es zu irgendwelchen entscheidenden Schlachten kommen würde, und die Blockade wäre für Schlachtschiffe mit zu vielen Gefahren verbunden. In der Tat würden die Schlachtflotten zunehmend durch den Zwang, welche kleinere Schiffe über sie ausüben konnten, in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt80.

Überlegenheit



79

80

Ceillier, Les idées stratégiques, S. 228 f.; Ropp, Coutau-Bégarie, La puissance maritime, S. 66.

The

Development

of

a

Modem

Navy,

S. 166 f.;

Dies trifft sich mit den neuen Forschungsergebnissen von Jon Sumida und Nicholas Lambert und dem, was sie über die Ziele Sir John Fishers in den Jahren 1904 bis 1914 aufgedeckt haben.

112

Zweiter Teil

Die Seeherrschaft selbst, obgleich sie als das zentrale theoretische Konzept bestehen blieb, büßte mit dem Aufkommen von Waffensystemen wie dem Unterseeboot und den damit verbundenen Möglichkeiten ihren absoluten Rang ein. 1894

betonte Mahan, daß die (theoretische) Unteilbarkeit der Herrschaft dem sie Ausübenden in der Seekriegführung das offensive wie das defensive Vorgehen ermögliche81. Allerdings, so kommentierte John Gooch die Sachlage, »even as he wrote, [technological] developments were taking place that made it doubtful whether command of the sea, as he conceived it, could ever be won [...] If command of the sea was the essence of naval strategy, then that essence was no sooner identified than it evaporated82.« Die überlegene Marine vermochte vielleicht noch, das Gros der Streitkräfte des Gegners und dessen Handelsflotte zu kontrollieren, aber weder eine Militär- noch eine Handelsblockade konnte umstandslos durch eine Nahblokkade der Häfen des Gegners oder durch Schlachtschiffgeschwader ausgeführt werden. Mit einer Strategie der »Seeverwehrung« (sea denial) konnten die Hauptziele der »Seeherrschaft« erreicht werden allerdings mit anderen Mitteln. Das Maß an Seeherrschaft jedoch, welches man imstande war aufzubauen, würde Handelsstörer vermutlich nicht davon abhalten, den verwundbaren Handelsverkehr anzugreifen. Aube sah einige dieser Entwicklungen voraus und bewertete sie wie folgt: »ce sceptre vermoulu plus qu'à demi brisé«83. Aubes übertriebene Hoffnungen auf die technologischen Möglichkeiten führten allerdings dazu, daß er die Wirkung der Veränderungen in seiner eigenen Zeit überschätzte. Dies zeigen sein Optimismus bezüglich der Möglichkeiten der Kreuzerkriegführung auf hoher See und der Enthusiasmus, mit dem er das »autonome« Torpedoboot begrüßte. Gabriel Charmes übertraf Aube sogar noch in seiner Begeisterung über das Hochsee-Torpedoboot. Zu einer echten Revolution auf diesem Gebiet kam es aber erst nach der Jahrhundertwende, als noch vor dem Ersten Weltkrieg der Dieselmotor das hochseetüchtige Unterseeboot ermöglichte. Dieses Seekriegsmittel »torpedierte« die durch Schlachtflotten ausgeübte Herrschaft und machte den Angriff auf die Handelsschiffahrt wieder zu einer stärkeren Waffe: »in two world wars, despite having unprecedented naval supremacy over its continental rival, Britain was to come closer than ever before to being defeated at sea [...] That Britain did not in the end lose the war at sea was not due to any inherent limitations of commerce-destroying«, sondern lag an den schier endlosen Ressourcen seines gigantischen Verbündeten, den Vereinigten Staaten84. Charmes, der Journalist, der der führende Propagandist der »Jeune Ecole« wurde, übersteigerte Aubes Ideen und fügte einige eigene hinzu, die das Konzept des »Guerre industrielle« noch weiter radikalisierten. Er wies wiederholt darauf hin, daß die wirtschaftliche Kriegführung der Zukunft nicht nur Angriffe auf den Seehandel, sondern auch auf die Zivübevölkerung der Küstenstädte des Gegners mit sich —

81 82 83 84

Demzufolge strebte er an, für die Beherrschung des Gegners nicht mehr die überlegene Schlachtflotte, sondern Schlachtkreuzer sowie Untersee- und Torpedobootflottillen einzusetzen. Mahan, Blockade. Gooch, Maritime Command, S. 37. Aube, La guerre maritime, S. 326. Gat, Development of Military Thought, S. 203 f.

I. Der britische und der französische

Übergang in die Moderne

113

brächte85. In drei großen Artikeln in der Revue des deux mondes86 und in zwei Büchern, erschienen in den Jahren 1884 bis 1886, wiederholte Charmes immer wieder Aubes Argumente und ebnete dem Admiral so den Weg für seine Arbeit als Marineminister. Charmes ist vor allem wegen seiner grenzenlosen Begeisterung für das »autonome« Torpedoboot in Erinnerung geblieben, welches nicht nur die Totenglocke für das Schlachtschiff geläutet habe, sondern auch gegen den Handel des Gegners auf hoher See vorgehen könne. Die einzige für die Schlachtschiffe übrigbleibende Aufgabe bestand, folgt man Charmes, in der Bombardierung von Küstenbefestigungen und -Städten eine Aufgabe, die genausogut von ungepanzerten Kanonenbooten, die mit jeweÜs einer großen Kanone ausgestattet waren, ausgeführt werden konnte. Diese waren nicht nur klein und von einer Küstenbatterie schwer zu treffen, sie kosteten auch nur einen Bruchteil dessen, was für ein Schlachtschiff aufzuwenden war. Charmes schlug vor, das aktuelle Bauprogramm von vierzehn Panzerschiffen schlichtweg zu streichen. Die enormen Gelder, die für deren Fertigstellung benötigt wurden, solle man in andere Kanäle fließen lassen87. Nachdem er bewiesen hatte, daß das Mammut der Meere von den Mikroben besiegt worden war88, ging Charmes dazu über, das Büd des künftigen Seekrieges zu zeichnen. Er schloß sich Aubes Meinung an, daß die Einführung des Dampfantriebes und des Torpedos die Bedeutung der Seeherrschaft gemindert hatte. Sie würde in Zukunft kampflos an die Seite mit den meisten Geschwadern fallen; dies bedeutete jedoch nicht, daß der Seekrieg schlechthin zu einem Ende kommen würde. Eine Blockade der französischen Küste konnte schnelle Kreuzer nicht daran hindern, auf die hohe See zu gelangen und auch wieder in einen Hafen einzulaufen89. In einem Krieg zwischen Großbritannien und Frankreich würde die französische Flotte zerstört oder von der Royal Navy blockiert werden. Französische Kreuzer würden aber dennoch ständig entwischen, um auf den großen Handelsrouten zu patrouillieren. Dort würden sie einen rücksichtslosen Handelskrieg gegen die britische Handelsflotte führen. Als Regel für den »Guerre de course« galt: »tomber sans pitié sur le faible et fuir sans fausse honte de toute sa vitesse devant le fort«90. Charmes schloß seine Beschreibung des Zukunftskrieges zur See mit der Hervorhebung der Vorzüge, die ein solcher mit sich brächte. Das scheinbar Barbarische an dieser neuen Waffe in den Händen der schwächeren Macht würde in der Tat eines Tages die vollkommene Freiheit der Meere sichern. Sie würde das Szepter aus den Händen weniger bevorzugter Nationen reißen, es zerbrechen und die Stacke unter allen verteilen: »le triomphe de l'égalité«. Im Jahre 1885 brachten Aube und Charmes ihre radikalsten Vorschläge an die Öffentlichkeit. Früher hatte sich Aube für die Bombardierung von italienischen -

85 86

Bueb, Die »Junge Schule«, S. 18 f. Charmes, La réforme de la marine, 1: Torpilleurs time

87 88

s' '»

et

et cannonières (15.12.1884); 2: La guerre ltorganisation de la force navale (1.3.1885); 3: Défense des côtes (15.4.1885).

Charmes, La réforme de la marine, S. 905. Charmes, La réforme de la marine, S. 127. Ebd., S. 137 f. Ebd., S. 141.

mari-

Zweiter Teil

114

Küstenstädten in einem Krieg mit Italien ausgesprochen. Italien besaß keine bemerkenswerte Handelsmarine, und eine Blockade wäre von geringer Wirkung. Zerstörungen längs der italienischen Küste wären der einzige Weg, auf dem die französische Marine den Krieg in die Heimat der Italiener tragen könnte91. Charmes griff diese Idee auf und machte den Vorschlag, diese Taktik im »Guerre industrielle« gegen Großbritannien einzusetzen: »In einem Krieg gegen England werden wir, statt töricht zu versuchen, die Forts von Gibraltar und Malta zum Schweigen zu bringen, auf Englands Herzstück zielen, das heißt auf seine Handelshäfen, und so den Ruin des Landes, den die Kreuzer eingeleitet haben, vollenden92.« Unter dem Einfluß von Charmes Begeisterung für das »autonome« Torpedoboot verfiel Aube auch noch auf die Idee, die Boote für die Vernichtung des Handels auf hoher See einzusetzen. Dies lief auf eine vollständige Mißachtang des Völkerrechts nach den Richtlinien der Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 hinaus. Kein Torpedoboot konnte ein Prisenkommando an Bord eines großen Handelsschiffes des Gegners schicken oder es dazu zwingen, den nächsten Hafen anzulaufen. Auf einen solchen Befehl »le

capitaine du paquebot répondrait par un obus bien pointé, qui enverrait au fond le torpilleur, son équipage et son chevaleresque capitaine, et, tranquülement, ü poursuivrait sa route, un moment interrompue. Donc, le torpilleur suivra de loin, invisible, le paquebot qu'ü aura reconnu, et la nuit faite, le plus silencieusement et le plus tranquillement du monde, ü enverra aux abîmes paquebot, cargaison, équipage, passagers, et l'âme non seulement en repos, mais pleinement satisfaite, le capitaine du torpilleur continuera

sa

croisière93.«

»Jeune Ecole« sagte für Großbritannien im Falle eines »Guerre industrielle« bittere Folgen voraus. Das Land war auf riesige Mengen von Nahrungs- und Rohstoffimporten zur Versorgung von Bevölkerung und Industrie angewiesen. Wie viele Geschwader würden zum Schutz dieser unzähligen Konvois vor den verheerenden Angriffen der Kreuzer vonnöten sein? Versicherungsraten würden ein Niveau erreichen, welches den Transport zur See unmöglich machen würde. Reeder würden gezwungen sein, ihre Schiffe an ausländische Firmen zu verkaufen. Andere Nationen würden nachziehen und sich den britischen Handel »unter den Nagel reißen«. Großbritannien würde seine Vormachtstellung sowohl als See- als auch als Industriemacht einbüßen. Das Ziel einer solchen Strategie lag nicht darin, die britische Bevölkerung auszuhungern oder die Industrie zu Fall zu bringen. Ziel war es, durch steigende Versicherungsprämien die Wirtschaft schwersten Erschütterungen auszusetzen, die auf die Preise für Nahrungsmittel und Rohstoffe durchschlagen würden. Schon allein die Aussicht auf derartige Erschütterungen werde wahrscheinlich bei Ausbruch des Die

Krieges

91 52

93 94

eine Panik mit unvorhersehbaren

Aube, La guerre maritime. Nach

Ropp, The Development of a Modern Navy, S.

Aube, Défense nationale, S. 12.

Ropp,

gesellschaftlichen Folgen

The

S. 220-223.

162.

of a Modern Navv, S. 162 ff; Marder, The Anatomy of British Sea Liberalism and Naval Strategy, S. 89 ff; Offer, The First World War,

Development

Power, S. 91; Semmel,

hervorrufen94.

I. Der britische und der französische

Übergang in die Moderne

I I5

Zeugen der Pariser Kommune erschien die Möglichkeit, in einem Land, welches in den 1880er Jahren derartig von Arbeitskämpfen gebeutelt wurde, eine gesellschaftliche Revolution zu entfesseln, als sehr real. Die Revolutionsfurcht würde die herrschenden Klassen in Großbritannien zum einlenken zwingen. Die Behauptung, daß die bloße Drohung mit Angriffen auf den Handelsschiffsverkehr unmittelbare und zerrüttende wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen für Großbritannien haben würde, war allerdings unrealistisch dies deshalb, weü sie die Tatsache unberücksichtigt ließ, daß wirksame Gegenmaßnahmen existierten. Staatüche Versicherung, Konvois und in letzter Instanz Massentransfers unter den Schutz der neutralen Flagge konnten eingesetzt werden, um eine Panik zu verhindern. Falls die Operationen gegen den Handel natürlich ausreichend lange werden konnten, bestand die Möglichkeit, Großbritannien in die Unfortgeführt zu terwerfung hungern. Der größte Makel in Aubes und Charmes Argumentation war jedoch, daß ein solcher Handelskrieg, ob nun von langer oder kurzer Dauer, zwangsläufig neue Gegner gegen Frankreich aufbringen würde. Wohl erkannten die beiden die Richtung, in die sich die Seekriegführung bewegte. Indem sie aber eine solche Strategie für Frankreich vertraten, ignorierten sie bewußt die Tatsache, daß der effektiven Ausübung offensiver Seemacht, ob nun von Seiten des überlegenen oder des schwächeren Kriegführenden, durch das Seerecht und die Interessen der Neutralen Grenzen gesetzt waren. Aube publizierte sogar 1874 einen Artikel zum Seerecht95. In selbigem beschwerte er sich darüber, daß die Folgen der Pariser Seerechtsdeklaration von Nachteil für die französische nationale Sicherheit seien. Mit der Zustimmung zur Immunität der Neutralen habe Großbritannien ein traditionelles Recht aufgegeben, welches in Wirklichkeit damals schon nicht mehr als ein Phantasiegebilde gewesen sei. Frankreich aber habe eine wahrhaft wirksame Waffe aufgegeben, als es der Abschaffung des Kaperwesens zugestimmt habe. Der Krieg selbst so Aube habe das Recht, Kaperbriefe auszustellen, sanktioniert als eines der verläßhchsten Mittel, den Gegner zu schwächen. Da die schwächere Schlachtflotte gegen die stärkere unter den Bedingungen des modernen Zeitalters nichts ausrichten könne, sei die schwächere Seemacht auf schnelle Schiffe angewiesen, um eine Blockade zu durchbrechen, um auf hoher See den Verfolgern zu entkommen und um den Handel des Gegners angreifen zu können96. Offensichtlich plädierte Aube für den Fall eines Krieges gegen Großbritannien für die Wiedereinführung des Kaperwesens, so daß die schnellsten Handelsschiffe für den vorgesehenen Handelskrieg verfügbar würden. Wenn dieser Artikel ein unbekümmertes Desinteresse an den Folgen einer Verwerfung der Pariser Seerechtsdeklaration signalisierte, so war die Sorglosigkeit, mit der Aube und Charmes ein Jahrzehnt später ihre Idee nächtlicher Überfälle propagierten, von arroganter Geringschätzung der Reaktionen Neutraler gekennzeichnet. Aube leitete seine Beschreibung des sich an den Postdampfer heranschleichenden Torpedoboots mit folgender Erklärung ein: »La guerre est la néga—



95

*

Aube, Un nouveau droit maritime. Ebd., S. 11, 19, 23.



116

Zweiter Teil

tion do droit. C'est [...] le recours à la force, reine du monde, d'un peuple tout entier dans l'incessant et universel combat pour l'existence. Tout est donc non seulement permis, mais légitime centre l'ennemi97.« Er schloß mit einer Verhöhnung der Idee vom Kriegsvölkerrecht und von Friedenskongressen. Damit ignorierte er die sehr realistische Einschätzung, daß das Seerecht aufrechterhalten würde, wenn die Neutralen das Gefühl bekämen, dies läge in ihrem Interesse. Aubes Verachtung des Völkerrechts wurde im folgenden Jahr von dem »gefürchtetsten Gegner« der »Jeune Ecole«, Admiral Bourgois, aufgegriffen98. Er wies darauf hin, daß die Vorstellungen der »Jeune Ecole« von der Handelskriegführung kaum geeignet waren, die Auslöschung von Leben und Besitz von Bürgern neutraler Staaten zu vermeiden. Nachdem er Aubes Beschreibung des sich an den Postdampfer heranschleichenden Torpedoboots zitiert hatte, stellte er die Frage: »Comment le torpilleur, s'ü reste le jour à une distance qui le rende invisible, reconnaîtra-t-u la nationalité du bâtiment qu'il va détruire? Une erreur sur ce point sera facile à commettre et impossible à réparer99.« In der Fassung von Ropp lief das Argument von Bourgois auf die warnende Erinnerung an die dem Seerecht zugrundeliegende Dreiecksbeziehung hinaus: »The use of such methods would almost inevitably bring in all the neutral powers [Bourgois warned], not merely America or Holland but Italy and Germany, all of whose shipping passed through the waters in which Aube's boats were to do their work. It was not mere humanitarianism that prevented the use of such methods; it was the diplomatic fact, which the »rationalists« had forgotten, that such violations of laws of war would make the combination of England and Germany almost certain100.« Auf dem Höhepunkt dieser Kampagne ergab sich für die »Jeune Ecole« die Möglichkeit, ihre Ideen umzusetzen, als Admirai Aube im Januar 1886 zum Marineminister ernannt wurde. Auf diesem Posten sollte er sich kaum länger als ein Jahr halten können. In dieser kurzen Zeit bemühte er sich, so viel als möglich von seinem Programm durchzuführen. Er nahm eine Umverteüung der Flotte vor, so daß die Schlachtflotte in Toulon gegen Italien konzentriert wurde; alle Kreuzer, die in einem Krieg gegen Großbritannien gegen dessen Seehandel operieren sollten, wurden in Brest stationiert, und nur schwächere Kräfte wurden in Cherbourg zurückgelassen, um gegen Deutschland gewappnet zu sein. Ropp kommentierte dies wie folgt: »The general principles of Aube's new distribution were thus offensive in the Mediterranean, defensive in the Channel, and commercial warfare in the Atlantic101.«

Aube lenkte die Baupolitik in eine neue Richtung, so daß die Arbeit an den vier sich im Bau befindenden Schlachtschiffen abgebrochen wurde. Er beantragte außerordentliche Haushaltsmittel für den Bau einer großen Anzahl von Kreuzern, Kanonen- und Torpedobooten. Für die beiden letzteren Typen wurden neue Kon97 98

'>'>

"Kl i"i

Aube, Défense nationale, S. 11. Bcjurgois, Les torpilles, und ders., La guerre de course, la défense des côtes, in La Nouvelle (1886). Die Aufsätze wurden erneut veröffentlicht in Bourgois, Les torpilleurs.

Bourgois, Les torpilleurs, S. 16. Ropp, The Development of a Modem Navy, S. Ebd., S.

171.

169.

Revue

I. Der britische und der französische

Übergang in die Moderne

117

entworfen. Die Erfahrungen der folgenden Jahre sollten zeigen, daß Charmes viel zu optimistisch gewesen war, was deren Seetüchtigkeit, Seeausdauer, Geschwindigkeit und Stabilität als Waffenträger anbelangte. Versuche zeigten, daß Torpedos an sich schon ziemlich zielgenau waren; aber das Zeitalter des »autonomen« Torpedobootes, welches die Handelsverkehrswege im Atlantik unsicher machte, lag noch in weiter Ferne. Mit der zu Aubes Zeiten zur Verfügung stehenden Technologie konnten diese Boote noch nicht in größerer Entfernung von der Küste operieren. Eine wichtige Theorie Aubes jedoch wurde zum Teil als Ergebnis der von ihm initiierten Manöver bestätigt: Torpedoboote eröffneten eine realistische Option, eine enge Blockade der Küste zu brechen. Während dies noch nicht ausreichte, um seine umfassendere Behauptung zu unterstützen, daß die Seeherrschaft ihre Bedeutung verloren habe, zeigte es doch zumindest, daß es in Zukunft schwierig werden würde, eine enge Blockade der Küsten des Gegners aufrechtzuerhalten. Nicht viele von den Ideen der »Jeune Ecole« überlebten die Konfrontation mit der Wirkhchkeit in der Zeit, in der Aube als Minister fungierte. Aube, Charmes und ihre Anhänger in der Kammer und in der Presse mögen einige der neuen Faktoren, die dem Seekrieg der Zukunft Gestalt gaben, richtig analysiert haben; aus persönlichen und politischen Gründen waren sie im Übermaß optimistisch, was die Möglichkeit der Realisierung ihrer Pläne anbelangte. Als sich aber die Gelegenheit bot, einen radikalen Richtangswechsel durchzusetzen, mußte Aube zugeben, daß viele der Projekte nicht durchführbar waren. Mit seinem Ministerium konnte die »Jeune Ecole« die Marine aus der bis dahin vollständigen Kontrolle der konservativen aristokratischen Offiziere befreien. Aber ihre Revolution hatte sich ihrem Ziel noch nicht einmal auf halbem Wege genähert, als sie bereits steckenblieb. Sie Heß die Marine im Chaos zurück, so daß sich diese von der in der Folgezeit herrschenden politischen Richtungslosigkeit erst nach der Jahrhundertwende erholte. Der jährliche Wechsel von oftmals inkompetenten Politikern an der Spitze des Marineministeriums stellte das größte Problem dar. Hinzu kam der wachsende Einfluß der Ideen Mahans, was das seestrategische Denken in den 1890er Jahren noch stärker in zwei Lager spaltete: Verteidiger der Schlachtflotte kontra Anhänger der »Jeune Ecole«. In bezug auf die politische Praxis schadeten Aube, Charmes und deren Anhänger ihrer Marine mehr, als daß sie ihr Gutes taten. Was allerdings ihren Scharfblick bezüglich zeitgenössischer Trends und deren Wirkung auf den Krieg der Zukunft betrifft, war ihr Wirken erheblich ertragreicher. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die »Jeune Ecole« eine treffende Analyse zu den Folgen der Industrialisierung für die Seekriegführung und insbesondere für die Kriegführung einer schwächeren Seemacht anbot. Sie erkannte, daß Frankreich die wirtschaftüche Ausdauer fehlte, um mit Großbritannien im immer kostenintensiveren Bau moderner Schlachtschiffe zu konkurrieren. Scharfsichtig identifizierte sie mit der wirtschaftlichen Spezialisierung Großbritanniens neue Achillesferse ein Problem, das Frankreich (in dieser Form) nicht hatte. Sie sah, daß das Schlachtschiff gezwungen sein würde, bei der Erringung und Ausübung

struktionspläne



118

Zweiter Teil

der Seeherrschaft eine weit zurückhaltendere Rolle zu spielen, und daß sich für die Handelskriegführung auf hoher See neue Möglichkeiten auftaten102. Dennoch hatte ihr Ansatz auch seine Nachteile. Ob ihrer Fixierung auf ein französisches Kolonialreich, auf Großbritannien und auf die Technologie entzog sich ihr die bemerkenswerte historische Erkenntnis Grivels: daß die nationale Sicherheit einer schwächeren Seemacht eng verbunden war mit dem europäischen Gleichgewicht und mit dem gemeinsamen Interesse an der Aufrechterhaltang der Freiheit der Meere gegenüber anmaßenden britischen Forderungen. Grivel hatte außerdem darauf hingewiesen, daß der Handelskrieg als wirkungsvolle Waffe gegen Großbritannien eingesetzt werden könne, solange sich Frankreich im Rahmen der Pariser Seerechtsdeklaration bewege. Falls Frankreich an seinen Landesgrenzen den Frieden bewahren und das internationale Seerecht nicht verletzen würde, so könne es auf die passive, vielleicht sogar aktive Unterstützung seiner »natürlichen« maritimen Verbündeten zählen. Sollte es sich aber in militärische Operationen auf dem europäischen Fesdand hineinziehen lassen, würde es diese Unterstützung schwerlich finden können. Würde es zum Mittel des uneingeschränkten Handelskrieges zur See greifen, würde es sich schnell Feinde machen und um so rascher die eigene Niederlage herbeiführen. Dieses letzte Argument führte Admiral Bourgois in seiner scharfen Kritik an der »Jeune Ecole« an. Die Lehren Grivels und Bourgois waren gleichermaßen übertragbar auf andere Mächte des europäischen Kontinents mit einer starken Armee und einer schwachen Marine.

102

Ropp, Continental Doctrines of Sea Power, S. 449.

die

II. Die deutsche Gesamtstrategie und preußische Schule seestrategischen Denkens, 1871-1895

Wenn man sich die Entwicklung des seestrategischen Denkens in Deutschland nach 1871 ansieht, ist es angebracht, einige wichtige Unterschiede zwischen der Situation der deutschen Marine und jener der französischen und britischen festzuhalten. Erstens: Die deutsche Marine war eine brandneue Institution mit dürftigen historischen Wurzeln und keinerlei Erfahrung in der Seekriegführung1. Wie auch der Reichstag verdankte sie ihre Existenz einem Artikel in der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867. Diese beiden Institutionen waren die einzig wahrhaft nationalen im neuen Bund, aus dem 1871 das Deutsche Reich wurde2. Beide hatten eine kurze Geschichte, die mit den Geschicken des deutschen Liberalismus verwoben war. Ihre Tradition reichte nicht weiter zurück als bis zur Revolution von 1848, als sich das Frankfurter Parlament dazu entschied, zum Schütze der deutschen Küsten im Konflikt mit Dänemark um Schleswig und Holstein eine Flotte zu bauen. Als der Versuch fehlschlug, die Nation mit parlamentarischen Methoden zu einen, wurden die zum Teil durch Spenden patriotischer Organisationen finanzierten Schiffe versteigert3. Die in den späten 1850er Jahren wieder auflebende nationale Einigungsbewegung fing wieder an, Spendenbeiträge zu sammeln, um Preußen ein Kriegsschiff zu schenken. Dieses Projekt stand symboüsch für die Hoffnungen, die das liberale Bürgertum in die moralische Führung des Preußens der »Neuen Ära« setzte4. Unabhängig davon wurde dem Landtag im Jahre 1862 ein Bauprogramm vorgelegt, welches für die preußische Marine das Zeitalter des Panzerschiffes anbrechen lassen sollte. Nach dem Krieg mit Dänemark wurde ein ambitionierteres Zwölfjahresprogramm bewilligt. Diese Projekte legten den Grundstein für die Flotte, die 1867, zeitgleich mit einem durch das allgemeine Männerwahlrecht gewählten Reichstag,

geschaffen wurde5. 1

2

3 4

5

wenig aussichtsreichen preußischen Anfangen der Marine vor 1848 und ihrer langsamen Entwicklung in den 1850er und 1860er Jahren siehe Petter, Deutsche Flottenrüstung, S. 41-80; Duppler, Der Juniorpartner; Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 1-18, 37-85. Bis die Admiralität 1872 im Reich zu einer eigenständigen Behörde wurde, gehörte die Marine zum Verwaltungsbereich des preußischen Kriegsministeriums, vgl. Petter, Deutsche Flottenrüstung, S. 97 f., Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 85- 87. Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 19- 36. Koch, Die Sammlungen für die deutsche Flotte; Biefang, Politisches Bürgertum, S. 185-191. Lambi, The Navy, S. 1-4; Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 66, 71 f. Zu den

120

Zweiter Teil

Zweitens: Die Marine war der Armee vollkommen untergeordnet institutiound finanziell. Sie spielte nur eine geringe Rolle in den ReichseiniDas sogenannte Septennat gab dem Reichstag nur alle sieben Jahre gungskriegen. die Gelegenheit, über den Armeehaushalt zu debattieren und abzustimmen. Da die Armee den bei weitem größten Teil der Ausgaben der Reichsverwaltang für sich beanspruchte, stellte dies eine beträchdiche Beschneidung der budgetären Gewalten der gewählten Versammlung dar. Marineausgaben wurden, weil sie viel weniger wichtig waren, auf einer jährlichen Ad-hoc-Basis ausgehandelt. Die Armee beherrschte die strategische Ebene des Poütikgeschäftes. Wichtige Bereiche der Militär- und Marinepolitik unterlagen weiterhin der Prärogative der Krone. Dieser personelle Aspekt gereichte der Marine nach 1888 zum Vorteil, als Wilhelm II. mit seiner Begeisterung für maritime Expansion den Thron bestieg; davor allerdings hatte dies eher die Unterordnung unter die Armee verstärkt. Drittens: Die strategische Lage, mit der sich Deutschland nach 1871 konfrontiert sah, unterschied sich grundlegend von jener Frankreichs und Großbritanniens. Das Deutsche Reich war eine große Landmacht; es hatte gemeinsame Grenzen mit drei anderen großen Militärmächten des europäischen Kontinents und hatte gerade größere Kriege mit zweien von ihnen hinter sich. Es gab keinen Zweifel daran, daß das Bestehen Deutschlands als einer Großmacht davon abhängig war, daß es eine ausreichende militärische Stärke besaß, um sich gegenüber jedem einzelnen dieser potentiellen Gegner oder vielleicht sogar gegenüber mehreren zusammen, behaupten zu können. Die Marine konnte niemals eine entscheidende Rolle in einem Krieg gegen Frankreich oder Rußland, geschweige denn Österreich-Ungarn spielen. Des weiteren war Deutschland, obgleich es sich schnell industrialisierte, zu dieser Zeit nicht im entferntesten so abhängig vom Überseehandel oder von Nahrungsmittelimporten wie Großbritannien. Erst in den frühen 1890er Jahren widmete man dem Schutz überseeischer Versorgung zu Kriegszeiten überhaupt ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit allerdings legte sich dieses Interesse auch wieder schnell. Deutschland besaß ja auch, ungleich Frankreich, keine Kolonialgeschichte, welche ein Interesse an maritimen Angelegenheiten hätte wecken können, und seine ersten überseeischen Kolonien erwarb es Mitte der 1880er Jahre. Bis zur zweiten Hälfte der 1890er Jahre stand die Kaiserliche Marine im Schatten der Armee und wurde innerhalb des nationalen Verteidigungskonzeptes auf die Rolle eines aus dampfgetriebenen Panzerschiffen bestehenden »Küstenverteidigungskorps« verwiesen. Das öffentliche Interesse an der Marine war minimal, obgleich das liberale Bürgertum sie weiterhin mit Wohlwollen betrachtete. Diese institutionelle Isolierung wirkte als grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung des deutschen seestrategischen Denkens. Was immer an Theorien aufgestellt wurde, fußte nicht auf Untersuchungen zur Auswirkung der zeitgenössischen wirtschaftlichen Veränderungen auf die nationalen strategischen Zusammenhänge oder auf Lehren aus der historischen Erfahrung. Die Theorien entstanden vor dem Hintergrund der institutionellen und intellektuellen Unterordnung unter die erfolgreichste Armee der Welt.

nell, strategisch

-



II. Die deutsche

Gesamtstrategie

121

Daher verwundert es nicht, daß sich die Marine dem Einfluß des preußischen militärstrategischen Denkens nicht entziehen konnte. Sie übernahm dessen abstrakt-theoretischen Ansatz und dessen strategische Grundsätze. Die Verbindung war eine so enge, daß es für die ersten zwanzig Jahre mögüch ist, eine besondere preußische Schule seestrategischen Denkens zu identifizieren. Die Erfolge dieser Schule waren auch durchaus beeindruckend. Obgleich sie sich von einem sehr anderen theoretischen, historischen und institutionellen Ausgangspunkt voranarbeitete, gelangte sie Mitte der 1890er Jahre zu einem Verständnis von moderner Seekriegführung, welches dem bei den großen Seemächten vorherrschenden erstaunüch ähnelte. Trotz der theoretischen Verwandtschaft hatte die Marine auch ein starkes institutionelles Motiv dafür, sich von der Bevormundung der Armee zu befreien6. Roon, Moltke, Stosch und Caprivi gestanden der Marine in den ersten fünfundzwanzig Jahren ihres Bestehens eine begrenzte, aber notwendige Rolle zu; der institutionell motivierte Wunsch nach einer Überwindung dieser der Marine auferlegten Beschränkungen machte das deutsche seestrategische Denken empfänglich für die grenzenlosen Ambitionen, die das Zeitalter des Imperialismus mit sich brachte7. Der Wunsch, die Bedeutung ihres Dienstes für die Nation zu steigern, Heß die deutschen Marineoffiziere zu enthusiastischen Anhängern sozialdarwinistischer und imperialistischer Ideen werden. Mahan spielte hierbei eine besonders wichtige Rolle, weil seine Theorien eine direkte Verbindung zwischen Seestrategie und der weitverbreiteten Überzeugung von der Notwendigkeit überseeischer Expansion zu ziehen schienen. Ab Mitte der 1890er Jahre wandelte sich die preußische in eine deutsche Schule seestrategischen Denkens, als nämlich Mahans Seemachtideologie das Verständnis von Seekriegführung, zu dem die preußische Schule gelangt war, verdrängte. Der deutsche Navalismus erwuchs, stärker als der aller anderen Länder, aus einer imperialistischen Ideologie der unbestimmten »Expansion ohne Objekt«. Das heißt, seine politischen Ziele trennten sich von und gerieten sogar in Widerspruch zu den genau definierten operativen Doktrinen, welche die preußische Schule nach einem langwierigen Prozeß der Anpassung ihrer abstrakt-theoretischen Axiome an die Erfordernisse der Seekriegführung im Dampfzeitalter entwickelt hatte. Die folgenden Abschnitte verfolgen den Werdegang der preußischen Schule. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der strategischen Rolle von zweitrangigen Marinen, wie sie Roon, Moltke, Stosch und Caprivi vorschwebte. Der zweite und '•

Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 48

50. Herbert Rosinski umrissenen »general characteristics of German naval thought« verpflichtet, siehe Rosinski, Strategy and Propaganda. Unglücklicherweise ist das Englisch, in dem dieser Artikel verfaßt ist, nahezu undurchdringlich, so daß seine Bedeutung vermutlich deshalb nicht voll erkannt wurde. Rosinski ist der einzige auf diesem Gebiet, der eine spezifisch deutsche Schule des seestrategischen Denkens identifiziert hat, und er befand sich in einer einzigartigen Lage, dies zu beurteilen. Er lehrte in den späten 1920er Jahren vt»r Marineoffizieren; er regte die Revision von Clausewitz an, die dann von Raymond Aron weitergeführt wurde (vgl. Rosinski, Die Entwicklung von Clausewitz' Werk); er verfaßte eine vergleichende Studie über Mahan und Clausewitz, die im Krieg verloren ging; und er hielt, nachdem er mit der Machtübernahme Hitlers Deutschland verlassen hatte, in Großbritannien und den Vereinigten Staaten Vorträge über strategische Themen. Vgl. Stebbins, The Career of Herbert Rosinski.

Ich bin hier sehr den

von

-

122

Zweiter Teil

der dritte Abschnitt konzentrieren sich auf zwei »Gravitationszentren« der Entwicklung dessen, woraus die operativen Doktrinen der Dienstschrift IX8 entstanden auf den abstrakt-theoretischen Ansatz, der an der Marine-Akademie gelehrt wurde, und auf das taktische Experimentieren der im Aufbau befindlichen Torpedowaffe, geführt von Alfred Tirpitz, der dort vom Kapitänleutnant über den Korvettenkapitän zum Kapitän zur See avancierte. —

1. Die Marine in der deutschen

Gesamtstrategie

1865 unternahm der preußische Kriegsminister Roon seinen zweiten erfolglosen den störrischen liberalen Landtag dazu zu bewegen, für ein langfristig angelegtes Flottenbauprogramm zu stimmen. Er nannte zwei Gründe dafür, warum Preußen eine Seemacht zweiten Ranges werden sollte: »nämlich erstens [,] um den Seehandel Preussens und Deutschlands zu schützen, die Küsten der Ost- und Nordsee zu vertheidigen, und zweitens, um für alle Zukunft seinen europäischen Einfluß auch solchen Ländern gegenüber zu wahren, die nur zur See erreichbar sind«. Die Marinevorlage fiel dem Verfassungskampf zwischen Bismarck und der

Versuch,

Fortschrittspartei zum Opfer9. Zwei Jahre später hatte Admirai Jachmann, der erste Marineminister des Norddeutschen Bundes, mehr Erfolg und erreichte die Verabschiedung eines Zehnjahresbauprogramms. Es unterschied sich von Roons Programm dahingehend, daß ein stärkerer Schwerpunkt auf einer für den Dienst in Übersee bestimmten Kreuzerflotte lag10. Ihre Aufgaben bestanden im Schutz und in der Förderung des deutschen Handels auf den Weltmeeren, der Verteidigung der Küsten an Ost- und Nordsee und der Entwicklung einer offensiven Fähigkeit, den Krieg an die Flotte, Küsten und Häfen des Gegners heranzutragen11. Allerdings förderten die Umbruchsereignisse der folgenden Jahre kaum das Bemühen, die Notwendigkeit deutscher Seemacht verständlich zu machen. Nach der Reichsgründung mußte ein Neubeginn gemacht werden, und diesmal war es mögüch, einen langfristigen Bauplan auszuführen. 1872 wurde General Albrecht von Stosch zum Chef der Kaiserlichen Admiralität ernannt ein Posten, auf dem er sich die nächsten elf Jahre halten sollte. Mit dem Flottenbauprogramm, welches er dem Reichskanzler im November 1872 zusandte, legte Stosch die Grundlage für die Kaiserliche Marine12. Seine Zielsetzung war bescheiden. Die vierzehn Panzerfregatten und -korvetten, die über die näch-

8

9

10 11 12

(1894) wird im Zweiten Teil, Kapitel IV behandelt. 5.4.1865, zit. nach Crousaz, Kurze Geschichte, S. 135; vgl. Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 81 f.; Petter, Deutsche Flottenrüstung, S. 81 f. Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 86. Petter, Deutsche Ftottenrüstung, S. 83. Die Dienstschrift IX

Rede

vom

Eine überarbeitete Version wurde von Bismarck im April 1873 offiziell an den Reichstag weitergeleitet, daher die Bezeichnung »Flottengründungsplan« von 1873; vgl. Koch, Aus der Zeit des Admirals v. Stosch, S. 1277-1280; Lambi, The Navy, S. 4-6; Sondhaus, Preparing for Weltpolirik, S. 108-111.

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

123

zehn Jahre gebaut werden sollten, konnten auch für den Dienst in Übersee zum Schütze deutscher Interessen eingesetzt werden, es war aber ausgeschlossen, die Flotte offensiv gegen europäische Großmächte einzusetzen. Schon 1871 legte Stosch die Aufgaben der Marine auf folgendes fest: »Wir brauchen Schiffe, die geeignet sind, die Handelsflotte auch offensiv sichern zu können, und die Geschwader, die wir mit Polizeizwecken in fernen Gestaden stationieren, müssen auch solche Schiffe enthalten13.« Stosch widmete sich mit großem Interesse der Aufgabe des Schutzes des Überseehandels, wodurch dessen weitere Entwicklung vorangetrieben werden sollte. Er wählte hierfür eine bildliche Sprache, die sehr an jene erinnerte, derer sich Tirpitz fünfundzwanzig Jahre später bedienen sollte. Zum Beispiel beschrieb er im Jahre 1872 die Marine als einen »Stock«, um den sich die Rebe des Handels winden und kräftig »emporranken« könne14. Zwölf Jahre später forderte er, daß die Marine in gleicher Geschwindigkeit erweitert werden solle, in der Handel und Schiffahrt expandierten. Er befürwortete den Erwerb überseeischer Kolonien, vor allem um die deutschen Emigranten durch die Bereitstellung von landwirtschaftlich nutzbarem Siedlungsland für das Reich zu erhalten, aber auch zur Erschließung neuer Märkte und als Rohstoffquelle für die Industrie15. Deutsche Navalisten, besonders Tirpitz, gaben sich gerne als Erben Stoschs16. Auch sie behaupteten, das Wachstum des deutschen Kolonialreiches und den Handel mit dem Ausland durch den Bau einer Flotte »entsprechend den Seeinteressen« voranzutreiben. Tirpitz wollte auch an Stoschs Plan anschließen, eine Politik des Wachstums auf allen Gebieten unter der Schirmherrschaft einer merkantilistischen maritimen »Zentralbehörde« zu koordinieren17. Es gab aber dennoch einen fundamentalen Unterschied zwischen diesen Navalisten und Stosch. Stosch wollte Kreuzer oder Fregatten, die sofort zum direkten Schutz überseeischer Interessen eingesetzt werden konnten18. Eine starke Flotte in Heimatgewässern würde sicherstellen, daß ihre Interventionen Respekt einflößten. sten



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Brief an Gustav Freytag, 3.12.1871, in Hassel, Tirpitz, S. 24 f. Koch, Aus der Zeit des Admirals v. Stosch, S. 1278. Stosch, Deutsche Colonisation; Batsch, General von Stosch, S. 54 ff.; Petter, Deutsche Flottenrüstung, S. 116-118. Tirpitz, Erinnerungen, S. 12 ff., 23; Steinberg, Yesterday's Deterrent, S. 66. Zu Stoschs Vorstößen, die Zuständigkeit der Admiralität auf die Bereiche »Handel«, »Schiffahrt« und »Kotonien« auszudehnen, siehe Hollyday, Bismarck's Rival, S. 150 f. und Petter, Deutsche Flottenrüstung, S. 118-120. Zu Tirpitz' Vorstellungen siehe seinen Brief an Stosch vom 21.12.1895 und seine Aufzeichnungen für einen Immediatvortrag am 28.1.1896, beide in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 103-105, 109-111; vgl. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 92 f. Admiral lachmann und Prinz Adalbert äußerten 1867 ähnliche Auffassungen, vgl. Petter, Deutsche Flottenrüstung, S. 86-90. Zu Stoschs Plänen zum Handelsschutz siehe Petter, Deutsche Flottenrüstung, S. 109-112. Zu Beispielen dafür, was solch ein direkter Schutz überseeischer Interessen für die Royal Navy mit sich brachte, siehe Bartlett, Great Britain and Sea Power, S. 55-74; Beeler, British Naval Policy, S. 24-37. Vgl. Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 116-123 zu den eigenen Erfahrungen der Kaiserlichen Marine auf diesem Gebiet; und Duppler, Der Juniorpartner, S. 232-294 zur überseeischen Ko«»peration zwischen den beiden Marinen. Zu ähnlichen Ideen innerhalb der Marine der Vereinigten Staaten in den 1870er Jahren siehe Shulman, Navalism, S. 60-67.

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Zweiter Teil

Tirpitz hingegen glaubte, daß diese Interessen am besten mit Hufe der »politischen Bedeutung der Seemacht«, demonstriert durch eine mächtige Schlachtflotte in europäischen Gewässern, zu schützen seien. Stosch zeigte nicht das geringste Anzeichen dafür, daß er einer solchen Deutung der politischen Wirkung von Seemacht anhing. Für ihn kam es überhaupt nicht in Frage, für solch imaginäre Friedenszeitfunktionen, ja noch nicht einmal für den Krieg Schlachtschiffe zu erwerben, da seiner Meinung nach ohnehin noch eine Zeit ins Land gehen würde, ehe die deutsche Marine auch nur daran denken könne, sich auf eine Schlacht in europäischen Gewässern vorzubereiten. Dieses Argument wurde im Flottengründungsplan von

1873 wiederholt. Die Marine hatte die deutschen Interessen dort zu schützen, wo der Arm der Armee nicht hinreichte; sie konnte aber nicht die deutsche Handelsmarine in einem europäischen Krieg schützen; dies konnte nur indirekt durch die deutsche Macht zu Lande geschehen19. Dies stand in Einklang mit dem, was Moltke, Chef des Generalstabes, in einem Brief an Stosch zu einem früheren Zeitpunkt in jenem Jahr erklärt hatte20. Die Aufgaben der Marine lagen darin, die Küste zu verteidigen, eine Invasion von See her zu verhindern und den Handel zu schützen. Es gibt wenig hinzuzufügen zu der 1937 von Theodore Ropp abgegebenen Bewertung dieser strategischen Einordnung: »The German navy was simply another arm of a rational system of national defense. Strategically, the chief of the General Staff, General Helmuth von Moltke, organized the navy as he organized a defensive sector on land: the navy was merely part of the army that happened to watch the sea frontier. [...] Germany's policy of a mobiïe coast defense on land and sea, a product of the army's domination of strategy, was [...] the reasoned policy of the military masters of Europe in accord with the principle of the greatest economy of forces under a unified command21.« Bismarck fügte in bezug auf die Größe der Flotte einen Folgesatz hinzu nicht, weü er ihr andere militärische Aufgaben zudachte, sondern weü er eine respektable Marine brauchte, um seine diplomatische Handhabung des Gleichgewichts abzusichern. In einem Randkommentar zu Stoschs Programm von 1872 bemerkte er: »Wir müssen allen Seemächten zweiten Ranges überlegen sein22.« Im Lichte seiner Unterhaltungen mit Napoleon III. im Jahre 1857, seines Vorschlages, den er Baron Courcel 1884 eröffnete, seiner Reichstagsrede von 1885 und seines Briefes an den Botschafter in St. Petersburg aus dem gleichen Jahr legt dies Bismarcks Überzeugung offen, daß Deutschland in der Lage sein müsse, freundschaftliche Beziehungen zu wenigstens einer der westlichen Seemächte zu unterhalten23. Eine respektable zweitrangige Marine würde Deutschland einen Platz im maritimen Gleichge—

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Der Plan wird in weiten Teilen zitiert in Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, S. 106 -111, für das folgende siehe S. 110. Moltke an Stosch, 22.2.1873. »Über die geringe Gefahr feindlicher Landungen«, in Moltke, Die deutschen Aufmarschpläne, S. 31 -34; vgl. Hollyday, Bismarck's Rival, S. 107 f. Ropp, The Development of a Modern Navy, S. 28, 30. Zit. nach Gerloff, Die Finanz- und Z«»llpolitik, S. 79; vgl. Bismarcks Antwort auf eine Frage von Caprivi von 1886 bezüglich des Tempos beim deutschen Schlachtschiffbau, zit. in Steinmetz, Bismarck und die deutsche Marine, S. 72. Siehe Erster Teil, Kapitel IV.

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

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wicht einräumen und es ihm gegebenenfalls ermöglichen, Großbritannien und Frankreich gegeneinander auszuspielen. Als Stosch im Jahre 1883 zurücktrat, war sein Flottenplan schon fast vollständig verwirklicht worden. Deutschland besaß jetzt dreizehn der geplanten vierzehn Panzerschiffe und dreizehn Kanonenboote wie auch eine beachtliche Flotte ungepanzerter Korvetten für den Einsatz in Übersee24. Die deutsche war die drittgrößte Marine nach denen von Großbritannien und Frankreich. In den folgenden zehn Jahren sollte sie jedoch auf den sechsten Platz zurückfallen. Hierfür war ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren verantwortlich: Die generelle Unsicherheit über die Zukunft des Panzerschiffes im Zeitalter des Torpedobootes und die BeUebtheit der »Jeune Ecole« waren zwei der allgemeinen internationalen Gründe. Die kurzfristigen Prioritäten und die Fixierung von Stoschs Nachfolger Caprivi auf den europäischen Kontinent verliehen diesen Tendenzen Nachdruck. Aber auch ihm wurde deutlich, daß die deutsche Seemacht um den Kern einer ansehnlichen Schlachtflotte herum gebaut werden mußte. Die Modernisierung einer Flotte nach Stoschs ursprünglichem Plan wurde wieder zum Ziel der von Admiral Hollmann, Staatssekretär des neuen Reichsmarineamtes, in den Jahren von 1890 bis 1897 eingebrach-

Haushaltsvorlagen. gab klare Kontinuitäten in der Zielsetzung der preußisch-deutschen Marinepoütik von Prinz Adalberts ersten Vorstellungen im Jahre 1848 bis zur Verabschiedung von Tirpitz' erstem Flottengesetz (1898). Prinz Adalbert, Roon, Jachmann, Stosch, Bismarck, Caprivi, Hollmann, Wilhelm II. (gelegentlich) und Tirpitz in seinen früheren Jahren waren sich alle darin einig, daß Deutschland eine respekteinflößende zweitrangige Marine brauchte25. In der Praxis hieß das, der deutschen Marine müsse es möglich sein, entweder die russische Ostseeflotte oder die französische Nordflotte zu schlagen (nicht aber beide vereint). Die von ihnen veranschlagte Größe des Kernbestandes der Schlachtflotte variierte gemäß den Baubestrebungen dieser potentiellen Gegner, gewöhnlich wurden aber zwischen fünfzehn und zwanzig größere Schiffe angesetzt. Die Betonung von Kreuzern zum direkten ten

Es

Schutz überseeischer Interessen fiel unterschiedlich aus, aber über das benannte Niveau maritimer Stärke in europäischen Gewässern, welches nötig war, um Deutschlands Wert als potentieller Bündnispartner von einer der westlichen Seemächte zu steigern, war man sich mit Bismarck einig26. Die Bedeutung von Stoschs Programm war, daß es zum ersten Mal eine Flotte schuf, die mehr oder weniger einem Ziel entsprach, welches bis dahin unerreichbar gewesen war. Der Amtszeit Caprivis an der Spitze der Admiralität wurde von späteren Navalisten und Historikern wegen des relativen Rückgangs der deutschen Seemacht, der für diese Jahre zu verzeichnen ist, wenig Beachtung gezollt. Hinsichtlich der Ent24 25 2fl

Lambi, The Navy, S. 6; Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 148.

Duppler, Der Juniorpartner, S. 27, 31. Vgl. Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 22; Hubatsch, Der Admiralstab, S. 18 f.; Duppler, Der Juniorpartner, S. 26; Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 12 f., Anm. 12; Steinberg, Yesterday's Deterrent, S. 65 f.; Denkschrift betreffend die weitere Entwicklung der Kaiserlichen Marine, 11. März 1884, in Stenographische Berichte, Bd 77, S. 435; Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 1, S. 125; Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 61.

Zweiter Teil

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der deutschen Gesamtstrategie verdient es Caprivis Wirken aber, ausführlicher besprochen zu werden. Als er Bismarck im Jahre 1890 als Reichskanzler ablöste, brachte er auf diesen Posten ein Verständnis von der Rolle mit, die die Marine für die nationale Sicherheit spielte27. Mit einer Unterbrechung von zwanzig Monaten zwischen 1888 und 1890 war Caprivi, direkt oder indirekt, mit der Marine über ein Jahrzehnt lang beschäftigt. Er teilte Moltkes und Stoschs Festlegung ihrer begrenzten Aufgaben, fügte aber noch eine wichtige neue hinzu, bei der die Folgen von Deutschlands schneller Industrialisierung und wirtschaftlicher Spezialisierung Berücksichtigung fanden. Während seiner Jahre in der Admiralität förderte Caprivi außerdem die Professionalisierung der Marine, indem er ihre Kriegsbereitschaft verbesserte. Er unterwarf alle Bereiche der Marinepolitik seiner Grundannahme vom nahen Bevorstehen eines großen Krieges mit Frankreich und Rußland. Dies veranlaßte ihn dazu, die Baupolitik zu systematisieren und mit der operativen Planung und der Entwicklung taktischer Doktrinen abzustimmen. Dadurch stieß er eine neue Vorgehensweise an, die in der Arbeit des Oberkommandos in den 1890er Jahren Früchte tragen sollte. Caprivi hatte keine Bedenken bezüglich der absoluten Priorität der Armee bei den Verteidigungsausgaben. Er demonstrierte dies, als er, mit dem Amt des Reichskanzlers betraut, den Reichstag auflöste, um eine Vergrößerung des stehenden Heeres durchzubringen. 1893 sagte er den Abgeordneten: »Ich war schon immer der Meinung, daß die Marine eng begrenzt bleiben muß, so eng, wie es uns unsere Situation erlaubt28.« Laut Tirpitz war Caprivi von dem einen Gedanken besessen: »Nächstes Frühjahr haben wir den Zweifrontenkrieg«. Tirpitz lag aber falsch mit der Aussage, daß dieses Gefühl der drohenden Gefahr Caprivi dazu bewegt habe, der Marine den militärisch-politischen Zweck zu geben, der ihr unter Stosch gefehlt hatte29. Diese Rolle wurde ihr schon unter Caprivis Vorgängern zuerkannt, angefangen mit Jachmann im Jahre 186730. Was Caprivi tat, war die Marine auf einen, wie ihm schien, unentrinnbaren Konflikt vorzubereiten. Das operative Konzept, das er vertrat, war ein defensives: Es sollte keinen riskanten Versuch geben, die Flotte des Gegner aufzuspüren und in einer Schlacht zu zerstören. In einem Krieg gegen Frankreich und Rußland wären die Aufgaben der Marine

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Ich verwende den Begriff »Gesamtstrategie«, um damit das Bemühen der politischen Führung eines Staates zu bezeichnen, die Politik und Kricgsplanung von Armee und Marine mit den außenpolitischen Prioritäten zu koordinieren. Vgl. Lahme, Deutsche Außenpolitik, S. 148. Caprivis oberste Priorität war nationale Sicherheit, nicht die »Weltpolitik«, die die Reichsführung nach seinem Rücktritt der Politik dieverfolgte. Er betrieb eine Gesamtstrategie in dem Sinne, daß er verschiedene Gebiete1890er ser Priorität unterordnete. Der Verfall dieser Gesamtstrategie setzte gegen Ende der Jahre mit der Ausarbeitung des Schlieffenplanes, den Anfängen des Tirpitz-Planes und Bülows Politik der »freien Hand< ein. Vgl. Showalter, German Grand Strategy, S. 65-102. Reichstagsrede vom 8.3.1893, Schultheß (1893), S. 20 f. Vgl. Verchau, Von Jachmann über Stosch und Caprivi, S. 67. Tirpitz, Erinnerungen, S. 24 f. Ort zu ergreifenCaprivi stimmte mit Jachmann und Stosch hinsichtlich der Notwendigkeit vorGeneral v. Caprivi, der Maßnahmen zum Schutz des überseeischen Handels überein. Vgl. Koch, S. 14-19.

II. Die deutsche

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auf die Küstenverteidigung beschränkt. Bezüglich der Taktik allerdings glaubte er, daß sich die Flotte auf offensive Operationen vorbereiten sollte, um die Landung gegnerischer Truppen und die Bombardierung von Küstenstädten zu verhindern und die gegnerische Blockade deutscher Häfen zu brechen. Zusammenfassend sagte er vor dem Reichstag 1893, daß er und Stosch immer dem Prinzip verhaftet gewesen seien, daß die Marine für die Defensive organisiert werden müsse; Schiffe müßten in Heimatgewässern kämpfen und das Heimatland schützen31. Die Priorität, die Caprivi der Armee gab, und seine Ausrichtung auf die unmittelbaren Erfordernisse schufen den Rahmen, innerhalb dessen Fragen des Schiffsentwurfes, der Baupolitik, der operativen Planung wie auch der Entwicklung der Taktik und Manöver während der fünf Jahre seiner Amtszeit an der Spitze der Admiralität entschieden wurden32. Die neue Orientierung der Politik an einem alles überragenden Ziel wurde schnell deutlich. Sondhaus beschreibt den Unterschied zwischen Caprivi und Stosch folgendermaßen: »Whereas Stosch felt that he could learn nothing from his admirals, Caprivi went to the opposite extreme of actively seeking their opinions33.« Im Januar 1884 rief er den vor sich hin dämmernden Admiralitätsrat zusammen, um die verschiedenen Vorzüge von Schlachtschiffen, Torpedobooten und der Kreuzerkriegführung durchzugehen34. Die Ergebnisse wurden in dem dem Reichstag im März vorgelegten Memorandum zusammengefaßt. Obgleich in der geheimen Denkschrift von 1886 und in der im Jahre 1887 vorgelegten Denkschrift einige Unsicherheiten zu bemerken sind55, hielt man an den bei dieser Sitzung des Rates getroffenen Grundentscheidungen bis zum Ende des Jahrzehnts fest: Schlachtschiffe sollten den Kern der Flotte in Heimatgewässern ausmachen, eine große Zahl an Torpedobootflottillen sollte ihr größere Offensivmöglichkeiten gegen Eindringlinge verschaffen. Die Kreuzerkriegführung gegen den gegnerischen Handel sollte, obgleich sie eine denkbare Option darstellte, niemals mehr als eine Hilfswaffe sein. Caprivi hielt die durch Kreuzer verursachte Störung des Handels im Zeitalter des Dampfschiffes für wenig wirksam. Handelsschiffe waren schneller als die Kreuzer, die versuchen würden, ihnen nachzujagen, und Geschwader in den Atlantik zu schicken, um gegnerische Schiffe anzugreifen, würde Männer und Schiffe von der Hauptaufgabe der Küstenverteidigung abziehen36. Seine Überzeugung von der Bedeutung des neuentwickelten Torpedobootes als eines verhältnismäßig billigen, aber dennoch wirksamen Angriffsmittels, mit dem eine schwächere Seemacht einer stärkeren gegenübertreten konnte, spiegelte den Einfluß der »Jeune Ecole« wider. Ohnehin mußte Caprivi diesen Theorien Tribut zollen, da die Ideen der »Jeune Ecole« zwischen 1881 und 1887 bei einer Mehrheit der Reichstagsmitglieder 31 32

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Reichstagsrede vom 10.3.1893, Schultheß, 1893, S. 21. Tirpitz, Erinnerungen, S. 24; Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 1, S. 139; Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 43-45. Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 152. Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 25; Hubatsch, Admiralstab, S. 43 f.; Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 158 f. Zur Denkschrift von 1886 siehe Lambi, The Navy, S. 8 f. Denkschrift, 11.3.1884, S. 434.

Zweiter Teü

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auf Zustimmung stießen37. Die dem Reichstag 1887 vorgelegte Denkschrift war stärker von der »Jeune Ecole« beeinflußt als die von 1884 und sprach sich für die Störung des Handels aus38. Die Folgen für die Baupolitik, die sich aus diesen Überlegungen ergaben, liefen auf eine massive Förderung des Torpedobootes und eine De-facto-Stagnation beim Bau von Schlachtschiffen und Panzerkreuzern hinaus39. Der Abschluß von Stoschs Programm, die Orientierung an dem bereits morgen Erforderiichen und die unangefochtene militärische und finanzielle Priorität der Armee ließen die Hinwendung zum Torpedoboot als logischen Schritt erscheinen. Die anfängliche Ablehnung und die spätere vorsichtige Billigung eines »Guerre de course« basierten auf überzeugenden Argumenten. Caprivis Desinteresse am Schlachtschiffbau wurde im nachhinein viel kritisiert, aber in der von ihm ins Auge gefaßten Zeitspanne und unter den Umständen der damaügen revolutionären Entwicklung im Bereich der maritimen Technologie war es nicht bar jeder Vernunft, zu argumentieren, daß Deutschland sich »nicht den Luxus fehlgeschlagener Experimente leisten«40 könne. In Wolfgang Petters Worten war für Caprivi »das Torpedoboot nicht die dominierende Waffe der Zukunft, sondern [...] der Gegenwart«41; wenn sich die führenden Seemächte erst einmal Klarheit über die Konstruktion des Schlachtschiffes verschafft hätten, sollte Deutschland sein eigenes Bauprogramm wieder aufnehmen. Caprivi glaubte nicht an die alles in den Schatten stellende Bedeutung der Entscheidungsschlacht. Er ging sogar davon aus, daß eine Seeschlacht weniger entscheidend als eine Landschlacht sei und daß nicht sie alleine die Seeherrschaft sicherstellen würde. Schlachtschiffe, wie auch der Rest der Marine, hatten die Funktion, die Küstengewässer zu verteidigen und sollten versuchen, die Herrschaft über einen Teil des Meeres zu erlangen. Jetzt da das Stoschprogramm ausgeführt und das Fundament gelegt worden war, würde es möglich sein, sich auf andere Gebiete zu konzentrieren, auf denen sich schneller Erfolge erzielen keßen. Die Denkschrift von 1887 fügte in diesem Sinne die Idee einer Ausfallflotte für die Küstenkriegführung hinzu. Ungeachtet der Vorwürfe, die ihm von späteren Kritikern gemacht wurden, erkannte Caprivi von Anfang an, daß eine aus Panzerschiffen bestehende Schlachtflotte das Kernstück der Marine bilden mußte. Sie verschaffte den Kreuzern in Übersee bei der Erfüllung ihrer politischen Aufgaben den nötigen Rückhalt, ihr kam in einem europäischen Krieg eine lebenswichtige Funktion in den Heimatgewässern zu und ohne sie besäße Deutschland keinen Anreiz für andere Seemächte, sich mit ihm zu verbünden42. 37 38 39

Petter, Deutsche Flottenrüstung, S. 132; Dülffcr, The German Reich, S. 502-507. Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 35 f.; Lambi, The Navy, S. 9; vgl. Holleben, Die Denkschrift, S. 18-26. Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 35-37; Hubatsch, Der Admiralstab, S. 45 f. Abgesehen davon, daß sie verhältnismäßig billig waren und dem Reichstag gefielen, waren die Torpedoboote zusätzlich attraktiv, weil sie einen steten Nachfragefluß und Arbeit für die deutschen Schiffswerften bedeuteten ein Faktor, der, wie das Mem«»randum hervorhob, nicht länger außer acht gelassen werden konnte. Denkschrift 1884, S. 434. Denkschrift 1884, S. 435. Petter, Deutsche Flottenrüstung, S. 133 f. Denkschrift, 11.3.1884, S. 435; Koch, General v. Caprivi, S. 65-68; Lambi, The Navy, S. 8 f. -

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Auf dem Gebiet der Schiffstypenentwicklung leistete das Treffen des Admiralitätsrates ebenfalls Pionierarbeit für ein neues Verfahren. Nachdem die Aufgaben für im Ausland stationierte Kreuzer festgelegt worden waren, wurden sofort neue Spezifikationen für deren Konstruktion ausgearbeitet43. Auch taktische Probleme unterlagen der Diskussion, und Caprivi sollte besonders der Entwicklung der taktischen Theorie innerhalb der Marine große Beachtung schenken, was seine »Zwölf taktischen Fragen«, die er 1888 in Umlauf brachte, unterstreichen*4. Die Theorien wurden in den Herbstmanövern erprobt, die Stosch 1882 eingeführt hatte und die unter Caprivi weiterentwickelt wurden. Da sich Caprivi hauptsächlich mit dem bevorstehenden Krieg beschäftigte, verwundert es nicht, daß er eine Menge Arbeit in die operative Planung steckte. Schon im April 1883 fing er an, die Operationspläne für einen Krieg gegen Rußland in der Ostsee zu überarbeiten45. Ob seiner engen Verbindungen zum Generalstab war er sich des Drängens zum Kriege im Jahre 1887 bewußt46 und bereitete in den Herbstmonaten vier verschiedene Operationspläne vor, um alle erdenklichen Möglichkeiten abzudecken. Sie trugen dem Küstenkrieg in der Nordsee, dem Krieg gegen Frankreich, dem Krieg in der Ostsee und einem Seekrieg zwischen Zwei- und Dreibund Rechnung47. Mit der Ausnahme des Memorandums zum Krieg mit Frankreich orientierten sich diese Operationspläne an dem Konzept der strategischen Defensive bei gleichzeitiger taktischer Offensive, welches oben beschrieben wurde. Als Caprivi 1888 die Admiralität verließ, nahm er ein Verständnis von der Rolle der Marine für die nationale Verteidigung mit, zu dem keiner der Offiziere im Generalstab gelangt zu sein schien. Dies führte ihn in Bereiche der Gesamtstrategie, die von niemandem vorher Beachtung gefunden hatten. 1890 leistete er dem Befehl Wühelms II. ohne große Begeisterung Gehorsam und übernahm von Bismarck das Amt des Reichskanzlers. Obgleich er nicht länger direkt mit der Leitung der Marine betraut war, lohnt es, die Entwicklung seiner Meinung zu ihrer Rolle in seinen vier Jahren als Kanzler zu verfolgen. Als Reichskanzler gelang es Caprivi noch am ehesten im Vergleich zu anderen, die dies nach 1890 versuchten -, eine Gesamtstrategie zu entwickeln, in der Diplomatie, Handelspolitik und neue Rollenzuweisungen ineinander griffen, welche die Armee, die Marine und die wirtschaftliche Kriegsvorbereitang betrafen. Dieser integrierende Plan der nationalen Verteidigung stellte in der Sicherheitspolitik nach Bismarck einen Höhepunkt an Kohärenz dar48. Der Kanzler des »Neuen Kurses« erkannte, daß die Industrialisierung eine Achillesferse freigelegt hatte: eine Abhängigkeit von auf dem Seewege beför-

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Hubatsch, Der Admiralstab, S. 44. BA-MA, N 253/58, Caprivi an das Kommando der Ostsee-Station und das Kommando der Nordsee-Station, 30.1.1888, >zwölf taktische Fragen« enthaltend; vgl. Koch, General v. Caprivi, S. 43-49; Lambi, The Navy, S. 10. Lambi, The Navy, S. 16 f. Kennedv, The Rise of the Anglo-German Antagonism, S. 188; Mommsen, Großmachtstellung und

Weltpolitik, S. 93 ff. Lambi, The Navy, S. 18 27. Eckart Kehr ist der einzige Historiker, der die seestrategischen Aspekte in Caprivis Gesamtstrategie ernst genommen hat, vgl. Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 251-257. -

Zweiter Teil

130

derten Importen, die in einem sich lange hinziehenden Krieg entscheidend sein konnte. Diese Erkenntnis führte zu einer weiteren: In der erläuterten Abhängigkeit lag Deutschlands größte seestrategische Schwäche in einem Krieg mit einer westlichen Seemacht. Als Kanzler unterstützte Caprivi die seit 1886 von Armeekreisen ausgehenden Präventivkriegsforderungen nicht49. Er war aber pessimistisch, was die Mögüchkeiten anbelangte, einen Konflikt mit Frankreich und Rußland zu vermeiden50. Ihm wurde bewußt, daß Bismarcks bröckelndes und widersprüchliches Bündnissystem nicht in alle Ewigkeit konserviert werden konnte, vor allem nicht in einem Zeitalter, in dem das zunehmende Gewicht der öffentlichen Meinung von vornherein einige der Optionen ausschloß, die der hergebrachten Kabinettspoiitik noch offengestanden hatten51. Auch war er nicht Willens, die Politik des Gegeneinanderausspielens der anderen Großmächte durch das gezielte Forcieren von deren außereuropäischem Engagement fortzusetzen. Die Männer des »Neuen Kurses« begriffen, daß der deutsche Rückzug von der Rolle des ehrlichen Maklers und des Mittelpunktes europäischer Diplomatie Deutschlands Handlungsspielraum einschränken und es möglicherweise zwingen würde, Unterstützung in Form einer engeren Bindung an entweder Großbritannien oder Rußland zu suchen. Für den mit militärischen Denkmustern vertrauten Caprivi zwang der überragende Stellenwert des Bündnisses mit Österreich-Ungarn dazu, den Rückversicherungsvertrag mit Rußland im Jahre 1890 nicht mehr zu erneuern52. Er hoffte, daß diplomatische Verständigungen wie der Helgoland-Sansibar-Vertrag Großbritannien näher an den Dreibund heranführen würden. Für die unmittelbare Zukunft allerdings schien eine Annäherung zwischen Frankreich und Rußland nicht zu verhindern zu sein, und ein Zweifrontenkrieg wurde wahrscheinkch. Caprivi bemühte sich darum, den Zerfall diplomatischer Sicherheit mit einer erheblichen Stärkung der Armee zu kompensieren. Neben seinen Handelsverträgen war die Heeresvorlage von 1893 das Kernstück seiner Zeit als Kanzler. Obgleich sie die Friedensstärke der Armee beträchtlich erhöhte, handelte es sich im wesentlichen um eine konservative, defensive Maßnahme, die den Status quo in Europa sichern sollte53. Der Kanzler glaubte nicht, daß ein Krieg durch »Entscheidungsschlachten« rasch beendet werden könne. Er teilte diese Skepsis mit Moltke, dem pensionierten ehemaligen Generalstabschef. Am letzten Tag vor seinem Tod kritisierte Moltke scharf den Plan seines Nachfolgers Waldersee, der darin bestand, erst Frankreich entscheidend zu schlagen, um sich dann gegen Rußland zu wenden die Grundlage -

49

Weigerung, die Präventivkriegsforderungen zu unterstützen, siehe seine Reichstagsrede 23.11.1892, zit. in Förster, Der doppelte Militarismus, S. 44. Vgl. Caprivis Memorandum vom 27.8.1891, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelZu seiner

vom

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Weltpolitik, S. 37.

Mommsen, Großmachtstellung und Weltpolitik, S. 111 f. Lahme, Deutsche Außenpolitik, S. 108 f., Anm. 155. Förster, Der doppelte Militarismus, S. 38 f.

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

des

131

späteren Schlieffenplanes54. Caprivi legte die gleiche Skepsis an den Tag, als er 20. Oktober 1892 dem Bundesrat die Heeresvorlage erläuterte55. Bismarcks Beispiel folgend, versicherte er den versammelten Mitgliedern, daß seine Außenpolitik auf den Friedenserhalt abziele, solange sich dies mit der Ehre des Reiches vereinbaren lasse. Die öffentliche Meinung sperre sich gegen die Tatsache, daß Deutschland sich ohne Verbündete in einem Zweifrontenkrieg wiederfinden könnte, weil man es hierfür als zu schwach erachte. Es sei illusionär zu glauben, daß Deutschland erst Frankreich schlagen und sich dann Rußland vornehmen könne. Rußland müsse von Anfang an eingeplant werden. Deutschland sei, so Caprivi, stark genug, sich in einem solchen Krieg zu behaupten oder zumindest den Kampf in die Länge zu ziehen, und früher oder später würde es Verbündete finden, die gewillt seien, für sein Fortbestehen zu kämpfen. Seine allgegenwärtige Sorge vor einem Zweifrontenkrieg im folgenden Frühjahr führte Caprivi in bisher unerforschtes Terrain. Er war weitsichtiger als Moltke, was seine Einschätzung eines langwierigen Ermattungskrieges mit Frankreich und Rußland und die damit verbundene Gefahr einer Seeblockade, die den deutschen Seehandel unterbinden würde, betraf. Diese Gefahr schätzte er weitaus höher ein als in früheren Kriegen. Industrialisierung und wirtschaftüche Spezialisierung brachten für Deutschland eine Abhängigkeit von Nahrungsmittel- und Rohstoffimporten und vom Zugang zu überseeischen Exportmärkten mit sich. Ursprünglich hatte sich Caprivi dem Problem der Versorgung der Armee auf dem Schlachtfeld zugewandt, ging dann aber zur Frage der Bevölkerungsversorgung über56. Im Mai 1891 fragte er das preußische Staatsministerium, »wie bei einem längeren Kriege derjenige Teü unseres Verbrauchs [...] welchen wir jetzt durch Einfuhr deckten, zu beschaffen sei«57. Dieser Frage war die deutsche Führung bis dahin nicht systematisch nachgegangen. Caprivi zwang die widerstrebenden Minister dazu, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Im Herbst 1892 allerdings Heß er die Angelegenheit plötzlich wieder fallen. Die Unwägbarkeiten der diplomatischen Situation, vor allem die Haltung Großbritanniens gegenüber einem Deutsch-Französischen Krieg, ließen es sinnlos erscheinen, detaülierte Pläne zu entwerfen58. Er wandte sich der neuen Heeresvorlage zu. Caprivis tieferes Verständnis dieses Problems wird deutlich, wenn man seine Argumentation zur Verteidigung seiner Handelspolitik und zur Rolle der Marine betrachtet. Beide Gebiete erschienen ihm von Bedeutung für die nationale Sicherheit. Die folgenden Auszüge aus seinen Reichstagsreden berechtigen dazu, bei Caprivi von einer in sich kohärenten Gesamtstrategie auszugehen. Er begriff die Diplomatie, die Handelspolitik, die Stärkung der Armee und die Rolle der Marine als eng miteinander verzahnt. am

54

55 s« 57 5S

Der Schlieffenplan, S. 20. Der Weltkrieg 1914-1918, S. 51-57; Förster, Der Der Weltkrieg 1914-1918, S. 294 ff. Zit. nach: Burchardt, Friedenswirtschaft, S. 179. Ebd., S. 182.

Ritter,

doppelte Militarismus, S. 38.

