Geschichtliches Denken von der deutschen Frühaufklärung bis zur Klassik [Reprint 2022 ed.] 9783112621325, 9783112621318


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German Pages 124 [125] Year 1965

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Geschichtliches Denken von der deutschen Frühaufklärung bis zur Klassik [Reprint 2022 ed.]
 9783112621325, 9783112621318

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JOACHIM S T R E I S A N D Geschichtliches Denken von der deutschen Frühaufklärung bis zur Klassik

DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU B E R L I N SCHRIFTEN DES INSTITUTS FÜR GESCHICHTE R E I H E I: ALLGEMEINE UND DEUTSCHE GESCHICHTE BAND 22

JOACHIM STREISAND

Geschichtliches Denken von der deutschen Frühaufklärung bis zur Klassik

A K A D E M I E - V E R L AG • B E R L I N

• 1964

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W 8, Leipziger Straße 3-4 Copyright 1964 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/130/64 Gesamtherstellung: IV/2/14 • V E B Werkdruck Gräfenhainichen • 2163 Bestellnummer: 2083/I/22 • E S 14 A/E

Inhalt

Über die Methode und die Gliederung der Darstellung

7

I. Die Frühaufklärung 1. Der Pietismus und die Geschichte (Gottfried Arnold) 2. Die Reichs- und Staatenhistorie der Frühaufklärung

. . . . . .

15 29

I I . Die deutsche Aufklärung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts 1. Die französische Aufklärung und ihre Geschichtsauffassung

46

2. Isaak Iselin 3. Auseinandersetzungen um die nationale Frage in Deutschland

55 58

I I I . Die vorrevolutionäre Phase (1770—1789) 1. Die Veränderungen im Kräfteverhältnis der Klassen

. . .

74

2. Die Geschichtswissenschaft an den Universitäten

78

3. Die Geschichtsphilosophie

84

IV. Das historisch-politische Denken in der Zeit der Französischen Revolution und des Beginns der bürgerlichen Umgestaltung Deutschlands

89

Literaturverzeichnis

116

Personenregister

121

Über die Methode und die Gliederung der Darstellung

Drei klassische Darstellungen der Entwicklung der bürgerlich-fortschrittlichen und nationalen Ideen im Deutschland des 18. Jahrhunderts stehen am Beginn der Erforschung und Deutung der deutschen Aufklärung: Goethes Rückblick auf die geistige Entwicklung Deutschlands im 7. Buch von „Dichtung und Wahrheit", Hegels Skizze der Haupttendenzen der Aufklärung in der „Phänomenologie des Geistes" und Heines „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland". Bei aller Unterschiedlichkeit im einzelnen ist diesen drei Darstellungen ein wesentlicher, ja der wesentliche Gedanke gemeinsam: der Gedanke, daß die Ideen der Aufklärung der Bewegung zur Befreiung vom Feudalismus, Absolutismus und Klerikalismus erwuchsen und daß diese Bewegung in Übereinstimmung mit dem gesetzmäßigen Fortschritt allerVölker, auch des deutschen Volkes, stand. Hermann Hettner, mit der progressiven Tradition noch verbunden, stellte auch in seiner zuerst 1855—1864 erschienenen „Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts" diese Literaturen in ihrem Zusammenhang miteinander und mit der gesellschaftlichen Praxis dar.1 Wenn die bürgerliche Geistesgeschichte der folgenden Jahrzehnte demgegenüber auf eine angebliche Überlegenheit ihrer „historischen" Methode pochte, blieb sie doch in Wirklichkeit gerade in der entscheidenden Frage hinter dem früher bereits Erreichten zurück. So verschieden auch Dilthey, Meinecke und Srbik an Temperament, an individuellen Interessen und an persönlichem Stil gewesen sein mögen, gemeinsam ist ihren Darstellungen die künstliche Isolierung der geistigen Bewegungen von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, woraus dann gar noch als unabänderliche Besonderheit des deutschen Nationalcharakters seine Fremdheit gegenüber der Politik abgeleitet werden sollte. Wilhelm Dilthey betonte in seiner Abhandlung „Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt" 2 zwar: „Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, welche unhistorisch gescholten wird, hat eine neue Auffassung der Geschichte hervorgebracht . . . In diesen Werken verbreitete die Anschauung von der Solidarität und dem Fortschritt des Menschengeschlechtes ihr Licht über alle Völker und Zeiten." 3 1

Hettner, Hermann, Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Teil 3, Die deutsche Literatur im achtzehnten Jahrhundert, 2. Aufl., Braunschweig 1872.

2

Zuerst veröffentlicht in der Deutschen Rundschau August/September 1901, hier zitiert nach: Dilthey, Wilhelm, Gesammelte Schriften, B d 3, Leipzig 1927.

3

Ebenda, S. 209.

8

Über Methode und Gliederung der Darstellung

Als angebliche besondere Leistung des deutschen Geistes feierte er aber gerade, daß vor allem durch Justus Moser „der abstrakte Begriff des historischen Fortschritts, in welchem das ganze 18. Jahrhundert lebte", überwunden worden sei „durch den der Entwicklung, der, in Leibniz angelegt, nun zu fruchtbarer Anwendung gebracht wurde" 4 . Der Unterschied zwischen dem Begriff des Fortschritts und dem der Entwicklung bestand dabei für Dilthey darin, daß mit dem Entwicklungsbegriff die Existenz objektiver Maßstäbe in der Geschichte geleugnet und ein historischer Relativismus vertreten wurde. Dilthey interpretierte diesen Relativismus bereits in die Aufklärung hinein und rühmte: „Jede Zeit trägt für Moser ihren Maßstab in sich selbst" 5 , eine Interpretation, die am Wesentlichen, der Zugehörigkeit Mosers zur Aufklärungsbewegung, gerade vorbeigeht. Noch prononcierter leugnete Friedrich Meinecke die bürgerlich-antifeudale Grundtendenz der Aufklärung. Sein zuerst 1908 erschienenes Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat", in der bürgerlichen Wissenschaft als Standardwerk zu unserem Problem behandelt, sollte beweisen, der deutschen Klassik wäre eine eigentlich politisch-gesellschaftliche Tendenz fremd gewesen. Meinecke behauptete, ihrer weltbürgerlichen Grundhaltung sei zwar der Gedanke der Kulturnation entsprungen, politische Forderungen, wie die nach einem deutschen Nationalstaat, seien aber erst von der Romantik im Zusammenhang mit ihrer Polemik gegen die Ideen der Französischen Revolution erhoben worden. Daß schon in der Betonung der kulturellen Einheit der Deutschen sich die Aufklärung und die Klassik in Gegensatz zu der feudalen, höfischen und klerikalen Ideologie setzten und schon damit mindestens indirekt auch politisch Partei nahmen, wird von Meinecke ignoriert. Sein spätes Werk „Die Entstehung des Historismus" ging in dieser Richtung noch einen Schritt weiter: Indem als wesentliche Tendenz der deutschen Aufklärung die Vorbereitung der irrationalistischen, relativistischen und individualistischen Auffassungen der historischen Schule des 19. Jahrhunderts ausgegeben wurde, wurde das Wesen der bürgerlich-nationalen Bewegung des 18. Jahrhunderts völlig auf den Kopf gestellt. „Historismus i s t . . . nichts anderes, als die Anwendung der in der großen deutschen Bewegung von Leibniz bis zu Goethes Tode gewonnenen neuen Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben . . . Der Kern des Historismus besteht in der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung" 6 . Ähnlich spricht ja auch Erich Rothacker von der historischen Schule als einer „einheitlichen, wenn auch vielfach differenzierten Gedankenmasse, die sich von Herder bis Dilthey in verschiedenen Stufen entfaltet" 7 . 4

Ebenda, S. 256t.

5

Ebenda, S. 257.

6

Meinecke, Friedrich,

7

Rothacker, Erich, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 1930,

Die Entstehung des Historismus: Werke, München 1959, S. 2.

S. V I . Zu welchen Widersinnigkeiten diese Konstruktion führt, zeigt sich daran, daß über die beiden einflußreichsten Denker des ganzen Jahrhunderts, über Karl Marx und Friedrich Engels, in diesem B u c h nur ein einziger Satz verloren wird: Ihre

Werke

„überraschen

durch

eine

Reihe

von

Zusammenhängen

mit

der

Über Methode und Gliederung der Darstellung

9

Die Tendenz dieser Mißdeutungen ist offensichtlich: den für die führenden geistesgeschichtlichen Strömungen des imperialistischen Deutschlands charakteristischen Auffassungen sollte die Autorität der Tradition verliehen werden. E s war vor allem die absolute Trennung der Gesellschafts- von den Naturwissenschaften, die seit Windelband, Rickert und Dilthey zum Prinzip der herrschenden Methodenlehre wurde: ohne technische Fortschritte gab es keine Profite, und daher wurde die wissenschaftliche Grundlage der Technik, die Naturwissenschaft, wenigstens innerhalb gewisser Grenzen als exakte Wissenschaft, die Gesetze aufzudecken vermag, behandelt. Die Gesellschaftswissenschaften dagegen wurden in dem Maße, in dem sich die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung gegen die Bourgeoisie zu kehren begannen, von den führenden Ideologen eben dieser Bourgeoisie auf das bloße „Verstehen" (Dilthey) oder die Betrachtung der Erscheinungen nach ihrer „Wertbeziehung" (Rickert) — das heißt aber eben: unter den Gesichtspunkten des bürgerlichen Klasseninteresses — verwiesen. Deshalb wurde auch das Geschichtsdenken der Vergangenheit verzerrt dargestellt. Der zentrale Platz, den die Uberzeugung vom historischen Fortschritt und von der Erkennbarkeit seiner Erscheinungen in der Geschichtstheorie der Aufklärung (so idealistisch und verzerrt seine Interpretation damals auch gewesen sein mag) eingenommen hatte, wurde von nun an geleugnet. Für die heute in Westdeutschland herrschenden Auffassungen ist charakteristisch die umfangreiche Darstellung der Geschichte der neueren deutschen Geschichtswissenschaft, die der österreichische Historiker Heinrich Ritter von Srbik unter dem Titel „Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart" als letztes Werk verfaßte. Die Tendenz dieses Buches kann man nur als klerikalfaschistisch bezeichnen. Die Aufklärung wird als Beginn einer „Revolutionierung des abendländischen Geistes" kritisiert — eines Prozesses, über den Srbik einen ganzen Schwall von Diffamierungen ergießt: er löst „den Menschen von der Erde und von sich selbst als der Mitte zwischen Geist und Sinnen", hebt „das Göttliche und Menschliche auf", hätte „den Einzelnen für autonom erklärt und aus der echten Persönlichkeit wie aus der echten Gemeinschaft" entbunden — „ein .Verlust der Mitte', der schließlich im zwanzigsten Jahrhundert an das absolute Chaos heranführen wird" 8 , wie es abschließend und zusammenfassend heißt. Die in Westdeutschland heute noch herrschende Großbourgeoisie habe bewiesen, „daß sie untauglich ist, die Nation friedlich zu führen und die Vergangenheit zu bewältigen", heißt es im Dokument des Nationalrates der Nationalen Front des demokratischen Deutschland. Die Worte Srbiks — eines in Westdeutschland historischen Bewegung" (ebenda. S. VII) — als ob der von Marx und Engels begründete dialektische und historische Materialismus eigentlich idealistisch und irrationalistisch wäre, und als ob man die welthistorische Umwälzung, die das Ziel ihres Wirkens war und die auch tatsächlich von ihren Leistungen ausging, eigentlich Savigny, Ranke oder Leo zuschreiben müßte. 8

Srbik, Heinrich Ritter v., Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd 1, München (1950), S. 107.

io

Über Methode und Gliederung der Darstellung

weiter als repräsentativ geltenden Historikers —, die eine offene Abkehr von allen progressiven und demokratischen Traditionen in der deutschen Geistesgeschichte darstellen, beweisen einmal mehr die Richtigkeit dieser Feststellung. Die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft pflegt und nutzt das reiche Erbe fortschrittlicher Traditionen. Sie berücksichtigt dabei, daß die Leistungen der Geschichtsschreibung des aufsteigenden Bürgertums sich nicht auf die bloße Feststellung einzelner Fakten oder Daten beschränkten. Marx selbst hat betont, daß Historiker vor ihm bereits die Rolle des Klassenkampfes in der Geschichte erfaßt hatten. Sie erkannten aber nicht, daß erstens die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der materiellen Produktion gebunden ist, daß zweitens der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt und daß drittens diese Diktatur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zur klassenlosen Gesellschaft bildet.9 Erst mit der Begründung des historischen Materialismus wurden diese grundlegenden Entwicklungsgesetze der Gesellschaft erkannt, erhielt die historische Forschung ein wissenschaftliches Fundament — gewisse Zusammenhänge zwischen einzelnen Erscheinungen konnten aber bereits vor der Begründung des historischen Materialismus aufgedeckt werden. Dies gelang vor allem denen, die in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Kämpfen durch ihre wissenschaftliche Arbeit für die Kräfte des Fortschritts Partei nahmen. Ein Historiker, der es sich zum Ziel setzt, zu zeigen, daß die geschichtliche Entwicklung mit Notwendigkeit vorwärts und aufwärts führt, hat von vornherein einen Standpunkt eingenommen, der es ihm erleichtert, solche Zusammenhänge aufzudecken. Umgekehrt hat die Parteinahme für die Kräfte der Reaktion stets die Arbeit des Historikers behindert. Diese Leistungen wissenschaftlich zu würdigen heißt aber auch, nicht bei ihnen zu verharren. Wir bemühen uns, die historische Funktion früherer wissenschaftlicher Ergebnisse an ihrem Ort und in ihrem Zusammenhang zu begreifen. Wir begnügen uns aber nicht mit dem Stand der Erkenntnis, der in der Vergangenheit erreicht wurde, sondern wir verwerten diese Leistungen, um die Gesetzmäßigkeit der Geschichte besser zu begreifen und dadurch auch die Gesetzmäßigkeiten unserer Zeit tiefer verstehen zu können. Wir müssen und können die Historiker der Vergangenheit besser verstehen, als sie sich selbst verstanden haben, und wir tun dies, um richtig handeln zu können. Unsere Untersuchung kann sich auf ein Fundament wissenschaftlicher Erkenntnisse stützen, das von den Klassikern des Marxismus-Leninismus gelegt worden ist. Karl Marx und Friedrich Engels haben mit der Begründung des historischen Materialismus die methodologische Grundlage auch für die Behandlung unseres Themas geschaffen. Darüber hinaus aber haben sie sich in zahlreichen Arbeiten unmittelbar und speziell mit der Aufklärungsbewegung und ihrer Stellung in der Geschichte beschäftigt (so zum Beispiel in der „Kritischen Schlacht gegen den französischen Materialismus" in der „Heiligen Familie", Friedrich Engels bey

Marx an Weydemeyer, London, 5. März 1852, in: Marx ¡Engels, Schriften in 2 Bänden, B d 2, Berlin 1955, S. 425.

Ausgewählte

11

Über Methode und Gliederung der Darstellung

sonders in „Deutschen Zuständen", „Notizen über Deutschland" und in der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"). W. I. Lenins Werke enthalten eine Fülle grundsätzlicher Feststellungen über die Rolle der bürgerlich-nationalen Bewegung der Aufstiegsepoche des Kapitalismus (insbesondere „Unter fremder Flagge") 10 . Franz Mehring, der bedeutendste Schüler von Marx und Engels unter den deutschen Historikern, charakterisierte in seiner „Deutschen Geschichte" und in der „Lessing-Legende" unsere klassische Literatur als „Emanzipationskampf des deutschen Bürgertums" 11 . Geschichtswissenschaftler, Historiker der Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaftler der Deutschen Demokratischen Republik haben — sich auf diese Grundlage stützend — eine Reihe von Untei suchungen zu unserem Thema vorgelegt. Erwähnt seien hier vor allem die Arbeiten von Werner Krauss12. Sie bilden insofern ein Vorbild für die Behandlung dieses Gegenstandes, als sie die traditionellen Schranken der Geschichte der historisch-politischen Ideen überwinden. Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Feststellung: „Der Ursprung des geschichtlichen Weltbildes liegt keineswegs allein in der geschichtlichen Wissenschaft. Geschichtliches Denken ist das Ergebnis der großen literarischen Auseinandersetzungen, die um das Schicksal der klassischen Kunst am Ende des 17. Jahrhundert geführt werden." 13 Damit wird der Weg zu einer Geschichte der Geschichtsschreibung gewiesen, auf dem Emst gemacht werden kann mit der Forderung, die H. Butterfield i960 auf dem Internationalen Kongreß für Geschichtswissenschaft in Stockholm erhob, der Forderung nämlich, von der Geschichte der Bücher zu einer Geschichte des geistigen Lebens überhaupt überzugehen.14 Diese Forderung ist auf kaum einem anderen Gebiet der Geschichte der Geschichtswissenschaft so berechtigt, wie auf dem Gebiet der Geschichte der Aufklärung, wandte sich doch diese bewußt an ein größeres Publikum. Weckhrlin schrieb 1784: „Wären keine anderen Bücher auf der Welt als die Schriften Aristotel's, Montesquieus, Leibnizens, so würden wir vermutlich noch immer Vieh sein. Warum klagt man also über die Broschüren? Ihnen sind wir die Revolution schuldig, die sich in unseren Begriffen und in unseren Sitten ereignet hat. Die Folianten bilden Gelehrte, die Broschüren aber Menschen!" 15 1« Lenin, n 12

W. I., Werke, B d 21, Berlin i960, S. 123 ff.

Mehring, Franz, Die Lessing-Legende, in: Ges. Schriften, B d 9, Berlin 1963, S. 3. Vor allem: Cartaud de la Villate und die E n t s t e h u n g des geschichtlichen W e l t bildes in der Frühaufklärung; Entwickungstendenzen der Akademien im Zeitalter der Aufklärung und Krauss,

Werner,

Über

die

Konstellation

der deutschen

Aufklärung, in :

Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin

(1963). 13

E b e n d a , S. 176 Butterfield,

Herbert, T h e History of the Writing of History : X I e Congrès inter-

national des Sciences Historiques, Stockholm i960, Rapports 1, Göteborg (i960), S. 27. 13

Das graue Ungeheuer 1784, 1, zit. nach Krauss,

Werner, a. a. O., S. 158.

12

ü b e r Methode u n d Gliederung der Darstellung

Die Forderung, die Geschichte der Geschichtswissenschaft nicht nur auf die Geschichte gelehrter Bücher zu beschränken, kann aber nur erfüllt werden, wenn Klarheit sowohl über die Hauptklassenfronten als auch über die Differenzierungen innerhalb der großen, einander befehdenden gesellschaftlichen Lager besteht. Das gesellschaftliche Kräfteverhältnis exakt zu analysieren ist aber nur möglich auf der Grundlage des historischen Materialismus. Das ist die Ursache dafür, daß Butterfields Forderung in der offiziellen Geschichtswissenschaft der kapitalistischen Länder nicht erfüllt wird. In den vergangenen Jahren konzentrierte sich zwar auch dort das Interesse mehr als bisher auf die Geschichte der wissenschaftlichen Institutionen und Organisationen. Eine prinzipielle Erweiterung des Horizontes in der Geschichte der Geschichtswissenschaft ist dies aber nicht. 16 Diese These sei an einem speziellen Thema näher erläutert, nämlich dem der Rolle der Akademien in der Aufklärungsbewegung. Hermann Heimpel hat zwar in bezug auf die Rolle der wissenschaftlichen Akademien der Vergangenheit für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im wesentlichen mit Recht festgestellt: ,,Auf dem Gebiet der Geschichte sind . . . im großen und ganzen, abgesehen von den allerdings großartigen Corpora der Inschriften, die Akademien dem Andringen einer zur Organisation drängenden Fachwissenschaften doch nicht ganz gerecht geworden." 17 Er will dieses Versagen aber erklären mit der Begründung: „Akademien als bloße Gelehrtenvereine, auch die Klassen, sind als Träger fachwissenschaftlicher Großunternehmungen nicht so geeignet, wie es schien, weil sie nicht Vereine von Fachleuten sind". Diese Auffassung kann nicht überzeugen.