Zweiter Teil

132

Caprivis liberale Handelspolitik hatte ihren Ursprung nicht in irgendwelchen doktrinären Freihandelsüberzeugungen. Wie stets war sein Ausgangspunkt die Fähigkeit des Landes, seine Interessen gegen andere Länder zu verteidigen. Er war aber davon überzeugt, daß ein Land nur dann seine Machtposition erhalten könne, wenn es den sich wandelnden Charakter der Macht im Zeitalter der IndustriaHsierung erkenne und sich den modernen wirtschaftlichen Bedingungen anpasse. Obgleich von Geburt ein Adliger, strafte er dennoch diejenigen Junker, die ihre Loyalität von der Unterstützung des Staates abhängig machten, mit Verachtung. Gerade eine solche Haltung stellte seiner Meinung nach in Frage, ob es im Interesse des Staates Hegen könne, sie weiterhin zu unterstützen59. Er erachtete selbst moderate Zolltarife als ein Opfer, welches die Nation im Interesse der Landwirtschaft erbrachte60. In den neuen Handelsverträgen mit Belgien, der Schweiz und den zwei Partnern des Dreibundes verpflichtete sich Deutschland dazu, seine Zölle zu senken, und bekam dafür besseren Zugang zu den ausländischen Märkten, um seine Exporte abzusetzen. Als die Getreidepreise 1892 sanken, stimmten die Konservativen ein großes Protestgeschrei an, und die Agrarier schlössen sich zum Bund der Landwirte zusammen, einer überaus wirksamen Pressure-groupe1. Am 10. Dezember 1891 verteidigte Caprivi im Reichstag die Handelsverträge62. Er pflichtete denjenigen bei, die darauf hinwiesen, daß Deutschland ein Industriestaat geworden war. Die Industrie werde sicherHch an Bedeutung gewinnen, während der Expansion der Landwirtschaft klare Grenzen gesetzt seien. Handel und Industrie waren zu den wichtigsten QueUen für Wohlstand und demzufolge für pohtische Macht und kulturelle Bedeutung geworden. Sie waren aber für ihr Wachstum von den Exportmärkten abhängig. Deutschlands Importe überstiegen dessen Exporte jähriich um einen Wert von 800 MilHonen Mark. Die neuen Verträge würden der Industrie neue Märkte erschHeßen und der arbeitenden Bevölkerung Arbeitsplätze und billigere Nahrungsmittel verschaffen. Caprivi bestritt, daß eine Senkung der Getreidezölle um 1,50 Mark pro Tonne auf 3,50 Mark die Landwirtschaft in den Ruin stürzen würde. Ganz im Gegenteil müsse der Staat erkennen, daß es lebenswichtig sei, die landwirtschaftHche Produktion im eigenen Lande zu erhalten. Es müsse allerdings deutlich sein, daß die Unterstützung der Landwirtschaft ein Opfer sei, welches die städtische Bevölkerung im Interesse des Staates darbringe. Am allerwichtigsten sei, daß der Staat in der Lage sein müsse, seine Armee und seine Bevölkerung in Kriegszeiten zu ernähren. Es gab Stimmen, die behaupteten, die Pariser Seerechtsdeklaration würde in Kriegszeiten den Seehandel schützen. Der Kanzler antwortete ihnen, daß es unmögHch sei vorherzusehen, wie die Großmächte in einem künftigen Weltbrand Konterbande und effektive Blockade definieren würden. Deutschland soUe sich auf seine Landwirtschaft stützen obgleich dies Opfer bedeute und im Kriegsfalle nicht auf die unsichere Unterstützung einer dritten Partei vertrauen. Seine Erfah-

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Röhl, Germany without Bismarck, S. 57 f. Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 254. Barkin, The Controversy, S. 60-67. Arndt, Die Reden des Grafen von Caprivi, S. 166-181.



II. Die deutsche

Gesamtstrategie

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rung in der AdmiraHtät hatte ihn gelehrt, »daß in einem künftigen Kriege die Ernährung der Armee und des Landes eine geradezu entscheidende Rolle spielen kann«63. Caprivi hatte die Achillesferse eines Industriestaates aufgedeckt, der von der Versorgung mit Nahrungsmitteln und strategischen Rohstoffen aus Übersee abhängig war. In den Debatten über den Haushalt der Marine und den des Auswärtigen Amtes Anfang 1892 Heß er sich über die Rolle aus, welche die Marine dabei spielen konnte, diese Verwundbarkeit zu schmälern64. Nicht nur könne sie der Armee die Last des Küstenschutzes abnehmen und die seeseitige Beschießung von Städten verhindern, sondern sie könne vor allem die viel wichtigere Aufgabe des Seehandelsschutzes übernehmen. Einmal mehr betonte er, es sei ülusorisch, darauf zu hoffen, daß Staaten sich in künftigen Kriegen der Pariser Seerechtsdeklaration fühlen würden. Seeschlachten würden wahrscheinHch niemals über das verpflichtet Schicksal von Staaten entscheiden, ihre Folgewirkungen aUerdings könnten bedeutend sein. Der Sieger konnte den Besiegten nur dann zum Aufgeben zwingen, wenn er entweder sein Land besetzte oder seinen Seehandel unterband. Je stärker der Gegner von diesem Handel abhängig war ob es nun um die Versorgung der Bevölkerung oder um den Nachschub wichtiger Rohstoffe für die Industrie ging —, um so heftiger würde der Drang sein, selbigen zu zerstören65. Caprivi identifizierte aber nicht nur die neue wirtschaftüche Schwäche bei der Verteidigung des Reiches, sondern er war sich auch der Tatsache bewußt, daß Deutschland auf dem Gebiet der Seestrategie unter einem ernstzunehmenden Handikap Htt. Er führte dies in seiner Reichstagsrede vom 8. März 1893 zum Marinehaushalt aus66. Zu Beginn untermauerte er die Glaubwürdigkeit seiner Position, indem er darauf hinwies, daß man ihm nicht vorwerfen könne, je ein Marineenthusiast gewesen zu sein. Dennoch müsse der Marine eine tragende RoUe eingeräumt werden. Er wiederholte seine Argumente des Küstenschutzes zur Verhinderung von Invasionen und Bombardierungen. Die Hauptaufgabe der Marine bestehe darin, den deutschen Handel zu schützen, indem sie eine Blockade der Küste zu verhindern suche. Es gebe zwei Wege, den Handel während eines Krieges aufrechtzuerhalten. Das alte Verfahren, Getreideschiffe in Geleitzügen zu schützen, sei nicht länger ausführbar, deshalb müßten die Kreuzer des Gegners von den eigenen aufgespürt und zerstört werden. In einem Krieg gegen eine westhehe Macht (z.B. Frankreich), die über weit mehr Kreuzer verfügte als das Reich, machte Deutschlands geographische Position dies zu einem sehr schwierigen Unterfangen: »Was bei uns eingeführt werden soll und über den adantischen Ozean kommt, muß entweder den Kanal passieren oder nördHch um England herumgehen. Einer an Kreuzern überlegenen feindHchen Flotte würde es nicht schwer sein, den Weg über dem Nordende von Schottland so zu beobachten, daß die Passage für unsere Schiffe eine schwierige wird«. —

« 64 '•3 «•

Ebd., S. 173. Ebd., S. 210-228 (Reden vom 27. und 29. Februar und 4. März). Ebd., S. 223 f. Schultheß 1893, S. 20 f.

Zweiter Teil

134

Deutschlands geographische Lage und Frankreichs Mehr an Kreuzern schlössen es aus, den Handel auf den atlantischen Seewegen zu schützen. Caprivi ging jedoch nicht davon aus, daß dadurch aUer Handel zum Stillstand käme. Er hoffte,

daß die modernen Handelsschiffe selbst den schnellsten Kreuzern entkommen könnten67. Somit kam die zweite Alternative in Betracht: die Verhinderung einer engen Blockade der deutschen Küste. Die Aufgabe der deutschen Panzerschiffe und Torpedoboote war es daher, das ungestörte Einlaufen denjenigen Schiffen zu ermögHchen, denen es gelungen war, entweder den Kanal oder die nördHchen Zugänge der Nordsee zu passieren. An dieser SteUe müssen zwei Punkte festgehalten werden. Erstens: Caprivis grundlegende Überzeugung von einem nahe bevorstehenden Zweifrontenkrieg führte ihn dazu, ein schwaches Güed in der Kette von Landesverteidigungsmaßnahmen zu entdecken: die wachsende Bedeutung des Seehandels, von dem die deutsche GeseOschaft für den Import strategischer Rohstoffe abhängig geworden war. Ursprünglich hatte Caprivi Moltke und Stosch beigepflichtet, daß die Aufgabe der Marine darin bestehe, die Invasion gegnerischer Truppen und die Beschießung deutscher Städte von See her zu verhindern. Nun jedoch erkannte er eine dritte Aufgabe: Eine enge Blockade der deutschen Küste, durch die in Kriegszeiten die Einfuhr wichtiger Importe unterbunden würde, mußte verhindert werden. Er führ in seiner Rede wie folgt fort: »Wir brauchen also die Panzer nicht, um auf Abenteuer auszugehen, sondern um unsere Existenz während eines Landkrieges zu sichern; denn wenn wir während eines Krieges auf einen Import nicht mehr rechnen können, kann unsere Existenz schwer bedroht sein«. Getreide war das wichtigste und entscheidendste Importgut. Deutschland brauchte aber auch Rohstoffe für seine Industrie und andere Güter aus Übersee. Eckart Kehr hat darauf hingewiesen, daß Caprivi in seiner Zeit der einzige Staatsmann war, der in der Verhinderung der Blockade die wesentHche Aufgabe einer deutschen Flotte sah68 in der Sicht des Nachfolgers Bismarcks hieß dies, die enge Blockade aufzubrechen, um so den durch die Sperren im Kanal und in der nördHchen Nordsee gelangten Handelsschiffen das Einlaufen in die deutschen Häfen zu ermögHchen. Trotz aller Rhetorik über den Schutz deutscher Seeinteressen war dies nicht das Ziel der von Tirpitz geplanten Schlachtflotte. Der zweite Punkt hat weitreichende Implikationen. Caprivi erkannte, daß die überaus schlechte geographische Lage Deutschlands in einem Winkel der Nordsee, von dem aus der Zugang zum Atlantik durch die Britischen Inseln versperrt war, in einem Seekrieg seine beunruhigendste strategische Schwäche darstellte. Bei diesen mit Frankreich Überlegungen spielte es keine Rolle, daß er nur an einen Krieg dachte ein Krieg mit England stand noch nicht zur Debatte. Im Falle eines Krieges mit England allerdings würde diese Schwäche noch weitaus verheerendere Folgen nach sich ziehen. Eine überlegene westüche Marine konnte gegen Deutschland im Kanal und in dem Seegebiet zwischen den Shedandinseln und Norwegen eine lähmende weite Blockade verhängen. Dies war das SchUmmste, -



67 68

Siehe auch seinen Brief an Max Schneidewin vom 22.2.1896, in Schneidewin, Briefe, S. 251. Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 254 f.

II. Die deutsche

135

Gesamtstrategie

der deutschen Marine passieren konnte. Weder die von Stosch übernommene Flotte Caprivis noch die viel größere, die Tirpitz gebaut hatte, waren technisch oder operativ darauf vorbereitet, eine solche Blockade zu durchbrechen69. Tirpitz' Vorstellungen werden im Detail in späteren Kapiteln behandelt, es scheint aber in bezug auf die hier aufgeworfenen Probleme nützlich, die Unterschiede zwischen seiner Position und der von Caprivi kurz zu umreißen. Beide Männer waren sich gleichermaßen der Tatsache bewußt, daß Deutschlands schneüe IndustriaHsierung und seine zunehmende Abhängigkeit vom überseeischen Handel die für die nationale Strategie gültigen Grundregeln verändert hatten. Beide erkannten, daß die Marine dem schHmmsten Fall einer weiten, von einer überlegenen westlichen Marine errichteten Blockade operativ nichts entgegensetzen konnte70. Ihre Lösungsvorschläge allerdings waren sehr verschieden einfach deshalb, weil ihre Visionen von der weiteren Entwicklung Deutschlands und der RoUe der Marine einander diametral entgegengesetzt waren. Caprivi wollte Deutschlands Stellung als Kontinentalmacht stärken und sichern und wenn nötig den Status quo in einem Zweifrontenkrieg verteidigen. Tirpitz deutete gegenwärtige wirtschaftliche Stärken und Schwächen unter dem BHckwinkel seiner Überzeugung, daß Deutschland einen Kurs der überseeischen Expansion einschlagen müsse. Seemacht, so behauptete er, sei die einzig sichere Grundlage für eine solche PoHtik, und folgHch benutzte er jedes Argument für den Bau einer größeren Schlachtflotte. Caprivi war bereit, begrenzte Ressourcen zu investieren, um Deutschland vor den mögHchen Folgen seiner neuen Schwäche zu schützen. Tirpitz schlachtete diese Schwäche in seiner Propaganda für eine Flotte, die der überseeischen Expansion dienen soUte, aus. Beide Männer erkannten, daß das Wachstum von Handel und Industrie einen unaufhaltsamen Prozeß darstellte und daß die Zukunft Deutschlands von seinem Zugang zu ausländischen Märkten abhing71. Caprivi begriff— richtigerweise —, daß Deutschlands Nachbarn seine wichtigsten Handelspartner waren, und seine Handelspolitik war folgHch darauf ausgerichtet, Deutschland den Zutritt zu diesen

was



69

Dies wäre dann eine Blockade im strategischen, nicht aber im rechtlichen Sinne des Wortes. Im Rahmen des geltenden Rechts konnte eine westliche Macht Handelsschiffe unter deutscher Flagge aufbringen, indem sie ihr Recht als Kriegführender wahrnahm, feindliches Gut an Bord feindlicher Schiffe zu beschlagnahmen und neutrale Schiffe nach für Deutschland bestimmte Konterbande zu durchsuchen. Es ist korrekt, die Flotte, die Caprivi vorschwebte, als blockadebrechende Flotte zu beschreiben, weil sie so ausgelegt sein sollte, daß sie eine effektive (d.h. enge) Blockade deutscher Häfen die unter den Richtlinien der Pariser Seerechtsdeklaration einzig legale Form von Blockade verhindern konnte. Eine Macht, die eine »weite Blockade« errichtete und in deren Rahmen neutrale Schiffe anhielt, die mit für Deutschland (oder seine neutralen Nachbarn) bestimmten Waren, die nicht zur Konterbande zählten, beladen waren, würde sich einer klaren Verletzung des Völkerrechts schuldig machen unabhängig davon, wie effektiv ihre Kontrolle über die Zufahrtswege zur Nordsee ausfiele. Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 240. Tirpitz' Nachrichtenbüro verwandte Caprivis Rede zu Propagandazwecken. Dies kann unter den Schlagwörten »Caprivi« und »Blokkade« nachgelesen werden in Nauticus, ABC der Ftottenfrage, einer Sammlung von Propagandamaterial, welches in der Kampagne für das zweite Flottengesetz eingesetzt wurde. Vgl. Caprivi im Reichstag, 10.12.1891 (Arndt, Die Reden des Grafen von Caprivi, S. 177); Tirpitz in seiner Unterredung mit Wilhelm II., 28.9.1899, Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Wcltp«»litik, S. 161. -



-

70

71

Zweiter Teil

136

Märkten zu sichern72. Er rechnete damit, daß Deutschlands wirtschafdiche Stärke bald Europa dominieren würde, und wünschte sich eine Zukunft, in der ein vereintes Europa unter deutscher Führung sich gegen die aufstrebenden kontinentalen Wirtschaftsräume der Vereinigten Staaten, Rußlands und Chinas behaupten könne73. Tirpitz erklärte, Deutschlands Zukunft hänge von der Expansion seines Überseehandels ab und daß der Erwerb von Kolonien und der Zugang zu weit entfernten Märkten nur sichergestellt werden könne, wenn Deutschland eine mächtige Schlachtflotte in europäischen Gewässern besitze. Caprivis blockadebrechende Flotte hatte die Aufgabe, in einem Krieg in Europa zur Sicherheit des Landes beizutragen; Tirpitz' »Risikoflotte« war so ausgelegt, daß sie Deutschlands wirtschaftHche und koloniale Expansion außerhalb Europas abstützen soUte. Es war die »poHtische Bedeutung der Seemacht« (in Friedenszeiten), die, nach Tirpitz' Vorstellung, Deutschlands Überseehandel und seine Kolonien vor Angriffen schützen würde. Daher sah er keine Notwendigkeit darin, Lösungen für das Eintreten des schHmmsten Falles einer weiten Blockade, der 1897 ihm selbst bewußt geworden war, zu finden. Nach der Seemachtideologie würde eine »den deutschen Seeinteressen entsprechende« Marine sogar Großbritannien von dem Versuch abhalten, seinen wirtschaftlichen Rivalen auszuschalten, und daher die Grundlage bilden für den Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht. Caprivi war damit beschäftigt festzulegen, was die Marine tan konnte, um die Versorgung mit strategischen Rohstoffen in einem Krieg auf dem europäischen Kontinent zu sichern. Die Quellenbasis ist sehr schmal; was aUerdings vorhanden ist, läßt vermuten, daß er impHzit erkannt haben könnte, daß letzten Endes ein solcher Schutz nicht nur von den Fähigkeiten der deutschen Marine abhing, sondern auch von der Haltung der bedeutendsten Neutralen. Der wichtigste Unterschied zwischen Caprivi und Tirpitz bestand darin, daß Caprivi (wie Bismarck) das tragende Fundament der maritimen Dimension der Landesverteidigung des Deutschen Reiches im Mächtegleichgewicht und nicht in seiner eigenen Seemacht sah. Eckart Kefirs scharfsichtige Beobachtungen haben am besten den Unterschied zwischen der dem europäischen Kontinent zugewandten und der imperialistischen Geisteshaltung getroffen74. Laut Kehr hoffte Caprivi auf ein Bündnis mit Großbritannien, um der Notwendigkeit einer größeren deutschen Flotte aus dem Wege gehen zu können. Die Royal Navy würde dann die deutschen Importe vor den französischen Kreuzern schützen. Die Art von Konservatismus, der er verhaftet war und die noch vom Weltbürgertum der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beeinflußt war, Heß ihn nicht vor der Idee zurückschrecken, die eigene Position mittels der militärischen Unterstützung anderer Staaten zu erhalten. Dies aber war gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer ziemHch riskanten Vorstellung geworden, und Caprivi entschied sich aus Sicherheitsgründen dafür, daß Deutschland 72

Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 230, Anm. 8, weist darauf hin, daß sogar noch im 1913 76 % der deutschen Exporte in andere europäische Länder und nicht nach Übersee

Jahre

flössen.

73 74

Reichstagsrede vom 10.12.1891, in Arndt, Die Reden des Grafen von Caprivi, S. 179 f. im OrigiKehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 257, Anm. 36 und 39 (Hervorhebungen nal) ; dort auch das folgende.

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

137

wohl doch eine bescheidene Kreuzerflotte brauchte. »Aus dieser Blockadebrecherflotte hat sich dann die Theorie entwickelt, die in der Flotte ein Vehikel sah, das Deutschland zur Weltvormacht emporführen sollte.« Nach dieser »späteren Auffassung« sollte »die Flotte den deutschen Kolonialbesitz und Welthandel absolut sicherstellen [...] Caprivis Flotte hatte zur Aufgabe, die Einfuhrwege offenzuhalten, Tirpitz's Flotte hatte ihrer Motivierung nach die Aufgabe, die Ausfuhrwege offenzuhalten«. Obgleich es nicht zu einem Bündnis mit Großbritannien kam, schien Caprivi die relative Sicherheit, die der Rahmen des maritimen Gleichgewichtes bot, erkannt zu haben. Der Nachweis hierfür beleuchtet gleichzeitig seine Haltung gegenüber Großbritannien. Als er sich im September 1892 dazu entschied, die Untersuchungen zum Versorgungsproblem auf Eis zu legen, tat er dies, weil er begriff, daß die Position, die Großbritannien in einem Krieg einnehmen würde, für Deutschland von so lebenswichtiger Bedeutung war, daß jedes deutsche Planen für den NotfaU zur nachgerade Bedeutungslosigkeit verurteüt erschien. Wenn Großbritannien die strikte Neutraktät wahren würde wie im Jahre 1870, so wäre die Wirksamgleiche keit der französischen Kreuzer dadurch behindert, daß sie in britischen Häfen keine Kohle erwerben könnten75. Am bedeutendsten aber war, daß, falls Großbritannien und die Vereinigten Staaten auf ihren Rechten als Neutrale bestanden, Deutschland mit den von ihm benötigten strategischen Rohstoffen und Nahrungsmitteln mittels neutraler Fracht versorgt werden könnte. Es könnte sogar seine Handelsflotte unter neutrale Flagge stellen, so daß sie vor der Aufbringung geschützt wäre. Auf der anderen Seite wäre Deutschland, soUte Großbritannien aus Gründen der eigenen Politik die französischen NeutraHtätsverletzungen oder sogar eine Erweiterung der Konterbande auf Nahrungsmittel (wie Frankreich dies 1885 im Krieg mit China getan hatte) hinnehmen, absolut machtlos. Caprivi scheint diese Punkte nicht so unverschleiert angesprochen zu haben, und sie stehen auch in der Tat in offenem Widerspruch zu der Skepsis, die er im Reichstag gegenüber der Pariser Seerechtsdeklaration an den Tag legte. Diese Skepsis läßt sich jedoch noch schwerer erklären, wenn man sich einmal ins Gedächtnis ruft, wie sehr sich Frankreich 1870 zurückgehalten hatte, um es sich mit Großbritannien nicht zu verderben76. Sehr wahrscheinHch war der Kanzler mit der Erfahrung, die er gerade in der Admiralität erworben hatte, von der BrutaHtät der aus Frankreich herüberdringenden radikaleren Rhetorik der »Jeune Ecole« beeinflußt worden. Der damals führende deutsche MarinepubHzist glaubte, hierin die -



73

Während des Deutsch-Französischen britischer

7f>



Herrschaft,

Krieges hatte Helgoland, zu diesem Zeitpunkt noch unter den französischen Blockadestreitkräften den Zugang verwehrt, den diese

benötigten, um ihre Kohlevorräte zu ergänzen.

Thiers wurde auf eine Sondermission nach London geschickt, um der Regierung dort zu versichern, daß Frankreich die britische Flagge respektieren würde. Die französische Blockadeflotte hatte strikte Anordnungen, sich keinen der Neutralen zum Gegner zu machen, vc»r allem nicht Großbritannien. Ein Rückgang im Handel mit den Häfen der Hansestädte wurde durch eine Ausweitung des Verkehrs über neutrale Zwischenhändler ausgeglichen. Die britischen Dampfer hielten sogar den regulären Verkehr mit den deutschen Häfen aufrecht. Vgl. Masson, Histoire de la marine, Bd 2, S. 125-128.

Zweiter Teil

138

Ankündigung vom Ende

der Pariser Seerechtsdeklaration zu sehen. Dennoch war auch er sich sicher, daß Frankreich es nicht wagen würde, sich in einem Krieg mit Deutschland wegen einer Mißachtung des Seerechtes Großbritannien und die Vereinigten Staaten zum Feind zu machen77. Es bieten sich zwei vorsichtige Erklärungsversuche für Caprivis Pessimismus an. Vermutete er, daß, sollte ein »Weltbrand« Europa in Flammen setzen, die britische Regierung lebenswichtigere Interessen durch den Ausgang eines kontinentalen Konfliktes gefährdet sehen könnte als durch die wirtschaftlichen Verluste, die Großbritannien mit einer schonungslosen französischen Blockade entstünden? Die Krieg-in-Sicht-Krise von 1875 hatte Bismarck gezeigt, daß Großbritannien und Rußland es Deutschland nicht durchgehen lassen würden, Frankreich aus dem europäischen Mächtegleichgewicht zu stoßen. Caprivi könnte erkannt haben, daß ein solcher Krieg es Großbritannien unmögHch machen würde, dem Ausgang gleichgültig gegenüberzustehen78. Das Zweifrontenszenario, welches er dem Bundesrat im Oktober 1892 auseinandersetzte, teilte mit Moltkes letzten Kriegsplänen die Prämisse, daß Deutschland bestrebt sein müsse, in einem lang andauernden Konflikt standzuhalten79. Caprivis MarinepoHtik und seine Überzeugung, daß Deutschland schHeßHch Verbündete finden würde, die bereit wären, für seinen Bestand zu kämpfen, hingen eng mit der Vorstellung zusammen, daß Deutschland die Fähigkeit zu einer langfristigen defensiven Kriegsanstrengung wahren müsse, ohne dabei dem Gegner eine entscheidende Niederlage beibringen zu müssen. Mit einer solchen Zurückhaltung würde man Großbritannien mögHcherweise nicht entfremden, doch wurde diese Idee schon von SchHeffens Suche nach dem Rezept für den entscheidenden Sieg untergraben. Außerdem hatte Moltke gerade den Reichstag gewarnt, daß der Druck der Öffentlichkeit, den ein Volkskrieg erzeuge, einen solchen in einen Kampf bis zum bitteren Ende verwandeln würde. Selbst eine konservative, defensive Politik, die nur der Erhaltung des Status quo dienen soUte, konnte mit all ihren Folgen für das kontinentale Mächtegleichgewicht zu einem uneingeschränkten Volkskrieg eskaHeren. SoUte es hierzu kommen, war es unwahrscheinHch, daß die mächtigen Neutralen mit einem lebenswichtigen Interesse am Ausgang des kontinentalen Konfliktes gewillt wären, sich an die Pariser Seerechtsdeklaration zu halten. Die zweite Erklärung ergibt sich daraus, daß General Caprivi, trotz seiner Zeit an der Spitze der AdmiraHtät, die Geringschätzung für das Völkerrecht teüte, die sich durch das preußische miHtärische Denken von der ersten Seite vom Clausewitzschen »Vom Kriege« bis zu der von SchHeffen geplanten Verletzung Belgiens und darüber hinaus zog80. Er hätte, so gesehen, den grundlegenden Unterschied zwischen den Gesetzen des Landkrieges und des Krieges zur See nicht verstanden, der darin bestand, daß das Seekriegsrecht durch die Seemacht der Neutralen sank-





Stenzel, Über Kriegführung

7S

zur See, S. 69 f.; Stenzel, Die deutsche Flotte, S. 13-15. Stenzel wird im nächsten Abschnitt näher behandelt. sich Caprivi Tirpitz (Erinnerungen, S. 25) allerdings in der Rückschau urteilend glaubte nicht,S. daß dieser Gefahr bewußt war. Vgl. Hillgruber, Zwischen Hegemonie und Weltpolitik, 195 f. Ritter, Der Schlieffenplan; Snyder, The Ideology of the Offensive, S. 116 f. Vgl. zum Überblick über dieses Thema Messerschmidt, Völkerrecht und »Kriegsnotwendigkeit«. -

79 80

-

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

139

tioniert wurde. Oder um es anders auszudrücken: Caprivi könnte nicht ganz begriffen daß die Neutralen ein starkes Interesse an der Aufrechterhaltang der Pariser Seerechtsdeklaration hatten. Dieses Interesse konnte nicht mit der viel ernsteren Entscheidung einer Landmacht, auf deutscher Seite in den Krieg einzutreten, auf eine Stufe gesteUt werden. Indem sie sich der Ausübung der vollen Rechte des Kriegführenden durch eine überlegene Seemacht (Frankreich) widersetzten, würden die neutralen Seemächte (Großbritannien und die Vereinigten Staaten) ledighch ihre eigenen Handelsinteressen verteidigen; dadurch würden sie aber der schwächeren Seemacht (Deutschland) indirekte Unterstützung zukommen lassen. Der von der Rhetorik der »Jeune Ecole« vermutüch alarmierte Caprivi erkannte nicht, daß nur durch die Erwartung eines vollständigen deutschen Sieges über Frankreich die Bedrohung einer Hungerblockade WirkHchkeit werden konnte. Sein Pessimismus bezügüch der Pariser Seerechtsdeklaration wäre nur dann begründet gewesen, wenn seine konservative, defensive Strategie für den Fall eines Zweifrontenkrieges hätte abgelöst werden sollen durch eine Strategie mit dem Ziel eines entscheidenden Sieges. Wenn dies nicht der FaU war (nach den Erfahrungen von 1871 ein sehr großes »wenn«), dann dienten seine PoHtik des Baus einer Flotte, die zum Kampf gegen die enge Blockade ausgelegt war, und sein Bemühen um die Aufrechterhaltang guter diplomatischer Beziehungen zu Großbritannien der Stärkung der nationalen Sicherheit. Ob diese Erklärungen zufriedenstellend sind, muß eine Untersuchung der preußisch-deutschen SeerechtspoHtik zeigen ein Thema, welches schon lange wissenschaftlich hätte in Angriff genommen werden müssen. Was zum Abschluß dieses Abschnittes mit den angeführten Vorbehalten über Caprivi gesagt werden kann, ist, daß er für eine blockadebrechende Flotte eine RoUe fesdegte, die sie in ein weitergefaßtes, defensives Konzept der Landesverteidigung integrierte. Obgleich sein Konzept bald von der steigenden Flut der »WeltpoHtik« fortgespült werden sollte, gab es Zeugnis von einer ausgeprägteren Sensibilität bezüglich der Grenzen der deutschen Macht, als aUe nachfolgenden Konzepte zu erkennen geben sollten. Die begrenzte Rolle, die er für die Flotte vorsah, schien enger auf andere Gebiete der PoHtik abgestimmt zu sein als spätere maritime Obsessionen von Teilen einer chaotischen und unkoordinierten Reichsführung. Dieser Unterschied kann am besten erklärt werden, wenn man Caprivis Interesse an der Marine als einem Instrument der Landesverteidigung (in einem unmittelbar bevorstehenden Krieg auf dem europäischen Kontinent) mit dem Interesse der Navalisten kontrastiert, welche die Marine als Mittel imperiaHstischer Expansion (in einer langen Friedensperiode der RivaHtät mit anderen Mächten) genutzt sehen wollten81. In ihrer systematischen Berücksichtigung aller Aspekte der Marinepolitik

haben,







Oder wie Theodore Ropp sich ausgedrückt hat (The Development of a Modern Navy, S. 334 f.): »During the period from 1870 to 1914 there were four navies in Europe that could be called »modern«, in the sense that a definite matériel was built according to a general set of definite strategic ideas. They were the English navy, whose theory was expressed in the writings of Cotomb and Mahan; the Italian navy designed by Brin, Saint Bon, and the Commission of 1872 to prevent an invasion of the peninsula; the German coast-defense navy started by Moltke in the 1870s and brought to its highest perfection by Caprivi in the 1880s; and the French navy begun under

Zweiter Teil

140

lagen Caprivi und Tirpitz eigentlich recht nah beieinander. Was ihre poHtische anbelangte, könnten sie nicht weiter voneinander entfernt gewesen sein. in Obgleich mehr als einer Hinsicht ein pessimistischer Mihtarist, dachte Caprivi dennoch in den Bismarckschen Kategorien des kontinentalen Gleichgewichtes. Er suchte die nationale Sicherheit des Reiches zu gewährleisten, indem er das brökkelnde diplomatische »System« seines Vorgängers ersetzte durch eine stärkere Armee und eine kleine, aber effektive Marine im diplomatischen Rahmen eines starken Dreibundes und guter Beziehungen zu Großbritannien. Der Tirpitz-Plan basierte auf der Prämisse, daß Deutschland expandieren müsse, um zu überleben, daß

Weltsicht

es im Zeichen des Protektionismus Kolonien und Märkte erwerben und eine Weltmacht werden müsse und daß die Verteidigung ledighch des Status quo unausweichHch zu seinem Untergang führen würde. Diese Ziele des Planes könnten, so Tirpitz, nur mittels der »poHtischen Bedeutung der Seemacht«, besonders durch deren dämpfende Wirkung auf die britische Haltung gegenüber deutscher Expansion, erreicht werden. Zwei Monate nach Caprivis Rede zur Marine im Jahre 1893 veranlaßte der Streit um die Armeevorlage den Kanzler dazu, den Reichstag aufzulösen. Die nachgiebiger gestimmte Mehrheit, die aus den Neuwahlen hervorging, verabschiedete die Vorlage, die Deutschlands SteUung als Großmacht auf dem europäischen Kontinent stärken sollte. Vier Jahre später überzeugte Tirpitz, der neue Chef des Reichsmarineamtes, den Kaiser und den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Bülow davon, daß sein geplantes erstes Flottengesetz Deutschlands Stellung gegenüber Großbritannien verbessern und den Grundstein für dessen Aufstieg zur Weltmacht legen würde. Für ein Bauprogramm, welches nicht darüber hinausging, erneut eine Schlachtflotte zweiten Ranges zu schaffen, die ungefähr die gleiche Größe hätte, wie die des Flottengründungsplanes von Stosch, waren dies überzogene Ansprüche. Der gleiche Reichstag verabschiedete das Gesetz 1898 eben wegen seiner Begrenztheit. Die Mehrheit derer, die das Gesetz unterstützten, stimmten für eine aus zwei Geschwadern bestehende Schlachtflotte in der Hoffnung, ein so klar definiertes Ziel könne den »uferlosen« Plänen Wilhelms, die auf eine Unmenge von Auslandskreuzern abzielten, ein Ende setzen. Das zweite Flottengesetz, welches die SoH-Größe der deutschen Flotte zwei Jahre später verdoppelte, markierte die wirkHche Abwendung von den Zielen der preußisch-deutschen MarinepoHtik, die in dem vergangenen halben Jahrhundert die Richtung vorgegeben hatten. Ob nun diese Flotte eine ebenso gut begründete neue Rolle zu spielen hatte, soU in den folgenden Kapiteln diskutiert werden. An dieser SteUe soU der Hinweis genügen, daß die strategische und diplomatische WirkHchkeit im Jahre 1900 sich noch nicht gewandelt hatte. Es war das ideologische Klima, welches sich durch das Erstarken expansionistischer Forderungen innerhalb des deutschen Bürgertums und durch die »von oben« gesteuerte Verbreitung navaHsti-

the five laws of 1900. Curiously enough, the most famous new navy of this pertod, Tirpitz's High Seas Fleet of 1900, does not fall into this category. [...] Tirpitz and the Kaiser based their new High Seas Fleet on [...] a curious anachronism: they and their popular backers saw the fleet not as an instrument of national defense but as >a symbol of added power«.«

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

141

verändert hatte. Einer von Caprivis schärfsten Kritikern, der Chef des Marinekabinetts, Admiral von Müller, zollte Caprivi zwei Jahre spätere nach dessen Rücktritt unfreiwilHge Anerkennung: »Der General von Caprivi hat an die MögHchkeit einer Weltmachtstellung für Deutschland überhaupt nicht geglaubt, und die an seinen Namen geknüpfte PoHtik hat nur die Behauptung der Machtstellung auf dem europäischen Kontinent im Auge gehabt. Sie verfuhr deshalb ganz folgerichtig, indem sie im Innern auf die Stärkung der Armee hinarbeitete, die Marine auf die RoUe der Küstenverteidigung im engeren Sinne beschränkend, und indem sie gute Beziehungen zu England, dem natariichen Verbündeten gegen das die europäische Machtstellung gefährdende Rußland sucht. Die jetzt so geschmähte Caprivische PoHtik würde in der Geschichte glänzend gerechtfertigt dastehen, wenn das deutsche Volk sich nicht zu einer ganz anderen Auffassung seiner Expansionsfähigkeit und Expansionspflicht aufschwänge, wie sie in der bisherigen Marine- und Kolonialentwicklung ausgedrückt ist82.« Die Ablehnung von Caprivis KontinentalpoHtik gehört zu der poHtischen Geschichte des Reiches. Aber eine Parallelentwicklung auf dem Gebiet, welches aus Mangel an einer zutreffenderen Terminologie mit Gesamtstrategie bezeichnet werden muß, war die Desintegration des verhältnismäßig eng aufeinander abgestimmten Zusammenhanges, der auf dem Gebiet poHtisch-miHtärischer Entscheidungsfindung unter Caprivi noch gegeben war. Für Denis Showalter reichten die Wurzeln dieses Phänomens sogar in die Reichsgründungszeit zurück: »Since 1871 German grand strategy had increasingly replaced planning with rhetoric, the intoxicating talk of remapping the globe and inheriting the legacy of a decHning Britain83.« Diese Auflösungserscheinungen auf höchster politischer Ebene bereiteten am Ende des Jahrhunderts der Ausführung des Tirpitz-Planes den Weg. Zeitgleich setzte bei der deutschen Führung und in der öffentHchen Meinung ein tiefgreifender Trans forma tionsprozeß ein. Dieser kennzeichnete den Übergang von Kontinental- zu WeltpoHtik, von Landesverteidigung zu imperiaHstischer Expansion, von Seestrategie zu navalistischer Propaganda und, innerhalb der Marine, von der preußischen zur deutschen Schule seestrategischen Denkens. scher

Propaganda

2. Die

preußische Schule seestrategischen Denkens

Nach dieser Darstellung der Rolle, die Moltke, Stosch und Caprivi der Marine im Rahmen der deutschen Gesamtstrategie zuerkannten, scheint es nun nötig, das Augenmerk auf die Entwicklung der preußischen Schule seestrategischen Denkens zu lenken. In den Jahren 1871 bis 1890 waren es die relative Bedeutungslosigkeit, zu der die Marine in den Planungen für die Landesverteidigung verurteilt war, so82 83

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. Showalter, German Grand Strategy, S. 82.

121.

Zweiter Teil

142

Unterordnung der Marine unter die Armee, welche maßgebHch die Entwicklung des seestrategischen Denkens prägten. Und es waren die besonderen institationeUen und theoretischen Begleitumstände der ersten theoretischen Geh-

wie die

versuche in der KaiserHchen Marine, welche sie am meisten von den Marinen Großbritanniens und Frankreichs unterschieden. In dieser Hinsicht hatte die KaiserHche Marine viel mehr gemeinsam mit der Marine der Vereinigten Staaten. Bis Mitte der 1890er Jahre aUerdings war die preußische Schule seestrategischen Denkens zu einem Verständnis von moderner Seekriegführung gelangt, welches dem der »Blue Water Schook und der »Jeune Ecole« erstaunHch ähnHch war. Sie brachte operative Doktrinen hervor, welche die KaiserHche Marine systematisch auf die ihr zugedachten Aufgaben vorbereiteten. Diese Doktrinen halfen, Größe und Zusammensetzung einer Flotte zu bestimmen, die den maritimen Bedürfnissen Deutschlands am besten gerecht werden konnte. Auf dieser Basis entwickelte das Oberkommando die Baupläne, die letztendHch mit der Annahme des ersten Flottengesetzes von 1898 umgesetzt wurden. Die grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung des deutschen seestrategischen Denkens war die nahezu voUständige IsoHerung der Marine in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens. Die Öffentlichkeit hatte sie ignoriert, PoHtiker hatten sich nicht für sie interessiert, und die Armee hatte auf sie herabgesehen. Selbst die Fachzeitschriften, die an sich für beide, Armee und Marine, zuständig waren, hatten weder für die deutsche Marine noch für die internationale Entwicklung auf diesem Gebiet Interesse gezeigt. In Frankreich hingegen wurde die Debatte über aUes mit der Marine Zusammenhängende stark politisiert; es erschienen wichtige Artikel in den Zeitungen und in den führenden Zeitschriften, so in der Revue des deux Mondes, aber auch in renommierten Fachzeitschriften wie der Revue maritime et coloniale. In Großbritannien mag SelbstgefälHgkeit das öffentHche Bild bis Mitte der 1880er Jahre bestimmt haben, die Debatte über die Marine aber wurde bei den Treffen der Royal United Service Institution und auf den Seiten ihrer einflußreichen Zeitschrift unablässig vorangetrieben. Es gab hier auch einige Fachzeitschriften, die sich ausschHeßlich mit Angelegenheiten der Marine auseinandersetzten. Vor der Gründung der Marine Rundschau im Jahre 1890 gab es in Deutschland nichts vergleichbares. Auch die Inhaltsdurchsicht führender miHtärischer Zeitschriften von den Jahrgängen der zwei vorangegangenen Jahrzehnte enthüllt nichts von Bedeutung in bezug auf maritime Angelegenheiten. Im Jahre 1872 begann das Marineverordnungsblatt auf Veranlassung Stoschs, Beihefte herauszugeben. Stosch woUte innerhalb des Marineoffizierkorps ein FoähnHch dem, das es, dank einer Anzahl rum für fachkundige Debatten eröffnen in der hervorragender Zeitschriften, preußischen Armee schon lange gab. Wie die an von sollten sich die darin abgedruckten Artikel erklärten, Anfang Herausgeber ausschließlich mit Fachfragen auseinandersetzen Fragen zu PoHtik oder Strategie sollten ausgeklammert werden84. Diese Beihefte scheinen vor der Gründung der Marine Rundschau das einzige fachspezifische Forum für die Diskussion solcher Themen gebildet zu haben. Eine sorgfältige Prüfung der Inhalte des Marineverord—



84

Vgl. Benachrichtigung der Redaktion, in Beiheft zum Marineverordnungsblatt, 1 (1872).

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

143

nungsblattes für die Jahrgänge 1875 bis 1890 fördert ledighch zwei oder drei Artikel zu Tage, die auch nur entfernt mit einer Diskussion über Strategie oder Taktik in Verbindung gebracht werden können. Noch nicht einmal auf die wichtigeren zeitgenössischen britischen und französischen Debatten wurde nennenswerter Bezug genommen. Es besteht kein Zweifel, daß Offiziere mit einem Interesse an theoretischen Zusammenhängen sich über die Entwicklungen in diesen beiden Ländern informierten. Sie scheinen aber kein Interesse daran gehabt zu haben, neue internationale Entwicklungen untereinander auf einer formelleren Ebene zu

diskutieren85. Auch in den weniger spezifisch gehaltenen miHtärischen Zeitschriften läßt sich nicht mehr finden. Die Neuen miHtärischen Blätter enthalten in den Ausgaben vor 1892 nicht einen einzigen Artikel über Angelegenheiten der Marine. Die Internationale Revue der gesammten Armeen und Flotten hat immerhin gelegendich Texte von Marineoffizieren über das Leben in den Mangrovensümpfen Südostasiens oder unter Eingeborenen in Peru abgedruckt. Das Militär-Wochenblatt hatte noch weniger zu bieten. Das Periodikum, das sich in der Tat am meisten darum bemühte, seine Leser zumindest über die Marinedebatte in Frankreich zu informieren, waren die Preußischen Jahrbücher die Stütze des deutschen EstabHshments. Obgleich sich diese Situation signifikant von dem unterschied, was sich in fest etabHerten Seemächten abspielte, war sie identisch mit dem Bild, das die Vereinigten Staaten boten: »The U.S. Naval Institute's Proceedings, the Navy's most learned publication, did not run a single article on strategy or tactics from its founding in 1874 until 188686.« Die beiden Marinen hatten noch mehr gemeinsam. Beiden war in den Plänen ihres jeweiligen Landes zur nationalen Verteidigung ledigHch eine NebenroUe zuerkannt worden. Die seit kurzem »wiedervereinigten Staaten« wurden von niemandem bedroht, schon gar nicht von See her87; die deutsche Marine war ein unscheinbarer Juniorpartner der glorreichen Armee, die das Reich geschmiedet hatte und es nun verteidigte. Keine der beiden Marinen hatte bedeutende Aufgaben der lebenswichtigen Versorgung des Landes durch Importe zu meistern. Es scheint gut mögHch, daß dieses überschaubare strategische Umfeld Raum Heß für eine gewisse Bandbreite einfallsreicher Theorien: Jede Überlegung zu Aufgaben der Marine, die über Küstenkriegführung oder Kanonenboot-Diplomatie hinausgingen, eröffnete ein weites Feld für abstrakte Spekulationen. Es entbehrt auch nicht einer gewissen Logik zu vermuten, daß hinter dem Aufgreifen von Theorien, welche die Bedeutung der Marine für die Nation erhöhten, ein stark institationsbedingtes Motiv lag88. —

85

86 87

88

Ich habe keine Hinweise auf eine organisierte Reihe von Vorträgen oder Fachdebatten gefunden (es sei denn, einige der Artikel in den Beiheften des Marineverordnungsblattes sollten die Ergebnisse davon sein). Spector, Professors of War, S. 38. Shulman, Navalism, S. 6-8. Diese Tendenz wird mit der Forderung veranschaulicht, daß die Marine im nächsten Krieg die Offensive ergreifen solle, um ihre Aussichten auf eine zukünftige Vergrößerung zu verbessern. Die unten angeführten früheren Beispiele spiegeln die Erwartung, eine erfolgreiche Offensive werde das Prestige der Marine im Verhältnis zu dem der Armee mehren. Später erschien es sogar lang-

144

Zweiter Teil

In Deutschland Hegen in der IsoHerung der Marine von den Belangen des Landes und in ihrer vollkommenen strategischen Unterordnung unter die Armee die Ursprünge der Entwicklung einer preußischen Schule seestrategischen Denkens begründet. Für diese Entwicklung war charakteristisch, daß sie sich innerhalb einer Randinstitution abspielte, die darum bemüht war, sich von der Bevormundung durch die Armee zu emanzipieren, ohne selbst eigene historische Traditionen zu besitzen, auf die sie hätte zurückgreifen können89. Für einen Marineoffizier, der die Marine von solchen Zwängen befreit sehen wollte, müssen starke institationsbedingte Beweggründe bestanden haben, umfassende abstrakte Theorien zur Seekriegführung zu entwickeln, die deren EigengesetzHchkeit betonten. Zwei geistige Zentren trugen bedeutend zur Entwicklung des seestrategischen Denkens in Deutschland bei. Dies war zum einen die Marine-Akademie in Kiel, zum anderen die Versuchsarbeit, der sich Tirpitz und seine »Torpedobande« in den späten 1870er und 1880er Jahren widmeten. Die Marine-Akademie stellt den besten Ausgangspunkt für eine Studie zur Entwicklung der seestrategischen Theorie dar. Die deutsche Marine schuf schneU eine Bildungseinrichtung für das Marineoffizierkorps. Was den internationalen Trend der ProfessionaHsierung und SpeziaHsierung miHtärischer Institutionen anbelangte, gehörte sie zu den führenden Marinen. Obgleich dieser Trend schon vorher eingesetzt hatte, veriiehen ihm die Kriege der 1860er Jahre neuen Auftrieb. Die Einrichtungen der preußischen Armee hatten sich gegenüber denjenigen Österreich-Ungarns und Frankreichs als überlegen erwiesen und wurden in der ganzen Welt kopiert. Es wurden Generalstäbe geschaffen, um den Krieg zu planen und zu leiten, Kriegsakademien, um Offiziere auf diese Aufgaben vorzubereiten, und historische Abteilungen, die die Lehren aus den Kriegen der Vergangenheit herausarbeiten soUten.

fristig gesehen klüger, der Untätigkeit eine ruhmvolle Niederlage vorzuziehen, da diese zumindest Grundlage für eine Wiedergeburt nach dem Kriege verhieß. Vgl. Caprivi an Bismarck im August 1884, zit. in Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 1, S. 124 f. Das gleiche die

Motiv läßt sich auch im

Oberkommando unter Goltz im Oktober 1889 erarbeiteten S. 43 und Stenzel, Helgoland, S. 39. Die Idee der selbstmörderischen Offensive, in der sich die Flotte für den Ruhm der Marine aufopfert, tauchte bei der Marine immer wieder zu Zeiten auf, in denen ihre Zukunft in den Sternen stand von Tirpitz' Memorandum aus den frühen 1890er ]ahren über die ersten Tage des Krieges 1914 bis zu den letzten Kriegstagen im Oktober 1918, vgl. BA-MA, N 607/10, Hollweg an Wegener, 15.3.1929, Bezug auf ein Zitat von Heeringen aus dem Jahre 1898; Tirpitz, Erinnerungen, S. 311 ff; Deist, Militär, Staat und Gesellschaft, S. 181 f., 195 ff, 199, 210; Gemzell, Organization, Conflict and Innovation, S. 178 ff, 193, 212; Schreiber, Zur Kontinuität des Groß- und Weltmachtstrebens, S. 106-109. Raeder verlängerte diese tief verwurzelte Traditionslinie bis hinein in den ersten vom

Operationsplan finden, vgl. Lambi, The Navy,

-

89

Zweiten Weltkrieg. Zwischen 1848 und 1865 wurden um die dreißig Kadetten und Offiziere der preußischen Marine an Bord von Schiffen der Royal Navy ausgebildet. Einige von ihnen brachten es in der Kaiserlichen Marine der 1880er Jahre zu hohem Rang. In ihrer Ausbildung gab es außer der Navigation keinen theoretischen Teil. Deshalb scheint es unwahrscheinlich, daß das frühe preußische seestrategische Denken in signifikanter Weise von britischem Einfluß geprägt war im Gegensatz zu der Wirkung, die von der bedeutenden organisatorischen und technologischen Unterstützung ausging, welche die Royal Navy über mehrere Jahrzehnte beisteuerte. Vgl. Duppler, Der Juniorpartner, S. 104-136, 352-355 und passim. —

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

145

Als Stosch vorschlug, eine Marineakademie zu gründen, hatte er anscheinend die BerHner Kriegsakademie als Vorbild vor Augen. Der Erfolg und das Prestige dieser Institution waren als Ergebnis der Reichseinigungskriege enorm gestiegen. Man ging überall davon aus, daß sie den Generalstab mit dem Geheimnis des Erfolges ausgestattet hatte. Eine vergleichbare Bildungsstätte wurde natürlich auch für die zukünftigen Offiziere der KaiserHchen Marine benötigt. Ohne die historische Erfahrung von Seekriegführung und mit nur wenigen internationalen Trends, die als Vorbilder zur Verfügung standen, muß die Marine-Akademie einen ungeheuren Einfluß auf die intellektuelle Entwicklung der ersten Generation von Offizieren gehabt haben, die es in der KaiserHchen Marine zu hohem Rang brachten. Obwohl der Einfluß der Kriegsakademie auf die theoretische Schulung des deutschen Generalstabes und des Offizierkorps aUgemein anerkannt ist, wurden keine vergleichbaren Stadien zur Marine-Akademie angesteUt. Es ist einiges über ihre institutionelle Entwicklung und über die gesellschaftHche Zusammensetzung ihrer Kadetten bekannt, so gut wie nichts hingegen weiß man über die Inhalte, die ihnen nahegebracht wurden90. Wird der Blick auf die internationale Ebene erweitert, so ist die Rolle, die entsprechende Einrichtungen für die inteUektaeUe Entwicklung ihrer jeweiligen Marinen gespielt haben, durchaus untersucht und gewürdigt worden. Mahans Bedeutung für das Naval War College der Vereinigten Staaten und umgekehrt soU im nächsten Kapitel besprochen werden. Es wurde zu einem der Zentren, aus denen Doktrinen für moderne Schlachtflotten hervorgingen. Das CoUege führte Kriegsspiele ein und half bei der Ausarbeitung von Kriegsplänen für die Marine der Vereinigten Staaten. Das Royal Naval College in Greenwich, obschon 1873 gegründet, brauchte einige Zeit, um hieran Anschluß zu gewinnen. Einer der dort Lehrenden war John Knox Laughton. Er leistete Pionierarbeit auf dem Gebiet des wissenschaftHchen Stadiums der Marinegeschichte. Erst als jedoch JuHan Corbett um die Jahrhundertwende am Naval College zu wirken begann, fing es an, sich in das zu verwandeln, wovon Corbett hoffte, es würde einmal zu den »brains of the navy« werden. In Frankreich war die Gründung einer Ecole supérieure de la Marine wie aUes, was mit der Marine zusammenhing, ein politischer Zankapfel der verschiedenen Schulen. Sie wurde zwar 1895 gegründet, ihr Einfluß wurde aber durch den Streit behindert, »until the great awakening of 1900 made it a real factor in French naval thought«91. Es wurde oft behauptet, das United States Naval War CoUege (USNWC) sei die erste Einrichtung ihrer Art gewesen92. In Wirkkchkeit kommt diese Ehre der Marine-Akademie zu. Vielleicht wurde sie wegen des ähnHchen Namens mit der United States Naval Academy in AnnapoHs verwechselt. Das deutsche Äquivalent für die Ausbildung von Seekadetten war aber die Marineschule. Die wahrscheinhchste -

90

Man findet

hierzu bei Graubohm, Die Ausbildung in der deutschen Marimehr bei Forstmeier, Probleme der Erziehung. Einen kurzen Überblick über institutionelle Entwicklung und Curriculum bietet Güth, Admiralstabsausbildung. Ropp, The Development of a Modern Navy, S. 295. Huntington, The Soldier and the State, S. 241; Weigley, American Way of War, S. 172; Crowl, Alfred Thayer Mahan, S. 446; Colson, La culmre stratégique américaine, S. 190. ne, und

91 92

wenige Anhaltspunkte



etwas

146

Zweiter Teil

Erklärung für die irrige Behauptung Hegt wohl darin begründet, daß dem USNWC seiten der Wissenschaft viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde, wohingegen

von

das Interesse an der Marine-Akademie verschwindend gering war. Dem USNWC wird im allgemeinen eine sehr bedeutende Funktion bei der Entwicklung eines geistigen Zuganges zum Stadium strategischer Fragen innerhalb der jungen United States Navy zugeschrieben. Dies trifft ebenfalls für die noch jüngere KaiserHche Marine zu. In der Tat war es diese Bedeutung, die den beiden höheren Bildungseinrichtungen bei der Entwicklung ihrer Marinen zukam, welche sie von denjenigen Großbritanniens und Frankreichs unterschied93. Die Marine-Akademie öffnete ihre Tore im Mai 1872. Die Ausbildung, die ursprüngHch drei Jahre dauerte, wurde von Caprivi im Jahre 1883 auf zwei Jahre verkürzt94. Das Curriculum deckte ein sehr viel breiteres Spektrum ab als jenes der BerHner Kriegsakademie. Bis zur Jahrhundertwende blieb die höhere Bildung der Marine den klassischen humanistischen Idealen verhaftet, deren sich die Armee ab den späten 1850er Jahren endedigt hatte95. Ein weiterer Unterschied bestand darin, daß die Marine-Akademie, zumindest theoretisch, für die EHte des Offizierkorps offen war, obgleich die chronische Unterbesetzung in der aktiven Marine wenig Gelegenheit Heß, diese zu besuchen. Die Kriegsakademie wurde in eine Vorbereitangsschule für Generalstabsoffiziere umgewandelt. Wegen der institutionellen Schwäche und der begrenzten Rolle, welche die verschiedenen Oberkommandos innerhalb der Marine spielten, gelangten sie nie zu demselben herausragenden Status, dessen sich der Generalstab in der Armee erfreute. An der Marine-Akademie wurden die Kursteünehmer auf einem ziemHch hohen Niveau in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern, aber auch in Wirtschaftslehre, Völkerrecht, Literaturgeschichte und mindestens zwei modernen Sprachen unterrichtet. Im Lichte der vorliegenden FragesteUung ist es von größter Bedeutung, daß Stosch darauf bestand, die Geschichte der Seekriegführung und die Taktik in den Fächerkanon aufzunehmen96. Es fäUt nicht leicht, sich vorzusteüen, was die Ausbildung an der Akademie für den jungen und manchmal nicht mehr ganz so jungen Offizier bedeutete. Der spätere Admiral von Ahlefeld absolvierte einen der ersten Lehrgänge und schrieb viele Jahre später, daß sein guter Ruf in der Marine von den Noten herrührte, mit denen er die Akademie abgeschlossen hatte97. 1896 publizierte Kapitän zur See Alfred Stenzel, einer der ersten Lehrer der Akademie, eine vernichtende Polemik —

93 94

95

96

97



Die französische Marine erkannte, daß die deutsche Ausbildung in Europa an der Spitze stand, vgl. Rt»pp, The Development of a Modern Navy, S. 44. Marineverordnungsblatt (1872), S. 41-44; (1883), S. 149; Güth, Admiralstabsausbildung, S. 15. Forstmeier, Probleme der Erziehung, S. 194 f.; Messerschmidt, Die Armee in Staat und Gesellschaft, S. 103 f.; Bucholz, Moltke, Schlieffen, S. 56, 72- 84. Koch, Aus der Zeit des Admirals v. Stosch, S. 22-24; Soley, Report on Foreign Systems, S. 190-193. Soley, der später am USNWC lehrte, wurde vom Kongreß mit diesem Bericht über die Ausbildung in den europäischen Marinen beauftragt. Der Bericht bietet die beste zeitgenössische Überblicksdarstellung. Graubohm, Die Ausbildung in der deutschen Marine, S. 284 ff; Güth, Admiralstabsausbildung, S. 14 f. Graubohm, Die Ausbildung in der deutschen Marine, S. 284.

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

147

gegen die Ausbildungsinhalte98. Er behauptete, daß die MiHtärwissenschaften und der Admiralstabsdienst im Gegensatz zur Kriegsakademie vernachlässigt würden. Ein Kritiker antwortete darauf, daß die Akademie »zweifeUos« zur Ausbildung des Offizierkorps und zur »steten Kriegsbereitschaft der Flotte im Frieden« beigetragen habe99. NatarHch gab es zu dieser Zeit Offiziere, die eine Abordnung an die Akademie als einen wohlverdienten Urlaub von ihrer Führungsverantwortung betrachteten. Unter der Führung von Curt von Maltzahn wurde die Akademie in den Jahren 1901 bis 1903 neu organisiert, um einen stärkeren Schwerpunkt auf die rein miHtärische Ausbildung zu legen1"". Aufgrund dieser gegensätzHchen Bewertungen des Unterrichts an der Akademie ist es angebracht, sich einmal anzuschauen, was genau man die aufstrebenden Offiziere in den frühen Jahren über Theorie und Geschichte der Seekriegführung lehrte. Zu beidem wurden in jedem der Einjahreskurse wöchentlich mindestens zwei Standen Vorlesung gehalten. Tirpitz hielt, wie aus seinen Memoiren hervorgeht, wenig von den Methoden des Unterrichts (was nicht heißt, daß er während seiner Zeit an der Akademie nichts gelernt hat)101. Glücldicherweise ist es trotz des Mangels an Arbeiten zu diesem Thema mögHch, eine Vorstellung davon zu bekommen, was den Kursteünehmern in diesen frühen Jahren in den Vorlesungen über Strategie und Marinegeschichte vorgetragen wurde. 1913 erschien das Buch »Kriegführung zur See. Lehre vom Seekriege« als Begleitband zu einer fünfbändigen Geschichte der Seekriegführung. Der Autor dieser Werke, Alfred Stenzel, war sieben Jahre zuvor gestorben. Wie schon erwähnt, war er einer der ersten Lehrer an der Marine-Akademie. 1875 wurde er mit der Lehre über Seetaktik und Marinegeschichte beauftragt. Er bHeb auf diesem Posten bis zum Frühjahr 1881 und kam dann noch einmal für die Jahre 1894 bis 1896 zurück. In den ersten Jahren nahmen viele derjenigen Männer an seinen Kursen teü, die in den zwanzig Jahren vor 1918 als Admirale Führungspositionen in der KaiserHchen Marine innehatten unter ihnen Tirpitz, Maltzahn, Rittmeyer und

Heeringen102.

-

Über Stenzels Leben und seine VorsteUungen ist außer dem, was aus seinen pubHzierten Werken zusammengetragen werden kann, wenig bekannt103. Er genoß aber hohes Ansehen unter seinen Zeitgenossen wie auch unter späteren Generatio98 99

100 101

Stenzel, Bedarf unsere Marine einer militärischen Hochschule? Hoffmann, Bedarf unsere Marine einer militärischen Hochschule?, S. 787. Forstmeier, Probleme der Erziehung, S. 195. Tirpitz, Erinnerungen, S. 18 ff. Tirpitz war einer von lediglich drei Offizieren, die sich im Herbst 1874 für die Akademie bewarben. Er nahm

von

Oktober 1874 bis Mai 1876

an

den Kursen teil

(Koch, Aus der Zeit des Admirals v. Stosch, S. 22; Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 103; Güth, Admiralstabsausbildung, S. 51). Siehe auch Tirpitz' Bemerkungen zum Wert von Theorie und zu der Rolle der Marine-Akademie, die zitiert werden in Mantey, Großadmiral

Tirpitz, S. 100 f. Alles in allem wurden zwischen 1872 und 1914 392 Offiziere an die Marine(mangels Bewerbungen) abkommandiert (Güth, Admiralstabsausbildung, S. 54). Maltzahn, Holtzendorff und Galster nahmen 1880 an den gleichen Kursen teil, siehe Gemzell, Organization, Conflict and Innovation, S. 114. Es scheinen keine s«»nstigen Papiere erhalten zu sein, außer einigen seiner Briefe an Batsch (BAMA, N 226/7).

von

Akademie 1112

103

148

Zweiter Teil

Man sprach von ihm als dem »deutschen Mahan« und sah in ihm den Begründer des deutschen seestrategischen Denkens104. Das folgende basiert auf den Mitteilungen Alfred Kirchhoffs, eines Schülers Stenzels und des Herausgebers von dessen posthum veröffentHchtem Werk zur Seekriegführung. Kurze Zeit, nachdem er ein erstes Mal seinen Dienst an der Akademie angetreten hatte, begann Stenzel, sich für die sechs Standen, die er pro Woche las, systematische Notizen zu machen. Diese wurden fast vierzig Jahre später unter dem Titel »Kriegführung zur See« veröffentlicht. Laut Kirchhoff hatte Stenzel das Buch im großen und ganzen in seinen ersten Jahren an der Akademie fertiggestellt. Vor Veröffentlichung seien am Manuskript im Laufe der Zeit nur geringfügige Verbesserungen und Ergänzungen vorgenommen worden. Aus seiner sporadischen Korrespondenz mit Admiral Batsch, die er bis 1896 aufrechterhielt, geht hervor, daß ihn sein anhaltend schlechter Gesundheitszustand davon abhielt, das Manuskript zu überarbeiten105. Nur mit dem Fund der Originale üeße sich feststellen, wieviel von zur See« Lichte ein im Mahanscher Theorien überarbeiteter Text »Kriegführung war. Es gibt aber Anhaltspunkte, die sich sowohl aus dem, was Kirchhoff geschrieben hat, als auch aus einer genauen Prüfung des Textes ergeben, die dafür sprechen, daß fast das ganze Buch 1913 so erschienen ist, wie es in den späten 1870er Jahren niedergeschrieben wurde106. nen.

104

'05 "Ifl

1896 wurde er sogar von Borckenhagen, dem Übersetzer Mahans, mit selbigem verglichen. Borkkenhagen erwähnte die anregende Wirkung seiner Vorlesungen und bedauerte, daß niemand auf das von Stenzel geschaffene Fundament aufgebaut hatte. (Borckenhagen, Zum Studium der Seekriegsgeschichte, S. 50, 57. Obgleich Stenzels Name nicht explizit genannt wird, ist der Bezug eindeutig.) Auch Stenzels Kritiker, Admiral Hoffmann, schrieb von »dem Ansehen, welches der Verfasser in Marinekreisen genießt« (Hoffmann, Bedarf unsere Marine einer militärischen Hochschule?, S. 786). 1913 beschrieb Kirchhoff, Herausgeber von »Kriegführung zur See«, ebenfalls Stenzel und Mahan als die beiden Pioniere, als die »Eisbrecher« des seestrategischen Denkens (S. XXX). Otto Groos stellte 1929 in seinem Werk »Seekriegslehren« einen Vergleich an zwischen Corbetts Übertragung der Clausewitzschen Theorien auf das Studium der Seekriegführung und dem, was Stenzel in den 1870er und 1880er Jahren ausgeführt hatte (Groos, Seekriegslehren, S. XI). Laut Groos hatten Stenzels Vorlesungen an der Akademie zweifelsohne das Fundament gelegt, auf das seine Schüler Maltzahn, Rittmeyer und Kirchhoff aufbauen sollten. Noch im Jahre 1974 sah Rolf Güth, Lehrer für Geschichte und Seestrategie an der Führungsakademie der Bundeswehr, Stenzel in der Position »des kritischen und tiefgründigen Durchdenkers seekriegsgeschichtlicher, strategischer und taktischer Probleme« (Güth, Admiralstabsausbildung, S. 24). Ein Beispiel liefert der Brief vom 8.1.1893, BA-MA, N 226/7. Ein aussagekräftiges Detail liefert die Tatsache, daß keine der historischen Darstellungen von Prinzipien der Kriegführung sich auf einen der Seekriege bezieht, die nach 1870/71 stattfanden. Im Gegensatz hierzu beinhaltet der erste Band von Stenzels »Seekriegsgeschichte« eine Einleitung, die einige seiner Ideen über die Nutzbarmachung von Theorie und Geschichte für das Studium der Seekriegführung vorstellt. Schaut man sich die Form an, so könnte er dies als eine erste Lesung für neue »Studenten« konzipiert haben. Es wird sowohl auf den Buren- als auch auf den Russisch-Japanischen Krieg Bezug genommen. Der Terminus »Seeherrschaft« erscheint auf den Seiten 12 und 17. In »Kriegführung zur See« wird er nicht verwandt. Allerdings haben die Hauptargumente des Textes eine starke Ähnlichkeit mit jenen aus dem Werk Kriegführung zur See«. Vielleicht hat Stenzel dieses einführende Referat in seiner zweiten, vielleicht auch in seiner ersten Zeit als Dozent gehalten und es in seinem letzten Lebensjahr überarbeitet. »Kriegführung zur See« wurde sicherlich nicht von Stenzel selbst einer Revision unterzogen. Wo auch immer Kirchhoff Stenzels Werk überarbeitet haben mag sein Eingreifen ist sehr bescheiden. -

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

149

1875 sah sich Stenzel demselben Problem gegenüber wie Mahan ein Jahrzehnt nämHch der Notwendigkeit, eine Theorie der Seekriegführung zu formulieren für eine Marine, die auf diesem Gebiet keinerlei Traditionen besaß und die sich, nach einer Zeit revolutionären technologischen Wandels, an keinem ausländischen Modell orientieren konnte. 1887 beschrieb Kapitän zur See Mahan seine Situation

später:

folgendermaßen:

»There is an entire lack of textbooks upon which to base a course of instruction. [...] There is nothing in the range of naval literature to place alongside the many and elaborate treatises in the art of war on land in its various branches. Much indeed has been written. But what has thus far been produced is for the most part fragmentar)', representative of special views, partial and unsystematic in treatment. No attempt has been made to bring the whole subject under review in an orderly well-considered method107.« Stenzel führte nur zwei Versuche an, die Theorie der Seekriegführung zu bewältigen: Richild Grivels »La guerre maritime« (1869) und das Werk »Seekrieg und Seetaktik« des Österreichers Attlmayr. Er beurteilte beide als nur teüweise gelungen108. Also sah er sich gezwungen, mit seinen Vorlesungen zur Theorie der Seekriegführung ganz von vorne und ohne Bezugnahme auf ähnhche Werke anzufangen. Stenzel hatte ursprünglich beabsichtigt, seinem Werk den Titel »Vom Seekriege« zu geben. Dies war kein ZufaU. Als Stenzel nach einer Grundlage suchte, auf der er seine Theorien zur Seekriegführung aufbauen konnte, üef er den sichersten Hafen für einen preußischen Soldaten an: Clausewitz' »Vom Kriege«. In der Einführung zum ersten Band seiner »Seekriegsgeschichte« wies er ausdrückHch darauf hin, daß die Clausewitzschen Theorien für seine Theorien die Grundlage gebildet hatten1"9. 1896 schrieb Stenzel, nachdem er gefordert hatte, daß die Marine-Akademie darum bemüht sein müsse, in der Marine dieselbe Funktion zu erfüllen wie die Kriegsakademie in der Armee, über den berühmtesten Direktor der Kriegsakademie, er sei weiter als jeder andere zum »richtige[n] Verständnis von der Natur des Krieges« vorgedrungen. Er habe seine »wahren Lehren »Vom Kriege« mit einer solchen Klarheit« erläutert, daß sie den ewigen Ruhm derjenigen Offiziere, die sie anwandten, begründeten110. Stenzel hielt es offensichtlich für die beste Methode, seine Pionierarbeit mit der Festlegung erster Prinzipien zu beginnen. Clausewitz Heferte ihm ein ModeU, sowohl in bezug auf den Aufbau seiner Arbeit als auch bezügHch der unveränderlichen Grundsätze der Kriegführung. Es fällt nicht nur die enge Anlehnung der Überschriften der acht Kapitel in »Kriegführung zur See« an die von Clausewitz gewählten Überschriften auf, sondern auch, daß in den Text unzähHge, nicht als solche kenntHch gemachte Zitate gestreut sind, die so direkt wie willkürHch aus »Vom Kriege« entnommen sind. Das erste Kapitel der Einleitung (»Über die Natur des Krieges«) enthält mehr als zwanzig Endehnungen aus dem ersten Buch und aus 107 108 109 110

Spector, Professors of War, S. 15. Stenzel, Kriegführung zur See, S. 2. Stenzel, Seekriegsgeschichte, Bd 1, S. 6.

Stenzel, Bedarf unsere Marine einer militärischen Hochschule?, zur See, S. 73.

S.

278; vgl. Stenzel, Kriegführung

150

Zweiter Teil

anderen Stellen der Clausewitzschen Abhandlung einige im exakt gleichen Wortlaut, einige leicht abgeändert. Spätere Kapitel weisen einen höheren Anteil an eigenem Gedankengut auf, man stolpert aber immer wieder über Zitate, selbst in den Abschnitten über die Taktik der Seekriegführung. Ohne das voUe Ausmaß seiner Entlehnungen einzugestehen, versuchte Stenzel in »Kriegführung zur See« Clausewitz in einen Seestrategen umzutaufen. Allerdings muß an dieser Stelle vor einem mögHchen Mißverständnis gewarnt werden: Der Clausewitz, den sich Stenzel zum Vorbild nahm, war nicht derselbe, der im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg übermäßig gefeiert wurde. Stenzels Clausewitz war nicht der Philosoph des Krieges, sondern der miHtärische Techniker, sein Werk die Bibel des neunzehnten Jahrhunderts für den preußischen Generalstab und die Kriegsakademie in Beriin. Seit den 1960er Jahren haben mehrere bedeutende Stadien den unheilvollen Einfluß dieser engen Auslegung von Clausewitz auf die operativen Doktrinen der deutschen Armee beschrieben111. Es hat sich mittlerweile eingebürgert, zwischen einem »philosophischen« und einem »miHtärischen« Clausewitz zu unterscheiden112. Ersterem wurde im Westen in der nach dem Kriege einsetzenden Phase einer Clausewitz-Renaissance an Universitäten und in verteidigungspoHtischen »Think tanks« viel Bewunderung entgegengebracht. In dieser Beurteilung wird der »miHtärische« Clausewitz als ein Produkt der engstirnigen MiHtaristen des neunzehnten Jahrhunderts abgetan, die besessen gewesen seien von dem Wahn des schnellen, entscheidenden Sieges durch eine napoleonische —

Vernichtungsschlacht. Es besteht kein

Zweifel,

daß Stenzel diesen »miHtärischen« Clausewitz des

preußischen Gencralstabes und der Kriegsakademie in das Stadium der Seekriegführung einführte. Diese Übertragung von preußischen miHtärischen Axiomen auf den Krieg zur See erwies sich unter den das frühe deutsche seestrategische Denken prägenden Faktoren als der wichtigste. Ob nun Stenzels Bild vom »miHtärischen« Clausewitz eine besonders schHmme Verdrehung der normativen Lehren aus »Vom Kriege« darsteUt oder nicht, ist eine Frage, die unter dem Eindruck neuerer Forschung genauer in den Blick genommen werden muß. Eines ist jedenfaUs sicher: Stenzel konnte nur analog vorgehen. Clausewitz ist nicht etwa für eine eingehende Analyse der Elemente und Einflüsse von Seemacht berühmt geworden. Seine Perspektive bHeb auf das (europäische) Festland begrenzt. Die Feldzüge Friedrichs des Großen und vor aUem die Napoleons übten für den Großteil seines Lebens eine starke Faszination auf Clausewitz aus. Selbst in seiner Analyse der Kriege, in denen Großbritannien an der Seite Preußens kämpfte, gibt er nicht zu erkennen, daß er sich der Aktivitäten der Royal Navy bewußt war; auch die Bedeutung von überseeischem Handel und Kolonien ist ihm entgangen113. 1''

112

113

Wallach, The Dogma of the Battle of Annihilation; Wallach, Misperceptions of Clausewitz' Marwedel, Carl von Clausewitz; Aron, Penser la guerre; Bucholz, Hans Delbrück, S. 6.

On War;

Diese Ambivalenz von Clausewitz hebt vor allem Dietmar Schössler hervor (Schössler, Carl von Clausewitz, S. 101-115). Für einen Überblick der neueren Tendenzen auf diesem Gebiet siehe Hobson, Fra kabinettskrigen til den totale krigen. Wallach, The Dogma of the Battle of Annihilation, S. 148.

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

151

Clausewitz kam über seine Fixierung auf den europäischen Kontinent nicht hinaus, weü er diese Einengung gar nicht bemerkte. Erst zum Ende seines Lebens hin gelang es ihm, sich von dem hypnotisierenden Beispiel der napoleonischen Feldzüge, welches ihn so lange in Bann gehalten hatte, freizumachen. 1827 begann er, das Manuskript seines Lebenswerkes »Vom Kriege« zu überarbeiten und für das Phänomen des Krieges einen theoretischen Ansatz zu entwickeln, der aUe seine historischen Manifestationen (auf dem Land), nicht nur die napoleonischen Ausprägungen, einbezog. Er starb, ehe er die Überarbeitung abschHeßen konnte. Dennoch war es dieser späte, »philosophische« Clausewitz, an dem sich das moderne strategische Denken orientierte, um eine theoretische Grundlage als Basis einer Analyse von anderen Formen des Krieges als jenen zu gewinnen, die Clausewitz selbst gekannt hatte114. Sir JuHan Corbett war der erste, der zu einem modernen Verständnis des späten Clausewitz gelangte und dies für eine Analyse von Seestrategie einzusetzen wußte115. Nichts von solchen subtilen Unterscheidungen ist im Werk von Stenzel zu finden. Die Interpretation von Clausewitz, die sich in seiner Verwendung von Zitaten aus »Vom Kriege« abzeichnet, zeigt den Miütärtechniker, den General, der die Zerder des störung Hauptmacht Gegners als einziges Mittel zum Sieg propagierte. so muß dies nicht eine eklatante Nun FehHnterpretation des »»militärischen« Clausewitz sein, wie sie Raymond Aron in seinem maßgebenden Werk darstellt. Azar Gat hat Ende der 1980er Jahre die Frage in den Raum gestellt, ob nicht das Bild vom »philosophischen« Clausewitz in gleichem Maße ein Produkt aus der Ära gegenseitig gesicherter Vernichtung sein könnte, wie die »miHtärische« Interpretation ein Produkt der Jahre nach Königgrätz und Sedan war116. Die wissenschaftliche Debatte konzentriert sich auf die letzten Lebensjahre von Clausewitz. In welchem Ausmaß hat er seine miHtärischen Grundsätze nach 1827 im Lichte seines neuen Verständnisses von der wesentHch politischen Natur aUer Kriege überarbeitet? Obgleich Clausewitz erkannt haben mag, daß das Ziel in einem Krieg nicht immer in der Zerstörung der Hauptmacht des Gegners Hegen mußte, spielte das Konzept der Schlacht untrennbar in seine Definition vom Krieg als solchem hinein: Darin Hegt der Kern von Gats Argumentation. Es mag in einem Krieg verschiedene Ziele geben, das einzige Mittel war für Clausewitz die Schlacht. Es war in seinen Augen diese Handlung, die das Phänomen Krieg definierte und die es von anderen Formen menschHcher Interaktion abgrenzte117. Gats Interpretation findet Bestätigung bei einer Betrachtang des Clausewitzschen Einflusses auf das deutsche seestrategische Denken im allgemeinen und auf Stenzel im besonderen118. Eine von Stenzels Anleihen bei Clausewitz zeichnet sich

114

1,5 " 117

118

Die gründlichste Behandlung des späten Clausewitz stellt Arons Rekonstruktion der »synthèse finale« dar (Aron, Penser la guerre, Bd 1, S. 108-148). Corbett, Some Principles of Maritime Strategy, z.B. S. 41-46. Gat, The Origins of Military Thought, S. 168-170. Ebd., S. 224-226; Hobson, Fra kabinettskrigen til den totale krigen, S. 38-50. Otto Ernst Schüddekopfs kurze Erwähnung von Stenzel und seiner Anleihe bei Clausewitz ist vollkommen irreführend, vgl. Schüddekopf, Die britische Marinepolitik, S. 138 f.

Zweiter Teil

152

aUen anderen dadurch aus, daß sich auf sie alle wesentlichen Schlüsse in Stenzels Lehre zurückführen lassen:

vor

es unmittelbar oder mittelbar: Die Vernichtung der feindlichen Streitkraft ist die aller kriegerischen Handlungen; um sie zu bewirken haben wir nur ein Mittel, das Grundlage Gefecht. Die Mannschaften werden eingezogen, bekleidet, geübt, unterhalten, die Schiffe werden gebaut, ausgerüstet, bewaffnet Alles nur, um zu rechter Zeit an der rechten Stelle zu fechten"11'1'.«

»Also sei



Das Original kann man in einem Teil von »Vom Kriege« finden, den Clausewitz vor seinem Tode überarbeiten konnte: »Wir sehen also, daß es im Kriege der Wege zum Ziele viele gibt, daß nicht jeder Fall an die Niederwerfung des Gegners gebunden ist. [...] So ist es im allgemeinen mit dem Ziel beschaffen, welches man im Kriege zu verfolgen hat; wenden wir uns jetzt zu den

Mitteln. Dieser Mittel gibt es nur ein einziges, es ist der Kampf. [...] immer üegt es im Begriff des Krieges, daß alle in ihm erscheinenden Wirkungen ursprünglich vom Kampf ausgehen müssen. [...] Es bezieht sich also alle kriegerische Tätigkeit notwendig auf das Gefecht, entweder unmittelbar oder mittelbar. Der Soldat wird ausgehoben, gekleidet, bewaffnet, geübt, er schläft, ißt trinkt und marschiert, alles nur, um an rechter Stelle und zu rechter Zeit zu fechten^20.«

Stenzel erkannte, daß es Unterschiede zwischen der Land- und der Seekriegführung gab, an erster Stelle den, daß zur See kein Terrain das Fortschreiten in irgendeine Richtung behinderte. Deshalb wurde die Seekriegführung unterteilt in den Küstenkrieg, in dem sich aus der Nähe zum Land gewisse Hindernisse ergaben, und in den Krieg auf offener See, wo mit keinen Hindernissen zu rechnen war. Er schloß mit der Behauptung, daß, obgleich diese Faktoren die Seekriegführung und den Landkrieg als sehr verschieden erscheinen Heßen, sie sich im Grunde sehr ähnlich seien121. Er scheint allerdings keine klare VorsteUung davon gehabt zu haben, was mit einer Seeschlacht, abgesehen von der Zerstörung der gegnerischen Flotte, erreicht werden sollte. Zweitrangige Operationen, wie die Unterbindung des Handels oder die Blockade, schienen ihm der von Clausewitz beschriebenen Verfolgung nach einer Schlacht zu entsprechen. Das Ziel lag in der völHgen Zerstörung des organisierten gegnerischen Widerstandes. Obgleich er in »Kriegführung zur See« Sätze formulieren konnte, nach denen die eine Partei »die See völHg beherrscht«, war ihm der Gedanke an Herrschaft als ein über den Sieg in der Schlacht hinausweisendes Ziel der Seekriegführung oder eben die VorsteUung, diese sogar ohne Schlacht (d.h. durch Blockade) zu erzwingen, vollkommen fremd. Das Konzept von der Seeherrschaft als weitergehendes Ziel erscheint wohl zum ersten Mal in den Kriegsplänen des Admiralstabes in den 1890er Jahren. Ein gutes Beispiel für die Übernahme von strategischen Grundsätzen aus »Vom läßt sich festmachen an Stenzels Betonung der Bedeutung der Konzentration von Streitkräften am entscheidenden Punkt. Er schreibt in seinem Kapitel über »Strategische Prinzipien«:

Kriege«

119

120 121

zur See, S. 18 (Hervorhebung im Original). Es finden sich identische Zitate auf den Seiten 20 f., 29, 37. Clausewitz, Vom Kriege, Buch I, Kapitel 2, S. 221-223 (Hervorhebung im Original). Stenzel, Kriegführung zur See, S. 31-33; nachfolgendes Zitat S. 24.

Stenzel, Kriegführung

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

153

»Erster Grundsatz ist: immer möglichst stark sein, besonders an der SteUe, wo die Entscheidung Uegt. Daher gibt es keine höhere und einfachere Regel für den Führer, als die, seine Kräfte zusammenzuhaltenX Es soll nichts von der Hauptmacht getrennt sein, was nicht durch dringende Zwecke abgerufen wird122.« Das Original Hest sich folgendermaßen: »Die beste Strategie ist: immer recht stark zu sein, zuerst überhaupt und demnächst auf dem entscheidenden Punkt. Daher gibt es außer der Anstrengung, welche die Kräfte schafft, und ehe nicht immer vom Feldherrn ausgeht, kein höheres und einfacheres GeNichts soll von der Hauptsetz für die Strategie als das: seine Kräfte zusammenzuhalten. masse getrennt sein, was nicht durch einen dringenden Zweck davon abgerufen wird123.« Die Konzentration der Streitkräfte in Gestalt der Schlachtflotte war etwas, woran auch Mahan und Colomb mit starker festhielten. Corbett sollte in der —

Überzeugung

Folge zeigen, daß die Anwendung dieser Vorschrift den historischen Umständen entsprechend sehr unterschiedüch ausfallen konnte und daß sie häufiger in Form ihrer Verletzung als mit ihrer Einhaltung Beachtung fand124. An dieser Grundregel wurde in der preußischen Schule festgehalten, bis sie in der Dienstschrift IX modifiziert wurde. Tirpitz zitierte die gleiche Passage wördich125, steUte aber in seinem Memorandum fest, daß dieser Grundsatz dann nicht zur Anwendung kommen könne, wenn die Seeherrschaft über einen Gegner ausgeübt werden soUe, dessen Flotte sich nicht zum Kampf steüe. Der Einfluß zeitgenössischen miHtärischen Denkens auf Stenzel läßt sich auch daran erkennen, wie er auf der Bedeutung der Offensive beharrte: »Jederzeit ist mit Nachdruck für die Offensive einzutreten; ohne Offensive wird aus einer Flotte nichts [...] Deshalb sind all und jede Friedens-Manöver defensiven Charakters nur schädlich, sie schaden dem kriegerischen Geist, sie schädigen die Kriegsausbildung. Vorwärts, Ran an den Feind, so muß auch bei den Manövern im großen und kleinen stets die Parole lauten126.«

Die Konzentration von Streitkräften und die absolute Priorität der Offensive waren zwei Prinzipien, die in sehr ähnHcher FormuHerung zwanzig Jahre später in der Dienstschrift IX wieder auftauchen sollten, dann allerdings auf die besonderen Umstände der Seekriegführung zugeschnitten. Das gleiche trifft auf ein drittes Prinzip zu: die Bestimmung der für den Sieg in der Schlacht erforderlichen zah-

lenmäßige Überlegenheit. Mit diesem dritten Prinzip folgte Stenzel in seinem Kapitel über »Strategische Prinzipien« einmal mehr seinem Meister Clausewitz. Stenzel bemühte noch nicht einmal die großen Seeschlachten der Vergangenheit, um die Frage der notwendigen Überlegenheit zu beantworten. Nur die Landkriegführung biete, laut Stenzel, ausreichend Anschauungsmaterial, um zu klaren Schlüssen zu kommen. Es überrascht nicht, daß diese Schlüsse die gleichen sind wie die seines Meisters: »Für den Land122 123 124 125 126

Ebd., S. 158 ff. (Hervorhebung im Original). Clausewitz, Vom Kriege, Buch III, Kapitel 11, S. 388 (Hervorhebung im Original). Corbett, Some Principles (»f Maritime Strategy, S. 128-152.

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 98. Stenzel, Kriegführung zur See, S. 107.

Zweiter Teil

154

krieg also gut der Satz im aUgemeinen: Doppelte Überzahl sichert den Erfolg. [...] Doppelte Übermacht sichert auch im Seegefecht den Erfolg127.« Als letzte VeranschauHchung von Stenzels Ansatz soll hier ein Vergleich mit einem anderen Pionier auf dem Gebiet der Geschichte der Seekriegführung, Admiral Colomb, herangezogen werden. Colomb hob in seinem Werk »Naval Warfare« zwei Grundvoraussetzungen hervor, die für den eigentlichen Seekrieg gegeben sein mußten: »abundant seaborne commerce, and abundance of sea-going and seakeeping warships«128. Weder das eine noch das andere war vor dem sechzehnten Jahrhundert vorhanden. Da beide Faktoren gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts nach Colomb an Bedeutung gewannen, bildeten sich die grundlegenden Prinzipien der Seekriegführung im fünfzehn Jahre dauernden britischen Kampf mit Spanien heraus. Frühere Formen der Seekriegführung hatten nicht die Herrschaft über die Meere zum Ziel gehabt: »The sea-fight of ancient times was but the contention of armies on the water129.« Das Meer war nur etwas, was man überqueren mußte, um auf das Territorium des Gegners zu gelangen. Erst im siebzehnten Jahrhundert wurde in Colombs Sicht der Kampf um die Seeherrschaft zum zentralen Element in der Geschichte der Seekriegführung und demzufolge auch in der Theorie, die er selbst entwickelte.

Stenzel arbeitete viele Jahre an seiner »Seekriegsgeschichte«. Es gibt keinen besNachweis für seine rein miHtärische Konzeption der Seekriegführung als den umfangreichen ersten Band, in dem er sich den Seeschlachten der Antike widmete. Er glaubte wohl, daß die Analyse des Zusammenstoßes von Triremen bei Salamis und Actium Rückschlüsse auf grundlegende unveränderHche Prinzipien der Seetaktik ermögHchen würde auf Prinzipien, die für das dampfgetriebene Schlachtschiff im Zeitalter des Torpedos die gleiche Gültigkeit besäßen. Da die Originalquellen für einen Vergleich mit Stenzels posthumen PubHkationen fehlen, wäre der Versuch, die weitere Entwicklung seines Denkens nach seiner ersten Verwendung an der Marine-Akademie zu rekonstruieren, ein höchst spekulatives Unterfangen. In den 1880er Jahren wirkte er als Direktor der KaiserHchen Werft in Wilhelmshaven, saß in Caprivis AdmiraHtätsrat, führte auf mehreren Schiffen das Kommando und nahm an Manövern teil130. In der ersten Hälfte der 1890er Jahre wurde er dann zu Deutschlands führendem PubHzisten für Marineangelegenheiten. Zusammen mit den Admiralen Batsch und Werner war er einer von sehr wenigen Marineoffizieren, die sich darum bemühten, das Interesse der Öffentlichkeit für die Marine zu wecken131. Die Schriften, die er auf eigene Kosten drucken Heß, und seine Artikel, die gelegentlich in Fachzeitschriften erschienen, seren

-

127

128 129 130

1,1

Ebd., S. 163 f. (Hervorhebung im Original); vgl. Clausewitz, Vom Kriege, Buch III, Kapitel 8, S. 373-378. Colomb, Naval Warfare, S. 29. Ebd., S. 21. Sondhaus, Preparing for Weltpolitik, S. 153, 163; Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 1, S. 187 f., Anm. Koch, Aus der Zeit des Admirals v. Stosch, S. 846; Reinhardt, Tirpitz und der deutsche Flottengedanke S. 27-67; Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda, S. 31; Lambi, The Navy, S. 67 f. ,

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

155

geben ein Bild von dem Verständnis, welches die preußische Schule von der Rolle hatte, welche die Marine bei der Landesverteidigung spielen sollte132. Stenzels Werk ist deswegen von Interesse, weil er den Beitrag, den eine moderne, zweitrangige Marine für die Landesverteidigung leisten konnte, im Zusammenhang der Dreiecksbeziehung zwischen kriegführenden und neutralen Mächten sah. Er war daher weniger pessimistisch als Caprivi bezügHch dessen, was getan werden konnte, um die Importe aus Übersee sicherzustellen. In seinen Schriften aus den frühen 1890er Jahren findet man keine Spur von der Seemachtideologie, die bald seine Schüler Tirpitz, Maltzahn und Kirchhoff anstecken sollte. Mit der ihm eigenen deduktiven Herangehensweise an die Theorie von Seestrategie stand Stenzel am neuen Rolle der Marine der mit seiner der Analyse Anfang preußischen Schule, als Garant für die Versorgung aus Übersee stand er am Ende ihres Einflusses und geriet schnell in Vergessenheit. Gegen Ende des Jahrhunderts hatten die Agitatoren des NavaHsmus seine gründliche Analyse der maritimen Verteidigungsbedürfnisse Deutschlands beiseite geschoben und durch eine expansionistische Propaganda verdrängt, die eine weitaus größere Flotte propagierte, welche »entsprechend« der Expansion der Seeinteressen des Reiches weiter ausgebaut werden soUte. Stenzel stimmte Caprivi zu, daß Deutschland eine Flotte benötige, die schlagkräftig genug sein müsse, um eine französische Blockade der Nordseehäfen brechen oder Rußland in der Ostsee entgegentreten zu können. Großbritannien spielte in seinen Überlegungen keine Rolle: »Die neuerdings fast ins UnermessHche wachsende engHsche Marine im Kampfe gegen uns allein ist ein Faktor, mit dem wir dabei nicht rechnen können, aber nach der allgemeinen Weltlage auch nicht zu rechnen brauchen133.« Es war an der Zeit, wieder eine effektive zweitrangige Marine aufzubauen. Für Stenzel bedeutete dies nicht mehr als die ReaHsierung der Ziele, schon für die Flotte 1848 die, ursprüngHch preußische festgelegt, von Roon und Stosch wieder ins Gespräch gebracht worden waren und die Admiral HoUmann unlängst vor dem Reichstag offengelegt hatte: Roons ursprüngHcher Plan für die preußische Flotte, nämHch der Bau von zweiundzwanzig modernen Schiffen, sollte der deutschen Marine umgesetzt werden134. Die Bedeutung der Wiedererrichtung der deutschen Seemacht auf diesem Niveau habe im Lichte der unlängst in Großbritannien und Frankreich aufgetretenen Entwicklungen eine ernstere Dimension angenommen135. Admiral Aubes Vorstellungen zur Bombardierung von Küstenstädten und der skrupellosen Zerstörung des gegnerischen Handels auf hoher See schienen bei der Royal Navy auf offene Ohren gestoßen zu sein. Das einzige Hindernis für ein derartiges Verhalten wäre die Rücksicht auf die zu erwartende Reaktion der Neutralen. Der »Three Admirals' nun von

132

Die wichtigsten Titel sind: Über Kriegführung zur See (1889); Helgoland (1891); Stellungnahme und Erwiderung auf das Buch: Batsch, Admiral Prinz Adalbert von Preußen (1891); Die deutsche Flotte (1892); Der kürzeste Weg nach Konstantinopel (1894); Die Flotte der Nordstaaten (1894); Brauchen wir Panzerkreuzer? (1895); Bedarf unsere Marine einer militärischen Hochschule?

133

Stenzel, Helgoland, S. 33. Ebd., S. 47 f.; vgl. Stenzel, Die deutsche Flotte, S. 6, 27. Für das folgende siehe Stenzel, Kriegführung zur See, S. 69 f.

134

135

(1896).

Zweiter Teil

156

eine Aufrüstung der britischen Streitkräfte bis zu einem Punkt, an dem Großbritannien das natüriiche Recht des Kriegführenden, welches es mit der Pariser Seerechtsdeklaration aufgegeben habe, wieder für sich in Anspruch nehmen könnte. Wehe dem Staat mit maritimen Interessen, dessen Seemacht schwach bHeb, warnte Stenzel seine Landsleute. Stenzel teilte aber nicht Caprivis Pessimismus bezügHch der ZerbrechHchkeit des Seekriegsrechts. Er erkannte, was der Kanzler (zumindest in der OffentHchkeit) nicht tat: Die Pariser Seerechtsdeklaration würde deshalb nicht übergangen werden können, weü die mächtigsten Neutralen ein gemeinsames Interesse daran hatten136. Hätte Deutschland eine Flotte, die schlagkräftig genug wäre, um eine effektive (d.h. legale) Blockade zu brechen, so brauchte es sich für die Aufrechterhaltang der lebenswichtigen Versorgung mit Gütern aus Übersee nicht allein auf die eigenen schnellen Handelsschiffe zu verlassen. Es würden im Gegenteü neutrale Schiffe, die deutsches Eigentum entweder offen oder verdeckt unter dem Schutz neutraler Frachtpapiere an Bord beförderten, den Handel mit deutschen Häfen übernehmen. Sollte Frankreich Nahrungsmittel zur Konterbande deklarieren, was es unlängst im Krieg gegen China getan habe, so würde es schneU erkennen, daß die Maßnahmen, die man gegenüber schwachen asiatischen Staaten habe durchsetzen können, in einem europäischen Krieg die Interessen mächtiger Neutraler offen herausfordern würden:

Report« allerdings propagiere

»hier aber würden schwerwiegende materielle Interessen der großen Seehandels-Staaten in Frage kommen: der Vereinigten Staaten als Produzenten und Lieferanten, Englands als Träger der Ware und Zwischenhändler. [...] Frankreich [wird] sich sicherlich hüten; sollte es sich jedoch in völliger Verblendung dazu hinreißen lassen, [...] so würde es damit die Mögüchkeit einer Beherrschung der See Deutschland gegenüber sofort und völlig aufgeben und unsere Zufuhr wäre gesichert.«

Wirkung der Unionsblockade im Amerikanischen Bürgerdie krieg (vieUeicht einzige, die jemals im wilhelminischen Deutschland angefertigt worden ist) hob Stenzel erneut hervor, daß die Pariser Seerechtsdeklaration die Parameter für die Seekriegführung verändert hatte. Zu Anfang des Jahrhunderts sei Großbritannien zur See mächtig genug gewesen, um über den gesamten europäischen Kontinent eine Papierblockade zu verhängen und den Protest der Neutralen zu ignorieren. Sechzig Jahre später seien die stärksten neutralen Seemächte, Großbritannien und Frankreich, kaum gewült gewesen, sich mit der gleichen Form von Handelsstörung abzufinden. Washington habe nur dann den vollen wirtschaftlichen Druck seiner Seemacht nutzen können, wenn die Neutralen seine Blockade der gesamten Küste der Südstaaten als effektiv im Sinne der Pariser Seerechtsdeklaration anerkannten. Dies hätten sie im Frühjahr 1862 widerwilHg getan137. Stenzel war davon überzeugt, daß es der Druck der Blockade gewesen war, der den Bürgerkrieg entschieden hatte. Er schloß seinen Vortrag mit dem Rat an seine Zuhörer (unter ihnen der Kaiser), vom Schicksal des Südens Notiz zu nehmen. Es hätte sich ganz anders gestaltet, hätte ihm auch nur eine kleine Marine zur VerfüIn seiner Studie über die

,36

'37

folgende siehe Stenzel, Die deutsche Flotte, S. 13 ff. Stenzel, Die Flotte der Nordstaaten, S. 92 f., 108 f. Für das

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

157

Die Lektion müsse jeder Staat mit bedeutenden maritimen Interverstanden haben: Eine starke Marine war unerläßHch, woUte man die Gefahr der Niederlage durch wirtschaftlichen Druck abwenden138. Stenzel war, in Eckart Kehrs Worten, der »Theoretiker der Blockadeflotte«139. Er wollte zeigen, daß Deutschland auf diese neue und ernsthafte Bedrohung seiner nationalen Sicherheit reagieren konnte, sofern man sich zweier Tatsachen bewußt wurde. Erstens: Es brauchte eine gut ausgerüstete Schlachtflotte, die eine effektive, legale Nahblockade der deutschen Häfen brechen konnte. Zweitens: Die Sicherung der Versorgung aus Übersee, auf die man in einem längeren Krieg auf dem europäischen Kontinent angewiesen sein würde, hing nicht davon ab, daß die Marine dem deutschen Handel absoluten Schutz gewähren konnte, sondern von der Geneigtheit der neutralen Seemächte, ihre eigenen Interessen zu verteidigen. 1895 brachte er dies auf den Punkt:

gung

gestanden.

essen

»Der Schutz

unserer

Häfen und

unserer

Küste ist eben

nur

durch eine Flotte

zu

errei-

chen, die den Feind in See aufsucht und schlägt, ihn also am Herankommen an die Küste hindert, die dadurch unsere Küstengewässer vom Feinde frei hält und somit eine Blok-

kade der Häfen unmöglich macht. Dann können Küstenfahrt und Fischerei weiter betrieben werden, und vor allem bleibt der Seeverkehr für Handelsschiffe, wenn nicht für die des eigenen Landes, so doch für die der neutralen Mächte offen. [...] Unter Umständen, bei längerer Dauer des Krieges, könnte es kommen, daß die schließliche Entscheidung nicht durch unser Heer, wie immer als selbstverständlich angenommen wird, sondern durch die Blockade unserer Küsten und zwar zu unseren Ungunsten herbeigeführt würde, falls die Flotte sie nicht abwehrt140.« Wie Kehr festgesteUt hat, ist diese Hauptaufgabe der Flotte, nämHch das Brechen einer Blockade, mit Caprivi verschwunden141. Dies war das Werk jenes talentierten

nachhaltigsten an der Perfektionierung der operativen Doktrinen der preußischen Schule gearbeitet hatte, der aber in der Folge eine voUkommen neue, poHtische Aufgabe für eine viel größere deutsche Marine entwarf: Alfred Tirpitz. Marineoffiziers, der

am

3. Die preußische Schule, operative Doktrin und die Erneuerung der Flotte

Das deutsche seestrategische Denken hatte ein zweites Entwicklungszentrum in der experimentellen Arbeit auf taktischem Gebiet. Hier war Alfred Tirpitz die prägende PersönHchkeit, der während seiner zwölfjährigen Tätigkeit an der Spitze des Torpedoressorts einen methodischen Ansatz für das Stadium taktischer Fragen entwickelte142. Tirpitz' Arbeit an der Technologie und Taktik des Torpedobootes gipfelte in einem langen Memorandum vom April 1889, in welchem die Entwick138 •39 140 141 142

Ebd., S. 121 f. Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 251, Anm. 17. Stenzel, Brauchen wir Panzerkreuzer?, S. 309 f. (Hervorhebung im Original). Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 254 ff. Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 1, S. 193.

158

Zweiter Teü

lung der Torpedowaffe nachgezeichnet wurde, welches aber auch viel aUgemeinere Beobachtungen zu Strategie und Taktik beinhaltete. Genauso gründHch ging er auf dem Gebiet der Schlachttaktik vor, wo er eine ausfuhriiche Antwort auf Caprivis »Zwölf taktische Fragen« erarbeitete. Nach einer Unterbrechung von zwei Jahren, in denen Tirpitz ein Bordkommando innehatte, machte er sich an die Entwicklung operativer Doktrinen, die auf der Geschwadertaktik aufbauten, welche im vorangegangenen Jahrzehnt Gestalt angenommen hatte. Als Chef des Stabes des Oberkommandos verbesserte er in der ersten Hälfte der 1890er Jahre seine operative Doktrin der strategischen Offensive, nachzulesen in der einflußreichen und zu Recht berühmten Dienstschrift IX aus dem Jahre 1894. Über seine Memoranden und durch den Einfluß der sogenannten »Torpedobande« des engen Kreises von Offizieren, die in der Marine vor 1914 so viele wichtige Posten besetzen soUten gewannen diese Doktrinen für die Festlegung der Richtung der deutschen Marineentwicklung eine bedeutende Rolle143. Als erstes muß hier ein kurzer ÜberbHck über die Entwicklung der Taktik in den frühen Jahren der KaiserHchen Marine gegeben werden144. Unter Stosch wurden taktische Verfahrensmuster entworfen und auf See getestet. Die Ergebnisse —



wurden ausgewertet, und die daraus gezogenen Schlüsse nahmen letztendlich die Form formaler taktischer Vorschriften an. Nach diesen Doktrinen richteten sich die Kommandanten für den Zeitraum zwischen der Sichtung des Feindes und dem Schlachtbeginn145. Nach einer Zeit der Revision in den 1880er Jahren wurde diese formale Taktik weiterentwickelt zu etwas, wofür Maltzahn den Begriff »angewandte Taktik« prägte146. Caprivi wies den Weg, indem er eine Brücke schlug zwischen taktischen Doktrinen und Manövern einerseits und der Schlachttaktik andererseits. 1888, kurz bevor er die Admiralität verließ, brachte er im Offizierkorps seine »Zwölf taktischen Fragen« in Umlauf. Die Antworten darauf gaben eine nahezu vollständige Zusammenfassung dessen, was man bei der systematischen Entwicklung von Taktik in fünfzehn Jahren an Erfahrung gesammelt hatte147. Die weitere Entwicklung der Schlachttaktik hatte der methodischen Arbeit, die von dem »Torpedowesen« geleistet wurde, viel zu verdanken. Dieses war im Jahre 1877 eingerichtet worden, wurde dann 1886 zur »Inspektion des Torpedowesens« aufgewertet und stand vom Mai 1878 an zwölf Jahre lang unter der Leitung von

,43

Maltzahn, »Ran an den Feind!«, S. 285. Eine Liste der Mitglieder der »Torpedobande« findet sich in

144

Den

145

146

•47

Petter, Deutsche Flottenrüstung, S. 186. einzigen Überblick über die Entwicklung der deutschen Taktik bietet Maltzahns »Geschichte

unserer taktischen Entwicklung«, die ausschließlich für den internen Gebrauch der Marine gedruckt wurde. Zwar gibt es eine frühere detailreichere Studie, die von einem Offizier angefertigt wurde, der im Jahre 1907/1908 einen Kurs an der Marine-Akademie besuchte (BA-MA, RM 8/80); Maltzahns Arbeit ist aber weitaus umfassender. Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 1, S. 142-155. Ebd., S. 166, 185. Angewandte Taktik sollte, laut Maltzahn, festgelegte Regeln und Theorie mit der Praxis verbinden; bei den Manövern sollten sich die taktischen Bewegungen in einen strategischen Rahmen einfügen. Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 1, S. 155- 166, 206-228.

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

159

Torpedoressort leistete bahnbrechende Arbeit durch eine wissenschaftliche Vorgehensweise bei der Lösung spezifischer Probleme. Es erprobte theoretische Lösungen in Versuchen und bei Manövern; dieses erprobende Vorantasten resultierte in der praktischen Anwendung von Doktrinen, welche so gut wie möglich Kriegsbedingungen simulierte. Gegen Ende der 1880er Jahre hatte sich die Geschwadertaktik als Nebenprodukt der Arbeit der sogenannten »Torpedobande« herausgebüdet. Die Entwicklung des deutschen taktischen Denkens hatte ein Stadium erreicht, in dem es sich gut in das Konzept der neuen LinienschiffSchule einpassen Heß. Die Arbeit des »Torpedowesens« in den späten 1870er und 1880er Jahren war von großer Bedeutung für die Entwicklung operativer Doktrinen. Lambi schreibt hierzu: »The 1889 document strongly suggests that the torpedo department was the original workshop for future German naval development as guided by Tirpitz, first as Chief of Staff in the Naval High Command and later as Secretary of State at the Imperial Naval Office149.« Wenn man sich mit der Arbeit einer so zielstrebigen PersönHchkeit wie Tirpitz auseinandersetzt, der sich durch ein hartnäckiges Festhalten an grundlegenden Prinzipien auszeichnete, ist es notwendig, daß man weiter zurückbkckt und versucht, einige der frühesten Einflüsse auf sein Denken kenntlich zu machen. Leider existiert für diese Zeit wenig archivaHsches Material. Es gibt immerhin eine kurze Beschreibung seiner Person und seiner Herkunft. Verfaßt wurde diese im Jahre 1918 von seinem Sohn, der in britische Kriegsgefangenschaft geraten war und der

Tirpitz148.

Das

diese einem gewissen Herrn Kolahorn zukommen Heß, welcher sich Informationen für einen biographischen Abriß über den ehemaHgen Staatssekretär erbeten hatte50. In dieser Beschreibung wird als einer der Haupteinflüsse auf diese tief patriotische, spartanisch-preußische FamiHe die Erinnerung an die Demütigung des Königreiches durch Napoleon und an dessen Wiederaufstieg in der Reformära und den Befreiungskriegen angeführt151. Es bestand wenig Zweifel darüber, welchen Göttern in dieser FamiHe gehuldigt wurde: Friedrich dem Großen, den preußischen Reformern, Scharnhorst und Clausewitz und der heroischen Tradition, die man von Kant und Fichte bis Moltke fortgesetzt sah. Tirpitz' Wissen über die Befreiungskriege war, so behauptete sein Sohn, einzigartig, und er gab dieses Erbe weiter: Zu Schillers hundertstem Todestag (9. Mai 1905) überreichte der Großadmiral seinem Jungen ein Exemplar von Clausewitz' »Vom Kriege«, in welches er folgende Widmung geschrieben hatte: »Der WiUe macht den Menschen groß und klein«. Es ist schwierig, die Langzeitwirkungen eines solchen im Hintergrund wirkenden Einflusses zu bestimmen, er spiegelt aber sicherHch etwas von dem inteUektaeUen Klima, in dem das Tirpitzsche seestrategische Denken geboren wurde; ein politisches und kulturelles Klima, welches wie neuerdings betont wird einen —

148

149 150 151



Siehe Kelly, Tirpitz and the Development; Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 1,S. 166,192-199. Lambi, The Navy, S. 62 f.; vgl. Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 108. Auch für das folgende BA-MA, N 253/114, 20.2.1918. Tirpitz, Erinnerungen, S. 8; Stadelmann, Die Epoche der deutsch-englischen Flottenrivalität, S. 95 f.

160

Zweiter Teü

maßgebHchen

Einfluß auf die Entfaltung des deutschen miHtärischen Denkens ausübte152. Bedeutsam für die Gesinnung des jungen Kadetten war zudem seine Kriegserfahrung im Jahre 1870 oder vielmehr der Mangel an selbiger. Fünfzig Jahre später beschrieb er die deprimierende Tatenlosigkeit der Marine in einer Zeit, da die Armee die Lorbeeren sammelte153. In einem Brief an seinen Vater vom September 1871 finden sich die ersten den Historikern bekannten Kommentare des zweiundzwanzigjährigen Unterleutnants zur See über die MarinepoHtik154. Schon in diesem frühen Stadium gingen seine Vorstellungen über die der Marine in den 1870er Jahren von Moltke und Stosch zugedachten Aufgaben hinaus. Tirpitz merkte an, daß eine Flotte sicherHch vonnöten sei, um sowohl eine Invasion als auch eine Beschießung der Küsten zu verhindern. Er lenkte die Aufmerksamkeit aber auch auf die Notwendigkeit, deutschen Besitz auf See zu schützen; nur eine Flotte, bzw. eine von ihm ausdrücklich geforderte Schlachtflotte, könne den Handel durch Verhinderung einer Blockade schützen. Zumindest würde der Versuch, eine Blockade zu brechen, der Flotte die Gelegenheit zur Schlacht bieten. Wobei ihm wichtig war darauf hinzuweisen: »Der Zweck einer Seeschlacht ist nicht Gewinn von Terrain, sondern Vernichtung des Gegners«. Die letzte Aussage könnte ein Echo auf die von Clausewitz spät in seinem Leben vorgenommene Unterscheidung zwischen zwei Arten von Krieg gewesen sein: die eine mit dem Ziel der Niederlage des Gegners, die andere mit dem Ziel der Gebietsbesetzung155. Ob dies nun eine bewußte oder eine unbewußte Anspielung war, Tirpitz kam jedenfaUs auf diese Unterscheidung in seinen folgenden Memoranden immer wieder zurück. So oder so ist die Passage sicherHch Beweis für die theoretische Neigung des jungen Offiziers. Es ist ebenfalls bemerkenswert, daß die ihm vorschwebende Seeschlacht kein übergeordnetes Ziel zu verfolgen schien. Tirpitz scheint erst zwanzig Jahre später, nämHch 1891, erkannt zu haben, daß das Ziel der Schlacht darin Hege, die Seeherrschaft zu erringen. In den folgenden Jahren leistete Tirpitz Dienst auf verschiedenen Schiffen in heimischen Gewässern und in Übersee. Von 1874 bis 1876 besuchte er auch die Marine-Akademie, wo er Vorlesungen von Stenzel zur Marinegeschichte und Seestrategie gehört haben muß. 1877 folgte dann die Versetzung des Kapitänleutnants zum gerade eingerichteten Torpedoressort. In den folgenden, durch praktische Versuche geprägten Jahren entwickelten Tirpitz und seine »Torpedobande« ihre taktischen Ideen weiter156. Im September 1877 demonstrierte Tirpitz die MögHchkeiten des neuen selbstgetriebenen Whiteheadtorpedos bei einem Übungsschießen, das im Beisein von Stosch veranstaltet wurde. Stosch sammelte später Erfahrungsberichte von Offizie—

152 153 154

155

[56

Gat, The Development of Military Thought, S. 46. Tirpitz, Erinnerungen, S. 7. Hasseil, Tirpitz, S. 88-91. Clausewitz, Vom Kriege, S. 179-181. Stadelmann (Die Epoche der deutsch-englischen Flottenrivalität, S. 106 f.) wertet den Brief als frühes Beweisstück für Tirpitz' Versuch, die Lehren von Clausewitz auf die Seestrategie zu übertragen. Das folgende basiert auf Kelly, Tirpitz and the Origins; vgl. auch Koch, Aus der Zeit des Admirals v.

Stosch, S. 590-595.

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Gesamtstrategie

161

beigewohnt hatten, und zeigte sich sehr beeindruckt von Tirpitz' »mustergültiger« Stellungnahme. Es kann kaum als Zufall gewertet werden, daß er dieses Dokument mit einer Aussage über erste Grundsätze einleitete, die mit dem identisch war, was der junge Unterleutnant sechs lahre zuvor geschrieben hatte: »Es ist eine charakteristische Eigenschaft des Kampfes auf offener See, dass sein alleiniges Ziel die Vernichtung des Gegners ist, andere taktische Zwecke, wie die Landschlacht sie darbietet, Gewinnung von Terrain etc., giebt [sie] es hier nicht. Nur im Vernichten Hegt auf See der Erfolg157.« Nachdem er die verschiedenen technischen Vorzüge und Nachteile der neuen Waffe abgehandelt hatte, schloß Tirpitz mit dem Hinweis, daß eine große Anzahl speziell konstruierter Torpedoboote eine überaus nützHche Ergänzung des Waffenarsenals einer kleinen Küstenverteidigungsmarine darsteUen würde. Tirpitz äußerte sich im Jahre 1877 noch nicht im Detail zur Taktik des Torpedobootes, prophezeite aber, daß es in der Seekriegführung einen revolutionären Wandel einläuten würde. Er vergHch die Wirkung des Torpedos mit den Folgen der Paixhans-Granate; sie steigere die Bedeutung der Marinen kleinerer Länder. Man könnte vermuten, daß eine solche Sichtweise, die der von Aube etwa zur gleichen Zeit angestellten Analyse nicht unähnHch war, Tirpitz anfälHg für die Ideen der »Jeune Ecole« werden Heß. Als diese Ideen Mitte der 1880er Jahre in Frankreich, in der AdmiraHtät und im Reichstag ihren höchsten Popularitätsgrad erreicht hatten, hätte das enthusiastische Eintreten für das Torpedoboot sowohl den Interessen des Torpedoressorts als wahrscheinlich auch Tirpitz' eigener Karriere gedient. Daß er aber nicht der Versuchung erlag, diese neue Waffe als Allheilmittel gegen aUe maritimen Nöte Deutschlands anzupreisen, zeugt vom Gewicht seiner ursprüngHchen Überzeugung von der Schlacht als dem zentralen Element der Seekriegführung. In den folgenden Jahren stieg Tirpitz' Ansehen in den Augen seiner Vorgesetzten deshalb, weil er und die anderen MitgHeder der »Torpedobande« systematisch die technischen und taktischen Aspekte der neuen Waffe aufgriffen. 1884 wurde er unter Caprivi, der zu dieser Zeit Chef der Admiralität war, mit der Aufgabe betraut, sich der Torpedoboot- und Flottentaktik anzunehmen; zwei Jahre danach fand er sich als Inspekteur an der Spitze der nunmehr eingerichteten »Inspektion des Torpedowesens«. Als er 1889 seinen Posten veriieß, um das Kommando auf SMS Württemberg zu übernehmen, hatten er und seine Kameraden viele der technischen Grenzen, die bis dahin die Reichweite und Schlagkraft der neuen Waffe eingeschränkt hatten, überwunden. Sie hatten eine Organisationsstruktur aus Flottillen und Divisionen aufgebaut, welche der Entwicklung von Taktiken und der praktischen Anwendung selbiger in Manövern als Basis diente. Außerdem hatten sie eine systematische empirische Methode zur Lösung von Problemen entwickelt, die das ren, die diesem

Oberkommando für das Stadium Jahren nutzen konnte.

157

von

Schlachtflottentaktik in den frühen 1890er

BA-MA N 253/330, Tirpitz, 12.10.1877: Ansichten über den Stadium der ganzen Torpedofrage.

Fischtorpedo und das gegenwärtige

162

Zweiter Teil

In einem

langen

rückschauenden Memorandum beschrieb

Tirpitz

1889 diese

Methode, deren Anwendung oftmals zur Folge hatte, daß Wochen damit verbracht wurden, in eigens darauf angelegten Manövern einer einzigen taktischen Frage nach-

zugehen158.

Der

größere Teil der Denkschrift befaßt sich mit den technischen Proeinmal gelöst werden mußten, ehe man homogene Klassen seetüchtiger Schiffe in großer Anzahl besteUen und in taktischen Einheiten zusammenfassen konnte. AnschHeßend wird bezügüch dieser Erfahrungen ein Vergleich mit den Entwicklungen in der britischen und der französischen Marine angesteUt. Nach dem RückbHck gingen in den frühen 1880er Jahren die Meinungen immer noch auseinander, ob Torpedoboote ledighch als Hilfsfahrzeuge (»Beiboote«) fungieren soüten, ob sie sich ausschHeßHch für die Verteidigung in flachen Gewässern anboten oder ob sie auf sich aUein gesteUt offensiv in der Ost- und in der Nordsee eingesetzt werden soUten. Mit verschiedenen britischen und deutschen Prototypen wurden in den Jahren 1884 und 1885 technische Tests durchgeführt. Das von Schichau entworfene Boot erwies sich als das seetüchtigste. Infolgedessen gewann die Danziger Werft über die Verträge mit der KaiserHchen Marine ein Auftragsmonopol In den verbleibenden Jahren dieses Jahrzehnts wurden zahlreiche Schiffe in Auftrag gegeben. Tirpitz' Beschreibung der Parallelentwicklung in der Royal Navy schien zu zeigen, daß diese systematische Vorgehensweise auf deutscher Seite weniger Pannen verursachte und ein besser ausgebildetes Personal hervorbrachte, als dies in Großbritannien der FaU war. Er gestand Großbritannien aUerdings zu, daß es sich in einer einzigartigen Position befand. Mit ihrem begrenzten Einsatzradius und ihrer eingeschränkten Seetüchtigkeit waren Torpedoboote für eine anhaltende Blockade gegnerischer Häfen ungeeignet. Solche Überlegungen spielten für den offensiven Gebrauch von Seemacht, mit dem sich die Royal Navy von anderen Marinen unterschied, an sich nur eine untergeordnete Rolle. Auf der anderen Seite hatten selbst die Kritiker des Torpedobootes in letzter Zeit einige seiner QuaHtäten zu schätzen gelernt. Wenn Großbritannien mit seiner Tradition für die Offensive und seiner gewohnten Beherrschung der Meere eine große Anzahl von Torpedobooten anstrebte, so würde dies automatisch die genereUe Bedeutung dieser Waffe steiblemen, die

erst

gern159.

Die Berücksichtigung der neueren Entwicklungen in der französischen Marine zeigt, daß Tirpitz sich sehr wohl der Tatsache bewußt war, daß Aube und Charmes radikale Theorien über die Marine der Zukunft verbreitet hatten. Er glaubte auch, daß diese einen wahren Kern besäßen. Tirpitz erkannte zudem, daß es Aube war, der als Marineminister gerade das Torpedoboot aus seiner Statistenrolle bei der Küstenverteidigung herausgeholt hatte, und er war davon überzeugt, daß die rücksichtslose Beschießung der gegnerischen Küstengebiete in allen künftigen Kriegen zu einem wichtigen Bestandteil der Operationen werden würde. Hingegen lehnte er 158

BA-MA, 253/15, Tirpitz, April 1889: Ueber die Entwicklung des Torpedobootswesens; vgl. BAMA, 253/15 Das Deutsche Torped«»wesen in seinen ersten Enrwicklungsstadien. Die Abhand-

lung

>5»

einen anonymen Leutnant zur See und basiert hauptsächlich auf dem Doku1889. Es ist zu vermuten, daß der Autor die Marineschule besuchte (die Abhandlung

stammt von

ment von

ist datiert Flensburg-Mürwik, Ebd., fol. 22.

1.12.1911).

II. Die deutsche

Gesamtstrategie

163

Aubes Vision von kleinen speziaHsierten Schiffen, die allen Aufgaben einer Marine gerecht werden könnten, entschieden ab. Das »bateau canon« mit seiner einzigen 15-cm-Kanone könne, laut Tirpitz, niemals eine tödliche Bedrohung darsteUen. Fanatiker, wie jene in Frankreich, würden nicht durchschauen, daß die Frage, ob die Schlagkraft auf Schlachtschiffen zu konzentrieren oder auf kleinere Schiffe zu verteilen sei, nur auf der Basis der spezifischen geographischen und poktischen Umstände der einzelnen Länder entschieden werden könne. In Anbetracht der Tatsache, daß Deutschland in vielen Bereichen der Torpedobootorganisation und -taktik führend war, ist es bemerkenswert, daß Tirpitz die Theorien der »Jeune Ecole« über die Handelskriegführung noch nicht einmal erwähnte. Er akzeptierte, daß schwächere Marinen zwangsläufig auf die strategische Defensive setzen mußten, ob es ihnen nun gefiel oder nicht, und er erkannte, daß Torpedoboote die Bedingungen des Kräfteverhältnisses in gewissem Umfang zugunsten der schwächeren Marinen abgeändert hatten. Er zog aber nicht die von Grivel diskutierten Möglichkeiten eines Angriffs auf die exponierten Handelsinteressen eines stärkeren Gegners in Betracht. Genausowenig scheint er sich mit der unlängst von Aube aufgestellten Behauptung, die neuen Größen des Dampfantriebes und der Bedrohung durch den Torpedo machten die Geschwaderkriegführung und die Schlacht um die Seeherrschaft zum Anachronismus, näher auseinandergesetzt zu haben. Denn ob es nun um die Konzentration oder um die Streuung von Schlagkraft ging, mit Kriegsschiffen wurde letzten Endes nur ein Ziel verfolgt: die Schlacht160. Da die ersten großen Torpedobootflottillen (von bis zu dreiundvierzig Booten) nun schon aufgesteUt wurden, bestand höchste DringHchkeit für die Ausarbeitung von Vorschriften, welche den Wach- und Aufklärungsdienst, Nachtangriffe auf Schiffe und Geschwader, das Gefecht mit gegnerischen Torpedobooten und alle Aspekte der Angriffstaktik bei TagesHcht regelten. Außerdem mußte mit der weiteren Entwicklung der Torpedobootstaktik auch eine gründliche Überarbeitung der Flottentaktik vorgenommen werden161. Tirpitz hatte in diesem Bereich schon ein Jahr zuvor mit seiner Antwort auf Caprivis »Zwölf taktische Fragen« einen Beitrag

geleistet162.

In seinem Begleitbrief wies er darauf hin, daß es höchste Zeit sei, sich mit der Flottentaktik auseinanderzusetzen. Die aUgemeine Größenzunahme moderner Flotten bringe es mit sich, daß taktische Fragen im Vergleich mit früheren Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hätten. Unter Caprivis Führung, so fuhr er fort, habe man sich der Taktik für das Gefecht zwischen Schiffen und Küstenbefestigungen angenommen, doch sei die quantitativ viel umfangreichere Frage der Flot•« "' 162

Ebd., fol. 32. Ebd., fol. 44. BA-MA, N 253/58, Tirpitz

an Caprivi, 17.3.1888, anbei eine zweihundertseitige Antwort auf Caprivis »Zwölf taktische Fragen« vom 30. Januar. Die Fragen bezogen sich auf die vorteilhafteste Aufstellung vor und während der Schlacht, den relativen Wert einer Vorhut, der Hauptflotte und der Reserveflotte; den Durchbruch und das Mêlée, die Rolle v«»n Avisos und Torpedobootflottillen und die Verfolgung nach dem Sieg. Tirpitz' sehr detaillierte Antworten können im folgen-

den nicht behandelt werden.

164

Zweiter Teil

tentaktik nicht mit der ihr gebührenden Aufmerksamkeit bedacht worden. Außerdem bestehe zu diesen Angelegenheiten im Offizierkorps kein Konsens. Ein solcher Konsens sei für die Ausarbeitung von Befehlen für die Schlacht grundlegend, und er müsse mit Hufe eines Programms erreicht werden, welches einzelnen Fragen in Manövern systematisch auf den Grund gehe. Nach dieser Methode war Tirpitz in den zwölf Jahren vorgegangen, in denen er an der Torpedowaffe gearbeitet hatte, und er kam darauf zurück, als er 1892 Chef des Stabes im Oberkommando wurde. Seine Bemühungen sollten Früchte tragen: Die Dienstschrift IX (1894) gab der Kaiserlichen Marine eine in der Praxis nutzbare operative Doktrin für die strategische Offensive an die Hand. In dieser Hinsicht war sie der Höhepunkt der von Tirpitz und seinen Kameraden betriebenen methodischen Vorgehensweise bei der Erarbeitung von Taktiken. Sie modifizierte die abstrakten Clausewitzschen Doktrinen der preußischen Schule und brachte sie auf einen Nenner mit dem in anderen Ländern verbreiteten seestrategischen Denken. Die Dienstschrift IX stellte auch Richtlinien für den Entwurf eines Bauprogramms bereit, mit dem eine den deutschen Verteidigungsbedürfnissen dienende Schlachtflotte geschaffen werden soUte. Die Einzelheiten zu dieser Geschichte soUen in einem der nachfolgenden Kapitel besprochen werden. In den späten 1880er lahren hatte die Admiralität das Stadium der Schlachttaktik aufgenommen, und der Erfahrungsschatz des Torpedoressorts bot einen nützHchen Wegweiser für die Inangriffnahme dieser Aufgabe. Die weitere Arbeit wurde aUerdings durch die von Wilhelm II. angeordnete administrative Teüung erschwert. Von dem bürokratischen Konkurrenzkampf zwischen Reichsmarineamt und Oberkommando, der sich über das nächste Jahrzehnt hinziehen soUte, waren alle Bereiche der MarinepoHtik betroffen. Hinzu kam, daß sich Tirpitz, als er nach zwei Jahren des Dienstes an Bord zum Kommando der Marinestation der Ostsee zurückkehrte, den Fragen der strategischen Offensive im Unterschied zu denen der Schlachttaktik gerade erst zuzuwenden schien. Außerdem ist es wichtig, an dieser SteUe hervorzuheben, daß bei der Auseinandersetzung mit strategischen Belangen und mit Fragen der Baupolitik zunehmend der Ideologie der Seemacht gehuldigt wurde. Aus diesen Gründen ist die Geschichte der krönenden Erfolge der preußischen Schule des seestrategischen Denkens untrennbar mit ihrer Verdrängung durch die deutsche Schule verbunden, auf die vor allem die Theorien Alfred Thayer Mahans Einfluß genommen hatten.

III. NavaHsmus, Strategie und Geschichte in den Theorien Mahans Es besteht kein Zweifel daran, daß es die Schriften Alfred Thayer Mahans waren, welche die Entwicklung des modernen seestrategischen Denkens am nachhaltigsten prägten obgleich er nicht alleine auf diesem Gebiet tätig war1. Laughton und Admiral Colomb hatten bereits zu einer an der akademischen Praxis orientierten Bearbeitung der britischen maritimen Vergangenheit gefunden, und einige Ergebnisse der »Blue Water Schook nahmen Einsichten von Mahan vorweg. Dennoch war letzterer derjenige, der die Seestrategie an sich auf eine wissenschaftUchere indem er das Instrumentarium Jominis auf die Analyse des SeesteUte, Grundlage war natürlich ähnHch vorgegangen, als er in seinen Vorle(Stenzel kriegs übertrug2. auf die Clausewitz sungen Seekriegführung zu übertragen suchte, nur war dies außerhalb der Marine-Akademie niemandem bekannt; Mahan hingegen veröffentUchte seine Gedanken in Büchern, die auf der ganzen Welt gelesen wurden.) Vieles von dem, was Mahan über Seestrategie geschrieben hatte, wurde nach und nach von seinen Nachfolgern Corbett, Castex, Richmond und Rosinski korrigiert, wenn nicht gänzlich verworfen. Dennoch büdet sein Werk immer noch den Ausgangspunkt für das Studium der seestrategischen Theorie. In dem Vierteljahrhundert zwischen dem Erscheinen seines ersten »Influence«-Buches (1890) und seinem Tod im Herbst 1914 galten die Theorien Mahans als internationale Richtschnur für seestrategisches Denken und nahmen daher in hohem Maße Einfluß auf dessen Entwicklung. Das soll nicht heißen, daß Mahan nicht in verschiedenen Ländern unterschiedHch ausgelegt und bewertet wurde, sondern lediglich, daß keine Diskussion einschlägiger Fragen an ihm vorbeikam. Mahan war nicht nur Stratege. Er hatte noch größeren Einfluß in seinen beiden anderen Funktionen als Historiker, der als erster den Wirkungsmechanismus der Seemacht in der Geschichte aufgedeckt hat, und als der Prediger eines imperialistischen Zeitalters, der die Vereinigten Staaten drängte, sich durch den Ausbau ihrer Seemacht auf das Zeitalter der WeltpoHtik vorzubereiten. Die sozialdarwinistischen und merkantiHstischen Argumente, die er zugunsten von Expansion anführte, trugen dazu bei, daß sich das Interesse einer zunehmend imperiaHstisch gesinnten Generation in einem Dutzend anderer Länder der See zuwandte3. Vor allem rührte der Einfluß, den sein Werk auf die steigende navaHstische Flut der 1890er Jahre —



i

2

3

Siehe die

Einführung des Herausgebers zu Mahan on Inventing Grand Strategy, S. 99 f. Hattendorf in Mahan on Naval Strategy, S. IX-XII. Hagan, Alfred Thayer Mahan, S. 281, 302 f.

Naval

Strategy,

S. XXXII.

Vgl. Sumida,

Zweiter Teil

166

ausübte, von der Tatsache, daß es ebenfalls Mahan war, der zwischen überseeischer

Expansion und Seestrategie einen Zusammenhang herstellte. Sein Plädoyer für die überseeische Expansion verlieh seinen Theorien über Seestrategie Farbe. Gestützt auf seine Doppelrolle als Politikwissenschaftler und als angesehener internationaler PubHzist trugen seine zahllosen Kommentare zum Weltgeschehen dazu bei, seine Deutung der Geschichte und der aktuellen weltpoHtischen Lage in vielen Ländern

verbreiten. Die verschiedenen Stränge des Mahanschen Gedankenguts zu entwirren steUt eine schwierige, aber notwendige Aufgabe dar, will man den Charakter seines Einflusses auf seine Zeit verstehen. BezügHch seiner Wirkung auf Deutschland, zum Beispiel, ist mehrfach festgehalten worden, daß sie eine große Rolle dabei spielte, der öffentHchen Meinung die maritime Expansion schmackhaft zu machen, wobei aber weder der Kaiser noch Tirpitz noch die deutsche Marine Mahan je wirkHch verstanden hätten. Beide Beobachtungen soUten nicht leichtfertig abgetan werden; dennoch kann ihre Relevanz als Erklärung für die deutsche maritime Expansion und deren letztendHches Scheitern nur dann bemessen werden, wenn man anfängt zu identifizieren, welche Aspekte der Mahanschen Theorien in die Ideologie der Welt- und FlottenpoUtik eingeflossen sind, welche Aspekte mißverstanden wurden und wie genau sich dieses Mißverstehen manifestiert hat4. Mit einem Abstand von hundert Jahren fäUt es leichter zu erkennen, daß Mahan seine »Elemente der Seemacht« oder seine strategischen Prinzipien oder seine Beschreibung der Funktionsweise von Seemacht nicht aus einer nüchtern-sachHchen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ableitete. Dies war es zwar, was er, im wahrhaft positivistischen Trend, vorgab zu tun5. Es wäre aber korrekter, darauf hinzuweisen, daß er viele der zeitgenössischen Vorurteile auf den Gegenstand seiner Betrachtung übertrug. In seinem Bedürfnis, die Interessen seines Berufsstandes zu fördern, überbewertete er die historische Bedeutung von Seemacht. Einige seiner strategischen Maximen übernahm Mahan unkritisch von Jominis Deutung Napoleons. Zudem lieferten die von ihm als Schlüssel zum Verständnis der Geschichte und PoHtik der ans Meer grenzenden Staaten identifizierten »Elemente der selbst für den von ihm untersuchten Seemacht« bestenfalls eine Teilerklärung Zeitraum. Um den Einfluß Mahans auf den NavaHsmus des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts verstehen zu können, müssen seine ideologischen Vorurteüe von seinen historischen und strategischen Einbücken getrennt werden. Wenn diese verschiedenen Elemente seines Theorienkonstrukts erst einmal voneinander isoHert sind, wird es mögHch sein, sich mit einer Frage zu beschäftigen, die für dieses Buch von primärer Bedeutung ist: Welcher Art war sein Einfluß in Deutschland? Mahans unbestreitbare Leistung lag darin, daß er den Mechanismus einer historischen Kraft der Seemacht aufgedeckt hatte. Vor ihm hatten Historiker dieses

zu





-

4

5

-

Eine Diskussion der verschiedenen Positionen zu Mahans Einfluß auf das deutsche seestrategische Denken findet im Zweiten Teil, Kapitel IV statt. Hagan, Alfred Thayer Mahan, S. 282; Kennedy, The Influence and the Limitations, S. 2.

111.

Navalismus, Strategie und Geschichte

167

Phänomen entweder ignoriert oder unzureichend behandelt6'. Bis zu dem Zeitpunkt, da Mahan in den späten 1880er Jahren anfing, seine Vorträge vorzubereiten, war die Geschichte der Seekriegführung in Form einer Chronik der Schlachten und Heldentaten niedergeschrieben worden, die in keiner Weise die poHtischen und militärischen Ereignisse der Zeit mit berücksichtigte. Mahan integrierte die Marinegeschichte in diese weitergefaßten Entwicklungen und zeigte auch, welche Wirkung sie auf letztere hatte. Später hielt er fest, wie er auf jene Erleuchtung gestoßen war, die für den Rest seines Lebens im Zentrum seines Schaffens stehen soUte. Im Herbst 1884 hatte Kommodore Stephen Luce ihm, der zu diesem Zeitpunkt Kommandant der vor Peru kreuzenden USS Wachusett war, geschrieben und ihn eingeladen, ein MitgHed des bald darauf zu gründenden Naval War CoUege in Newport, Rhode Island, zu werden7. Mehr als zwanzig Jahre später beschrieb Mahan in seinen Memoiren einen Moment der nahezu reHgiösen Inspiration, als es ihm dämmerte, »that control of the sea was an historic factor which had never been systematically appreciated and expounded«8. Zeitgenössische Quellen stützen diesen im Interesse der Eigenwerbung gegebenen Bericht nicht. In einem Brief, den er Luce sechs Monate nach seiner »erleuchtenden« Offenbarung schrieb, schilderte er seine vorbereitenden Stadien als dunkle Erinnerung an ein viel weniger folgenreiches Ereignis9. Zutreffender wäre wohl der Befund, daß Mahans Erkenntnis von der Funktionsweise von Seemacht mit seiner raschen Konversion zum Imperiaksmus zusammenfiel. Dies war der wahre Auslöser für den Wandel seiner Weltsicht. Von da an zogen sich diese beiden Aspekte sowohl durch seine historischen Stadien als auch durch seine poHtischen Kommentare. Seine Interpretation der Elemente und Funktionsweise von Seemacht wurde angereichert durch das, was man seine »Theorie des merkantilistischen Imperiaksmus« genannt hat. Die Argumente, die er vorbrachte, um den Lauf der amerikanischen maritimen Expansion voranzutreiben, waren untrennbar verbunden mit seinem Plädoyer zugunsten des Erwerbs überseeischer Gebiete und der wirtschaftlichen Expansion. Für den Zweck dieser Studie ist es durchaus angemessen, Mahan als einen Ideologen des Imperiaüsmus zu begreifen, der außerdem seinen Teil zur Geschichtsschreibung und zur Entwicklung seestrategischer Theorie beigetragen hat. Was die Geschichtsschreibung anbelangt, so machte er auf den Faktor Seemacht aufmerksam, dessen Wirkung bis dahin übersehen worden war. Der Entwicklung seestrategischer Theorie gab er weiterführende Impulse, indem er bestimmte Konzepte und EinbHcke formuHerte, die halfen, ein besseres Verständnis von den Eigentümlichkeiten der Seekriegführung zu erlangen. Mahans Bestseller, das erste »Influence«-Buch, untersucht die Wirkungsmechanismen von Seemacht im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Die Inhalte wurden zuerst in Form von Vorträgen zur Marinegeschichte im Herbst 1886 am 6

8

Vgl. Nauticus, Sea Power, S. 853. Spector, Professors of War, S. 11 -26; The Writings of Stephen B. Luce, S. 11 ff.; Gat, The Development of Military Thought, S. 175-178; Shulman, Navalism, S. 43 f. Mahan, From Sail to Steam, S. 276 f.; vgl. für weitere Angaben Weiglev, American Wav of War, S. 174.

9

Seager, Alfred Thayer Mahan: The Man and His Letters, S.

145.

Zweiter Teil

168

Naval War CoUege einem Hörerkreis präsentiert. Mahan lehrte auch Seestrategie, und es war bei der Vorbereitung für diesen Kurs, daß er seinem Berufsstand einen zweiten Dienst erwies, indem er für das Stadium der Seekriegführung ein wissenschaftliches Vokabular entwickelte.

Thayers Vater, Denis Hart Mahan, hatte in West Point vor dem Bürgerkrieg Jominis Interpretation der napoleonischen Kriegführung eingeführt10. Der jüngere Mahan tat das gleiche für die Marine. Von Jomini lernte er, wie er bekannte, »the few, very few, leading considerations in military combination; and in these I found the key by which, using the record of saiHng navies and the actions of naval leaders, I could eHcit, from the naval history upon which I had looked despondently, instruction stud pertinent«11. Diese Vortragsreihe sollte erst im Jahre 1911 in seinem verworrenen und unsystematischen Buch »Naval Strategy« pubHziert werden12, davor war sie außerhalb der U.S. Navy nicht bekannt. Allerdings zieht sich Mahans Verwendung der Jominischen Prinzipien durch seine Schriften zur Marinegeschichte, so daß sie durch diese, auf eine noch unsystematischere Art und Alfred

Weise, schon vorher pubHziert worden waren.

Mahans Verständnis von den Prinzipien der Seestrategie und seine Pionierarbeit als Marinehistoriker sollen im folgenden beleuchtet werden. Zuerst muß aber derjenige Aspekt seiner Theorien untersucht werden, der in seiner eigenen Zeit den weitaus größten poHtischen Einfluß hatte. Dies ist die Abhandlung über die »Elemente der Seemacht«, die er seiner Untersuchung der »Influence of Sea Power on History, 1680-1783« voranstellte, als diese 1889 pubHziert wurde. Mehr als aües andere, was sonst in diesem Band zu lesen war, ließ jene Analyse die Veröffentlichung um es in den Worten Gladstones wiederzugeben zum »book of the age« werden. Die »Elemente der Seemacht« waren nicht so sehr die Arbeit des Historikers oder des Strategen Mahan als vielmehr die des NavaHsten Mahan. Eben in dieser RoUe schuf Mahan die zentrale Verknüpfung zwischen wirtschaftlichen und kolonialen Interessen und der Marine. Dadurch ebnete er den Weg für das Konzept vom Wirken der Seemacht im Frieden und von den wirtschaftlichen Vorzügen, die sich aus der Seeherrschaft ergaben. Es war genau dieser Aspekt seiner Theorien, der am meisten dazu beitrug, daß der ImperiaHsmus seiner Tage sich zur maritimen Expansion hin orientierte. —

-

1. Mahans

strategische und navaHstische Elemente der Seemacht

es sich der Historiker Mahan zum Ziel gesetzt hatte zu beweisen, daß Seemacht eine wirkungsmächtige Kraft in der Geschichte darstellte, gelang es ihm nicht, klar zu definieren, was unter diesem Begriff zu verstehen war oder, um genauer zu sein, Ueferte er voneinander abweichende Definitionen, entsprechend

Obgleich



i"

Origins of Military Thought, S. Weigley, American Way of War, S. 81 88; Gat, The da, Inventing Grand Strategy, S. 4, 23 f., 52 ff, 70, 103 f., 109-114. -

11

12

Mahan, From Sail to Steam, S. 282 f. Rosinski, Mahan and World War II, S. 21; Sumida, Inventing Grand Strategy, S. 2.

18- 24; Sumi-

III.

Navalismus, Strategie und Geschichte

169

der seinen Schriften jeweüs zugrundeHegenden Motivation13. Die erste war strategischer Natur und beschrieb Seemacht als eine Gewalt, mit der im Krieg das Geschehen zu Land von der Macht beeinflußt werden konnte, die über die Seeherrschaft verfügte. Dies Heß sich am besten am Beispiel Roms und der Bedeutung von dessen SeeverbindungsHnien im Kampf gegen Karthago veranschaulichen ein Thema, welches er in der Einleitung zu seinem »Influence«-Buch ausführte14. Im Kern begriff er Seemacht als die Fähigkeit, große Truppenteüe und deren Versorgung an Punkte zu verlegen, von wo aus sie auf das Kampfgeschehen an Land Einfluß nehmen konnten, und als die Fähigkeit, entsprechende Transporte des Gegners zu unterbinden. In der von Mahan untersuchten Frühen Neuzeit hatte der Seehandel für die europäischen Staaten im Vergleich zur Antike entscheidend an Bedeutung gewonnen. Die Seeherrschaft bot deshalb mit der Beherrschung des Seehandels ein weiteres Mittel, mit dem auf die Ereignisse auf dem Land Einfluß genommen werden konnte. In seiner vielzitierten Wendung bedeutete dies »the possession of that overbearing power on the sea which drives the enemy's flag from it, or aUows it to appear only as a fugitive; and which, by controlHng the great common, closes the highways by which commerce moves to and from the enemy's shores«15. Mahans engere Bestimmung der Seemacht in einem strategischen Sinn deckte sich mit der Definition, die Sir Herbert Richmond für die Ziele der Seemacht formuHert hat, die entweder im Angriff oder in der Blockade lägen. Ein Gegner könne entweder mit ausschUeßUch miHtärischen Mitteln durch eine Invasion zu FaU gebracht werden oder durch den wirtschaftlichen Druck, dem er durch die Unterbindung seines Seehandels ausgesetzt werde. Seemacht meinte hier die Fähigkeit, Truppen zu verlegen und die Verkehrswege zu kontrahieren und gleichzeitig diese MögHchkeiten dem Gegner zu verwehren16. Es war seine zweite, weitergefaßte, aber weniger präzise Definition von Seemacht, die auf Mahans eigene Zeit den größten Einfluß hatte. Der größte Teü von Kapitel I des ersten »Influence«-Buches war eine Ausführung dieser Definition, und dieses Kapitel war einflußreicher als aUe seine anderen Texte. Er hat es geschrieben, nachdem der größte Teil des Buches fertig war, und es »marked the final stage in the flowering of Alfred Thayer Mahan as a mature and hardy imperiaHst«17. Weil der Verleger darauf bestanden hatte, wurde es dem Manuskript im letzten Moment beigefügt, um das Buch »populärer«18 zu machen. Viele navaHstische PoUtiker und PubHzisten, die sich selbst als glühende Anhänger Mahans verstanden, schöpften ihre Argumente aus dem Vorwort, der Einleitung und dem ersten Kapitel19. Dies war der Fall, weil der größte Teü der Diskussion Mahans um die »Elemente der -



13 14 15 16 ,7 ,ff

19



Crowl, Alfred Thayer Mahan, S. 450; Rosinski, Sea Power, USNWC, Rosinski Papers. Mahan

on

Naval

Strategy, S.

14-22.

Mahan, The Influence of Sea Power, S. 138. Baugh, Admirai Sir Herbert Richmond, S. 24-32; Rosinski, Cc»mmand of the Sea, S. 4. Seager, Alfred Thayer Mahan: The Man and His Letters, S. 205.

Seager, Alfred Thayer Mahan: Christian Expansionist, S. 38. Seager, Alfred Thayer Mahan: The Man and His Letters, S. 211; Gough, The Influence of History on Mahan, S. 9; Sumida, Inventing Grand Strategy, S. 25, 28.

170

Zweiter Teil

Seemacht« in der Tat ein clever getarntes navaHstisches Traktat war, welches der amerikanischen Öffentlichkeit die Augen öffnen soUte für die Notwendigkeit einer starken Marine20. Die spätere Forschung hat deutlich werden lassen, in welchem Ausmaß Mahan seine eigenen merkantilistischen und imperiaHstischen Vorurteüe in die Geschichte hineininterpretierte. Seemacht in dieser zweiten Definition (die vieUeicht als die umfassendere, navalistische, im Gegensatz zur enger gefaßten, strategischen Definition bezeichnet werden könnte) war abhängig von drei Faktoren: Produktion, Schiffahrt und Kolonien: »In these three things production, with the necessity of exchanging products, shipping, whereby the exchange is carried on, and colonies, which faciHtate and enlarge the operations of shipping and tend to protect it by multiplying points of safety is to be found the key to much of the history, as weU as of the policy, of nations bordering upon the sea21.« »The necessity of a navy, in the restricted sense of the word, springs, therefore, from the existence of a peaceful snipping, and disappears with it, except in the case of a nation which has aggressive tendencies, and keeps up a navy merely as a branch of the miHtary estabHshment22.« Durch Schiffahrt und Handel wurden Stationen in Übersee notwendig, die sich mit der Zeit zu Kolonien entwickelten. »Seemacht im umfassenderen Sinne« stützte sich, laut Mahan, nicht nur auf die Kriegsmarine, sondern auch auf den Schiffsverkehr und den Handel, in denen sie ihren Ursprung hatte. (Eine Anwendung dieser These über die Verbindung zwischen zunehmendem wirtschaftlichen Interesse und Seemacht auf die politische Praxis war Mahans Anregung, die Regierung der Vereinigten Staaten solle die Handelsschiffahrt subventionieren; dadurch entstünde eine Lobby, die für den Schutz durch eine große Marine eintreten würde23.) Für Mahan war es eindeutig, daß Krieg, zumindest viele Kriege, die Folge miteinander in Konflikt stehender wirtschaftUcher Interessen war. Als die Nationen erst einmal den Wert des Seehandels entdeckt hatten, bemühten sich alle, »[to] secure to one's own people a disproportionate share of such benefits«, entweder auf dem Wege der Gesetzgebung oder durch offene Gewalt: »The clash of interests, the angry feeHngs roused by conflicting attempts thus to appropriate the larger share, if not the whole, of the advantages of commerce, and of distant unsettled commercial regions, led to wars. On the other hand, wars arising from other causes have been greatly modified in their conduct and issue by the control of the sei4.« Als eine Beschreibung der Kriege im Zeitalter des Merkantilismus, die Mahan zu seinem Stadienobjekt auserkoren hatte, war Mahans wirtschaftliche Deutung -



20

Wie in einer Handvoll amerikanischer Rezensionen zur ersten Auflage deutlich gemacht wird. In einer 1917 formulierten Rückschau bezeichnete Corbett das Buch als »a political pamphlet in the higher sense« und sagte, es habe »few rivals in the sudden and far-reaching effect it produced on thought and action«. (Zit. in Seager, Alfred Thayer Mahan: Christian Expansionist, S. 38); ferner Seager, Alfred Thayer Mahan: The Man and His Letters, S. 206-208, 212; Crowl, Alfred Thayer Mahan, S. 463. Mahan on Naval Strategy, S. 30. Ebd., S. 28. Ebd., S. 93 f.; Seager, Alfred Thayer Mahan: The Man and His Letters, S. 208. Mahan on Naval Strategy, S. 1.

political

2' 22 23 24

III.

Navalismus, Strategie und Geschichte

171

der Ursachen für Kriege zwar bestechend, konnte aber für die heftigsten Kriege dieser Zeit kaum als ausreichende Erklärung durchgehen. Die verschiedenen Kämpfe der von Großbritannien unterstützten Koaktionen auf dem europäischen Kontinent gegen die hegemonialen Ambitionen Ludwigs XIV. und Napoleons fielen sicherHch in die Kategorie der Kriege, die »andere Ursachen«25 hatten. Das wirtschaftliche ErklärungsmodeU für die Ursachen von Kriegen und die navaHstische Auslegung von »Seemacht in ihrem umfassenderen Sinne« schienen weitaus mehr mit dem zunehmenden Interesse an neomerkantiHstischen Theorien und mit dem Erwerb von Kolonien zu tan gehabt zu haben, das Mahans eigene Zeit prägte. In der Diskussion um die Abhängigkeit einer Kriegsmarine von einer prosperierenden Handelsmarine und umgekehrt ist vielfach darauf hingewiesen worden, daß hier zwei Phänomene, die oft unabhängig voneinander durch Höhen und Tiefen gegangen sind, in einen willkürHchen Zusammenhang miteinander gebracht wurden: »Merchant shipping has frequently flourished with no concomitant expansion of naval power. Per contra, sea power has at times antedated the appearance of a comparable merchant service [...] There is perhaps a surer economic base for sea power than the mercurial fortunes of a single mode of transportation; namely, the vitaHty of national economic Ufe26.« Die Geschichte der Seemächte hat gezeigt, daß Marinen oft ein künstHches Produkt ihrer Regierungen waren27. Die Fähigkeit, sie im Krieg wie im Frieden zu unterhalten, hing nicht so sehr von der Handelsschiffahrt und den dem Staat zur Verfügung stehenden Kolonien ab, sondern mehr von dessen Wirtschaftskraft im Verhältnis zu seinen Rivalen. ÄhnHch verhält es sich auch mit den im ersten Kapitel von Mahans erstem »Influence«-Buch eingeführten »principal conditions affecting the sea power of nations«, von denen viele der Kritik nicht standhalten können. Die enorme Wirkung, die diese Erklärungen Mahans auf seine Zeitgenossen hatten, gründete sich auf der Tatsache, daß er eine CheckHste vorgab, mit der navaHstische Agitatoren die Aktivposten ihres eigenen Landes prüfen konnten28. Am Ende dieses Kapitels enthüUte Mahan das Ziel, welches er mit dieser Liste verfolgte, indem er der Regierung der Vereinigten Staaten bescheinigte, sie tue nicht genug für die Entwicklung der benötigten Seemacht. Das erste der Hauptkriterien war die geographische Lage29. Mahan lenkte die Aufmerksamkeit auf die ziemlich offensichtHche, nichtsdestoweniger bedeutungsvoUe Tatsache, daß sich eine Insel in einer günstigeren Lage befand, woUte sie zur Seemacht avancieren, als ein Staat, der sich gezwungen sah, seine landseitigen Grenzen gegen seine Gegner zu verteidigen. Die insulare Sicherheit vor Invasion habe für Großbritannien über Jahrhunderte eine Quelle gewaltiger Macht dargestellt. Auf diese Aussage folgte die schon zweifelhaftere Behauptung, daß die Lage Frankreichs mit seinen beiden Küsten ein Grund für seine Schwäche zur See gewe25

26 27 28

29

and Fall of the Great Powers, S. 97; Man and His Letters, S. 202 ff; Shulman, Navalism, S. 58-94. Clark, Merchant Marine. Gough, The Influence =c»f History on Mahan, S. 20. Epkenhans, Seemacht Weltmacht. Mahan on Naval Strategy, S. 31 37.