16

I n diesem Z u s a m m e n h a n g ist der A u f s a t z v o n Engel, Josef, Die deutschen U n i v e r s i t ä t e n und die Geschichtswissenschaft (in: Historische Zeitschrift, B d i 8 9 , M ü n c h e n 1959, S. 223—378) zu erwähnen. D e r Verfasser geht der e x a k t gestellten F r a g e n a c h der Stellung der L e h r s t ü h l e der historischen F ä c h e r in der Organisationss t r u k t u r der deutschen U n i v e r s i t ä t e n v o m H u m a n i s m u s bis zur G e g e n w a r t n a c h und g e l a n g t d a m i t zu interessanten Aufschlüssen über die A u f f a s s u n g v o n der Geschichtswissenschaft und ihrer gesellschaftlichen F u n k t i o n ü b e r h a u p t . Sie w e r d e n in — i m einzelnen jeweils gekennzeichneten — P a r t i e n dieser U n t e r s u c h u n g genutzt. S o wie E . es f ü r nötig hält, in seinem A u f s a t z u n b e g r ü n d e t e hämische A u s f ä l l e gegen d e n historischen Materialismus und die Geschichtswissenschaft der D e u t s c h e n D e m o k r a t i s c h e n R e p u b l i k einzuflicken, leidet auch seine U n t e r s u c h u n g unter der idealistischen B e t r a c h t u n g s w e i s e des Verfassers. Die Universitätsgeschichte wird, insbesondere w a s die letzten beiden J a h r h u n d e r t e betrifft, v o n der gesellschaftlichen E n t w i c k l u n g isoliert und als P r o d u k t bloß weltanschaulicher A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n behandelt. So heißt es e t w a : „ D a s große, u n s c h ä t z b a r e V e r d i e n s t des deutschen Idealismus a n der Historie w a r ihre ideelle B e f r e i u n g aus den Fesseln der Moral, der T h e o l o g i e und der J u r i s p r u d e n z " (S. 295). W i e im folgenden nachgewiesen wird, erklärten sich aber die H e r a u s b i l d u n g der klassischen deutschen Philosophie und die neue Rolle der Geschichtswissenschaft aus einem viel umfassenderen gesellschaftlichen Prozeß, nämlich der V o r b e r e i t u n g und d e m B e g i n n des Ü b e r g a n g s v o m F e u d a l i s m u s z u m K a p i t a l i s m u s .

17

Heimpel, Hermann, Ü b e r Organisationsformen historischer F o r s c h u n g in D e u t s c h land, in: Historische Zeitschrift, B d 189, München 1959, S. 157.

Uber Methode und Gliederung der Darstellung

13

Ihr steht die Tatsache entgegen, daß die Akademien des 18. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Naturwissenschaft eine ausgesprochen förderliche Rolle gespielt haben (man denke etwa an die Royal Society 18 ), daß — wie Heimpel ja selbst zugesteht — die Editionen des ig. Jahrhunderts, die von den Akademien der Wissenschaften veranstaltet wurden, der Forschung wesentliche Hilfsmittel auch auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft zur Verfügung stellten und daß heute in den sozialistischen Ländern die geschichtswissenschaftliche Forschung mit gutem Erfolg in Instituten der Akademien der Wissenschaften konzentriert wird. Es handelt sich hier nicht nur um ein formal-organisatorisches Problem. Das Verhältnis der Akademien der Wissenschaften zur Geschichtswissenschaft in der spätfeudalen und der kapitalistischen Epoche wird nur verständlich, wenn man davon ausgeht, daß sich in ihnen von Anfang an jene Spitzenschicht der bürgerlichen Intelligenz sammelte, die mit den herrschenden Klassen durch Gesinnung, Umgang und meist auch Vermögen eng verbunden war. Wie die Rolle der Bourgeoisie, so auch die der Akademien. Die Akademien der Aufklärungsperiode standen zwar den feudalen Traditionen kritisch gegenüber und haben deshalb auf manchen Gebieten eine vorwärtsdrängende Funktion ausüben können. Aber schon damals konnte eine Schicht, die von gesellschaftlichen Veränderungen eher Verluste als Gewinn gewärtigte, nicht in der vordersten Front des antifeudalen Kampfes stehen. Der nationale Führungsanspruch, den die deutsche bürgerliche Intelligenz des 18. Jahrhunderts wenigstens auf ideologischem Gebiet immer unüberhörbarer erhob, ist etwa in der Preußischen Akademie nicht erklungen. Wenn jene Spitzenschicht in der Akademie zusammentraf, um im Meinungsaustausch und durch die Veranstaltung von Preisausschreiben eine Art spontaner Kooperation zur Aufdeckung und Behandlung wissenschaftlicher Schwerpunktprobleme zu pflegen, so war diese Schicht doch zu abhängig von der preußischen Feudalmonarchie, als daß auf dem Gebiet der deutschen Geschichte fruchtbare Fragestellungen hätten ausgearbeitet werden können.19 Als nach dem Tode Maupertuis', der dreizehn Jahre lang (1746—1759) als Präsident fungiert hatte, Friedrich II. selbst dieses Amt übernahm, war für die wissenschaft18

Vgl. Bemal,

J. D., Die Wissenschaft in der Geschichte, Berlin 1961, S. 3 1 4 0 . Auf

den Zusammenhang zwischen Handel und Wissenschaft in den Anfängen der Tätigkeit der R o y a l Society wies bereits Goethe hin. Vgl. Kuczynski,

Jürgen, Die Ge-

schichte der L a g e der Arbeiter unter dem Kapitalismus, B d i o , Berlin i960, S. 1 1 7 . M

Harnach,

Adolf,

Geschichte der Königlich Preußischen A k a d e m i e der Wissen-

schaften zu Berlin, B d 2, Berlin 1900, S. 3050., führt für die Jahre

1745—1788

folgende Preiserteilungen auf dem Gebiet der deutschen Geschichte auf: 1748, Jusqu'où les Romains ont porté leurs armes et leur puissance au delà du Rhin et du Danube dans les contrées septentrionales de la Germanie? . . . . (Preis an Fein, Garnisonsprediger in Hameln), 1752, Dans quel tems les Peuples Allemands sont rentrés dans la possession des Marches qui sont entre l'Elbe et l'Oder, aussi bien que le la Nouvelle Marche et de la Poméranie? . . . . (Herzberg), 1760, . . . . on fera voir, t a n t par l'ancienne grandeur de la Marche de Brandebourg,

14

Über Methode und Gliederung der Darstellung

liehe Beschäftigung mit der deutschen Geschichte erst recht kein Platz. F ü r diese Situation charakteristisch ist die Reaktion der Akademie auf die ihr 1 7 7 7 vom König aufgedrungene Preisfrage: Est-il utile au Peuple d'être trompé, soit qu'on l'induise dans de nouvelles erreurs, ou qu'on l'entretienne dans celles où il est? Die Akademie erteilte für die beste bejahende wie für die beste verneinende Antwort 1780 gleichermaßen einen Preis. 2 0 Wenn das Beispiel der Rolle der Akademien in dieser Einleitung ausführlicher behandelt wurde, so deshalb, weil es besonders deutlich den grundsätzlichen Unterschied unserer Betrachtungsweise von den „modernen" Formen der bürgerlichen Geschichte der Geschichtsschreibung hervorhebt. Dieses Beispiel erhellt aber zugleich, warum in dieser Darstellung nicht nur und nicht einmal vorrangig die Entwicklung der Geschichtswissenschaft an den Universitäten behandelt wird. A n der Rolle der Akademien in der Aufklärungsbewegung wird deutlich, daß die Möglichkeit, fortschrittliche Ideen aufzunehmen, zu verarbeiten und zu propagieren, sowohl von der ökonomisch-sozialen Stellung der verschiedenen Teile der bürgerlichen Intelligenz als auch von der Zusammensetzung des Publikums (der Leser der Veröffentlichungen, der Hörer der Vorlesungen usf.) abhing. In der Publizistik und der schönen Literatur setzte sich das Neue früher durch als an den Universitäten und Akademien. Da die hier gewählte Periodisierung sich an den jeweils fortschrittlichsten Strömungen orientiert, lehnen wir uns dementsprechend teilweise an die Periodisierung der Literaturgeschichte an. Daher werden im folgenden vier Hauptperioden unterschieden: 1. Die Periode der Frühaufklärung, in der im wesentlichen unter theologischem und juristischem Gewände neue Auffassungen von der Geschichte vorgetragen werden, die Periode also vom Beginn bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. 2. Die Periode der Aufklärung im engeren Sinne, die Zeit also von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1770. 3. Die Periode vom Sturm und Drang bis zur Schwelle der Klassik, die vorrevolutionäre Periode von 1 7 7 0 bis 1789. 4. Die Periode der unmittelbaren Vorbereitung und des Beginns der bürgerlichen Umgestaltung Deutschlands vom Beginn der Französischen Revolution 1 7 8 9 bis zum Tilsiter Frieden 1807. Mit dem „Beginn der bürgerlichen Revolution in Preußen" ^Friedrich Engels) ist der Höhepunkt im bürgerlichen deutschen Geschichtsdenken erreicht. So bildet die klassische deutsche Philosophie und Dichtung auch den Abschluß unserer Darstellung.

20

que par d'autres traits remarquables tirés de l'Histoire de ce pays, que les anciens Margraves de Brandebourg ont de tout tems joué un rôle des plus distingués parmi les Puissances de l'Europe, surtout parmi celles du Nord (Buchholz, erster Pfarrer zu Lychen i. d. Uckermark). Für die beste verneinende Antwort wurde Becker, Gouverneur des Baron Dachenröden in Erfurt, für die beste bejahende de Castillon jun., Professor der Mathematik an der Ritterakademie zu Berlin, ausgezeichnet. Vgl. Krauss, Werner, Eine politische Preisfrage im Jahre 1780, a. a. O., S. 63 ff.

I. Die Frühaufklärung

i. Der Pietismus und die Geschichte (Gottfried Arnold) Im Jahre 1681 veröffentlichte Jacques Bénigne Bossuet, Erzieher des Dauphins von Frankreich, einen „Discours sur l'histoire universelle", in dem die Weltgeschichte als Geschichte des Wirkens der göttlichen Vorsehung dargestellt und der Widerspruch zwischen der göttlichen Ruhe und Beständigkeit und der irdischen Unruhe und Veränderlichkeit als Grundprinzip der Geschichte bezeichnet wurde. Zu dieser Zeit änderte der französische Absolutismus seine Stellung zur Bourgeoisie. Hatte er sie bisher im ganzen gefördert, wenn auch nicht an der politischen Macht beteiligt, so begann er nun, sich ihrem weiteren Erstarken zu widersetzen. Ausdruck dafür war die Aufhebung des Ediktes von Nantes (1685), auf Grund deren der fleißigste, intelligenteste und beweglichste Teil des französischen Bürgertums auf die Galeeren Ludwigs XIV. geschleppt oder auf das Rad geflochten wurde, soweit es ihm nicht gelang, die Grenzen des Landes zu überschreiten. Die französische Gesellschaft begann, sich um zwei Pole zu gruppieren: Adel und katholischer Klerus unter der Führung des absoluten Königs auf der einen Seite — der dritte Stand, die Manufakturisten, die Kaufleute und die Handwerker, das Vor- und Frühproletariat und die mit diesen Klassen und Schichten verbündete Intelligenz auf der anderen Saite. Dementsprechend setzte im geistigen Leben des Landes ein Polarisierungsprozeß ein. Gegen die feudale und klerikale Ideologie sammelte sich vom Beginn des 18. Jahrhunderts an die „Philosophie", die naturwissenschaftliche und die historische Forschung, mit einem Wort : die Aufklärung. Theologen und Historiker werden von nun an auf verschiedenen Seiten der Barrikaden stehen. Bossuets „Discours" war ein Versuch, durch eine theologische Geschichtsdeutung eine bürgerliche Entwicklung Frankreichs zu verhindern. Der letzte große Versuch dieser Art, der in Frankreich entstand — die spätere Restaurationsideologie der Chateaubriand, Bonald und de Maistre —, erwuchs bereits auf einem durch die Große Revolution umgepflügten Boden und hatte nicht mehr zum Ziel, die bürgerliche Gesellschaft, die sich unwiderruflich durchgesetzt hatte, rückgängig zu machen, sondern nur noch, den alten Kräften in dieser Gesellschaft einen möglichst großen Einfluß zu sichern. Keine zwei Jahrzehnte später als Bossuets „Discours", im Jahre 1699, erschien der erste Band der „Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie" Gottfried Arnolds, der letzte große Versuch, durch eine theologische Geschichtsdeutung die

i6

I. Die Frühaufklärung

bürgerliche Entwicklung Deutschlands vorwärtszutreiben. In diesem monumentalen, weitverbreiteten und heiß umstrittenen Werk wurde der Versuch gemacht, die Geschichte der Kirche, und darüber hinaus die Geschichte überhaupt, als Ganzes vom Standpunkt der unterdrückten Klassen aus darzustellen. Als Grundprinzip der Geschichte betrachtete Arnold den Widerspruch zwischen der Habsucht, dem Dünkel und der Unmoral der Herrschenden und dem Leben, Leiden und Handeln der Unterdrückten. Daß eben zu der Zeit, da in Frankreich eine Geschichtstheologie zum letzten Male die bürgerliche Entwicklung verhindern sollte, in Deutschland eine Kirchen- und Ketzergeschichte erschien, die die bürgerliche Entwicklung voranbringen sollte, bedarf natürlich der Erklärung. Welches waren die gesellschaftlichen Ursachen dafür, daß ein radikaler Vertreter des deutschen Pietismus geradezu von der Idee besessen war, die Geschichte der Ketzerbewegungen aufzudecken und damit zum Kampf gegen die Orthodoxie, die ideologische Hauptstütze der Feudalität, beizutragen? Friedrich Engels stellte fest: „Der große Kampf des europäischen Bürgertums gegen den Feudalismus kulminierte in drei großen Entscheidungsschlachten".1 Als diese drei großen Entscheidungsschlachten bezeichnete er die Reformation in Deutschland, die bürgerliche Revolution in England und schließlich die Französische Revolution. Engels wies auch darauf hin, daß zur Zeit der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland das internationale Zentrum des Feudalsystems die römisch-katholische Kirche war und daß der Kampf gegen den Feudalismus zunächst religiöse Verkleidung annehmen mußte. Dies gilt für das Deutschland des beginnenden 16. Jahrhunderts, und in verwandeltem Sinne gilt dies auch noch für die Anfänge der zweiten bürgerlich-antifeudalen Bewegung, der Aufklärung, um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Gewiß: die Reformation hat selbst in der Kompromißform, in der sie sich durchsetzte, insofern spätere geistige Fortschritte erleichtert, als die weltliche Macht der geistlichen Feudalität in den protestantischen Ländern gebrochen war. Das Bürgertum hatte es dort nun nicht mehr mit der im internationalen Maßstab organisierten Kraft der katholischen Kirche zu tun. Daraus erklärt sich mit, daß die Aufklärung sich im wesentlichen auf die protestantischen Teile Deutschlands beschränkte, während sie sich in den katholischen kaum durchzusetzen vermochte. (Die Tatsache, daß Frankreich das Zentrum der Aufklärung war, beweist, daß dieser Zusammenhang aber nur bedingt gilt: die katholische Kirche konnte die Aufklärung zeitweilig hemmen, an einem bestimmten Punkt spitzten sich die Gegensätze aber dann um so schroffer zu.) Mit der Niederlage der revolutionären Bauern im Jahre 1525 war aber entschieden, daß die Feudalität ihre Macht noch auf Jahrhunderte behielt und daß ihre Herrschaft in den deutschen Staaten die Form des territorialstaatlichen Absolutismus annahm. Die Erhebung der protestantischen Landesherren zu obersten Kirchen1

Engels,

Friedrich,

Einleitung zur englischen Ausgabe von „ D i e E n t w i c k l u n g des

Sozialismus v o n der Utopie zur Wissenschaft", in: Marx/Engels, Werke, B d 19, Berlin 1962, S. 533 ff.

i. Der Pietismus

17

herren gab dem Bündnis von Thron und Altar eine neue Form, ließ es aber dem Wesennach bestehen. Dieses Bündnis gab dem geistigen Leben Deutschlands von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts das Gepräge. Das gilt besonders für das Leben an den Universitäten. In einzelnen Territorialstaaten waren wohl seit der Reformation neue Hochschulen gegründet worden, z . B . Marburg, Königsberg, Jena, Helmstedt; aber auch an diesen Hochschulen war zunächst die theologische Fakultät die führende. Mit dem Erstarken des Absolutismus wuchs der Bedarf der Fürsten an geschulten Beratern, Beamten und Juristen, und deshalb wuchs auch allmählich die Rolle der juristischen Fakultäten, an denen diese für ihre Ämter präpariert wurden. Die Artisten-Fakultät (nachden artes liberales, die an ihnen gelehrt wurden, genannt), die Vorläuferin der philosophischen Fakultät, hatte lediglich die Aufgabe, die Studenten auf das Studium an den oberen Fakultäten — also der theologischen und der juristischen Fakultät — vorzubereiten. Ihre Studenten zählten bereits zu diesen oberen Fakultäten, wenn sie noch an der Artisten-Fakultät Vorlesungen hörten, und ihre Professoren waren am schlechtesten dotiert.2 Die Geschichtswissenschaft spielte an den Universitäten eine durchaus untergeordnete Rolle. Im Gegensatz zum christlichen Geschichtsbild des Mittelalters, nach dem die Geschichte als Heilsgeschichte von der Weltschöpfung zum Weltuntergang führen sollte, hatte der Humanismus das Interesse an der weltlichen Geschichte belebt. 1493 hatte der Nürnberger Arzt Hartmann Schedel eine „Weltchronik" in lateinischer Sprache veröffentlicht. Sie erschien bald auch in deutscher Übersetzung. Die Humanisten hatten auch die Herausbildung eines deutschen Nationalbewußtseins gefördert (Jakob Wimpfeling, Germania, 1505; dann vor allem Beatus Rhenanus, Rerum Germanicarum libri tres, 1 5 3 1 ) . Von ihrem Geschichtsoptimismus zeugt, daß sie die vorausgegangene Epoche als „Mittelalter" bezeichneten, ihre eigene als „Neuzeit". Im historischen Lehrbetrieb der Universitäten hatte der Humanismus aber keine wesentlichen Veränderungen bewirkt — die Geschichte war für ihn bloßer Lehrstoff der Moral oder der Beredsamkeit.3 Auch die Errichtung eines eigenen Lehrstuhls für Geschichte an der Universität Mainz (1504) hatte diesem Fach keine inhaltliche Selbständigkeit gegeben. Nach dem Sieg der Fürstenreformation in den protestantischen Ländern erstarrte sie erst recht wieder in höfischen und klerikalen Bindungen. Davon zeugen Veröffentlichungen wie Melanchthons Bearbeitung einer Weltchronik (1532) und Johann Sleidans Weltgeschichte (1556). An den Universitäten bildete die Geschichte nun eine bloße Hilfswissenschaft der Theologie oder der Jurisprudenz. 4 2