Vgl. Kennedy, The Rise

-

Seager, Alfred Thayer Mahan: The

Zweiter Teil

172

sei30. Auf der anderen Seite habe der Vorteü einer zentralen Lage, wie der es dem Königreich erlaubt, eine konzentrierte Flotte zwischen mögkchen KoaHtionspartnern, wie Frankreich und den Ost- oder Nordseemächten, zu stationieren. Abgesehen von den Vorzügen der Insel- und einer ZentraUage, gab es noch einen speziellen FaU, in dem die geographische Lage mit großen strategischen Vorteilen verbunden sein konnte: »If, in addition to faciHty for offence, Nature has so placed a country that it has easy access to the high sea itself, whüe at the same time it controls one of the great thoroughfares of the world's traffic, it is evident that the strategic value of its position is very high31.« Dies wieder war der Vorteü, den Großbritannien gegenüber Holland, Schweden, Rußland und Dänemark besaß. Mahan betonte die Bedeutung dieses Faktors immer wieder und wies darauf hin, daß dieser Vorteil der geographischen Lage Großbritanniens im Verhältnis zu Deutschland genauso zutraf wie gegenüber den eben genannten Ländern32. Keiob nun dem NavaHsten, der nicht über das einführende nem der Leser Mahans »Influence«-Buch hinaus las, oder dem Marineoffizier, von dem ersten im Kapitel man erwarten konnte, daß er auch ein gewisses Interesse an den anderen Pubkkakonnte dieses Argument verborgen tionen des berühmten Amerikaners zeigte sein33. gebHeben Als er dann dazu überging, die physische Beschaffenheit eines Landes als Einflußfaktor für die Entwicklung von dessen Seemacht zu untersuchen, bewegte er sich auf weniger festem Grund. Sein zentrales Argument war, daß dürftige natürliche Bedingungen, vor aUem ein schlechter Boden, das Interesse eines Volkes nach außen, zur See lenkte. Im Einklang mit seiner Definition von »Seemacht im umfassenderen Sinne« schrieb er über solche Nationen: »Their needs and genius made them merchants and colonists, then manufacturers and producers; and between products and colonies shipping is the inevitable Hnk. So their sea power grew34.« Auf der anderen Seite fand die Fruchtbarkeit Frankreichs eine ParaUele in den riesigen Naturschätzen der Vereinigten Staaten. FolgHch seien beide Mächte stärker an ErschHeßung und Ausbau des eigenen Landes interessiert gewesen als am Überseehandel. Diese Erklärung für die Tatsache, daß sich einige Nationen zu großen Seemächten entwickelten, wohingegen andere sich auf andere Dinge konzentrierten, wurde zusätzHch abgestützt durch ähnHche Argumente bezügHch der Größe des Territoriums oder der Bevölkerungszahl. Laut Mahan war die Größe des Territoriums ein Ursprung von entweder Stärke oder Schwäche, je nachdem, ob die Bevölkerungszahl sich im Verhältnis zur Länge der Küste groß oder klein ausnahm. In ähnHcher Weise war für eine Seemacht nicht die absolute Bevölkerungszahl, sondern die Zahl der vom Meer lebenden Bevölkerung relevant; dieser seefahrende sen

Großbritanniens,





30 31 32 33

34

Masson, De la Mer et de sa stratégie, S. 20; Sumida, Inventing Grand Strategy, S. 81.

Mahan on Naval Strategy, S. 34. Ebd., S. 296 (1902); S. 341 (1902); S. 365 (1910); S. 108 (1911); S. 370 f. (1914). Zu der Rezeption in Deutschland, siehe Wegener, The Naval Strategy of the World War, S. 343 f; vgl. den letzten Abschnitt vom Dritten Teil, Kapitel 2 unten. Mahan on Naval Strategy, S. 39.

III.

Navalismus, Strategie und Geschichte

173

Teü bUdete eine Reserve, auf welche die Marine in Notzeiten zurückgreifen und womit das Durchhaltevermögen der Nation erhöht werden konnte. Den Nationalcharakter und den Charakter der Regierung führte Mahan als fünften und sechsten Faktor an, um den Aufstieg oder den Fall von Seemächten zu erklären. Die Spanier und Portugiesen hätten einfach »keine Begabung« für Handelsgeschäfte ganz im Gegensatz zu den Briten und Holländern. Erstere suchten Gold, die anderen beiden »ursprüngHch eine Rasse« strebten nach Handelsprofit. Die Franzosen wiederum strebten nach Reichtum mit anderen Mitteln: durch Sparsamkeit, Horten und strenge Ausgabenkontrolle. Der Adel in Spanien und Frankreich habe den Handel und das Gewerbe verachtet, in Großbritannien und den Niederlanden sei der Adel in genau diesen Bereichen aktiv gewesen. Das Vermögen, lebensfähige Kolonien zu gründen, hing natüriich auch vom Nationalcharakter ab. SchHeßHch war der Aufstieg der britischen Seemacht auch der langfristig angelegten Politik des grundbesitzenden Adels zuzuschreiben, der die Regierung in den Händen hatte. In HoUand hingegen geriet die Regierung unter den Einfluß des in der Bevölkerung vorherrschenden »Handelsgeistes«. Sie scheute das Risiko des Krieges. Und obschon Frankreich »an astonishing manifestation of the work which can be done by absolute government ably and systematically wielded« gab, hat dieses Wachstum Colbert nicht überdauert. Dieser habe ein Mann« lange »großartige für die Rolle welche die dabei Regierung Beispiel geHefert, spielen konnte, die Seemacht eines Staates auszubauen. Er trug in seiner »wise and provident administration«35 Sorge für alle drei Grundlagen von Seemacht. Wie verschiedentHch hervorgehoben worden ist, hat wenig von dem, was Mahan über die Rolle wirtschaftlicher, demographischer und rassischer Faktoren zu sagen hatte, die unausweichHche Revision von einem Jahrhundert der historischen Forschung überlebt36. Andere Faktoren können den Aufstieg und FaU von Seemächten, denen er selbst sich gewidmet hat, erklären; außerdem gibt es auch noch die Geschichte von anderen Seemächten, die er nicht wahrgenommen hat und die in die Betrachtung einbezogen werden muß; und wie relevant auch immer Mahans Theorien für das Stadium von Seemacht im Europa des achtzehnten Jahrhunderts gewesen sein mögen, sie waren sicherHch weit weniger relevant für die sich industriaHsierenden Seemächte des späten neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts. Mahan aber erklärte die Geschichte der Royal Navy im achtzehnten Jahrhundert zu Norm und Ausgangspunkt für seine genereUen Theorien über die Elemente von Seemacht37. Selbst in bezug auf die von ihm untersuchte Zeit spiegelte seine umfassende Definition von Seemacht mehr seine eigene ideologische Voreingenommenheit als die RoUe, welche die Royal Navy in dieser Zeit wirldich gespielt hatte. Phüippe Masson hat die Frage gesteUt, ob diese Marine, die über dreieinhalb -



35 36

37



to Steam, S. 281 f.; vgl. Sumida, Inventing Grand Strategy, S. 28-32. Ebd., S. 115. Masson, De la Mer et de sa stratégie, S. 20- 24; Kennedys The Rise and Fall of British Naval Mastery ist selbst eine bewußte Revision von Mahan. Seager, Alfred Thayer Mahan: The Man and His Letters, S. 203 f.

Ebd., S. 75 f.; Mahan, From Sail

Zweiter Teil

174

Jahrhunderte der britischen Geschichte eine derart wichtige Rolle spielte, in der Tat

nicht mehr als das Produkt wirtschaftkcher und kolonialer Interessen gewesen sei38. Um es einfacher auszudrücken: Was die Elemente anbelangt, die langfristig auf die Entwicklung von Seemacht gewtikt haben, so könnte man die von Mahan geprägte Formel »Produktion, Schiffahrt und Kolonien« reduzieren auf die Elemente »Marine und Wirtschaftskraft«. Seine »principal conditions affecting the sea power of nations« könnten auf einen Faktor von aUes überragender Bedeutung reduziert werden, nämHch auf den Wert der geographischen Lage im Verhältnis zu der des potentieUen Gegners. Der Stellenwert dieser Elemente Insellage, zentrale Lage, Nähe und Beherrschung der Zugänge zu den großen Seestraßen, für sich alleine wie auch zusammengenommen bemaß sich an den poHtischen Umständen. Vollkommen ignoriert werden konnten sie allerdings selten. Mahan machte keinen Unterschied zwischen den Elementen von Seemacht im Krieg und im Frieden. Wenn die Entwicklung von Seemacht in Friedenszeiten hauptsächlich von der notwendigen Wirtschaftskraft eines Landes abhing, um eine Marine zu halten, so konnte die Schlagkraft dieser Marine im Krieg entsprechend der geostrategischen Lage des Landes im Verhältnis zu der des Gegners erhebHch gesteigert oder reduziert werden. Die RivaHtät zwischen Seemächten in Friedenszeiten war ein Test ihrer Wirtschafts- und Finanzkraft und des für die MobiUsierung dieser zwei Sektoren benötigten poHtischen WUlens. Die RivaHtät zwischen Seemächten im Krieg war der Kampf um die Seeherrschaft. Ihre Fähigkeit, die Herrschaft zu erringen, zu verteidigen und auszuüben, war ein Test ihrer Seemacht, hier nun bestimmt durch das Verhältnis zwischen der quantitativen Stärke ihrer Marinen und durch ihre geostrategische Lage mit BHck auf die umkämpften Seewege. Der Besitz ausreichender Ressourcen für den Bau einer großen Marine verHeh nicht automatisch das notwendige Maß an Seemacht zur Erringung der Seeherrschaft. Die Kapazitäten, die es erlaubten, sich auf ein Wettrüsten einzulassen, brachten noch nicht die Fähigkeit mit sich, einen Krieg zu gewinnen. Für diese Studie Hegt das Bezeichnende in Mahans Denken darin, daß es die begriffliche Unterscheidung zwischen der in Friedens- und der in Kriegszeiten vorzufindenden Seemacht verwischte. Indem er die Verknüpfung zwischen wirtschaftlichen Faktoren und maritimer Stärke hervorhob, ebnete Mahan der Behauptung den Weg, die Marine eines Landes sei ledighch die Funktion von dessen »Seeinteressen«. In Deutschland wurde die eigentümHche Vorstellung, daß die Größe der Schlachtflotte der Ausbreitang des überseeischen Handels und der Kolonialinteressen des Reiches zu entsprechen habe, zum gewichtigsten Argument navalistischer Propaganda und inspirierte Tirpitz bei der FormuHerung der »poHtischen Bedeutung der Seemacht« und seiner auf Abschreckung zielenden Risikotheoric. Die VorsteUung, daß die Marine irgendwie als »Rückgrat« wirtschaftlicher und kolonialer Expansion in Friedenszeiten fungieren soUte, ging auf jenes Verwischen des Unterschiedes zwischen der Rolle von Seemacht im Krieg und den konstituierenden Elementen von Seemacht im Frieden zurück, welches Mahan vorgenommen hatte. Der Einfluß, den die expansionistische Ideologie der Seemacht auf das see—



38

Masson, De la Mer et de sa stratégie, S. 24- 39.

III.

Navalismus, Strategie und Geschichte

175

strategische Denken erlangt hatte, war für den von Mahan angeregten NavaHsmus prägender Bedeutung. Ehe man sich mit dem für Mahan charakteristischen Verständnis von ImperiaHsmus auseinandersetzt, dürfte es von großem Nutzen sein, den Begriff näher zu definieren. Im folgenden wird Navalismus gleichgesetzt mit der Forderung nach oder der Umsetzung von einer PoHtik der maritimen Aufrüstung, welche als Mittel nationalen Aufstiegs dienen sollte und welche die Anforderungen an die Landesverteidigung in den Kontext einer angebHchen Notwendigkeit zur Expansion stellte. Als historisches Phänomen stand der NavaHsmus in enger Verbindung mit dem HochimperiaHsmus der drei dem Ersten Weltkrieg vorangehenden Jahrzehnte. Er speiste sich aus Argumenten, die auf »Reichsmythen« basierten Behauptungen über den künftigen Gang der internationalen Beziehungen, die auf den im Zeitalter des Imperiaksmus vorherrschenden rassistischen, sozialdarwinistischen und merkantilistischen Strömungen gründeten. Solche Mythen oder »self-fulfilHng wie »die der »der bevorstehende Zusamprophecies« Notwendigkeit Expansion«, von »die der KontroUe von Weltreichen«, menprall Notwendigkeit politischen Märkten und Rohstoffquellen« und »die Unfähigkeit von minderwertigen Rassen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen«, dienten dem ImperiaHsmus wie auch dem NavaHsmus als Legitimation. Sie Heßen die territoriale und maritime Expansion als notwendige Maßnahmen zur Landesverteidigung erscheinen, da in den Auder gen ImperiaUsten und NavaHsten ein Staat nur aufsteigen oder untergehen von







konnte. Besaß ein Staat nicht ausreichend Schutzraum für seine Industriewirtschaft und seine wachsende Bevölkerung, so würden seine Rivalen ihn in die Knie zwingen. Aufrüstangsgegner übten in ihrer Kurzsichtigkeit permanent Verrat an der nationalen Sache. NavaHsten betonten, daß Marinen die unabdingbaren Machtinoder wie Mahan sie nannte »handmaid[s] of expansion« seien für den strumente Erwerb und den Erhalt überseeischer Territorien gegen den Widerstand anderer Mächte. Wie in Joseph Schumpeters ImperiaHsmustheorie und in Alfred Vagts Militarismusdeutung ist dem Begriff des Navalismus inhärent, daß die ihm zugrundeHegenden Ziele nicht definiert werden können, da der angestrebten Expansion keine Grenzen gesetzt waren, auch keine konkreten Ziele. Diese drei miteinander in engem Zusammenhang stehenden Phänomene (ImperiaHsmus, MiHtarismus, NavaHsmus) standen für das genaue Gegenteil eines nationalen Verteidigungskonzeptes, das sich auf eine Abwägung von wahrscheinHchen Bedrohungen, auf vorhandene miHtärische Fähigkeiten und ein Streben nach relativer Sicherheit im Rahmen eines Mächtegleichgewichtes stützte39. NavaHsten forderten eine »ozeanische« Schlachtflotte oder eine, die dem Ausmaß der Seeinteressen des Landes gerecht würde Floskeln, die alles bedeuten konnten. ÄhnHch vage waren die FormuHerungen bezüglich der Aufgaben und Fähigkeiten für den Bereich der Strategien, die auf der »poHtischen Bedeutung der Seemacht« aufbauten40. —

-



39 40

Mommsen, Imperialismustheorien, S. 21 ff; Vagts, A History of Militarism, S. 14 f.; vgl. Ropp, War in the Modern World, S. 208. Vgl. Grove, La pensée navale britannique, S. 133 f.

Zweiter Teil

176

Aspekte des Mahanschen Denkens kommen deutUcher zum seine Abhandlung historischer und strategischer Themen im Vorschein, Zusammenhang mit seinem Expansionsprogramm sieht. Die navahstischen

wenn man

2. Mahans

ImperiaHsmus

Mahans umfassendere Definition der »Elemente der Seemacht« entwickelte sich aus seinem Expansionsprogramm. Einige Elemente seines ImperiaHsmus gehörten zu dem gängigen Rechtfertigungsrepertoire für die in den 1880er und 1890er Jahren propagierte Expansion. Andere stellten Mahans eigenen Beitrag zum Navalismus dar, der im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts aufkam. Seiner eigenen Aussage zufolge war er bis zu dem Zeitpunkt, da Luce ihm schrieb, um ihn für die Fakultät des Naval War College zu gewinnen, ein AntiImperiaHst gewesen und außerdem »dem Freihandel zugetan«41. Schon früher, im Jahre 1883, hatte er sich für den Bau einer »New Navy« eingesetzt, hatte hierfür aüerdings anscheinend nur mUitärisch-technische Argumente angeführt42. Durch seine Bekehrung zum ImperiaHsmus öffnete sich ihm ein ganzes Arsenal neuer Argumente für die maritime Expansion, die auch eher mit den Vorstellungen, die sich in der amerikanischen Öffendichkeit in den 1880er Jahren ausbreiteten, in Einklang zu bringen waren43. Er entdeckte die Vorteile des Imperialismus ungefähr zur gleichen Zeit, zu der er den Einfluß der Seemacht auf die Geschichte entdeckte, und ehe er die »Elemente der Seemacht« voneinander unterschied und seinen theoretischen Zugang zur Seestrategie entwickelte. Seine neue Berufung überzeugte ihn von der Notwendigkeit großer Reiche, und zwar nicht nur mit BHck auf das nationale Interesse, sondern auch aus der morakschen Verpflichtung heraus, sich der Entwicklung von »aHen subjects, still in racechildhood«44 anzunehmen. Dieses Element der Mahanschen Seemachtphilosophie ist beschrieben worden als »a theory of national prosperity and destiny founded upon a program of mercantilistic imperialism««45. Es ist auch darauf hingewiesen worden, daß Mahan, als er in den 1890er Jahren seine Ideen entwickelte, von Positionen Abstand genommen hat, die ihn in die Nähe jenes Merkantilismus rückten, auf den er in seinen historischen Stadien gestoßen war46. Um ein Beispiel aufzugreifen: 1890 war er noch der Überzeugung, daß eine Handelsflotte grundlegende Voraussetzung für eine Marine war, denn ohne eine solche würde eine »purely mültary sea power« verkümmern. 1911 allerdings hatte Erfahrung seine eigene Theorie widerlegt, er war »not particularly interested here to define the relations of 41 42

43 44

45 46

Seager, Alfred Thaver Mahan: The Man and His Letters, S. Ebd.,S. 133 f., 141.

140 f.

Shulman, Navalism, S. 95-138. Mahan, Lessons of the War with Spain, S. 249; Mahan, From Sail to Steam, S. 324, 326. Sprout, The Rise of American Naval Power, S. 203. LaFeber, A Note on the »Mercantilistic Imperialism«, S. 679 f.; vgl. Sumida, Inventing Grand tegy, S. 2.

Stra-

III.

Navalismus, Strategie und Geschichte

177

commerce to a navy [...] More and more it becomes clear, that the function of navies is distinctly miHtary and international, whatever their historical origin in particular cases47.« Nunmehr betonte er die Bedeutung des Erwerbs von Kolonien weit weniger als die Notwendigkeit, sich Zugang zu den überseeischen Märkten zu verschaffen. Die Vereinigten Staaten benötigten überseeische Gebiete als Kohlestationen für die Marine, die damit befaßt war, die amerikanische Seemacht auf den neuen Märkten Chinas und Lateinamerikas zur Geltung zu bringen. Er bewegte sich auch von einer ursprüngüch agnostischen Position zur Frage des Freihandels obgleich er Präferenzen für den Protektionismus erkennen Heß hin zur PoHtik der offenen Tür in China und Lateinamerika. Mit BHck auf das Erstarken der amerikanischen Seemacht setzte er seine Hoffnungen in den Bau eines den Atlantik mit dem Pazifik verbindenden Kanals (also des späteren Panamakanals). Dies würde den europäischen Handel in die Karibik ziehen und so die Vereinigten Staaten dazu zwingen, sich in internationalen Angelegenheiten zu engagieren, indem sie ihre Marine förderten und für sie Stationen in der Karibik erwarben48. Dennoch bleibt festzuhalten, daß es die frühen Schriften von Mahan waren, die auf seine Zeitgenossen die größte Wirkung hatten. Diese Studie beschäftigt sich nicht mit der vollständigen Entwicklung seiner Theorien bis in deren letzte Phase, sondern mit seinem Einfluß auf das seestrategische Denken und den NavaHsmus der 1890er Jahre. In seinen ersten historischen Stadien und in seinen frühen Schriften zu aktuellen Themen lehnte er sich eng genug an den »merkantiUstischen Imperialismus« an, um hier die Verwendung dieses Begriffes zu rechtfertigen. In seiner von Bewunderung zeugenden Beschreibung des Wachsens der britischen Seemacht und des britischen Handels im Zeitalter des MerkantiHsmus ignorierte er das noch viel größere Wachstum des nationalen Wohlstandes im Zeitalter des Freihandels im neunzehnten Jahrhundert. Letzteres schien er als ein eher unrühmliches, geldgieriges Zwischenspiel zu erachten. In der zweiten Hälfte der 1890er Jahre deutete er die überseeische Expansion der europäischen Mächte im vorangegangenen Jahrzehnt als die Wiederaufnahme der großen Koloniaüsierungsbewegung des achtzehnten Jahrhunderts49: Diese Bewegung war von der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen unterbrochen worden, die anschHeßende Industrielle Revolution hatte dann die Aufmerksamkeit und Energien der Nation nach innen auf die interne Entwicklung gelenkt. Das Ergebnis war eine Zeit äußeren Friedens. Die dann aber vermehrte Produktion suchte nach neuen Märkten, und die Zeit, in der die europäischen Nationen sich darum bemühten, »to continue indefinitely the present reaHzation of peace and plenty«, ging zu Ende. —



47

Naval Strategy, S. 93 f., XXVIII. Vgl. Sumida, Inventing Grand Strategy, S. 66 f, 80 f dem Schluß kam, daß eine Marine auch ohne eine starke Handelsflotte existieren Obgleich konnte, scheint Mahan »never [...] to have envisaged the (»pposite proposition that a flourishing shipping industry was conceivable without the constant support of a Navy« (Rosinski, Mahan and World War II, S.28, Anm.). Hagan, Alfred Thayer Mahan, S. 284 f. Mahan, A Twentieth Century Outlook, S. 219-226; Mahan, The Future in Relation to American Naval Power, S. 163 f.; Mahan, Preparedness for Naval War, S. 182. Mahan

on

er zu

48

49

178

Zweiter Teil

Der Status quo Heß sich nicht mehr halten. Nach Mahans Meinung war das Zeitalter des Freihandels und der materiaHstischen Doktrinen der Manchester Schule nicht länger kompatibel mit einer Zeit des zunehmenden Wettbewerbs um überseeische Märkte. Außerdem machte er darauf aufmerksam, daß sich die Völker in Asien zu regen begannen; es sei die Pflicht der weißen Mächte, Schutzwälle zu errichten, um die christHche ZiviUsation vor der Ausbreitung des »asiatischen Barbarentums« zu schützen. Mahan war kein MerkantiHst des achtzehnten Jahrhunderts. Er setzte sich nicht für geschlossene Kolonialsysteme, Monopolwirtschaft, Schiffahrtsgesetze oder eine Exportförderung ein, deren einziges Ziel darin bestand, alles Gold und Silber aus dem Ausland abzuziehen. Er teüte aber mit seinen hochgeschätzten Vorgängern ein Grundverständnis von Staatsmacht, vor allem in ihrer miHtärischen Ausprägung, als einer notwendigen Voraussetzung für wirtschaftliche Expansion50. Vor allem dehnte er das miHtärische Konzept der Seeherrschaft welches doch nur bedeuten konnte, daß einer der Kriegführenden seinem Gegner für die befristete Zeit des Krieges den Gebrauch von Seemacht zur Beherrschung der See verwehrte aus auf seine Analyse der Entwicklungen zu Friedenszeiten. Er sah in der Beherrschung der See große MögHchkeiten für die weitere wirtschaftliche Expansion51. Herbert Rosinski schrieb hierzu wesentlich später: »Mahan feU into the fatal error of appearing to make [...] [the] peaceful utilisation of the sea dependent upon its miUtary control, and of parallehng »control of the sea by maritime commerce« with »control of the sea by naval supremacy«52.« Seine Behauptung, daß überseeische wirtschaftliche Expansion durch die Staatsmacht gesichert werden müsse, wurde zum schlagkräftigsten Argument der NavaHsten53: Der Staat müsse eine Flotte besitzen, die der Größe seiner Handelsmarine, seines Kolonialhandels oder seiner »Seeinteressen« entspreche; ohne einen solchen Schutz bHebe die deutsche überseeische Expansion, so schreibt Tirpitz in seinen Memoiren, wie ein »Weichtier ohne Schale«54. Mahan »was induced to make the conquest and retention of oversea markets dependent not so much upon the economic abiUty of the individual -



50 51 32 53

folgende beruht auf Rosinski, Mahan and World War II, S. 27-29. Vgl. Lambi, The Navy, S. 66; Mahan, Hawaii, S. 52. Das

Rosinski, Mahan and World War II, S.

27.

Einige Kritiker haben Mahan vorgeworfen, daß er seine Argumente erfunden habe, um die maritime Expansion zu rechtfertigen weil er vor allem die Interessen seines Berufsstandes fördern wollte, vgl. Crowl, Alfred Thayer Mahan, S. 468. Tirpitz, Erinnerungen, S. 50; Hasseil, Tirpitz, S. 115 f.; Epkenhans, »Der Dreizack gehört in unsere Faust«, S. 200. In seiner Kritik an Tirpitz' Vorstellung daß die Marine »a function of [our] maritime interests« sein solle, wies Theod«»re Ropp auf folgendes hin: »The idea that a navy should be proportionate to the maritime interests of a country was a relic of the days when it was necessary tFleet-in-being< ihren Einfluß geltend zu machen oder eine effektivere Küstenverteidigung gegen den EindringHng anzustreben, als es ihr mögHch wäre, nachdem sie auf hoher See schwerste Verluste eriitten hätte. Statt dessen impHzierte Tirpitz in dem Memorandum vom 1. Februar die Notwendigkeit, sich bewußt auf die Schlacht gegen überlegene Gegner einzustellen67. Diese kompromißlose Befürwortung der Schlacht unter allen Umständen nahm keine Rücksicht auf die Hilflosigkeit der VerHererseite im Seekrieg. Im AprilMemorandum gab Tirpitz zu, daß die Meinungen bezügkch der Bedeutung der Schlacht auseinandergingen. Das dogmatische Beharren darauf, daß die Schlacht an sich schon Ziel genug sei, sowie der Mangel an Zweckgebundenheit muten befremdHch an, wenn man sie mit den Kriegsplänen vergleicht, die Goltz zwei Jahre

Bewertung des Entscheidungsschlacht und sich in ihrer





63

64

63

66 f>7

BA-MA, RM 3/32, S. 140, ohne Datum. Büchseis Verwendung des Terminus »Seeherrschaft« legt nahe, daß er der Korrektor war, der in der besprochenen Version der Februar-Denkschrift (RM 3/32) »Heerschlacht« unterstrichen und daraus »Herrschaft« gemacht hatte. Die Handschriften ähnelten sich sehr. BA-MA, N 253/3, S. 27, 27.5. »Bemerkungen zu »Unsere maritimmilitärische Fortentwicklung««. Vgl. Knorrs Brief an den Kommandierenden Admiral, 20.7.1890,

zit. in Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 69 f. Tirpitz, Denkschrift über die Neuorganisation unserer Panzerflotte, ausführlich zit. in Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 2, S. 9-14. Hallmann (Der Weg zum deutschen Schlachtfl«»ttenbau, S. 117-119) bezieht seine Informationen von Maltzahn. Zit. nach Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtfkittenbau, S. 118. Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 2, S. 10.

BA-MA, N 253/42, »Gründe«, S.

34 f.

IV. Von der preußischen zur deutschen Schule

213

früher entworfen hatte. Goltz formuHerte Aufgaben für die Marine sehr deutHch und gab dabei dem Küstenschutz oberste Priorität. Dieser könne durch den Gewinn der Seeherrschaft mittels einer Schlacht am besten gewährleistet werden. Er erkannte auch, daß eine erhebHch unterlegene Flotte sich der Entscheidungsschlacht höchstwahrscheinUch nicht steUen würde68. Tirpitz scheint diese Ideen erst im Januar 1892 verinnerHcht zu haben, als er den Kriegsplan sehr kurzfristig überarbeiten mußte69. Da Tirpitz weder das Kräfteverhältnis definierte, unter dessen Voraussetzung sich der Schlachtflotte erst die Aussicht auf einen Sieg bot, noch die Tragweite einer vernichtenden Niederlage erkannte, war die Schlacht, die ihm im Jahre 1891 vorschwebte, kein Mittel zu einem höheren Zweck, sondern Selbstzweck. Weder stellte er Überlegungen dazu an, ob die Aufgaben der Marine (zum Beispiel die Verhinderung von Küstenbeschuß oder Landungen) auf anderem Wege erfüUt werden konnten, noch überlegte er, ob es sich nicht vielleicht sogar auf diese Aufgaben nachteüig auswirkten könnte, eine Niederlage in der Schlacht zu riskieren. Eine Schlachtflotte mußte, wie schon die Bezeichnung impHziert, auf das Äußerste hin ausgelegt sein, so daß es nur logisch war, daß ihre Organisation, die Ausbildung der Besatzungen, die Schiffstypen und die Manöver aUe auf das Endziel, auf die Bewährung im Kampf, ausgerichtet werden soUten. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Ausrichtung auf die Schlacht das einzige Ziel der Strategie darstellen oder daß sich die BaupoHtik ausschHeßlich an der Schaffung einer Schlachtflotte orientieren sollte70. Wenn dies aber doch der FaU war, so machte die Entscheidung, sich unter aUen Umständen der Schlacht zu stellen ohne auch nur die Möglichkeit oder sogar die viel gewichtigeren Folgen der Niederlage in Betracht zu ziehen —, Strategie nicht mehr zu einem Instrument zur Erreichung höherer Ziele. Für diese enge Konzentration auf die Schlacht bieten sich zwei Erklärungen an. Die eine Hegt in der speziellen Entwicklung des deutschen seestrategischen Denkens, die andere beruft sich auf die der FormuHerung einer solchen Strategie zugrundeliegenden institutionellen Motive71. Das preußische militärische Denken ist schon als ein wesentlicher Einflußfaktor für die Entwicklung des deutschen seestrategischen Denkens identifiziert worden. Die QueUe dieser Theorien war Clausewitz, das wichtigste Medium, durch welches -

m 69

70

71

Vgl. Lambi, The Navy, S. 42.

Lambi stellt auch die Überlegung an, ob Tirpitz möglicherweise bei dem Entwurf des Plans von 1889 beteiligt war (Lambi, The Navy, S. 69). Wenn dem so war, warum ist dann ein Schlüsselkonzept wie das der »Seeherrschaft« nicht in dem Memorandum von 1891 aufgetaucht? Warum hat er sich keine Gedanken gemacht über die Möglichkeit, daß eine unterlegene Flotte sich der Schlacht höchstwahrscheinlich nicht stellen würde (und sollte); oder über die Alternativen für den Fall, daß keine Schlacht stattfand? All diesen Dingen wandte er sich erst in der Dienstschrift IX zu, die in dieser Hinsicht genauso das Produkt der Kriegspläne des Admiralstabes war, wie sie dem Geiste Tirpitz' entsprungen war. Assmann, Gedanken, Teil 2, S. 189. Die beiden Erklärungen korrespondieren mit dem, was Jack Snyder als »doctrinal simplification« und »motivated bias« bezeichnet Faktoren, welche die Wahrnehmung strategischer Situationen und Notwendigkeiten verdrehen und rationale Berechnungen erschweren. Siehe Snyder, The Ideology of the Offensive, S. 15-40. -

Zweiter Teil

214

sie den führenden Seeoffizieren in der wilhelminischen Epoche nahegebracht wurden, stellten die Vorträge Stenzels an der Marine-Akademie dar72. Es gab zweifelsohne andere, individuellere Kanäle, über die dieser Einfluß vermittelt wurde. Tirpitz selbst war ein großer Bewunderer von Clausewitz, und es war wohl eher sein Vater als Stenzel, der ihn auf »Vom Kriege« aufmerksam gemacht hatte. Wahrscheinhch war ihm die Arbeit schon wohlbekannt, ehe er zur Akademie ging (einige FormuHerungen in den Briefen an seinen Vater aus dem Jahre 1871 deuten darauf hin). Die von Tirpitz 1891 verfaßten Memoranden bezeugten in besonders klarer Form die Wirkung dieser Einflüsse auf das deutsche seestrategische Denken. Auf rein theoretischer Ebene unterstrich der Einfluß von Clausewitz ob durch Stenzel vermittelt oder nicht eine zentrale Idee: Welche poHtischen oder miHtärischen Ziele mit einem Krieg auch verfolgt wurden, die Schlacht war der einzige Weg, diese zu erreichen. Dies wird aus seinem ersten Operationsplan vom Februar 1892 ersichtHch, auf den ich im folgenden eingehen werde. Außerdem beeinflußte vermuthch die von Moltke dem Älteren vorgenommene Verengung auf die Schlacht als einziges operatives Ziel, gleich welche poHtischen Ziele durch den Krieg realisiert werden soUten, das seestrategische Denken. Seine prägnante Abhandlung zu diesem Thema muß den Seeoffizieren genauso bekannt gewesen sein wie den von ihnen so bewunderten und beneideten Kameraden in der Armee73. Ihre Wirkung74 drückte sich in Armee wie Marine in einer Besessenheit von der Schlacht aus, die sich in Tirpitz' Memoranden von 1891 manifestierte sowie in dem Plan für einen Zweifrontenkrieg, den Schlieffen, unmittelbar nachdem er zum Chef des Großen Generalstabes ernannt worden war, zur gleichen Zeit auszuarbeiten begann. Tirpitz' große Leistung in den nächsten drei Jahren war, daß er sich von dem dogmatischen Festhalten an der unter aUen Umständen zu schlagenden Schlacht löste und festlegte, unter welchen Umständen die in einer Schlacht gipfelnde strategische Offensive einem sinnvollen miHtärischen Zweck diente, nämHch dem Ziel der Erringung der Seeherrschaft. Die zweite, institationsbedingte Motivation, die dem unbedingten Wunsch der Marine zugrunde lag, an den Gegner zu kommen, war das brennende Verlangen, die erniedrigende Erfahrung von 1870/71 nicht noch einmal machen zu müssen. Da der nächste Krieg den Prognosen zufolge kurz sein würde, mußte die Marine schlagen, um ihre Existenz zu rechtfertigen ob die Schlacht nun vom strategischen Gesichtspunkt her nötig war oder nicht. Wie schon im Zweiten Teü, Kapitel II erwähnt, wurde dieses Motiv von Caprivi im Jahre 1884 und in den von Goltz in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre entwickelten Kriegsplänen expkzit herausgesteUt. Auch Stenzel ließ es im Jahre 1891 anldingen. Dies erklärt, warum Tirpitz in seinen Memoranden von 1891 langsamer sich auswirkende Offensivme—

-



72

73 74

Bezüglich der führenden Seeoffiziere, siehe die Definition des Terminus »Marineführung« bei Rahn, Strategische Probleme der deutschen Seekriegführung, S. 344, Anm. 16. Hubatsch spricht von der »geistigen Elite des Seeoffizierk«»rps« (Hubatsch, Der Admiralstab, S. 67). Moltke, Verordnungen und Über Strategie (1871), beide in Moltkes militärische Werke. Der zweite Artikel findet sich auch in Moltke, Vom Kabinettskrieg, S. 630- 632. Vgl. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd 1, S. 248.

IV. Von der

preußischen zur deutschen Schule

215

thoden wie die

Kreuzerkriegführung gar nicht erst erwähnte. Er ignorierte auch die Notwendigkeit, den Handel vor gegnerischen Übergriffen zu schützen. Zweifelsohne

war für den Nachdruck, mit dem er zur Konzentration auf die Schlacht auch seine Überzeugung verantwortlich, daß sich der nächste Krieg durch drängte, kurze Feldzüge zu Land entscheiden würde, genau wie es sich in den letzten Kriegen zugetragen hatte. Kein ambitionierter Seeoffizier, der Stolz für seine Marine empfand, würde noch einmal die erniedrigende Passivität des Winters 1870/71 erleben wollen75. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß eine Anzahl von Faktoren das deutsche seestrategische Denken in eine Richtung drängte, die unter allen Umständen die in einer Entscheidungsschlacht gipfelnde strategische Offensive verfolgte. Diese Faktoren waren: miktärisches Dogma, institutionelle Motive, der unerschütteriiehe Glaube an einen kurzen Krieg (der vielleicht durch die gespannte internationale Situation in den späten 1880er Jahren noch gefestigt wurde). Ein Großteil dieser Theorien lag auf einer sehr abstrakten Ebene, was zur Folge hatte, daß die Schlacht zum Selbstzweck wurde. Nur im Oberkommando, das sich mit der Festlegung von Aufgaben und deren Ausführung gegenüber potentiellen Gegnern innerhalb klar definierter Begrenzungen von Geographie, Technologie und relativer Stärke beschäftigte, wurden diese abstrakten VorsteUungen den ReaHtäten der Kriegsplanung angepaßt. Tirpitz' Leistung als Chef des Stabes lag ab 1892 in erster Linie darin, daß er sich mit den früheren Arbeiten zu dieser Thematik vertraut machte, um sich systematisch zu den klaren Schlüssen der Dienstschrift IX vorzuarbeiten.

5. Das Ausfeilen des preußischen seestrategischen Denkens, 1892 -1894: Die operativen Doktrinen der Dienstschrift IX

Unmittelbar nachdem er zum Chef des Stabes im Oberkommando avanciert war, wurde Tirpitz mit der Aufgabe betraut, den Operationsplan für einen europäischen Krieg zu überarbeiten. Anfang März legte er Wilhelm II. hierzu eine Denkschrift vor76. Zum ersten Mal war er persönHch dafür verantwortHch, Aufgaben für die Marine festzulegen und Kriegspläne auszuarbeiten, die es der Marine ermögHchten, diese Aufgaben gegen verschiedene KonsteUationen potentieller Gegner auszuführen. Caprivi hatte ihn nach seiner Meinung zu den ersten Operationsplänen gegen Frankreich gefragt77; Tirpitz setzte sich damit aber wohl nicht näher auseinander, bis er 1891 Chef des Stabes der Ostseestation wurde.

73

76

77

Zur Rechtfertigung der Notwendigkeit der strategischen Offensive in einem Kriegsplan von 1903 äußerte sich das Oberkommando folgendermaßen: »Diese Marine kann eine Kriegführung wie 1870 nicht mehr vertragen«, zit. in Lambi, The Navy, S. 201. Siehe Hubatsch, Der Admiralstab, S. 61-63; Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 71 f.; sehr ausführlich in Lambi, The Navy, S. 68-73. Tirpitz, Erinnerungen, S. 25.

216

Zweiter Teil

Dennoch war seine sichere Überzeugung von der Entscheidungsschlacht als einzigem Mittel zur ErfüUung dieser Aufgaben noch gefestigter als zu dem Zeitpunkt, da er sie zum ersten Mal artikukerte: als junger Unterleutnant im Jahre 1871. Nach der Meinung eines Experten, Ivo Lambi, ähnelte das Memorandum vom Februar 1892 stark dem letzten Operationsplan, den Goltz 1889 entworfen hatte. Da er unter Zeitdruck stand, griff Tirpitz vermutiich auf das ältere Dokument zurück und überarbeitete es. Seine Neubearbeitung dieses älteren Planes und ein Vergleich mit den von ihm 1891 verfaßten Memoranden erlauben es, sich ein erstes Bild von dem zu machen, was Tirpitz zu der Einschätzung operativer Probleme, mit denen sich die Marine konfrontiert sah, beigetragen hat, und zeigen auch, was er aus früheren Arbeiten gelernt hatte. Tirpitz reduzierte die Aufgaben der Marine auf zwei: auf den Küstenschutz und auf die Zusammenarbeit mit der Armee. Zwei weitere Aufgaben, die im Plan von 1889 diskutiert worden waren, Heß er unberücksichtigt: die Angriffe auf den Handel des Gegners und auf dessen Küsten. Weder die ursprüngliche noch die überarbeitete Fassung gingen auf den Schutz des deutschen Handels ein, obgleich dies ein Problem war, mit dem sich Caprivi fast ein Jahr lang beschäftigt hatte78. Von größter Bedeutung war, daß Tirpitz von Goltz lernte, daß die Entscheidungsschlacht, von der er so besessen war, ein Ziel hatte: die »Seeherrschaft«. Er erkannte auch, daß man, war man erst einmal mit einem konkreten strategischen Problem konfrontiert, sich nur dann auf eine Schlacht einlassen konnte, wenn die eigenen Seite die zahlenmäßig überlegene war. Dies steUte eine wichtige Entwicklung im Tirpitzschen Verständnis von Seekriegführung dar. Aus doktrinären und institationeUen Gründen hatte er sich bisher immer für die unter aUen Umständen zu ergreifende strategische Offensive ausgesprochen. Das Ziel der strategischen Offensive war die Schlacht, und selbst wenn dies in einem ungleichen Kräftemessen den Untergang bedeutete, so ging man ruhmvoll unter, diente dem Ansehen der Marine in den Augen der wenigstens Nation und stellte die Weichen für einen Neuanfang. Wenn man sich aber eigenen als Ziel der strategischen Offensive die nach der siegreichen Schlacht errungene Seeherrschaft gesteckt hatte, so mußte man die wahrscheinHchen Voraussetzungen für den Sieg bestimmen. Selbstmord aus institationeUen Beweggründen verbHeb immer noch als letzte, verzweifelte Option. Wenn aUerdings die Seekriegführung ein weiteres Ziel außer der Schlacht verfolgte, so mußte festgelegt werden, wie dieses Ziel erreicht werden konnte. An diesem Punkt fing Tirpitz an, den fundamentalen Unterschied zwischen der Kriegführung zu Land und jener zur See zu begreifen: die Ohnmacht der schwächeren Flotte. Dies konnte man von der Erkenntnis Mahans über die Unteilbarkeit von Herrschaft herleiten79. Admirai Aube hat im Jahre 1882 darauf hingewiesen, 78

79

Auch Stenzel hat dieses Problem im Jahre 1889 angespmchen und sollte es in einer weiteren Broschüre im Jahre 1892 wieder aufgreifen. Rosinski, Command of the Sea (1939) in Rosinski, The Development of Naval Th«»ught, S. 1-19. Es darf allerdings nicht vergessen werden, daß Tirpitz sch«»n in dieser Richtung dachte, noch ehe er Mahan gelesen hatte. Dies führt uns zu der Frage des Mahanschen Einflusses auf Tirpitz' ope-

IV. Von der preußischen

zur

deutschen Schule

217

daß dieses Merkmal der Seekriegführung besonders hervorgetreten war, nachdem der Dampfantrieb eine technologische Revolution hervorgebracht hatte. Er sagte vorher, daß in einem Krieg der Zukunft die schwächere Flotte im Hafen bleiben und die Seeherrschaft dem Gegner überlassen würde, da der Ausgang der Schlacht so viel vorhersehbarer sein und katastrophaler ausfallen würde80. Im gleichen Jahr erste der drang Operationsplan der deutschen Marine gegen Rußland zu der Erkenntnis vor, daß die unterlegene russische Ostseeflotte wahrscheinHch den Schutz der Kanonen Kronstadts suchen würde81. Tirpitz zog die Konsequenzen, die diese Erkenntnis für seine eigene abstrakte Doktrin der strategischen Offensive hatte. Der Überarbeitangsprozeß begann mit seinem ersten Operationsplan vom Februar 1892. Wie Caprivi es zuvor getan hatte, schlug Tirpitz einen sofortigen Vorstoß gegen die französische Nordküste vor, in dem Bestreben, eine Schlacht zu erzwingen, ehe die Mittelmeerflotte zur Verstärkung eintreffen konnte. SoUte sich aber letztere doch mit der französischen Nordflotte vereinigen, so müßten die Deutschen in der Nordsee in der Defensive bleiben. Ebenso war es unwahrscheinHch, daß sich die unterlegene russische Flotte zur Schlacht stellen würde, so daß man zur Erringung der Herrschaft über die Ostsee eine Blockade errichten müsse82. Hier läßt sich sicherHch ein nuancierteres Verständnis von Sinn und Mögkchkeiten der strategischen Offensive ablesen als jenes, welches er nur wenige Monate zuvor zu erkennen gegeben hatte; sein Denken soUte sich noch weiter entwickeln, nachdem er die Konsequenzen aus den Manövern gezogen hatte, in denen die Operationspläne dem Test unterzogen worden waren83. Das Ergebnis dieser Anstrengungen war die Dienstschrift IX, die im Juni 1894 verteilt wurde84. Die erklärte Intention dieser Schrift lag darin, die Erfahrungen zusammenzufassen, die man mit zwei Jahren der Manöver und deren Auswertung gewonnen hatte. Außerdem sollte aber auch gezeigt werden, wie sich die Konzeption der preußischen Schule durch diese Erfahrungen weiterentwickelt hatte. In seinen Memoiren rühmte sich Tirpitz damit, daß es die deutsche Marine gewesen sei, welche die Schlachflinientaktik und das Geschwaderprinzip eingeführt habe. Andere Marinen hätten ledigüch die Ergebnisse der deutschen empirischen Stadien für sich verwendet. ZufäUigerweise habe Admiral [sic] Mahan, während die deut-

80

81 82

83 84

ratives Denken, im Vergleich zu seiner Übernahme der Mahanschen Ideologie der Seemacht. Auf beides soll im folgenden eingegangen werden. Eine kurze Besprechung von Aube im Beiheft zum Marine-Verordnungsblatt (1883) hat die Einsicht in den für die Seekriegführung charakteristischen Unterschied zum Landkrieg unterstrichen. Tirpitz selbst hat sich hierzu besonders klar Anfang 1903 geäußert, zit. in Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 343. Lambi, The Navy, S. 16. Ebd., S. 71. Ebd., S. 74; Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 72 ff. BA-MA, RM 4/176, Allgemeine Erfahrungen aus den Manövern der Herbstübungsflotte. Auszüge (zusammen mit einem Brief von Stosch an Tirpitz und einigen Kommentaren des letzteren) sind von Tirpitz veröffentlicht worden in Über den strategisch-taktischen Ursprung der Flottengesetze, Nauticus (1926), S. 185-202. Substantiellere Auszüge finden sich in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 87- 99.

Zweiter Teil

218

sehe Marine ihre Erkenntnisse aus den Manövern herausarbeitete, seine Erkenntnisse basierend auf dem Stadium der Geschichte auf theoretischer Ebene gewonnen85. Wenn man die operativen Doktrinen der Dienstschrift IX vor dem Hintergrund der Entwicklung der preußischen Schule sieht, so scheinen Tirpitz' Behauptungen bezüglich der unabhängigen Entwicklung der deutschen SchlachtHnientaktik zuzutreffen (obgleich es eher unwahrscheinheh ist, daß die anderen diese Taktik tatsächlich von den Deutschen übernommen haben)86. Wie Azar Gat befunden hat: »Tirpitz [...] apparently needed no Mahan to crystallize his ideas regarding German naval poHcy87.« Die Doktrin der strategischen Offensive war die von Tirpitz initiierte Anpassung der Grundprinzipien der preußischen Schule an die Besonderheiten der Seekriegführung, so wie er sie auffaßte. Das strategische Denken Mahans und das der preußischen Schule hatten einen gemeinsamen historischen Ausgangspunkt: den Bruch Napoleons mit dem die Entscheidung nicht suchenden Kalkül der Kriegführung des achtzehnten Jahrhunderts (den zur See Nelson vorgenommen hatte)88 und die Hervorhebung der Entscheidungsschlacht, wie sie sich in den Werken Jominis und Clausewitz' finden läßt; die geistige Entwicklung dieser beiden »Denkzentren« fand jedoch unabhängig voneinander statt. Mitte der 1890er Jahre wurde die preußische Schule in Übereinstimmung gebracht mit dem seestrategischen Denken anderer Länder, die auf sehr unterschiedHche historische und theo-

retische Traditionen zurückbHcken konnten. In der Dienstschrift IX stellte Tirpitz fest, daß Überlegenheit die grundlegende Voraussetzung für die strategische Offensive büdete. Ihre Aufgabe bestand darin, den Krieg an die Küsten des Gegners zu tragen und die unterlegene Flotte zur Schlacht zu zwingen. Sollte sich diese weigern und sich in den Hafen zurückziehen, so müsse der Angreifer beginnen, durch Bombardierung, Blockade und andere Formen von Handelsstörung die Herrschaft auszuüben. Tirpitz legte auch die zahlenmäßige Überlegenheit fest, die benötigt wurde, um mit einer strategischen Offensive diese Aufgaben bewältigen zu können. Auf dieser Grundlage wandte das der Dienstschrift IX beigelegte Bauprogramm die Doktrin auf die neue internationale Situation an, in der sich Deutschland seit Abschluß des französisch-russischen Bündnisses befand, und skizzierte die Flotte, die Deutschland zur erfolgreichen

Ausführung seiner Aufgaben benötigte. 83

86

87

Tirpitz, Erinnerungen, S. 47. Holger Herwig bezeichnet das Memorandum auf der anderen Seite als »purely Mahanian« (Herwig, The Influence of AT. Mahan, S. 71 f.). Ich werde im folgenden zu beweisen suchen, daß dies nur im engen Sinne auf die Ideologie der Seemacht zutrifft, die Tirpitz in seiner Dienstschrift IX eingeführt hat. Wie schon zuvor erwähnt, wurde Mahans Erkenntnis von den Besonderheiten der Seekriegführung lediglich in seinem im folgenden Jahr erschienenen Artikel zur »Blockade« deutlich angesprochen. Vgl. Epkenhans, »Der Dreizack gehört in unsere Faust«, S. 202. Gat, The Development of Military Thought, S. 187. Gat behauptet fälschlicherweise, daß Tirpitz Mahan nicht gelesen habe, ehe er die Dienstschrift IX verfaßte. Wie schon oben erwähnt, sprach er sich jedoch im Februar 1894 dafür aus, daß Mahan von den Seeoffizieren gelesen werden sollte.

88

Ebd., S. 190-200.

IV. Von der preußischen

zur

deutschen Schule

219

Die Dienstschrift IX war, laut Tirpitz, das Ergebnis systematischer Versuchsreihen und Studien des Admiralstabes, die in den letzten Jahren durchgeführt worden waren. Die Schrift stellte eine erste Zusammenfassung dieser Arbeit dar und verschaffte der Marine gleichzeitig ein klares Ziel. Nach der Dienstschrift IX war eines gewiß: In der modernen Welt war die erste Aufgabe einer Marine, sich die Seeherrschaft zu erkämpfen, »denn erst wenn die Seeherrschaft erreicht ist, bieten sich die eigentlichen Mittel, um den Feind zum Frieden zu zwingen«89. Diese Mittel waren die Landung an und die Beschießung der Küste des Gegners, die Blockade und die Beeinträchtigung bzw. Unterbindung des transatlantischen Handels des Gegners. Als Ergebnis dessen würde der Seekrieg in erster Linie in Küstennähe ausgetragen werden. Als Frage bUeb ledigHch offen, ob nun in der Nähe der eigenen oder der gegnerischen Küste. Aus diesem Grund soUte die Entwicklung einer Flotte in Friedenszeiten auf der strategischen Offensive basieren, die auch im Krieg ergriffen werden soUte. Der einzige ins Auge stechende Unterschied zwischen diesem Memorandum und den 1891 verfaßten war jener, daß der in der Schlacht gipfelnden strategischen Offensive jetzt ein höheres Ziel gegeben war: die Seeherrschaft. Hatte man diese erst einmal errungen, so mußte sie ausgeübt werden, um so zur weiteren Schwächung des Gegners beizutragen. Tirpitz sprach sich mit Nachdruck für die Offensive aus. Die von Experten auf diesem Gebiet angeführten Argumente, die für den Landkrieg die Offensive hochhielten, so schrieb er, trafen für die Seekriegführung sogar noch mehr zu. Hinzu kam, daß es auf See gar keine taktische Defensive gab. Dem Gegner war es ein leichtes, weit draußen auf der See gegen die Interessen des Verteidigers vorzugehen. In einer solchen Situation wurde der Verteidiger vor die Wahl gestellt, mit aUen Konsequenzen für die Moral nichts zu tan oder sich dem Gegner auf offener See zur Schlacht zu steUen90. Wie schon 1891 kam Tirpitz daher zu dem Schluß, daß die Schlacht das A und O der Organisation, der Vorbereitungen für die MobiHsierung und der Ausbüdung der Flotte darstellen mußte. 89 90

Zit. in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 88. Für die weitere Erörterung sollte man zwei Dinge beachten: Tirpitz verurteilte die strategische Defensive eindeutig als eine sinnlose Form der Seekriegführung; Voraussetzung für die strategische Offensive war eine signifikante quantitative Überlegenheit. In bezug auf das spätere Konzept der »Risikoflotte« merkt Wolfgang Petter an, daß »gemäß Dienstschrift IX« zwischen den Flotten ein Stärkeverhältnis von 2:3 (zugunsten Großbritanniens) »eine Niederlage unwahrscheinlich machte und deshalb auch schon abschreckend wirken würde« (Petter, Systemkrise und Marinekonzeption, S. 46). In der Dienstschrift IX findet sich nichts, was diese Interpretation rechtfertigt. Die Risikotheorie war eine Doktrin der strategischen Defensive, die von der Prämisse ausging, daß der offensive Gegner zum Angriff gezwungen und dann von den horrenden Verlusten, die ihm vom schwächeren Verteidiger beigebracht würden, abgeschreckt werden würde. Diese Theorie kann im Tirpitzschen Denken vor 1895/96 nicht nachgewiesen werden und stellte vermutlich einen Versuch dar, für seine gleichzeitige Überzeugung v«»n der »politischen Bedeutung« der Seemacht eine militärische Begründung zu finden. Vgl. Tirpitz, Erinnerungen, S. 312, und Kennedy, Tirpitz, England, and the Second Navy Law, S. 46: »What is astonishing is that in 1900 and indeed for some time afterwards the German navy really believed that the British would have to come across the North Sea and fight their opponents on very unfavourable terms to themselves«. -

-

Zweiter Teil

220

Tirpitz erkannte jetzt, daß es in der Seekriegführung ein Ding der UnmögHchkeit war, eine unwilHge gegnerische Flotte dazu zu zwingen, sich einer Entscheidungsschlacht zu stellen. Wie der Operationsplan gegen Rußland im Jahre 1882 gezeigt hatte, war es mögUch sogar wahrscheinHch -, daß sich ein schwacher Verteidiger dazu entschHeßen würde, im Hafen zu bleiben, wo er für den Angreifer immer noch eine ernsthafte Bedrohung darstellte. Es war daher unbedingt erforderiich, von Anfang an auf die Schlacht zu setzen91. Wenn es aber zu keiner Schlacht kam, so blieb dem Angreifer nichts anderes übrig, als die Herrschaft auszuüben, ohne sie »gewonnen« zu haben. Im Ergebnis kam Tirpitz fast dahin, daß für ihn die Seeherrschaft im Grunde genommen die Kontrolle über die Seestreitkräfte des Gegners, nicht notwendigerweise deren Zerstörung, bedeutete. Die Folge war, daß die offensive Flotte einen signifikanten zahlenmäßigen Vorsprung vor dem Verteidiger haben mußte. Überlegenheit war die notwendige Voraussetzung für die strategische Offensive, durch die entweder in der Schlacht die Seeherrschaft errungen oder diese auch ohne Schlacht ausgeübt werden sollte. Dieses Verständnis von der Seekriegführung ähnelte dem, was Rosinski als Mahans »fundamental insight into the difference between war on land and at sea« bezeichnete, auf verblüffende Weise: dem AusschHeßHchkeitscharakter von Herrschaft, der die Schlacht in der Seekriegführung so viel entscheidender und dramatischer werden Heß, weswegen es bei einem großen Ungleichgewicht zwischen den Gegnern in der Tat viel seltener zur Schlacht kam. Um Mahans deudichste Formulierung der Konsequenzen, die diese Erkenntnis mit sich brachte, aufzugreifen, führte diese Einsicht zu »the fundamental principle of aU naval war, namely, that defense is insured only by offence, and that the one decisive objective of the offensive is the enemy's organized force, his battle-fleet92.« Tirpitz sagte so ziemüch das gleiche in dem Abschnitt seiner Dienstschrift IX mit dem Titel »Die natüriiche Bestimmung einer Flotte ist die strategische Offensive«. Grundlegend für Tirpitz' Verständnis der Unteübarkeit von Herrschaft war seine Erkenntnis der Tatsache, daß für den Gegner kein Zwang bestand, den anderen anzugreifen, solange er sich weniger riskanteren Mitteln zur Ausübung von Herrschaft bedienen konnte: -

»GrundsätzHche Verfechter der Flottendefensive gehen nun häufig von der Annahme aus, daß der offensive Gegner sich da zur Entscheidung stellen müsse, wo man es gerade wünscht. Dies ist tatsächkch aber nur in sehr beschränktem Maße der Fair13.« Um es noch offener auf den Punkt zu bringen als Tirpitz: Entweder hatte man die Herrschaft inne oder eben nicht. Wenn nicht, so mußte man losziehen, um sie zu

erringen,

indem man die strategische Offensive, deren Voraussetzung überlegene Seestreitkräfte darstellten, vor die Küste des Gegners verlegte. Ziel der Offensive war die Schlachtflotte des Gegners, die, ob der vorhersehbaren Wirkung von Überlegenheit, sich mit der sicheren und nicht mehr rückgängig zu machenden Niederlage in der Schlacht konfrontiert sehen würde. Wie Aube 1882 festgestellt hatte, würde diese Besonderheit der Seekriegführung es wahrscheinlich machen, 91

92 93

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 92 f. Mahan

on

Naval

Strategy, S. 297 f.

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 89.

IV. Von der preußischen

zur

deutschen Schule

221

unterlegene Flotte versuchte, die Schlacht zu vermeiden, so daß es daher notwendig werden würde, eine Blockade zu errichten und gleichzeitig Herrschaft auszuüben. Tirpitz' FormuHerung dieser Einsichten hat eine frappierende Ähnlichkeit mit dem, was Corbett mehr als ein Jahrzehnt später schreiben soUte: »The pecuHar aspect of naval war illustrated here opens up the possibiHty that even the fairly powerful fleet of an opponent standing on the defensive may not come out to fight and will thus exert an influence as a result of the gravitational pull of its

daß eine

existence94.« Nachdem er das Ziel der strategischen Offensive definiert hatte, legte Tirpitz die für die KontroUe über die Flotte des Gegners notwendige zahlenmäßige Überlegenheit fest. Je größer die Überlegenheit der offensiven Flotte, so Tirpitz, desto greifbarer werde die Herrschaft auch wenn die Flotte des Gegners in dessen Hafen zurückgehalten werde. In den großen Kriegen der Segelschiffzeit habe sich eine Überlegenheit von einem Drittel als notwendig für die strategische Offensive erwiesen. Tirpitz hat für diese alte Daumenregel keine Quelle angegeben. Stenzel hat sich, in Anlehnung an Clausewitz, für eine Überlegenheit von hundert Prozent ausgesprochen. Tirpitz' Festlegung könnte die Schlußfolgerungen spiegeln, die nach den Manövern der Royal Navy im Jahre 1888 gezogen wurden und die den Naval Defence Act des folgenden Jahres maßgebHch beeinflußten95. Ihm waren die pubHzierten Befunde der Kommission, die die Manöver ausgewertet hatte, höchstwahrscheinHch bekannt (und Stenzel hatte sogar seine eigene Studie dazu pubHziert). Der »Three Admirals' Report« bot folgende Zusammenfassung zu der Manömere



verauswertung:

»Under the altered conditions which steam and the development of attack by locomotive torpedoes have [...] introduced into naval warfare it will not be found practicable to maintain an effective blockade of an enemy's squadrons in strongly fortified ports, by keeping the main body of the fleet off the port to be blockaded without the blockading battleships being in the proportion of at least five to three, to allow a sufficient margin for casualties [...] and [...] absence[s]96.« von SechsundsechDas Verhältnis 5:3 stellte aber immer noch eine denen Tirpitz operierte. zig Prozent dar und nicht die dreiunddreißig Prozent, mit Die wahrscheinHchste Quelle für die Eindrittelüberlegenheit war Mahans erstes »Influence«-Buch, welches Tirpitz zu dieser Zeit eingehend durchgearbeitet hat97. Der Punkt, von dem er wollte, daß er zu Hause verstanden wurde, war jedoch welche die Voraussetzung für die nicht die festgelegte Größe der

Überlegenheit

Überlegenheit,

94

in spite of the fact that with the idea of battle decision had become stronger than ever, we found ourselves forced to fall back upon subsidiary operations of an ulterior strategical character. The attempt to seek out the enemy with a view to a decisive action was again and again frustrated by his retiring to his own coasts where either we could not reach him or his facilities for retreat made a decisive result impossible. It is a curious paradox, but it is one that seems inherent in the special feature of naval war, which permits the armed force to be removed from the board altogether«. Partridge, The Royal Navy, S. 124; Marder, The Anatomy of British Sea Power, S. 109. Three Admirals' Report, S. 415 f. (Hervorhebung des Verfassers). Mahan, The Influence of Sea Power, S. 146. Den Hinweis verdanke ich Carlos Rivera.

Ebd., S. 93; Corbett, Some Principles of Maritime Strategy, S. 157 f.: »Thus

with

95 96 97

our

increasing preponderance

our

preoccupation

222

Zweiter Teü

strategische Offensive büdete, sondern die verkündete Notwendigkeit, die Offensive mittels einer überlegenen Streitmacht vor die Küste des Gegners zu verlegen. Eine Überlegenheit von einem Drittel war eine aus der Zeit der Segelschiffe stammende Daumenregel (oder das, was Mahan als solche deutete), wohingegen Stenzels Übertragung der Clausewitzschen Maxime eine übertriebene Definition dessen spiegelte, was an Überlegenheit nötig war, um im Seekrieg sicheren Erfolg zu erzielen. SelbstverständHch würden technische und geographische Faktoren diese Rechnung im EinzelfaU relativieren. (Die Royal Navy selbst war noch weit entfernt von einem Konsens Schaut man sich die bezügHch der benötigten Unterschiede in den Berichten des Naval IntelHgence Department und der drei Admírale an, so wird dies deutHch98.) Der große Vorteü dessen, daß der Abstand von einem Drittel als Daumenregel übernommen wurde, lag darin, daß man nun zum ersten Mal die Möglichkeit hatte, die Größe der Schlachtflotte festzulegen, die Deutschland brauchte, um gegen die Schlachtflotten seiner potentiellen Gegner bestehen zu können. Nachdem er also die Aufgaben der strategischen Offensive und die Stärke, welche diese haben mußte, um erfolgreich zu sein, festgelegt hatte, beschäftigte sich Tirpitz mit den Mitteln, mit denen dies in die Tat umgesetzt werden konnte, und suchte nach der am besten geeigneten Methode. Was die Mittel anbelangte, unterschieden sich seine Ideen nicht von denen Stenzels oder denen anderer zeitgenössischer Publizisten wie Batsch und WisHcenus: Geschwaderkriegführung war die effektivste Form der Flottenoffensive und daher der Seekriegführung —, entscheidend für deren Ausgang war vor aUem die Schlacht99. Er war aber bereit zuzugeben, daß die Geschwaderkriegführung seit Einführung des Torpedobootes schwieriger geworden war. Er diskutierte die Theorien der »Jeune Ecole«, insbesondere deren These, daß das Problem der Kohlenübernahme und die vom Torpedoboot ausgehende Bedrohung bedeuteten, daß die offensive Kriegführung mit Schlachtschiffgeschwadern nicht länger mögHch sei. Er räumte ein, daß die Notwendigkeit, Bunker wieder aufzufüUen, die Blockade flotte zwingen würde, ihre Streitkräfte zeitweiHg zu vermindern. Sie müßte sich vielleicht teilweise von der Küste zurückziehen; aUes in allem aber schien sich aufgrund der neuen Unabhängigkeit von den Naturgewalten, zu welcher der Dampfantrieb verholfen habe, die strategische Offensive stärker als vorher anzubieten. Die Torpedoboote stellten ein größeres Problem dar, allerdings könnte man dem durch eine Vermehrung der die Schlachtschiffe begleitenden kleineren Schiffe wahrscheinlich wirksam begegnen. SchHmmstenfalls müßte die Hauptmacht der Blockadestreitkräfte in größerem Abstand von der Küste stationiert werden. Die Geschwaderoffensive wäre folgHch nicht schwieriger auszuführen als früher. Sie steUe jedoch die beste und einfach in vielen Fällen die einzige MögHchkeit dar, den Gegner entscheidend zu schwächen, und sie würde auch in Zukunft in

Überlegenheit.



98

99

Laut Partridge (The R«»yal Navy, S. 126) weist ein interner Bericht des Naval Intelligence Department darauf hin, »that the British needed a superiority of strength of between one-quarter and one-third over the force to be bk»ckaded«. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 94.

IV. Von der

preußischen zur deutschen Schule

223

Maße wichtig bleiben100. Kreuzerkriegführung auf hoher See könne nur als letzter Notbehelf des Geschlagenen und Machtlosen betrachtet werden. Die »Jeune Ecole« habe nicht erkannt, daß selbst kleine Schlachtschiffgeschwader in defensiver Funktion ausreichen würden, um ernstere Beeinträchtigungen von Seiten unkoordiniert vorgehender Streitkräfte zu verhindern. Daher faßte Tirpitz zusammen: »das Ringen um die Seeherrschaft bildet die entscheidende Phase, und ihre hauptsächHche Lösung wird bewirkt durch die Schlacht heute gerade so wie zu allen Zeiten101«. BezügHch der besten Methode zur Erringung der Seeherrschaft mußte Tirpitz bei Mahan keine Anleihen machen. Die Konzentration der Streitkräfte war die grundlegende Bedingung einer jeden Offensive, und um diesen Punkt zu untermauern, griff er zu der QueUe und zitierte wörtHch die gleichen Abschnitte aus Clausewitz, die Stenzel in seinen Vorträgen hervorgehoben hatte102. Vieles von dem, was in der Dienstschrift IX an strategischen Fragen diskutiert wurde, empfahl sich von selbst. Die Marine verfügte nun über eine klar definierte operative Doktrin und hatte klar festgelegte Aufgaben. Beides konnte als Ausgangspunkt für die künftige Entwicklung der Geschwadertaktik und Kooperation innerhalb der Linienformationen dienen. Was noch wichtiger war: Es war jetzt mögHch, eine klare VorsteUung von den Bedürfnissen der Marine in einem Krieg mit dem Zweibund zu bekommen. Ein Anhang zu dem Memorandum skizzierte ein Programm für den Bau einer Flotte, bestehend aus siebzehn Linienschiffen (d.h. zwei Geschwadern à acht, geführt von einem Flaggschiff), sechs Torpedobootflottillen, sechs großen und zwölf kleinen Kreuzern. In den folgenden Jahren bemühte sich das Oberkommando wiederholt, aber erfolglos darum, Hollmann vom RMA dazu zu bewegen, dieses Programm als Grundlage für die von ihm dem

gleichem

Reichstag vorzulegenden Bauforderungen zu akzeptieren. 6. Die

Seemachtideologie in der Dienstschrift IX

Die Entwicklung der Axiome der preußischen Schule zu klar definierten operativen Doktrinen ist nur ein Teil dessen, was den Stellenwert der Dienstschrift IX ausmacht. Der andere schien kaum von unmittelbarer Bedeutung für die Belange der Marine zu sein. Diese Schrift spiegelt zwei völHg unterschiedHche Denkmuster: auf der einen Seite die strategischen und taktischen Prinzipien, die größtenteils das Ergebnis der unabhängigen Entwicklung der preußischen Schule waren; auf der anderen Seite die neuen politischen Ideen zur Rolle von »Seemacht« beim Aufstieg 100

id 102

Ebd., S. 95 f.

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 96. Ebd., S. 98. Am 20.7.1894 schrieb Stosch an Tirpitz, um sich für ein Exemplar der Dicnstschrift IX zu bedanken. (Der Brief wurde abgedruckt in Tirpitz, Über den strategisch-taktischen Ursprung, S. 199 ff; das Original liegt im BA-MA, N 253/320.) Ein Aspekt des Memorandums,

den der erste Chef der Admiralität besonders tobte, war, daß dessen Verfasser, »Clausewitz als Lehrmeister für die Grundsätze des Krieges angenommen und befolgt« habe.

Zweiter Teil

224

Großmächten. Die Dienstschrift steUte die deutlichste Darlegung der grundlegenden Prinzipien einer Seesttategie dar, die so angelegt war, daß sie den deutschen Verteidigungsbedürfnissen in einem Krieg gegen den Zweibund gerecht werden konnte; mit Rosinskis Worten: »an exceUent basis for the strategy of the German navy as long as that strategy was directed against an opponent the FrancoRussian forces in the Channel and the Baltic over whom the German Navy could hope to acquire such a superiority of 30 percent103.« Zur gleichen Zeit markierte sie die Anfange einer expansionistischen Ideologie mit undefinierbaren poHtischen Zielen. Die Geschichte der deutschen Schule seestrategischen Denkens und der deutschen MarinepoHtik in den nächsten zwei Jahrzehnten war im Grunde genommen die Geschichte vom Zuwachs letzterer auf Kosten ersterer, von der allmählichen Verdrängung der Seestrategie durch die Seemachtideologie. In Deutschland, vielleicht noch mehr als in irgendeinem anderen Land, wurde die Begründung, die Mahan, der Expansionspropagandist, anführte, um die Notwendigkeit einer großen United States Navy zu rechtfertigen, als eine Beschreibung der weltpoHtischen ReaHtäten genommen. Die Überzeugung, daß nur Seemacht die politische und wirtschaftHche Zukunft des Reiches sichern könne, verdrängte das Abwägen potentieller Bedrohungen und müitärischer Fähigkeiten auf der Basis der operativen Doktrin. Die Konzepte der Dienstschrift IX blieben die Grundlage des operativen Denkens, aber sie wurden zunehmend zu Leerformeln, als die Logik der imperialen Expansion Deutschland diktierte, seine Aufmerksamkeit von der Bedrohung durch den Zweibund abzuwenden und auf den Widerstand zu lenken, den die überwältigende britische Seemacht dem überseeischen Einflußgewinn des Reiches entgegenzusetzen schien. Es kann kaum bezweifelt werden, daß die Seemachtideologie, welche Tirpitz in sein Memorandum hatte mit einfließen lassen, das direkte Ergebnis des Mahanschen Einflusses darstellte. Obgleich er ihn nicht namentkch erwähnte, war es genau die Mahansche Sprache der Seemachtideologie und die dieser zugrundeliegende historische Perspektive, welche die Dienstschrift IX von den vorangegangenen Memoranden unterschied104. Während die früheren Denkschriften sich ausschheßHch mit den Aufgaben der Marine in einem europäischen Krieg befaßt hatten, war die Aussage des Memorandums von 1894 jene, daß Deutschlands wirtschaftHche Entwicklung und sogar seine zukünftige Position als Großmacht von dem Zuwachs seiner überseeischen Interessen abhängig seien. Diese Interessen, so die weitere Aussage, könnten nur durch eine starke Flotte geschützt und gefördert werden. Tirpitz argumentierte nicht, wie Stosch dies getan hatte und auch Maltzahn in seinem Brief vom August 1895 tun soUte, daß man Kreuzer zu den überseeischen Stationen schicken solle, um deutsche Schiffe und Kaufleute oder deren Zugriff auf die Märkte zu schützen und zu sichern. Tirpitz setzte auf die Schlachtflotte, die dafür gerüstet war, die strategische Offensive gegen den Gegner in europäischen Gewässern zu ergreifen, und die so den notwendigen miHtärischen Rahmen und Fall

von



-

103

Rosinski, German Theories of Sea Warfare, S. 54.

104

In dem

biographischen Abriß, den sein Sohn Anfang 1918 verfaßte, erwähnte dieser Eindruck«, den Mahans »The Influence of Seapower« auf seinen Vater gemacht hatte.

den »tiefen

IV. Von der

preußischen zur deutschen Schule

225

bieten würde, den die Wirtschaft zum Schütze ihres zukünftigen Wachstums benötige. Eine starke Schlachtflotte mit offensiven Fähigkeiten wurde nicht bloß gebraucht, um den Handel, der sich entwickelt hatte, zu schützen; sie war vielmehr die notwendige Voraussetzung für dessen weiteres Wachstum. Die Geschichte als Beispiele wurden die deutsche Hanse und das Holland des siebzehnten Jahrhunderts genannt habe gezeigt, daß der Handel dann zurückgegangen sei, wenn ihm nicht mehr durch Seemacht der Rücken gestärkt worden sei105. Um seine Argumentation zu untermauern, führte er die Überlegungen zur Notwendigkeit des Besitzes offensiver Fähigkeiten noch einen Schritt weiter: Er hatte schon gezeigt, daß nur eine Flotte mit offensiven Fähigkeiten die Seeherrschaft erringen konnte. Es sei schwer, die öffentliche Meinung von dieser Tatsache zu überzeugen, behauptete er. Die meisten Menschen glaubten, die Marine sei, genau wie die Armee, dazu da, das Land gegen Invasionen zu verteidigen, wofür eine (kostengünstige) Küstenschutzmarine sicherHch ausreichend sein müsse. Nicht viele erkannten, was für ernste Schäden der Nation durch eine gegnerische Handelsblockade zugefügt werden könnten. Das alles war schön und gut. Tirpitz versuchte damit nachzuweisen, daß nur eine Schlachtflotte mit offensiven Fähigkeiten Deutschlands Handel in einem Krieg verteidigen konnte. Er führte nun noch das Mahansche Argument an, daß eine solche Flotte helfen könne, auch den deutschen Handel in Friedenszeiten zu mehren. Die Nation müsse verstehen, »daß eine Flotte schon im Friedenszustande dem Vaterlande wirtschaftHche Vorteüe schafft«106. Nur dann, so warnte er, wäre sie bereit, dafür aufzukommen. Er verband somit zwei voUkommen unterschiedkche Argumente zugunsten einer Schlachtflotte mit offensiven Fähigkeiten. Ersteres war strategischer Natur und beruhte auf dem Verständnis von den besonderen Eigenheiten der Seekriegführung. Das zweite war wirtschaftücher Natur und fußte auf einer speziellen, merkantilistischen Deutung von Geschichte, derzufolge die miHtärische oder staadiche Macht eine notwendige Voraussetzung für wirtschaftHche Entwicklung bildete. Es bestand keine logische Verbindung zwischen diesen beiden Interpretationen von Seemacht außer der Tatsache, daß beide in Mahans Werk zu finden waren. Tirpitz' Beteuerung der wirtschaftHchen Vorzüge, die der Bau einer großen Schlachtflotte mit sich brächte, ist als großangelegte innenpoHtische Strategie gesehen worden, deren Ziel es gewesen sei, die Arbeiterklassen zu befrieden und der -





Herrschaft der vorindustrieUen Ekten die Unterstützung der Bourgeoisie zu sichern. Die reklamierten Vorzüge sind im Sinne eines »miHtärischen Keynesianismus« gedeutet worden, also einer Auffassung, nach der eine massive Steigerung staadicher Investitionen in die Stahl- und Rüstungsindustrie eine antizyldische Wirkung auf die deutsche Wirtschaft in Zeiten einer Depression haben, ihr Auftrieb geben und innenpoHtische Unruhen dämpfen würde107. Obgleich solche Überlegungen angesteUt wurden, waren Tirpitz und andere NavaHsten viel stärker dem 1(15

m 107

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 90. Ebd.

Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 138-145; Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung, S.

19 f.

Zweiter Teil

226

Argument verhaftet, welches besagte, daß ein Maß an Seemacht (oder »Seegeltung«) »entsprechend« den deutschen überseeischen Interessen und verkörpert durch die Schlachtflotte den notwendigen Schutz für die weitere wirtschaftHche Expansion biete. Mehr als jeder andere Faktor war es die Ausdehnung des außereuropäischen Handels, die ihrer Meinung nach das Wachstum der deutschen Industrie durch die Sicherstellung »wirtschaftlichen Lebensraumes« stimukemerkantilistischen

ren

würde.

Angesichts seiner ersten Verwendung dieser Argumentation Anfang 1894 wird deutHch, daß Tirpitz Mahan nacheiferte, indem er die Konzepte von »Seeherrschaft« und »Seemacht« aus ihrem strategischen Kontext löste und in eine Deutung der wirtschaftlichen Entwicklung in Friedenszeiten einfügte. Gleich Mahan ging er davon aus, daß die »Seeherrschaft« derjenigen Macht, die über sie verfüge, in Friedenszeiten einen wirtschaftlichen Vorteil gegenüber ihren Rivalen verschaffe, daß ein gewisses Maß an Seemacht grundlegend sei für das Wachstum des überseeischen Handels, folglich für die Industrie des Landes, und daß der Mangel an Seemacht ein solches Wachstum sehr viel schwieriger, wenn nicht unmöglich mache. Die See- und Weltinteressen eines Landes müßten mit einer über die Hoheitsgewässer

hinaus »fühlbaren« Macht vertreten werden. Welthandel, Weltindustrie und Kolonien seien, so Tirpitz, ohne eine Flotte mit offensiven Fähigkeiten ein Ding der UnmögHchkeit. Ohne dieses »Rückgrat« der »nationale [n] Macht auf den Meeren« würden Kapital und Handel Vertrauen in jene sichtbaren Zeugnisse nationaler Kraft verlieren, und sie könnten in Interessenkonflikten mit anderen Staaten zugrundegehen108. In Tirpitz' Augen rührte der mit dem Schlachtflottenbau verbundene wirtschaftHche Gewinn nicht in erster Linie von der binnenwirtschafdichen Wirkung erhöhter Staatsausgaben her, sondern von den MögHchkeiten, die eine Flotte für das Wachstum der deutschen Seeinteressen und des deutschen Kolonialreiches eröffnete, und von dem Schutz, den sie dabei bot. Von da an folgte das deutsche seestrategische Denken mehr und mehr dieser neuen Interpretation von Seemacht, wobei die meisten der hart erarbeiteten strategischen Erkenntnisse auf der Strecke bHeben. Tirpitz war durch Mahan überzeugt worden, daß die Marine den Weg zur Expansion ebnete und daß diese desto gewisser war, je größer die Marine in Friedenszeiten wurde. Diese merkantiHstischimperiaHstische Seemachtideologie trieb die Vorstellung voran, daß das Wachstum des Deutschen Reiches nur dann gewährleistet werden könne, wenn es über »ein gewisses Maß von Seekriegsstärke« verfüge, in einer den überseeischen »Interessen entsprechende [n] Größe«. Halte das Wachstum jener Seemacht mit dem dieser Interessen Schritt, würde der Marine in wachsendem Maße der Respekt der anderen Seemächte zuteü werden. In der Tat schien es das Hauptziel der Seemachtzu zu dieses sich die ideologie sein, Respekts versichern; »Seeherrschaft« kam dann an zweiter Stelle. Kurz nachdem er die Ideologie eingeführt hatte, kam Tirpitz die Idee, daß selbst der »größte Seestaat Europas würde entgegenkommender gegen uns sein, wenn wir 2-3 gute hochgeschulte Geschwader in die Waagschale der 1118

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 89.

IV. Von der preußischen

zur

deutschen Schule

227

PoHtik [...] zu werfen im Stande wären«109. Von Mahan Heh er sich wahrscheinHch die Idee, daß ein so großes nationales Projekt sich auch auf die InnenpoHtik heilsam auswirken würde, wenn man es als »PalHativ« gegen den SoziaHsmus einsetzte. Die Überlegung, daß eine Schlachtflotte die weitere Expansion deutscher Seeinteressen unterstützen würde, die Vorstellung von Großbritannien als dem Staat, dessen PoHtik im Verhältnis zum Wachstum der Seemacht des Deutschen Reiches gezwungenermaßen kompromißbereiter werden würde, und die Überzeugung von den heilsamen innenpoütischen Nebenwirkungen, die durch den neuen nationalen Aufbruch entstünden, sind aUe direkt auf den Einfluß zurückzuführen, den die Seemachtideologie Mitte der 1890er Jahre auf sein Denken gewonnen hatte. Auf der Grundlage dieser Ideologie entstand der Tirpitz-Plan.

Tirpitz' Entwurf (o.D.) zur Denkschrift vom 3.1.1896 zum Flottenbauprogramm des Oberkommandos, auszugsweise abgedruckt in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 195-198, Zitat S. 197; weitere Zitate aus Tirpitz an Stosch, 13.2.1896, in ebd., S.

114-117, dort S. 114 f.

Dritter Teil

Die

Ursprünge und Ziele des Tirpitz-Planes, 1895-1914

Die

Ursprünge und Ziele des Tirpitz-Planes, 1895-1914

231

Jahre lang versuchte das Oberkommando, das RMA dazu zu bewegen, sein Bauprogramm für eine Schlachtflotte zu verwirklichen, die fähig wäre, den Aufgaben, die ihr in einem Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Rußland zufallen würden, gerecht zu werden. Admiral Hollmann weigerte sich, dem Drängen nachzugeben, und die launenhaften Interventionen Wilhelms II. in die Marinepolitik konnten als Werbung für Kreuzer ebenso wie für Schlachtschiffe genutzt werden. Im Frühjahr 1897 allerdings verlor Hollmann das Vertrauen des Reichstags, der an seinen fachhchen Fähigkeiten zu zweifeln begann. Dies ebnete dem Oberkommando den Weg, bei der Erarbeitung eines langfristig angelegten Planes für den Bau einer effektiven zweitrangigen Schlachtflotte der Art, wie Preußen-Deutschland sie sich von je her vorgestellt hatte, mitzuwirken. Als Hollmanns Nachfolger fiel es Tirpitz zu, in den Reichstag das erste Flottengesetz einzubringen, welches das von ihm 1894 entworfene Programm realisieren sollte. Es war ebenfalls Tirpitz, der selbiges Programm in eine völlig neue Richtung lenkte, indem er Großbritannien als Deutschlands gefährlichsten Gegner zur See identifizierte, gegen den es notwendig sei, über ein Maß an Seemacht als politischen Machtfaktor zu verfügen. Als er die Größe der vorgesehenen Flotte zwei Jahre später verdoppelte, hatte er die Abschreckung eines britischen Angriffs auf den erstarkenden Handels- und Kolonialrivalen zum Ziel seines Programms gemacht. Nur eine solche Abschreckung, so behauptete Tirpitz, könne Deutschland im Frieden den Aufstieg zum Weltmachtstatus sichern. Dieses Ziel wurde in den folgenden fünfzehn Jahren systematisch verfolgt. Die Überlegungen und Grundprinzipien, die dieser >Risikoflotte< zugrunde lagen, sind Thema der folgenden Kapitel. Das I. Kapitel des Dritten Teils zeichnet die Entwicklung des Tirpitz-Planes von der Übernahme des im Oberkommando entwickelten Bauprogrammes bis zu dessen Umorientierung auf Großbritannien nach. Das II. Kapitel befaßt sich mit der Kritik an seinen grundlegenden Annahmen, besonders an dem Verständnis von nationaler Sicherheit, dem sie Auftrieb gaben, und ordnet sie in den umfassenderen Kontext der weiteren Entwicklung der deutschen Schule seestrategischen Denkens ein. Im III. Kapitel werden schheßhch Gemeinsamkeiten zwischen den innenpolitischen Strukturen hervorgehoben, die dem Navahsmus in Deutschland, ÖsterreichUngarn und dem Russischen Reich den Weg ebneten. Auch wird die Quelle für einige der einflußreichsten Deutungen der besonderen innenpolitischen Dynamik Drei

Navahsmus und in eine abenteuerhche Außenpolitik getrieben hat. Ob der Menge an Publikationen zu diesem Thema, tragen Teile der letzten beiden Kapitel eine starke hteraturorientierte Färbung. Die große Zahl von erschöpfenden Studien erklärt, weshalb das Geschehen im Anschluß an die Verabschiedung des zweiten Flottengesetzes im Jahre 1900 nicht im Detail dargestellt wird. Es sind jene Abschnitte, die sich mit bisher unerforschten Themen beschäftigen, wie mit dem Seerecht und vergleichbaren Formen des Navahsmus in anderen Ländern, die über diese Zäsur hinausgehen.

untersucht, die das Wilhelminische Deutschland in den

bis

I. Von der Dienstschrift IX zur Risikotheorie, 1895-1900

Als Tirpitz im Sommer 1897 zum Staatssekretär des RMA avancierte, verlagerte er den Fokus der Marktpolitik von der militärischen Bedrohung durch den Zweibund auf die Notwendigkeit von Seemacht als politisches Druckmittel gegen Großbritannien. Nach dem Ersten Weltkrieg bemühten sich Tirpitz und seine Apologeten, die Ereignisse um die Transvaal-Krise Anfang 1896 als Wendepunkt in den deutsch-britischen Beziehungen darzustellen, in dessen Zusammenhang zum ersten Mal das Gespenst des Krieges zwischen beiden Staaten gedroht habe und Deutschland gezwungen gewesen sei, sich auf das Schlimmste vorzubereiten1. Tatsächhch hatte Tirpitz Großbritannien schon vor der diplomatischen Krise um die >Krüger-Depesche< Wilhelms II. an den Präsidenten von Transvaal als den Staat gekennzeichnet, gegen den die deutsche Seemacht als politisches Instrument in Friedenszeiten ausgebaut werden müsse. Der Kaiser reagierte auf diese Krise, indem er eine bedeutende Vermehrung der Auslandskreuzer forderte eine Idee, die keine politische Unterstützung fand und vollkommen quer lag zu dem Bauprogramm, welches das Oberkommando seit 1894 voranzutreiben suchte. Die militärische Begründung dieses Programms orientierte sich an dem Erfordernis einer modernen Schlachtflotte, welche in einem Krieg mit dem Zweibund die deutsche Versorgung mit strategischen Rohstoffen gewährleisten konnte. Hierauf konnte man sich schheßhch als Grundlage für ein langfristig angelegtes Bauprogramm einigen kurz bevor Tirpitz seinen Posten als Staatssekretär antrat. Die Entscheidung, die geplante Schlachtflotte demgegenüber mit Bhck auf Großbritannien zu bauen, ist allein auf Tirpitz zurückzuführen und fußt auf seinem persönhchen Verständnis der Seemachtideologie. Das militärische Kalkül, auf dem dieses Projekt basierte, war seit Ende 1895 eine Version dessen, was der Öffenthchkeit 1900 als Risikotheorie vorgestellt wurde. Den roten Faden dieses Kapitels bildet die Entkoppelung der >militärischen< von der >politischen< Deutung von Seemacht. Erstere fand ihren Ausdruck in der Doktrin der strategischen Offensive, letztere in der Risikotheorie. In der zweiten Hälfte der 1890er Jahre wurde Tirpitz aus persönhchen wie auch aus institutionellen Gründen ein noch größerer Anhänger der Seemachtideologie. Diese Entwicklung wirkte sich maßgebhch auf sein Verständnis davon aus, was Marinen erreichen —



1

Tirpitz, Erinnerungen, S. Flottenfrage.

57

f.; Hassell, Tirpitz, S. 105-112, 115 f.; Hallmann, Krügerdepesche und

Dritter Teil

234

Abschnitt dieses Kapitels werden seine Thesen vor dem Hintergrund des Ringens um die Kontrolle über die Marinepolitik beleuchtet. Der zweite Abschnitt befaßt sich mit der neuen Konzentration auf Großbritannien.

konnten2. Im

ersten

1. Die

Übernahme des Bauprogramms des Oberkommandos, 1895-1897

Sechs Monate nachdem er die Dienstschrift IX verfaßt hatte, unternahm Tirpitz einen letzten Versuch, Hollmann davon zu überzeugen, daß er sich auf den Bau von Schlachtschiffen konzentrieren und den Bau weiterer Kreuzer für den Einsatz in Übersee zumindest verschieben müsse. Er stieß mit seinem Anliegen jedoch auf taube Ohren und bat im Frühjahr 1895 um eine Verwendung an Bord3. Zwei von ihm am 14. Februar dieses Jahres verfaßte Memoranden sind in ihrer Gegenüberstellung besonders aufschlußreich. Beide wollten verdeuthchen, daß die Schlachtflotte viel zu klein und viel zu alt war, um gegen die modernen Schiffe, die Frankreich und Rußland gegen sie aufbieten konnten, bestehen zu können, und daß diese ohnehin schon ungünstige Lage sich stetig noch dadurch verschhmmerte, daß die beiden potentiellen Gegner ehrgeizige Bauprogramme durchführten. Im ersten Memorandum wurden aber auch Argumente bemüht, die der jüngst erst entdeckten Seemachtideologie zuzuschreiben sind. Deutschland benötige eine Marine mit der Fähigkeit, sowohl die Offensive ergreifen als auch von der Defensive aus agieren zu können, gleichzeitig müsse man »unsere Marine doch zu dem Machtfaktor [...] entwickeln, dessen Deutschland im Frieden wie im Kriege unbedingt bedarf, wenn es nicht auf die Stellung in der Reihe der Großmächte verzichten« wolle4. Es sei selbst in Marinekreisen eine gängige Annahme, fuhr Tirpitz fort, daß eine Kreuzerflotte am besten geeignet sei, den deutschen Überseehandel und die deutschen Kolonien zu schützen. Er war allerdings davon überzeugt, daß dieser Schutz am besten durch eine Schlachtflotte in Heimatgewässern gewährleistet werden könne, die alleine den Forderungen der Diplomaten das nötige Gewicht verleihen könne. Das zweite Memorandum beschäftigte sich ausschließlich mit der strategischen Situation der Marine in einem Krieg gegen Frankreich und/oder Rußland vielleicht auch gegen Dänemark5. Auch hier wiederholte Tirpitz seine Aussage, daß die —

2

3

4

5

Kehr und Rosinski haben die verzerrende Wirkung von Ideologie und Propaganda auf Tirpitz' militärisches Denken hervorgehoben. Siehe Rosinski, Strategy and Propaganda; Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 193, Anm. 71. Der Kampf zwischen dem Oberkommando und dem RMA war Anfang 1895 ein besonders erbitterter. Vgl. The Hollstein Papers, S. 496, Hollstein an Bülow, 15.2.1895; BA-MA, RM 8/78, Tirpitz an den Kommandierenden Admiral, 19.2.1895; Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 149-151. Oberkommando an Hollmann, 14.2.1895, zit. in Winzen, Bülows Weltmachtkonzept, S. 75 (Hervorhebung im Original); vgl. Lambi, The Navy, S. 82 f. Memorandum des Oberkommandos der Marine für den Staatssekretär des Reichsmarineamtes, 14.2.1895, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 99-103. Das

I. Von der Dienstschrift IX bis

zur

Risikotheorie

235

Marine ihre Aufgaben nur dann ausführen könne, wenn sie in den Heimatgewässern über die Seeherrschaft verfügte. Ob der Überlegenheit der vereinten französisch-russischen Flotten bestehe für die Kaiserliche Marine die einzige Chance darin, entweder die französische Nordflotte oder die russische Ostseeflotte zur Schlacht zu zwingen, ehe die beiden sich vereinigen könnten oder französische Unterstützung aus dem Mittelmeer hinzustoßen könne. Selbst ein solcher Sieg könne den Gegner vermutlich nicht daran hindern, die Kontrolle über deutsche Gewässer zu erlangen mit all den verheerenden Folgen für den Handel, die davon betroffenen Häfen und die Armee, die auf Nachschub angewiesen sei, um die Kampfhandlungen zu Land fortsetzen zu können. In wenigen Jahren, wenn die beiden potentiellen Gegner erst einmal ihre Bauprogramme ausgeführt hätten, sei für Deutschland die Lage wahrscheinhch hoffnungslos. Um dem entgegenzuwirken, müsse das Gleichgewicht wiederhergestellt werden. Der deutschen Marine müsse es ermöglicht werden, sowohl in der Ost- als auch in der Nordsee die Seeherrschaft auszuüben zumindest gegen die vereinte Macht der französischen Nord- und der russischen Ostseeflotten. Andernfalls wären die Ausgaben für die Marine und den Nord-Ostseekanal reine Verschwendung gewesen. In Vermeidung dessen müsse die Zahl der Schlachtschiffe erhöht und Ersatz für die älteren Einheiten geschaffen werden. Diese Argumentation ist schwer zu widerlegen. Wenn Deutschland seiner Marine in einem Zweifrontenkrieg bestimmte lebenswichtige Aufgaben übertragen wollte, konnte es sich nicht zurücklehnen, während seine potentiellen Gegner ihre Flotten bis zu einem Punkt ausbauten, der ihnen vereint oder sogar schon jedem einzelnen allein eine überwältigende maritime Überlegenheit verlieh6. Das Oberkommando verlangte vom RMA lediglich die Mittel, die es benötigte, um den ihm überantworteten Aufgaben nachkommen zu können. Allerdings sollten ihm diese Mittel auch zu den vom Oberkommando gestellten Bedingungen zur Verfügung gestellt werden, mit denen dieses die Ausweitung seines Einflusses auf die Kernbereiche der Marinepolitik voranzutreiben suchte. Korvettenkapitän August von Heeringen, Adjutant im Oberkommando, meinte am 5. Januar, als er den neuen Operationsplan für einen gewagten Schlag gegen die französische Nordküste vorlegte, Tirpitz gegenüber, »daß die Gesamt-Situation des Ofber] Kommandos eine wesentliche Förderung erfahren kann, wenn die Forderungen des Operationsplans zur Anerkennung gebracht werden«7. Darüber hinaus war Tirpitz, obgleich das Oberkommando wußte, welche Größe die Schlachtflotte haben sollte (nämhch die —



6

Memorandum war ursprünglich für das Marinekabinett vorbereitet worden; vgl. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 86; Lambi, The Navy, S. 83. Das gleiche Argument wurde in einem Immediatbericht vom 4.2.1895 vorgebracht, in dem Tirpitz den jüngsten Operationsplan für einen Krieg gegen Frankreich und Rußland vorstellte, zit. in Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 129. Vgl. Hubatsch, Der Admiralstab,

Lambi, The Navy, S. 38, Anm. 33. BA-MA, RM 5/1649, fol. 238; vgl. Lambi, The Navy, S. 81. Vgl. ferner Tirpitz an den Kommandierenden Admiral, 19.2.1895, BA-MA, RM 8/78 (Tirpitz fügte der Kopie des Briefes eine Randnotiz bei (N 253/3), der zu entnehmen ist, daß sowohl der Operationsplan als auch der Brief an S. 63 und

7

den Kaiser geschickt wurden).

Dritter Teil

236

in der Dienstschrift IX begründeten siebzehn Schiffe)8, nicht sehr deutlich bei den von ihm angeführten Argumenten, die selbige rechtfertigen sollten. Er scheint einen Maßstab befürwortet zu haben, der die französische Nordflotte entweder allein oder in Verbindung mit der russischen Ostseeflotte zur Vergleichsgröße für die deutsche Seerüstung nahm. Außerdem gab es noch die allgemeiner gehaltenen Forderungen nach der Mehrung der >Seegeltung< des Landes, die keine Orientierung an einem speziellen Standard vorsahen. Eine Erklärung für diese Unbestimmtheit in der Argumentation für den Flottenausbau hegt darin, daß sie auch den Interessen des Oberkommandos in seinem Konflikt mit dem RMA diente. Allerdings lassen die Ereignisse der folgenden zweieinhalb Jahre vermuten, daß Tirpitz selbst den größten Ideenreichtum an den Tag legte, wenn es darum ging, neue Argumente für die weitere Verstärkung zu finden besonders dann, wenn dies seinen eigenen Interessen entsprach. Wenn das Oberkommando sich selbst überlassen bheb, so hielt es für gewöhnhch an einer konsistenten Linie fest und gründete seine Forderungen bezüghch der Baupolitik auf militärische Argumente, die sich aus der Doktrin der strategischen Offensive und der Stärke des Gegners in einem Zweifrontenkrieg ergaben. Nachdem Tirpitz das Oberkommando verlassen hatte, blieben seine Kameraden aus der >Torpedobande< dem Oberkommando erhalten und setzten ihre Bemühungen fort, Hollmann dazu zu bewegen, eine größere Anzahl an Schlachtschiffen zu fordern. Als sich Tirpitz gegen Ende des Jahres noch einmal in die Diskussion einschaltete, war er weniger an strategischen Einzelheiten als vielmehr an der politischen Bedeutung der Seemacht für die Zukunft Deutschlands als Weltmacht interessiert. Nun lagen allerdings Welten zwischen der Forderung nach Schiffen, die klar definierte Aufgaben ausführen sollten, auf der einen Seite und auf der anderen Seite den Forderungen nach einer größeren Anzahl von Schiffen zum Zwecke der Mehrung deutscher >Seegeltungpolitischen< und die >militärischen< Funktionen von Seemacht zu unterscheiden. In einem Brief, dem in der Historiographie des wilhelminischen Reiches eine zentrale Rolle zugeschrieben worden ist, übte sich Tirpitz in einigen der Argumente aus seinem Memorandum, an dem er gerade arbeitete. Er erklärte Stosch am 21. Dezember 1895, daß die neue >nationale Aufgabe< des Baues einer mächtigen Flotte nicht nur deswegen so wichtig sei, weil sie Deutschlands Zukunft als Weltmacht im zwanzigsten Jahrhundert sichere, sondern auch, weil sie der utopischen Agitation der Soziahsten ein Ende machen würde: »Meiner Ansicht nach sinkt Deutschland im kommenden Jahrhundert schnell von seiner Großmachtstellung, wenn jetzt nicht energisch, ohne Zeitverlust und systematisch diese allgemeinen Seeinteressen vorwärtsgetrieben werden. Nicht zu geringem Grade auch deshalb, weil in der neuen großen nationalen Aufgabe und dem damit verbundenen Wirtschaftsgewinn ein starkes Palliativ gegen gebildete und ungebildete Sozialdemokraten hegt19.« Er machte auch den Vorschlag, das RMA in ein merkantilistisches Superministerium zur raschen Entwicklung der deutschen militärischen und kommerziellen Seeinteressen zu verwandeln. Macht allein, genauer gesagt: Seemacht, könne deren blühende Entwicklung gewährleisten. Es sei von entscheidendem Vorteil, das RMA in ein Ministerium zu verwandeln, dessen Größe und Raison d'être von diesen Interessen abhänge, »da die Flotte nur eine Funktion derselben isAgroße nationale Aufgaben die die Sozialisten von ihren realitätsfernen Utopien abbringen konnte. Dieses zentrale Zitat, das als entscheidender Beweis für Tirpitz' reaktionäres innenpolitisches Programm gewertet worden ist, findet seine Parallele in der Argumentation des liberalen Imperialisten Gustav Schmoller, der sich für das zweite Flottengesetz aussprach. Siehe dazu Schmoller, Die wirtschaftliche Zukunft, S. 38. Andere Beispiele finden sich in Marienfeld, Wissenschaft und Schlachtflottenbau, S. 56- 63. Zu Gemeinsamkeiten zwischen Tirpitz' Ideen und dem Programm der liberalen Imperialisten, siehe Eley, Sammlungspolitik, S. 125-129 und Bönker, Naval Professionalism, S. 123-128; Bönker, Maritime Aufrüstung, S. 252 f. 3.1.1896, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 196.

Dritter Teil

242

Geschwader in die Waagschale der Politik und dementsprechend nötigenfalls in diejenige des Konflikts zu werfen im Stande wären23.« Hier identifizierte Tirpitz Großbritannien das erste Mal als das Land, gegen welches es vonnöten sei, ein Maß an maritimer Stärke als politischen Machtfaktor in der Hand haben. Es war die Seemachtideologie, die ihm dieses Ziel vorgab, nicht die Aussicht auf Krieg, mit der er sich einige Wochen später als Folge der Transvaal-Krise auseinandersetzen mußte. Wie die gleichzeitige Einführung des >Palliativnationale< Aufgabe in die Hand zu nehmen; und wer war dafür besser geeignet als derjenige, der diese Ziele als erster formuliert hatte? Es fällt schwer, nicht zu dem Schluß zu gelangen, daß Tirpitz starke persönhche Motive dafür hatte, diese neue Rolle zu einer Zeit zu formulieren, da die rein militärischen Argumente des Oberkommandos schließlich die Oberhand gewonnen zu haben schienen. Diese Argumente dienten Tirpitz nicht nur für seinen Aufstieg in Spitzenstellungen, sie fügten sich auch noch in den anschwellenden Chor von Stimmen ein, die nach einer selbstbewußt auftretenden Weltpohtik riefen. Die Attraktivität der Überlegungen von Tirpitz lag darin, daß das militärische Argument für das Instrument der nationalen Verteidigung im Rahmen eines europäischen Krieges die öffentliche Meinung nicht in gleichem Maße überzeugen konnte, wie es die weltpolitischen und wirtschafthchen Perspektiven taten, die er ihr eröffnet hatte24. In einer im März 1896 verfaßten, aber nie gehaltenen Reichstagsrede stellte Tirpitz seine >militärische< und seine >pohtische< Interpretation von Seemacht nebeneinander25. Der Entwurf begann mit dem Hinweis, daß die einzubringende Vorlage nichts weiter als einen Rückgriff auf die Ziele des Stoschschen Flottengründungsplancs von 1873 darstelle. Dieser hatte vierzehn Panzerschiffe vorgesehen; Tirpitz verlangte nur drei mehr. Seit Anfang der 1880er Jahre so wollte er den Reichstag warnen befinde sich die deutsche Marine im Niedergang, da ihre Rivalen rapide aufrüsteten. Es sei höchste Zeit, die Flotte auf den Stand von 1873 zu bringen. Zuerst veranschauhchte er den Ernst der Lage vom mihtärischen Standpunkt aus, indem er sich dem Problem der Sicherung von deutschen Versorgungsgütern aus Übersee und der Abwehr von Landungen in einem Krieg mit Frankreich und Rußland zuwandte. Er ignorierte das Argument, welches Stenzel nur wenige Jahre zuvor publik gemacht hatte daß Großbritannien und die Vereinigten Staaten ein gemeinsames Interesse daran hätten, die Rechte der Neutralen zu behaupten, und daß man sich darauf verlassen könne, daß sie Deutschland mit den notwendigen —



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Ebd., S. 197. Wie von Steinberg angemerkt (Yesterday's Deterrent, S. 83), war dies eine frühe Version der Risikotheorie. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 196 f. Vgl. Kehrs sarkastischen Kommentar über die Pseudobeziehung zwischen Weltpolitik und wirtschaftlicher Expansion auf der einen und maritimer Expansion auf der anderen Seite (Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 383). Abgedruckt in Hallmann, Krügerdepesche und Flottenfrage, S. 79- 87. (Die Hervorhebungen in den folgenden Zitaten stammen von Tirpitz).

I. Von der Dienstschrift IX bis

zur

243

Risikotheorie

Importgütern versorgten. Caprivi hatte sich in seiner Rede vom 10. Dezember 1891 nicht bereit gezeigt, die Sicherheit des Landes auf die Respektierung neutraler Rechte durch die Kriegführenden zu gründen. Dennoch hatte selbst er nicht mit der Schheßung neutraler >Entrepöts< gerechnet26. Tirpitz hatte dies getan. Er entfaltete das Szenario des >schlimmsten Falleszwei oder drei Geschwadern< sich in einer besseren Lage befinden würde, als es die Flotte derzeit wäre, sollte es zu einem Krieg mit Großbritannien kommen. Wie in seinem jüngsten Memorandum vom 3. Januar war Tirpitz vor allem daran interessiert, das Augenmerk auf die »politischej...] Bedeutung der Seemacht« zu lenken ein Konzept, welches »[ujnserer Politik [...] bis jetzt vollständig« fehle. Allerdings würde Deutschland, während es sich durch seine wirtschaftliche Ausdehnung nach Übersee zu stärken suchte, einen völlig hohlen Bau errichten, wenn es sich nicht ein gewisses Maß an Seemacht verschaffte, um in den unvermeidlich eintretenden Konflikten seine Interessen durchsetzen zu können. Es benötige eine »[pjohtisch vielseitigje]« Form von Macht eine »der Vielseitigkeit der Interessen entsprechende [...] Seemacht«. Ohne sie »werden wir, ohne daß es zum Krieg zu kommen braucht, politisch immer den Kürzeren ziehen«33. Tirpitz ging davon aus, daß eine Flotte von der Größe, wie sie die Dienstschrift IX oder sogar der von Stosch entworfene Flottengründungsplan von 1872 vorgesehen hatte (ungefähr siebzehn Schlachtschiffe, dazu Kreuzer, oder zwei Geschwader), ausreiche, um die politische Bedeutung der Seemachtx in Großbritannien spürbar werden zu lassen. Handelsinteressen »die City« machten die britische Politik: »Sobald wir nicht wie jetzt eine Zahl teils veralteter, teils nicht vom



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an Tirpitz, 12.2.1896, in Tirpitz, Erinnerungen, S. 53 f. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 114-117. Hasseil (Tirpitz, S. 56) und Hallmann (Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 192 f.) zitieren beide einen Teil, der in Berghahn/Deist fehlt, sie datieren den Brief allerdings auf den 16.2.1896. Berghahn (Tirpitz-Plan, S. 225) verfolgt die Risikotheoric auch bis zu dem Brief an Stosch zu-

Stosch

zu dem Memorandum des Oberkommandos vom 14.2.1895 mit seinen Überlegungen abschreckenden Wirkung einer schlagkräftigen Schlachtflotte sollte man allerdings nicht zurückgehen. Diese allgemeinen Bemerkungen stehen im Kontext eines Memorandums, in welchem der Bau einer Schlachtflotte mit einer Überlegenheit von dreißig Prozent über jeden der beiden potentiellen Gegner gefordert wurde. Der Kerngedanke der Risikoflotte bestand darin, daß eine unterlegene Flotte eine abschreckende Wirkung entfalten konnte. Diese Idee ist eng verwoben mit Tirpitz und erscheint zum ersten Mal in seinem Memorandum vom 3.1.1896. In den Jahren 1894 und 1895 behauptete er, daß die Schlachtflotte einen Einfluß auf das Geschehen in Übersee nehmen könne (definiert hat er diesen nicht). Erst ab 1896 erklärte er, daß eine unterlegene Flotte diesen Einfluß ausüben könne, indem sie die Royal Navy von einem Angriff abhalte. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 114 f.

rück; bis zur

33



Dritter Teil

246

seefähiger Schiffe, sondern zwei bis 3 moderne Geschwader34 mit dem Zubehör an

Kreuzern haben, und in dem alten Material eine Art Materialreserve in zweiter Linie besitzen, so wird Deutschland der an der Themse gelegenen City mit einem Schlage als ein Staat erscheinen, auf den man Rücksicht zu nehmen hat unter allen Umständen und für alle Fragen«. Als er allerdings die Deutschland in der damahgen Situation zur Verfügung stehenden operativen Alternativen durchging, sah die Lage alles andere als rosig aus: Kreuzerkriegführung kam nicht in Frage, da es Deutschland an Stationen in Übersee mangelte, Großbritannien hingegen über ein weitgespanntes Stützpunktnetz verfügte. Nur die in der Nordsee konzentrierte Schlachtflotte konnte eine sinnvolle Rolle spielen. Wenn die Briten nicht impulsiv handelten, also nicht den Fehler begingen, die deutsche Flotte zu unterschätzten und direkt in eine Torpedofalle in der Bucht von Helgoland zu laufen, bheb Deutschland nur eine Möglichkeit offen ein »coup de désespoim: London im Herzen zu treffen, ehe die Royal Navy ihre Mobilisierung abgeschlossen hatte, die City mit Beschießung zu bedrohen und die in der Themse hegende Handelsflotte aufzubringen35. Es besteht eine große Diskrepanz zwischen Tirpitz' beiden Konzepten von Seemacht. Seine operative Analyse dessen, was er die »militärische Bedeutung« von Seemacht in einem Krieg mit Großbritannien nannte, zeigte, daß die Flotte in ihrem gegenwärtigen Zustand eine sehr geringe Aussicht hatte, irgendetwas gegen eine derart zermalmende gegnerische Übermacht zu erreichen. Sie hatte sicherhch nicht die geringste Chance, die Seeherrschaft zu erringen, die in seinen Operationsplänen für einen Krieg gegen Frankreich und Rußland eine so prominente Rolle gespielt hatte. Bestand aber irgendein Zweifel, daß dies so bleiben würde, selbst wenn Deutschland in den nächsten zwölf Jahren »zwei bis 3« Geschwader moderner Schlachtschiffe bauen würde, so wie er es vorgeschlagen hatte? Ganz davon abgesehen, daß der geographische Aspekt des Problems in einem Krieg mit Großbritannien ein vollkommen anderer war36, hielt Tirpitz vermutlich —

34

Um Mißverständnissen im Zusammenhang mit der im Dritten Teil, Kapitel II referierten Analyse soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß Tirpitz hier auf »zwei bis 3« Geschwader auf deutscher Seite hoffte nicht auf das 2:3 Stärkeverhältnis zm Großbritannien, welches später eine so wichtige Rolle für seine Berechnungen spielen sollte. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 116 f. (Hervorhebung in Original). Stosch konnte diese Auffassung nicht teilen. Er hielt es für besser, die Schlachtflotte in der Bucht von Danzig zu konzentrieren in der Hoffnung, einen Teil der britischen Flotte zu einem entscheidenden Vorstoß unter für Deutschland günstigen Bedingungen zu veranlassen; vgl. Stosch an Tirpitz, 17. und 25.2.1896, in Hassell, Tirpitz, S. 109 f., 113 f. Tirpitz zog eine Konzentration in der Eibmündung vor; vgl. Tirpitz an Stosch, 18.2., in Hassell, Tirpitz, S. 111 f. Es muß wiederholt werden, daß Tirpitz 1891 behauptete, die militärische Bedeutung einer Flotte variiere beträchtlich, in Abhängigkeit von ihrer relativen quantitativen Stärke und von der geoberücksichtigte graphischen Lage der jeweiligen Gegner zueinander (BA-MA, N 253/31). Er Die Anzahl der durchaus geographische Faktoren es sei denn, er verzichtete bewußt darauf. Streitkräfte und die geographische Lage machten nun aber die relative militärische Stärke einer im Jahre 1895 verfügte die gegebenen Flotte aus. Nach der Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals deutsche Marine über eine besonders günstige zentrale Lage mit Blick auf den Zweibund. Wenn es gelang, eine Überlegenheit über den stärkeren der potentiellen Gegner zu gewinnen, so konnte sie der russischen Ostsee- und der französischen Nordflotte mit Zuversicht entgegentreten auch wenn sie der vereinten Seemacht der beiden nicht überlegen war. Ihre relative Stärke mit

vorzubeugen,

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15

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I. Von der Dienstschrift IX bis

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247

immer noch an der Daumenregel fest, daß eine zahlenmäßige Überlegenheit von mindestens einem Drittel erforderlich sei, um die Seeherrschaft zu erringen. Dieses Ziel konnte, in Anbetracht des Bauprogrammes, das Großbritannien seit der Verabschiedung des Naval Defence Act und des Spencer Programme von 1893 realisierte, ganz offensichthch nicht erreicht werden, selbst wenn Deutschland zwanzig (oder dreißig) moderne Kriegsschiffe baute. Eine derart schwächere Flotte konnte niemals die strategische Offensive ergreifen. Sie konnte deshalb nur die Pein »moralischer Selbstvernichrung« erleiden, die Tirpitz in seinem Memorandum von 1894 beschrieben hat. Dennoch schien er zu glauben, daß die politische Bedeutung< von Seemacht, die mit einer solchen Flotte verbunden wäre, den Respekt und die Aufmerksamkeit der >City< hervorrufen würde ungeachtet der Tatsache, daß ihre >mihtärische Bedeutung< die gleiche blieb, d.h. praktisch keine37. Tirpitz hat die Diskrepanz zwischen seinen beiden Konzepten von Seemacht nie überwunden. Die Risikotheorie entwickelte sich aus diesen ersten Versuchen, die politische Bedeutung< von Seemacht mit einem militärischen Kalkül zu unterlegen. Politische Entwicklungen verhinderten, daß sein erstes Bemühen um das Amt des Staatssekretärs Anfang 1896 von Erfolg war. In seiner ersten Unterredung mit Wilhelm II. am 28. Januar 1896 versicherte ihm dieser, daß er im Frühjahr 1896 zum Staatssekretär ernannt würde, und Senden intrigierte weiter gegen Hollmann38. Die Reichsleitung sah sich aber gezwungen, die öffentliche Befürchtung eines reaktionären Coup d'etat und »uferloser« Flottenpläne zu zerstreuen39. Am 7. Februar bestritt Marschall, der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, daß sich irgendeine außerordentliche Flottenvorlage abzeichne40; Hollmanns Lage verbesserte sich, als Lieber, der Vorsitzende der Zentrumspartei, seine Unterstützung für das Vorhaben einer »besonnenen, planmäßigen, schrittweisen Erneuerung und Ergänzung unserer Flotte«41 versprach. Ende März erkannte Wilhelm II., daß ein perso-

Blick auf Großbritannien war minimal sowohl quantitativ als auch geographisch gesehen. An keinem Punkt hat Tirpitz sich mit der äußerst signifikanten Reduktion der >militärischen Bedeutung< der deutschen Flotte auseinandergesetzt, die seine einfache Neudefinierung von Großbritannien als dem für »Deutschland [...] gefährlichstejn] Gegner zur See« beinhaltete. Er behauptete sogar wiederholt, daß die Konzentration im Gebiet »zwischen Helgoland und der Themse« ihr einen geographischen Vorteil gegenüber der Royal Navy verschaffe. Zitate in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 122. Ropp kommentiert dies folgendermaßen: »Tirpitz never developed a strategy to offset the crushing superiority of English numbers in case his bluff failed, and in World War I the German navy's only accomplishment (outside the magnificent improvisation of the submarine war) was to prove the adage that a second-best navy is like a second-best poker hand, useless when called« (Ropp, The Development of a Modem Navy, S. 335). Zitat aus der Dienstschrift IX in Berghahn/ Deist, Rüstung im Zeichen der wimelminischen Weltpolitik, S. 89. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wühelminischen Weltpolitik, S. 109-113; Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 92-95; Steinberg, Yesterday's Deterrent, S. 94. Hohenlohe hatte sich die ganze Zeit gegen einen derartigen Kurs gewehrt, da er der Überzeugung war, daß der Wähler reaktionäre Maßnahmen strafen würde. Vgl. Prinz Alexander an Philip Eulenburg, 17.2.1895; Hohenlohe an Wilhelm II., 24.3.1895; Hohenlohes Note vom 19.9.1895, in Hohenlohe-Schillingfürst, Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit, Bd 3, S. 42-44, 53 f., 98 f. Steinberg, Yesterday's Deterrent, S. 92. Zit. in Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 60. -

3"

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Dritter Teil

248

neller Wechsel an der Spitze des RMA praktisch unmöghch geworden war12. Tirpitz brach nach Ostasien auf und blieb Deutschland fast ein Jahr lang fern. Gegen Ende Mai leitete das Marinekabinett ein Memorandum an Hollmann weiter, welches die Umrisse einer Propagandakampagne skizzierte, welche die Öffentlichkeit auf ein Flottenprogramm vorbereiten sollte. Wortlaut und Inhalt waren fast identisch mit den Vorschlägen, die Tirpitz in seinem Memorandum vom 3. Januar und in seiner Unterredung mit Wilhelm II. am 28. Januar vorgestellt hatte43. Die Kampagne sollte die öffentliche Meinung dafür sensibilisieren, wie sehr die deutschen Seeinteressen von der Schlagkraft der deutschen Marine abbingen. Das RMA zog aus diesen Vorschlägen keine Konsequenzen, bis Tirpitz über ein Jahr später seinen Posten an der Spitze des RMA angetreten hatte. Da er sich noch in chinesischen Gewässern aufhielt, bestand das dringlichere Problem, das es zu lösen galt, in der Bestimmung der Beziehung zwischen dem Wachstum der Seeinteressen und dem Erstarken der Marine: »The one point on which the kaiser had no clear ideas was the actual substance of the building plan which this propaganda was to foster44.« So oder so schien die Aussicht auf Erfolg begrenzt zu sein. Hollmann erstattete Wilhelm II. Anfang Juh Bericht. Er versicherte ihm, daß ein langfristig angelegter Bauplan den Reichstag nur nach wiederholten Auflösungen passieren könne. Dies würde auf einen Coup d'état hinauslaufen ein Kurs, der in einem Bundesstaat nicht durchzuhalten sei. Dieses Mal gab Wilhelm U. der Argumentation Hollmanns nach und fügte sich in die Einsicht, daß die Einführung eines langfristig angelegten Planes nicht reahsierbar sei45. Dennoch war dies derselbe Reichstag, der 1894 Caprivis Heeresvorlage verabschiedet hatte und der 1898 für Tirpitz' erstes Flottengesetz stimmen sollte. Das Problem lag nicht darin, daß sich keine Mehrheit für ein Flottenbauprogramm finden ließ. Vielmehr waren selbst bürgerhche Politiker ob >der großen Töne< Wilhelms II. und des konfusen >Zick-zackuferlosen< Ambitionen des Kaisers Vorschub leistete. Im Frühjahr 1896 gab der Reichstag Hollmann nach und verabschiedete seine Vorlagen. Die Mehrheit fürchtete, daß den Gerüchten über weiterreichende Pläne Glauben zu schenken sei, und erhoffte sich von Hollmann, er möge einen Riegel davorschieben. Im folgenden Jahr schlug die Stimmung um. Hollmanns ungeschickter Umgang mit der Budget-Kommission im März 1897 zeigte, daß ihm jedes —

42 43 44 45

46

Steinberg, Yesterday's Deterrent, S. 96. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 119; Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda, S. 61 ff. Steinberg, Yesterday's Deterrent, S. 99-101. Hohenlohe-Schillingfürst, Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit, Bd 3, Tagebucheintrag vom

240 f. Siehe die Kommentare eines Nationalliberalen gegenüber Borckenhagcn vom 30.11.1896, in The Holstein Papers, Bd 3, S. 656 f.; und Liebers Unterhaltung mit Hohenlohe, vermerkt im Tagebucheintrag vom 27.3.1897, in Hohenlohe-Schillingfürst, Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzcit, Bd 3, S. 323 f.

2.7.1896, S.

I. Von der Dienstschrift IX bis

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tiefere Verständnis für die maritimen Bedürfnisse des Landes abging. Wilhelm II. beschloß, Tirpitz aus Ostasien abzuberufen und ihn als Nachfolger im Amt des Staatssekretärs zu verwenden. Der Reichskanzler bestand darauf, den personellen Wechsel noch einige Monate hinauszuzögern, um den Schein einer parlamentarischen Regierung zu vermeiden47. Unter dem Einfluß von Waldersee und anderen reaktionären Armeeoffizieren redete der Kaiser von extremen Maßnahmen gegen die sozialistische Bedrohung, außerdem wollte er ein umfassendes Flottenbauprogramm mit Anleihen finanzieren ob es dem Reichstag genehm war oder nicht48. In einem Telegramm an seinen Bruder, Prinz Heinrich, versicherte er, daß er nicht ruhen wolle, bis die Marine das gleiche Niveau erreicht habe wie die Armee49. Und wieder eröffnete sich die Aussicht, dem Reichstag ein systematisches Flottenbauprogramm vorzulegen. Am 7. April 1897 wandte sich Senden an das Oberkommando und an den die Geschäfte des Staatssekretärs führenden Büchsel mit der Bitte, sie mögen bei der Vorbereitung eines Gesetzentwurfes zusammenarbeiten, der festlegen sollte, »wie groß die Zahl von Schiffen und Torpedobooten der Kriegsmarine nach dem zeitigen Stärkeverhältnis unserer muthmaßlichen Gegner bemessen sein muß. Zu diesem Zweck wollen Seine Majestät zunächst allgemein der Frage näher treten, welche Aufgaben der Marine im Frieden und im Kriege zufallen sollen50.« Das Prinzip, auf das sich die Berechnungen gründen sollten, wurde zwei Tage später von Wilhelm II. erläutert: »daß die deutsche Flotte halb so stark sein soll als die vereinigte franco-russische Flotte, d.h. sie soll in der Lage sein, unbedingt in der Ostsee der gesammten Russischen Ostseeflotte überlegen zu sein, in der Nordsee soll sie in der Lage sein, der Französischen Nord- bezw. Kanalflotte, welche in der Nordsee verwendet werden soll, erfolgreich die Spitze bieten zu können«51. Dies stellte ein Aufgreifen des vom Oberkommando im November 1895 vorgelegten Programms dar, obgleich das vorgesehene Verhältnis etwas günstiger für die deutsche Seite ausfiel52. In den vorangegangenen Monaten hatte Wilhelm II., was nicht außergewöhnhch war, geschwankt zwischen der Notwendigkeit, die Schlachtflotte auszubauen, und seinem Wunsch, zahllose Kreuzer über alle Meere zu verteilen53. Die Wahl Wilhelms II. fiel sicherlich nicht nur deshalb auf Tirpitz, weil er sich von ihm die Realisierung des Schlachtflottenprogramms des Ober-

47 48

49

so 51 52 53

Hohenlohe-Schillingfürst, Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit, Bd 3, S. 312 f., 317-327. Eulenburg an Hohenlohe, 8.2.1897; Hohenlohes Tagebucheinträge vom 3.2., 7. und 30.3.1897, in Hohenlohe-Schillingfürst, Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit, Bd 3, S. 298, 295 f., 311 ff, 326 f.; Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd 2, S. 164 f. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 253. BA-MA, RM 3/6634.

Ebd. (Hervorhebung im Original). Steinberg, Yesterday's Deterrent, S. 116 f. Hohenlohe gegenüber erwähnte er am 3. Februar, daß Deutschland über die Hälfte der Gesamt-

zahl der französischen und russischen Schiffe verfügen müsse »Sonst seien wir verloren«. Am 3. März wiederholte er das Erfordernis einer starken Panzerflotte, die den Handel schützen und die Franzosen daran hindern sollte, die Versorgung mit Lebensmitteln abzuschneiden. Er merkte aber auch die Notwendigkeit zahlreicher weiterer Kreuzer an. Hohenlohe-Schillingfürst, Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit, Bd 3, S. 295, 311, 327. -

Dritter Teil

250

kommandos versprach; genausowenig suchte er nach jemandem, der eine Flotte gegen Großbritannien bauen sollte. Er wollte einen Staatssekretär, der ihm »mehr Marine« beschaffen konnte. Hätte Hollmann nicht das Vertrauen des Reichstages verloren, so hätte sich Wilhelm II. sicherlich nicht veranlaßt gefühlt, ihn zu entlassen54. Der Rücktritt Hollmanns eröffnete dem Oberkommando die Möglichkeit, die Baupolitik auf die systematische, langfristige Grundlage zu stellen, für die es fast drei Jahre lang gekämpft hatte. Endlich bestand die Möglichkeit, die im Memorandum von 1895 skizzierte Flotte zu reahsieren und die Spitze des Reiches davon zu überzeugen, daß diese gebraucht würde, um in einem Zweifrontenkrieg bestimmte lebenswichtige Aufgaben auszuführen. Ein solches Programm stellte auch eine Rückbesinnung auf die traditionellen Ziele preußisch-deutscher Marinepolitik dar, so wie sie Prinz Adalbert, Roon, Moltke, Stosch und Caprivi umrissen hatten. Am 2. Mai 1897 legte Knorr ein Memorandum zu den Aufgaben der Marine vor55. Im Frieden erstreckten sich diese von der Vertretung des Reiches im Ausland bis zum Schutz der Interessen dortiger deutscher Bürger. Für den Kriegsfall wurden sie auf folgendes festgelegt: die Erringung der Herrschaft über den Gegner durch die Zerstörung oder die Blockade seiner Seestreitkräfte, den Schutz des deutschen und die Vernichtung des gegnerischen Handels, den Schutz der deutschen Kolonien und die Eroberung jener des Gegners und die direkte Unterstützung der Operationen der Armee. Da Wilhelm II. beschlossen hatte, daß das Ergebnis seiner Baupohtik eine Flotte sein sollte, die halb so groß wie die vereinigte französisch-russischen Flotte sein würde, wurde die Erörterung der eben aufgezählten Aufgaben auf den Fall eines Krieges zwischen dem Zwei- und dem Dreibund beschränkt. Und in bezug auf Großbritannien wurden im Memorandum keine der Thesen aufgegriffen, mit denen Tirpitz im Jahr zuvor einer solchen Flotte eine abschreckende politische Wirkung selbst für den Fall zugeschrieben hatte, daß Deutschland keine Verbündeten an seiner Seite fände. Knorrs abschheßende Bemerkung spiegelte im Gegenteil sogar eine entgegengesetzte Auffassung, er wiederholte nämlich die traditionelle Maxime der preußisch-deutschen Marinepohtik: »In einem Kriege gegen England, den wir auch bei dieser maritimen Entwickelung, kaum allein werden ausfechten können, würde aber dadurch unser Werth als Bundesgenosse für andere Seemächte wesentlich gestiegen sein«. Sollte Deutschland die angestrebte Seemacht erlangen, so gäbe es immer noch bestimmte Aufgaben, denen es in einem Krieg mit dem Zweibund nicht gewachsen sein würde. Gemeint waren jene Aufgaben, die mit dem offensiven Gebrauch von Seemacht in Zusammenhang stehen der Handelskrieg, die Blockade der gegnerischen Küsten und der Angriff auf die gegnerischen Kolonien. Der Kampf um die Seeherrschaft müßte folglich in Heimatgewässern stattfinden, und die hieraus ge—

zogene Schlußfolgerung war unmißverständlich: »Die Kriegsaufgabe unserer Marine gipfelt also darin, die unbedingte Seeherrschaft in der Ostsee und in der Nordsee bis %um Kanal 54 55

Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. XI, 56, 96, 188 f., 210, 238, 339. Kennedy, Fisher and Tirpitz Compared, S. 117 f. BA-MA, RM 3/6634, Aufgaben der Marine im Krieg und Frieden (Hervorhebungen in den folgenden Zitaten im Original); vgl. Steinberg, Yesterday's Deterrent, S. 120-122.

Hallmann,

I. Von der Dienstschrift IX bis

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Risikotheorie

251

Zp halten, mithin den Feind in diesen Meeren in offener Seeschlacht zu schlagen.« Die Herrschaft über die Heimatgewässer war auch notwendige Vorbedingung für eine Unterstützung der Operationen zu Land von Seiten der Marine. Das Memorandum ließ keinen Zweifel über die Gefahren, denen Deutschland ob seiner Abhängigkeit vom überseeischen Handel ausgesetzt war. Das Ausbleiben von Lebensrnittelimporten würde sich direkt auf die Armee im Felde auswirken, die zivile Gesellschaft unter Druck setzen, und außerdem könnten die langfristigen Folgen einer konsequenten Umleitung der Verkehrsströme für Deutschlands Stellung als zweitgrößte Handelsnation der Welt auf den unumkehrbaren wirtschaftlichen Abstieg hinauslaufen. Am 10. Mai folgte ein zweites Memorandum, in dem Knorr die Größe der Flotte vorgab, die für die Ausführung dieser Aufgaben vonnöten sei56. Als Ausgangspunkt bediente sich Knorr des bereits im November 1895 angestellten Vergleichs mit Frankreich und Rußland. Dem hatte die Berechnung zugrunde gelegen, daß Deutschland fünfundzwanzig Schlachtschiffe benötige. Da Deutschland nach der damals absehbaren Entwicklung der französisch-russischen Macht von insgesamt zwanzig Schiffen im Jahre 1901 wohl nur fünf moderne Panzerschiffe würde entgegensetzen können, hatte das Memorandum von 1895 den Bau von zwölf weiteren Schiffen bis zum Jahre 1908 gefordert. Ein solches Programm hätte die in der Dienstschrift IX vorgetragene Vision eines Doppelgeschwaders aus siebzehn modernen Schiffen verwirklicht. Das Oberkommando war mittlerweile ehrgeiziger geworden und machte den Vorschlag, einen zweiten, unvollständigen Verband aus drei Divisionen (zwölf Schlachtschiffen) bis 1910 zusammenzustellen. Dies ging weit über das von Wilhelm II. am 7. April festgesetzte Stärkeverhältnis hinaus und hätte der deutschen Flotte ein Übergewicht von vierzig Prozent über die vereinte französisch-russische Macht verschafft (achtundzwanzig gegen zwanzig moderne Schlachtschiffe)57. Knorr stellte die ziemlich irreführende Behauptung auf, daß sich diese Überlegenheit wieder durch die Unterlegenheit bei den älteren deutschen Schiffen und Panzerkreuzern ausgleichen würde. Ohnehin würde das RMA eine solche Zielsetzung nicht akzeptieren, und Wilhelm II. wollte noch eine eigens für den Dienst in Übersee ausgelegte Klasse von Kreuzern ins Programm aufnehmen. Das Ergebnis einer Konferenz in Wiesbaden am 19. Mai war ein Gesetzentwurf, der die Zahl der Schlachtschiffe für das Jahr 1910 auf fünfundzwanzig reduzierte, acht davon sollten sich aus den alten Siegfried- und Sachsen-Klassen zusammensetzen58. Nach einem dreijährigen Ringen zwischen dem RMA und dem Oberkommando kam Tirpitz aus Ostasien zurück, um auf seinem Schreibtisch ein langfristig angelegtes Bauprogramm zu finden, welches genau das verwirklichen würde, was er in seiner Dienstschrift IX vor Augen gehabt hatte: eine in zwei Geschwader geglie» 57 58

BA-MA, RM 3/6634, Knorr an Wilhelm II, 10.5.1897. Hallmann (Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. liste Henning von Holtzendorff verantwortlich. Ebd., S. 244 ff; Steinberg, Yesterday's Deterrent, Brézet, Le plan Tirpitz, S. 93-98.

S. 122

242)

macht für diese erweiterte Wunsch-

f.; Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 105 f.;

252

Dritter Teil

derte Schlachtflotte, bestehend aus siebzehn modernen Schlachtschiffen. In seinen Memoiren behauptete er, dies habe eine Rückkehr zu einer nutzlosen Strategie des Handelskrieges durch Auslandskreuzer dargestellt; aber selbst der ihn am meisten bewundernde Historiker gibt zu, daß die grundlegenden militärischen Prinzipien die gleichen waren wie im November 189559. Der Gesetzentwurf war eher ein Kompromiß mit Bhck auf die von Wilhelm II. gehegte Vorhebe für Kreuzer, die sich in einem Anstieg der Zahl der Schiffstypen niederschlug, in der Vermehrung der in jeder Klasse zu bauenden Einheiten und in übersteigerten Kosten60. In allen wesenthchen Fragen hatte das Oberkommando seinen Sieg über das RMA errungen, noch ehe Tirpitz seinen neuen Posten antrat. Die Korrekturen, die er im Sommer vornahm, dienten nur dazu, das erste Flottengesetz mehr auf die Forderungen von 1894 und 1895 zuzuschneiden (durch eine Begrenzung der Zahl der Kreuzer-Klassen auf zwei) und die jährlichen Ausgaben für den Bau auf ein Niveau zu senken, welches eher den letzten Vorschlägen von Hollmann entsprach. Die Revolution des wurde als die 1897 große Jahres eingeläutet, Tirpitz politische Entdasselbe scheidung traf, Bauprogramm gegen Großbritannien anstatt gegen den Zweibund zu richten. Zum Abschluß dieses Abschnittes soll überlegt werden, ob das Bauprogramm des Oberkommandos und das diesem zugrundehegende Szenario in Einklang standen mit der Zielsetzung Caprivis und Stenzels, eine blockadebrechende Flotte zu schaffen, die in einem Krieg mit dem Zweibund die maritimen Verteidigungsaufgaben Deutschlands übernehmen konnte. Tirpitz war nicht der Meinung. Er glaubte, daß das Oberkommando seine Doktrin der strategischen Offensive über Bord geworfen und Deutschland dadurch den Härten der Blockade ausgesetzt habe, welche die Flotte hätte verhindern sollen. In einem Randkommentar zum Memorandum vom 2. Mai schrieb er am 15. Juni: »Der Operationsplan des Oberkommandos gründet sich auf die strategische Defensive in der Ost- und Nordsee. Man will den Gegner hier abwarten und dann schlagen. Zweck ist Offenhaltung unserer Einfuhr. Ich glaube nun zwar, daß diese Gegner zunächst nicht kommen, und daß wir mit unserer großen Flotte dann warten, während Frankreich uns 2/.i bis 5U der Einfuhr im Kanal und nördlich England sperrt ohne großen Aufwand61.«

Es ist sicherhch richtig, daß beide Memoranden, das vom 28. November 1895 und das vom 10. Mai 1897, ausdrückhch feststellten, daß sich die deutsche Flotte in einem Zweifrontenkrieg in der strategischen Defensive halten müsse. Im Memorandum vom 2. Mai war dargelegt worden, daß eine Blockade der deutschen Häfen die schwerwiegendste Bedrohung darstelle, gegen die sich Deutschland wappnen müsse, und daß man dieser Bedrohung nur begegnen könne, indem man in einer 59

Die Seeinteressen des Deutschen ReichesSeegeltung< in Friedenszeiten auseinandergelegt, vgl. seine Reden vom 6.12.1897 und 24.3.1898 (Stenographische Berichte, Bd 159, S. 45; Bd 161, S. 1732).

Tirpitz

I. Von der Dienstschrift IX bis

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Risikotheorie

261

wurden von der navahstischen Propaganda in die Behauptung umgemünzt, daß das Erstarken der Schlachtflotte mit der Ausdehnung der deutschen überseeischen Interessen Schritt halten müsse85. Der begrenzte und systematische Charakter des ersten Flottengesetzes war der Hauptgrund, warum es im Jahre 1898 von einer Mehrheit angenommen wurde. Jetzt war es Hollmanns >Zick-zackuferlosen< Plänen, von denen der Reichstag vermutete, daß Wilhelm II. sie hegte, am nächsten zu sein schien86. Die Propagandakampagne half, die öffenthche Meinung zu mobilisieren, allerdings richtete sie sich zu dieser Zeit noch an eine gesellschaftliche Ehte von Männern, die im Reichstag und in der Presse über einen gewissen Status und Einfluß verfügten. Der wichtigste Beitrag dieses Propagandafeldzuges lag in seiner Langzeitwirkung. Dadurch, daß er im öffentlichen Bewußtsein die Überzeugung festigte, daß eine Marine den Seeinteressen entsprechen müsse, ebnete er den Weg für die im zweiten Flottengesetz vorgesehene Verdoppelung der geplanten Schlachtflotte. Als es dann so weit war, erschien es auch vielen, um sich der emphatischen Worte des zweiten Flottengesetzes zu bedienen, plausibel: »Zum Schütze des Seehandels und der Kolonien gibt es nur ein Mittel: eine starke Schlachtflotte1.« Dies stand in direktem Widerspruch zu dem Stosch-Programm wie auch dem ersten Flottengesetz, in denen erklärt worden war, daß für den Schutz und den Ausbau überseeischer wirtschaftlicher Interessen in Friedenszeiten Kreuzer gebraucht würden. Dieser traditionellen Interpretation nach bestanden die Aufgaben der Schlachtflotte im Krieg im Schutz der Küsten und in dem Aufbrechen einer Blockade, und ihre Größe bemaß sich nach der Größe ihrer potentiellen Gegner, nicht nach der der eigenen Seeinteressen.

Die Idee, daß eine Marine mnseren Seeinteressen entsprechen müsse, war sicherlich das prominenteste Charakteristikum des deutschen Navahsmus88. Es war ein Geniestreich von Tirpitz, daß er frühzeitig den enormen Propagandawert dieses Zusammenhangs erkannte. Er konnte angeführt werden, um jede Form der Flottenexpansion zu rechtfertigen, ohne daß die Marine erklären mußte, welche militärische Funktion sie der Flotte zugedacht hatte. Das RMA weitete die Bandbreite seiner koordinierten Propagandabestrebungen aus, so daß sie ein Teil einer breiten Koalition wurden, die sich für die maritime Expansion aussprach. Nationalisten innerhalb und außerhalb des Reichstages 85 86

87

Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 115, 120; Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 129 ff; Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda, S. 112 ff. Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda, S. 63; Deutsche Flottenrüstung, S. 197 f.; Brézet, Le

plan Tirpitz, S. 141-153. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 285 (Hervorhebung im Original). Ein weiteres Beispiel findet sich in Beiträge zur Flotten-Novelle 1900 einer Sonderveröffentlichung des halboffiziellen Nauticus, S. 53, »Einen solchen Schutz gewährt nur eine achtunggebietende Seemacht, dargestellt durch eine starke Linienschiffsflotte in der Heimath«. Vgl. Kennedv, Tirpitz, England and the Second Navy Law, S. 45; Petter, Deutsche Flottenriistung, S. 189.

88

von Heeringens Memorandum vom 24. 9.1900, Über Aufgaben und Arbeitsmethoden des Nachrichtenbüros, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 201 -211, bes. S. 205. Vgl. Marienfeld, Wissenschaft und Schlachtflottenbau, S. 22-39, 63-68.

Vgl.

262

Dritter Teil

konnten behaupten, daß die Zukunft Deutschlands, vielleicht sogar seine Existenz, vom Erstarken seiner Seemacht abhing89. Wirtschafthche Interessengruppen, die vom Überseehandel abhängig waren, wie beispielsweise die Hansestädte mit ihren Häfen, die Handelsmarine und die Exportindustrien, waren davon überzeugt, daß die geplante Flotte ihren Zugang zu den überseeischen Märkten im Frieden wie auch im Krieg sichern konnte90. Und die Industrien, die von den Investitionen in die Marine direkt profitieren konnten, zeigten sich schnell bereit, den Flottenverein und andere Mittel und Wege, die neue Lehre zu verbreiten, zu finanzieren91. Mit Unterstützung dieser Koalition wandelten sich die Ziele der Marinepohtik in einem Zeitraum von zwei Jahren von dem Neuaufbau einer Flotte im Sinne traditioneller preußisch-deutscher Politik hin zur Schaffung eines Instruments der Weltpolitik, von dem man sich erhoffte, es werde dem Wachstum der deutschen Seeinteressen gegen unseren gefährlichsten Gegner zur See< Großbritannien absolute Sicherheit verschaffen. Die Gelegenheit, noch über das erste Flottengesetz hinauszugehen, ergab sich schneller, als Tirpitz zu hoffen gewagt hatte. Sie bot sich im Zusammenhang mit einer von Wilhelms II. impulsiven Interventionen, traf aber das RMA nicht unvorbereitet92. Nicht lange nachdem das erste Gesetz vom Reichstag verabschiedet worden war, hatte der Staatssekretär die erforderhchen Planungen eingeleitet, um eine günstige innen- oder außenpolitische Situation sollte sie sich ergeben nutzen zu können. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt wird deuthch, daß er langfristig eine Verdoppelung der zunächst aus zwei Geschwadern bestehenden Schlachtflotte vorsah. Vor Ablauf des laufenden Sexennats (spätestens 1902) mußte der Reichstag dazu bewegt werden, ein zweites Sechsjahresprogramm für den Bau eines dritten Geschwaders zu verabschieden, worauf wiederum der rechtzeitige Beginn eines neuen Sexennats folgen sollte, in welchem das vierte Geschwader reahsiert werden würde. Ende November 1898 legte Tirpitz Wilhelm II. in einer Unterredung die erste Stufe des Planes dar93. In seiner Erklärung, warum es notwendig sei, so viele Schlachtschiffe wie möglich zu bauen anstatt zum Beispiel die Küstenbefestigungen auszubauen —, wiederholte er seine Argumentation zu den politischen Vorteilen, die sich aus der abschreckenden Wirkung einer stärkeren Schlachtflotte ergäben. Sie würde Deutschlands politische Machtposition sichern, sie würde es leichter machen, den Frieden zu wahren, und sie würde die Gefahr ernsthafter politischer Niederlagen abwenden. Die wichtigste Voraussetzung für diese einseitige Konzentration auf die Vermehrung der Flotte war, daß das RMA die Kontrolle über die Richtung der Marinepohtik erlangte. Tirpitz wandte sich jetzt gegen seine alte Machtbasis im Ober—



-

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89

90 91

92 93

Chickering, We Men Who Feel Most German, S. 57 Böhm, Überseehandel und Flottenbau. Epkenhans, Großindustrie und Flottenbau, S. 65-140.

62.

-

Für das folgende siehe die umfassende Behandlung in Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 157-173, und Brézet, Le plan Tirpitz, S. 173-201. Notizen [...] zum Immediatvortrag am 28.11.1898, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 154-156.

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Risikotheorie

263

kommando, und im Frühjahr 1899 hatte er seine Schlacht gewonnen94. Das Ober-

kommando wurde aufgelöst, übrig blieb ein rudimentärer »Admiralstab der Marine«, der als unterbesetzte Abteilung für Kriegsplanung wie verschiedene andere Marineinstitutionen den Immediatrang erhielt95. Diese Entscheidung beendete zehn Jahre des innerinstitutionellen Zwistes und sicherte dem RMA von nun an das entscheidende Wort bei der Formulierung der Marinepolitik. Die Vorbereitungen für den weiteren Ausbau wurden während des Sommers 1899 fortgesetzt. Das Fernziel war die Schaffung eines zweiten Doppelgeschwaders bis zum Jahre 1917. Das Nahziel, welches entscheidend vom Zeitpunkt und Inhalt einer Novelle beeinflußt werden würde, bestand darin, ein stabiles Bautempo von drei großen Schiffen pro Jahr zu erhalten96. Da die bisherige Baurate im Jahre 1901 von drei großen Schiffen auf eines sinken würde, stellte sich die Frage, ob es nicht zweckmäßig war, die Novelle vor 1902 einzubringen. Am 28. September 1899 hatte Tirpitz im kaiserhchen Jagdhaus Rominten< eine Unterredung mit Wilhelm II. Er lenkte die Aufmerksamkeit des Monarchen auf die Notwendigkeit, im nächsten Frühjahr entscheiden zu müssen, wann eine Novelle -

-

Flottengesetz vorgelegt werden solle97. Das Fernziel war klar: eine fertiggestellte Flotte bestehend aus fünfundvierzig Schlachtschiffen und zwölf großen Kreuzern, einhundert Torpedobooten wie einer Anzahl ungeschützter Kreuzer und Kanonenboote für den Auslandsdienst. Dies sollte in zwei Schritten erreicht werden. Zuerst würde die Novelle zum Flottengesetz die Schaffung eines dritten Geschwaders festlegen. Sobald dieses fertiggestellt war, sollte die alte Siegfried-Klasse durch moderne Schlachtschiffe ersetzt werden. Eine solche Flotte würde in der Schlacht über eine »gewaltige« Schlagkraft verfügen. Allein Großbritannien würde eine noch stärkere Flotte besitzen, aber dafür hätte Deutschland einige Trümpfe in der Hand, die ihm in einem Konflikt zugute kommen würden. Tirpitz zählte diese in schneller Abfolge auf (ohne jeweils näher darauf einzugehen, was sie so vorteilhaft machte), ehe er zu dem beruhigenden Schluß kam, daß die politische Wirkung dieser Machtkonzentration dergestalt wäre, daß sie von vornherein den Ausbruch eines Konfliktes verhindern würde. Das militärische Gewicht der fertigen Flotte war ihrer pohtischen Wirkung auf die handelsorientierten Berechnungen der Briten untergeordnet: »Abgesehen von den für uns durchaus nicht aussichtslosen Kampfverhältnissen wird England aus allgemein pohtischen Gründen und von rein nüchternem Standpunkt des Geschäftsmannes aus, jede Neigung uns anzugreifen, verloren haben und infolgedessen Euer Majestät ein solches Maß von Seegeltung zum

•m

Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 36-45, 165-169; Kelly, The Naval Pokcy, S. 131-136. Die Seemachtideologie lieferte Tirpitz die Munition, die er für seine Kampagne gegen das Oberkommando

95 '"'

''"

brauchte, in der ein an Wilhelm II. gerichtetes

Memorandum

vom

24.4.1898

(Hohenlohe-

Schillingfürst, Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit, Bd 3, S. 441 ff.) den Auftakt bildete. Andere kamen später hinzu. Petter (Deutsche Flottenrüstung, S. 220) zählt die zehn Spitzenposi-

tionen der Marine auf, die zu Immediatstellen wurden. Etatsabteüung des RMA, Zur Flottenfrage, Sommer 1899, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 156-159. Tirpitz, Notizen [...] zum Immediatvortrag am 28.9.1899 über die Vorbereitung und Zielsetzung der Novelle zum Flottengesetz, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 159-162.

Dritter Teil

264

zugestehen und Euer Majestät ermöglichen eine große überseeische Politik zu führen98.« Ohne den Bau einer effektiven Flotte, fuhr Tirpitz fort, sähe sich Deutschland dem Ruin gegenüber. Das Erstarken seines Handels und seiner Industrie sei wie ein Naturgesetz. In diesem Erstarken hege die beste Gewähr dafür, den Bevölkerungsüberschuß aufnehmen zu können, aber es würde unweigerhch zu Interessenkonflikten mit anderen Staaten kommen. Zwei der Weltmächte, mit denen solche Konflikte ausbrechen könnten Großbritannien und die Vereinigten Staaten könne man nur auf dem Seeweg erreichen. Rußland war die dritte Weltmacht; Deutschland müsse anstreben, in den Kreis der Weltmächte als vierte hinzuzutre—



ten.