4

2

Vgl. Geschichte der Universität Jena, Bd 1, Jena 1958, S. 228. Die erste Universität, an der sich dies änderte, war Göttingen. Vgl. Engel, Josef, a. a. O., S. 279. Vgl. Engel, Josef, a. a.O., S. 239a. Ebenda, S. 255 ff. Streisand, Geschichtliches Denken

i8

I. Die Frühaufklärung

In der organisatorischen Stellung der Geschichtswissenschaft an den Universitäten des 16., 1 7 . und zum Teil auch noch des 18. Jahrhunderts spiegelte sich ihre untergeordnete Funktion innerhalb der feudal-klerikalen Ideologie wider: für die Staatsund die Kirchendiener war die Geschichte bestenfalls eine Hilfswissenschaft. Mit den historischen Werken, die aus dem Pietismus und der Naturrechtslehre hervorgingen, wurde aber unter dieser feudalen Hülle die geistige Emanzipation des Bürgertums vorbereitet. Diese Schwierigkeiten einer Vorbereitung des bürgerlichen Geschichtsdenkens an den deutschen Universitäten haben deshalb so wesentliche Bedeutung, weil in Deutschland nur im Staats- und Kirchendienst oder aber an den Universitäten Gelehrte ein Auskommen finden konnten. In jedem Fall also stand das wissenschaftliche Leben bis tief in das 18. Jahrhundert unter der unmittelbaren Aufsicht der feudal-absolutistischen Behörden und der Geistlichkeit. Weil der Entwicklungsgang der deutschen Bourgeoisie gelähmt war, fehlte es bis zu dieser Zeit auch an einem Lesepublikum für freie Schriftsteller. 1 6 3 5 erschien in Frankreich bereits ein „Journal des Savants", in dem in französischer Sprache über wichtige neue Bücher und andere Ereignisse in der gelehrten Welt berichtet wurde. Ein halbes Jahrhundert mußte vergehen, ehe in Deutschland ein ähnliches Unternehmen auch nur versucht werden konnte. Zunächst waren die verhältnismäßig exklusiven A c t a Eruditorum die einzige gelehrte deutsche Zeitschrift. Thomasius, der 1688,,Scherz- und ernsthafte, vernünftige und einfältige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand lustige und nützliche Bücher und F r a g e n " zu veröffentlichen begann, war damit vorerst ein von allen Seiten angefochtener Pionier. 5 Wie die Lage eines Schriftstellers war, der keinen Rückhalt an einer Universität hatte, zeigt, daß noch 1 7 3 7 der Verfasser einer durchaus harmlosen Chronik von Nordhausen als Honorar für den Druckbogen Bücher dieses Verlages im Werte von 1 6 Guten Groschen zugesichert erhielt, jedoch seinerseits versprechen mußte, daß er den Verleger schadlos halten würde, wenn diesem der Inhalt des Buches Schwierigkeiten bei der Obrigkeit bereiten Würde.6 Der Krieg hemmt auch in dem Sinne die Entwicklung der Gesellschaft, als er es den Geschichts- und Gesellschaftstheoretikern der Vergangenheit erschwerte, zu den Hauptproblemen der sozialen Entwicklung vorzudringen. Der Dreißigjährige Krieg warf die durch den Sieg der Fürstenreformation gehemmte geistige E n t 5

6

Der Leipziger Ostermesse-Katalog 1650 zeigte 3 1 4 Bücher in lateinischer und 1 3 1 Bücher in deutscher Sprache an. Von den 1 3 1 Büchern in deutscher Sprache gehörten 73 zur Theologie, 13 zur Geschichte, 1 1 zur schönen Literatur, 5 zur Geographie, 7 zur Medizin, 2 zur Rechtswissenschaft. (Vgl. Schottenloher, Karl, Bücher bewegten die Welt, Bd II, Stuttgart 1952, S. 290). 1681 erschienen zum ersten Mal mehr Bücher in deutscher (401) als in lateinischer Sprache (373). Vgl. Paschke, Max/Rath, Philipp, Lehrbuch des deutschen Buchhandels, 6. Aufl., Bd 1, Leipzig 1922, S. 56t. Freytag, Gustav, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, 4. Teil, Leipzig o. J . , S. 130.

i . Der Pietismus

wicklung Deutschlands noch weiter zurück. Da dieser Krieg von den Ideologen der kämpfenden Parteien als Religionskrieg dargestellt wurde, spitzten sich auch die dogmatischen Haarspaltereien innerhalb der einzelnen Konfessionen unerträglich zu. ,,Je geistreicher der Eine erscheinen wollte, desto mehr Ketzereien entdeckte er an dem Anderen." 7 Auf der anderen Seite aber wuchsen unter den Volksmassen eben durch diese Polemik der Theologen untereinander die Gleichgültigkeit gegen einzelne Glaubensartikel, die Abneigung gegen religiöse Streitigkeiten und schließlich die Ablehnung der kirchlichen Orthodoxie aller Konfessionen, der man mit Recht einen wesentlichen Anteil am Elend des Krieges und der Verheerung des Landes zuschrieb. Seine religiöse Widerspiegelung fanden das Elend, in das der Dreißigjährige Krieg Deutschland gestürzt hatte, der Überdruß der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten an den dogmatischen Spitzfindigkeiten der orthodoxen Theologen und das sich zögernd belebende Selbstbewußtsein dieser Schichten im Pietismus. Philipp Jakob Spener veranstaltete seit 1670 als Oberpfarrer in Frankfurt (Main) — zu j ener Zeit gleichbedeutend als Wahl- und Rrönungsstätte der Kaiser, als Messe- und Handelsplatz und als Zentrum des Buchhandels — „Collegia Pietatis", also Zusammenkünfte von Gläubigen außerhalb der offiziellen Gottesdienste. An diesen Veranstaltungen beteiligten sich vor allem Handwerker. In den „Pia Desideria", die Spener 1675 veröffentlichte, setzte er sich für eine Reform des kirchlichen Lebens ein. Spener forderte, die Idee des allgemeinen Priestertums, wie sie auch zu Beginn der Reformation verkündet worden war, zu verwirklichen, Toleranz in Religionsstreitigkeiten zu üben und dem Gedanken, daß wahres Christentum sich im Handeln äußere, Geltung zu verschaffen. Diese Forderungen, die sich ihrem Wortlaut nach allein auf innenkirchliche Angelegenheiten bezogen, hatten in Wirklichkeit eine konkrete gesellschaftliche, nämlich bürgerliche Tendenz. Sie liefen darauf hinaus, die Befreiung der bürgerlichen Schichten von dem Druck der feudalen und klerikalen Mächte vorzubereiten. Mit dem englischen Puritanismus verbanden den deutschen Pietismus gewisse gemeinsame Züge. Sie äußerten sich vor allem in der Auffassung, daß der Beruf, den ein Mensch ausübt, keine bloße Äußerlichkeit sei, sondern daß er religiöse Bedeutung habe: Im beruflichen Erfolg zeige sich, ob jemand ein wahrer Christ sei. Von hier aus ist es nur noch ein Schritt zu der Form der Prädestinationslehre, die sich im Calvinismus der westeuropäischen Länder durchgesetzt hat, wonach Erfolg im Beruf ein Zeichen der Erwähltheit zur Seligkeit sei. Diese Konsequenz zu ziehen lag Spener freilich fern, wie er ja auch — im Unterschied zum englischen Puritanismus — keinerlei konkrete politische Forderungen formuliert hat. Die bürgerliche Tendenz der pietistischen Bewegung war anfangs deutlich genug. Daher wurde sie zunächst von der kirchlichen Orthodoxie, dem Adel und den Fürsten wütend bekämpft. Spener war zwar von Frankfurt aus als Oberhofprediger nach Dresden berufen worden. In einer Flugschrift wurde ihm aber bald als „unanständige Conduite" vorgeworfen, daß er „bei Bürgersleuten der Stadt, 7

2*

Dibelius,

Franz, Gottfried Arnold, Berlin 1873, S. 13.

20

I. Die Frühaufklärung

wo ihm nur einfiel, Visiten ablegte"8. Spener wurde auch tatsächlich 1691, insbesondere nachdem er sich gegen Ausschweifungen am sächsischen Hofe gewandt hatte, zum Verlassen der sächsischen Hauptstadt gedrängt. Die von der pietistischen Bewegung formulierten Gedanken entsprachen jedoch in so adäquater Weise der Stimmung der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten, daß weltliche und geistliche Obrigkeiten bald den Rückzug antreten mußten. In dem Maße, in dem sie sich ausbreitete, verlor die Bewegung aber ihren einheitlichen Charakter. Die einflußreichste Gruppierung innerhalb des Pietismus sammelte sich um August Hermann Francke, der 1695 vom Pfarrhaus in Glaucha bei Halle aus Armenschulen, Waisenhäuser und Internate zu gründen begann. Diese Strömung des Pietismus gab gewissen ökonomischen Interessen des Bürgertums innerhalb der feudal-absolutistischen Ordnung am deutlichsten Ausdruck. Frömmigkeit und Geschäftstüchtigkeit sind bei Francke in charakteristischer Weise verbunden.9 Er widmete sich der Herausgabe geistlicher Schriften und brachte allmählich eine Papierfabrik, eine Buchdruckerei und eine Buchhandlung in eigenen Besitz. Außerdem beschäftigte er sich mit dem Verkauf von Heilmitteln, wobei ihm sein Freund Hoffmann, der erste Hersteller der Hoffmannstropfen half, und er sicherte den Erfolg seiner Schulen und Internate, indem er gleichermaßen die Interessen des Adels und des Bürgertums zu berücksichtigen versuchte. Während die Arbeitskraft der Kinder der Waisenhäuser in Manufakturen ausgebeutet wurde, diente das Pädagogium der „Erziehung des Herrenstandes, adliger und fürnehmer Leute Söhne". Francke verstand es, am preußischen Hofe, vor allem unter der Regierung Friedrich Wilhelms I., Einfluß zu gewinnen, und der königlich-preußische Pietismus10 wurde zum willfährigsten Diener des preußischen Absolutismus. Auf eine Denunziation pietistischer Professoren hin wurde bekanntlich Christian Wolff im Jahre 1723 bei Strafe des Stranges innerhalb von 48 Stunden zum Verlassen Halles gezwungen. (Der Pietistenklüngel hatte dem Soldatenkönig eingeredet, die deterministische Lehre Wolffs rechtfertige mit der These, daß alle Erscheinungen notwendige Ursachen hätten, auch die Desertation von Soldaten.) Von dieser Richtimg des Pietismus gingen später, im 19. Jahrhundert, jene Ausläufer der pietistischen Bewegung aus, die in der Bourgeoisie des Rheinlandes Verbreitung fanden (in seinen „Briefen aus dem Wuppertal" gab Friedrich Engels eine prägnante Charakteristik dieser Bewegung11). In der Restaurationszeit gewann auch unter den Junkern auf den ostelbischen Gütern der Pietismus wieder starken Einfluß. An die von Spener begründete pietistische Bewegung schlössen sich aber schon 8

„Ausführliche Beschreibung des U n f u g s der Pietisten in Halberstadt und von dem pietistischen Wesen insgemein", zit. nach Biedermann,

Karl,

Deutschland

im

18. Jahrhundert, B d 2, Leipzig 1858, S. 324f. 9

Vgl. Winter, Eduard,

Halle als A u s g a n g s p u n k t der deutschen Rußlandkunde im

18. Jahrhundert, Berlin 1953, S. 18 ff. w Ebenda, S. 28. » MarxjEngels,

Werke, B d 1, Berlin 1956, S. 4 i 8 f f .

21

i. Der Pietismus

unmittelbar nach ihrem Entstehen verschiedene andere Strömungen 1 2 an — nicht zuletzt solche Strömungen, in denen Schwärmer, Sektierer oder Abenteurer aller Schattierungen ein Betätigungsfeld fanden. Zu den letzteren zählt etwa die ehemalige Hofdame E v a von Buttlar. Nach einem lockeren Lebenswandel am Hofe eines Kleinfürsten verließ sie ihren Mann und ihre Standesgenossen, bildete eine eigene Sekte und ließ sich zusammen mit zwei Anhängern als die Heilige Dreieinigkeit verehren. Schließlich gab der Gottvater dieser Trinität die Herrschaft an den Kollegen ab, der bisher Jesus repräsentiert hatte. E r selbst aber machte aus E v a von Buttlar, dem heiligen Geist, seine durchaus irdische Ehefrau. 1 3 August Hermann Francke hatte sich darum bemüht, die wirtschaftlichen Interessen des Bürgertums im Rahmen der feudalen Ordnung zu rechtfertigen und zu befriedigen. Bewußt antifeudale Auffassungen lagen ihm fern, obgleich aus der pietistischen Lehre solche Konsequenzen gezogen werden konnten. Diese antifeudalen Potenzen wurden nur bei einzelnen radikalen Vertretern tatsächlich wirksam. Z u ihnen gehörte Johann Conrad Dippel, gehörten Vertreter des württembergischen Pietismus, gehörte aber insbesondere Gottfried Arnold, der bedeutendste Vertreter des deutschen Pietismus — bedeutend in Theologie, Dichtung und Geschichtsschreibung. 14 A m 5. September 1666 als Lehrersohn in Annaberg geboren, mußte der in kümmerlichen Verhältnissen aufgewachsene Junge früh selbst als Hauslehrer tätig sein. 1682 besuchte er das Gymnasium in Gera, kam 1685 an die Universität Wittenberg und wurde dort schon im folgenden Jahre Magister. Wie viele andere deutsche Schriftsteller und Gelehrte dieses und des folgenden Jahrhunderts trat auch Gottfried Arnold nach Abschluß seines Studiums eine Stelle als Hofmeister an. 1688 wurde er — auf eine Empfehlung Speners hin, dessen Schriften er schon in Wittenberg studiert hatte und den er auch persönlich kennengelernt hatte — Hauslehrer beim Obersten von Goetz in Dresden. Spener, der — wie erwähnt — zu dieser Zeit Oberhofprediger in der Kursächsischen Residenz war, nahm sich des begabten jungen Mannes an. Freilich muß es schon damals manche Differenzen zwischen dem gemäßigten Oberhofprediger und dem radikalen Hauslehrer gegeben haben. Arnold bezeichnete Spener bereits zu dieser Zeit als „Halben". 12

Vgl.

Barthold,

F. W.,

Die

Historisches Taschenbuch, 13 14

Erweckten

im

protestantischen

Deutschland,

in:

hg. v. F. Raumer, 3. Folge, 374. Jg. Leipzig 1852/53.

Vgl. Freytag, Gustav, a. a. O., B d I V , S. 68 f. Über Gottfried Arnold ist eine größere Anzahl von Einzelstudien veröffentlicht worden. A n umfassenderen Darstellungen sind jedoch nur zwei zu nennen: die sorgfältige Biographie v o n Dibelius, präzisen

biographischen

ausführliche Darstellung Seeberg, Erich,

Franz,

Gottfried Arnold,

Berlin 1873, mit

Angaben sowie Materialien zum Lebenslauf der

Stellung

Arnolds

Gottfried Arnold, Meerane 1923,

in der

und

Geistesgeschichte

die von

in der freilich die mystischen

Züge bei Arnold einseitig gegenüber der sozialkritischen Tendenz seines Werkes überbetont werden.

I. Die Frühaufklärung

22

Spener hatte 1691 Dresden verlassen müssen und war als Propst an die Berliner Nikolaikirche berufen worden. Die Trennung von ihm hat es Arnold erleichtert, zu radikalen Konsequenzen aus der pietistischen Lehre fortzuschreiten. Hatte er schon in dem — wohl während seines Aufenthaltes in Dresden entstandenen — „Babels Grablied" nicht nur die kirchliche Orthodoxie, sondern die Kirche überüberhaupt scharf kritisiert, so vertrat er jetzt auch im persönlichen Umgang seine Ideen mit unversöhnlicher Schroffheit. Er wurde Hauslehrer bei einem General, machte sich aber hier „vielen, sonderlich seinen Hausgenossen unerträglich, welche mit Worten und Werken sich in ihren Sünden bestraft sahen, also daß er zuletzt in einer vornehmen Familie, darinnen er lebte, seinen Abschied unversehens bekam" 15 . Noch einmal setzte sich Spener für Arnold ein und vermittelte ihm eine neue Hauslehrerstelle, und zwar bei dem kurfürstlichen Stiftshauptmann von Stammer in Quedlinburg. Um die Stadt Quedlinburg bestanden bereits seit über einem Jahrzehnt Streitigkeiten zwischen Sachsen und Brandenburg, welches unter Berufung auf den Westfälischen Frieden, in dem ihm Halberstadt zugesprochen worden war, auch Quedlinburg beanspruchte. Diese Streitigkeiten, die nicht ohne Einfluß auf Arnolds persönliches Schicksal blieben, fanden 1698 mit einem Handstreich, durch den Brandenburg sich endgültig in den Besitz der Stadt setzte, ihren Abschluß. Quedlinburg war ein Zentrum jener Schwärmer und Sektierer, die den Pietismus auf ihre Art auslegten. Der Gedanke des allgemeinen Priestertums hatte bei Handwerkern der Stadt zu den eigentümlichsten Konsequenzen geführt. Ein Goldschmied, Heinrich Kratzenstein, hatte, wie er behauptete, auf göttlichen Befehl seine eigene Frau verlassen und eine andere, die freilich nichts von ihm wissen wollte, unter Berufung auf eben diesen Befehl für sich begehrt. Sein Treiben erregte solches Aufsehen, daß er 1692 eingekerkert wurde. Als er 1696 im Gefängnis starb, gab es Tumult in der Stadt. Der Hofdiakon Sproegel, der diesen Schwärmern an sich fernstand, wurde von den Behörden der Verbindung mit Kratzenstein bezichtigt, und da Arnold mit Sproegel in engen Verkehr getreten war, wurde auch er 1695 in dieser Angelegenheit vernommen 1696 veröffentlichte Gottfried Arnold sein erstes größeres historisches Werk: „Die erste Liebe, das ist wahre Abbildung der ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben". Diese Schrift knüpfte an ein Buch des Kanonikus von Windsor und königlichen Kaplans William Cave an, in dem dieser zu zeigen versuchte, daß die Zeit Konstantins eine Blütezeit der Kirche war. Bereits in diesem Buch formulierte Arnold den Grundgedanken seiner „Kirchen- und Ketzerhistorie", den Gedanken nämlich, daß das Christentum in dem Augenblick, da es zur herrschenden Religion geworden sei und die Kirche weltliche Macht erlangt habe, im Dienste der herrschenden Klassen entartet sei. 15

Nach dem Lebenslauf in: Arnold, historie, Schaffhausen 1740.