Die Rominten-Unterredung liefert einen der besten Einblicke in die Endziele des Tirpitz-Planes und in die Weltsicht seines Urhebers. Der Plan inspirierte Wilhelm II. Er hielt am 18. Oktober in Hamburg eine Rede, aus der die Presse die Formulierung »bitter Not ist uns eine starke deutsche Flotte« aufgriff, um die Vorlage für neue Bewilhgungen für die Marine zu verkünden99. Tirpitz traf es unvorbereitet, als Wilhelm II. ein Jahr zu früh die Katze aus dem Sack ließ100. Die Pläne für die Novelle waren allerdings in einem ausreichend fortgeschrittenen Stadium, so daß er die günstige Gelegenheit, da die Kampagne einzuschlagen begann, beim Schöpfe ergriff. Nach der neuen Vorlage sollte der Reichstag in die Verdoppelung der Schlachtflotte, von zwei auf vier Geschwader, einwilhgen. Trotz der Tatsache, daß Tirpitz sich gehütet hatte, die anti-britischen Ziele des deutschen Bauprogramms zu enthüllen, gab die Begründung die Risikotheorie als defensives Motiv für die Flottenverstärkung zu erkennen: den bestehenden Verhältnissen Deutschlands Seehandel und Kolonien zu es nur ein Mittel: Deutschland muß eine so starke Schlachtflotte besitdaß ein zen, Krieg auch für den seemächügsten Gegner mit derartigen Gefahren verbunden ist, daß seine eigene Machtstellung in Frage gestellt wird. Zu diesem Zwecke ist es nicht unbedingt erforderlich, daß die deutsche Schlachtflotte ebenso stark ist, wie die der größten Seemacht, denn eine große Seemacht wird im allgemeinen nicht in der Lage sein, ihre sämtlichen Streitkräfte gegen uns zu konzentrieren. Selbst wenn es ihr aber auch gelingt, uns mit größerer Übermacht entgegenzutreten, würde die Niederkämpfung einer starken deutschen Flotte den Gegner doch so erheblich schwächen, daß dann trotz des etwa errungenen Sieges die eigene Machtstellung zunächst nicht mehr durch eine ausreichende Flotte gesichert wäre101.« Mit der Ausnahme von zwei Schlachtschiffen, die nach der Novelle von 1912 in das Bauprogramm aufgenommen wurden, bestimmte das zweite Flottengesetz »Um

unter

schützen, gibt

Größe und Raison d'être der geplanten Flotte. Eine Erörterung des dem TirpitzPlan zugrunde hegenden Kalküls muß die Ziele der Baupolitik im Lichte der Theorien berücksichtigen, die im vorangegangenen Jahrzehnt in der Marine entwickelt worden waren. Wie konnte die Flotte die wichtigste der ihr mit der Formulierung 98 99

100 1111

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 161.

Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 177 ff.; Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 211 -221. Niedersächsisches Staatsarchiv, Nachlaß Trotha, Abt. 18, Großadmiral von Tirpitz, S. 7. Begründung zum Entwurf der Novelle zum Flottengesetz (1900), in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wUhelminischen Weltpolitik, S. 285 f. Zur knappen Darlegung der Risikotheorie siehe Kelly, The Naval Policy, S. 59-61.

I. Von der Dienstschrift IX bis

zur

Risikotheorie

265

der Risikotheorie übertragenen Aufgaben die Abwehr eines britischen Angriffs und somit den Schutz der erstarkenden überseeischen Interessen Deutschlands ausführen? Bevor diese Frage behandelt wird, soll ein knapper Überblick über die innenpolitische Situation von der Vorlage des ersten bis zur Verabschiedung des zweiten Flottengesetzes zur Erklärung dieser Wende in der Rüstungspolitik beitragen. Der 1893 gewählte Reichstag verabschiedete sowohl Caprivis Armee-Quinquennat von 1894 als auch das erste Flottengesetz (1898). Von seinem Nachfolger wurde nicht verlangt, daß er beide Streitkräfte vergrößern sollte. Das zweite Quinquennat von 1899 und das zweite Flottengesetz (1900) stellten eine bemerkenswerte Neuordnung der Rüstungsprioritäten zugunsten der Marine dar. Das stehende Heer konnte bis 1912 keinen größeren Zuwachs verzeichnen. In der gleichen Zeit stieg der Marinehaushalt von weniger als einem Drittel des Armeebudgets auf mehr als die Hälfte an. Knappe finanzielle Spielräume zwangen um die Jahrhundertwende die Reichsleitung dazu, Prioritäten zu setzen. Die wichtigsten Faktoren hinter dieser Wende zugunsten der Marine waren die freiwillige Zurückhaltung, die das preußische Kriegsministerium an den Tag legte, und die Vorhebe des Kaisers für die Marine. 1899 hatte Graf Schlieffen, Chef des Großen Generalstabes, seinen Plan umrissen, Frankreich in der frühen Phase eines Zweifrontenkrieges mittels eines gigantischen Flankenmanövers niederzuwerfen, wobei er Reserven an der Front einplante, um die französische Armee zu überwältigen'02. Schlieffens Plan verlangte nach mehr Truppen, als zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen, doch das preußische Kriegsministerium weigerte sich, sei es im Rahmen des zweiten Quinquennats oder danach, irgendwelche größeren Aufstockungen in Erwägung zu ziehen103. Der Staatssekretär des Reichsschatzamtes hatte das Kriegsministerium 1898 informiert, daß keinerlei Gelder für eine Vergrößerung der Armee zur Verfügung stünden. Die erhöhten Forderungen der Marine beanspruchten zusätzhch die verfügbaren Mittel. Das wichtigste Motiv hinter der freiwilligen Zurückhaltung des preußischen Kriegsministeriums in den folgenden Jahren geht aber auf die Befürchtung zurück, daß ein Anstieg der jährhchen Einberufungen zu viele Sozialisten in die Armee schleusen und die aristokratische Vorherrschaft im Offizierkorps mit bürgerhchen Elementen unterwandert werden würde104. Es lag also an finanziellen Zwängen, der freiwilligen Zurückhaltung des Kriegsministeriums und an der Vorhebe Wilhelms II. für die Marine, daß innerhalb der deutschen Rüstungspohrik eine Verschiebung der Prioritäten stattfand. Es ist unwahrscheinlich, daß der Kaiser eine solche Umorientierung gegen den Protest der Armee durchgesetzt hätte. Nachdem aber die Armee den Kampf um ein größeres Stück des Kuchens aufgegeben hatte, erwies sich die zentrale Rolle Wilhelms II. in —

-

102

103 104

Ritter, Der Schlieffenplan, passim; Snvder, The Ideology of the Offensive, S. 108-124, 132-147; Bucholz, Moltke, Schlieffen, S. 109-214. Goßler an Schlieffen, 8.6.1899, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wühelminischen

Weltpolitik, S. 64 ff. Kehr, Klassenkämpfe S. 91-129.

und

Rüstungspolitik,

S. 101-103;

Förster,

Der

doppelte Müitarismus,

266

Dritter Teil

der

Verteidigungspohtik als ausschlaggebend dafür, daß die Entscheidung zugunder von Tirpitz vorgelegten Pläne fiel. Volker Berghahns detaillierte Forschung verdeutlicht, daß die Reichsleitung zur Jahrhundertwende die Entscheidung traf, auf Kosten der Armee einen Kurs der maritimen Expansion einzuschlagen105. Der entscheidende Faktor, der die Verabschiedung beider Flottengesetze sicherstellte, war die >Nationalisierung< der größten Partei im Reichstag, des katholischen Zentrums. Nur mit der Unterstützung eines Großteils seiner Abgeordneten war es möglich, Mehrheiten für >nationale< Belange zu finden. Unter dessen Sprecher sten

Ernst Maria Lieber arbeitete das Zentrum in den Jahren 1893 bis 1900 immer enger mit der Reichsleitung in den Bereichen Armee-, Kolonial- und letzthch auch Marinehaushalt zusammen. Tirpitz sorgte für den Abbau des Mißtrauens bezüghch des Hollmannschen >Zick-zackuferlosen< Ambitionen Wilhelms IL, die auch das Zentrum zwischen Anfang 1896 und der Vorlage des ersten Flottengesetzes Ende 1897 entfremdet hatten106. Sobald der Entwurf im Oktober vorbereitet war, begann das RMA, Lieber zu umwerben107. Als Gegenleistung für die Unterstützung des Zentrums erwirkte Lieber schließlich ein Versprechen der Reichsleitung, daß die Mehrausgaben nicht mit der indirekten Besteuerung der ärmeren Klassen ausgeghchen werden sollten. Im Jahre 1900 gab die Partei ihre Zustimmung zu der Verdoppelung der Flotte unter der Bedingung, daß Zölle auf bestimmte Waren erhöht wurden, um die Ausgaben zu decken108. Obgleich eine gewichtige Zahl von Zentrumsabgeordneten gegen die beiden Gesetze stimmte, gelang es der Parteiführung, die für die Mehrheitsbildung kritischen Stimmen zu mobilisieren, um ihre Verabschiedung zu sichern. Hinzu kam, daß Reichstagsmitglieder unter erhebhchen Druck gesetzt wurden, vor allem was das zweite Gesetz anbelangte. Nach der Verabschiedung des ersten Gesetzes im Jahre 1898 wurde die Propagandakampagne durch die Gründung des Deutschen Flottenvereins unterstützt, der sich zur größten nationalistischen Pressure-group im wilhelminischen Deutschland auswachsen sollte109. Eine Führungskrise auf dem Höhepunkt der Kampagne für das zweite Flottengesetz veranlaßte 105

106

Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 250 f.; vgl. die Äußerungen des preußischen Kriegsministers im preußischen Staatsministerium vom 20.1.1900, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 66 f. Siehe Graf Hertlings Äußerung zu Lieber, 25.11.1897, zit. in Gottwald, Der Umfall des Zentrums, S. 196.

107

io»

109

Tirpitz, Erinnerungen, S. 81 f.; Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 256. Zur Bedeutung der engen Zusammenarbeit zwischen Tirpitz und dem Zentrum siehe Steinberg, Yesterday's Deterrent, S. 172, 178 f., 203 f.; KeUy, The Naval Policy, S. 96 ff., 175 ff., 183. Vgl. den Überblick dieser Entwicklungen in Klein, Reichsfinanzpolitik. Die Beziehung zwischen Tirpitz' Flottengesetzen und Miquels gleichzeitiger Sammlungspolitik ist von zentraler Bedeutung für die Interpretation der beiden wichtigsten Studien auf diesem Gebiet (Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik und Berghahn, Der Tirpitz-Plan). Ich folge hier Geoff Eley, der die Verwirklichung der Pläne der maritimen Expansion und einer wieder erstarkenden >Sammlung< im Herbst 1897 als »litde more than a striking historical coincidence« beschreibt (Social Imperialism in Germany, S. 144). Im letzten Abschnitt des Dritten Teils, Kapitel III, versuche ich, den die Studie Kehrs inspirierenden Ursprung für diese Verbindung zwischen den beiden zu identifizieren. Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda, S. 147-163; Eley, Reshaping the German Right, S. 68-94.

I. Von der Dienstschrift IX bis

zur

Risikotheorie

267

unzufriedene Akademiker, ihre eigene Freie Vereinigung für Flottenvorträge zu gründen. Dessen ungeachtet sorgte die Verbindung von »Verschleierung, Druck und überraschende[r] Systematik«110 dafür, daß die Flottenbewegung mit unvermindertem Tempo vorwärtsdrängte. Komplikationen in der Außenpolitik wurden auf den Mangel an deutscher >Seegeltung< geschoben: Die Samoa-Frage im Frühjahr 1899 und die Beschlagnahme zweier deutscher Postdampfer durch britische Einheiten vor Delagoa Bay gerade zu dem Zeitpunkt, als das zweite Flottengesetz seinen Weg durch den Reichstag machte, waren Wasser auf die Mühlen der navalistischen Propaganda. Der neue Reichskanzler von Bülow setzte sich auch mit bemerkenswerter rhetorischer Anmaßung für die navalistischen Ziele ein. Im Dezember 1899 erklärte er dem Reichstag, daß Deutschland im kommenden Jahrhundert entweder »Hammer oder Amboß« sein werde111. Im März warnte er die Abgeordneten in einer geheimen Sitzung, daß die Möglichkeit eines künftigen Krieges mit Großbritannien nicht länger ausgeschlossen werden könne. Die Umorientierung der Reichsleitung hinsichtlich der Rüstungsprioritäten, die enge Zusammenarbeit zwischen RMA und Zentrum und die anschwellende Flut navahstischer Propaganda spielten zusammen und heßen Deutschland Anfang 1900 Kurs auf den Bau seiner >Risikoflotte< nehmen. Viele waren nun der Überzeugung, Deutschland müsse sein Maß an >Seegeltung< mehren, aber wenige hatten eine klare Vorstellung davon, was sich mit der erstarkenden deutschen Seemacht erreichen heß. Diese Überlegungen sind Gegenstand des nachfolgenden Kapitels.

1 ">

111

Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 215 ff.

Winzen, Bülows Weltmachtkonzept, S. 224- 230.

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule seestrategischen Denkens Welches waren die letzten Ziele der Tirpitzschen Politik, und welche Funktion würde die Marine haben, sobald diese erreicht wären? Die ersten beiden Abschnitte dieses Kapitels stützen sich in ausgedehntem Maße auf bekannte Arbeiten, dennoch habe ich mich bemüht, das der >Flotte gegen England< unterliegende Kalkül neu zu beleuchten. Als Leitmotiv beider Abschnitte dient die These, daß der Tirpitz-Plan nur im Kontext der Seemachtideologie begriffen werden kann. Im dritten Abschnitt soll deren Einfluß unter einem Aspekt noch schärfer herausgearbeitet werden, dem die Wissenschaft bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat: der Haltung der Marine zum Seerecht. Im vierten Abschnitt wird die weitere Entwicklung der deutschen Schule nachgezeichnet, die sie im Zuge der Rezeption der Lehren der Geopolitik nahm. Die Arbeit von Curt von Maltzahn zeigt besonders deutlich auf der theoretischen Ebene den Übergang von Clausewitz über Mahan zu Ratzel. Die Geopolitik schlug eine Brücke zwischen den Seeoffizieren der Vorkriegsgeneration und jenen, welche in den Jahren der Zwischenkriegszeit hervortraten. Selbst Wolfgang Wegener, der schonungsloseste unter Tirpitz' Kritikern, teilte mit diesem einige der grundlegenden Überzeugungen der Seemachtideologie. Expansionismus in imperialistischer oder faschistischer Gestalt bheb ein konstanter Faktor im deutschen seestrategischen Denken von den 1890er Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Obgleich einige Teile dieses Kapitels die zeitliche Grenze des Jahres 1900 weit überschreiten, soll hier kein umfassender Überbhck über die Marinepohtik bis zum Ausbruch des Krieges oder darüber hinaus gegeben werden. Vielmehr soll die Wirkung der Seemachtideologie auf das strategische Denken noch weiter verdeutlicht werden. -







1. Die Ziele der

Tirpitz' Hauptmotiv

für die

Steuerung

darin, daß er eine dauerhafte und stabile 1

Flottenrüstung

des Flottenausbaus durch ein Gesetz lag Baurate gesichert sehen wollte. Er wußte,

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 181. Für diesen Abschnitt habe ich mich über weite Strecken an Volker Berghahns unübertroffener Darstellung der inneren Abläufe der Baupolitik des RMA orientiert. Die Angabe von Fundstellen habe ich auf ein Mini-

270

Dritter Teil

daß der Reichstag niemals der Preisgabe seines Bewilligungsrechts zustimmen würde, die mit einer Vorlage verbunden war, welche auf Dauer den Bau einer bestimmten Anzahl von Schiffen pro Jahr vorgesehen hätte. Aber schon in seinem Memorandum vom 3. Januar 1896 hatte er seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß sich mit dem System der jährhchen Bewilligungen nichts erreichen lasse2. Dem Reichstag mußte ein langfristig angelegter Plan vorgelegt werden, der die künftige Stärke der Flotte festlegte und begründete, warum diese Stärke vonnöten war. Die von ihm vorgenommenen Umstellungen in dem Gesetzentwurf, der noch vor seiner Amtsübernahme im Sommer 1897 vorbereitet worden war, hatten weitaus weniger mit abweichenden strategischen Akzentsetzungen zu tun als mit dem Erfordernis einer leicht verständhchen und augenscheinhch begrenzten Zielsetzung. Der von ihm vorgelegte Entwurf ebnete auch einer weiteren Expansion den Weg, sobald er angenommen worden war. Da Tirpitz nicht öffentlich erklären konnte, daß er eine permanente Baurate von drei großen Schiffen pro Jahr vor Augen hatte, und da er nicht die Hollmannsche Pohtik der stückweisen Bewilligungen fortsetzen wollte, mußte er gezwungenermaßen etappenweise vorgehen. Dies war ihm von Anfang an klar. Am 2. Juh 1897 wurde der Zeitpunkt für die Realisierung des ersten Flottengesetzes ins Jahr 1905 verlegt. Bis dahin mußte das Ziel für die zweite Etappe feststehen5. Für Tirpitz' Vorgehen war es typisch, daß die Ausgestaltung jeder Etappe dem Ziel einer Verstetigung der Baurate über den größtmöglichen Zeitraum untergeordnet war4. Infolgedessen war die Etatsabteilung des RMA unter zweien seiner engsten Berater, Eduard Capelle und Harald Dähnhardt ständig damit beschäftigt, Baupläne und Vorlagen für Novellen zum Flottengesetz umzuarbeiten, um für alle vorhersehbaren innen- und außenpolitischen Eventualitäten gewappnet zu sein. Diese Pläne liefern die aufschlußreichsten Hinweise auf die Endziele des Tirpitz-Planes. Die Frage nach der Größe der von Tirpitz geplanten Flotte ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis seiner Vorstellungen, wie eine solche die deutschen Seeinteressen im Frieden wie im Kriege schützen sollte. Seine Überlegungen können auf zwei getrennte, aber aufeinander bezogene Berechnungen zurückgeführt werden. Beide hingen von den Baubegrenzungen ab, die Tirpitz und seine Mitarbeiter identifiziert hatten. Erstens: Was war unter den gegebenen Grenzen der Produktionskapazität und der finanziellen Ressourcen sowie angesichts der Notwendigkeit, innenpohtische Unterstützung zu sammeln und eine Panik im Ausland zu vermeiden, die optimale Baurate für die deutsche Flotte? Zweitens: Welche Beschränkungen nahmen deutsche Planer für den britischen Flottenbau und die —

-

reduziert, mit Ausnahme jenes verwendeten Archivmaterials, welches weder im angegebeQuellenband noch in Berghahn, Der Tirpitz-Plan verwandt wurde. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 196. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 112, 113, Anm. 19, S. 116; Lambi, The Navy, S. 140; Berghahn/ Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 162. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 165, 180 f.; Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 112, Anm. 16, S. 308, 312, 323-330; BA-MA, RM 3/10, Tirpitz an Müller, 30.4.1914, auch in Tirpitz, Poktische Dokumente, Bd 1, S. 421-423; Tirpitz, Erinnerungen, mum nen

2 3

4

S.

102, 174; Michaelis Memoiren, BA-MA, N 164/4, S. 16.

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

271

Dislozierung der Royal Navy an? Zusammengenommen weisen diese Berechnungen sowohl auf die absolute Größe der geplanten deutschen Flotte hin als auch auf das Kräfteverhältnis, welches man zu erreichen suchte. In seinem ersten Memorandum zur Baupolitik, welches er im Sommer 1897 in seiner Funktion als Staatssekretär verfaßte, heß Tirpitz erkennen, daß er sich der Grenzen, die für die Entwicklung der deutschen Marine in den Bereichen der Produktion, Organisation, Ausbildung und Politik galten, durchaus bewußt war. Für ihn war es daher unrealistisch, bis 1905 auf mehr als ein Doppelgeschwader zuzüglich Reserven zu hoffen5. In der Begründung zum ersten Flottengesetz wurde der Reichstag darüber informiert, daß es notwendig sei, die gegenwärtige Zahl von vierzehn Linienschiffen um fünf zu erhöhen, um das Doppelgeschwader zu realisieren6. Die Schwachstelle des ersten Flottengesetzes aber bestand darin, daß die Baurate nicht länger als ein paar Jahre stabil bleiben würde. Kurz nachdem das erste Gesetz verabschiedet worden war, begann Tirpitz folglich zu überlegen, ob er nicht eine Novelle einbringen sollte, noch ehe dieses erste Gesetz ausgeführt sein würde7. Im November 1898 unterbreitete er Wilhelm II. den Vorschlag, 1902 dem Reichstag eine Novelle zuzuleiten, die den Bau eines dritten Schlachtschiffgeschwaders sowie dazugehöriger Kreuzer sichern würdes. Noch war das RMA mit seinen Ambitionen aber nicht an seine Grenzen gestoßen. Im Sommer 1899 entwarf die Etatsabteilung des RMA sogar Pläne, die über die bisher gefaßten Zeit- und Größenordnungen hinausgingen. Als natürliches Ziel einer jeden Flottenverstärkung müsse zum ersten, im bestehenden Flottengesetz vorgesehenen Doppelgeschwader ein zweites hinzukommen9. Aufgrund der ungleichmäßigen Bewilligung von Ersatzschiffen (ein Erbe der Hollmannschen >Zick-zackGroßkampfschiff< kam auf, nachdem die Einführung von Schlachtkreuzern im Jahre 1906 den Unterschied in der Kampfkraft zwischen Kreuzern und Linienschiffen erheblich redu-

ziert hatte. Fernis, Die Flottennovellen, liefert einen veralteten Überbkck, der aber einige nützliche Informationen enthält. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 193, Anm. 98, S. 207, 509-511; Brézet, Le plan Tirpitz, S. 182-185.

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

273

der HMS Dreadnought noch das zeitweilige Vierertempo hatten Auswirkungen auf die Größe der Flotte nur auf ihre Qualität und den Zeitpunkt der Fertigstellung. Die Novelle von 1912 »capped with a final success Tirpitz' unbroken string of -

Reichstag victories [...] After 1917 the three-tempo, theoretically at least, was secure for all time16.«

Allerdings wurden im Sommer 1903 im RMA geheime Pläne für den Bau eines dritten Doppelgeschwaders geschmiedet17. Dies war das ambitionierteste Ziel, welches dokumentiert ist, jedoch mußte der Plan schließlich aufgegeben werden, als man erkannte, daß innen- wie außenpolitische Zwänge die Realisierung einer solch riesigen Vermehrung unmöghch machten18. Diese Pläne gewähren weiteren Einbhck in die Endziele der Tirpitzschen Politik. Von dem Moment an, da Tirpitz mit der Planung einer Novelle in den Jahren 1901/02 begann, wurde die ganze Frage der weiteren Entwicklung der Marine dem Ziel untergeordnet, jedes Jahr die gleiche Baurate von zwei Linienschiffen und einem großen und drei kleinen Kreuzern zu erreichen19. Als der einfachste Weg, das >Dreiertempo< über einen begrenzten Zeitraum zu stabilisieren, erwies sich die an den Reichstag gerichtete Forderung nach den sechs Auslandskreuzern, welche dieser im Jahre 1900 abgelehnt hatte. Für diese Lösung entschied man sich letzten Endes, die Novelle wurde 1906 vom Reichstag verabschiedet. Die demgegenüber weitreichenderen Vorschläge von 1903 zielten auf die Absicherung einer unbefriBaurate. Im Juli 1903 unterbreitete Dähnhardt eine ausführliche

steten

Gegenüberstellung von

zwei alternativen Novellen, die weit ambitionierter waren als die ursprüngliche Initiative von Tirpitz20. Die Alternativen bestanden zum einen in der Forderung eines dritten Doppelgeschwaders, welches »Seewehr-Schlachtflotte« genannt werden sollte, zum anderen in der Forderung nach der gesetzhchen Verankerung eines permanenten >DreiertemposDreiertempo< nur bis 1913 stabilisieren und zum Endziel nicht wesenthch beitragen. Die SeewehrSchlachtflotte und ein dauerhaft fixiertes Bautempo würden hingegen genau das tun. Die Nachteile dieser Varianten waren aber genauso offensichtlich. Das dritte Doppelgeschwader mußte in Großbritannien einfach Alarm auslösen das RMA befürchtete, daß das Inselreich sogar mit einem Präventivschlag auf die zunehmende Bedrohung reagieren könnte21 —, und außerdem war es höchst unwahrschein—

16 17

18

19

2" 21

Kelly, The Naval Policy, S. 463. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 308-325; Kelly, The Naval Policy, S. 212-217; Brézet, Tirpitz, S. 285-298. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 323-326, 371, 439-441. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 165 f. Ebd., S. 167-171. Ebd., S. 184, 217.

Le

plan

Dritter Teil

274

lieh, daß

der Reichstag die drastische Beschneidung seines Budgetrechts, die eine Baurate mit sich brächte, hinnehmen würde. stetige Wie sich herausstellen sollte, schieden aus diesen wie aus anderen Gründen beide Alternativen aus. Tirpitz erkannte, daß die bestehenden Beschränkungen des deutschen Flottenbaus sie zum Fehlschlag verurteilen würden, und entschloß sich, sein vorsichtiges Vorgehen beizubehalten: Schritt für Schritt. Da aber Dähnhardt explizit darauf verwies, daß die beiden Alternativen das Endziel der deutschen Flottenentwicklung verwirklichen würden, sind sie der beste Beleg für das, was jenes Ziel ausmachte. Ein stetiges jährliches Bautempo von drei großen Schiffen mit einer Ersatzfrist von fünfundzwanzig Jahren läßt vermuten, daß das Endziel irgendwo im Bereich von fünfundsiebzig Schlachtschiffen und großen Kreuzern angesiedelt war22. Dies wurde von der ausgedehnten Diskussion der Denkschrift bestätigt. Für den Fall, daß es notwendig werden würde, die Argumente für die Seewehr-Schlachtflotte den Mitghedern der Budget-Kommission des Reichstages vorzustellen, erarbeitete Dähnhardt ein vertrauliches Memorandum, in welchem er ausführte, wie die Flotte nach ihrer Fertigstellung im Jahre 1929 Deutschland gegen einen britischen Angriff absichern würde23. In diesem Jahr, so schrieb er, würde Deutschland über sechzig Schlachtschiffe und zwanzig große Kreuzer verfügen. Einige Monate später wies er in einer Betrachtung zu den Konsequenzen der auf die Seewehr-Schlachtflotte zielenden Optionen darauf hin, daß die gesamte Flotte im Jahre 1924 aus siebenundfünfzig Linienschiffen und zwanzig großen Kreuzern, begleitet von zweiundfünfzig kleinen Kreuzern und vierundzwanzig Torpedobootdivisionen bestehen würde. Die Ersatzfrist müsse allerdings auf dreißig Jahre angehoben werden, damit die Baurate von drei Schiffen pro Jahr gehalten werden könne24. Das vorhandene Material läßt vermuten, daß das Endziel des Tirpitz-Planes (oder eher das maximale Ziel, für das konkrete Pläne entworfen wurden), auf einen Flottenumfang von insgesamt zwischen fünfundsiebzig und achtzig Schlachtschiffen und großen Kreuzern (ungefähr sechzig zu zwanzig) für die zweite Hälfte der 1920er Jahre hinauslief. Dähnhardt ging davon aus, daß Großbritannien bis zu diesem Zeitpunkt über 109 ähnhehe Schiffe (in Heimatgewässern) verfügen würde, von denen eine gewisse Anzahl in Übersee stationiert werden müßte. Das daraus resultierende Stärkeverhältnis, so sollte der Budget-Kommission versichert werden, würde Deutschland mit ausreichendem Schutz vor einem britischen Angriff versehen. Dies sei das Ziel des deutschen Flottenbaus, unterstrich er im Einklang mit der Risikotheorie25. Das Bekenntnis zur Risikotheorie war kein bloßer Trick, um leichtgläubige Politiker zu beeindrucken. In seinem geheimen Memorandum vom Juli 1903 verwendete Dähnhard den Terminus »Endziel« in exakt der gleichen Bedeutung. In ihren optimistischsten Zeiten hofften die Planer des RMA darauf, eine Schlachtflotte von 22 23 24 23

Vgl. Kennedy, Strategie Aspects, S. 159. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 315 319. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 316-319. -

171-179.

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

achtzig Großkampfschiffen

gezwungen sahen, Abstand

zu

bauen

eine

seestrategischen Denkens

Zahl,

von

275

der sie sich mit der Zeit

nehmen; sie bheben aber immer ihrer Überzeugung -

zu

treu, daß das von ihnen angestrebte Stärkeverhältnis Sicherheit verheißen würde, und dies war es, was, um sich der Worte Dähnhardts zu bedienen, das Endziel ausmachte, »uns gegen den seemächtigsten Gegner genügend stark zu machen«26. Die Größe der in den Entwürfen des RMA für eine Novelle vorgesehenen Flotte varüerte je nach innen- und außenpolitischer Lage. Das Stärkeverhältnis, welches als Sicherheitsgarant gegen einen britischen Angriff gehandelt wurde, bheb jedoch durchgängig unverändert (2:3). Deutschland könne realistischerweise damit rechnen, dieses Verhältnis in den 1920er Jahren zu erreichen, so die Argumentation, da den britischen Rüstungsanstrengungen Grenzen gesetzt seien. Um sich ein Bild von den Berechnungen des RMA zu machen, hilft es nachzuvollziehen, welche Faktoren man für die Beschränkungen der britischen Seerüstung verantwortlich machte. Ganz allgemein ging Tirpitz davon aus, daß es Deutschland mit seiner dynamisch wachsenden Wirtschaft möglich sein sollte, die für die Konkurrenz mit dem britischen Flottenbau notwendigen Ressourcen zu mobihsieren. Wenn man sich Tirpitz' feines Gespür dafür, was er in kritischen Momenten fordern konnte, ins Bewußtsein ruft, mutet diese Annahme nicht als überzogen optimistisch an. Die nach der Jahrhundertwende sich über ein Jahrzehnt erstreckende freiwillige Zurückhaltung der Armee ermöghchte es der Marine, ihr Budget zu verdoppeln. Trotz der wachsenden Belastung, welche die Rüstungsausgaben für das pohtische System darstellten, bewilligte der Reichstag dem RMA über fünfzehn Jahre lang fast alles, was dieses forderte. Deutschland überholte Großbritannien in den Schlüsselindustrien, und die konservative Regierung, die in London bis Ende 1905 an der Macht war, befürchtete, daß die Steuerleistung des Landes an ihre Grenzen war. Tirpitz kann nicht gestoßen vorgeworfen werden, daß er Lloyd Georges Peovon nicht 1909 ple's Budgetx vorhergesehen hat. Genausowenig konnte er das im Scheitern der Steuerreform in Deutschland voraussegleichen Jahr eingetretene hen27. Dieser generelle Optimismus wurde durch eine Überlegung bekräftigt, nach der das britische Freiwilhgensystem der Vergrößerung der Royal Navy im Wege stand. Im Reich war die Überzeugung weit verbreitet, daß die Wehrpflicht Deutschland in der Flottenrivahtät einen bedeutenden Vorteil gegenüber Großbritannien verschaffe und daß die Personalkosten der Fähigkeit der Royal Navy, ihren Vorsprung zu wahren, enge Grenzen setzen würden. Im November 1897 (!) unterhielt sich Tirpitz mit dem Prinzregenten von Bayern darüber, »der deutschen Flotte eine Stärke zu geben, die ihr einen Kampf selbst mit der stärksten anderen, also der Englischen, ermöghche«. Auf den Einwand, England würde nie freiwillig auf die Herrschaft über die Meere verzichten und immer für eine gewisse Distanz zwischen der eigenen und der Stärke unserer Flotte sorgen, erwiderte der Staatssekretär, »Eng26

21

Berghahn/Deist, Rüstung im Tirpitz-Plan, S. 319.

Zeichen der wilhelminischen

Offer, The First World War, S. 323.

Weltpohtik,

S. 169 f.;

Berghahn,

Der

276

Dritter Teil

land kenne aber nicht die allgemeine Dienstpflicht und würde sie [...] auch nie einführen. Wenn es noch so viele Schiffe baue, müsse die Bemannung für sie schließlich fehlen. Wir dagegen könnten uns bei einer jährhchen Einstellung von etwa 20 000 Rekruten in der Marine, im Vergleich zu der kaum in Betracht kommenden naval reserve, ein starkes Reservoir ausgebildeter Mannschaften schaffen und schheßlich sicher die gleiche Zahl Schiffe wie die Engländer mit Besatzung versehen28.« Dieses Argument wurde früh von Wilhelm II. aufgegriffen, der es zu verschiedenen Gelegenheiten wiederholte29. Auch Colmar von der Goltz bediente sich dieser Überlegungen in der Öffentlichkeit30. Sie standen im Zentrum der von Dähnhardt für die Budget-Kommission vorbereiteten Darlegung der Grenzen der maritimen Expansion Großbritanniens31 und bildeten einen integralen Bestandteil der Berechnungen in den internen Memoranden des RMA32. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts glaubten die Planer des RMA, daß die Kosten des Rekrutierungssystems auf freiwilliger Basis Großbritannien zwingen würden, seine Baurate zu senken, und Deutschland die Möglichkeit geben würden, allmählich gegenüber Großbritannien aufzuholen. Die britischen Flottenpaniken von 1908 und 1909 sollten ihnen diese Illusion nehmen. Ein zweites, genauso weit verbreitetes und gewichtiges Argument ging davon aus, daß die imperialen Verpflichtungen es Großbritannien nicht erlauben würden, all seine Macht in den Heimatgewässern zu konzentrieren33. Diese Hoffnung konnte allerdings nur bis 1904 gehegt werden, als der neue Erste Seelord der Admiralität, Sir John Fisher, nämhch genau dies anordnete34. In den Anfangsjahren des Tirpitz-Planes bildeten beide Überlegungen die Grundlage für die Berechnungen, laut denen es Großbritannien unmöghch sein würde, in heimischen Gewässern ein vorteilhafteres Stärkeverhältnis als 2:3 aufrechtzuerhalten. Obgleich sich beide Argumente als falsch erwiesen, blieben Tirpitz und das RMA dem Glauben verhaftet, daß es möghch sei, das angestrebte Stärkeverhältnis zu erreichen zumindest mit Bhck auf die modernsten Großkampfschiffe. Der Stapellauf der HMS Dreadnought im Jahre 1906 schien die Möglichkeit zu eröffnen, das Rennen mit Großbritannien neu zu beginnen35. Das zeitweilige >VierertempoVierertempo< nicht doch wieder um ein Schiff pro Jahr kürzen sollte, um die Beziehungen zu Großbritannien zu verbessern. Am 4. Januar drohte Tirpitz mit seinem Rücktritt, so daß Bülow die Idee eine Woche später fallen Heß. Am 20. Januar reagierte Tirpitz auf die für sein Bauprogramm bedrohliche Lage mit dem Vorschlag, ein auf zehn Jahre befristetes Abkommen mit Großbritannien zu schließen, dessen Grundlage die Baurate von Großkampfschiffen in einem Stärkeverhältnis von 3:4 bilden sollte. (BA-MA, N 253/254, hier finden sich auch die Briefe Bülow an Tirpitz, 29. Januar und Tirpitz an Bülow, 4. Februar; vgl. Tirpitz, Politische Dokumente, S. 100-102, 104-109, 112-122.) Tirpitz wiederholte diesen Vorschlag in einer Unterredung am 3. April Wilhelm II. gegenüber (ebd., S. 145-147), welcher die Idee noch am gleichen Tag Bülow wärmstens empfahl (BA-MA, RM 2/1762, vgl. Tirpitz, Politische Dokumente, S. 147-149). Bülow jedoch hielt den Vorschlag für »sehr gefährlich«, und die Flottenpanik, welche in diesem Jahr die britische Öffentlichkeit erfaßte, stimmte auch Tirpitz skeptisch, was die Erfolgschancen dieses Vorschlages anbelangte. Siehe hierzu Kelly, The Naval Policy, S. 355-363, und Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung, S. 31-43, 48-51. Der große Vorteil dieses Vorschlages lag in Tirpitz' Augen darin, daß er einerseits ein stabiles >Dreiertcmpo< sichern und daß andererseits Deutschland am Ende dieser Zeitspanne ein günstiges Stärkeverhältnis von 2:3,6 erreichen könne, wie er sich am 18.5.1909 Müller gegenüber äußerte (BA-MA, RM 2/1762). Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 317. Ein

BA-MA, RM 3/6673, 4.7.1906, Das Bautempo von England, Frankreich, den Vereinigten Staaten und Deutschland. Vgl. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 509 ff, 569 f. Forstmeier, Der Tirpitzsche Flottenbau, S. 47.

Dritter Teil

278

größer geworden wäre als die britische40. Die zentrale Frage jedoch ist: Glaubten Tirpitz und seine Anhänger, daß eine >Zwei-Drittel-Flotte< das notwendige Maß an Sicherheit gegen einen britischen Angriff allein gewährleistet hätte? Die Quellen legen nahe, daß dies in der Tat der Fall war. Wie sich einer seiner Mitarbeiter zwanzig Jahre nach dem Krieg äußerte: »Tirpitz' Festhalten am Risikogedanken läßt sich kaum anders erklären, als daß er, geblendet durch dessen parlamentarischen Erfolg und seine scheinbare Nützhchkeit bei außenpolitischen Verhandlungen, mit der Zeit tatsächhch geglaubt hat, den Krieg vermeiden zu können41.« Die >ZweiDrittel-Flotte< war das minimale Abschreckungsmittel, die Grundlage, die defensive Conditio sine qua non des deutschen Aufstiegs zur Weltmacht. Es konnte der Zukunft überlassen bleiben, ob die Marine weiter gestärkt werden sollte, d.h. ob man in Heimatgewässern ein Gleichgewicht mit der Royal Navy anstreben sollte oder vielleicht sogar eine Überlegenheit, welche die deutsche Flotte mit der Möghchkeit —

Offensive ausstatten würde. Oder um es mit den Worten von Raffael Scheck zusammenzufassen: »Tirpitz may have dreamed of outbuilding England one day, but the key to his plan is that he wanted to estabhsh Germany as a world power without having to do so42.« Die von Tirpitz in den folgenden Zitaten verwandte Terminologie legt nahe, daß er davon ausging, die Flotte könne nach und nach ein abschreckendes Potential gewinnen. In einem Brief, den Tirpitz Ende des Jahres 1905 an den Reichskanzler schickte, heß er den Kurs der Baupohtik von dem Moment an, da er Staatssekretär geworden war, Revue passieren43. Der Flottenverein war zu dieser Zeit sehr unzufrieden mit der Größe der gerade vorgelegten Novelle und verlangte vom RMA, die Ersatzfrist für ältere Schlachtschiffe zu senken. Bülow spielte sogar selbst mit dem Gedanken, eine große Flottenvorlage zu einer «nationalen Frage< zu machen, die es ihm ermöglichen würde, den Reichstag aufzulösen und den Sozialdemokraten eine Abfuhr zu erteilen. Tirpitz erklärte ihm aber, daß an den Zeitplänen für den Ersatz nichts geändert werden könne, wenn die Marine eine ebenso sichere Entwicklung genießen sollte wie die Armee. Der mit der vorliegenden Novelle erhobenen Forderung, die sechs im Jahre 1900 gestrichenen Auslandskreuzer wieder einzusetzen, könne später eine Senkung der Ersatzfrist von fünfundzwanzig auf zwanzig Jahre folgen. Der einzige Weg, außen- wie innenpolitische Komplikationen zu vermeiden, führe über die stabile und verläßliche Pohtik des RMA, auch wenn seine Vorschläge weniger spektakulär seien. Da der Bau einer Marine die Arbeit einer ganzen Generation in Anspruch nehme, komme man nicht um die »harte [...] Tatsache« herum, daß »uns unter keinen Umstand der Weg über eine völhg unzureichende Flotte und alsdann über eine bloße Verteidigungsflotte erzur

40

Kennedy, Tirpitz, England,

and the Second

S. 158 ff. 41

BA-MA, fol. 22.

42

8/1233, Michaeks, Tirpitz strategisches

Scheck, Alfred S. 510.

43

RM

Navy Law,

von

Tirpitz

and German

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 493-499.

S. 54

ff, und Kennedy, Strategie Aspects,

Wirken

vor

Right-Wing Politics, S. der wilhelminischen

und während des

Weltkrieges,

Le

plan Tirpitz,

10.

Vgl. Brézet,

Weltpolitik,

S. 180-186;

vgl.

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

279

man nach Art der Wünsche des Flottenvereins dabei schließlich zu einer Offensivflotte kommen muß, kann zur Zeit gänzlich dahingestellt bleiben [...] eine solche Änderung der Marinepohtik, falls sie als richtig erkannt werden sollte, [darf aber] erst in einem Zeitpunkt vorgenommen [werden], in welchem die Defensivflotte tatsächlich auf dem Wasser schwimmt44«. Tirpitz hat nicht definiert, was er unter einer >defensiven< und einer >offensiven< Flotte verstand, allerdings läßt sich aus anderen Quellen ersehen, daß seine Terminologie konsistent bheb. In der Dienstschrift IX war festgelegt, daß eine Schlachtflotte eine Überlegenheit von mindestens einem Drittel besitzen mußte, um die strategische Offensive an die Küste des Gegners tragen und die Seeherrschaft mittels einer Blockade oder einer Schlacht erringen zu können. Tirpitz bheb bei dieser grundlegenden Festlegung auch in einem Memorandum, welches er vierzehn Jahre später verfaßte. Die enghsche Presse sehe in der Risikotheorie einen Beweis dafür, daß Deutschland die maritime Vormachtstellung Großbritanniens herausfordern wolle, klagte er in einer in seinem Sommerurlaubsort St. Blasien verfaßten Denkschrift: »Während in Wahrheit gesagt worden ist, daß Deutschland gerade diese Absicht nicht habe, wohl aber wolle es sich eine Flotte schaffen, die so stark sei, daß ein Angriff auf Deutschland nicht ohne Gefahren und Bedenken auch seitens England ausgeführt werden kann. Der Angriffskrieg soll England so teuer werden an Blut und Geld, daß es einen solchen nur wegen ganz vitaler Fragen unternehmen würde45.« Wenn das Risiko den Verantwortlichen in Großbritannien erst einmal bewußt geworden sei, fuhr Tirpitz fort, werde London es vorziehen, zu einer Verständigung mit Deutschland zu kommen, anstatt zuzulassen, daß die Interessenkonflikte außer Kontrolle gerieten: »Es ist hierfür in Rechnung gezogen, daß der Angreifer in seiner Blockade-Flotte nach altem Seekriegsgrundsatz mindestens 33 % numerisch dem Verteidiger überlegen sein müßte und daß die Bedeutung der Torpedowaffe eine noch größere Überlegenheit des Angreifers wahrscheinhch notwendig macht, daß ferner England im Kriegsfall nicht in gleichem Maße wie wir seine ganze Seemacht in der Nordsee konzentrieren könnte«. Die Behauptung, Deutschland habe vor, eine offensive Flotte gegen England zu bauen, sei daher absurd. Von der Tatsache abgesehen, daß keine deutschen Interessen einen Angriffskrieg rechtfertigten, wäre für ein solches Vorhaben eine Flotte vonnöten, »die um soviel stärker ist als die enghsche Flotte, während wir das Umgekehrte bezüghch der Flottenstärke festsetzten«46. Diese Erklärungen erlauben folgende Interpretation: Deutschland würde in der nahen Zukunft über eine >völhg unzureichende< Flotte verfügen, die den überlege-

spart werden« wird. »Ob

44 45

46

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik S. 184.

RM 3/8, Denkschrift Tirpitz' über die englische Presse (Sommer 1908); vgl. Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 194. Tirpitz wiederholte diese Argumente in einem Brief an Bülow vom 20.1.1909, BA-MA, N 253/54 (auch in Tirpitz, Politische Dokumente, S. 116 f.). Tirpitz' Wendungen »soviel stärker« und »das Umgekehrte« deuten an, daß er die offensive Flotte als mindestens ein Drittel stärker als die des Gegners, die defensive Flotte als nicht mehr als ein Drittel schwächer als die des Gegners definierte.

BA-MA,

Dritter Teil

280

Gegner aber mit einem gewissen Risiko konfrontierte, die eigene Vernichtung bei einer Offensive durch ein Zusammentreffen mit dem Gegner in einer Entscheidungsschlacht in Kauf zu nehmen. Das Risiko würde mit der Vermehrung der Flotte steigen, bis diese das Verhältnis von 2:3 erreicht haben würde. Die >Risikoflotte< würde zur >Verteidigungsflotte< mit der tatsächhchen Aussicht, sich zu verteidigen47. Aber nur eine Flotte, die zu mindestens einem Drittel der britischen überlegen wäre, könnte als >Offensivflotte< fungieren und besäße die Fähigkeit, die strategische Offensive zu ergreifen und Großbritannien die Seeherrschaft zu entreißen. Die Dienstschrift IX kannte kein Konzept der >Verteidigungsflottepolitischen< Druck, den die Abschreckungswirkung einer unterlegenen Flotte ausüben könne, läßt sich bis zum Ende des Jahres 1895 zurückverfolgen. Erst zur Zeit der Verabschiedung des zweiten Flottengesetzes legte das RMA das Stärkeverhältnis fest, welches derartige Vorzüge nach sich ziehen sollte. In einer geheimen Aufzeichnung mit dem Titel »Die Sicherung Deutschlands gegen einen englischen Angriff« stellte die Etatabteilung im Februar 1900 fest, daß die Flotte des zweiten Flottengesetzes, die nach Fertigstellung zwei Drittel so groß sein sollte wie die britische, ein ausreichendes Risiko darstellen würde, um Deutschland vor einem Angriff zu schützen48. Großbritannien würde es, so die Aufzeichnung, ob der enormen Kosten für den Ersatzschiffbau nicht möghch sein, einen größeren Überlegenheitsabstand aufrechtzuerhalten. Das Papier fügte noch die zuversichthche Erwartung hinzu, daß der auf deutscher Seite vorgesehene höhere Prozentsatz an aktiven Einheiten auch einen besseren Ausbildungsstand mit sich bringen werde. Damit könne man die britische Tonnageüberlegenheit wettmachen. Das 2:3-Kräfteverhältnis erschien in den folgenden Jahren immer wieder als Minimalziel der Tirpitzschen Baupohtik. Der Staatssekretär mochte in seinen hoffnungsfrohesten Einschätzungen ein 3:4-Verhältnis für erreichbar gehalten haben obgleich ihm das zweifelhaft erscheinen mußte49. Die Regelmäßigkeit, mit der er nen

-

Das Konzept der »aussichtsreichen Defensivchance« stand in Zusammenhang mit dem Ersatz der Risikotheorie durch das Ziel der Zwei-Drittel-Flotte; dieses Konzept kam im Herbst 1911 ins Spiel. Vgl. Tirpitz' Aufzeichnungen für seine Audienz beim Kaiser in Rominten am 26.9.1911 S. 213-215); Wilhelm II. an Bethmann Hollweg, 30.9. bis (Tirpitz, Politische 2.10.1911, in Stadelmann, Die Epoche der deutsch-englischen Flottenrivalität, S. 169 (mit einer weiteren Passage in Tirpitz, Politische Dokumente, S. 216-218); Heeringen an Bethmann Hollweg, 7.10.1911 (ebd., S. 220 f., 222); Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung, S. 98; Rosinski, Strategy and Propaganda, S. 74. Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 128 f. Wie schon erwähnt, wollte Tirpitz Großbritannien im Frühjahr 1909 für eine Übereinkunft auf der Grundlage eines 3:4-Verhältnisses für die Bauraten der nächsten zehn Jahre gewinnen. (Vgl. auch Sitzung beim Reichskanzler, 3.6.1909, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 327.) Bis zum 1. September war er dann wieder auf ein 2:3-Verhältnis zurückgekommen allerdings nur für eine Spanne von vier Jahren. Ein Jahr später erkannte er, daß ein S'tärkeverbältnis von 3:4 als Grundlage für eine Übereinkunft utopisch war (ebd., S. 329 f.). Bemerkenswert ist, daß noch nicht einmal sein engster Mitarbeiter Capelle sich sicher war, ob

Dokumente1;

-

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

281

immer wieder auf das Verhältnis 2:3 zurückkam, verdeutlicht die zentrale Stellung, die es in seinem Konzept der minimalen Abschreckung einnahm. Ein Jahrzehnt und eine Reihe unvorhergesehener Entwicklungen später die britischen Ententen, Fishers Konzentration der Flotte, die Stapelläufe von HMS Dreadnought und Invincible standen die Risikotheorie, die im zweiten Flottengesetz vorgesehene Flotte von sechzig Großkampfschiffen und das gleiche Kräfteverhältnis immer noch im Zentrum der Berechnungen des RMA zu dem Fundament, das zur Abstützung von Deutschlands Weltmachtstatus notwendig sei. Die Reichskanzler von Bülow und Bethmann Hollweg begannen im Jahre 1909, eine maritime Übereinkunft mit Großbritannien in Erwägung zu ziehen. Tirpitz weigerte sich kategorisch, irgendwelche Kürzungen an der Gesamtzahl der im Jahre 1900 vorgesehenen Schiffe zu billigen. Sollte Deutschland sich auf eine Regelung zur Rüstungsbeschränkung mit Großbritannien einlassen, so sagte er dem Kaiser, müsse dies auf der Basis eines Stärkeverhältnisses geschehen, welches immer noch ein ausreichendes Maß an Sicherheit biete: »Flottenpolitik Eurer Majestät hat zum Rückgrat50, daß deutsche Flotte so stark sein muß, daß ein Angriff für England ein großes Risiko bedeutet. Auf diesem Risiko beruht die Weltmachtstellung des Deutschen Reiches und die Frieden sichernde Wirkung unserer Flotte51.« Nur ein Verhältnis von 2:3 würde sicherstellen, daß das Risiko gegeben wäre. Ohne dieses Verhältnis hinge die Weltmachtstellung Deutschlands von der Gnade Großbritanniens ab, und seine Flottenpohtik käme einem historischen Fiasko gleich. Tirpitz war sich sicher, daß, wenn das gegenwärtige Flottengesetz ausgeführt wäre und Deutschland sich im Besitz von sechzig Großkampfschiffen von je rund 25 000 Tonnen befände, das Verhältnis von 2:3 erreicht sein würde. Dies bedeute, hob er hervor, daß Großbritannien neunzig Großkampfschiffe in Heimatgewässern stationieren müsse. Im November 1911 eröffnete sich durch die Agadirkrise die Aussicht auf eine weitere Novelle, die das >Dreiertempo< für die folgenden Jahre sichern könnte. Tirpitz hielt die Zeit für gekommen, zu verkünden, daß Deutschland ein Stärkeverhältnis von 2:3 anstrebte ein Ziel, dessen öffentliche Bekanntgabe man im Jahre 1900 noch nicht für ratsam gehalten habe. Nun könne entweder Großbritannien dieses Stärkeverhältnis als Grundlage für eine Übereinkunft anerkennen oder es bleiben lassen dann müsse Deutschland es eben in einem Wettrüsten herstellen. Tirpitz erklärte Wilhelm II., daß das Verhältnis von 2:3 in der Tat die Raison -







50

51

Tirpitz letztlich auf ein Verhältnis von 3:4 gehofft hatte (Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung, S. 41, Anm. 78). Wenn ja, hätte Tirpitz ihm dies nicht mitgeteilt? Vgl. BA-MA, N 607/2, Hollweg an Wegener, 15.3.1929. Tirpitz bediente sich in seinen Anmerkungen zur Behauptung Galsters, daß die Schlachtflotte gegenüber England keinerlei militärischen Wert besitze, der gleichen Terminologie, BA-MA, RM 3/8, fol. 72, Kriegführung (Ende 1908): »Ohne Schlachtflotte also kein Risiko. Rückgrat unser [sie] Flottenpolitik Begründung Flottengesetz 1900«. Dieses wie auch andere Argumente wurden in Tirpitz' Brief an Bülow vom 4.1.1909 verwendet, BA-MA, RM 2/1762 (auch in Tirpitz, Poütische Dokumente, S. 104-109). Entwurf des Vizeadmiral Capelle der Disposition für den Immediatvortrag von Tirpitz am 24.10.1910, Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhekninischen Weltpolitik, S. 329 f.

Dritter Teil

282

d'être der Marinepohtik sei, deren Ziel die »Sicherheit gegen engl. Angriff gute Defensivchance«52 darstellte. Nach den vorhegenden Zeugnissen kann als gesichert gelten, daß eine Flotte, die mindestens zwei Drittel so stark war wie die britische in der Nordsee, eine >Verteidigungsflotte< darstellte, von der für Tirpitz ein hinreichendes Risiko ausging, um einen britischen Angriff zu verhindern. Es wird auch deutlich, daß er die Gefahr eines britischen Angriffs mit jedem großen Schiff, welches in Dienst gestellt wurde, schrumpfen sah. Das heißt, je näher das Verhältnis von 2:3 rückte, desto größere Zurückhaltung würden die Briten in der Frage einer etwaigen Kriegserklärung üben. Mit einer unbedeutenden deutschen Flotte mochte sich London nichts dabei denken, Deutschland ob eines kleineren Interessenkonfliktes auf kolonialem oder wirtschaftlichem Gebiet anzugreifen. Mit deren Vermehrung mußte das Motiv jedoch an Gewicht gewinnen, damit es das mit der Zerstörung der gegnerischen Flotte verbundene Risiko auch wert war. Nachdem der >Dreadnought-Sprung< die älteren Schlachtschiffe anscheinend entwertet und die Novelle von 1908 ein zeitweiliges >Vierertempo< eingeführt hatte, begann Tirpitz zuversichtlich zu prognostizieren, daß im Jahre 1915 das Risiko eines britischen Angriffs, wie auch immer motiviert, vorüber sein würde53. Im April 1914 war er überzeugt, daß es die deutsche Flotte war, der man den Frieden in Europa zu verdanken hatte54. Nach dem Krieg fügte er als Teil seiner Kampagne gegen Bethmann Hollweg das Argument hinzu, daß die Flotte 1914 die Briten bereits davon abgehalten habe, an irgendeinem Krieg gegen Deutschland teilzunehmen solange Deutschland nicht das Mächtegleichgewicht in Frage stellte. Aber genau dieses Gespenst habe Bethmann Hollwegs unfähige Balkanpolitik heraufbeschworen, behauptete Tir—



pitz55.

Die >Verteidigungs-< oder >Risikoflotte< war im Jahre 1900 ein neues Konzept, und Tirpitz sollte für den Rest seines Lebens von dessen Wirksamkeit und Bedeutung für die deutsche >Seegeltung< überzeugt bleiben. Es steht sich daher die Frage, 52

53

54

55

für seinen Immediatvortrag am 26.9.1911, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 335 f. Vgl. Tirpitz an Bethmann Hollweg, 7.10.1911, in Tirpitz, Politische Dokumente, S. 222; vgl. ebd., S. 282. BA-MA, RM 3/8, Aufzeichnungen St. Blasien, Sommer 1908 (»über die englische Presse«) und »Kriegführung« (Ende 1908); BA-MA, N 253/54, Tirpitz an Bülow, 17.12.1908 (auch in Tirpitz, Politische Dokumente, S. 97 f.); BA-MA, RM 2/1762, Tirpitz an Bülow, 4.1.1909 (auch in Tirpitz, Politische Dokumente, S. 108); Vizeadmiral v. Müller, Protokoll »über eine Sitzung beim Reichskanzler [...] am 3. Juni 1909 zur Frage einer Verständigung mit England über die Flottenrüstung«, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 328; BA-MA, N 253/24b, Tirpitz, Aufzeichnungen für eine Rede am 27.1.1911; Tirpitz an Capelle, 13.9.1911, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpohtik, S. 333. Vgl. Stadelmann, Die Epoche der deutsch-englischen Flottenrivalität, S. 134-136. BA-MA, RM 3/10, Tirpitz an Müller, 30.4.1914 (auch in Tirpitz, Politische Dokumente, S. 421-423); BA-MA, RM 8/1233, Michaelis (1934), S. 23. Tirpitz, Erinnerungen, S. 165, 168, 170, 172, 198 f., 207 f., 213, 219 f., 224, 227 ff., 2.31 f., 234, 246 f.; Tirpitz, Politische Dokumente, S. 6, 339. Vgl. Scheck, Alfred von Tirpitz and German RightWing Politics, S. 131 f. Dieses Argument wurde auch von anderen in der Marine geteilt. Siehe die Exzerpte aus einem Memorandum von 1919, publiziert in Schreiber, Zur Kontinuität des Großund Weltmachtstrebens, S. 134.

Tirpitz, Aufzeichnungen

IL Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

283

ob seine Zeitgenossen und auch spätere Historiker dieses Konzept als vereinbar mit den Doktrinen ansahen, die er in seinen Jahren im Oberkommando entwickelt hatte. 2.

Zahlen, Verbündete und Geographie

An seinem strategischen Denken kann sicherhch vieles kritisiert werden. Was man Tirpitz aber anrechnen muß, ist ein konsequenter Gebrauch der Terminologie, mit der er die Ziele seiner Baupohtik umriß. Die >Risiko-< und >Verteidigungsflotte< wurde um die Jahrhundertwende seiner Liste strategischer Konzepte hinzugefügt, um eine maritime Aufrüstungspohtik zu rechtfertigen, die nicht auf Überlegenheit setzte, sondern deren Ziel die Abschreckung eines Angriffs darstellte. Im Mittelpunkt des Tirpitz-Planes stand die Fähigkeit einer schwächeren, auf die strategische Defensive verwiesenen Flotte, einen überlegenen Gegner abzuschrecken. Auf den folgenden Seiten sollen die verschiedenen Interpretationsmöghchkeiten dieser Theorie untersucht werden sowie die Frage, ob sie sich mit Tirpitz' früherem Verständnis von den Grundregeln der Seekriegführung in Einklang bringen läßt. Um nicht der Versuchung zu erliegen, die Dinge im Lichte heutiger Erkenntnis zu beurteilen, sollen als einzige Meßlatte die Ideen herangezogen werden, die Tirpitz vor 1900 äußerte. In ihrer >militärischen< Bedeutung war Seemacht eine Funktion der Flottenstärke (einschheßhch der möghchen Anrechnung verbündeter Seestreitkräfte), der geographischen Lage der beiden gegnerischen Parteien (sowohl zueinander als auch zu ihren Handelsrouten) und der operativen Doktrinen, welche die Umstände bedenen unter eine Marine die ihr zugeteilten Aufgaben erfüllen konnte. stimmten, Als Deutschland seine Aufmerksamkeit von der französisch-russischen Bedrohung auf seinen fortan »gefährlichste [n] Gegner«56, nämlich Großbritannien, verlagerte, tauschte es eine sehr günstige geostrategische Position gegen eine sehr ungünstige ein. Damit verzichtete es für die absehbare Zukunft auf die Möglichkeit, die Überlegenheit zu erlangen (zumindest ohne Verbündete war ihm dies nunmehr verwehrt). Infolgedessen ersetzte die Marine die Doktrin der strategischen Offensive durch die Risikotheorie. Unter diesen Umständen überrascht es kaum, daß fortan der politischen Bedeutung< der Seemacht ein größerer Stellenwert zukam der abschreckenden Wirkung in Friedenszeiten und der Notwendigkeit, die Flotte entsprechend der fortschreitenden Ausdehnung der deutschen Seeinteressen auszubauen, mit welchen sie in engster Wechselwirkung verbunden war. Diese späteren Konzepte sind sehr vage, und man kann sie unmöglich in eine Analyse der militärischen Fähigkeiten mit einbeziehen. Wir sind an dieser Stelle primär daran interessiert, ob dem Tirpitz-Plan ein kohärentes mihtärisches Kalkül zugrunde lag, d.h. ob die Risikotheorie die Doktrin der strategischen Offensive ergänzte oder ob sie auf ein völlig anderes Verständnis von Seemacht und See—

56

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S.

122.

284

Dritter Teil

welches im Widerspruch zu der Doktrin der strategischen Offensive stand. Daher sollen die verschiedenen Thesen, die über die Fähigkeit der >Verteidigungsflotte< vorgebracht wurden, in Anlehnung an die oben umrissene >militärische< Bedeutung von Seemacht nach den Faktoren Stärkeverhältnis, also Zahlen, und geostrategische Lage untersucht werden. Die Diskussion der >Zahlen
2:3-Flotte< eine Siegeschance haben könne. Hallmann hat auch ein solches Ziel in Abrede gestellt, z.B. S. 250. Im Memorandum kommt der Begriff >Fleet-in-being< nicht vor, gemeint ist aber genau dieses Phänomen.

Berghahn, Hallmann,

69

Dritter Teil

288

sei, Unterlegenheit durch technologischen Vorsprung wettzumachen70. Galster und Assmann verwarfen diese Behauptung sofort als unrealistisch: Die Vorstellung, ein signifikantes Maß an taktischer und technologischer Überlegenheit über die weltgrößte und an Erfahrungen reichste Marine zu gewinnen, sei reines Wunschdenken71. Michaelis, der im RMA vor dem Krieg im engsten Umkreis von Tirpitz gearbeitet hatte, schrieb 1934, daß niemand beabsichtigt habe, eine technologische Überlegenheit auf deutscher Seite als Gegengewicht zur britischen zahlenmäßigen Überlegenheit zu schaffen. Wäre dies bei Tirpitz der Fall gewesen, »hätte er ja nicht die strategische Defensive aus der Deutschen Bucht, sondern die strategische Offensive nach der enghschen Küste befürworten müssen«72. Dennoch läßt sich, nachdem neuere Forschungsergebnisse die Pläne Admiral Fishers aufgedeckt haben, die quantitative Überlegenheit bei den Schlachtschiffen gegen die deutliche qualitative Überlegenheit einer geringeren Anzahl von Schlachtkreuzern einzutauschen73, nicht ausschheßen, daß auf deutscher Seite ähnhche Gedanken gehegt wurden. Was auf jeden Fall gesagt werden kann, ist, daß solange sich keine konkreten Pläne zu einschneidenden taktischen und vor allem technologischen Neuerungen nachweisen lassen, die bloße Hoffnung, daß Quahtät Unterlegenheit wettmachen könne, kaum nennenswertes Gewicht verdient. Tirpitz' Überzeugung von der aussichtsreichen Defensivchance< der >2:3-Flotte< heß sich nicht mit seiner eigenen Doktrin der strategischen Offensive vereinbaren. Er könnte ein Verhältnis von mindestens 3:4 (oder besser) vor Augen gehabt haben, und er könnte geglaubt haben, daß die deutschen Vorteile bezüghch der Kräftekonzentration, Einsatzbereitschaft, Mannschaftsstärken und der Technologie die zahlenmäßige Unterlegenheit wettmachen würden. Es gibt allerdings kein überzeugendes Beweismaterial dafür, daß Tirpitz diese Dinge systematisch durchdacht hatte. Alles deutet eher darauf hin, daß er hoffte, daß sich alles zum Guten wenden würde. Es ist kaum vorsteübar, welches Motiv ihn hätte davon abhalten sollen, Capelle und Dähnhardt darüber aufzuklären, daß ein Verhältnis von 3:4 vonnöten sei, falls er dieses Verhältnis tatsächheh als das Minimum für eine Verteidigung gegen eine britische strategische Offensive angesehen hätte. Ich wollte mich hier aber nicht in mathematischen Spitzfindigkeiten verheren, sondern zeigen, daß es keine klar umrissene Berechnung gibt, welche die Tirpitzsche Daumenregel für die strategische Offensive mit seinem oft deklarierten Ziel einer >RisikoflotteRisikotheorie< und ursprüngheher strategischer Doktrin verändern. Der wirkliche Grund für die Unvereinbarkeit der Risikotheorie mit der Doktrin der strategischen Offensive lag indessen nicht in der Definition der not70 71

72

73

Vgl. Tirpitz, Erinnerungen, S. 115 f. Galster, Welche Seekriegs-Rüstung braucht Deutschland?, S. 10 f.; Assmann, Gedanken, S. 320; Huberti, Tirpitz als »Verschleierungs«-Politiker?, S. 539 f. BA-MA, RM 8/1233, fol. 30. Sumida, In Defence of Naval Supremacy; Fairbanks, The Origins tion.

of the

Dreadnought

Bd 2,

Revolu-

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

289

wendigen Überlegenheit, sondern in dem unterschiedlichen Verständnis von Seekriegführung, auf welchem die beiden Konzepte fußten. In der Dienstschrift IX wies Tirpitz (in Übereinstimmung mit Aube, Mahan und Corbett) darauf hin, daß es unwahrscheinlich sei, daß der Gegner angreifen würde, und daß es daher Sache der eigenen Seite sei, die strategische Offensive an die Küste des Gegners zu tragen und sich selbst die Seeherrschaft zu sichern. Wie nun aber Berghahn festgestellt hat, gründete die Risikotheorie auf der entgegengesetzten Überzeugung, daß nämlich die Royal Navy die Hochseeflotte angreifen müsse74. Ohne diese Voraussetzung hatte diese keine abschreckende Wirkung. Die bisher verbreitete Auffassung von der Kontinuität im deutschen seestrategischen Denken von der Dienstschrift IX bis zur Risikotheorie kann nicht länger aufrechterhalten werden. Gleiches gilt für die Vorstellung, daß die >Risikoflotte< eine verdeckte Bedrohung der britischen Seeherrschaft darstellte ein militärisches Kalkül, welches die politische Offensive untermauerte, die den deutschen Aufstieg —

Weltmacht sicherstellen sollte. Die Risikotheorie war ein defensives, zur Abschreckung ersonnenes Konzept. Betrachtet man es im Lichte von Tirpitz' eigener früherer Doktrin, so fällt es schwer zu verstehen, wie es auch nur als solches hätte funktionieren sollen. Die in diesem Buch vorgestellte Erklärung für diese Kehrtwende im Tirpitzschen Denken sieht in der Risikotheorie den Versuch, der Überzeugung von der politischen Bedeutung< der Seemacht in Friedenszeiten eine militärische Grundlage zu geben. Bei diesem Versuch legte die deutsche Schule das von der preußischen Schule vertretene Verständnis von den grundlegenden Mechanismen der Seekriegführung ab. An dessen Stelle trat eine Theorie, die darlegte, wie eine unterlegene Schlachtflotte in einer nachteiligen Position die deutschen Interessen in Übersee umfassend absichern konnte, indem sie Großbritannien vor dem Krieg zurückschrecken heß dies allerdings zum Preis operativer Verwirrung sowohl vor als auch während des Krieges. Dieses Abschreckungskonzept verlieh dem Wettrüsten mit Großbritannien eine seltsame Wendung. Spätestens 1912 stimmten die britische Admiralität und das RMA darin überein, daß das gleiche Kräfteverhältnis (10:16 in der britischen Fassung bzw. 2:3 in der deutschen) bei den modernsten Schlachtschiffen beiden Ländern ein adäquates Maß an Sicherheit verschaffe. Tirpitz war von diesem Zeitpunkt an überzeugt, daß Großbritannien fortan davor zurückschrecken werde, Deutschland den Krieg zu erklären. Auf der anderen Seite der Nordsee konnte der Erste Lord der Admiralität, Winston Churchill, seiner Nation versichern, daß die deutsche Flotte die lebenswichtigen Interessen Großbritanniens nicht gefährden könne. Diese Übereinstimmung steht sicherhch einen einzigartigen Moment in der modernen Geschichte dar, in dem beide Parteien eines intensiven Wettrüstens sich sicher fühlten, obgleich eine der anderen in beträchtlichem Maße unterlegen war75. Die zur

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75

den Tirpitz von 1894 mit dem Tirpitz von 1904, zit. in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpoktik, S. 89 und Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 362. Vgl. Stadelmann, Die Epoche der deutsch-engkschen Flottenrivalität, S. 131 f. Der Hauptgrund dafür, daß beide Staaten sich 1911/12 nicht auf ein Rüstungsbegrenzungsabkommen verständi-

Vergleiche

Dritter Teil

290

Beharrhchkeit, mit der Tirpitz an seinem ursprünglichen Konzept festhielt, ist noch schwerer nachzuvollziehen, wenn man die Tatsache in Betracht zieht, daß sich seit 1904 neue diplomatische Konstellationen eingestellt hatten, die der deutschen Po-

sition gegenüber Großbritannien zu erhebhchem Nachteil gereichten. Bündnisse. Wenn die deutsche Marine nicht systematisch auf einen signifikanten technologischen und taktischen Vorsprung vor der britischen Marine hinarbeitete, verheß sie sich dann vielleicht auf die Unterstützung anderer Seemächte, um die zahlenmäßige Unterlegenheit der eigenen Schlachtflotte auszugleichen76? Laut der Risikotheorie sollte die deutsche Flotte >den seemächtigsten Gegner< nicht alleine, nicht losgelöst von den übrigen Mächtebeziehungen abschrecken. Vielmehr sollte mit der Selbstaufopferung in einer Schlacht die gegnerische Flotte dergestalt geschwächt werden, daß der angeschlagene Sieger seine Machtposition gegenüber Dritten nicht mehr würde aufrechterhalten können. Die Kalkulation des Risikos, welches eine deutsche Flotte für die britische Vorherrschaft darstellte, hing von den Beziehungen zwischen den anderen Mächten innerhalb des maritimen Gleichgewichtes ab. Deutschland brauchte Verbündete oder die Feindschaft anderer Mächte gegen Großbritannien, oder Deutschland mußte seine Berechnungen darauf gründen, daß sich unter den führenden Seemächten zweiten Ranges allgemeiner Widerstand gegen die britischen Ambitionen regte. Dieses Thema kann daher auf dreierlei Wegen angegangen werden. Erstens ergab sich die Frage, ob Deutschland Bündnisse mit anderen Mächten suchen sollte, um die erstarkende Flotte während der >Gefahrenzone< abzuschirmen. Rußland war augenscheinhch der sich anbietende Kandidat für eine solche Bündnisstrategie. Zweitens: Selbst wenn Deutschland ein solches Bündnis nicht suchte oder es nicht zu besiegeln vermochte, konnte es vielleicht dennoch auf die Feindsehgkeit von anderen Seemächten gegenüber Großbritannien hoffen. Zu dem Zeitpunkt, da das zweite Flottengesetz eingebracht wurde, stand Großbritannien wegen seiner Schikanierung der Buren international isohert da, und sein Verhältnis zum Zweibund war äußerst angespannt ob des Kampfes um die Einflußzonen in Asien und Afrika. Seit Mitte der 1880er Jahre befand es sich in einer maritimen Rüstungskonkurrenz mit Frankreich und Rußland, und im Jahre 1898 kam es in den englischfranzösischen Beziehungen wegen der Fashoda-Krise fast zum Krieg. Drittens: Hatten nicht, abgesehen von der Frage von Bündnissen und Gegensätzen, alle zweitrangigen Seemächte ein gemeinsames Interesse daran, die >Freiheit der Meere< vor den Ansprüchen des >britischen Tyrannen< zu schützen? Auf dieser Voraussetkonnten, lag in dem Umstand, daß Großbritannien nicht die zusätzliche deutsche Forderung akzeptieren konnte, im Falle eines Krieges auf dem Kontinent neutral zu bleiben, nicht aber darin, daß es beiden Parteien unmöglich gewesen wäre, sich auf ein verbindliches Stärkeverhältnis zu einigen. Vgl. Stevenson, Armaments and the Coming of War, S. 174 f. und Lambert, Sir John Fi-

gen

sher's Naval Revolution, S. 251-253, 274. Assmann, Gedanken, Bd 1, S. 190 f. hielt eine aktive Bündnispolitik für eine unerläßliche Ergän-

zung zur Risikotheorie. Es sei der politische Erfolg Großbritanniens gewesen, alle größeren Seemächte gegen Deutschland aufzubringen und so den Fehlschlag der Risikotheorie herbeizuführen. Hubatsch, Der Admiralstab, S. 87 hat ihm zugestimmt, vgl. auch S. 117. Die Frage, die im folgenden untersucht wird, ist, ob Tirpitz während seiner Amtszeit die Situation in diesem Lichte sah.

IL Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

291

zung hatte die französische Marinepohtik im neunzehnten Jahrhundert jahrzehntelang basiert. Im Lichte solcher historischen Präzedenzfälle konnte der mit der >Risikoflotte< verbundene Wille zur Schlacht als Versicherungsprämie gewertet werden nötig, um die Sohdarität der »Staatengemeinschaft der Seestaaten«77 angesichts der von der britischen Vorherrschaft ausgehenden Bedrohung zu aktivieren. Der dritte Deutungsansatz spiegelt das Maltzahnsche Verständnis von der Rolle der >Risikoflotte< und soll im Zusammenhang mit dessen Konzept der Defensivschlacht im letzten Abschnitt behandelt werden. In der ersten Frage zur Rolle, welche Bündnisse in den Tirpitzschen Berechnungen spielten, führen seine Rechtfertigungsbemühungen aus der Nachkriegszeit in die Irre. In seinen Memoiren gab er an, sich von Anfang an der Notwendigkeit einer aktiven Bündnispolitik und der Vermeidung von außenpolitischen Komplikationen zur Abschirmung des Flottenbaus bewußt gewesen zu sein78. In Einklang mit Bismarck behauptete er, Rußland als den natürlichen Verbündeten Deutschlands erachtet zu haben, aber er spekulierte angeblich auch auf die neue, aggressive Seemacht Japan als einen sogar noch attraktiveren möghchen Partner79. Die zeitgenössischen Quellen beweisen aber, daß er nichts unternommen hat, um die Außenpolitik so zu beeinflussen, daß Bündnisse hätten zustande kommen können, welche in der Zeit, da die deutsche Seemacht noch schwach war, ein Mehr an Sicherheit gebracht hätten80. Ein aussagekräftiges Detail, welches die Herkunft dieser Argumente aus der Nachkriegszeit verrät, ist die Tatsache, daß Tirpitz nie die historische Rolle der Vereinigten Staaten als konsequenten Widersacher der britischen maritimen Ansprüche, als potentiellen Verbündeten zur See oder zumindest als Gegengewicht zu Großbritannien im Weltgleichgewicht thematisiert hat. Als sich die Reichsleitung im Winter 1904 und in der ersten Hälfte des Jahres 1905 um ein Bündnis mit Rußland bemühte, reagierte er mit offenem Protest81. Er sah Bündnisse als Verwicklungen an, welche die Gefahr des Krieges mit Großbritannien nur erhöhten, ehe die deutsche Flotte stark genug wäre, dieser Aussicht ins Auge blicken zu können82. Bündnisfähigkeit war in seinen Augen etwas, wodurch sich eine fertiggestellte Flotte auszeichnete, nicht aber ein notwendiges Komple—

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78 ™ 8(1 81

82

Maltzahn, Der Seekrieg, S. 115. Tirpitz, Erinnerungen, S. 81, 154, 109; vgl. Tirpitz, Aufbau, S. VII. Tirpitz, Erinnerungen, S. 142, 150- 155. Stadelmann, Die Epoche der deutsch-engkschen Flottenrivalität, S. 112-118. Vgl. Tirpitz an Richthofen, 1.11.1904, in Tirpitz, Erinnerungen, S. 143-146. Vgl. Steinberg, Germany and the Russo-Japanese War, S. 1981. Am 11.7.1914 hat sich Tirpitz dann für ein Bündnis mit Rußland ausgesprochen, allerdings hauptsächlich deswegen, weü er Bethmann Hollweg daran hindern wollte, zu einer Übereinkunft mit Großbritannien zu gelangen. Vgl. Tirpitz, Erinnerungen, S. 150; Berghahn/Deist, Kaiserliche Marine und Kriegsausbruch, S. 46; Epken-

hans, Die wilhelminische Flottenrüstung, S. 400 f., 404. Vgl. Tirpitz' Unterredung mit Hohenlohe im Jahre 1898: »Tirpitz schließt, alle England feindliche Poktik müsse solange beruhen, bis wir eine Flotte hätten, die so stark wäre wie die engksche. Das Bündnis mit Rußland und Frankreich würde uns nichts nützen.« Zit. nach Hohenlohe-Schillingfürst, Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit, S. 464; vgl. auch Kennedy, The Development of German Naval Operations

Plans, S.