Gottfried,

Unparteiische Kirchen- und Ketzer-

l. Der Pietismus

23

Das Werk erweckte allerorts lebhaftes Interesse. E s erlebte in wenigen Jahren mehrere Auflagen. Der Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt, dem es vor Augen gekommen war und der mit den Pietisten sympathisierte, berief seinen Verfasser als Professor der Geschichte an die Universität Gießen. Nach einigem Sträuben folgte Arnold der Berufung und las kurze Zeit an der philosophischen Fakultät Weltgeschichte., .Ekel vor dem hochtrabenden, ruhmsüchtigen Vernunftswesen des akademischen Lebens" — gerade als Professor der untersten Fakultät war ja Arnold verpflichtet, die plumpen Studentenfeierlichkeiten im Stile von „Auerbachs Keller" mitzumachen — trieb ihn bald wieder fort. Im Sommer 1698 kehrte er nach Quedlinburg zurück und widmete sich, im Hause Sproegels als dessen Gast lebend, der wissenschaftlichen Arbeit. Die Tätigkeit an der Universität Gießen hat es Arnold nicht nur erleichtert, kirchenhistorisches Material zu sammeln und zu sichten, sondern sie vertiefte darüber hinaus seine kritischen Anschauungen. 1699 erschien der erste Band seiner „Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie, vom Anfang des Neuen Testaments bis zum Jahre Christi 1689". Der zweite Band erschien im folgenden Jahre. Da die Vorrede „Giessen, 1. März 1 6 9 7 " datiert ist, hat er die Arbeiten an dem ersten Band offenbar dort bereits begonnen. Arnold bezieht sich in ihr auf die „Wahrhafte Abbildung der ersten Christen" und erklärt, daß „durch gedachtes Buch wohl das Bild wahrer Christen dargestellt war, das Gegenbild aber der falschen, verderbten Christen etwas unzulänglich und unvollkommen, aus Mangel der Zeit und des Raumes, herauskam" 16 . Was in Wirklichkeit entstand, war aber nicht nur ein Bild „falscher, verderbter Christen", sondern, wie Hettner richtig feststellt, das „einzig bedeutende Literaturwerk des deutschen Pietismus" 17 und darüber hinaus „der Zeit nach das erste deutsche Geschichtswerk" 18 . Die „Kirchen- und Ketzergeschichte" ist aber nicht nur als das der Zeit nach erste deutsche Geschichtswerk wichtig. Wirkung und Bedeutung des Werkes beruhen vor allem darauf, daß hier eine Geschichte des kirchlichen, ja des geistigen Lebens überhaupt vom Standpunkt der Unterdrückten aus entstand und daß der enge Zusammenhang zwischen Ketzerbewegungen und sozialen Befreiungsbewegungen in dem Werk unmittelbar zum Ausdruck kommt. Arnold erklärte, er hätte deshalb das Buch „in unserer Sprache abgefaßt, damit nicht nur Schulgelehrte, sondern auch andere, die gleichwohl außerhalb der Schulen Weisheit und Erfahrung von Gott haben, insgemein von Allem und Jedem urteilen mögen, und sonst etwas daraus nehmen können." 19 Es zielte unmittelbar auf praktische Wirkung: „Im bloßen Lehren, Predigen und allen äußerlichen Worten läßt sich viel zum Schein sagen, heucheln und anderen zur Last auflegen; ob mans aber selber mit einem Finger anrührt, weist sich in der Praxis aus." 20 16 17

18 19 20

Ebenda, Vorrede § 1,8. Hettner, Hermann, Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert, Teil 3, Buch 1, 2. Aufl., Braunschweig 1872, S. 61. Ebenda, a. a. O., S. 64. Arnold, Gottfried, a. a. O., Vorrede, § 1,41. Ebenda, § 1,38.

I. Die Frühaufklärung

24

Von ausschlaggebender Bedeutung für das Verständnis des Buches ist die Klärung des Begriffes „unparteiisch". Bereits mehrfach 21 ist richtig das Prinzip von Arnolds „Kirchen- und Ketzergeschichte" mit der Aufforderung des Christian Thomasius an die Studierenden verglichen worden, „das Vorurteil der Religion" (praeiudicium religionis) abzulegen, in der sie aufgewachsen sind. Arnold selbst erklärte, daß dieser Vorsatz der Unparteilichkeit hauptsächlich erfordere, „nichts, was zum ganzen Begriff der historischen Wahrheit dient, auszulassen, zu bemänteln, zu verdrehen oder verkehren" 22 . Diese Bemerkungen genügen aber nicht zum Verständnis dessen, was Arnold „unparteiisch" nannte. „Unparteilichkeit" ist bei ihm ein durch und durch polemischer Begriff. Sie hat nichts mit der objektivistischen Neutralität der spätliberalen Wissenschaftstheorie gemein. Die Unparteilichkeit des radikalen Kritikers wird der Voreingenommenheit derjenigen entgegengesetzt, die im Interesse der Herrschenden Geschichte schreiben: „Was durch die parteiischen Kirchenhistorien an Unwahrheiten allerseits in die Welt geschrieben und an Greueln auf die Nachkommen fortgepflanzt worden ist, ist wohl nicht genug zu bedauern. Eben wie in der politischen Historie daraus die größten Verwirrungen, Feindschaft und andere Schäden erfolgen, so daß viele ihre Republik, darunter sie etwa leben, und ihr Interesse suchen, allein großmachen, ihr alles zuschreiben, und den Übrigen, sonderlich den Nachbarn, weder Ehre noch sonst etwas lassen." 23 Unparteilich ist also nach Arnolds Auffassung der, der sich von den Vorurteilen der herrschenden Klassen freimacht und der damit jenseits der Parteien steht, in die die christlichen Kirchen zerfallen sind. Von diesem Standpunkt aus nahm sich Arnold schützend aller Ketzer der Kirchengeschichte an, richtete er aber vor allem den Hauptstoß der Kritik gegen Ketzermacher und Ketzerrichter. Von diesem Standpunkt aus können natürlich die Bewegungen der Unterdrückten in der Vergangenheit eindringlicher, gerechter und objektiver beurteilt werden, als dies je zuvor in der Kirchengeschichtsschreibung möglich war. Auch wenn Arnold sich in der Einteilung des Stoffes an das Vorbild der Magdeburger Zenturiatoren hielt, also jenes nach Jahrhunderten geordneten Kirchengeschichtswerkes, das die Fürstenreformation gegen die katholische Kirche verteidigen sollte, ging der Inhalt weit über alles Bisherige hinaus. Er überwand die Annalistik und Chronistik, indem er seiner Darstellung einen leitenden Gedanken zugrunde legte, indem er riesige Stoffmassen nach diesem Gedanken ordnete und indem er eine wesentliche Entwicklungstendenz in der Wirklichkeit selbst aufdeckte: den Zusammenhang zwischen dem Kampf gegen die jeweils herrschenden Kreise des Klerus und dem Kampf gegen die herrschenden Klassen überhaupt.

21

Seeberg, Erich,

Gottfried, Arnold, Meerane 1923, S. 232, ähnl. Neisser,

Lieselotte,

Chr. Thomasius und seine Beziehungen zum Pietismus, phil. Diss. Heidelberg 1928, S. 68. Die erwähnte Aufforderung des Thomasius findet sich in den Cautelae circa praecognita iurisprudentiae ecclesiasticae, 3. Kap., § 7, Halle 1712, S. 20. 22

Gottfried, Arnold,

23

Ebenda, Vorrede § 1,21.

a. a. O., Vorrede § 1,29.

l . Der Pietismus

25

Eine Wesentliche Entwicklungstendenz — das heißt aber nicht, daß Arnold ein Gesamtbild des geistigen oder auch nur des religiösen Lebens hätte geben wollen oder können. Daran hinderte ihn die psychologische Methode, die ihm den Blick auf den Zusammenhang zwischen dem Denken der Menschen und den gesellschaftlichen Verhältnissen versperrte. Institutionen und Organisationen erschienen ihm schon als solche als Zeichen des Verfalls. Insofern stand natürlich auch er unter dem Eindruck der mystischen und schwärmerischen Züge im Pietismus. Eine weitere Grenze seines Geschichtsbildes besteht darin, daß Kirche und Ketzer für ihn ein Widerspruch waren, der unveränderlich die ganze Weltgeschichte bestimmt. „Es wird immer einerlei Komödie und Tragödie auf der Welt gespielt, nur daß immer andere Personen dabei sind", schrieb er in einem Buch, das einige Jahre nach der Kirchen- und Ketzergeschichte erschien.24 In dieser Hinsicht ist er mit Sebastian Franck verwandt, der von der Weltgeschichte gesagt hatte, ,,wir sind alle nur ein Gelächter und Fastnachtsspiel vor Gott" und mit dem ihn auch das Bestreben, einen Zusammenhang in der Geschichte zu finden, verbindet. Dem späthumanistischen Mystiker Franck und dem Pietisten Arnold war auch die Sympathie für die Ketzerbewegungen gemeinsam. Arnolds Werk erschien aber zu einer Zeit, da die bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen anwuchsen und da solche Gedanken viel unmittelbarer gegen das Bündnis zwischen Landesfürstentum und Orthodoxie gerichtet sein konnten. Die Parteinahme für die Unterdrückten bestimmte den Inhalt seiner Kirchenund Ketzergeschichte. Aus der damaligen Lage der plebejischen und kleinbürgerlichen Schichten war jedoch keine Wendung zum Besseren unmittelbar sichtbar. Das Geschichtsbild Arnolds war daher tief pessimistisch. Ansätze zum Besseren habe es in der Geschichte oft gegeben, aber diese Bestrebungen seien immer wieder entartet. Das Urchristentum als Bewegung der Armen und Unterdrückten schien eine Wendung zum Guten anzudeuten — aber dieser Ansatz wurde verdorben, als Konstantin der Große anfing, „die Partei der Christen zu halten, bloß aus einer politischen Staatsmaxime, damit er desto besser von dem Reiche Meister werden könnte" 25. Kirche und Welt haben sich seither zum Schaden beider verbunden. Die Lage des „gemeinen Mannes" hat sich daher ständig verschlechtert. 26 Er warf dem Klerus vor allem vor, daß er seither „den einen Fuß auf der Kanzel, den anderen im Rathaus" habe. 27 Ähnlich beurteilte er Verlauf und Ergebnis der Reformation. Von Luther heißt es: „Anfänglich findet man ein vortreffliches Bildnis eines evangelischen wahren Christen und Lehrers an ihm." 2 8 Nachdem die Landesfürsten 24

Arnold,

Gottfried, Wahres Christentum des A l t e n Testaments, 1707, S. 165, zit.

nach Dibelius, Franz, a. a. O., S. 143. 25

Arnold, Gottfried, a. a. O., S. 136.

2« Ebenda, S. 139. w Ebenda, S. 182.

28

Ebenda, S. 656.

26

I. Die Frühaufklärung

aber erkannt hatten, Welche Dienste die Reformation ihnen zu leisten vermochte, wurde auch diese Bewegung zum Instrument weltlicher Macht und setzte sich in Widerspruch zum wirklichen Christentum. Grundlegende Ideen der Aufklärung wurden unter theologischer Hülle bei Arnold bereits vorbereitet. Die „Kirchen- und Ketzergeschichte" vertrat entschieden die Idee allseitiger Toleranz. Von den Mohammedanern hieß es ausdrücklich, sie „pflegten sich allgemein vor allen Lügen zu hüten . . ., die Christen aber schämten sich nicht, die allergreiflichsten Lügen jenen öffentlich und wider ihr besseres Wissen vorzubringen" 29 . Der Mohammedanismus entsprach dem Bedürfnis des „natürlichen Menschen", der vom Verfall des Christentums abgestoßen war, und konnte sich deshalb soweit ausdehnen — eine Beurteilung, die der Sympathie Leibniz' für Mohammed entspricht.30 Arnold spricht auch mit Empörung an verschiedenen Stellen von Judenprogromen des Mittelalters. Seine besondere Sympathie galt aber den Aufstandsbewegungen der Bauern. Er weist darauf hin, daß Sickingen geschont wurde, weil er „kein Bauer, sondern ein Edelmann und Großer" war 31 , und betont vor allem die Schuld der Feudalherren am Bauernkrieg. In der „Kirchen- und Ketzergeschichte" Arnolds wurden zum ersten Male nach fast zwei Jahrhunderten Originalschriften Thomas Müntzers ohne entstellende Auslassungen oder Kommentare wieder abgedruckt. „Gottfried Arnold hat den ersten Versuch gemacht, die Legende zu zerstören", die die feudale und klerikale Reaktion um Müntzer erfand. 32 Sogar der Gedanke der Gütergemeinschaft taucht gelegentlich auf, und Campanella wird mit Sympathie behandelt. Ohne daß dies ausdrücklich hervorgehoben wird, erweitert sich der Grundgedanke des Werkes gelegentlich: Nicht mehr die Mächtigen werden kritisiert, weil sie Ketzer verfolgen, sondern die Ketzerrichter werden bekämpft, weil sie mächtig sind; nicht nur werden die Unterdrückten verteidigt, weil sie Ketzer sind, sondern die Ketzer werden verteidigt, weil sie politisch und sozial unterdrückt sind. Daß ein solches Werk stürmische Auseinandersetzungen hervorrief, ist nicht verwunderlich. Es waren freilich nur wenige, die sich offen auf die Seite Arnolds zu stellen wagten. Der angesehenste unter ihnen war Christian Thomasius, der erklärte: „Ich halte obgedachte des Herrn Arnoldi Historie nach der Heiligen Schrift für das beste und nützlichste Buch, das man in hoc scribendi genere gehabt hat." Das Bündnis zwischen Naturrechtslehre und Pietismus, das zeitweilig bestand und die Aufklärung wesentlich vorzubereiten half, war z. B. schon darin zum Ausdruck gekommen, daß Arnold die Möglichkeit gehabt hatte, die Bibliothek des Thomasius für seine Arbeiten zu benutzen, und daß Arnold 1693 in den Zeit29 30

Ebenda, S. 293. Leibniz,

G. W.,

Die Theodicee, Vorrede S. 3, übers, v. A r t u r Buchenau, Leipzig

1925 (Philos. Bibl. B a n d 71), vgl. dazu Seeberg, Erich, a. a. O., S. 97. 31 32

Arnold, Gottfried, a. a. O., S. 626f. Steinmetz, Max,

Zur E n t s t e h u n g der Müntzer-Legende, in: Beiträge zum neuen

Geschichtsbild. Z u m 60. Geburtstag v. A . Meusel, Berlin 1956, S. 67.

27

i. Der Pietismus

Schriften des Thomasius anonym bzw. halbanonym veröffentlicht hatte. 33 Viele seiner bisherigen Freunde rückten aber nach dem Erscheinen der „Kirchen- und Ketzerhistorie" von dem Verfasser des Buches ab. Spener schrieb an Arnold am 25. Januar 1701, er hätte sich „dieser Ausflucht insgemein bedient, weder die Schriften, die mix zu schwei sind, als z. B. Jakob Böhmes, noch von guten Freunden diejenigen, von welchen ich sorge, daß ich dieselben nicht anders als improbieren müßte, zu lesen, um also mich gegen das Ansinnen anderer zu schützen, die mein Urteil darüber fordern und mich deswegen anlaufen würden" 34 . Ja selbst ein Theologe, der mit dem Pietismus sympathisierte, der Ulmer Superintendent Veiel erklärte, „Arnolds Buch führt erstlich auf den Libertismus und hernach auf den Atheismus; er habe es cum horrore gelesen, wünschte aber, es nicht gelesen und seine Sinne dadurch nicht verunreinigt zu haben" 35 . Die wütendsten Gegner kamen natürlich aus den Reihen der protestantischen Orthodoxie, die mit dem Landesfürstentum verbündet war. Vor allem der außerordentliche Professor der Philosophie an der Universität Helmstedt, Ernst S?lomo Cyprian, machte es sich geradezu zum Lebensberuf, Arnold zu bekämpfen und zu denunzieren. Noch Jahrzehnte nach dem Tode Arnolds schrieb er 1745 in der Vorrede zu einer von ihm angeregten Schrift eines gewissen Georg Grosche, Pfarrer in Friedrichsroda, die sich gegen Arnold richtete, „ich meine, es sei von Christi Geburt an kein so schändliches Buch unter den Christen ans Licht getreten, als die Arnoldsche Ketzerhistorie" 36 . Sogar Leibniz duldete, daß im „Monatlichen Auszug aus allerhand neu herausgegebenen Büchern" eine Kritik seines Mitarbeiters, des Historikers Johann Georg Eckhart, erschien, die sich den Vorwürfen Cyprians im wesentlichen anschloß und den Wunsch aussprach, es möge „sich auch ein wahrheitsliebender und gelehrter Mann an eben dieselbe Ketzerhistorie machen, die unzähligen historischen Fehler untersuchen und bescheidentlich widerlegen" 37 . Es blieb nicht bei literarischen Angriffen. Offensichtlich im Zusammenhang mit der Hetze gegen die „Kirchen- und Ketzerhistorie" erließ die Äbtissin des Stiftes von Quedlinburg im Juli 1700 eine Anweisung, wonach diejenigen, die nicht innerhalb von 4 Wochen zum Abendmahl gingen, aus dem Stift ausgewiesen wurden. Arnold weigerte sich zu dieser Zeit, das Abendmahl in der vorgeschriebenen Form zu nehmen. In einer Epoche, da die Bestätigung der Abendmahlsfähigkeit einer „untertänigen Anständigkeits-, Ehren- und Loyalitätserklärung" 38 gleichkam, war diese Weigerung ein A k t sozialen Protestes. 33

Seeberg, Erich, a. a. O., S. 17.

35

Zit. nach Dibelius,

Franz, a. a. O., S. 120.

36

Zit. nach Dibelius,

Franz, a. a. O., S. 119.

37

Zit. nach Dibelius,

Franz,

34

Zit. nach Dibelius,

a. a. O., S. 229. Burdach,

Franz,

Konrad,

a. a. O., S. 236.

F a u s t und Moses,

Sitzg. Ber. d. Preußischen Akademie der Wiss. 1912, S. 745, A n m e r k u n g 1, h a t nachgewiesen, daß nicht Leibniz selbst der Verfasser war. Selbmann,

Erhard,

hallischer

Prägung:

Die 450

Halle o. J., Bd 2, S. 60.

gesellschaftlichen Jahre

Erscheinungsformen

Martin-Luther-Universität

des

Pietismus

Halle-Wittenberg,

28

I. Die Frühaufklärung

Die Anweisung der Äbtissin richtete sich unmittelbar gegen ihn. Der preußische Landesherr Quedlinburgs, Kurfürst Friedrich, der sich in den Auseinandersetzungen um Quedlinburg unter den Pietisten eine Stütze zu verschaffen gesucht hat und dem die „Kirchen- und Ketzerhistorie" auch gewidmet War, intervenierte zugunsten Arnolds und bestritt dem Stiftskonsistorium das Recht, derartige Anordnungen zu erlassen. Die Auseinandersetzungen nahmen einen derartigen Umfang an, daß sogar Militär gegen etwaige Unruhen in der Stadt bereitgestellt wurde. Trotz der preußischen Intervention wurde am 20. November Sproegel befohlen, bei 20 Talern Strafe Arnold aus seinem Hause zu weisen. Eine kurfürstliche Kommission erklärte daraufhin ihrerseits, Arnold dürfte bei 30 Talern Strafe nicht aus dem Hause Sproegels verstoßen werden. Um die Situation nicht unnötig zuzuspitzen, lenkte Arnold insofern ein, als er sich bereit erklärte, das Abendmahl zu nehmen. — Das Stiftkonsistorium befahl aber gleichwohl am3. Dezember 1700 seine Ausweisung. Da Arnold bald darauf von der verwitweten Herzogin von Sachsen-Eisenach als Schloßprediger nach Allstedt berufen wurde, wurde der Konflikt nicht mehr ausgetragen. Mit der Berufung nach Allstedt brach Arnold mit den ehefeindlichen pietistischen Schwärmergruppen, denen er sich zeitweilig genähert hatte. Er nahm ein Pfarramt an und schloß mit einer Tochter Sproegels die Ehe. Auch in Allstedt stieß Arnold mit der Orthodoxie zusammen, weigerte er sich doch, die Konkordienformel zu beschwören. Friedrich, seit Januar 1701 König in Preußen, intervenierte von neuem zu seinen Gunsten, indem er ihn zum ersten preußischen Historiographen ernannte. Darüber hinaus hat Arnolds Schwiegervater Sproegel, der von Quedlinburg aus nach Werben (Altmark) als Pfarrer berufen worden war, an Danckelmann und Spener Arnold empfohlen und es auch erreicht, daß dieser 1705 nach Werben als sein Nachfolger berufen wurde. 1707 wurde Arnold Pfarrer in Perleberg. Sein Gesundheitszustand hatte sich wesentlich verschlechtert; seit 1713 war er schwer an Skorbut erkrankt. Als am ersten Pfingstfeiertag 1714 unter lautem Trommelwirbel preußische Werber „in die Kirche unter der Kommunion einfielen, einige junge Leute mit Gewalt (wie man sagt) daraus zu holen und zum Krieg zu zwingen, so bekam sein mattes Geblüt durch den Schrecken einen solchen Anstoß, daß er nicht mehr der Vorige war" :,u . Wenige Tage später, am 30. Mai 1714, starb Arnold, erst 47 Jahre alt. In der deutschen Kirchengeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts bildete die „Kirchen- und Ketzergeschichte" den Höhepunkt. Mosheim mag in den Einzelheiten geschulter und gelegentlich zuverlässiger als Arnold gewesen sein. Mehr als Arnold vertrat er einen gewissen Zukunftsoptimismus und verlieh insofern aufgeklärten Strömungen deutlicheren Ausdruck. Aber weder in bezug auf die Konsequenz, mit der Arnold seinen Grundgedanken verfolgt, noch insbesondere in bezug auf die Objektivität, mit der Arnold den Befreiungsbewegungen der Vergangenheit gerecht zu werden versuchte und dies auch tatsächlich vermochte, 39

Arnold,

Gottfried,

a. a. O., Lebenslauf.