176.

292

Dritter Teil

ihres Wachstums83. Erst der Verteidigungsflotte, die anzugreifen Großbritannien nicht mehr wagte, heß sich die magnetartige Wirkung der >Seegeltung< zuschreiben: Während der abstoßende Pol es verhinderte, daß die Tore zu den Zollfestungen der anderen Weltmächte ins Schloß fielen, zog der andere Pol die Bünd-

ment

nispartner an. Wenn Tirpitz die Flotte in ihrer Aufbauphase, d.h. während der >Gefahrenzonefreien Handc Sie teilten die Grundannahme, daß Großbritannien und Rußland ihre globalen Differenzen nicht würden überwinden können84. Für von Bülow hieß dies, daß er eine forsche Weltpohtik verfolgen konnte, obgleich die Flotte, welche die sichere mihtärische Grundlage für eine Abschreckung Englands bereitstellen konnte, noch nicht fertiggestellt war. Er glaubte ohnehin, daß es sich nur um wenige Jahre handeln könne, bevor Deutschland gegen einen Angriff von See her gefeit sein würde85. Tirpitz hoffte darauf, daß die Bedrohung, welche die Flotten Frankreichs und Rußlands für Großbritannien darstellten, in London die Angst vor dem Schaden, den die schwächere deutsche Flotte in einer Schlacht verursachen könnte, schüren würde. Wenn der Erfolg der Tirpitzschen Politik von der Fortdauer der britischen Streitereien mit Dritten abhing, so konnte, laut Aussage einiger Historiker, nach Abschluß der britischen Ententen mit Frankreich (1904) und Rußland (1907) definitiv keine Aussicht auf Erfolg mehr bestanden haben86. Tatsache aber ist, daß Tirpitz weiterhin an die abschreckende Wirkung der >Risikoflotte< glaubte, auch nachdem deren außenpolitische Bedingung außer Kraft gesetzt worden war87. Im Herbst 1911 erkannte er, folgt man seinen Aufzeichnungen für eine Audienz beim Kaiser, daß sich in den vorangegangenen sieben Jahren eine regelrechte diplomatische Revolution ereignet hatte88. Er bheb aber davon überzeugt, daß die Gefahr eines britischen Angriffs spätestens ab 1915 gebannt sein würde. Hieraus ergibt sich die Schlußfolgerung, daß Tirpitz in einer >2:3-Flotte< das ausreichende Minimum für die Abschreckung gegen Großbritannien sah ungeachtet der diplomatischen Konstellation. Ein Bündnis mit Rußland war vor Fertigstellung der >Risikoflotte< nicht wünschenswert. Der russisch-französische Gegensatz zu Großbritannien stellte für Deutschland in der Gefahrenzone einen entscheidenden Vorteil dar; aber selbst als dieser Gegensatz in ein faktisches Bündnis aufgelöst -

83 s4 s5 8f'

87 88

Tirpitz, Erinnerungen,

S. 51, 106. Vgl. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd 2, S. 184 f.; Marienfeld, Wissenschaft und Schlachtflottenbau, S. 76 f. Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie, S. 204 f.; Winzen, Bülows Weltmachtkonzept. Lambi, The Navy, S. 158 f. Stadelmann, Die Epoche der deutsch-englischen Flottenrivalität, S. 133 f.; Marienfeld, Wissenschaft und Schlachtflottenbau, S. 78; Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd 2, S. 185. Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 290 f.; Kelly, The Naval Policy, S. 312.

Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 337. Tirpitz hat augenscheinlich für seinen Vortrag andere Notizen benutzt (siehe ebd., S. 335 f.), auf die bereits Bezug genommen worden ist und in denen sich der angeführte Gedankengang nicht findet.

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

293

wurde, sollte die >2:3-Flotte< von sechzig Großkampfschiffen noch die Wirkung erzielen, Großbritannien vor dem Kriegseintritt zurückschrecken zu lassen und so den Frieden in Europa wahren. Die Risikotheorie sollte selbst dann funktionieren,

Deutschland so isohert wäre, wie Großbritannien es um die Jahrhundertwende gewesen war. Geographie: Die außergewöhnlich ungünstige Lage Deutschlands zu den großen Handelsrouten im Atlantik wurde von vielen erkannt, ebenso die Gefahr einer Fernblockade durch einen westlichen Gegner89. Allein die technologischen Entwicklungen machten es unwahrscheinhch, daß die britische Schlachtflotte eine Nahblockade der deutschen Häfen riskieren würde. Und einige Planer des Admiralstabes erkannten gelegenthch, daß es im Interesse Großbritanniens hegen müsse, eine Blockade durchzuführen, ohne ein größeres Gefecht zwischen den Schlachtflotten wagen zu müssen90. Dennoch sollte, wie Paul Kennedy betont hat, die Tatsache, daß einige der Tirpitzschen Dogmen zur Strategie von anderen Offizieren in Frage gestellt wurden, nicht davon ablenken, daß seine Ideen während seiner Amtszeit die deutsche Marinepohtik überschatteten91. Insbesondere war das Flottenbauprogramm seinem Konzept der strategischen Defensive in der Nordsee, wie es sich in der Risikotheorie niederschlug, verpflichtet. Daher ist es durchaus lohnend, zu untersuchen, welche Vorstellungen Tirpitz selbst entwickelte, um den Problemen, welche sich mit der überaus ungünstigen geographischen Lage Deutschlands auftaten, zu begegnen. Lambi und Kennedy, die beiden Historiker, welche die detaillierteste Analyse zum operativen Denken in der deutschen Marine vorlegten, stimmten darin überdaß ein, Tirpitz die bewußte Verdrängung des schhmmsten Falles vorzuwerfen sei. Wenn der neuernannte Staatssekretär Tirpitz im Juni 1897 glaubte, daß Frankreich eine Fernblockade im Kanal und im Norden Englands errichten würde, so Lambis vernichtendes Urteil, »the same course of action could be expected from the British. Tirpitz had thus placed his finger on the most vulnerable point in the operational planning against Britain before World War I and on the futility of his own program92.« Und Kennedy wies darauf hin, daß gerade das Konzept der Risikoflotte eine Fernblockade wahrscheinhcher gemacht habe: >for the more he believed in the risk theory and the deterring of a British attack, the less convindng was his assumption that the Royal Navy would immediately rush into dangerous German waters«95. Vielleicht läßt sich die psychologische Blockade mit der persönlichen Überzeugung des Staatssekretärs von der politischen Bedeutung der Seemacht/ erklären. Zumindest räumte Tirpitz im Jahre 1907 ein, daß das Erstarken der Hochseeflotte vermutlich das Gros der britischen Blockadekräfte weiter hinaus in die Nordsee

wenn

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93

Vgl. Assmann, Gedanken, S. 195 f.; Rosinski, Strategy andS.Propaganda, S. 89 f.; Partridge, The Royal Navy; Gemzell, Organization, Conflict and Innovation, 75-79. Vgl. Büchseis Notizen von 1901 und seine Anmerkungen von 1906, zit. in Kennedy, Strategie Aspects, S. 149 f.; Lambi, The Navy, S. 401-405. Kennedy, German Naval Operations Plans, S. 189-193. Lambi, The Navy, S. 143. Kennedy, Tirpitz, S. 47; Kennedy, Strategic Aspects, S. 149 (Hervorhebung im Original); Kennedy, German Naval Operations Plans, S. 192.

294

Dritter Teil

zwingen würde und daß die britische Schlachtflotte sich auf keine Schlacht einlassen mußte, um den deutschen Handel an den Eingängen der Nordsee zu strangu-

lieren94. In einer solchen Situation könne Deutschland weder darauf hoffen, an der britischen Küste Truppen zu landen noch sie zu blockieren. Deutschland könne den Krieg nur an die Heimatfront des Gegners tragen, indem es den rücksichtslosesten und entschlossensten Krieg gegen dessen Handel führte. Seine Empfehlung war die übhche: Deutschland müsse damit fortfahren, seine Flotte auszubauen, wollte es nicht als Weltmacht abdanken. Der Staatssekretär und der Rest der Marine müssen ziemlich beunruhigt gewesen sein, als Galster der Öffentlichkeit sechs Monate später einen ähnlichen schhmmsten Fall vorstellte, da dieser Schlußfolgerungen zog, die dem Kurs der Marineentwicklung diametral entgegenstanden. Dies ereignete sich nur Wochen vor der Veröffentlichung einer Novelle, welche die deutsche Schwäche durch eine Beschleunigung des Bautempos für Großkampfschiffe verringern sollte. Wie Tirpitz sagte auch Galster voraus, daß der deutsche Seehandel mit Ausbruch des Krieges zum Erhegen kommen würde. Eine Nahblockade der deutschen Küste sei hierfür nicht erforderhch; Kreuzer und Zerstörer, die den nördlichen Zugang zur Nordsee überwachten, könnten jedes Schiff am Passieren hindern95. In scharfem Kontrast zum RMA und zur navalistischen Propaganda allgemein bestritt Galster, daß die Risikoflotte an diesen strategischen Tatsachen würde rütteln können. Es sei falsch zu glauben, die Schlachtflotte könne gegen Großbritannien den Frieden aufrechterhalten und dadurch Handel und Kolonien schützen96. Weitere Schlachtschiffe würden an dieser Situation nichts ändern, solange die deutsche Flotte unterlegen bhebe. Galster versicherte seinen Lesern, daß Großbritannien mit Bhck auf die Verteidigung seiner lebenswichtigen Interessen sowohl den Willen als auch die Mittel besitze, seine Überlegenheit zu wahren. Wie Tirpitz sprach sich auch Galster dafür aus, den britischen Seehandel entschlossen anzugreifen. In krassem Gegensatz zu dem, was in der Novelle vorgesehen war, schlug er eine Umverteilung der Ressourcen vor, nämlich Kürzungen beim Bau von Großkampfschiffen und Investitionen in die Waffensysteme des Kleinkrieges (Untersee- und Torpedoboote), so daß die einzig wirkliche Bedrohung der britischen Interessen, über die Deutschland verfügte, an Potential gewinnen würde. Ganz im Geiste des Tirpitz von 1894 erklärte er, warum ein paar zusätzliche Schlachtschiffe zum Schütze der deutschen überseeischen Verbindungslinien nichts würden ausrichten können. Unter strategischen Gesichtspunkten war dies die niederschmetterndste Kritik an der Baupolitik des RMA zu Tirpitz' Zeiten, und sie enthielt nichts, was quer zur Doktrin der strategischen Offensive gelegen hätte. Der einzige Weg, auf dem Deutschland seine Handelsinteressen und Interessen in Übersee schützen könne, bestehe darin, so Galster, die zahlenmäßige und geographische Unterlegenheit der deutschen Marine zu überwinden97. '» 95 «' '"

Tirpitz an Bülow, 20.4.1907, in Die große Politik, Bd 23/2, S. 359- 367. Galster, Welche Seekriegs-Rüstung braucht Deutschland?, S. 8 f. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16 f.

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

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Tirpitz scheint sich auf Galsters Argumente zur Fernblockade und zu der mit dieser gegebenen Wirkungslosigkeit einer unterlegenen Schlachtflotte nicht eingelassen zu haben. Er konzentrierte sich darauf, dem Reichstag zu beweisen, daß das RMA die notwendigen Schritte zur Entwicklung der Waffensysteme des Kleinkrieges in die Wege geleitet habe, wobei er gleichzeitig betonte, daß eine solche Kriegführung für sich alleine genommen keine ernsthafte Bedrohung für die britische

Flotte darstellen könne98. Seine Antwort auf die Gefahr, daß eine Fernblockade das Konzept der >Risikoflotte< wirkungslos machen würde, war, daß er noch stärker auf die Dringlichkeit des Baus einer >Risikoflotte< pochte! Unlogisch wie dieser Gedankengang erscheint, regt er dazu an, nach dem >wirklichen< oder >versteckten< militärischen Kalkül zu suchen, welches ihm eine gewisse Kohärenz geben könnte. Laut Kennedy könnte der Tirpitzschen Pohtik dann ein strategisches Grundprinzip, welches die Widersprüche auflösen würde, unterstellt werden, wenn Tirpitz' äußerstes Ziel darin gelegen hätte, Großbritannien zu überrunden und die größte Flotte der Welt zu bauen: »the one solution which would remove the disadvantages of Germany's geographical position, would allow her to play the role of a world power unhindered by fears of the Royal Navy and would secure her that worldpolitical freedomFreiheit der Meere< unterstützt hat. Trotz der unlängst Jahren Interventionen erfolgten Washingtons in sowohl den Buren- als auch den RusKrieg sisch-Japanischen spiegeln diese Dokumente kein Verständnis von der traditionellen Rolle der Vereinigten Staaten als dem führenden Verteidiger neutraler Rechte und dem potentiellen Kopf einer Koalition, welche sich der britischen Seehegemonie entgegenzustehen bereit war. Die Möghchkeit, daß die Vereinigten Staaten sollte das potentielle Gegengewicht nicht die hinreichend abschreckende Wirkung erzielen Großbritannien dennoch dazu zwingen könnten, das Seerecht einzuhalten, und so dessen Fähigkeit zur unbeschränkten Wirtschaftskriegführung gegen Deutschland schwächen könnten, wurde überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Büchseis Operationsplan war im Gegenteil Ergebnis der Grundsätze der deutschen Schule. Die wirkliche Abschreckung stellte die künftige >Risikoflotte< dar; da Großbritannien darum wußte, würde es danach trachten, die erstarkende Schlachtflotte zu zerstören, bevor es dazu zu spät war. Die Vereinigten Staaten würden Großbritannien vielleicht zurückzuhalten versuchen, um ihren Handel mit Deutschland zu erhalten, falls London aber nicht ausreichend abgeschreckt würde, würde es sich daran machen, seinen Industrie- und Handelsrivalen zu beseitigen. In diesem Fall würde Washington, ob seiner noch wertvolleren wirtschaftlichen Verbindungen zu Großbritannien, letzteres nicht daran hindern, den deutschen Handel zu vernichten114. Die Royal Navy würde die Nordsee überqueren und mit überlegener Macht den Sieg in einer Entscheidungsschlacht zu erringen suchen. (Mit keinem Wort fanden hier die im Operationsplan des Vorjahres diesbezüghch vermerkten Zweifel Erwähnung)115. Danach würde sie mittels einer Nahblockade die Nordseehäfen sowohl Deutschlands als auch der Neutralen Holland und Belgien —

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abriegeln. Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

301

Die Deutschland offen stehenden Optionen waren kurz gefaßt folgende: Es konnte eine Reihe von Erfolgen in kleineren Gefechten in Heimatgewässern zu erzielen versuchen oder in Einklang mit der >Geiseltheorie< einen Krieg gegen Frankreich beginnen116. Mit dem einen war das Vorhaben verbunden, Teilverbände des Gegners in die Ostsee zu locken. Dies erforderte auch die Unterstützung der Armee bei der Sicherung der Kontrolle der Küstengebiete Dänemarks und Schwedens (ein Unterfangen, für welches sich Schheffen weigerte, Truppen zur Verfügung zu stellen)117. Die andere Option, der Krieg gegen Frankreich, würde das Schicksal Deutschlands in die Hände der Armee legen. Die Invasion oder Aushungerung der Britischen Inseln war ohne die dauerhafte Seeherrschaft unmöghch, es sollten aber Angriffe auf den Handel unternommen werden, damit die Folgen des Krieges spürbar würden. Vollerthun verwarf den Gedanken an einen Weltkrieg gegen das Britische Empire mit Rußland auf der Seite Deutschlands der spätere Chef des Marinekabinetts, Müller, allerdings stellte allen Ernstes Überlegungen dieser Art an118. Ohne ins Detail gehen zu müssen, wird erkennbar, daß vermuthch keine dieser Optionen große Erfolgsaussichten geboten hätte. Genau jene andauernde und unaufgelöste Spannung zwischen dem Versprechen des Tirpitz-Planes einer künftigen Sicherheit durch Abschreckung und der gegenwärtigen Unsicherheit heizte den fortwährenden Konflikt zwischen Admiralstab und RMA an119. Der Admiralstab wollte mehr für die Kriegsbereitschaft ausgegeben wissen, das RMA gab dem Schiffbau Priorität, und die Operationsplanung fristete ein Leben auf dem Abstellgleis wann immer sie die ihr vom RMA auferlegten Grenzen überschritt, wurde sie in ihre Schranken verwiesen120. Der Konflikt im Fernen Osten veranlaßte den Admiralstab, sich mit einem weiteren Aspekt der Kriegsbereitschaft auseinanderzusetzen: mit den Regeln des Seekriegsrechtes. Büchsel stellte einen Vergleich der unterschiedhchen Positionen an, die Großbritannien, die anderen Mächte und Deutschland bezüglich der zentralen Bestimmungen des Seerechts einnahmen, und kam zu dem Schluß, daß die deutschen Interessen in diametralem Gegensatz zu den britischen standen121. Die Besonderheit der Büchseischen Behandlung der -







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121

Hubatsch, Der Admiralstab, S. 114; Raulff, Zwischen Machtpoktik und Imperiaksmus, S. 77 f., 89; Lambi, The Navy, S. 243 f. Hubatsch, Der Admiralstab, S. 120; Steinberg, The Copenhagen Complex, S. 36 f.; Kennedy, German Naval Operations Plans, S. 180; Lambi, The Navy, S. 247, 256. Müllers Memorandum für Prinz Heinrich, 8.2.1905, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der

wilhelminischen Weltpoktik, S. 316 f. Laut Lambi (The Navy, S. 252) deutet das Vollerthun-Memorandum den Konkurs des TirpitzPlanes an. Was die Konflikte über die Kriegsbereitschaft anbelangt, siehe Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 286, 289-296, 339 f., 344 ff, 354, 374-379, 473 f.; Steinberg, Germany and the Russo-Japanese War, S. 1980; Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpoktik, S. 312-316; vgl. BA-MA, RM 3/2597, RM 2/2005, RM 3/8 (Briefwechsel 1908-1909), RM 5/304 und N253/24b (Briefwechsel 1911). Zur Operationsplanung im Jahrzehnt vor dem Krieg siehe neben Kennedy und Lambi auch Gemzell, Organization, Conflict and Innovation. BA-MA, RM 3/3892, 27.8.1904, Büchsel, Fragen des Völkerrechts in ihrer Bedeutung für unsere Kriegführung; Dülffer, Limitations on Naval Warfare, S. 28 schreibt: »This position thus required the most restrictive possible interpretation of prize law«. In Wirklichkeit nahm Großbritannien

302

Dritter Teil

Frage lag darin, daß er die Regeln der Aufbringung auf See ausschheßhch aus dem Bhckwinkel einer deutschen Offensive gegen den britischen Handel betrachtete. Er hat sich nicht dazu geäußert, wie die Einschränkungen der Rechte der Kriegführenden oder die damit korrespondierende Erweiterung der Rechte der Neutralen für die Verteidigung des deutschen Handels von Vorteil sein könnten. Letzteres war etwas, womit sich Stenzel beschäftigt hatte und von dem Caprivi zumindest erkannte, daß es eine wichtige Frage war. Die Rechtfertigung für die blockadebrechende Flotte, die Deutschland in ihren Augen bauen sollte, war, daß sie eine legale Blockade der deutschen Häfen verhindern und so neutralen Frachtschiffen und schnellen deutschen Handelsschiffen das Erreichen der Häfen ermöglichen sollte. Vor allem erkannten beide Männer auch, daß das Kräfteverhältnis zwischen den Hauptkriegführenden und den neutralen Seemächten bestimmen würde, inwieweit die Rechte der Neutralen respektiert werden würden. Büchsel ging davon aus, daß Großbritannien eine enge Definition von Konterbande unterstützen würde, weil es ihm als einem der Kriegführenden dann möghch wäre, diesen Nachteil auf hoher See durch die Errichtung einer Blockade wieder wettzumachen. Es besteht kein Zweifel, daß die Royal Navy 1904 über die notwendige Überlegenheit verfügte, um eine effektive und daher legale Blockade der deutschen Nordseeküste errichten zu können. Unter der Ägide des Tirpitz-Planes aber ging der Admiralstab außerdem davon aus, daß Großbritannien den gesamten Überseehandel abschneiden, d.h. auch noch die niederländischen und belgischen Häfen blockieren würde. Diese Prognose nahm keinerlei Notiz von der Dreiecksbeziehung zwischen Kriegführenden und Neutralen, einer Beziehung, aus der sich doch fortgesetzt Spannungen hinsichtlich der Definition von Konterbande wie eng man sie auch immer faßte und Widerstände gegen die Ausweitung der Blokkade auf neutrale Mächte ergeben würden. Der britischen Allmacht würde offenbar nichts entgegengesetzt werden noch nicht einmal dann, wenn eintreffen sollte, was als schhmmster und zugleich wahrscheinhchster Fall galt: ein britischer merkantihstischer Präventivkrieg zur See ohne kontinentale Dimension. Daher bestand in der Sicht des Admiralstabes keine Veranlassung, den Wert eingeschränkter Rechte der Kriegführenden für die Verteidigung des deutschen Handels zu diskutieren; wirklich wichtig war, daß man die Möghchkeiten nutzte, die sich mit der Ausweitung der Rechte der Kriegführenden auftun würden, um den britischen Handel anzugreifen und die Zivilbevölkerung der Britischen Inseln die Folgen des Krieges spüren zu lassen. Unter dem Einfluß der Seemachtideologie verzichtete die Marine darauf, die traditionelle Unterstützung einer schwächeren Seemacht zugunsten der begrenzten Rechte der Kriegführenden und der erweiterten Rechte der Neutralen beizubehalten, womit eine Position aufgegeben wurde, welche Preußen schon 1785 dazu gebracht hatte, mit den Vereinigten Staaten einen Vertrag über die Freiheit der Meere zu unterzeichnen122. So kam es zu einer Trennung zwischen der Haltung der Marine zur Reform des Seerechts und der Haltung, die alle ande—





eine restriktive Position

122

zu den Rechten der Kriegführenden ein, wohingegen tergefaßte Interpretation Deutschlands Interessen gelegener erachtete. Vgl. Hobson, Prussia.

Büchsel eine wei-

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

303

ren Ressorts einnahmen. Im Oktober 1904 regte der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt an, auf der geplanten zweiten Friedenskonferenz auch die Regeln des Seekrieges in die Tagesordnung aufzunehmen. Eine Besprechung der damit befaßten Ressorts gelangte im November zu dem Ergebnis, »that a complete abolition of the right to take prizes is extremely desirable for Germany. The navy has pointed out that in this way it would be free from the task of having to protect our merchant marine in case of war123.« Da der Schutz der Seeinteressen des Reiches die erklärte Raison d'être des Flottenbauprogramms darstellte, würde eine solche Reform die Frage aufwerfen, ob die Schlachtflotte für Verteidigungszwecke wirklich vonnöten war. Tirpitz reagierte prompt mit einem radikalen Positionswechsel. Er behauptete, es sei nötig, das Seebeuterecht vor dem Hintergrund offensiver Seekriegführung aufrechtzuerhalten, um Großbritannien das Gewicht der deutschen Seemacht fürchten zu lehren oder fühlen zu lassen. Vor der ersten Haager Friedenskonferenz (1899) hatte der Staatssekretär festgestellt, daß die deutsche Flotte zu schwach war, den deutschen Handel zu schützen, und ebenfalls zu schwach, den des Gegners anzugreifen. Er kam folghch zu dem Schluß, daß es im Interesse Deutschlands hege, das Seebeuterecht abzuschaffen, er riet aber davon ab, aktiv etwas in dieser Richtung zu unternehmen, um dem Eindruck von Schwäche vorzubeugen (und vielleicht so seine geplante Novelle abzusichern). Fünf Jahre später sprach er sich nachdrücklich gegen die Abschaffung aus. Er schrieb an Oswald Freiherr von Richthofen, den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, am 2. Dezember 1904, daß die Abschaffung des Seebeuterechts nur den Interessen Großbritanniens dienen würde, da das Recht zur Blockade nach wie vor Bestand hätte und bis auf weiteres nur Großbritannien über die notwendige Stärke verfügen würde, um eine solche zu errichten. Bhebe das Seebeuterecht erhalten, würde Großbritannien auf der anderen Seite erkennen, daß auf einen möglichen deutschen Sieg in einer Seeschlacht eine Bedrohung seines Handels entlang der Ostküste, einschheßhch Londons, folgen könnte: »Diese Möghchkeit ist es recht eigentlich, die uns dazu verhelfen kann, von England in Zukunft al pari behandelt zu werden124.« Aus taktischen Gründen aber riet Tirpitz dazu, daß sich die deutsche Delegation auf der Konferenz nicht öffentlich gegen die Abschaffung aussprechen sollte. Jost Dülffer hat dies sehr treffend kommentiert mit den Worten: »This view implied an almost classic definition of deterrence125.« Bei dieser Sichtweise sollte Tirpitz 1906 und 1907 während der Vorbereitungsphase für die zweite Haager Friedenskonferenz bleiben. Bei genauerer Untersuchung besticht das Argument jedoch nur auf den ersten Bhck, so daß es vielleicht nicht verkehrt wäre, es als einen weiteren Versuch zu beschreiben, dem Dogma der politischen Bedeutung der Seemacht< einen militärischen Sinn zu unterlegen. Hierzu mußten verschiedene auf der Seemachtideologie basierende Voraussetzungen gegeben sein. So mußten die der britischen Gegnerschaft zugrundehegenden merkantilistischen Motive hervor123

124 •25

Zit. in Dülffer, Limitations on Naval Warfare, S. BA-MA, RM 5/997, fol. 55. Dülffer, Limitations on Naval Warfare, S. 29.

28 ff.

Dritter Teil

304

gehoben wie umgekehrt die vorhandene abschreckende Wirkung des maritimen Gleichgewichts ignoriert werden (dies zusammen mit der Möghchkeit, daß dieses Gleichgewicht dafür sorgen könnte, daß das Seerecht weiterhin respektiert würde). Sodann mußte die Vorstellung, daß sich die Royal Navy würde verpflichtet fühlen, sich unter für sie ungünstigsten Bedingungen vor Helgoland auf Kampf und Niederlage einzulassen, aufrechterhalten und schheßhch die Angst der >City< vor einem Angriff auf ihren Handel zumindest so hoch eingeschätzt werden wie ihre Mißbilligung der deutschen Handelskonkurrenz. Wie im Falle der 1895 und 1896 vorgenommenen Nutzung der Seemachtideologie fällt es auch hier schwer, dies von Tirpitz' persönhchem und institutionellem Interesse an der Beibehaltung des Flottenbauprogramms zu trennen. Dieser Zusammenhang wird des weiteren verdeutlicht durch die Untersuchungen des RMA zur deutschen Abhängigkeit vom Überseehandel. 1906 publizierte das RMA eine aktualisierte Statistik zu den deutschen Seeinteressen. Dem lag offensichthch die Intention zugrunde, der Behauptung Vorschub zu leisten, daß die Novelle des gleichen Jahres dem notwendigen Schutz jener exponierten Interessen diene. Im März initiierte das RMA eine Studie über die Verwundbarkeit Deutschlands gegenüber einer Blockade. Wie Lothar Burchardt hervorgehoben hat, stellte die Marine ständig ein Worst-case-Szenario vor, indem sie Gefahren übertrieb, Statistiken falsch darstellte sowie andere Abhilfen als die der gesteigerten Seerüstung ausblendete126. Ein mittlerweile bekanntes Argument soll hier der Veranschauhchung dienen: Solange Im- und Exporte durch benachbarte neutrale Häfen fließen könnten, so schrieb Tirpitz dem preußischen Kriegsminister, würden sich die Folgen einer Blockade auf die Küstengebiete begrenzen lassen. Der Gegner würde aber danach trachten, dies zu verhindern, indem er die Blockade auf die belgischen, niederländischen und dänischen Häfen ausweiten würde. Vermutlich müsse er eine solche Maßnahme nicht einmal rechtfertigen, da wohl keine der wichtigen Parteien wirksamen Einspruch erheben würde127. (Tirpitz war gut beraten, auf die letzte Behauptung nicht näher einzugehen, da es ihm schwer gefallen wäre, in der Geschichte einen einzigen Fall von einer Blockade neutraler Häfen zu finden, der keine Proteste und wirkungsvollen Gegenmaßnahmen nach sich gezogen hätte.) Ein beigefügtes Memorandum zeichnete eine pessimistische Zukunftsvision und kam zu dem Schluß, daß nur der Bau einer Schlachtflotte das Unheil abwenden könne128. Ein zweites Ziel der Aktivitäten des RMA zu jener Zeit lag darin, Einfluß zu nehmen auf die Haltung, welche Deutschland auf der zweiten Haager Friedenskonferenz zu den Regeln des Seekrieges einnehmen würde. Im Frühjahr 1906 setzte auf Initiative des Auswärtigen Amtes unter den verschiedenen Ressorts ein reger Gedankenaustausch ein. Wieder einmal standen die Vertreter der Marine in ihrer ablehnenden Haltung zu der Abschaffung des Seebeuterechts allein da; die anderen erkannten, daß Deutschland als eine schwächere Seemacht mit ausgedehnten und 126 127 128

Burchardt, Friedenswirtschaft, S. 72 f., 163 f., 184 f.

Tirpitz an Karl v. Einem, 13.3.1906, in Der Weltkrieg, S. 205- 207. Burchardt, Friedenswirtschaft, S.

184 f.

11. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

305

verwundbaren See- und Handelsinteressen ein Interesse daran haben mußte, die Rechte der Kriegführenden einzuschränken, und daß es daher die Abschaffung des Seebeuterechts unterstützen sollte129. Die Untersuchung der wirtschaftlichen Verwundbarkeit des Reiches im Krieg markierte im Sommer 1906 einen Höhepunkt der Koordination zwischen den Ressorts130. Als die Haager Konferenz näher rückte, griff Tirpitz in einem letzten Versuch der Einflußnahme mit verschiedenen Memoranden in die Diskussion ein (Burchardts Einschätzung nach waren diese Memoranden »[v]om Standpunkt kriegswirtschaftlicher Friedensarbeit wertlos«)131. Seine Gegner unter ihnen Posadowsky, der Staatssekretär des Reichsamtes des Innern, und der preußische Handelsminister Delbrück sowie der Botschafter in Großbritannien, Metternich gingen davon aus, daß Großbritannien das Seebeuterecht beibehalten wolle, und forderten deswegen, daß Deutschland dessen Abschaffung unterstütze, damit es während eines Krieges einige Importe retten könne132. Tirpitz vertrat die genau gegenteihge Meinung und stützte sich darauf, daß die Feindseligkeit, die Großbritannien mit Blick auf die Wirtschaft Deutschland gegenüber an den Tag lege, viel stärker sei, als sie vermuteten: Die Bedrohung sei größer, und nur die Marine verfüge über die Mittel, einen Angriff zu vereiteln. Für Tirpitz war es selbstverständlich, daß die Pohtik der britischen Regierung sich an den Interessen der »City« orientierte und dies seit Jahrhunderten. Auf der einen Seite bedeutete dies, daß sie, ob des wirtschaftlichen Wettbewerbs, einen merkantilistischen Präventivkrieg zur Ausschaltung eines Rivalen führen würde. Mahan habe gezeigt, wie ähnliche Motive Großbritannien dazu veranlaßt hätten, frühere Rivalen wie Spanien, Holland und Frankreich auszuschalten, erinnerte er seine Leser133. Auf der anderen Seite mache die Abhängigkeit der britischen Regierung von der »City« die Pohtik auch in verstärktem Maße sensibel für wirtschaftlichen Verlust. Deshalb sei es für Deutschland lebenswichtig, eine glaubwürdige Bedrohung für den britischen Handel in der Hand zu haben. Die Beibehaltung des —





129 130

Dülffer, Limitations on Naval Warfare, S. 30 ff; Die große Politik, Bd 23/1, Nr. 7814, Anm. 83 f. Nachkriegsstudie des Marinearchivs der Reichsmarine sei genannt G. Schramm, Die Reichs-

Als

regierung und die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung Deutschlands für den Weltkrieg, BA-

131

132

133

MA, RM 8/138; vgl. vor allem Burchardt, Friedenswirtschaft, passim, nachfolgendes Zitat S. 187. Tirpitz an den Staatssekretär des Reichsamts des Innern, 28.1.1907, als Anlage das Memorandum des RMA, in Der Weltkrieg, S. 218-223. Die vier folgenden Schriftstücke sind in BA-MA, RM 2/1760, Tirpitz an Bülow, 28.2.1907 (auch in Die große Poktik, Nr. 8003); Tirpitz an MüUer, 23.4.1907, als Anlage das Tirpitz-Memorandum, Über die Bedeutung des Seebeuterechts, 20.4.1907 (auch in Die große Poktik, Nr. 8006); Tirpitz an Bülow, 29.4.1907 (auch in Die große Poktik, Nr. 8007, hier fehlt aber eine Anzahl der im Original vorhandenen Zitate von Autoritäten zum Völkerrecht). Weitere Beiträge finden sich in Die große Poktik, Bd 23/1,2. Überbkcke über die Debatte finden sich in BA-MA, RM 3/3897, 3898, die größtenteils die Londoner Konferenz und deren Nachspiel (1908-1911) abdecken. Tschkschky an Bülow, 26.2.1907, Die große Politik, Nr. 8002; Delbrück, 6.3.1907, zit. in Dülffer, Limitations on Naval Warfare, S. 33; Posadowsky an Bülow, 20.3.1907, BA-MA, RM 8/82; Metternich an Bülow, 21.3.1907, Die große Poktik, Nr. 8005; dito, 12.5.1907, Die große Poktik,

Nr. 8008. Die große Poktik, S. 350, 362. Metternich wies diese Behauptung zurück, vgl. ebd., S. 377. Während seiner gesamten Amtszeit als Botschafter warnte er die Reichsleitung, daß das Flottenprogramm und nicht die wirtschaftliche Rivaktät Hauptursache der britischen Distanzierung von Deutschland sei.

306

Dritter Teil

Seebeuterechts würde nicht nur Großbritannien abschrecken, sie stelle auch Deutschlands wichtigstes Druckmittel dar, um Großbritannien in einem Krieg an den Konferenztisch zu zwingen134. Tirpitz war von der Wirklichkeit dieser Bedrohung so überzeugt, daß er glaubte, Großbritannien werde sich auf der Konferenz für die Abschaffung des Seebeuterechts stark machen. Als Metternich darauf hinwies, daß Fisher und Grey gegen die Abschaffung waren, unterstellte er sogar, daß dies ein reines Täuschungsmanöver sei, um leichtgläubige Gegner zu einer Haltung zu veranlassen, die in Wahrheit den britischen Interessen diene. In einem Krieg könnte es diese Gegner dann blockieren, ohne Vergeltungsschläge auf seinen Handel befürchten zu müssen. Deutschland solle der Abschaffung des Seebeuterechts nur dann zustimmen, forderte er, wenn Großbritannien auf das Blockaderecht verzichtete. Posadowsky und Metternich glaubten im Gegensatz hierzu, daß die nationale Sicherheit Deutschlands durch die Abschaffung gewinnen würde. Die Abschreckung würde an Gewicht noch zunehmen, da die Fähigkeit Großbritanniens, die deutschen überseeischen Interessen empfindhch zu treffen, begrenzt wäre und während eines Krieges ein höheres Maß an Importen aufrechterhalten werden könnte. Tirpitz verband seine Forderungen mit strategischen Argumenten, die seine Beweggründe weiter erhellen können. In seinem Brief an Bülow vom 20. April 1907 erklärte er das dem Abschreckungskonzept zugrundehegende militärische Kalkül: Sollte Deutschland einen Schlachtensieg erringen, wäre die Handelskriegführung das notwendige Mittel, um Großbritannien zum Frieden zu zwingen; sollte Deutschland in der Schlacht eine Niederlage erleiden, so wäre sie das einzige Mittel, sich akzeptable Friedensbedingungen zu sichern135. Dieses Szenario ähnelte dem von Büchsel drei Jahre zuvor beschriebenen und fußte auf der für die Risikotheorie grundlegenden Prämisse, daß der Royal Navy nichts übrig bleiben würde, als die Nordsee zu überqueren und sich der Hochseeflotte zur Schlacht zu stellen. Wie schon im vorangegangenen Abschnitt erwähnt, ging Tirpitz in dem beigefügten Memorandum zum ersten Mal die Optionen der Marine durch, sollte sich diese Situation nicht einstellen. Im Falle einer weiten Blockade käme seiner Meinung nach nur ein rücksichtsloser Handelskrieg und die Beschießung von Küstenstädten und Häfen in Frage, wollte man die »City« die Folgen des Krieges spüren lassen. Aus diesem Grunde würde die Beibehaltung des Seebeuterechts der Erhaltung des Friedens dienen136. Es fallt an dieser Stelle schwer, im historischen Rückblick ein gewisses ungläubiges Erstaunen zu verbergen: Kann Tirpitz wirklich geglaubt haben, daß diese Bedrohung die >City< dazu veranlassen würde, der britischen Regierung Zurückhaltung zu diktieren? Diese Frage findet eine zeitgenössische Antwort in dem bemerkenswerten Weitbhck, den Metternich bewies bezüghch der Wirkung von der schoder Städte und an der britischen Ostküste, wo des Handels nungslosen Zerstörung 134

135 156

Die große

Politik, S. 350, 352. Metternich wies dieses Argument zurück, vgl. ebd., S. 354, so auch

Posadowsky am 20.3.1907, BA-MA, RM 8/82. Die große Politik, S. 360. Ebd., S. 365.

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

307

doch die meisten Importe durch die Atlantikhäfen kamen. Wenn der Staatssekretär nicht zu beweisen vermöge, daß Deutschland die britische Existenz durch das Abschneiden von den Hauptversorgungsquellen bedrohen könne, so riet der Botschafter am 12. Mai bissig, sei es wohl das beste, ein Recht des Kriegführenden abzuschaffen, welches für den Gegner von viel größerem Nutzen sei137. Die weitere Geschichte der Diskussion um das Seebeuterecht soll hier nur skizziert werden. Das Auswärtige Amt schloß sich Metternich an und schlug vor, die Abschaffung des Seebeuterechts zu unterstützen. So bheb es der traditionellen Haltung Preußen-Deutschlands treu und arbeitete auf ein engeres Verhältnis mit den Vereinigten Staaten hin. Tirpitz erwirkte bei Wilhelm II. dessen ausdrückliche Unterstützung für die Beibehaltung138. Großbritannien sprach sich, obgleich sich Tirpitz so sicher gewesen war, nicht für die Abschaffung des Seebeuterechts aus. Die Diskussion um die Behandlung von Privatbesitz auf See im Krieg konzentrierte sich auf die Definition von Konterbande und nicht auf das Seebeuterecht und fand ein vorläufiges Ende mit Abschluß der Londoner Seerechtsdeklaration

(1909)139.

Eine viel dringlichere Frage ist an dieser Stelle: Warum hat Tirpitz so sehr auf die abschreckende Wirkung des Seebeuterechts gesetzt? Seine Überzeugung von dem jahrhundertealten und entscheidenden Einfluß der >City< auf die britische Politik, von ihrem Groll gegen die deutsche Handelskonkurrenz und von ihrer Angst vor wirtschaftlichen Einbußen war offensichtlich von zentraler Bedeutung für seine Argumentation. Diese Überzeugung spielte seit Anfang 1896 in seine Gedanken zu einem enghsch-deutschen Krieg hinein. Doch die strategischen Schlüsse, die er daraus zog, wandelten sich über die Jahre. Von Ende 1895 bis zur Verabschiedes zweiten dung Flottengesetzes (1900) brachte er diese Argumentationsfigur verschiedentlich ins Spiel, um den Abschreckungseffekt der >Risikoflotte< zu verdeutlichen. Seit 1906 bediente er sich ihrer, um die abschreckende Wirkung des Handelskrieges in der Nordsee zu begründen. Dies deutet an, daß es sich bei dieser Überzeugung nicht nur um eine reine Glaubensfrage handelte, sondern auch um ein nützhches, vielseitig einsetzbares Instrument. Wie Dülffer festgestellt hat, diente die nahezu marxistische Hervorhebung des Einflusses der >City< und ihres >Handelsneids< Tirpitz' Anhegen, die negative politische Wirkung, welche das Flottenbauprogramm auf die deutsch-englischen Beziehungen hatte, in den Hintergrund treten zu lassen: »The navy, whose construction program had been a major factor in accelerating the international arms race, was made to appear here as an influence for creating and maintaining peace140.« Zudem ist es denkbar, daß diese Akzentuierung des Einflusses der >City< eine zusätzliche militärische Abstützung für die politische Bedeutung der Seemachtx hefern sollte, die als Resultat der erstarkenden Flotte erwartet wurde. Der angebhche strategische 137

138 139 1411

Ebd., S. 376. Die große Politik, Nr. 8009 und Anm. auf S. 378; vgl. Bülows Anweisung der deutschen Delegation am 14.6.1907, ebd., Nr. 7958. Siehe

vor

allem

Coogan, End of Neutrality.

Dülffer, Limitations on Naval Warfare, S. 35.

Dritter Teil

308

sich auf der anderen Seite der Nordsee dem Kampf zu um die abschreckende Wirkung der >Risikoflotte< erklären zu können. Als man jedoch begriff, daß Großbritannien zu einem solchen Zug nicht gezwungen sein könnte, schien der Handelskrieg die einzige Alternative zu sein die Wirksamkeit jedoch schien zweifelhaft. Die Betonung der Sensibihtät der >City< mit Bhck auf Handelsverluste leistete dieser Option jedoch Vorschub und stellte so die Abschreckungswirkung der Schlachtflotte wieder her auch für den Fall, daß die Royal Navy die Offensive mittels einer Strategie der offenen oder weiten Blockade umgehen sollte. Das Blendwerk, mit dem Tirpitz die Abschaffung des Seebeuterechts zu verhindern suchte, könnte daher als Versuch beschrieben werden, die Lücken, die das eine zweifelhafte militärische Kalkül hinter dem Dogma der politischen Bedeutung< der Seemacht gelassen hatte, mit einem anderen (und nicht minder zweifelhaften) zu schheßen. Das Ergebnis all dessen war, daß die Marine unter Tirpitz ein Verständnis von der maritimen Dimension nationaler Sicherheit förderte, welches quer zur traditionellen Pohtik Preußens und des frühen Deutschen Reiches sowie zu der der anderen Ressorts lag. Anstatt in der Stärkung der Rechte der Neutralen und in der Einder Rechte der Kriegführenden Faktoren zu erkennen, welche die Sischränkung cherheit eines schwächeren Seestaates stärkten, verfolgte die Marine unter Tirpitz eine Pohtik, die eher für die vorherrschende Seemacht geeignet war. Anstatt das Seerecht unter dem Bhckwinkel der Verteidigung exponierter Interessen zu betrachten, versuchte sie, Gelegenheiten für offensive Operationen zu schaffen. Anstatt die Abschreckungstheorie in den Rahmen des maritimen Gleichgewichts der Mächte zu betten, folgte sie Prämissen, die zu beweisen schienen, daß nur die Deutschland zur Verfügung stehenden militärischen Mittel einen potentiellen Gegner von einem Angriff abbringen könnten. Infolgedessen hat sie nie die gemeinsamen Interessen der zweitrangigen Seemächte mit berücksichtigt. Selbst als die Aussicht auf die amerikanische Unterstützung in die Überlegungen einbezogen wurde, ging man davon aus, daß die Beweggründe Washingtons ausschließlich auf ein Abwägen seiner Handelsbeziehungen zu Großbritannien und Deutschland zurückgingen und nicht auf ein gemeinsames Interesse an der >Freiheit der MeereHandelsneids< wurde übertrieben; die Einschränkungen des britischen Handlungsspielraumes durch das maritime Gleichgewicht und das darauf gestützte Seerecht wurden ignoriert, und als Allheilmittel zur Behebung der Defizite nationaler Sicherheit schwor man auf die Stärkung der Hochseeflotte ungeachtet der operativen Gegenmaßnahmen, welche die Royal Navy ergriff, um dieses Machtpotential zu neutrahsieren. AU dies kann mit dem Einfluß der Seemachtideologie auf das strategische Denken erklärt werden. Die weitere Entwicklung der deutschen Schule zeigt, wie andere sich darum bemühten, dem Dogma einer expansio-

Zwang

der

Royal Navy,

stellen, hatte eingeführt werden müssen,

-

-



nistischen

Ideologie einen militärischen Sinn zu geben.

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

4. Von Maltzahn bis

seestrategischen Denkens

309

Wegener: Die deutsche Schule und Geopolitik

Auf theoretischer Ebene war Freiherr Curt von Maltzahn in der Tirpitz-Ära der führende Vertreter der deutschen Schule. In den frühen 1880er Jahren war er als Schüler Stenzels an der Marine-Akademie gewesen, war dort ab Mitte der 1890er Jahre selbst Lehrer und entwickelte, wie schon erwähnt, ein theoretisches Interesse. 1899 übernahm er den Posten des Lehrers für Seekriegsgeschichte und -Strategie, den Stenzel zweimal innegehabt hatte. Er führte Kriegsspiele als Ergänzung zum Studium der Seekriegsgeschichte und als Mittel der Manöveranalyse ein141. Im folgenden Jahr wurde er zum Direktor der Marine-Akademie ernannt, wurde allerdings schon 1903 auf Betreiben von Tirpitz in den Ruhestand verabschiedet. In den sich anschheßenden zehn Jahren trugen ihm seine Publikationen, vor allem eine detaillierte Studie zum Russisch-Japanischen Krieg, die internationale Anerkennung als führender deutscher Marinetheoretiker ein. Unter Maltzahns Publikationen können jene, die seine Lehre spiegeln, dazu dienen, die Richtung zu verdeuthchen, in die sich die deutsche Marinetheorie bewegte, nachdem sie unter den Einfluß Mahans geraten war. Erstens: Die von Stenzel eingeführte Clausewitzsche Herangehensweise ist immer noch deuthch feststellbar. Bei Maltzahn äußerte sich dies in dem bedingungslosen Festhalten an dem Dogma der Entscheidungsschlacht als des einzigen Mittels der Seekriegführung. Zweitens: Maltzahn übernahm Mahans Ideen zum Verhältnis zwischen Seeinteressen und Marinen und auch dessen Überzeugung von den wirtschaftlichen Vorteilen, die aus der Seeherrschaft in Friedenszeiten erwüchsen. Allerdings scheint er nicht das Tirpitzsche Verständnis von >Seegeltung< als einer politischen Kraft in Friedenszeiten, die einen stärkeren Gegner irgendwie von einem Angriff abhalten ktinne, geteilt zu haben. Stattdessen entwickelte Maltzahn das Konzept der >DefensivschlachtDefensivschlachtFleet-in-being< auszuüben, so mußte die strategische Offensive dazu übergehen, die Herrschaft auszuüben, ohne diese durch eine Schlacht gewonnen zu haben. Die Voraussetzung für eine solche Blockade war Im Rückbhck auf die 1920er Jahre urteilte William

machtstrebens, S. 143 144 145 146

130. Zur Weitergabe der Tradition von der ersten zur zweiten Generation siehe Tirpitz an Trotha (den neuen Chef der Admiraktät), 20.9.1919, und Trotha an Tirpitz, 5.10.1919, in Trotha, Großadmiral von Tirpitz, S. 158-162. BA-MA, N 164/4, fol. 7; vgl. Tirpitz, Erinnerungen, S. 121.

Maltzahn, Was lehrt das Buch. Maltzahn, Seestrategie (Besprechungen zu Corbett, Mahan, Naval Strategy, beide 1911 vcröffentkcht). Ebd., S. 880 f.

Some

Principles

of Maritime

Strategy

und

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

311

signifikante zahlenmäßige Überlegenheit. Maltzahn ignorierte die Ähnlichkeidieser ten beiden Argumente und sperrte sich gegen das Verständnis von der besonderen Natur der Seekriegführung, das ihnen zugrunde lag. Eine Erklärung hierfür ist, daß Maltzahn von der Mahanschen Verbindung von Seeinteressen und Flottenstärke beeinflußt war. Dies veranlaßte ihn, seine Theorie der >Defensivschlacht< zu entwickeln, die vorgebhch ein militärisches Fundament für die Risikotheorie heferte: Indem die schwächere Seemacht die für einen Sieg von der stärkeren Seemacht zu tragenden >Kosten< parallel zu der Steigerung des Stellenwertes der Seeinteressen schrittweise anhob, konnte sie diese von einem Angriff abschrecken und die überseeische Expansion der Wirtschaft sichern. Das Konzept der >Defensivschlacht< barg den zusätzhchen Vorteil, daß die Schlacht im Zentrum der Flottenpohtik bheb. Dies heß die unbequeme Einsicht des Admiral Aube verstummen, daß, je größer sich das Risiko für die Schlachtflotte unter modernen Bedingungen gestaltete, es um so unwahrscheinhcher würde, daß es überhaupt zu Entscheidungsschlachten kommen würde. Maltzahn glaubte fest daran, daß einzig die Schlachtflotte Deutschland in Friedenszeiten einen Anteil an der Weltwirtschaft sicherte: je stärker die Flotte, desto größer dieser Anteil. Die Art und Weise, wie Maltzahn mit der >Jeune Ecole< umging und wie er die Bedeutung der Schlachtflotte in Friedenszeiten hervorhob, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die von Mahan inspirierte wirtschafthche Interpretation von Seemacht das deutsche seestrategische Denken beeinflußte. Im ersten Band seiner >Geschichte unserer Taktischen Entwicklung< (1910) ging Maltzahn ausführhch auf Aube und die >Jeune Ecole< ein. Er räumte sogar ein, daß ihre Theorien zu einem gewissen Grad ihre Berechtigung hätten. Welche Zweifel sie zum Wert des Schlachtschiffes aber auch immer gesät haben mochten, sie seien durch den Naval Defence Act von 1889 zerstreut worden. Der Versuch Großbritanniens, durch eine überwältigende Überlegenheit an Schlachtschiffen seine weltwirtschaftliche Vormachtstellung zu sichern, habe andere Staaten, die auch einen »Anteil an der See« wollten, gezwungen, es ihm nachzutun: »der bewaffnete Friede mit seinem Wettrüsten begann, der die Alleinherrschaft Englands, die Interessegemeinschaft der anderen Seestaaten, je nach der wirtschafthchen und politischen Konstellation zu Gruppen vereint, gegenübergestellt hat147.« Führt man den Gedankengang weiter, so konnte Großbritannien in der geschilderten Situation die strategische Motivation für einen Angriff auf die gegnerische Flotte bei Ausbruch des Krieges finden. Aube (wie die Dienstschrift IX) hatte überlegt, daß der Wille zur Schlacht angesichts der modernen Technologien nachlassen könne. Maltzahn bemühte sich um den Nachweis, daß wirtschaftliche Motive ihn beleben würden. Je stärker die wirtschafthche Abhängigkeit eines Landes eine

sei,

so schrieb er, desto größer sei dessen strategische Motivation, die zu zerstören. Für ein Land, das so vollständig auf das Meer Flotte gegnerische sei wie Großbritannien für das die Beherrschung des Meeres die angewiesen all darstelle seiner Güter stehe, so Maltzahn, die Vernichtung der Grundlage vom

Meer





147

Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 1, S. 26 f.

Dritter Teil

312

gegnerischen Streitmacht, Kriegsziel schlechthin148.

d.h. die

Erringung

der

Seeherrschaft,

synonym für das

Stenzels Besessenheit von der Entscheidungsschlacht ging sicherlich auf >landmilitärisches Denken< zurück, doch war dies im Falle Maltzahns und anderer Vertreter der deutschen Schule keineswegs die einzige Erklärung. Maltzahns Version der Risikotheorie stand sehr unter dem Einfluß der Seemachtideologie. Auch Ratzeis Darstellung der besonderen Natur des Seekrieges bestärkte ihn in seiner Fixierung auf die Entscheidungsschlacht149. Sowohl die Seemachtideologie als auch Ratzel heferten Maltzahn Argumente, welche die Risikotheorie in ein anderes Verständnis von der Abschreckungswirkung des maritimen Gleichgewichtes einbetteten, als es die preußische Schule hatte. Maltzahns Theorie von der Defensivschlacht gegen die Seeherrschaft ist in den Aufzeichnungen zu einem Vortrag aus dem Jahre 1898 zu finden150. Er setzte mit der Aussage ein, daß das Ziel des Seekrieges die Erringung der Sceherrschaft mittels der Schlacht, der Weg die strategische Offensive mit überlegener Streitmacht sei. Es müsse aber auch, so argumentierte er, eine strategische Defensive geben. Wenn dem nicht so wäre, so besäßen Flotten zweiten Ranges ja keine Existenzberechtigung. Ziel eines solchen Kampfes gegen die Seeherrschaft müsse daher sein, »den Gegner nicht die Früchte der Seeherrschaft pflücken [zu] lassen«151. Die Hauptaufgabe der Schlachtflotte bestehe darin, die Seeherrschaft des Gegners wenn möghch mittels einer »Defensivschlacht« so weit als möglich von der eigenen Küste weg aufs offene Meer zurückzudrängen, so daß sich ihr Möghchkeiten für Angriffe auf die Verbindungslinien des Gegners eröffnen würden. Maltzahn gab frank und frei zu, daß ein solches Ziel sowohl den Lehren der Geschichte als auch den Maximen der Theorie zuwiderlaufe152; er glaubte aber, daß es möghch war, der gegnerischen Flotte Schaden zuzufügen, ohne das Risiko der Zerstörung der eigenen Flotte in einer Schlacht eingehen zu müssen. Wie dies vonstatten gehen sollte, heß er offen. Zu diesem frühen Zeitpunkt also, als das erste Flottengesetz noch die Hürden im Reichstag zu nehmen hatte, umriß Maltzahn eine Version der späteren Risikotheorie, die fester im mihtärischen Denken verankert schien als Tirpitz' eher vage Aussage über die politische Bedeutung< der >SeegeltungDer Seekriege die Maltzahn 1906 veröffentlichte, wies er auf eine Interessensolidarität zwischen vielen Staaten mit Seeinteressen hin, welche die maritime Autokratie eines Staates unerträglich fänden. Er bezeichnete die gegenwärtige Situation, die er als Ergebnis der seit den 1890er Jahren auf dem Gebiet der Seerüstung unternommenen internationalen Anstrengungen beschrieb, als die »Staatengemeinschaft der Seestaaten« oder den »bewaffneten Frieden zur See«156. Zweitrangige Seemächte mit wachsenden weltwirtschaftlichen Verbindungen hätten ein gemeinsames Interesse an der Aufrechterhaltung des maritimen Gleichgewichtes, welches den Zugang zu überseeischen Verbindungshnien und Märkten gewährleiste157. Dieses gemeinsame Interesse gewähre der Sicherheit Deutschlands die allerletzte Garantie gegen die Zerstörung durch eine überlegene Seemacht. In einer bemerkenswerten Passage stellte er zu den wahrscheinlichen Folgen eines britischen Angriffs auf den wirtschaftlichen Rivalen folgende Frage: »wird nicht die Machtverschiebung, die eine gänzhche Niederwerfung Deutschlands dem Sieger bringen würde, uns Bundesgenossen werben, würde nicht die Kriegsdrohung sie 154

»Der Kampf gegen die Seeherrschaft«, S. 15 f. Nachdem die amtlichen Politik geworden war, publizierte Maltzahn auch Versionen dieses Konzeptes, vgl. »Das Meer als Operationsfeld«, S. 424; Der Seekrieg, S. 112. Wegener, The Naval Strategy of the World War, S. 39-43, 109, 159. Zit. nach Wegener, Seestrategie, S. 21, 57, 68; diese hier zitierte Ausgabe von 1941 weicht an einigen wenigen Stellen von der ersten Ausgabe ab. Maltzahn, Der Seekrieg, S. 113, 115; vgl. Maltzahn, Nelson, S. 272 f. und die Passage aus Maltzahn, Geschichte unserer taktischen Entwicklung, Bd 1, S. 27, die bereits zitiert wurde. Vgl. Maltzahn, Friedensvorbereitung, S. 8.

BA-MA,

RM

Risikotheorie

"55

156

15V

8/1120, Maltzahn, zur

Dritter Teil

314

schon schaffen158?« Nach Ansicht Maltzahns würde eine solche Garantie nur dann funktionieren, wenn Deutschland eine >Risikoflotte< besäße, die entweder einem überlegenen Gegner in einer Defensivschlacht schweren Schaden würde zufügen können oder sich jenen Staaten, die bereit wären, durch ihre Zusammenarbeit den Krieg überhaupt zu verhindern, als Bündnispartner anböte. Nur letztere Aussage überzeugt. Daß eine zweitrangige Marine Teil eines maritimen Gleichgewichts darstellen würde, welches Großbritannien daran hindern würde, seine erdrückende Überlegenheit zur See zur Ausschaltung von Konkurrenten einzusetzen, ist jedem verständhch. Daß sie hingegen stark genug sein mußte, um durch ihre Selbstaufopferung der britischen Flotte schweren Schaden zufügen und so einer gemeinsamen Intervention zusätzhches Gewicht verleihen zu können, erscheint als eine vollkommen unnötige Voraussetzung. Bei sonst gleichen Bedingungen würde eine >Fleet-in-being< der anti-britischen Koalition genauso viele Schiffe zur Verfügung stellen (oder sogar noch mehr britische Blockadeeinheiten binden), wie sie in einer Defensivschlacht würde vernichten können. Unter Berücksichtigung der Vermutung verschiedener Seemachttheoretiker, daß sich eine schwächere Flotte in größerer Vernichtungsgefahr befand als ein vergleichbar schwächeres Heer, würde die heroische Aufopferung der >Risikoflotte< wahrscheinlich nicht viel mehr erreichen, als daß sie den deutschen Einfluß im maritimen Mächtegleichgewicht auf Jahre hinaus auslöschen würde159. Und was sollte geschehen, sollte sich die überlegene Flotte gegen das Risiko schwerer Verluste entschließen und die Seeherrschaft ohne den vorherigen Sieg in einer Schlacht ausüben? Hätten die Neutralen jetzt, da die deutsche Flotte nicht zerstört wäre, ein geringeres Interesse daran, die Strangulierung des deutschen Handels zu verhindern? Tatsächhch berücksichtigte Maltzahn dies, indem er darauf aufmerksam machte, daß die Liste der Konterbandegüter bis zu einem Punkt erweitert werden könne, an dem die Ausübung des Seebeuterechts und des Durchsuchungsrechts auf hoher See sich in der Wirkung der einer Blockade nähere. Doch würde ein solcher Versuch, die Wirkung einer Blockade zu erzielen, ohne das hohe militärische Risiko einzugehen, eine solche tatsächhch auch zu errichten, sicherlich den Protest der Neutralen hervorrufen, prognostizierte der hier zuversichthche Maltzahn. Die britische Papierblockade während der Napoleonischen Kriege, die als Ausweitung des Seebeuterechts auf Neutrale beschrieben werden könne, sei nur so lange möghch gewesen, wie die Neutralen zu schwach gewesen seien, um sich zu wehren160. Ungeachtet der Überlegungen Maltzahns war die Risikotheorie überflüssig hinsichtlich der grundlegenden Sicherheitsgarantie, welche die gemeinsamen lebenswichtigen Interessen der Gemeinschaft maritimer Staaten darstellten. Marinen zweiten Ranges besaßen gleichviel, ob sie nun alleine etwas gegen eine überlegene Macht ausrichten konnten oder nicht eine Raison d'être als potentielle Partner in einer maritimen Koalition zur Aufrechterhaltung der >Freiheit der Meerec Die Risikotheorie postulierte im Gegensatz hierzu, daß sich die abschreckende Wirkung

uns





158

159 lf'°

Maltzahn, Der Seekrieg, S. 112; vgl. S. 120 und Maltzahn, Friedensvorbereitung, S. Wie schon zuvor erwähnt, war dies Galsters Kritik an diesem Konzept. Maltzahn, Der Seekrieg, S. 108.

16 f.

II. Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

315

einer unterlegenen Flotte proportional zu jedem neuen Schlachtschiff, welches in Dienst gestellt wurde, steigerte. Maltzahn teilte mit Tirpitz die Auffassung, daß eine solche Abschreckung nötig sei, um Deutschland die überseeische Expansion im Industrie-, Kolonial- und Handelssektor zu ermöghchen seinen »Anteil an der See«161. In dem Maße, in dem letzterer zu glauben schien, die politische Bedeutung< der Seemacht oder >SeegeltungRisikoflotte< in Zusammenhang mit seiner Theorie der Defensivschlacht und bot ein wirtschaftliches Motiv für den notwendigen Zwang zur Offensive. Doch schien sein Versuch, diese Theorie in eine merkantihstische Neuinterpretation der Abschreckungsmechanismen des maritimen Gleichgewichtes einzubetten, die Sinnlosigkeit der Strategie der Risikotheorie eher noch zu bekräftigen. Im Falle Maltzahns tritt auch noch ein dritter bedeutender Einfluß auf das deutsche seestrategische Denken hervor. Clausewitz und Mahan waren offensichtlich zentral für sein Verständnis der Theorie des Krieges, bzw. der Marinegeschichte; es war aber Friedrich Ratzel, der ihm den Rahmen vorgab, innerhalb dessen er gegenwärtige weltpolitische Entwicklungen interpretierte. In seinem einflußreichen Werk Politische Geographie< erstmals veröffenthcht im Jahre 1897 beschäftigte sich Ratzel mit den »geographischen Grundlagen der Seeherrschaft«. Im Januar 1900 stimmte er in den Chor der Akademiker ein, die das zweite Flottengesetz unterstützten, indem er die relevanten Kapitel aus seinem früheren Werk unter dem Titel >Das Meer als Quelle der Völkergröße< veröffentlichte162. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Ratzel durch Mahan und andere zeitgenössische imperiahstische Schriftsteller auf die Bedeutung >des Meeres< aufmerksam wurde. Sein persönhcher Beitrag zu dem, was später als Geopolitik bekannt wurde, war das Konzept vom Staat als einem biologischen Organismus, der sich den Gesetzen der Natur gehorchend auf die Suche nach größerem >Lebensraum< für seine Bevölkerung begeben müsse. (Ratzel prägte den Begriff >Lebensraum'>



Rosinski, Strategy and Propaganda, S. 70. BA-MA, N 607/1, Haushofer an Wegener, 22.6.1933. Mehr zu dieser Verbindung findet sich in Korinman, De Friedrich Ratzel à Karl Haushofer, S. 204-206. Mögkcherweise ist der Artikel, auf den Haushofer Bezug nimmt, derselbe, auf den sich Korinman bezieht, obgleich der Autor als

Georg und nicht als Wolfgang gekennzeichnet ist (Wegener, Erdraum und Schicksal). Zu Haushofer siehe Raffestin/Lopreno/Pasteur, Géopoktique et histoire, S. 119-132; Smith, The Ideological Origins, S. 218-223. Ratzel, Das Meer als Quelle, S. 71 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 62,64. Ebd., S. 43-45. Ebd., S. 69, 70, 73 f. Ebd., S. 38 f. (Hervorhebung im Original), 79.

IL Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

.317

der auf dem entscheidenden Punkte eine kampffähige Flotte zusammenbringt, setzt den Großstaat matt171.« Ratzeis »Gesetz der Seeherrschaft« hatte für Maltzahn als Theoretiker der Seestrategie große Bedeutung. Es heferte den wissenschaftlichen Beweis für seine Behauptung, daß die Clausewitzschen Grundsätze gleichermaßen auch für den Seekrieg galten. Der Seekrieg verlieh ihnen sogar noch größeres Gewicht. Die Schlacht zur See war noch entscheidender, da sie weitreichendere Folgen hatte; die Konzentration der Streitkräfte war eine absolute Notwendigkeit. Konnte es irgendeinen Zweifel darüber geben, daß die Schlacht das einzige Mittel der Seekriegführung war? Dennoch war diese Schlußfolgerung nicht zwingend. Denn, wie Admiral Aube als erster hervorgehoben hatte, je deutlicher man sich die ungeheuren Folgen einer Schlacht vor Augen führte, desto unwahrscheinlicher wurde es, daß sie tatsächlich stattfinden würde. Moderne Seekriege tendierten laut Aussage der >Jeune Ecole< nicht dazu, mittels der konzentrierten Macht der Schlachtflotten schnell entschieden zu werden, sondern sich zu dem langen aufreibenden Ringen eines >Guerre industrielle< auszuwachsen. Durch Ratzel aber bot sich Maltzahn die Möghchkeit, seine abstrakten Prinzipien mit solidem geographischen Wissen und der modernen Wissenschaft zu untermauern, und er schöpfte diese Möglichkeit auch voll aus. Im Januar 1904 hielt er einen Vortrag am Institut für Ozeanographie an der Berhner Universität172. Sein Ziel, so erklärte er seinen Hörern, hege darin, Operationen und Gefecht aus dem Bhckwinkel ihrer Abhängigkeit von der See zu erörtern und Seestrategie wie -taktik mit Hilfe einer Disziphn, die sich dafür eigne nämlich der Geographie eine wissenschafthche Grundlage zu verschaffen. Die beiden Autoritäten, derer er sich während seines Vortrages durchgehend bediente, waren Ratzel und Clausewitz. In Anbetracht des weiteren Einflusses der Geopolitik auf das deutsche seestrategische Denken erweist sich als interessantester Aspekt dieses Vortrages, daß Maltzahn, auf der Basis von Ratzeis »Gesetz der Seeherrschaft«, ausdrücklich verneinte, daß die geographische Lage für die Seekriegführung irgendeine Rolle spiele. Dieser Schluß unterschlägt einige scharfsichtige Beobachtungen, die Ratzel zu genau diesem Thema in >Das Meer als Quelle der Völkergröße< angestellt hatte. Maltzahn war sich aber sicher, daß es allein auf die Flotte ankam, da die Vernichtung in einer Schlacht das oberste Gesetz war173. An diesem Punkt stieß das Zusammenspiel von Geopohtik und deutschem seestrategischen Denken der Vorkriegszeit an seine Grenzen. Maltzahn war froh dar-



111 172 173

Ebd., S. 77 f. Maltzahn, Das Meer als Operationsfeld. Ebd., S. 278 f. (Maltzahns Betonung des Gesetzes von Ratzel. Andere Beispiele für seine dieses Gesetz betreffende Anlehnung finden sich in Maltzahn, Friedrich Ratzel, S. 219 und Maltzahn,

Der Seekrieg, S. 68.) Auf den Seiten 425 f. von >Das Meer als OperationsfekU erörtert Maltzahn die Bedeutung von Stützpunkten wie Gibraltar, Hawaii und den Dardanellen und weist darauf hin, daß diese erst durch eine Flotte strategisches Gewicht erhalten hätten; er verwarf aber das Argument, daß eine besonders günstige Lage die strategische Bedeutung einer Flotte erhöhen könne.

318

Dritter Teil

über, sich an dem Ratzeischen Gesetz der Seeherrschaft orientieren zu können, um

sich noch stärker auf die Entscheidungsschlacht zu konzentrieren. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Besonderheiten des Seekrieges, auf die er in der Geopolitik gestoßen war, verstärkten das bei Mahan entliehene wirtschaftliche Motiv und die von Clausewitz übernommenen philosophischen Überlegungen über Mittel und Zwecke des Krieges. Maltzahn konnte sich aber nicht mit der Ratzeischen Diskussion um die Besonderheiten der deutschen geographischen Lage im Verhältnis zu den atlantischen Handelsrouten und den Folgen, die sich hieraus für die Seestrategie ergaben, anfreunden. Maltzahns Verwendung von Mahan und Ratzel zeigt das Ausmaß, mit dem er nach zusätzhchen Begründungen zur Untermauerung seiner Überzeugung von der Risikotheorie und dem Bau der Schlachtflotte suchte, obgleich oder vielleicht weil er erkannte, daß das Konzept einer >Verteidigungsflotte< mit der Marinegeschichte und der Theorie des Seekrieges im allgemeinen wie auch mit der Dienstschrift IX im besonderen unvereinbar war. Ratzel selbst war weit davon entfernt, sein Gesetz der Seeherrschaft anzuführen, um die Bedeutung der geographischen Lage für die Wirksamkeit von Seemacht zu bestreiten. Zwei Jahre vor Mahan hatte er darauf hingewiesen, daß die geographische Konfiguration der Nordsee bedeutende Folgen für die geostrategische Position Deutschlands hatte174. Während die Ostsee ein umschlossenes Meer darstelle, sei die Nordsee vor allem Passage zum Atlantik. Nordseemächte wie Großbritannien, die auch eine Küste zum Atlantik hatten, verfügten über einen Vorteil gegenüber jenen Mächten wie Deutschland, die weiter abgelegen waren. Der Kanal sei das Tor zum Atlantik. Wie ein Stadttor, so verleihe die durch solch schmale Gewässer ermöglichte Kontrolle über den Zugang demjenigen, der sie ausüben könne, einen beherrschenden Einfluß über das gesamte Meer und erlaube es ihm, die Zugänge zu schheßen und Zölle zu erheben175. In einer Betrachtung zu eben diesen geographischen Gegebenheiten merkte Mahan zwei Jahre später an: »distance is a factor equivalent to a certain number of ships176.« In dieser Aussage und in der Ratzeischen Erörterung der These vom »Tor« zum Atlantik sind die Vorlagen für Wolfgang Wegeners Kritik an den Annahmen der deutschen Seestrategie der Vorkriegszeit kaum zu übersehen. Wie schon Maltzahn und Ratzel verstand Wegener die »Seeherrschaft« als die Fähigkeit, die »Handelswege zu kontrollieren«177. Seemacht definierte er als das Produkt aus Flottenstärke und geographischer Lage zu den großen Handelsrouten; sei einer dieser Faktoren gleich Null, sei auch der andere null und nichtig. Die Distanz der deutschen Nordseehäfen zum Atlantik bedeute, daß Großbritannien die deutschen Verbindungslinien mittels einer Fernblockade kontrollieren könne: die Seeherrschaft brauche nicht durch eine Schlacht errungen zu werden. Umgekehrt könne Deutschland die lebenswichtigen britischen Verbindungslinien nur bedrohen, indem es seine Seestreitkräfte von Stützpunkten an der Küste Norwegens oder —

174 173 176 177

-

Vgl GemzeU, Organization, Conflict and Innovation, S. 74 f. Ratzel, Das Meer als Queue, S. 24 f., 32 f. Mahan, Considerations Governing the Disposition, S. 296. Wegener, Seestrategie, S. 11.

IL Die >Risikoflotte< und die deutsche Schule

seestrategischen Denkens

319

Frankreichs aus einsetze. Erst wenn eine solche Bedrohung Konturen annähme, würde sich Großbritannien, laut Wegener, gezwungen fühlen, eine Entscheidungsschlacht um die Seeherrschaft zu schlagen. Es gebe in der Seekriegführung keine strategische Defensive, sondern nur den Kampf um die Beherrschung der Verbindungslinien, der die strategische Offensive erfordere. Wegeners Kritik an der strategischen Defensive war weniger überzeugend als die Ablehnung der Risikotheorie und des >landmihtärischen DenkensRisikoflotte< auf das europäische Staatensystem und das Weltgleichgewicht gehabt hätte, wären die mit ihr verbundenen Ziele verwirklicht worden. In den letzten Kapiteln wurde aber schon ausführhch dargelegt, daß und warum die >Risikoflotte< für die britische Seeherrschaft keine große Gefahr darstellen konnte. Tirpitz stand nicht im Begriff, die militärische Schlagkraft so weit zu steigern, daß sie derart weitreichende Zielvorstellungen hätte einlösen können. Andere Wissenschaftler arbeiteten die besonderen innenpolitischen Strukturen als den Grund dafür heraus, daß Deutschland einen herausfordernden außenpolitischen Kurs eingeschlagen hatte: ein Parlament mit keiner effektiven Kontrolle der Exekutive, ein Monarch mit einer ausschlaggebenden Stimme bezüghch des Militärs und der Rüstungsprioritäten. Eine solche Kombination war aber mitnichten nur in Deutschland gegeben. Schheßhch hat eine äußerst einflußreiche Gruppe von Historikern im Tirpitz-Plan die VerteidigungsStrategie von herrschenden vorindustriellen Ehten gesehen, die den innenpolitischen Status quo durch eine abenteuerhche Außenpolitik zu stabilisieren suchten. Ganz von der Tatsache abgesehen, daß der Nationalismus in dieser Zeit in vielen Ländern zugunsten der herrschenden Ehten ausgenutzt wurde, läßt schon der Entstehungszusammenhang des besonderen Deutungsmusters zur Natur des deutschen Soziahmperiahsmus Zweifel aufkommen, was seine Tauglichkeit als analytische Kategorie anbelangt. Die folgenden Abschnitte stellen einen Versuch dar, die speziellen Aspekte des deutschen Navahsmus mit Hilfe einer detaillierten Untersuchung der genannten Ansätze herauszuarbeiten. 1. Semiabsolutistischer Navahsmus

Kapitel des Zweiten Teiles wurde Navahsmus als Pohtik der maritimen Aufrüstung definiert, die als ein Mittel der Mehrung nationaler Macht und Größe dienen sollte und die die Erfordernisse der nationalen Verteidigung im Kontext Im dritten

322

Dritter Teil

eines angeblichen Expansionsbedürfnisses beurteilte. In bezug auf den deutschen Navahsmus kam diese Politik mit der innerhalb der Marine aufkommenden Seemachtideologie Mitte der 1890er Jahre zum Tragen. Sie manifestierte sich, genauer gesagt, in den weitreichenden Thesen, die über die politische Bedeutung< der Seemacht aufgestellt wurden: Eine Schlachtflotte in Heimatgewässern, die an den deutschen Interessen in Übersee bemessen sei, könne deren künftiges Wachstum in Friedenszeiten sichern und sei daher von wesentlicher Bedeutung für den Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht. Sie würde das Land auch für die Interessenkonflikte wappnen, die irgendwann im zwanzigsten Jahrhundert über die Umverteilung der großen globalen Zusammenballungen kolonialer, kommerzieller und industrieller Macht bestimmen würden. Diese Behauptungen gaben die Forderungen führender Vertreter des hberalen Bürgertums nach einer offensiveren >Weltpohtik< wieder. Wilhelm II. heh ihnen bei öffenthchen Auftritten seine Stimme. 1897 berief er Bülow und Tirpitz und betraute sie damit, Welt- wie Flottenpolitik in enger Abstimmung zu betreiben. Um die Jahrhundertwende hatte sich die Reichsleitung von der Caprivischen Konzentration auf Deutschlands kontinentale Lage und von dessen auf Zusammenarbeit mit Großbritannien bedachte Politik getrennt. Mit Bülows Politik der >freien Hand< hielt man sich Rußland und Großbritannien vom Leibe, während das Tirpitzsche Flottenbauprogramm das Fundament für die Abschreckungsmacht des großen deutschen Weltreiches der Zukunft legte. Mit der festen Rückendeckung seitens des Kaisers und der zunehmenden Unterstützung der Mehrheit der nichtsoziahstischen Parteien rückte der Navahsmus für ein Jahrzehnt dicht an das Zentrum der Außenpolitik des Reiches. Sofern der Tirpitz-Plan als Kernstück einer expansionistischen Außenpolitik angelegt wurde, fügt er sich in die oben genannte Navalismus-Definition ein. Die Abschreckungsstrategie, auf welcher er basierte, sowie die weit verbreiteten Argumente bezüglich der notwendigen Verteidigung von Interessen in Übersee müssen im Rahmen des neuen weltpolitischen Paradigmas gesehen werden, welches das kontinentale Paradigma Bismarcks und Caprivis ablöste. Verteidigung wurde nun nicht mehr als Mittel verstanden, um die Position des Deutschen Reiches als europäische Großmacht zu sichern, sondern als Voraussetzung für seine Wandlung zur Weltmacht. Die Aufgabe der Marine bestand nicht länger darin, in einem langwierigen kontinentalen Krieg die Versorgungslinien offenzuhalten, sondern absolute Sicherheit für Exporte und Verbindungslinien zu gewährleisten, indem sie selbst die mächtigste Seemacht, Großbritannien, davor zurückschrecken heß, die Eliminierung des aufkommenden Handels- und Reichsrivalen zu versuchen. Die Erfordernisse der nationalen Verteidigung fielen sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob man sie im Rahmen des bestehenden europäischen und maritimen Gleichgewichtes oder einer Zukunft bemaß, in der die Ressourcen des Planeten in geschlossene Wirtschaftsräume aufgeteilt sein würden, von denen jeder der ausschließlichen Kontrolle einer der vier Weltmächte unterstehen würde. Deutschlands Position als eine der Mächte des europäischen Kontinents hing vor allem von der Schlagkraft seiner Armee ab. Es benötigte nicht auch noch eine der größten

III. Die Besonderheiten des Wilhelminischen Navaksmus

323

Flotten der Welt, um dem Wachstum seiner überseeischen Interessen absolute Sicherheit zu verschaffen. Hierfür gab es zwei Gründe. Erstens: Ein Abschrekkungsmechanismus gegen den Mißbrauch der britischen Seemacht war, wie Bismarck erkannte, schon lange in Form einer potentiellen Koalition zweitrangiger Seemächte gegeben. Seit 1856 hatte diese Abschreckung ihre feste Gestalt gewonnen in dem Willen der neutralen Mächte, ihre Rechte, wie sie in der Pariser Seerechtsdeklaration festgelegt worden waren, zu behaupten. Zweitens: Obgleich die Drohkuhsse eines Bündnisses der bewaffneten Neutralität nur eine relative Sicherheit versprach, in einem Maße ähnlich dem des kontinentalen Gleichgewichtes, warnte Bismarck den Reichstag im Jahre 1885 davor, sich der Illusion hinzugeben, man könne absolute Sicherheit für die deutschen Handels- und Koloniahnteressen erzielen. Jeder Versuch, eine der britischen gleichwertige deutsche Flotte zu bauen, würde mit einem französisch-britischen Seebündnis beantwortet werden. Caprivi für seinen Teil erkannte, daß Deutschland durch die Industriahsierung in eine gefährhche Abhängigkeit von Nahrungsimporten geraten war. Er war pessimistisch, was die Wirkung der Pariser Seerechtsdeklaration anbelangte und ob diese Frankreich in einem Zweifrontenkrieg von einer Nahrungsmittelblockade abhalten würde; er glaubte aber, daß sich das Risiko durch den Bau einer blockadebrechenden Schlachtflotte und durch die Pflege guter Beziehungen zu Großbritannien verringern lasse. Vor allem aber war Caprivi davon überzeugt, daß die Zukunft Deutschlands als einer wachsenden Industriemacht von dessen Zugang zu den europäischen Märkten nicht zu jenen in Übersee abhing. Aus Sicht einer Pohtik, welche die Aufrechterhaltung des Status quo verfolgte, konnte sich Deutschland in den 1890er Jahren mehr und mehr in Sicherheit wiegen. Seine Armee war gestärkt, seine Beziehungen zu Großbritannien waren freundlicher Natur (bis 1896), Caprivis Handelsverträge öffneten europäische Märkte für die deutschen Industrieexporte und den eigenen Markt für landwirtschaftliche Importe, von denen die städtische Bevölkerung des Deutschen Reiches mittlerweile abhängig war. 1897 machte sich Deutschland daran, eine Schlachtflotte zu bauen, welche die Fähigkeit besitzen würde, eine französische Blockade zu brechen, und diese Marine würde Teil eines globalen maritimen Gleichgewichtes werden, welches an die Stelle der britischen allumfassenden Vorherrschaft getreten -



war.

Aus Sicht einer Pohtik, die

ledighch die Optionen Weltmacht oder Niedergang< Augen hatte, gefährdeten gerade diese Entwicklungen die Zukunft des Reiches. Die deutsche Armee konnte auf zukünftige Rivalen in Übersee, wie Großbritannien oder die Vereinigten Staaten, keinen Eindruck machen; es gab unheilvolle Vor-

vor

zeichen, daß Großbritannien seine >open door< schheßen werde, um Deutschland als Handelsrivalen auf den heimischen wie auf den Märkten des Empires auszuschalten. Die Märkte der Zukunft lagen in Übersee, ebenso lebenswichtige Rohstoffquellen und Siedlungsgebiete für die überschüssige Bevölkerung, und Deutschland mußte sich den Zutritt zu selbigen sichern daher auch die Schlußfolgerung, daß die Entwicklung der deutschen Flotte auf eine Neutrahsierung der —

von

England ausgehenden Bedrohung,

unseres

»gefährlichste[n] Gegnerjs]

zur

Dritter Teil

324

See«1, ausgerichtet werden müsse. Die Tatsache, daß andere Mächte in den Flottenbau investierten, imphzierte nicht, daß sich die britische Gefahr verflüchtigte,

sondern daß jeder seine eigenen Ziele verfolgte in dem Streben nach absolutem Schutz der eigenen exponierten Seeinteressen. Auf den ersten Bhck mag es scheinen, als ob diese Prioritätenverschiebung den Unterschied zwischen einer rückwärtsgewandten, auf den Kontinent beschränkten und den Agrariern verpflichteten und einer vorwärtsgewandten bürgerlichkapitalistischen Weltsicht spiegelte, wobei sich erstere gegen die Folgen der Industrialisierung sperrte und letztere ihre Analyse der nationalen Verteidigungsbedürfnisse an den Realitäten des Exportwachstums und der wirtschaftlichen Spezialisierung innerhalb einer globalen Wirtschaft orientierte. Auf den zweiten Bhck verhält sich die Lage anders. Die Prioritätenverschiebung fand vielmehr zwischen zwei alternativen Visionen statt, die beide für sich in Anspruch nahmen, den besten Weg in die industriewirtschafthche Zukunft zu weisen. Zugegebenermaßen hielt Bismarck bis zum Ende an einem agrarischen Prioritätenkatalog fest. In den 1880er Jahren hatte seine Tarifpohtik die deutschen Industrieexporte geschädigt und das Reich von Rußland entfremdet. Doch war dies ein Preis, den der Kanzler zu zahlen bereit gewesen war, um den ostelbischen Grundbesitz wirtschaftlich am Leben zu halten2. 1897 verwarf der ehemahge Kanzler Tirpitz' Argument, daß Deutschland eine Schlachtflotte brauche, um seine Interessen in Übersee und die Nahrungsversorgung vor einer Blockade zu schützen. Eine der Landwirtschaft mit dem Ziel, Deutschland in der WeizenprodukAnkurbelung tion autark zu machen, würde die Drohung einer Hungerblockade aufheben. Zum Schutz der deutschen Interessen in Übersee benötige man Kreuzer, die durch eine effektive, zweitrangige Schlachtflotte, welche sich ins maritime Gleichgewicht einfügte, Unterstützung erfahren könnten. Bismarck erschien aber der Gedanke, eine größere Flotte für heimische Gewässer zu bauen, um >bündnisfähig< für England zu werden oder sogar um den Kampf gegen selbiges in Erwägung ziehen zu können, anmaßend und gefährlich: »Qui trop embrasse mal étreint«, warnte er Tirpitz3. Caprivi ging davon aus, die wirtschafthche Zukunft Deutschlands liege in einer europäischen Zollunion, in der die weniger entwickelten Regionen die vorherrschende deutsche Industriewirtschaft mit den notwendigen landwirtschaftlichen Erzeugnissen versorgen würden. Nur als wirtschafthche Einheit unter deutscher Führung könne Europa den sich verschärfenden Wettbewerb mit den riesigen autarken Wirtschaftsräumen Rußlands, der Vereinigten Staaten und Chinas aufnehmen4. Die >Weltpohtiker< sagten sich von diesem Ziel nicht los, sondern integrierten es vielmehr in ihr Programm, indem sie es ihrer ersten Priorität der überseeischen Expansion unterordneten5. Ungeachtet der Unterschiede in der -



1

2

3 4

5

Denkschrift, Tirpitz, Juli 1897, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 122. Wehler, Bismarcks Imperialismus. Stadelmann, Die Epoche der deutsch-englischen Flottenrivalität, S. 92-94. Reichstagsrede vom 10.12.1891, in Arndt, Die Reden des Grafen von Caprivi, S. 179 f. Fischer, Krieg der Illusionen, S. 23-32; Smith, The Ideological Origins, S. 78-80. Ich verwende den Begriff >Weltpolitiker< im Smithschen Sinne als Terminus für die »expounders and practitio-

III. Die Besonderheiten des Wilhelminischen Navaüsmus

325

Schwerpunktsetzung, waren sich alle Richtungen darin einig, daß die Hauptaufgabe ihrer Generation darin bestehe, den Rahmen für ein Großdeutsches Reich zu errichten, in dem der gesicherte Zugriff auf Märkte in Übersee und Rohstoffe das künftige Wachstum der Industrie garantieren würde6. Die Schlachtflotte war der Eckpfeiler dieses Konzeptes. Sie würde die Rivalen Deutschlands davon abhalten, es gewaltsam von der Weltwirtschaft auszuschheßen. Sollten sich diese Rivalen mit Zollmauern umgeben, so würde die Flotte jenes Stück der Weltwirtschaft sichern, welches Deutschland sich herausgeschnitten hatte. Und sollten sich die Interessenkonflikte zwischen den Weltmächten friedhch nicht ausgleichen lassen, so würde die Flotte die entscheidende Rolle in dem Krieg um die Neuverteilung der globalen

Großräume spielen. Diese defensiven Wirtschaftsargumente waren aber in ihrem Ursprung durch eine ihnen unterlegte nationalistische Logik verdreht. Die Befürworter der Weltpohtik überschätzten die Bedeutung der Exporte nach Übersee und der Kolonien für die deutsche Wirtschaft um ein Vielfaches, bzw. sie gingen davon aus, daß die deutschen Interessen in Übersee (einschließlich der Siedlungsgebiete) in der Zukunft erhebhch an Bedeutung gewinnen würden7. Ihre Vorstellung davon, wie eine Schlachtflotte in der Nordsee diese Interessen wahren sollte, war verschwommen bis nicht vorhanden. Keiner von ihnen schien sich einen Begriff zu machen von den Zwängen, die auf dem offensiven Gebrauch von Seemacht lasteten. Sie ignorierten durchgängig die Frage, ob Großbritannien (oder irgendeine andere Seemacht) überhaupt die Fähigkeit besaß, den deutschen Handelsrivalen gewaltsam auszuschalten, selbst wenn es sich dies zum Ziel gesetzt haben sollte. Sie zogen es vor, die relative Sicherheit, die durch das maritime Gleichgewicht gegeben war, kleinzureden, weil sie auf die Schaffung eines absolut sicheren Weltreiches hofften8. Die >Flotte gegen England< war keine Reaktion auf die Verteidigungserfordernisse, welche sich als Folge der wirtschaftlichen Spezialisierung ergeben hatten. Oder anders formuhert: Man bediente sich der neuen Verwundbarkeit einer von strategischen Rohstoffen abhängigen Industriewirtschaft, um den Kurs einer deutschen Weltpohtik zu stabilisieren. Doch zeichnete sich dieser Kurs a priori durch seinen nationalistischen Charakter aus, ein Sprung des preußischen Machtstaates

Weltpoktik (ebd., S. 53), ganz gleich, ob es sich um Amtsinhaber, Akademiker oder Pubkzisten handelte. Fischer, Krieg der Illusionen, S. 68-77. Mommsen, Wandlungen der liberalen Idee, S. 136; Kennedy, The Rise of the Anglo-German Antagonism, S. 310-318. Vgl. die Terminologie, welche verwandt wurde, um die Motive hinter dem Annexionsstreben während des Ersten Weltkrieges zu beschreiben, in Schieder, Staatensystem, S. 354. Bei dem »radikalen nationalen Egoismus«, der die »perfekte Sicherheit« habe gewinnen wollen und dem dabei »der letzte Rest eines europäischen Ordnungsgedankens« zum Opfer gefanen sei, handelte es sich um eine radikaksierte Version der navalistischen Vorkriegskonzeption zur Sicherheit der überseeischen Interessen, die gleichermaßen im Rahmen des expansionistischen Paradigmas ihre Erklärungen gewann. Ein gutes Beispiel bietet Vizeadmiral a.D. Siegel, Einige Gedanken, S. 156. ners« von

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Dritter Teil

326

auf die Weltbühne9. Der nationalistische Historiker Heinrich von Treitschke übte großen Einfluß aus, indem er die Generation der wilhelminischen Führungsehte auf einen Kampf zwischen unabhängig operierenden Machtgebilden vorbereitete, die wetteifernd um die Bewahrung ihrer Individualität/ versuchen würden, einem möghchst großen Teil der Welt den Stempel ihrer besonderen >Idee< aufzudrücken. Tirpitz besuchte einige seiner Vorlesungen an der Berhner Universität, und Bülow heß sich von seiner Botschaft der Anglophobie und des Navahsmus inspirieren10. Dieser »social Darwinism before social Darwinism« war es, der Weltpohtiker für die Lehren Mahans empfänglich und zu enthusiastischen Konvertiten zur Sache des Navalismus machte. Sie sahen die Bedürfnisse der Landesverteidigung nur noch im Kontext des angeblichen Zwanges zur Expansion. Ihre Überzeugung von der Notwendigkeit, gegen den Widerstand konkurrierender Weltmächte ein Großdeutsches Reich zu schaffen, war unumstößhch ein Glaubensartikel. Es war ihre Überzeugung, daß eine aktive imperialistische Politik auf globaler Ebene die wichtigste Aufgabe des Reiches sei, welche sie von Caprivi unterschied nicht ihre Erkenntnis von der Notwendigkeit industrieller Entwicklung und zu den mit der wirtschafthchen Spezialisierung entstandenen neuen Verwundbarkeiten. Dessen ungeachtet paßt die erwähnte Navaksmusdefinition, welche die Metamorphose des Verteidigungskonzeptes zu der neuen imperialistischen Interpretation der internationalen Beziehungen in Bezug setzt, auch auf die Bauprogramme eines Dutzend anderer Länder in den 1890er Jahren. Der deutsche Navahsmus hatte viele Gemeinsamkeiten mit dem anderer Staaten. Wie Kolonien wurden auch die Flotten als wesentliche Bestandteile einer modernen Großmacht erachtet11. Ohne sie würde das künftige Wachstum von Handel und Industrie von der Gnade skrupelloser und habgieriger Konkurrenten abhängen. Der Bau einer Schlachtflotte war die Lizenz zum großen Spiel der Zukunft der Weltpohtik. In den maritimen Rüstungsbestrebungen Deutschlands sehen aber nach wie vor viele Historiker einen qualitativen Unterschied zu jenen anderer Länder. Zur Unterstützung dieser These sind zwei Hauptgründe angeführt worden. Erstens: Die Zielsetzung der deutschen Bestrebungen ging über jene der anderen Länder hinaus. Zweitens: Der innenpolitische Druck, der diese vorwärtsdrängende Politik freisetzte, war offensichtlich stärker als in anderen Ländern die Folge politischer Strukturen, wie sie einzig Deutschland aufwies. Die Vorstellung, das Flottenbauprogramm habe die internationale Politik revolutionieren wollen, geht auf die vorherrschende Meinung zurück, der Tirpitz-Plan habe auf einem geheimen, offensiven militärischen Kalkül basiert, welches die britische Seeherrschaft und somit die Rolle Großbritanniens als Eckpfeiler des europäischen Mächtegleichgewichts bedroht habe12. Wie im vorangegangenen Kapitel -





9 10 11 •2

Hardtwig, Von tenbau, S. 101.

Preußens

Aufgabe, S. 297-309. Vgl. Maricnfeld, Wissenschaft und Schlachtflot-

Tirpitz, Erinnerungen, S. 96; Winzen, Treitschke's Influence. Ropp, War in the modern World, S. 208. Stadelmann, Die Epoche der deutsch-englischen Flottenrivalität, S. 120 f.; Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie, S. 202-205; Dehio, Deutschland und die Epoche der Weltkriege; Dehio, Gedanken über die deutsche Sendung, S. 14 f., 77-80; Hillgruber, Kontinuität und Diskontinuität,

III. Die Besonderheiten des Wilhelminischen Navalismus

327

gezeigt wurde, war dies nicht der Fall. Tatsächhch ereignete sich in dem Vierteljahrhundert vor 1914 im internationalen System eine maritime Revolution. Doch bestand diese in der Ablösung der Pax Britannica durch ein globales Gleichgewicht maritimer Mächte. Das wiedererrichtete maritime Gleichgewicht zog einen Schlußstrich unter die ungewöhnliche Situation der Jahre 1865 bis 1890, in der die Vorherrschaft der Royal Navy unanfechtbar gewesen war. Das maritime Gleichgewicht formulierte die Regeln der Sicherheitsgleichung für alle maritimen Mächte neu13. Einen großen Teil hierzu trug Deutschland bei, keineswegs aber brachte es die Veränderung alleine zustande. Und der relative Rückgang der globalen maritimen Vorherrschaft Großbritanniens hat nicht notwendigerweise die deutsche Seemacht in der Nordsee gestärkt. Wie Tirpitz auch ausdrücklich und aufrichtig feststellte, würde die >Risikoflotte< nicht über die Fähigkeit verfügen, der Royal Navy die Seeherrschaft zu entreißen.

Sie sollte Großbritannien davor zurückschrecken lassen, Deutschland als kolonialen und kommerziellen Rivalen zu beseitigen. Im Lichte seiner eigenen früheren Theorien fällt es schwer, zu erkennen, wie sie selbst dieser Aufgabe erfolgreich hätte nachkommen können. Seine Ziele hatten tatsächhch eine revolutionäre Dimension, in bezug sowohl auf das kontinentale Gleichgewicht als auch auf die Beziehung zwischen Großbritannien und Deutschland; doch waren die deutschen Navahsten ausschheßhch an der überseeischen Expansion interessiert, und keiner, schon gar nicht Tirpitz, war sich bewußt, welche revolutionären Verschiebungen bewerkstelligt worden wären, wenn das militärische Instrument die Wirkung erzielt hätte, von der man ausging. Die Abschreckungsflotte, die dem weiteren Wachstum der Seeinteressen des Großdeutschen Reiches angeblich absolute Sicherheit geboten hätte, hätte Großbritannien vermutlich auch davon abgehalten, in einen gegen Deutschland geführten Krieg auf dem europäischen Festland einzugreifen. Die Abschreckungsflotte hätte so die britische Land- und Seemacht im europäischen Gleichgewicht neutralisiert und Deutschlands hegemoniales Potential gesteigert. Doch waren diese möghchen Folgen weder beabsichtigt noch traten sie ein14. Im

13

S. 12 f.; Hillgruber, Zwischen Hegemonie und Weltpolitik, S. 197; Hillgruber, Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte, S. 19 f.; Hillgruber, Die gescheiterte Großmacht, S. 35 f.; Hildebrand, Imperiahsmus, Wettrüsten und Kriegsausbruch, S. 184 f.; Hildebrand, Between Alliance and Antagonism; Hildebrand, The Crisis, S. 74, 94; Hildebrand, Das vergangene Reich, S. 190-206. Die Royal Navy besaß 1883 achtunddreißig Schlachtschiffe alle anderen Seemächte der Welt zusammengenommen verfügten über vierzig. 1897 war das Verhältnis 62:96. Vgl. Kennedy, The Rise and FaU of British Naval Mastery, S. 243-282, besonders S. 247. Trotz des ungebrochenen Interesses an den historischen Studien Mahans und am preußischen Befreiungskrieg gegen Napoleon zeigte Tirpitz kein Verständnis von der RoUe, welche die britische Seemacht bei der Aufrechterhaltung des kontinentalen Gleichgewichtes spielte. Erst der Ausbruch des Krieges im Jahre 1914 lenkte seine Aufmerksamkeit auf dieses historische Muster. Deutsche Navaksten sahen die zeitgenössische Rolle der Seemacht ausschkeßlich in einer wirtschaftkchen und imperialen Dimension und vernachlässigten ihr Verhältnis zum kontinentalen Gleichgewicht. Es kann keine Rede davon sein, daß sie eine Abschreckungsflotte als wesentliches Element in einem Krieg um die kontinentale Vorherrschaft erachteten als ein Mittel, um sowohl eine Hungerblockade als auch eine miktärische Intervention Großbritanniens auf dem Festland zu verhindern. Dies hätte einem >Griff nach der Weltmacht/ zumindest eine gewisse Kohärenz verliehen einer solchen Koordination mangelte es jedoch der wühelminischen Ge—

14





328

Dritter Teil

Zentrum des deutschen Navahsmus lag kein geheimes militärisches Kalkül, welches die >Risikoflotte< in eine offensive Bedrohung für die Seeherrschaft der Royal Navy gewendet (und so für die britische Position im europäischen Gleichgewicht eine Gefahr dargestellt) hätte, sondern die Hoffnung, daß >die politische Bedeutung der Seemacht/ das Reich irgendwie in eine der großen Weltmächte des zwanzigsten Jahrhunderts verwandeln würde. Was diese Bestrebung anbelangte, unterschied sich der deutsche Navahsmus nicht von dem anderer Länder. Genauso gab es für die innenpolitischen Strukturen, die das wilhelminische Reich in den Navahsmus trieben, anderswo enge Parallelen. Der folgende internationale Vergleich stellt einen Versuch dar, einige der Merkmale herauszuarbeiten, welche die Rüstungswettläufe in der Zeit des >new navalism< von denen der vorangegangenen Jahrzehnte abhoben. Diese Merkmale waren den meisten jener Länder gemeinsam, die in den 1890er Jahren ambitionierte Flottenprogramme umzusetzen begannen. Vor allem Österreich-Ungarn und Rußland wiesen einander verwandte institutionelle und politische Strukturen auf, die eine Marinepohtik ähnhch der des wilhelminischen Deutschland hervorbrachten. Der >semi-absolutistische Navalismus< dieser drei Landmächte unterschied sich von dem anderer Länder, und in diesem Zusammenhang gewinnen die besonderen Merkmale des wilhelminischen Navahsmus an Kontur. Im Ersten Teil wurde die Unterscheidung zwischen Rüstungs- und Modernisierungswettläufen eingeführt: Erstere zeichnen sich durch die zusätzhche politische Dynamik aus, welche zur technologischen Konkurrenz der Waffensysteme hinzutritt. Dieser Antrieb konnte auf die bewußte Anwendung einer Strategie des Wettrüstens von einer Seite zurückgehen, mit anderen Worten, auf die Verfolgung politischer Ziele mittels eines Aufrüstens, das auf eine Verschiebung des Mächtegleichgewichts abzielte. Den Antrieb konnte aber auch die Übertragung von Spannungen aus anderen Gebieten der internationalen Beziehungen auf die militärische Ebene verursachen. Für die bekanntesten maritimen Rüstungswettläufe des neunzehnten Jahrhunderts trifft die erste Beschreibung zu, so auch für die Tirpitzsche Zielsetzung der Schaffung eines Abschreckungsfundamentes für »eine große überseeische Politik«15. Die politischen Ziele, welche in der Zeit des »new navalism«16 verfolgt wur-

samtstrategie. Gute Beispiele dafür, wie deutsche Navalisten glaubten, daß sich die Rolle der Seemacht seit den Napoleonischen Kriegen geändert hatte, finden sich in Maltzahn, Der Seekrieg; Maltzahn, Nelson; Delbrück, Zukunftskrieg und Zukunftsfriede. Delbrück formuliert am deutlichsten die vorherrschende Meinung, daß Großbritannien eine maritime Hegemonie ähnhch der Napoleonischen Kontinentalhegemonie besitze. Preußen habe gegen letztere gekämpft, um das Recht der europäischen Nationen auf unabhängige Entwicklung zu verfechten. Mit dem Bau der Schlachtflotte stelle Deutschland auf ähnliche Weise das unabhängige Bestehen mehrerer gleicher Weltreiche innerhalb eines globalen Mächtegleichgewichts sicher. Vgl. Dehio, Ranke und der deutsche Imperiahsmus, S. 45-51. Zur zweiten Generation von Navalisten zum selben Thema siehe BA-MA, N 607/3, Wolfgang Wegener, Der deutsch-englische Machtkonflikt (maschinenschriftliches MS 1931), S. 19-22. Notizen Tirpitz' zum Immediatvortrag am 28.9.1899 in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpohtik, S. 161. Der Terminus stammt von William L. Langer, The Diplomacy of Imperialism.

III. Die Besonderheiten des Wilhelminischen Navaksmus

329

den, hatten aber eine andere Quahtät. Sicherhch nicht nur in Deutschland wurde der nützhche, aber unscharf definierte >Einfluß der Seemachtx, zu dem ein maritiWettrüsten angebhch verhelfen sollte, zu einem weitverbreiteten Glaubensgrundsatz. Schlachtflotten wurden nicht nur gegen designierte Gegner gebaut, sondern auch, um das Gewicht eines Landes auf der Weltbühne zu erhöhen. Der Navahsmus teilte die grenzenlosen Ambitionen und die Undefinierten Ziele der expansion without objectscramble for Africa< und die Aussicht auf eine ähnhche Aufteilung Ostasiens in den 1890er Jahren setzte eine allgemeine Rivalität in Gang, bei der die Marinen eine entscheidende Rolle spielen sollten. Das Streben, Vorteile aus den imperialen Spannungen zu ziehen, und deren gleichzeitige Übersetzung in ambitionierte Bauprogramme waren es, was den Navahsmus der 1890er und späterer Jahre von früheren Rüstungswettläufen unterschied. Die >Jeune Ecole< hatte den Weg gewiesen, indem sie die französische koloniale Rivalität mit Großbritannien zur Triebfeder ihres Strebens nach einer wirkungsvollen Bedrohung britischer Interessen gemacht hatte. Der eigentlich neue Navahsmus setzte aber seine kolonialen Hoffnungen und Ängste um in Schlachtflotten. Mit ihrem enormen Einfluß rückten die Mahanschen Publikationen das Schlachtschiff in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit, und sie knüpften die ideologische Verbindung zwischen dieser konzentriertesten Vergegenständlichung von Seemacht und dem wirtschaftlichen und kolonialen Wachstum. Außerdem erfuhr die Seemachtideologie Auftrieb durch eine neue Konstellation innenpolitischer Kräfte. Der massive Transfer von Ressourcen wurde von einem Bündnis zwischen verschiedenen Interessengruppen getragen. Die regelmäßig wiederkehrenden Paniken und parlamentarischen Interventionen früherer Jahrzehnte wurden abgelöst von der organisierten öffentlichen Agitation von Seiten nationalistischer pressure groups. Diese Aktivitäten wurden oft von der Schwerindustrie finanziert, welche zusätzhch zu dem, was hinter der Bühne an Lobbyarbeit geleistet wurde, auch die Öffentlichkeit mobilisiert sehen wollte. Die neue Massenpresse verbreitete die Botschaft, und die bürgerlichen Parteien standen der >nationalen< Sache wohlwollend gegenüber. Die meisten Elemente dieses neuen Navahsmus waren in nahezu allen Großmächten und vielen kleineren Staaten während der zwei Jahrzehnte nach 1890 präsent. Unter diesem Gesichtspunkt sticht als einzig bemerkenswerter Aspekt des deutschen Navahsmus hervor, daß dieser sich relativ spät durchsetzte, dafür dann aber durch den steten, systematischen und langfristig angelegten Charakter des Flottenprogramms mit voller Wucht einschlug. mes

"

Beeler, British Naval Pokcy, S. 276-278.

Dritter Teil

330

oben genannten Faktoren den Navahsmus in den zwei Jahrzehnnach 1890 als ein internationales Phänomen ausweisen, gab es bestimmte innenpolitische und individuelle Voraussetzungen, die eine besonders wichtige Rolle für dessen Ausprägung in Deutschland spielten. Auf die erste Voraussetzung wurde in vorangegangenen Kapiteln ausführhch eingegangen: Tirpitz' sehr eigene Übertragung der Seemachtideologie in eine klar definierte Zielsetzung seiner Baupolitik die >Zwei-Drittel-Flotte< -, welche anscheinend in ein ebenso klar definiertes strategisches Konzept paßte, nämlich die abschreckende Wirkung einer unterlegenen Flotte in der strategischen Defensive. Irgendeine Form von maritimer Entwicklung hätte es in Deutschland wohl gegeben, es ist aber unwahrscheinhch, daß diese in der Gestalt des zweiten Flottengesetzes von 1900 aufgetreten wäre, hätte ein Tirpitz nicht die Ambition der »Stärkung unserer politischen Macht u. Bedeutung gegen England«18 gehegt. Hollmann, Wilhelm IL, Maltzahn, Galster und schließlich Bülow hatten alle irgendwann einmal andere Ideen vertreten. Drei von ihnen hatten sich in einer Position befunden, in der sie die Baupolitik hätten beeinflussen können hätte die >Risikoflotte< nicht alle anderen Überlegungen vom Tisch gefegt19. Die zweite notwendige Voraussetzung für den deutschen Navahsmus war die zentrale Position des Kaisers innerhalb der politischen Struktur, welche dem Reich durch den Verfassungskompromiß Bismarcks mit den Liberalen im Jahre 1867 vermacht worden war20. Ohne die >Marinepassion< Wilhelms II. wäre der Flottenbau vermutlich nicht ganz so ehrgeizig ausgefallen, was nicht heißen soll, daß das persönliche Regiment/ den Kurs der Marinepohtik festgelegt hat21. Vielmehr soll seine Rolle hervorgehoben werden als die desjenigen, dem der größte Einfluß für das Ermöghchen vermehrter Seerüstung, welcher Art auch immer, zukam. Wilhelms II. Wahl seiner Staatssekretäre hatte die weitreichendsten politischen Folgen, nicht seine willkürlichen Einmischungen in die Politik22. Wilhelm II. wollte, mit anderen Worten, eine beeindruckende Marine und vertraute acht Jahre lang auf Hollmann, daß er ihm eine solche verschaffen würde. Danach wählte er Tirpitz, unterstützte dessen Pläne für eine Flotte gegen England und hielt ihn neunzehn Jahre

Obgleich die

ten





18

•9

20 21 22

Notizen Tirpitz' zum Immediatvortrag am 15.6.1897, in Berghahn/Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, S. 135. Weder Wilhelm II. noch Bülow begriffen den langfristig angelegten Charakter des Tirpitz-Planes und die diplomatische Zurückhaltung, die er verlangte. Vgl. Mommsen, Kaiser Wilhelm IL, S. 302; Lambi, The Navy, S. 158 f. Mommsen, Die Verfassung des Deutschen Reiches; Röhl, Der >Königsmechanismus im KaiserreichKönigsmechanismus im Kaiserreich/, S. 129, spricht dem Kaiser eine zu aktive Rolle bei der Formulierung der Ziele der Marinepolitik zu. Jahre vor und selbst noch nach der Berufung von Tirpitz schwankte er zwischen Kreuzern und Schlachtschiffen. Vgl. Lambi, The Navy, S. 33 f., 155 f., 158 f.; Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, S. 48 f., 177 f., 310, 315 f.; Hallmann, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau, S. 144; Steinberg, Yesterday's Deterrent, S. 73 f.; Deist, Flottenpolitik und Flottenpropaganda, S. 43 f.; Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 351 f., 359-370.

III. Die Besonderheiten des Wilhelminischen Navahsmus

331

Bülow wurde unter der Bedingung Staatssekretär des Auswärtigen daß seine Amtes, wichtigste Aufgabe darin bestehen würde, die Vermehrung der Flotte nach außen abzuschirmen24. Selbst dann, als er als Reichskanzler im Jahre 1908 den Glauben an das Projekt verloren hatte, konnten weder er noch Bethmann Hollweg darauf hoffen, das Verhältnis zu Großbritannien durch eine Modifizierung der Flottenpohtik zu verbessern, da Tirpitz immer noch das Vertrauen Wilhelms II. genoß und daher kein Weg an ihm vorbeiführte. Es ist schwer vorstellbar, daß Tirpitz unter allen damahgen Chefs der Marineressorts zu dem am längsten im Amt befindhchen geworden wäre, hätte ihn nicht Wilhelm II. gegen politische Anfeindungen standhaft in Schutz genommen. Die dritte notwendige Voraussetzung teilte Deutschland mit vielen anderen Ländern: die feste und zunehmende Unterstützung des Reichstages für den steigenden Marineetat. Diese Unterstützung wurde mit Enthusiasmus von der Mehrheit der Abgeordneten des hberalen Bürgertums getragen sowie von den die agrarischen Interessen vertretenden Konservativen, die einen eher reservierteren Patriotismus pflegten, und von den Abgeordneten des katholischen Zentrums, die zunehmend ihre mationale Verantwortung< zu erkennen glaubten. Hätten sich das Bürgertum, dessen intellektuelle Elite und dessen Reichstagsabgeordnete gegen Imperialismus und Navahsmus gesperrt, so hätte es keine >Flotte gegen England< gegeben ganz gleich was der Kaiser und sein Staatssekretär gewünscht hätten25. Von Anfang 1896 bis Ende 1897 herrschte in der Tat ein solcher Zustand, da eine Mehrheit im Reichstag den berühmt-berüchtigten >uferlosen< Flottenplänen Wilhelms II. mißtraute. Tirpitz hingegen traute man, da er professionelles Können zu verkörpern und in bezug auf den Flottenbau einen systematischen, klar abgesteckten Weg einzuschlagen schien26. Und noch einmal muß an diesem Punkt darauf hingewiesen werden, daß der Kurs der deutschen Aufrüstung von der persönhchen strategischen Vision des Staatssekretärs abhing. Wilhelm II. unterstützte ihn, Bülow hielt ihm den Rücken frei, und im Bürgertum war man davon überzeugt, daß Deutschland über eine starke Marine verfügen müsse, um seine Stellung in der Welt zu festigen27. Hätte dieser Mann nun, dem der Reichstag sein Vertrauen schenkte, das Gewicht seines professionellen Könnens für einen Plan eingesetzt, der eine große Anzahl von Kreuzern zum Schutz der Interessen in Übersee vor britischen Übergriffen vorsah, so hätte sich eine Mehrheit gefunden, die genauso bereitwillig dafür gestimmt hätte28. Wie sich die Sache verhielt, unterstützte der Reichstag nicht nur den Ausbau der Schlachtflotte, sondern jede Novelle (ausgenommen die letzte) wurde mit noch größerer Mehrheit verabschiedet als die ihr jeweils vorangegangene ungeachtet

lang im Amt23.





23

Rohwer, Kriegsschiffbau und Flottengesetze, S. 225; vgl. Kennedy, Fisher and Tirpitz Compared, S. 117 f.

24

25 26 27 28

Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd 1, S. 16. Steinberg, Yesterday's Deterrent, S. 25; vgl. Steinberg, The

Kaiser's

Navy,

Flottenpoktik und Flottenpropaganda, S. 44. Bönker, Maritime Aufrüstung, S. 248. Vgl. Bülows Reichstagsrede vom 11.12.1899, in Bülows Reden, Bd 1, S. 94. Kehr, Die deutsche Flotte, S.

124 f.

S. 102-110; Deist,

Dritter Teil

332

der Tatsache, daß die Ausgaben sich im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts mehr als verdoppelten29. Die Reichsleitung konnte den Nationalismus, der aus diesen Zahlen sprach, nicht hervorgerufen haben30; doch besteht kein Zweifel, daß vor allem Bülow diesen auszunutzen verstand, um Unterstützung für Monarchie und Regierung zu sammeln31. Tirpitz' enge Zusammenarbeit mit den Parteien vergrößerte das relative Gewicht des Reichstages im politischen System32. Mit der Zeit erwies sich Bülows manipulativer Soziahmperialismus wahrscheinhch für die Verwirklichung des Tirpitz-Planes mehr als Hindernis denn als Hilfestellung. Er alarmierte die britische öffentliche Meinung in übertriebenem Maße und trug zur Freisetzung eines außerparlamentarischen radikalen Nationalismus bei. Sogar die eigene Propagandakampagne des RMA so innovativ und gut organisiert sie auch trug vermutlich nurmehr dazu bei, dem Navahsmus noch gewesen sein mag weiteren Auftrieb zu geben. Der bürgerliche Nationalismus mußte nicht künsthch stimuliert und über den Reichstag in die Flottengesetze gelenkt werden er war schon als notwendige Voraussetzung vorhanden. Aber selbst diese drei inneren Voraussetzungen, die am meisten zur Ausprägung des Navahsmus in Deutschland beigetragen haben, lassen sich auch in anderen Ländern nachweisen. Die Kombination eines einflußreichen und über einen langen Zeitraum amtierenden Marineministers, der von der Unterstützung eines Monarchen mit zentraler Entscheidungsgewalt bezüglich der Rüstungsprioritäten abhängig war, und eines langfristig angelegten Bauprogramms, welches enthusiastisch von den Abgeordneten der Mittelschichten in einer Nationalversammlung ohne parlamentarische Kontrolle der Regierung unterstützt wurde all das wiederholte sich wenige Jahre später sowohl in Österreich-Ungarn als auch in Rußland. Österreich-Ungarn verfolgte seit der Jahrhundertwende eine Politik der maritimen Expansion. Rußland war gezwungen, sich zu überlegen, wie es seine 1905 von Japan zerstörte Flotte wieder aufbauen sollte. Beide Länder orientierten sich an Deutschland33. Wie für Deutschland war auch für die Österreich-ungarische und die russische maritime Expansion die Protektion der Krone in einem semi-absolutistischen politischen System von wesentlicher Bedeutung. Deren Prärogative hinsichtlich der Mihtärpolitik wurde genutzt, um bei den Rüstungsausgaben die Weichen zugunsten der Marine zu stehen. Energische Marineminister regten die Phantasie sowohl von Franz Ferdinand, dem Anwärter auf die Krone der Habsburger und Schlüsselfigur bei der militärischen Entscheidungsfindung, als auch des Zaren Nikolaus II. an. Navahstische Rhetorik zur zentralen Rolle der Seemacht in der Weltpolitik inspirierte die Monarchen und ihre Admirale wie andere führende Politiker. Obgleich weder Montecuccoh noch Grigorovich als Marineminister Tirpitz mit seiner Amtszeit von knapp zwei Jahrzehnten überbieten konnten, verschaffte ihnen die Unter—







29

30 51

32

33

Fernis, Die Flottennovellen, S. 2, 155. Die Unterstützung stieg von 50,6 % im Jahre 1900 über 64,9 % im Jahre 1906 auf 84 % im Jahre 1908 und fiel 1912 auf 65,2 % zurück. Nipperdey, Wehlers Kaiserreich, S. 549. Mommsen, Kaiser Wilhelm II., S. 301 f. Mommsen, Triebkräfte und Zielsetzungen, S. 189-192. Eine weitere

zeitgenössische Parallele findet sich in Japan. Vgl. Evans/Peattie, Kaigun, S.

13-31.

III. Die Besonderheiten des Wilhelminischen NavaHsmus

333

langfristig angelegten Pläne wichtig jedoch die politische UnExpansion auf der Basis des allgeder Parteien. Die terstützung nationalistisch-bürgerlichen meinen Männerwahlrechts gewählten Parlamente, denen jedoch die formale KonStützung

>von

oben< den

maritimer

zu

nötigen Spielraum,

realisieren. Ebenso

um

ihre

war

trolle über die Exekutive nicht zustand, brachten sowohl in Rußland als auch in Österreich-Ungarn stabile Mehrheiten für den navalistischen Kurs in der Rüstungspolitik hervor. Es gab auch noch weitere frappierende Ähnhchkeiten mit der Situation in Deutschland. Der Erzherzog Franz Ferdinand entwickelte, nachdem er an Bord des Kreuzers Kaiserin Elisabeth in den Jahren 1892 bis 1893 nach Japan gereist war, ein reges Interesse an maritimen Angelegenheiten. Die Marine erschien ihm als ein Mikrokosmos desjenigen Österreich-Ungarn, welches er zu schaffen wünschte: »From that time onward, he intended to help Austria-Hungary build a respectable fleet34.« Drei Jahre später wurde er, mit dem Tode seines Vaters, der Habsburger Thronfolger. In der ersten Hälfte der 1890er Jahre wurden Liberale und deutsche Nationalisten, besonders im österreichischen Parlament, zu Konvertiten in der Frage der maritimen Expansion. Starke wirtschaftliche Interessen in den industriahsierten Regionen von Böhmen und Mähren wurden insbesondere durch die Verträge gewonnen, die aus den zunehmend an inländische Firmen vergebenen Aufträgen resultierten. Außerdem gab es triftige militärische Gründe, die für einen Ausbau der Flotte sprachen. Mit Abschluß des französisch-russischen Bündnisses im Jahre 1894 kam für Österreich-Ungarn die unhebsame Möglichkeit hinzu, in einen Zweifrontenkrieg zwischen Rußland und Itahen Wiens nominellen, aber unzuverlässigen Verbündeten zu geraten. Selbst Graf Beck, der Chef des Generalstabes, erkannte, daß die Marine gestärkt werden mußte, um die Küste schützen zu können und wenn möghch die Adria zu kontrollieren. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wurde der Bau von Schlachtschiffen und Küstenverteidigungseinheiten vorangetrieben, obgleich der Flottenausbau nicht mit jenem der führenden Seemächte verghchen werden konnte. Der Einfluß der >Jeune Ecole< wurde nach und nach geringer. Als Admiral Spaun Anfang 1898 zum Chef der Marinesektion avancierte, war er, ob seines Mangels an pohtischer Erfahrung, auf die politische Unterstützung Franz Ferdinands angewiesen. Angeregt von der gerade erfolgten Verabschiedung des Tirpitzschen ersten Flottengesetzes, schlug Spaun ein sich über zehn Jahre erstreckendes Bauprogramm vor, bestehend aus neun neuen Schlachtschiffen sowie vielen Kreuzern und anderen Hilfsschiffen. Der Außenminister stellte sich aus allgemeinen pohtischen Gründen hinter diesen Plan. Als er sich bemühte, im Mai 1898 die >Delegationen< zu überzeugen, behauptete er: »Die Ausgestaltung zur See ist eine Lebensfrage geworden, deren Regelung nicht allein vom Standpunkt unserer Wehrkraft, sondern noch mehr vom Standpunkt unserer Handelspolitik not—

-

-

34



Sondhaus, The Naval Pokey of Austria-Hungary, S. 125 (auch Anm. 8), 176 Abschnitte lehnen sich

an

Sondhaus

an.

f. Die

folgenden

Dritter Teil

334

wendig erscheint35.« Das Argument der augenscheinhchen wirtschaftlichen Notwendigkeit des Flottenbaus kam bei den Delegierten aus jenen Gegenden Österreichs, die von vermehrten Regierungsaufträgen profitieren würden, besonders gut an. Die Ungarn zeigten größere Zurückhaltung. An ihrem Widerstand zerbrach Spauns Langzeitplan; es bestand aber die allgemeine Bereitschaft, über die folgenden Jahre den Flottenausbau in gewissem Umfang zu finanzieren, wobei über die Bewilligung der einzelnen Schiffe im Rahmen des jährlichen Haushaltes abzustimmen war.

Gegensatz zum Tirpitz-Plan stand der Habsburgische Navahsmus nicht in Linie im Zusammenhang mit der angebhchen Notwendigkeit einer wirtschaftlichen und kolonialen Expansion, sondern mit Überlegungen bezüghch der nationalen Verteidigung. Der Enthusiasmus Roms für den Dreibund kühlte nach der Jahrhundertwende merkhch ab. In einem Krieg wäre der tatsächhche Bedarf gegeben gewesen, die Adriaküste vor den Verwüstungen durch die italienische Marine zu schützen. Der zunehmende Antagonismus der beiden Bündnispartner stellte das außenpolitische Hauptargument zugunsten einer Stärkung der seewärtigen Verteidigung der Doppelmonarchie dar. Trotz der stetig steigenden Bewilligungen veranlaßten finanzielle Schwierigkeiten, hervorgerufen durch komphzierte politische Kompromisse, Spaun 1904 zum Rücktritt. Es war unter seinem Nachfolger, Graf Montecuccoh (der diesen Posten bis zu seiner 1913 im Alter von siebzig Jahren erfolgten Pensionierung ausfüllte), daß die österreichisch-ungarische Marine alle ihre Anstrengungen darauf richtete, den Vorsprung der italienischen Marine zu verringern. Im Juli 1906 warnte Montecuccoh die österreichische Delegation: »Der beste Schutz einer Küste hegt gewiß in einer kraftvollen Offensive. Wie Sie aber gesehen haben [...], können wir keiner Flotte einer Großmacht offenIm

erster

siv entgegentreten36.« Da die Handelsmarine und der Überseehandel der Doppelmonarchie sich ausdehnten, wurde es wichtiger, über eine Flotte zu verfügen, die Itahen daran hindern konnte, Österreich-Ungarn den Zugang zu den großen Handelsrouten zu verwehren. Ob diese Interessen von so lebenswichtiger Bedeutung waren, daß sie, in einem Versuch, eine Parität an Dreadnoughts zu erzielen, die Umleitung von Geldern auf Kosten der Armee rechtfertigten, war eine Frage der gesamten Verteidigungsprioritäten. Diese Prioritäten wurden zu einem Großteil durch die Vorheben des Thronfolgers bestimmt, an den der alternde Kaiser nach 1906 viel von seiner Zuständigkeit in solchen Angelegenheit abtrat37, was sich wiederum positiv für Montecuccoh auswirkte: »Without his patronage, Montecuccoh's political efforts on behalf of the fleet no doubt would not have met with such success38.« Dem Thronfolger und seinem kompetenten Marinekommandanten wurde die beständige und zunehmende Unterstützung der deutschen Nationalisten, tschechi35 36 37 38

Reiter, Die Entwicklung der k.u.k. Flotte, S. 117; vgl. Sondhaus, The Naval Policy of Austria-

Hungary, S. 145. Stenographische Sitzungs-Protokolle der Delegation des Reichsrates, 9. Sitzung der 4L Session, 4.7.1906, S. 468; vgl. Sondhaus, The Naval Policy of Austria-Hungary, S. 175. Williamson, Austria-Hungary, S. 38; Stevenson, Armaments and the Coming of War, S. 85 f. Sondhaus, The Naval Policy of Austria-Hungary, S. 204.

III. Die Besonderheiten des Wilhelminischen Navahsmus

335

sehen Liberalen, der Luegerschen christlichsozialen Bewegung, eines neugegründeten österreichischen Marinebundes und auch einiger südslawischer Anhänger des Triahsmus Franz Ferdinands zuteil. Infolgedessen konnte die Marine ihren Teil des Verteidigungsbudgets über die nächsten acht Jahre von ungefähr fünfzehn auf nahezu fünfundzwanzig Prozent aufstocken fast eine Parallele zu dem, was zwischen der Jahrhundertwende und 1908 mit den deutschen Rüstungsausgaben geschehen war. Der Übergang zum Dreadnought-Bau gab Wien die Möglichkeit, in der Adria eine Parität mit Rom zu erzielen. Die Krise über die Annexion BosnienHerzegowinas im Winter 1908/09 steigerte die Spannungen zwischen den nominell Verbündeten, und beide bauten in den folgenden Jahren neue und größere Schlachtschiffe. Im Jahre 1909 hatte Montecuccoh ein langfristig angelegtes Bauprogramm entworfen, für das er sich an den Tirpitzschen Flottengesetzen orientierte und welches bis zum Jahre 1920 verwirklicht werden sollte. Dieses Mal stimmten die Delegationen im Januar 1911 zu. Im Jahre 1914 hatte die österreichisch-ungarische Dreadnought-Flotte dann, was die Tonnage anbelangte, in der Tat die der itahenischen Marine überholt, allerdings hatte letztere ein gefährliches Übergewicht an Untersee- und Torpedobooten39. Weitere Parallelen mit dem Lauf der Dinge in Deutschland und Österreich wurden in Rußland nach 1905 deutlich. Es bestand kein Zweifel darüber, daß einige der Schiffe, die von den Japanern versenkt worden waren, ersetzt werden mußten; gleichzeitig erscheint es aber doch als nahehegend, daß dem Wiederaufbau einer durch Niederlage und Revolution zerrütteten Armee der Vorrang eingeräumt worden wäre. Um so überraschender wirkt daher die von Nikolaus IL, seinem Außenminister Izvol'sky und den hberalen Abgeordneten der Duma gezeigte Konzentration auf den Wiederaufbau der Marine. Und wieder einmal konnte die Kombination von Präferenzen eines semi-absolutistischen Monarchen mit einem kompetenten Marineminister und einem bürgerlichen Nationalismus die Verteilung der Verteidigungsausgaben zugunsten der Marine aus dem Gleichgewicht bringen. Der Wendepunkt für die russische Rüstungspohrik kam mit einem Treffen des Landesverteidigungsrates am 9. April 190740. Der Vertreter des Heeres, F.F. Palitsyn, wies darauf hin, daß die im sogenannten »kleinen« Flottenbauprogramm festgelegten Hauptaufgaben der Bau einer Ostseeflotte zur Küstenverteidigung sich gut in die Verteidigungspläne des Generalstabes der Armee einfügen heßen. Das weitere Ziel der Verwirklichung einer »unabhängigen Seemacht« aber, fuhr er fort, ginge weit über das im Dezember des Vorjahres zwischen Heer und Marine Vereinbarte hinaus. Der Marineminister I.M. Dikov setzte dem entgegen, daß diese zweite Aufgabe schon immer vorhanden gewesen und »vollkommen natürlich« sei: »Als eine große Macht braucht Rußland eine Flotte, und es muß eine sein, die in der Lage ist, entsandt zu werden, wohin auch immer die Interessen des Staates es verlangen.« Er fand die Unterstützung des Außenministers, A.P. Izvol'sky. Diese unbedingt erfor—



-

39 40

Williamson, Austria-Hungary, S. 51 52. Shatsillo, Russkij imperiahzm, S. 59 ff. -

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derhche Flotte, führte er aus, müsse »unabhängig und [dürfe] nicht gebunden sein durch eine begrenzte Aufgabe der Verteidigung dieses oder jenes Seegebietes, dieser oder jener Küste. Wo immer die Interessen der Politik es verlangen, muß die Flotte zum Handeln in der Lage sein.« Izvol'sky heß sich nicht nur von allgemeinen politischen Überlegungen leiten. Auch folgte er der Mahanschen Interpretation der Seemacht. Auf einer Sondersitzung am 14. Dezember 1909, die einberufen worden war, um über die weitere Entwicklung der russischen maritimen Aufrüstung zu entscheiden, heß er verlauten, er neige »zu der Idee der Bedeutung der Seemacht für jeden Staat, der zu den Großmächten zählen« wolle. Die Geschichte habe bewiesen, daß Staaten, die den Verfall ihrer Flotten zuheßen, unweigerhch zu Mächten zweiten Ranges abstiegen. Die Geschichte habe außerdem bewiesen, daß die russische Marine es Rußland ermöghcht habe, seinen Aufgaben als Weltmacht nachzukommen41. Nachdem die Schlüsselentscheidungen getroffen worden waren, schritt die russische maritime Aufrüstung schnell voran. Zwar war der Anteil des Heeres am gesamten Verteidigungshaushalt viel größer als jener der Marine, dafür wies letzterer aber erhebhch größere Zuwachsraten auf. In den Jahren 1907 bis 1913 steigerten sich die Bewilligungen für das Heer um 43 Prozent die Ausweitung des Marineetats behef sich insgesamt auf 178 Prozent42. 1913 betrug der Marineetat schon fast die Hälfte dessen, was dem Kriegsministerium zur Verfügung stand (245 im Verhältnis zu 581 Millionen Rubel)43. Dies war in der Tat eine bemerkenswerte Prioritätensetzung für eine riesige Landmacht, die eine niederschmetternde militärische Niederlage hatte hinnehmen müssen, ein Bündnispartner Frankreichs war und sich an ihrer verwundbarsten Grenze der besten Armee der Welt gegenübersah. K.F. Shatsillo hat eindringlich dargelegt, daß diese »disproportionalen« Rüstungsausgaben die Hauptursache für die Katastrophen waren, die in den ersten Feldzügen des Jahres 1914 die russische Armee befielen44. Mehr noch als im Falle Deutschlands oder Österreich-Ungarns scheint die russische maritime Aufrüstung von dem politischen Wunsch diktiert gewesen zu sein, das Land mit den mächtigsten Symbolen des Großmachtstatus auszustatten zum Schaden der Berücksichtigung der Bedürfnisse der Landesverwar am offensichthchsten der Fall in Dies teidigung. bezug auf die Beschleunigung des Aufbaus der Ostseeflotte, über welche die Regierung am Vorabend des Krieges entschied45. Es besteht kein Zweifel darüber, wer letztendlich für die Gestaltung der russischen Aufrüstung verantwortlich war. Immer wieder unterstützte Nikolaus II. die immer ambitionierteren Forderungen der Marine, vor allem nachdem diese der kompetenten Führung des Admirals I.K. Grigorovich untersteht worden war. Die-

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Sondersitzung, wiedergegeben in Shatsillo, Russkij imperializm, S. 346. Vgl. Sitzung 3.8.1909, S. 323. Geyer, Der russische Imperialismus, S. 196 f. Die Zahlen stammen aus den Tabellen in Gatrell, Government industry' and rearmament, S. 140. Shatsillo, O disproportsii. Protokoll der

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Shatsillo, Poslednie voeynnye programmy.

III. Die Besonderheiten des Wilhelminischen Navahsmus

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Marineminister sorgte auch für die wesentliche Verbindung zu einer flottenbegeisterten und zunehmend willfährigen Duma46. Die Parallelen bezüglich der innenpolitischen Voraussetzungen des Navahsmus in den drei östlichen Monarchien soUten allerdings nicht zu weit getrieben werden. Vor allem hatte der Deutsche Reichstag, der seit 1867 auf der Basis des allgemeinen Männerwahlrechts gewählt wurde, im wilhelminischen politischen System mehr Gewicht als die vom russischen Autokraten widerwillig zugestandene Duma Niederlage und Revolution hatten ihn zu diesem Schritt gezwungen. Dennoch sollten die Parallelen auch nicht ignoriert werden. Drei große Landmächte kürzten erhebliche Summen bei ihren Armeen, die, hierüber waren sich alle einig, das Fundament der Verteidigung darstellten. Sicherlich konnten für ein gewisses Maß an maritimer Aufrüstung gute Gründe vorgebracht werden. Deutschland mußte eine enge Blockade seiner Häfen verhindern; Österreich-Ungarns adriatischer Handel nahm zu; die Verteidigung von St. Petersburg und anderer Ostseestädte hing vom Wiederaufbau der vor Tsushima zerstörten russischen Flotte ab. Gleichwohl führten alle drei Staaten Bauprogramme durch, die weit über jene genannten Ziele hinausgingen. Die Lobbyarbeit der Industrie, die Agitation der Flottenvereine und die enthusiastische Unterstützung der bürgerhchen Parteien verliehen den Marineprogrammen einen beachthchen zusätzlichen Auftrieb, was auch für viele andere Länder dokumentiert ist. In den drei Kaiserreichen war jedoch das persönliche Interesse an der Marine, welches die Monarchen, die Schlüsselpositionen bei der militärischen Entscheidungsfindung innehatten, an den Tag legten, der entscheidende Faktor. Vom Prestigedenken geleitete Überlegungen scheinen das Hauptmotiv gewesen zu sein hinter dem Wunsch, eine Menge Kriegsschiffe zu besitzen, obgleich führende Regierungsmitglieder gewiß auch von der Seemachtideologie beeinflußt waren. Nikolaus II. und Franz Ferdinand hatten beide persönhch die Möglichkeit, der Marine in der Rüstungspolitik zu dem ausschlaggebenden Vorteil zu verhelfen. Wilhelm II. konnte dies nur dann tun, wenn die Armee (aus eigenen internen Gründen) zustimmte und sich mit ihren Forderungen zurückhielt und wenn der Reichstag in seine Wahl des Staatssekretärs Vertrauen setzte. Doch stellte seine >Marinepassion< einen Faktor dar, der schon an sich Hürden beseitigte, die ansonsten bestanden hätten. Sobald Armee und Reichstag gewonnen waren, konnte Tirpitz sich gegen Widerstand selbst aus höchsten Kreisen durchsetzen. Das offensichtlichste Merkmal des semiabsolutistischen Navahsmus war, daß die Patronage der Krone energischen und lange ihr Amt führenden Chefs der Marineressorts zu einem bemerkenswerten Handlungsspielraum verhalf. Tirpitz, Montecuccoli und Grigorovich wurde zugetraut, vagen Visionen der Machtsteigerung mittels maritimer Expansion konkrete Formen zu geben. Ihre Bedeutung für ihre jeweihgen Marinen kann nur mit jener Sir John Fishers als Erstem Seelord verglichen werden. Dennoch bheben alle weitaus länger im Amt als er. In dieser Hinsicht war Tirpitz, der unübertroffene neunzehn Jahre als Staatssekretär wirkte, unter seinen Zeitgenossen wahrhaft einzigartig. Die persönliche strategische Vision ser



Gatrell, Government industry and rearmament, S.

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dieses Großadmirals und die beispiellosen Möghchkeiten, welche ihm durch die Unterstützung Wilhelms II. zuteil wurden, waren die charakteristischen Merkmale des wilhelminischen Navahsmus. Der intellektuelle Stempel, welchen Tirpitz der Marine aufdrückte, bheb über zwanzig Jahre lang unangefochten. Und seine Position innerhalb der Reichsleitung war eine solche, daß bis 1911/12 noch nicht einmal die Reichskanzler eine andere Wahl hatten, als ihre Politik der innenpolitischen und internationalen Lage anzupassen, die sich aus dem Versuch ergab, jene persönhche Vision, die heute zu recht als >Tirpitz-Plan< bezeichnet wird, zu verwirklichen. 2.

Sozialimperiahsmus von Weber bis zu den >KehritesRisikoflotte
KehritesKehrschen Schulcgroßen Plan< als Versuch verstanden, die Parlamentarisierung und Demokratisierung des Reiches zu verhindern und die privilegierte Position der —

alten Ehten in einer semi-absolutistischen Monarchie zu konservieren. Die maritime Herausforderung Großbritanniens war seiner Meinung nach das Ergebnis einer innenpolitischen Strategie, die vor allem die Sicherung des Status quo anstrebte: Die Verbindung zwischen innenpolitischer Stabihsierung und Marinepolitik kam durch eine breite >Sammlung< zustande, die auf einem Kompromiß zwischen den Wirtschaftsinteressen des Bürgertums und des Adels fußte und darüber hinaus auch noch das kathohsche Zentrum im Rahmen einer antisozialistischen Koalition einbezog. Das Flottenprogramm stellte den Kern da, um den herum die Sammlung Gestalt gewann, wobei die konservativen Agrarier den Mittelschichten zu ihrer Flotte verhalfen und als Gegenleistung höhere Zölle auf landwirtschafthche Erzeugnisse zugesagt bekamen49. Geoff Eley hat auf der anderen Seite die Frage aufgeworfen, ob man überhaupt irgendeine Verbindung zwischen konservativen innenpolitischen Strategien und dem Flottenbauprogramm herstellen könne. Seine sorgfältige Analyse zeitgenössischer Quellen zeigt, daß die Tirpitzschen Flottenpläne dem Abschluß eines Bündnisses zwischen Industrie und Landwirtschaft im Wege lagen, welches der Miquelschen >engen< Sammlung als Basis hätte dienen sollen50. Des weiteren bemerkte Eley, daß der Ursprung des Begriffs »Soziahmperiahsmus« diesen gleichermaßen für die hberalen Imperiahsten, die Imperiahsmus mit innenpolitischer Reform zu verbinden suchten, anwendbar mache51; außerdem unterstrich er das Aufkommen eines radikalen nationalistischen Drucks >von untenvon oben< in Frage stellte52. Aus Sicht der vorliegenden Studie ist der Ansatz der >Kehrites< nicht sonderhch hilfreich. Dadurch, daß er seine volle Aufmerksamkeit den ablenkenden Herr48

Der Hauptangriff auf dieses Sonderwegmodell kam von David Blackbourne und Geoff Eley, The Peculiarities of German History; eine knappere deutsche Version erschien im Jahre 1980; vgl. Evans, Wilhelm II's Germany und Evans, The Myth. Zum Überbkck über die daraus entsprungene Debatte siehe »Deutscher Sonderweg Mythos oder Realität?«; Grebing, Der »deutsche Sonderweg« in Europa; Kocka, German History before Hitler; Hobson, Slutten pä den tyske Sonderweg?; Lorenz, Beyond Good and Evil? Berghahn, Germany and the Approach of War, S. 24, 26-31; Berghahn, Das Kaiserreich; Berghahn, Flottenrüstung; Berghahn, Der Tirpitz-Plan und die Krisis; letzterer Artikel bietet sich für einen knappen Überbkck dieser Interpretation an. Außerdem Berghahn, Rüstung und Machtpoktik, S. 14. Zur Berghahnschen Interpretation der Verbindung zwischen Flotten- und breit angelegter Sammlungspolitik, siehe vor allem Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 151 f., Anm. 162 und passim für die umfassende Darstellung dieser Themen. Eley, Sammlungspolitik; siehe auch Bönker, Naval Professionaksm. Eley, Defining Social Imperiaksm; Eley, Social Imperiaksm in Germany. Eley, The German Right; Eley, Reshaping the German Right. -

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schaftstechniken< adeliger, vorindustrieller Ehten, die sich gegen die Modernisierung sperrten, widmet, verdunkelt er die Tatsache, daß Tirpitz' weltpolitisches Programm viele seiner wichtigsten Elemente mit den Vorstellungen der liberalen

Imperiahsten gemeinsam hatte. Durch seine Hervorhebung der Besonderheiten der wilhelminischen Gesellschaft und Politik erstickt er jeden Versuch des Vergleiches mit den Navahsmen anderer Länder. Obgleich eine solche >Gesellschaftsgeschichte der Pohtik< vorgibt, das besondere Wesen des deutschen Imperiahsmus erklären zu können, bleibt sie die Antwort auf die Frage schuldig, warum das Flottenbauprogramm eine besondere Vision mit einer Zähigkeit verfolgte, die den deutschen

Navahsmus in der Tat von dem anderer Länder unterschied53. Schlußendlich verwenn überhaupt sagt sich dieser Ansatz dem Problem, welche Marine Deutschland zum Zwecke der nationalen Sicherheit gebraucht hätte. Verblüffenderweisc sind Fragen zur maritimen Dimension der nationalen Sicherheit Deutschlands von den meisten Historikern, die sich mit dem Tirpitz-Plan beschäftigt haben, vollkommen ignoriert worden, obgleich Avner Offer im Jahre 1989 jene Fragen durchaus aufgegriffen hat54. Die Annahme, eine Kontinuität sozialimperialistischer >Herrschaftstechniken< liefere den Schlüssel zum Verständnis der Außenpolitik von Bismarck bis zu Bethmann Hollweg, zeichnet ein sehr irreführendes Bild. Denn dabei werden die beträchtlichen Unterschiede nicht kenntlich gemacht, die zwischen der Würdigung der im Rahmen des europäischen und des maritimen Gleichgewichtes erreichbaren relativen Sicherheit und einem Streben nach absoluter Sicherheit bestanden, die als eine Voraussetzung für den Weltmachtstatus begriffen wurde. Dennoch sind zwei der Kehrschen Prämissen nach wie vor von fundamentaler Bedeutung für ein Verständnis des Tirpitz-Planes. Erstens: Der Bau einer >Flotte gegen England< kann nur im Kontext des Hochimperiahsmus verstanden werden. Die >Risikoflotte< war nur insofern ein Instrument nationaler Verteidigung, als sie die Grundlage für Deutschlands notwendigen Aufstieg zur Weltmacht sichern sollte. Zweitens: Dem wilhelminischen Imperiahsmus war ein starkes manipulatives Element eigen. Es zeigte sich erstmalig in der Bismarckschen Kolonialpohtik und war von zentraler Bedeutung für Bülows Weltpolitik in dem Jahrzehnt nach 1897. Obgleich diese beiden Faktoren eine Verbindung zwischen Soziahmperialismus und maritimer Expansion nahelegen, bieten sie jedoch für sich genommen keine hinreichende Basis, um mit dem manipulativen Element der Weltpolitik entweder die Entstehung oder die Umsetzung des Tirpitz-Planes erklären zu können. Der vielzitierten >PalliativKehrites< vorgelegten Deutung der Wechselbeziehungen zwischen verschanzten vorindustriellen Interessen, manipulativem Soziahmperiahsmus, der Miquelschen Sammlung gegen das Proletariat und der Verabschiedung der beiden Flot—

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In seiner Analyse der gesellschaftlichen Motive der Risikotheorie unterscheidet sich Eckart Kehr, wie im folgenden noch zu zeigen sein wird, von den >KehritesPalliativVerschleierungsZwei-Drittel-Flotte< verlassen hat. Die politische Bedeutung der Seemachtx würde dem Zweck der Abschreckung dienen, der das militärische Kalkül fehlte. Obgleich er ein Außenseiter war, teilte Eckart Kehr die innerhalb der Marine von Galster bis Rosinski formulierte Skepsis gegenüber den Fähigkeiten der >Risikoflottec Die Erklärung, die er für diese militärische Wirkungslosigkeit lieferte, war jedoch grundverschieden zu jener strategischen und ideologischen Erklärung, die gerade erläutert worden ist. Sie markiert die Entstehung der zentralen Überlegungen der >Kehrites< zu den Verbindungen zwischen Innen- und Außenpolitik im wilhelminischen Deutschland. Sie verweist auch auf die wichtigen Unterschiede

war

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zwischen den Interpretationen der >Kehrites< und jenen, die Kehr persönlich anstellte. In der Nachkriegszeit haben die >Kehrites< das >PalhativKehrites< hinaus eine zentrale Position zugestanden66. Es wurde, genauer gesagt, als Hauptverbindungsstück in eine Argumentationskette eingepaßt, die vorgebhch die Sammlungs- mit der Flottenpohtik verbindet. Aus diesem Grund sollte man der Tatsache Aufmerksamkeit schenken, daß Kehr selber dieses Zitat in seinem großen Werk nur in seiner Analyse der Risikotheorie anführt. Seiner Argumentation nach hatten in Deutschland die herrschenden Klassen den außenpolitischen Erfolg angestrebt, um der gesellschaftlichen Krise Herr zu werden und das bestehende Gesellschaftssystem gegen die sozialistische Bedrohung zu bewahren. Sie wagten aber nicht, ihre Außenpolitik in einen Krieg münden zu lassen, der ihrer Vorherrschaft ein Ende hätte setzen können, sollte er in einer Niederlage enden. Der unblutige Sieg, den die >Risikoflotte< erringen sollte, war Ausdruck dieses Dilemmas. Tirpitz baute eine Schlachtflotte, die »nicht befähigt war, England offensiv an seiner eigenen Küste aufzusuchen und zu schlagen, [...] die vielmehr nur bescheiden in der Helgoländer Bucht den englischen Angriff abwarten sollte«. Und an diesem Punkt bemühte Kehr das >Palhativcritical history< of the 1970s«: »The most interesting >continuity< in the West German historiography is not that of the >pre-industrial< survivals that allegedly blocked the >long hard road to modernity< (Dahrendorf), but the familiar hberal fixation on such an idea69.« Eley hat gezeigt, daß die Ziele der Miquelschen Sammlungspolitik und die Tirpitzsche Flottenpohtik im Widerspruch zueinander standen, und John Röhl hat darauf hingewiesen, daß es nicht ein einziges Dokument gebe, mit dem sich beweisen heße, daß zwischen den beiden ein Zusammenhang bestand70. Dies ist nicht ganz zutreffend. In einem zeitgenössischen Zeugnis ist eine Verbindung zwischen der Miquelschen und der Tirpitzschen

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Historische Zeitschrift, 146 (1932), S. 570-572. Die Charakterisierung Mommsens als eines »demokratischen Nationaksten« wird zitiert in Jäger, Historische Forschung, S. 80.

Eley, Capitaksm and the Wilhelmine State, S. 55; vgl. Blackbourn/Eley, The Pecukarities of German History, S. 45. Zur Wiederentdeckung Kehrs durch eine jüngere Generation westdeutscher Wissenschaftler nach dem Krieg siehe Jäger, Historische Forschung, S. 103-105, 136 f., 157 ff; Blackbourn/Eley, The Pecukarities of German History, S. 8. Eley, Sammlungspoktik; Röhl, Der >Königsmechanismus< im Kaiserreich, S. 121 f.

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Politik hergestellt worden71: Max Webers »Stellungnahme zur Flottenumfrage«, veröffentlicht in der Münchner Allgemeinen Zeitung am 13. Januar 1898. Dieser flüchtige politische Kommentar sollte das zentrale Thema von Eckart Kehrs Hauptwerk anregen. Außerdem brachten Webers politische und persönliche Beweggründe für einen solchen Kommentar ein seltsames Paradoxon hervor: daß nämlich die Obsessionen eines überzeugten wilhelminischen Imperiahsten eine ausgesprochen hnke Kritik des wilhelminischen Imperiahsmus inspirierten. Webers Antworten auf die ihm von der Münchner Zeitung gestellten Fragen zum ersten Flottengesetz offenbarten sein bürgerlich-imperialistisches Credo. Er glaubte mit »völhger Sicherheit«, daß die wirtschafthche Konkurrenz zwischen den Nationen (Weber spricht von »Kulturvölkern«) einen Punkt erreichen würde, an dem Macht, »nur die Macht über das Maß des Anteils der Einzelnen an der ökonomischen Beherrschung der Erde und damit über den Erwerbsspielraum ihrer Bevölkerung, speziell auch ihrer Arbeiterschaft, entscheiden wird. [...] Nicht eine mit antikapitalistischen Schlagworten operierende Politik sogenannter >Sammlung