2. Die Reichs- und Staatenhistorie

29

hat Mosheim seinen Vorläufer übertreffen können. Nicht in der offiziellen Kirchengeschichtsschreibung wurde Arnolds Erbe gewahrt. „Entfernte Wirkungen dieser kühnsten und kirchenfeindlichsten Vision, die jemals auf theologischem Boden entstand, sind in der wachsenden Zuneigung des beginnenden 18. Jahrhunderts zum Sektenwesen deutlich erkennbar. In diesem Sinn wirken Voltaires Philosophische Briefe, Beausobres Studie über das Manichäertum (1739), L'Enfants grundlegende Arbeit über die Hussiten neben all den ungezählten Pamphleten der religiösen Kontroverse." 4 0 Zeuge der Bedeutung Arnolds ist auch der Materialist Johann Christian Edelmann, der zuerst durch sein Buch „einen rechten Abscheu vor der sogenannten Orthodoxie bekam" 4 1 , ist schließlich kein Geringerer als Goethe, der in „Dichtung und Wahrheit" aus dem Herbst 1768, also der Zeit, da er sich in Frankfurt am Main von schwerer Erkrankung erholte, berichtet : „Einen großen Einfluß erfuhr ich . . . von einem wichtigen Buch, das mir in die Hand geriet, es war Arnolds .Kirchen- und Ketzergeschichte'. Dieser Mann ist nicht ein bloß reflektierender Historiker, sondern zugleich fromm und fühlend. Seine Gesinnungen stimmten sehr zu den meinigen, und was mich an seinem Werk besonders ergötzte, war, daß ich von manchen Ketzern, die man mir bisher als toll oder gottlos vorgestellt hatte, einen vorteilhafteren Begriff erhielt." 4 2

2. Die Reichs- und Staatenhistorie der Frühaufklärung Der Pietismus hatte einen ersten Stoß gegen die klerikale Orthodoxie, die ideologische Hauptstütze des Feudalabsolutismus, geführt und damit die Voraussetzung späterer Fortschritte gesichert. Diese Auseinandersetzung hatte sich jedoch noch im wesentlichen innerhalb der geistlichen Kreise abgespielt. Zwar hatte durch die Ablehnung des Konformismus, durch die Betonung des Rechtes des Individuums auf seine eigene Überzeugung und durch die Unterscheidung zwischen bürgerlicher und adliger Denkweise, wie sie bei den radikalen Vertretern des Pietismus getroffen war, der Kampf des Pietismus gegen die Orthodoxie eine weit über das Religiöse hinausgehende Bedeutung erlangt — weitere Fortschritte konnten aber nur erzielt werden, wenn die Front gegen die Orthodoxie erweitert und ihr auch vom weltlichen Boden her der Kampf angesagt wurde. Die große Bedeutung des Pietismus beruht eben darauf, daß er diese Erweiterung der Kampffront ermöglichte, ja seinem eigenen Wesen nach dorthin drängte, und so den Anstoß dazu ',0 Krauss, Werner, a. a. O., S. 188. ',l Edelmann, Joh. Christian, Selbstbiographie, hg. v. Carl Rudolph Klose, Berlin 1849, S. 131. Goethe, Johann Wolfgang v., Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 8. Buch.

30

I. Die Frühaufklärung

geben konnte, daß frühere vereinzelte Ansätze bürgerlich-antifeudalen Denkens sich zur Frühaufklärung zusammenschließen konnten. Sich der radikalen Strömung des Pietismus, wie sie Arnold vertrat, anzuschließen setzte mehr geistige Unabhängigkeit von überkommenen Vorurteilen und mehr materielle Unabhängigkeit vom Absolutismus und Feudalismus voraus, als sie die Mehrheit der Gelehrten aufbringen konnte. Die Hauptlinie der weiteren Entwicklung im Geschichtsdenken blieb so zunächst die, daß die von den Staatsrechtlern früher aufgeworfenen historischen Probleme — freilich jetzt auf einer neuen, höheren Stufe — erörtert wurden. Die von ihnen betriebene Staatengeschichte — soweit sie sich auf Deutschland bezog, „Reichsgeschichte" genannt — war aber für sie auch in der Frühaufklärung noch eine bloße Hilfswissenschaft. Da diese Tatsache von grundlegender Bedeutung für die gesamte Problematik des deutschen Geschichtsdenkens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist, sei sie noch näher erläutert. Es ist für die feudale Ideologie charakteristisch, daß in ihr historische Probleme als solche keine Bedeutung haben. Die Geschichte wurde im wesentlichen zur indirekten Rechtfertigung der Interessen der geistlichen und der weltlichen Feudalität benutzt und hatte den Theologen und Juristen Material für deren Zwecke zu liefern. In der Form der Kirchengeschichte diente sie im Absolutismus der Rechtfertigung des jeweiligen Fürsten als Inhabers der jeweils wahren Religion und sollte damit die ideologische Bindung der Untertanen an den Landesherrn sichern. Wenn die Kirchengeschichte vor allem die Herrschaftsansprüche der Fürsten nach innen garantieren sollte, hatte die Staatengeschichte vor allem die Aufgabe, seine Ansprüche gegenüber anderen Fürsten zu stützen. Dementsprechend war die zweite Hauptform der Geschichtsschreibung der absolutistischen Epoche diejenige, die als Hilfswissenschaft der Jurisprudenz in erster Linie der Rechtfertigung der territorialen Ansprüche diente. Obwohl diese Verhältnisse auch in anderen europäischen Staaten im absolutistischen Zeitalter bestanden, traten sie in Deutschland noch in besonders zugespitzter Form auf. In dem zersplitterten, wirtschaftlich gegenüber Westeuropa rückständigen Land fehlte ein ökonomisch starkes, geistig und politisch interessiertes Bürgertum und damit ein größerer Kreis wissenschaftlich interessierter Gebildeter. Daher hatten die Universitäten ein faktisches Monopol auf die Geschichtsschreibung. Das Neue konnte sich zunächst also nur innerhalb der Formen der Geschichtswissenschaft, die dort betrieben wurden, also der Kirchengeschichte und der feudalen Staatengeschichte, herausbilden. Wenn die Kirchen- und Ketzergeschichte Arnolds einen Versuch darstellte, innerhalb der Kirchengeschichtsschreibung der Tendenz, die Geschichtsschreibung der Rechtfertigung der absolutistischen Unterdrückung nach innen dienstbar zu machen, entgegenzutreten, so bildete die Naturrechtslehre einen Versuch, der Tendenz entgegenzutreten, die Staaten- und Reichsgeschichte der dynastischen Eroberungspolitik dienstbar zu machen Dabei mußte es freilich vorerst bei bloßen Ansätzen bleiben. Die Staaten- und Reichshistorie war ein gleichsam propädeutisches Fach in der Ausbildung von Beamten. Sie wurde im Universitätsbetrieb an den juristischen Fakul-

2. Die Reichs- und Staatenhistorie

31

täten gelesen. Johann Jakob Schmauss, zu dieser Zeit Baden-Durlacher Kammerrat, schrieb Anfang der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts in einem Gutachten für die Gründung der Universität Göttingen über die Situation in der Geschichtswissenschaft: „Mit der Historie ist nicht weniger eine merkliche Veränderung vorgegangen, indem solche nicht mehr wegen der Exempel der vermeintlichen göttlichen Gerichte über die Gottlosen in der Welt zu den Predigten und Postillen gebraucht, sondern als eine Schule der Staatsdiener angesehen ist." 43 Die Lehrstühle für Geschichte an den philosophischen Fakultäten blieben weiter mit dem Fach Rhetorik verbunden und zogen selbständige Köpfe nicht an. Die Verbindung zwischen Staatsrecht und Geschichtswissenschaft hatte in Italien zwei Jahrhunderte zuvor bereits einmal in einem großen Denker eine Verkörperung gefunden. Machiavelli hatte in seinem „Fürsten", von der Tatsache ausgehend, daß das zersplitterte Italien der nationalen Einigung bedurfte, gezeigt, welche Maximen derjenige Fürst, der diese Einigung durchführen würde, annehmen müsse. In seiner „Geschichte von Florenz" hatte er die Vergangenheit seiner Heimatstadt unter ähnlichen Gesichtspunkten behandelt. Im zersplitterten Deutschland des späten 17. und des frühen 18. Jahrhunderts konnte kein ähnlich konsequentes Programm aufgestellt werden. Zwar war es auch hier, wie in anderen Ländern, die „Staatsräson", die den rechts- und staatshistorischen Arbeiten der Zeit den Maßstab gab. „Staatsräson" ist nicht, wie Friedrich Meinecke in seinem vielgenannten Buch „Die Idee der Staatsräson" nachzuweisen versuchte, Ausdruck einer angeblich zeitlosen Antinomie zwischen Macht und Moral, sondern maßgebende politische Kategorie einer bestimmten Epoche, nämlich der Epoche des aufsteigenden Absolutismus. Zu einer Zeit, da die herrschenden Auffassungen das Interesse des absoluten Fürsten mit den Forderungen der Vernunft identifizierten, wurde diese Kategorie dazu verwendet, den Interessen des jeweiligen Auftraggebers eine pseudowissenschaftliche Rechtfertigung zu geben. In diesem Zweckbegriff deutet sich freilich bereits etwas Neues an: Wenn die Forderungen der Vernunft mit den Interessen des absoluten Fürsten identifiziert werden, wird damit zugleich dem rationalen Denken eine höhere Bedeutung für die gesellschaftliche Praxis zugesprochen, als dies früher üblich war. Diese „Staatsräson" — in Frankreich ideologisches Hilfsmittel zur Förderung einer progressiven historischen Entwicklung, nämlich der nationalen Zentralisation durch den Absolutismus — reduzierte sich in Deutschland dagegen auf das kleinlichste Feilschen um Länderfetzen oder Protokollfragen. Die Tragik der deutschen Situation in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges findet auch darin ihren Ausdruck, daß das einzige bedeutende Werk dieser Jahrzehnte auf dem Gebiet des Reichsrechtes und der Reichshistorie in ausländischem Interesse, auf ausländischem Boden und für ausländischen Sold geschrieben wurde: die von Bogislav Philipp Chemnitz unter dem Pseudonym Hippolotus a Lapide etwa 1643 veröffentlichte 43

Zit. nach Seile, Götz v., Die Georg-August-Universität zu Göttingen 1 7 3 7 — 1 8 3 7 , Göttingen 1937, S. 21 f. (Dort für „Schule" offenbar irrtümlich „ S c h u l d " — J . S.).

I. Die Frühaufklärung

32

Untersuchung über die Staatsräson des Heiligen Römischen Reiches (Dissertatio de ratione statu in imperio nostro Romano-Germanico). Das Werk wollte die Staatsräson für Deutschland angeben, das heißt diejenigen politischen Maximen, die der Staatsform des Reiches entsprächen. Nach der Auffassung des Hippolitus war das Reich weder eine Monarchie noch eine Demokratie, sondern eine Aristokratie. Die Kaiserwürde Österreichs und die deutschen Erblande der Habsburger stünden aber, so meinte der Verfasser, im Widerspruch zu dieser aristokratischen Staatsform und müßten deshalb beseitigt werden. 44 Das Buch, das in schwedischem Auftrage entstand, spiegelte den tiefen Verfall des Reiches wider, werden doch die faktische Auflösung des Reichsverbandes und die völlige Aufspaltung Deutschlands in Einzelstaaten offen zur politischen Maxime erhoben. Die hier vorgeschlagene Politik wurde mit dem Westfälischen Frieden tatsächlich weitgehend Wirklichkeit: Die Verträge von Münster und Osnabrück enthielten die Garantie der Libertät der deutschen Reichsstände durch die ausländischen Großmächte, gestanden den Territorialfürsten das Recht, Bündnisse mit fremden Mächten abzuschließen, zu und verurteilten das Reichsoberhaupt endgültig zu einem bloßen Schattendasein. Die Aufmerksamkeit der Staatsrechtler und Staatshistoriker konzentrierte sich in den folgenden Jahrzehnten naturgemäß auf die historischen Wurzeln und die Perspektiven des Reiches. Es war Pufendorf, der den Versuch unternahm, in einer Zeit tiefer nationaler Ohnmacht diese Fragen so zu beantworten, wie es das nationale Interesse der Deutschen erheischte. Samuel Pufendorf, 1632 in der Nähe von Chemnitz geboren, wurde 1658 nach einem Studium der Jurisprudenz Hauslehrer beim schwedischen Gesandten in Kopenhagen und erlangte durch seine Veröffentlichungen bald solches Ansehen, daß er 1661 an die Universität Heidelberg als Professor für Natur- und Völkerrecht berufen wurde. 1670 erhielt er einen Ruf nach Schweden, an die Universität Lund. Einige Jahre darauf kam er, ähnlich wie früher Chemnitz, an den schwedischen Hof und wurde dort zum Historiographen ernannt. 1686 erhielt er einen Ruf als preußischer Historiograph nach Berlin. Zwei Jahre darauf siedelte er nach der brandenburgischen Haupstadt über und verfaßte hier eine Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Pufendorf starb 1694 in Berlin. In zweierlei Hinsicht war sein Werk für die Entwicklung der Geschichtsauffassung und der Geschichtswissenschaft von Bedeutung: zum einen dadurch, daß er die Naturrechtslehre nach Deutschland übertrug, zum anderen dadurch, daß er systematischer und konsequenter als andere die historischen Wurzeln des staatsrechtlichen Zustandes Deutschlands bloßzulegen versuchte. Im folgenden seien diese beiden Leistungen Pufendorfs näher erläutert: 44

Hippolitus Germanico,

a Lapide,

Dissertatio de ratione statu in imperio nostro R o m a n o -

Freistadii 1647, p. 520 seq.: D e secundo restaurandi et

Status medio, quod est Domus Austriacae exstirpatio.

firmandi

33

2. D i e R e i c h s - und Staatenhistorie

Wenn oben festgestellt wurde, daß Pufendorf die Naturrechtslehre nach Deutschland übertragen habe, so müssen wir jetzt genauer sagen: Es war die moderne, bürgerliche Naturrechtslehre, die er nach Deutschland übertrug. Die Geschichte kennt ja mehrere Naturrechtslehren 45 , nämlich die Naturrechtslehren der antiken Sklavenhaltergesellschaft (der Sophisten, der Stoa, der römischen Juristen), die Naturrechtslehre der mittelalterlichen Feudalgesellschaft (insbesondere des Thomas von Aquino) und die bürgerliche Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts. Diesen Lehren ist gemeinsam, daß sie Wesen und Entwicklung der Gesellschaft, insbesondere der Rechtsnormen, aus Faktoren ableiten wollen, die außerhalb und unabhängig von dieser Gesellschaft bestünden. Die scholastische Naturrechtslehre betrachtete als Quelle des Naturrechts Gott, während sowohl die Sophisten als auch die Rechtsdenker des aufsteigenden Bürgertums als seine Quelle die Natur des Menschen ansahen. Hugo Grotius ging dabei von einem, seiner Auffassung nach zur Natur des Menschen gehörenden Bedürfnis aus, nämlich dem Bedürfnis, sich zu vergesellschaften, und leitete aus diesem Bedürfnis den Abschluß eines Staatsvertrages zwischen Herrscher und Untertanen ab. In dieser Auffassung kamen nicht nur die Ideen und Interessen des holländischen Bürgertums des 17. Jahrhunderts zum Ausdruck, mit dem Grotius eng verbunden war, sondern darüber hinaus der Eindruck der bürgerlichen Emanzipations- und Befreiungsbewegungen der Zeit, die in der englischen Revolution ihren Höhepunkt erreichten. Pufendorf übernahm nicht die gesamte Lehre des holländischen Staatsphilosophen. Auch wenn er mit Grotius darin übereinstimmte, daß er das Naturrecht aus dem Bedürfnis der Menschen, in Gesellschaft zu leben, ableitete, machte er doch noch insofern Konzessionen an die klerikale und absolutistische Staatstheorie, als er jede Verantwortung des Fürsten seinen Untertanen gegenüber leugnete und ihm nur eine Verantwortung vor Gott zusprach. Er leugnete aber — und das ist das Wesentliche — die Existenz eines spezifisch christlichen Naturrechts und bezeichnete allein die Vernunft als die Quelle philosophischer Wahrheit. Diese Annäherung an die fortgeschrittensten Auffassungen der Epoche genügte, um in Schweden wie in Deutschland die Orthodoxie gegen ihn auf den Plan zu rufen. Wenn die schwedischen und deutschen Professoren, die ihren Kollegen bei den Obrigkeiten denunzierten und ihn von den Universitäten vertrieben sehen wollten, mit diesen Bemühungen keinen Erfolg hatten, so deshalb, weil man am schwedischen wie am brandenburgischen Hofe verstand, daß trotz solcher Annäherungen an die Naturrechtslehre, ja an die bürgerliche Vertragstheorie, die Rechtsanschauungen Pufendorfs doch zugleich noch zahlreiche Möglichkeiten zur Rechtfertigung des Absolutismus boten. 45

V g l . z u m folgenden Pähl, Gerhard, E i n i g e P r o b l e m e der N a t u r r e c h t s l e h r e im V ö l k e r recht des 17. u n d 18. Jahrhunderts, jur. Diss. D e u t s c h e A k a d e m i e für S t a a t s - u n d Rechtswissenschaft

„Walter

S. 69 f. 3

Streisand, Geschichtliches Denken

Ulbricht",

Potsdam-Babelsberg

1956,

S. g f .

und

34

T. Die Frühaufklärung

Noch in einer zweiten Beziehung war aber Pufendorfs Werk Anknüpfungspunkt für die weitere Entwicklung. Sein unter dem Pseudonym „Severinus de Monzambano" 1667 veröffentlichtes Buch über die Verfassung des Reiches (De Statu Imperii Germanici)46 versuchte, die historischen Wurzeln des gegenwärtigen staatsrechtlichen Zustandes Deutschlands bloßzulegen. In den historischen Abschnitten seines Buches beschäftigte sich Pufendorf zunächst mit der Frage, „auf welchem Wege die sogenannten Reichsstände zu ihrer so bedeutenden Machtstellung" 47 gelangt seien. Er meinte, daß gleichsam ein Vertrag zwischen dem Reichsoberhaupt und den Fürsten abgeschlossen worden sei: Die Könige hätten den Besitz der Fürsten bestätigt, während umgekehrt die Fürsten ihre Besitzungen von ihnen zum Lehen genommen hätten. Die Reichsstände seien dadurch zu einer Art von Bundesgenossen des Kaisers geworden. Eine zweite Eigenart der deutschen Entwicklung sieht er in der ungewöhnlich großen Macht der Geistlichkeit. Er führt diese Machtstellung der geistlichen Fürsten vor allem auf die Freigiebigkeit der ersten Kaiser, die sich Gott um so mehr zu verbinden meinten, je mehr sie der Geistlichkeit schenkten, zurück. „Man glaubte, kein Preis sei zu hoch, für den man die Seele aus dem Fegefeuer loskaufen könne, vor dem die Deutschen, die ohnehin Durst und Hitze nicht wohl ertragen können, eine Wunderbare Angst hatten." 4 8 Diese Machtstellung der Reichsstände ist die Ursache dafür, daß das Reich nach Pufendorf in keine der bekannten Staatsformen einzugliedern sei, daß man es vielmehr als „einen unregelmäßigen und einem Monstrum ähnlichen Staatskörper" bezeichnen müsse.49 Monzambano beschränkte sich nicht auf eine Diagnose des Zustandes des Reiches — er versucht auch eine Therapie anzugeben. In den Ausführungen, in denen er die „Staatsräson des Reiches" behandelt, also die Politik angeben will, die seiner Verfassung am ehesten angemessen sei, zeigen sich die bürgerlich-patriotischen Züge am deutlichsten. Der Verfasser wendet sich scharf gegen die Orthodoxie beider Konfessionen, insbesondere gegen die Habgier des katholischen Klerus und die Intoleranz der Theologen. Ohne utopische und illusionäre Pläne für eine Stärkung des Reichsoberhauptes zu ersinnen, polemisiert er doch gegen die Vor46

Für die folgenden Ausführungen wurden die Ausgabe, die Christian Thomasius veröffentlichte (Halle 1695), und die Übersetzung v. H . Breßlau („Über die Verfassung des deutschen Reiches", Klassiker der Politik, Berlin 1922) benutzt.

47

S. 38 der Übersetzung v. Breßlau.

48

Ebenda, S. 44.

49

Nihil ergo

aliud restat, q u a m ut dicamus, Germaniam esse irreguläre aliquod

corpus,

(tantum

et

non)

monstro simile, siquidem ad regulas scientiae civilis

exigatur. Severinus de Monzambano, D e Statu Imperii Germanici, 1695, S. 340. Die in Klammern gesetzte Einschränkung wurde von Pufendorf selbst in die Ausgabe der „Verfassung" seit 1668 eingesetzt, da er damit — freilich im allgemeinen vergeblich — das Mißverständnis zu vermeiden versuchte, in der Bezeichnung des Reiches als eines „Monstrums" liege das Wesen seiner Darlegungen. Vgl. dazu die Einleitung v o n H. Breßlau zu seiner Übersetzung der „Verfassung", S. 28 f.

2. Die Reichs- und Staatenhistorie

35

schläge des Hippolitus. Ihre Verwirklichung würde die Krankheit nicht heilen, sondern das Reich dem Untergang preisgeben, beschwöre doch die Vernichtung der österreichischen Kaisermacht eine Intervention Frankreichs und Schwedens herauf. Pufendorf fordert, alles für eine Festigung der Verbindung zwischen den Reichsständen einzusetzen, das Reichsgebiet gegen ausländische Interventionen zu schützen und die Kräfte der Nation nicht für expansionistische Abenteuer zu mißbrauchen. Am Schluß des Werkes, dessen Verfasser sich als Italiener ausgibt, der Deutschland bereist habe und nun seine Eindrücke schildere, wird besonders entschieden religiöse Toleranz und eine Schwächung der weltlichen Macht des Klerus gefordert. Ausdrücklich heißt es einmal, die Säkularisierung weltlichen Besitzes sei durchaus mit den religiösen Prinzipien des Katholizismus vereinbar. Resigniert stellt er freilich auch fest, daß es sich bei all diesen Überlegungen um Pläne von Privatleuten handele, auf deren Realisierung man unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum hoffen könne. Nicht nur in Pufendorfs Werk, sondern auch in anderen Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Reichs- und Staatenhistorie kam zum Ausdruck, daß mit der Erholung von den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges sich das Nationalbewußtsein belebte. Caspar Sagittarius, Professor in Jena, veröffentlichte 1675 einen „Nucleus historiae Germanicae", die erste Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart des Verfassers. 50 Als zentrales Problem der älteren deutschen Geschichte betrachtete er das Verhältnis zwischen Kaiser und Papst. Er nahm entschieden gegen die katholische Geistlichkeit Partei. Ende des 17. Jahrhunderts schlug der Arzt und Polyhistor Franz Christian Paullini (zeitweilig Leibarzt des Bischofs von Münster und zugleich Historiograph der Abtei Corvey, die diesem unterstand, später Stadtphysikus in Eisenach) vor, eine umfassende Sammlung von Annalen der deutschen Geschichte zu veröffentlichen. Zu diesem Zweck sollte ein Collegium historicum imperiale 51 gegründet werden — ein Gedanke, den er seit 1687 in die Tat umzusetzen versuchte und für den er auch Leibniz zu interessieren vermochte. Leibniz wies auch auf die Leopoldina als Beispiel für die zu gründende Gesellschaft hin. Hiob Ludolf (geb. 1624 in Erfurt, zu dieser Zeit in Frankfurt am Main lebend, wo er 1704 starb) wurde 1690 zum Präsidenten gewählt. Im folgenden Jahre feierte der Leipziger Bibliothekar Joachim Feller die Gründung der Gesellschaft in einer akademischen Rede, um deren Verbreitung sich Pauliini eifrig bemühte. Die materiellen und geistigen Kräfte reichten zwar aus, diese Gesellschaft zu gründen, nicht aber sie zur Arbeit zu bringen. Das Unternehmen versandete nach einigen Jahren. Ludolf und Paullini hatten gehofft, den Kaiser als Protektor zu gewinnen, und das Scheitern 50 51

3*

Vgl. Geschichte der Universität Jena, S. 154 ff. Vgl. Wegele, Franz X., Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Aufleben des Humanismus, München 1885 (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland, Bd 20), S. 598 ff.

36

I. Die Frühaufklärung

dieser Hoffnung ließ sie auch in bezug auf die Arbeit des Collegiums überhaupt resignieren. Vor allem aber gab es noch nicht genügend Historiker in Deutschland, die an dem geplanten Annalenwerk mitarbeiteten. Daß bekannte Gelehrte wie Leibniz und Ludolf einen solchen Plan aber überhaupt erwägen konnten, zeigt bereits, wie sehr sich das deutsche Nationalbewußtsein zu dieser Zeit belebt hatte. Diese Belebung des deutschen Nationalbewußtseins geht nicht zuletzt auf die akute Bedrohung des Reiches durch die Raubkriege Ludwigs X I V . zurück. Der Vergleich des ohnmächtigen Reichskörpers mit dem straff zentralisierten französischen Absolutismus und der französischen Expansionspolitik mit der Hilflosigkeit der deutschen Fürsten, die unfähig waren, Land und Untertanen vor den Eroberern zu schützen, wurde auch in der Geschichtswissenschaft dieser Jahrzehnte gezogen. Noch eine andere Bedeutung hatte aber das Erstarken Frankreichs unter Ludwig X I V . für die Entwicklung der historischen Auffassungen: Die traditionelle Lehre von den vier Monarchien, von der das christliche Geschichtsbild beherrscht war und die noch das Zeitalter der Reformation überstanden hatte, war nun endgültig von den Tatsachen widerlegt. Daß das Heilige Römische Reich deutscher Nation zu einem bloßen Schattendasein hinabgesunken war, widersprach der Auffassung, der Kaiser dieses Reiches hätte eine Sonderstellung inne, so drastisch, daß sich allenthalben eine nüchternere Auffassung von den internationalen Beziehungen Bahn brach. Gottfried Wilhelm Leibniz ist in vielfacher Hinsicht eine für diese Übergangszeit charakteristische Persönlichkeit. Er überragte seine Zeitgenossen durch die Vielseitigkeit der Interessen und den Umfang seines Wissens auf den verschiedensten Gebieten. Was Friedrich Engels 52 über jene „Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit" sagt, die die Epoche der Renaissance brauchte und zeugte und die „die Herrschaft der modernen Bourgeoisie begründeten", gilt auch für Leibniz. Diese Vielseitigkeit der Interessen und Fähigkeiten entsprach jedoch einer Zeit, in der sich die moderne Spezialisierung der Wissenschaften erst anbahnte: Wo die Arbeitsteilung, auch auf dem Gebiet der Wissenschaft, sich noch nicht durchgesetzt hatte und die verschiedensten Zweige noch von einem einzelnen überschaut werden konnten — und dieser Zustand liegt eben vor der Herausbildung der modernen Erfahrungswissenschaften —, konnte ein einzelnes Genie durch Hypothesen neue Wege der verschiedensten Art weisen. Insofern ist Leibniz gerade mit einer früheren Epoche verbunden. Ebensowenig wie die großen Denker der Renaissance über ihrer Zeit und über ihrer Gesellschaft standen, konnte Leibniz über seiner Zeit und über seiner Gesellschaft stehen. Ist es jedoch für die Polyhistoren der Renaissanceperiode charakteristisch, daß sie in enger Verbindung mit den aufsteigenden bürgerlichen Kräften standen, so umgekehrt für Leibniz, daß seine Fähigkeiten durch den territorialfürstlichen Absolutismus, auf dessen Unterstützung er angewiesen war, 62 Engels, Friedrich,

Dialektik der Natur, Einleitung: Marx/Engels, Werke, B d 20,

Berlin 1962, S. 312.

2. Die Reichs- und Staatenhistorie

37

gehemmt und behindert wurden. Seinem optimistisch-harmonisierenden Weltbild entsprach es, daß er nach Wegen suchte, den Widerspruch zwischen den Interessen der einzelnen Fürsten, zwischen den Interessen der Fürsten und der Nation, ja schließlich zwischen den Interessen der verschiedenen Völker gedanklich zu überwinden. Aus dieser seiner Weltanschauung heraus entsprangen solche Pläne, wie die eines Bundes der deutschen Fürsten, entsprangen Versuche, eine Versöhnung der Konfessionen zu bewirken, entsprang schließlich auch der Versuch, die Wissenschaft in der Praxis zur Versöhnung der verschiedenen Staaten beitragen zu lassen. Tatsächlich aber ist er mit allen diesen Versuchen gescheitert. Die historischen Arbeiten von Leibniz wurden von den Fürsten, in deren Dienst zu treten er gezwungen war, für die kleinlichsten Rangstreitigkeiten mißbraucht, und sein Wirken für die Versöhnung der Konfessionen versandete im Betrieb territorialfürstlicher und klerikaler Machtpolitik. Wenn wenigstens eine der von ihm angeregten Institutionen, die Berliner Akademie der Wissenschaften, sich als lebensfähig erwies, so deshalb, weil die Bedürfnisse der Repräsentation der Königsmacht Friedrichs I. nur dann zu erfüllen waren, wenn der Entfaltung wissenschaftlicher Fähigkeiten wenigstens ein gewisser Raum gelassen wurde. Leibniz hat sich bemüht, die Widersprüche zwischen seinen weitreichenden Plänen und den beschränkten Realisierungsmöglichkeiten zu harmonisieren. Auch seine Philosophie sollte alles Übel als Moment der Vollkommenheit dieser besten aller möglichen Welten erläutern. Dieser „reaktionärsten Idee seiner Philosophie, der Rechtfertigung der bestehenden Ordnung mit all ihrem Übel als der besten aller möglichen Welten zur Lobpreisung Gottes, ihres Schöpfers" 53 , entsprechen bestimmte Züge in seinem politischen Verhalten. Mit Recht ist Leibniz der Vorwurf gemacht worden, er hätte die Politik der deutschen Fürsten nicht nur stillschweigend gebilligt, sondern auch öffentlich verteidigt. Wi So berechtigt der Vorwurf des Opportunismus ist, so darf nicht übersehen werden, daß sich hinter der feudalen Hülle ein bürgerlicher Kern verbarg. So wie in Leibniz' Philosophie dialektische Elemente, die in die Zukunft weisen, enthalten waren, gab es auch in seinen politischen und historischen Auffassungen Keime des Neuen. Die größeren von seinen historischen Schriften, insbesondere seine Geschichte des Weifenhauses, sind zu seinen Lebzeiten bekanntlich nicht veröffentlicht worden. Sie haben auch, nachdem Pertz sie ein Jahrhundert nach seinem Tode herausbrachte, nur wenige Leser gefunden. Leibniz hat in diesen Werken große Stoffmassen der älteren Geschichte auf Grund einer kritischen Behandlung der Quellen unter dem Gedanken der Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung (,,Le présent est plein de l'avenir et chargé du passé" schrieb er in der Vorrede der Nouveaux Essais sur l'entendement humain55) zusammenzufassen gewußt. 53

Geschichte der Philosophie,

54

Z u m Beispiel von Biedermann,

B d i , Berlin 1959, S. 417.

55

Leibniz, Gottfried Wilhelm,

Karl, a. a. O., B d 2, T . 1, S. 68f.

N o u v e a u x Essais, in : Sämtl. Schriften und Briefe, hg. v.

der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Reihe 6, Bd 6, Berlin 1962, S. 55-

I. Die Frühaufklärung



Von seinen weitvorausgreifenden Ideen konnte aber in diesen auf Wunsch fürstlicher Auftraggeber entstandenen Schriften kaum etwas zur Geltung kommen. Eher kann dies von einer seiner bekanntesten kleinen politischen Schriften gesagt werden, dem „Mars Christianissimus", einer Spottschrift gegen die Eroberungspläne Ludwigs X I V . Leibniz verfaßte sie auf Anregung des Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels 1683. Die Schrift erschien im folgenden Jahre in zwei Drucken in lateinischer und 1685 in verstümmelter Form in deutscher Ubersetzung. Rein äußerlich betrachtet. Wendet sich die Schrift nur gegen die Ansprüche des französischen Königs. In dreifacher Hinsicht aber reicht ihr Inhalt über den unmittelbaren Anlaß weit hinaus: 1. Leibniz sagt in dieser Spottschrift, es gäbe nur eine Rechtfertigung der Handlungen der französischen Krone, nämlich die, daß Ludwig X I V . der weltliche Statthalter Gottes auf Erden und als allerchristlichster König der Notwendigkeit enthoben sei, aut Rechtsgründe zu antworten. 56 Damit trifft er nicht nur die Herrschaftsansprüche Ludwigs XIV., sondern die Lehre von der Staatsräson überhaupt. 2. Im „Mars Christianissimus" wird mit scheinbarem Ernst erklärt, „die Franzosen werden Euch vor der Welt ins Elend stoßen — Ihr werdet mit Freuden in den Himmel gehen". Damit wird nicht nur die Phraseologie des angeblich allerchristlichsten Königs und seiner Ideologien getroffen, sondern darüber hinaus der christliche Quietismus überhaupt. 3. Leibniz greift die akute Bedrohung Deutschlands durch die französischen Expansionspläne an. Damit gibt er den nationalen Interessen seines Vaterlandes Ausdruck, Indirekt wird dies auch in der Schrift verkündet: wenn er die Ideologen Ludwigs X I V . erklären läßt, der Begriff „Vaterland" sei eine bloße Vogelscheuche für Narren 57 , wird damit zugleich der antinationalen Haltung vieler Zeitgenossen der Kampf angesagt. Was Leibniz als Historiker, Politiker und Philosoph für seine Zeit zu leisten vermochte, mußte begrenzt bleiben. Nicht die unmittelbaren Wirkungen seiner Schriften und seiner Tätigkeit waren jedoch entscheidend. Zukunftsweisend war in seiner Philosophie der Gedanke, daß die Welt ein Stufenbau von Wesen sei, die sich in ständiger Entwicklung befinden und nach Vollkommenheit streben — ein Gedanke, der in den späteren Jahrzehnten die Ausbildung des Entwicklungsund Fortschrittsgedankens fördern konnte. Zukunftsweisend war in seinen historisch-politischen Schriften das patriotische, naturrechtliche und antifeudale Element. Diese Elemente des Werkes von Leibniz, die unter der zeitgebundenen Hülle verborgen lagen, haben in den folgenden Jahrzehnten nachhaltigsten Einfluß ausgeübt. Christian Thomasius, umgekehrt, hat das Beste, Was er zu geben vermochte, gerade in der unmittelbaren Anteilnahme an zeitgenössischen Auseinandersetzungen 56

57

Leibniz, Gottfried, Wilhelm, Der Paul Ritter, Leipzig, o. J., S. 57. Ebenda, S. 46.

allerchristlichste

Kriegsgott,

übersetzt

v.

2. Die Reichs- und Staatenhistorie

39

vermittelt, während spätere Jahrzehnte dazu neigten, seine Verdienste zu unterschätzen.58 „Der Zweck der Philosophie ist das irdische Wohlsein des Menschengeschlechts, der Zweck der Theologie das himmlische", schrieb Thomasius schon 1683 in den Institutiones Jurisprudentiae divinae. Die Trennung zwischen Jurisprudenz und Theologie am rechten Ort und zur rechten Zeit zu proklamieren war von großer Bedeutung für die Entwicklung des bürgerlichen Denkens in Deutschland; es war etwas anderes als die Unterscheidung zweier Wahrheiten, die früher gelehrt worden war. Thomasius überwand die relativistische und kompromißlerische Formel der zwei Wahrheiten und trat für eine klare Scheidung der Zuständigkeiten der Wissenschaft von der Theologie ein. Das war auch von Bedeutung für die Geschichtsschreibung. Kein deutscher Historiker, der ernst genommen werden wollte, konnte nun noch von einem unmittelbaren Eingreifen Gottes in die Geschichte sprechen. Darin erschöpften sich die Verdienste des Thomasius um die Geschichtswissenschaft jedoch nicht. Seine zweite große Leistung war, daß er Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache ankündigte (zuerst 1687) und abhielt. E r war nicht der erste, der dies tat — er hat darin in dem Jenaer Mathematiker und Philosophen Erhard Weigel und wahrscheinlich auch in dessen Vorgänger, dem Mathematiker Heinrich Hoffmann (f 1652), Vorläufer 59 — wohl aber der erste, der damit nicht Einzelgänger blieb, sondern einer nun nicht mehr aufzuhaltenden Bewegung die Tore öffnete. Die Schranke, die die lateinische Sprache zwischen Wissenschaft und Volk aufgerichtet hatte, hob sich nun. Das hatte natürlich auf längere Sicht auch Rückwirkungen auf den Inhalt und auf den Ideengehalt der geschichtswissenschaftlichen Literatur. Auf längere Sicht: denn das Neue konnte noch nicht sofort in der politischen Geschichte zum Ausdruck kommen. Erst mußten Voraussetzungen, wie eben die Einführung der deutschen Sprache in die Wissenschaft, gesichert sein, ehe die Historiographie der antifeudalen Bewegung dienen konnte. Noch in einer anderen Hinsicht hat Thomasius die Voraussetzungen für diese neue bürgerliche Geschichtsschreibung gesichert: er hat — und das ist die dritte Leistung, die in dieser Hinsicht genannt werden muß — wesentlichen Anteil daran, daß zwischen Pietismus und Naturrechtslehre ein zeitweiliges Bündnis entstand. In diesem Bündnis wurden die zersplitterten antifeudalen Bewegungen im geistigen Leben zusammengefaßt, wurde aus der Opposition, die sich bisher auf einzelne Gebiete des gesell58 Ygi, dazu Hettner, Hermann, a. a. O., Teil 3, Buch 1, S. 1 1 6 . Friedrich Schiller fand jedoch in seinem Leben „das interessante Loswinden eines Mannes von Geist und Kraft aus der Pedanterei des Zeitalters" (an Goethe 29. 5. 1799): Werke, Nationalausgabe, Bd 30, Schillers Briefe 1798—1800, hg. v. Lieselotte Blumenthal, Weimar 1961, S. 50. Heinrich Luden promovierte mit einer Arbeit über „Christian Thomasius, nach seinen Schicksalen und Schriften" (als Buch 1805 erschienen) in Jena zum Dr. phil. ® Geschichte der Universität Jena, a. a. O., S. 76, I28ff.

40

I. Die Frühaufklärung

schaftlichen Lebens beschränkte, der Anfang einer umfassenden Befreiungsbewegung des Bürgertums, die im geistlichen und weltlichen Bereich zugleich die bürgerliche Umgestaltung vorbereitete. Während etwa in der Literaturtheorie und der schönen Literatur selbst bürgerliche Züge bereits vor der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich sichtbar wurden, blieben sie in der Geschichtswissenschaft jedoch noch verhüllt. Noch in dem 25. Literaturbrief, den Lessing mit dem 23. August 1759 datierte, mußte er feststellen, daß ,,es um das Feld der Geschichte in dem ganzen Umfang der deutschen Literatur noch am schlechtesten aussehe. Angebaut zwar ist es genug; aber wie?" Als Ursache für dieses Zurückbleiben der Geschichtswissenschaft stellte er fest „unsere schönen Geister sind selten Gelehrte, und unsere Gelehrten selten schöne Geister". Lessing erläuterte die Trennung der Geschichtsschreibung vom bürgerlichen Publikum — eine Trennung, die in der Literatur bereits überwunden war — am Beispiel zweier namhafter Historiker, die sich mit der deutschen Geschichte beschäftigten: „ E s ist eine Kleinigkeit, was einem Bünau, einem Maskov zu vollkommenem Geschichtsschreiben fehlen würde, wenn sie sich nicht in zu dunkele Zeiten gewagt hätten. Wem kann hier, wo die Quellen oft gar fehlen, oft so verderbt und unrein sind . . ., die größte Kunst zu erzählen, zu schildern, zu beurteilen wohl viel helfen ?'' Nachdrücklich schloß Lessing diese Überlegungen mit dem Satz: „Übrigens aber glaube ich, daß der Name eines wahren Geschichtsschreibers nur demjenigen zukömmt, der die Geschichte seiner Zeiten und seines Landes beschreibt." Bedeutung und Grenzen der Geschichtsschreibung der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland werden damit von Lessing präzis formuliert. Tatsächlich hinderte feudaler und klerikaler Druck die Gelehrten, sich mit der Geschichte „der eigenen Zeit und des eigenen Landes" zu beschäftigen. Der kleinste Verstoß gegen die Auffassung etwa, die ein Territorialfürst von der Genealogie seines Hauses hatte und mit der er seine Ansprüche zu begründen wünschte, wurde schonungslos geahndet.60 Das ist die Ursache dafür, daß die Staaten- und Reichshistorie sich lieber der Geschichte des ersten Jahrtausends zuwandte. Johann Jakob Maskov, 1689 in Danzig geboren, fand in Leipzig als Universitätsprofessor und im Rat der Stadt ein Wirkungsfeld. In seinem Hauptwerk „Geschichte der Deutschen bis zum Anfang der fränkischen Monarchie" 61 stellte er sich die Aufgabe, den staatsrechtlichen Zustand des deutschen Reiches historisch zu erklären. Das umfangreiche Werk gehört zu den ersten Darstellungen der politischen Geschichte, die in deutscher Sprache verfaßt waren. Maskov begann seine Darstellung bei den Germanen. „Die besonderen Ursachen so Deutschland hat, die Ursprünge seiner Verfassung recht zu erkennen, leitet die Liebhaber oft bis in die dunkelsten Zeiten." 62 E r findet Worte voll Sympathie für Arminius, 60 61

62

Beispiele dafür bei Hettner, Hermann, a. a. O., Teil 3. Buch 1, S. 304. Erschienen Leipzig 1726; eine Fortsetzung erschien als Geschichte der Deutschen bis zum Abgang der merowingischen Könige 1 7 3 7 . Johann Jakob Maskov, Geschichte der Deutschen, Vorrede, S. 2.

2. Die Reichs- und Staatenhistorie

41

denn „alle Größe der Römer hatte bei ihm die Liebe fürs Vaterland nicht überwogen" 63 . Dieses patriotische Element durchzieht die ganze Darstellüng. Aber es blieb einer gewissen Resignation untergeordnet, aus der heraus Maskov den Zustand des Reiches nicht nur erklärt, sondern auch für unveränderlich hält. Ähnliches gilt von der „Genauen und umständlichen deutschen Kaiser- und Reichshistorie", die Heinrich Graf von Bünau (1697—1792) 1728 in vier Bänden in Leipzig veröffentlichte. Auch Bünau wollte erklären, welches die Eigenart der deutschen Reichsverfassung sei, und sah diese Eigenart darin, daß „das deutsche Reich nicht bloß nach dem Willen eines Monarchen beherrscht" wird, sondern zwischen dem Reichsoberhaupt und den Ständen ein Bündnis bestehe. „Wie nun dieses Bündnis eingerichtet sein solle, kann nicht besser als aus der Geschichte des deutschen Reiches erkannt werden." 64 Maskov wie Bünau waren nicht in der Lage, aus ihren historischen Untersuchungen konkrete Vorschläge für die Veränderung der deutschen Verhältnisse zu entwickeln, setzte doch eine politische Geschichtsschreibung, die diesem Ziele zustrebte, ein politisch handlungsfähiges Bürgertum voraus. Wenn die deutsche Geschichtsschreibung dieser Zeit aktuelle Fragen behandelte, beschränkte sie sich im allgemeinen auf die diplomatischen Beziehungen. Leitend war dabei der Gedanke des europäischen Gleichgewichts — eine Idee, die aus der absolutistischen Staatenpraxis stammt und eines der wichtigsten Leitbilder der Außenpolitik des 18. Jahrhunderts war. Ähnlich wie der Begriff „Staatsräson" ist auch das Bild vom „europäischen Gleichgewicht" eng mit der Politik der absolutistischen Epoche verbunden. In beiden Fällen zeigt sich die Ablösung religiöser Verbrämungen des feudalen Interesses durch weltliche Argumente, in beiden Fällen bleibt aber auch die neue Denkweise noch im Dienste der absoluten Fürstenmacht. Zunächst, im 17. Jahrhundert — wie es ja das Bild auch eigentlich besagt —, nur auf das Gleichgewicht zweier Mächte, nämlich Habsburgs und Bourbons, bezogen, nimmt das europäische Gleichgewicht in den Jahrzehnten nach dem spanischen Erbfolgekrieg einen zentralen Platz in der Theorie und der Geschichte der Diplomatie überhaupt ein. Daß dieses Bild eine solche Bedeutung erlangen konnte, beruht darauf, daß mit ihm sehr verschiedenartige Interessen gerechtfertigt werden konnten. Mitten im Spanischen Erb folgekrieg trat England 1710 — vorerst nur hinter den Kulissen — in Verhandlungen mit dem bisherigen Gegner Frankreich gegen den bisherigen Verbündeten Österreich ein. Diese Schwenkung wurde mit dem Streben nach Gleichgewicht motiviert. Das hieß für die herrschende Klasse Englands: keine der Festlandmächte sollte so stark sein, daß sie die englische Vormachtstellung, vor allem zur See, wie sie aus der bürgerlichen Revolution und den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts hervorgegangen war, in Frage stellen, keine aber auch so schwach, daß sie Beute einer der anderen Mächte werden könnte. « Ebenda, S. 76. 64

Bünau,

Heinrich

v., Genaue

und umständliche deutsche

historie, Leipzig 1728, I, B 3, Vorrede.

Kaiser- und

Reichs-

42

I. Die Frühaufklärung

Henry St. John, Lord Bolingbroke, der maßgebend an dieser Schwenkung der englischen Außenpolitik beteiligt war und einer der Urheber des Utrechter Friedens 1 7 1 3 wurde, war es auch, der das Bild vom Gleichgewicht in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts heimisch machte. Von seinen „Letters on the Study and Use of History" 65 gilt, was Karl Marx einmal generell festgestellt hat: „Das pathetische Element blieb der englischen Geschichte stets fremd." 66 Bolingbroke stellte der Geschichtsschreibung eine recht nüchterne Aufgabe. Sie sei eine Art Lebensweisheit, die an Beispielen lehrt, wie wir uns in allen Situationen des privaten und öffentlichen Lebens verhalten sollen.67 Ganz nüchtern wird das Interesse als Leitfaden der Politik angegeben: „Eine Schlacht zu gewinnen, eine Stadt zu nehmen, ist der Ruhm eines Generals. Genug an Ruhm dieser Art hatten wir im Verlaufe des Krieges. Aber der Ruhm einer Nation besteht in der Ubereinstimmung zwischen den Zielen, die sie sich setzt, einerseits und ihrem Interesse und ihrer Macht andererseits, in der Übereinstimmung zwischen den Mitteln und dem Ziel, und in der Energie, mit der beide verfolgt werden." 68 Unter diesen Gesichtspunkten wird von Bolingbroke dann auch die Geschichte des Gleichgewichts der europäischen Mächte behandelt: „Nachdem sich die beiden Großmächte Frankreich und Österreich herausgebildet hatten und daher eine Rivalität zwischen ihnen entstanden war, lag es im Interesse ihrer Nachbarn, der jeweils stärksten und unternehmungslustigsten unter ihnen entgegenzutreten und der Verbündete und Freund der schwächeren zu sein. So entstand der Begriff eines europäischen Gleichgewichts."69 Er nennt dieses Problem den „wichtigsten Gegenstand der . . . Aufmerksamkeit beim Studium und beim Nachdenken über diesen Teil der neueren Geschichte" 70 . Bolingbroke verdeutlicht seine Überlegungen besonders am Beispiel eben des Spanischen Erbfolgekrieges, dessen Fortführung seiner Ansicht nach nur dazu 65

66 67

08

69

70

Verfaßt 1735/36, Privatdruck 1738, vertrauliche französische Ubersetzung 1742, formell erst veröffentlicht London 1 7 5 2 . Nach der letztgenannten Ausgabe auch die folgenden Zitate. Marx, Karl, Herr Vogt in: Marx/Engels, Werke, B d 14, Berlin 1961, S. 493. History is philosophy teaching by examples how to conduct ourselves in all the situations of private and public life. Bolingbroke, Henry St. John Lord, Letters on the Study and Use of History, 1, London 1 7 5 2 , S. 57. To win a battle, to take a town, is the glory of a general, and of an army. Of this glory we had a very large share in the course of the war. But the glory of a nation is to proportion the ends she proposes, to her interest and her strength; the means she employs to the ends she proposes, and the vigor she exerts, to both, Ebenda, 2, S. 70. The two great powers, that of France and that of Austria, being formed, and a rivalship established by consequence between them; it began to be the interest of their neighbours to oppose the strongest and most enterprizing of the two, and to be the ally and friend of the weakest. From hence arose the notion of a ballance of power in Europe, Ebenda, 1, S. 2 3 1 . The principal subject of . . . attention in reading and reflecting on this part of modern history, Ebenda, 1, S. 2 3 2 t .

2. Die Reichs- und Staatenhistorie

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geführt hätte, die Kaiserkrone und die spanische Krone auf dem Haupt eines österreichischen Fürsten zu vereinigen und damit das europäische Gleichgewicht zu gefährden 71 , obgleich er zugesteht, daß die Bedingungen des Utrechter Friedens die Macht Frankreichs nicht genügend eingeschränkt hätten. 72 Wenn ein Angehöriger der herrschenden Klasse Englands die außenpolitischen Interessen dieser Klasse mit dem Bild des europäischen Gleichgewichts erläuterte, war dies etwas anderes, als wenn diese Lehre an den Universitäten eines der ohnmächtigen deutschen Kleinstaaten vorgetragen und den Untertanen als Richtschnur der Politik ihres Landesvaters erläutert werden sollte. Johann Jakob Schmauss, Professor in Göttingen, war der erste namhafte deutsche Gelehrte, der die Geschichte des neueren europäischen Staatensystems als Geschichte des Gleichgewichts darzustellen versuchte. Das war das Ziel seiner 1741 erschienenen „Historie der Balance von Europa", die aus Vorträgen hervorging, die Schmauss schon über ein Jahrzehnt zuvor einem angehenden Staatsmann als Einführung in die Politik gehalten hatte. Schmauss erblickte den Hauptgegner eines europäischen Gleichgewichts in Frankreich. Nach seiner Auffassung war es die Aufgabe Englands, das Hegemoniestreben der französischen Könige zu bändigen — eine Aufgabe, der es gerade mit dem Utrechter Frieden untreu geworden sei. Nun war das sicher eine gutgemeinte Verwandlung der Tendenz, die die Lehre vom Gleichgewicht bei Bolingbroke hatte, wollte dieser doch gerade die wesentlichen Züge der Politik Englands am Ende des Spanischen Erbfolgekrieges rechtfertigen. Realistisch war diese Umwandlung jedoch nicht: Die Gefahren zu bannen, die die französischen Expansionskriege über Deutschland heraufbeschworen, war England nur so weit interessiert, wie dies seinen Hegemoniebestrebungen diente. Dessenungeachtet wäre es unbillig, über die deutschen Anhänger der Lehre vom europäischen Gleichgewicht lediglich zu lächeln. Meist waren sie von dem Wunsch beseelt, ihrem Vaterland den Frieden zu sichern. In einer Zeit, in der auf dem Kontinent die absolute Monarchie nun einmal die herrschende Staatsform war, konnte tatsächlich durch Bündnisse einzelner Mächte das Expansionsstreben einer anderen Macht wenigstens zeitweilig gebändigt, wenn auch nicht in seinen Wurzeln vernichtet werden. Nach den Erfahrungen des Siebenjährigen Krieges schreckte der aggressivste europäische Herrscher des 18. Jahrhunderts, Friedrich II. von Preußen, ja tatsächlich vor weiteren Aggressionen zurück, da er sich der Macht einigermaßen stabiler Koalitionen gegenübersah. Seine Expansion ging freilich (vgl. das Beispiel der ersten polnischen Teilung) auf andere Weise weiter. Auch einer der größten Lehrer des Völkerrechts im 18. Jahrhundert, Emmerich von Vattel (1714—1766), ein Schweizer, der als Diplomat in Dresden lebte und sich leidenschaftlich um Wege zur Sicherung des Friedens bemühte, benutzte die Lehre vom Gleichgewicht, um den Kabinettskriegen entgegenzutreten. Weder eine Universalmonarchie noch ein Völkerbund, so meinte Vattel, könnte Kriege verhindern. Nur ein Gleichgewicht der Mächte war seiner Ansicht nach dazu 71

Ebenda, 2, S. 165.

72

Ebenda, 2, S. 119.

44

I. Die Frühaufklärung

in der Lage. Zu dieser Zeit bestand keine Möglichkeit, die ökonomischen Ursachen der Kriege zu beseitigen — ja es war noch nicht einmal möglich, diese Ursachen zu erkennen. Wenigstens zeitweilig Aggressoren zu zügeln und die Schrecken des Krieges von den Völkern fernzuhalten war tatsächlich als ein gewisses Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Mächtegruppen geeignet. Insofern ist also in der Lehre vom Gleichgewicht ein positives Element enthalten. Dieses Element war jedoch sekundär, und es war, wenn überhaupt, dann nur zeitweilig wirksam. Das wurde schon im 18. Jahrhundert erkannt. 73 Der Abbé de Saint-Pierre schrieb im „Traktat vom ewigen Frieden" : „Das Gleichgewicht der Macht zwischen Frankreich und Österreich bietet keine hinreichende Sicherheit für die Erhaltung der Staaten und die Fortdauer des Handels." Der Physiokrat Mercier de la Revière erklärte: „Die Politik . . . hat auf unserem Kontinent das System des europäischen Gleichgewichts erfunden, ein rätselhafter Begriff, dessen wahren Sinn mir zu definieren unmöglich scheint. . . Die Wirkungen dieses Systems beweisen offensichtlich dessen Inkonsequenzen: Gewiß ist es wenig geeignet, den Kriegen unter den europäischen Mächten zuvorzukommen ; es scheint ihnen vielmehr als Gelegenheit oder als Vorwand zu dienen, denn alle Tage führen sie gegeneinander Krieg, um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten; die Völker bringen sich so mit Waffengewalt um — durch ein System, das gedacht war, zu verhindern, daß sie sich umbringen." 74 Als die Französische Revolution und die Revolutionskriege das bisherige Staatensystem umwälzten und als die Kabinettskriege des absolutistischen Zeitalters von einer neuen Form von Kriegen abgelöst wurden, verwandelten sich die Lehre vom Gleichgewicht und die Forderung nach seiner Wiederherstellung in eine Losung der feudalen Reaktion. Friedrich von Gentz erklärte, nach dem Siebenjährigen Krieg wäre das Ideal eines europäischen Staatensystems verwirklicht gewesen, hätte es doch damals ein Förderativsystem, ein politisches Gleichgewicht und ein Völkerrecht in Europa gegeben. 75 Die abstrakt-mechanische Lehre vom Gleichgewicht, die die Existenz von Nationen negierte, wurde nun zur Waffe gegen die bürgerlich-nationalen Bewegungen. So ist es kein Zufall, daß Ranke gerade an die Prinzipien der Geschichte des Staatensystems, wie sie im 18. Jahrhundert entwickelt worden war, insbesondere aber an die Lehre vom Gleichgewicht, anknüpfte, wenn er seine außenpolitischen Ideen entwickelte. Ranke war sich freilich klar darüber, daß der europäische Kontinent durch die Ereignisse der Jahre 1789—1815 unwiderruflich 73

Z u m folgenden vgl. Bahner,

Werner, Der Friedensgedanke in der Literatur der

französischen Aufklärung, in: Berlin (1955),

Grundpositionen

der französischen Aufklärung,

S. 177. Diesem A u f s a t z wurden auch die beiden folgenden Zitate

entnommen. 7''

Revière,

Mercier

de la,

L'ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, in :

Physiocrates, p. p. Daire, Paris 1846, T . 2, p. 527. 75

Caemmerer, H.v., hunderts, in:

Rankes Große Mächte und die Geschichtsschreibung des 18. Jahr-

Studien und Versuche zur neueren Geschichte.

M a x Lenz, Berlin 1910, S. 290.

Festschrift für

i. Die Reichs- und Staatenhistorie

45

verwandelt worden war und daß sich das Bürgertum größeren Einfluß auf das politische Leben der meisten europäischen Staaten erkämpft hatte, so daß dem bürgerlich-nationalen Element auch in seiner Geschichtsbetrachtung ein gewisser Raum gelassen werden mußte. Dementsprechend wurde auch die Lehre vom Gleichgewicht von ihm nicht unverändert übernommen, sondern in dem Sinne verwandelt, daß sie mit der Behauptung von einer grundsätzlichen Eigenart der einzelnen Nationen verbunden wurde. Entscheidend aber ist — das zeigt besonders deutlich die programmatische Schrift seiner frühen Periode, die „Großen Mächte", die den 1833 erschienenen zweiten Band der „Historisch-politischen Zeitschrift" eröffneten —, daß gerade in dem für Ranke wesentlichsten Bereich des gesellschaftlichen Lebens, nämlich den äußeren Beziehungen der Staaten, das abstrakte Prinzip des Staatensystems als das vorherrschende bezeichnet und als Vorbild eines solchen Systems das mechanische Gleichgewicht der Mächte bezeichnet wurde. Wenn sich die offizielle Geisteswissenschaft der imperialistischen Epoche in Deutschland damit zu brüsten pflegt, daß der Historismus die „zweite Großtat des deutschen Geistes nächst der Reformation" 76 sei, so ist dem nicht zuletzt entgegenzuhalten, daß gerade für Ranke auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen die starren Schemata der absolutistischen Epoche maßgebend blieben. Ludwig Dehio hat in seinem kurz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges erschienenen Buch „Gleichgewicht oder Hegemonie" noch einmal versucht, die internationalen Beziehungen der neueren Zeit unter diesen Kategorien zu erfassen. Er bezeichnet sein Buch als einen Versuch, „behutsam . . . zu Rankes Konzeption des Staatensystems" zurückzukehren, wobei die Betrachtung allenfalls „das von jenem hinterlassene europäische Bild zu einem globalen ausweitet"". Dieser Versuch wird um so anachronistischer, je mehr die Kräfte des Sozialismus das Ubergewicht über die des Kapitalismus erhalten und die Volksmassen ihren Anteil an der Gestaltung der Geschichte vergrößern. Nicht das mechanische Bild des Staatensystems und der Geschichtsverhältnisse zwischen seinen Elementen läßt uns die Vergangenheit begreifen — Außen- und Innenpolitik der Staaten sind vielmehr nur zu verstehen, wenn sie als Formen des Klassenkampfes erkannt werden. Daher kann nur eine historisch-materialistische Betrachtungsweise auch die internationalen Beziehungen adäquat widerspiegeln. 76

Meinecke,

Friedrich,

Die Entstehung des Historismus, Vorbemerkung:

B d 3, München 1959, S. 2. 77

Dehio, Ludwig, Gleichgewicht oder Hegemonie, Krefeld 1948, S. 17.

Werke,

II. Die deutsche Aufklärung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts

1. Die französische Aufklärung und ihre Geschichtsauffassung Etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts begann eine neue Phase sowohl in der Entwicklung der deutschen als auch in der der französischen Aufklärungsbewegung. Mit der Zuspitzung der gesellschaftlichen Gegensätze wurde die antifeudale Tendenz akzentuierter, wurden aber auch wissenschaftliche Fortschritte, die den neuen Bedürfnissen entsprachen, erzielt. Daß dies für Deutschland wie für Frankreich gilt, ist mehr als ein zufälliges, bloß zeitliches Zusammentreffen. Hatte bisher die Emanzipationsbewegung des deutschen Bürgertums von den ideologischen Auseinandersetzungen in den fortgeschritteneren westeuropäischen Ländern nur in begrenztem Maß profitieren können, so verringerte sich dieser Abstand mit dem „Emporkriechen" des deutschen Bürgertums, vor allem aber mit der nationalen Krise, die im Verlaufe und in der Folge des Siebenjährigen Krieges einsetzte. Auf deutscher Seite handelte es sich nicht nur um ein passives Aufnehmen dessen, was in anderen Ländern erarbeitet worden war — die neuen Motive wurden vielmehr den deutschen Bedingungen entsprechend verwandelt, ja noch mehr: Ebenso, wie die politische Entwicklung Deutschlands nicht nur von der französischen beeinflußt war, sondern ihrerseits auf sie einwirkte (der Siebenjährige Krieg hat ja die französische Entwicklung so stark beeinflußt, daß Napoleon die Schlacht von Roßbach als Beginn der Französischen Revolution bezeichnen konnte), hat die deutsche Aufklärung natürlich auch die französische beeinflußt. Im folgenden werden die Hauptetappen der französischen Aufklärung und ihres Geschichtsdenkens skizziert. Das ist im Zusammenhang dieser Untersuchungen sowohl notwendig, um das Gemeinsame als auch um die Unterschiede kenntlich zu machen. Die grundlegenden Gemeinsamkeiten sind—um dies vorwegzunehmen —, daß in Frankreich wie in Deutschland die Geschichtsschreibung in den Dienst der antifeudalen Bewegung trat, daß dabei die Idee eines Fortschritts der Menschheit zur zentralen Idee wurde und daß die Auseinandersetzungen um diese Fragen nicht auf Fachphilosophen und -historiker beschränkt blieben, sondern Teil der Literatur als geistiger Waffe des dritten Standes überhaupt wurden. Die wesentlichen Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland dagegen sind, daß die französische Aufklärung einen gewissen zeitlichen Vorsprung hatte und daß in Frankreich die historischen Arbeiten der führenden Aufklärer unmittelbar auf eine Veränderung der politischen Machtverhältnisse abzielten, während es

l. Die französische Aufklärung

47

in Deutschland noch um die Vorbereitung solcher Veränderungen ging, das gleichsam pädagogische Motiv der Erziehung der Menschen und der Änderung ihres Denkens gegenüber dem unmittelbar politischen zunächst also noch das primäre blieb. Ebensowenig wie die antifeudale Bewegung des dritten Standes gegen Absolutismus, Feudalismus und Klerikalismus war natürlich auch die Aufklärungsbewegung als ihr ideologischer Ausdruck ein einheitliches Gebilde. Solche Verallgemeinerungen sind also zugleich Vergröberungen. Eine Periodisierung der Aufklärung in Frankreich wie in Deutschland kann nur gewisse wesentliche Merkmale der einzelnen Phasen herausarbeiten, ohne daß alle Erscheinungen damit bewältigt würden. 1 Immerhin lassen sich bestimmte Stufen deutlich unterscheiden. Auf eine Vorstufe in den letzten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts 2 folgte der Beginn der eigentlichen Aufklärung in Frankreich mit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Für diese Phase ist charakteristisch der Dictionnaire historique et critique, in zwei Bänden 1695 und 1697 erschienen, von Pierre Bayle, dem „Mann, der die Metaphysik des 17. Jahrhunderts und alle Metaphysik theoretisch um ihren Kredit brachte. Seine Waffe war der Skeptizismus, geschmiedet aus den metaphysischen Zauberformeln selber." 3 Um die Zeit des Todes Ludwigs XIV. und des Beginns der Régence spitzten sich die gesellschaftlichen Gegensätze so stark zu, daß, ,der Feudalismus sich wirtschaftlich, in seiner Basis, sowohl in einer allgemeinen wie in einer akuten Krise befand — aber diese Krise war noch nicht begleitet und mit hervorgerufen durch das kräftige Wachstum einer gesunden, zukunftshabenden, neuen kapitalistischen Basis" 4 . In einem der interessantesten Werke, in dem die Geschichtsauffassung der französischen Frühaufklärung zum Ausdruck kommt, dem Essai historique et philosophique sur le goût, 1736 von Cartaud de la Villate veröffentlicht 5 , wird aber bereits erklärt: „Les lumières de la raison font la sûreté de nos Princes et de nos Etats." 6 Anders ausgedrückt: „Die Sicherheit der Throne ist durch das aufgeklärte Bürgertum weit eher gewährleistet als durch die Gängelung einer in Unkenntnis gehaltenen Masse von Untertanen, die die Gewohnheit und schließlich auch die Fähigkeit verloren haben, an den Sorgen und den Interessen der Staatsführung teilzunehmen." 7 1

Vgl. dazu und zum folgenden: Krauss, Werner, Zur Periodisierung der A u f klärung, in: Grundpositionen der französischen Aufklärung, Berlin (1955), S. V I I ff. 2 Die Bedeutung von Bossuets Geschichtstheologie, in der noch mehr oder minder naiv die Weltgeschichte als Geschichte des Siegeszuges der katholischen Kirche dargestellt wurde, als Schlußstein der voraufklärerischen Phase wurde bereits in I / i behandelt. 3 Engels, Friedrich und Marx, Karl, Die Heilige Familie, in: Marx/Engels, Werke, B d 2, Berlin 1957, S. 134. 4 Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Frankreich, Teil 2. Aufl., Berlin 1955, S . 58. 5 Neuausgabe v. Werner Krauss, Berlin i960. « Ebenda, S. 326. ? Ebenda, S. 73.

48

I I . Die A u f k l ä r u n g seit 1750

1748 erschien Montesquieus Geist der Gesetze, 1750 Rousseaus Discours über die Preisfrage der Akademie von Dijon, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu verbessern, und im gleichen Jahre der erste Band der Enzyklopädie. Zwei Jahre später veröffentlichte Voltaire sein Werk über das Zeitalter Ludwigs X I V . Zu dieser Zeit hatte sich die Aufklärung in Frankreich durchgesetzt. Das heißt zum einen, daß es kein Gebiet des geistigen Lebens mehr gab, auf dem die feudalen und klerikalen Apologeten nicht ideologisch in die Defensive gedrängt waren — das heißt zum anderen, daß jetzt innerhalb der Aufklärung die Richtungsgegensätze offen aufbrachen. Um diese Feststellungen, soweit dies für unseren Zusammenhang notwendig ist, zu erläutern, seien hier einige Bemerkungen zu Voltaires Geschichtswerk über das Zeitalter Ludwigs X I V . einerseits, zum Verhältnis zwischen Voltaire und Rousseau andererseits eingefügt. „Die Schleuse eines Kanals, der zwei Meere verbindet, ein Gemälde von Poussin, eine schöne Tragödie, eine endlich enthüllte Wahrheit sind tausendmal mehr wert als alle Annalen des Hofes und alle Kriegsberichte. Sie wissen, daß für mich die großen Männer die ersten sind und die sogenannten Helden die letzten. Groß nenne ich die Männer, die im Nützlichen oder im Angenehmen sich ausgezeichnet haben. Die Eroberer von Provinzen sind nur Helden." 8 In diesen Worten, die Voltaire am 15. Juli 1735 zu Beginn der sich über l 1 ^ Jahrzehnte hinziehenden Arbeiten an seinem Buch über das Zeitalter Ludwigs X I V . an Thieriot schrieb, werden der theoretische Ausgangspunkt und das praktische Ziel seiner historischen Studien und Veröffentlichungen deutlich. Es waren Voltaires zahlreiche Arbeiten, durch die das Bild der fortschrittlichen Phase des französischen Absolutismus und seines Vertreters Heinrich IV. im Bewußtsein der Nation bis heute einen festen Platz erhielt (Henriade, erschienen 1723), durch die der Blick der Gebildeten in Westeuropa auf Rußland und vor allem auf Peter I. gelenkt wurde (Geschichte Karls XII., 1731), durch die der Begriff „Philosophie der Geschichte" in den Sprachgebrauch eingeführt wurde (Essai sur les moeurs, 1756), durch die mit einem Wort die Geschichte aus einem Gegenstand bloßer gelehrter Beschäftigung zum festen Bestandteil im gesellschaftlichen Bewußtsein der fortschrittlichen Menschen wurde. Unter den historischen Werken Voltaires erfreute sich sein Buch über das Zeitalter Ludwigs X I V . aber mit Recht stets besonderer Wertschätzung. Voltaire erfüllte in diesem Buch seine eigene Forderung nach einer Geschichte der Nation, so wie er sie selbst auffaßte. Geschichte der Nation: das war für Voltaire die „universale Vorgeschichte der französischen Bourgeoisie" 9 , der Klasse also, die zu jener Zeit die Interessen des Fortschritts in Frankreich vertrat. Um diese Konzeption zu beweisen und zu erläutern, führte seine Darstellung trotz der Gefahren, die dies für den Verfasser mit sich brachte, bis fast an die Schwelle der eigenen 8

Voltaire in seinen schönsten Briefen. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Hermann Missenharter, S t u t t g a r t (1953), S. 61.

'•> Meinecke,

Friedrich,

Die Entstehung des Historismus, a. a. O., S. 76.

i. Die französische Aufklärung

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Zeit. So entstand eine Geschichtsdarstellung, in der keine göttliche Vorsehung mehr in die Geschicke der Menschen eingreift — ja noch mehr: Anläßlich etwa der Schlacht von Senef (1674), nach der sowohl der Prinz von Oranien als auch der Prinz von Condé behaupteten, gesiegt zu haben, ergießt Voltaire die ganze Schale seines Spottes über den Glauben, Gott kümmere sich um die Händel der Menschen, und er äußert sich auch klar darüber, wem dieser Glaube nützt. „Sowohl in Frankreich wie bei den Verbündeten beobachtete man die leere Förmlichkeit, daß man Gott für einen Sieg dankte, den man nicht errungen hatte, eine Sitte, die zur Ermutigung der Völker eingeführt ward, die ja immer getäuscht werden müssen." 10 Das heißt nicht, daß Voltaire Atheist gewesen wäre. Von ihm stammt bekanntlich das Wort, wenn Gott nicht existierte, müßte man ihn erfinden und er war offen genug, zuzugestehen, daß er den Glauben an die Existenz Gottes als Voraussetzung der Sicherung des bürgerlichen Eigentums ansah. E r hielt es für unmöglich, auch nur ein Dorf von Atheisten zu regieren, und als er mit d'Alembert und Condorcet über Fragen der Religion sprach, schickte er die aufwartenden Lakaien aus dem Speisesaal und sagte dann: „Jetzt, meine Herren, können Sie mit Ihren Einwendungen gegen Gott fortfahren ; da ich aber nicht gern in der Nacht von meinen Dienstboten ermordet und ausgeplündert werden will, ist es besser, die Lakaien hören nicht, was Sie sagen." 12 Voltaire trat leidenschaftlich für eine Befreiung vom Feudalismus und Klerikalismus — vor allem für die Befreiung vom letzteren, dem „Infamen" — ein. Aber diese Befreiimg sollte nicht durch Aktionen der Massen bewirkt werden, sondern das Ergebnis eines Gesinnungswandels in den Schichten von Besitz und Bildung sein und allenfalls durch eine Revolution von oben — personelle Veränderungen in den leitenden Positionen unter Beibehaltung des alten Staatsapparates — durchgesetzt werden. Eine Aufklärung, die auch die Massen ergreifen könnte, würde diese Entwicklung nicht fördern, sondern gefährden. „Um den Koloß umzustürzen, sind nur fünf oder sechs Philosophen nötig, die in Übereinstimmung miteinander vorgehen. Es gilt ja nicht, unsere Lakaien daran zu hindern, eine Messe oder Predigt zu hören ; es gilt, unsere Familienväter der Tyrannei von Betrügern zu entreißen und ihnen den Geist der Verträglichkeit einzuflößen. " 1 3 Familienväter — damit sind natürlich jene Menschen von Besitz und Bildimg gemeint, mit denen Voltaire umging und für die er wirken wollte. Wenn in dem oben zitierten Brief von den Männern gesprochen wird, die sich im Nützlichen oder Angenehmen ausgezeichnet haben, so ist zu fragen: nützlich und angenehm für 10 11

12

13

4

Voltaire, Das Zeitalter Ludwigs XIV., deutsch v.Robert Habs, Leipzig o. J.,Bd 1, S. 184. Randbemerkung zum Vorsatzbogen von Helvétius, L e vrai sens du Système de la nature, in: Ljublinski, W. S., Voltaire-Studien, Berlin 1961, S. 1 2 5 . Zit. nach Brandes, Georg, Voltaire, Bd II, Berlin 1923, S. 389, ähnlich die Randbemerkung zu Helvétius, a. a. O., S. 104, bei Ljublinski, a. a. O., S. 138, vgl. auch den Artikel „Atheismus" in: Voltaire, Philosophisches Wörterbuch, dt., Leipzig (1963), S. 7 5 f f . Voltaire an d'Alembert Ende 1 7 5 7 , zit. nach Brandes, Georg, Voltaire, a. a. O., B d 2, S. 147. Streisand, Geschichtliches Denken

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wen? „Die Macht eines Staates hat zur Voraussetzung, daß entweder das Volk eine auf den Gesetzen beruhende Freiheit besitzt, oder daß die Autorität des Landesherren über jeden Widerstand erhaben ist." 1 4 Die erste Form war ihm gewiß sympathischer, was aber ist mit einer auf den Gesetzen beruhenden Freiheit gemeint? „Gesetze": das war für Voltaire vor allem die Sicherung des bürgerlichen Eigentums, denn in ihm erblickte er auch die Grundlage der Bildung und der Wissenschaft. Den Massen des Volkes sollte zugestanden werden, was innerhalb des so bestimmten Rahmens möglich war, aber auch nicht mehr. Selbständige Forderungen der Massen schienen ihm die „auf den Gesetzen beruhende Freiheit" nur zu gefährden. Das Zeitalter Ludwigs XIV., so läßt sich jetzt der Sinn seines Geschichtswerkes zusammenfassen, bereitete die Voraussetzungen für einen solchen Gesellschaftszustand vor. Solche Voraussetzungen waren die Straßenbeleuchtung und die religiöse Toleranz, waren der Mut zum freien Wort auch vor der Majestät und die Kultur des Genusses. All das wird mit betont nüchternen Worten erzählt. Die Berichte werden auf ihre Glaubwürdigkeit geprüft, und hier und da führt uns eine Anekdote eine einzelne Persönlichkeit plastisch vor Augen. Im Widerspruch zu den Tatsachen wird der Sonnenkönig zu einem Wegbereiter des Neuen; und die hintergründige Ironie des Voltaireschen Geschichtswerkes besteht darin, daß sowohl dem Verfasser als auch der Mehrzahl seiner Leser wohl bewußt war, daß diese Deutung nicht mit den Tatsachen übereinstimmte. Auch der Begriff des Fortschritts war bei Voltaire kein Selbstzweck. Fortschritt — das war der Fortschritt der Vernunft, der Aufklärung, der Einsicht, und zwar der Einsicht bei denen, die einflußreich oder wohlhabend waren. Daß dieser Fortschritt nicht das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl bewirken würde, war Voltaire durchaus klar. So erklärte es sich auch, daß nur wenige Jahre nach dem Geschichtswerk über das Zeitalter Ludwigs XIV. eben jene klassische Erzählung erschien, die den historischen Optimismus widerlegen sollte. Gemeint ist der „Candide", der die Leibnizsche Vorstellung von der besten aller möglichen Welten einer vernichtenden Widerlegung aussetzte. Nur für eine oberflächliche Betrachtung besteht ein Widerspruch zwischen den historischen Arbeiten Voltaires, in denen der Gedanke des historischen Fortschritts verkündet wird, und dem Candide, der den philosophischen Optimismus widerlegen soll. Entscheidend ist nicht, daß das Zeitalter Ludwigs XIV. vor, der Candide nach dem Erdbeben von Lissabon (1755) geschrieben wurde, das die Zeitgenossen so tief beeindruckte. Voltaires Ansichten wurden durch dieses Ereignis nicht grundlegend gewandelt. Entscheidend ist vielmehr, daß der Fortschrittsbegriff für Voltaire eine Waffe im Kampf gegen die Monarchie und um den Monarchen, daß er kein Selbstzweck, kein Absolutum und kein Abstraktum war. Fortschritt — das war der Fortschritt zu einer Gesellschaft der Toleranz, der Ordnung und des bürgerlichen Eigentums, aber die Vorteile dieses Fortschritts würden nur einer Minderheit zugute kommen. Eben diese Tatsache spricht die Erzählung vom Candide offen aus. 14

Voltaire,

Das Zeitalter Ludwigs X I V . , Bd 1, S. 22 f.

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So erklärt sich aus den gesellschaftlichen Ideen des Größten der französischen Aufklärer und aus der Grenze dieser Ideen auch der scheinbare Widerspruch zwischen der Verteidigung des historischen Fortschritts und dem Angriff auf den historischen Optimismus. Damit ist auch der Ausgangspunkt gewonnen, um die zweite Frage, die nach dem Verhältnis zwischen Voltaire und Rousseau, zu beantworten — eine Frage, die von grundsätzlicher Bedeutung ist, repräsentierten doch diese Denker die beiden Hauptströmungen der französischen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In den Auseinandersetzungen zwischen ihnen spiegeln sich die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen beiden Strömungen wider. Die brieflichen und publizistischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Voltaire und Rousseau sind in der Literatur oft behandelt worden. 15 Die persönlichen Beziehungen waren zunächst so harmonisch, daß Rousseau sich in einem Brief an Voltaire vom 30. Januar 1750 gegen den Verdacht verwahrte, Voltaire angegriffen zu haben. Voltaire war hier einer Namensverwechselung zum Opfer gefallen. Im Jahre 1755 übersandte Rousseau dann seinen „Ursprung der Ungleichheit" an Voltaire, der ihm in einem ausführlichen Brief 16 recht spöttisch antwortete: „Noch niemand hat so viel Geist leuchten lassen, wie Sie in dem Bestreben, uns wieder zu Bestien zu machen; man bekommt beim Lesen Ihres Buches ordentlich Lust, wieder auf allen Vieren zu gehen. Da es indessen mehr als sechzig Jahre her ist, seit ich diese Gewohnheit abgelegt habe, ist es mir zu meinem tiefen Bedauern unmöglich, sie wieder aufzunehmen." Am Schluß dieses Briefes hieß es in Worten, die völlig frei sind von der Ironie, in die Voltaire sonst persönliche Bekenntnisse zu hüllen pflegte: „Wenn jemand Grund hat, sich über die Wissenschaften zu beklagen, so bin ich es, da sie überall und in einem fort dazu gedient haben, mich zu verfolgen. Aber trotz des Mißbrauchs, der damit getrieben wird, muß man sie lieben, wie man die Gesellschaft lieben muß, trotz der bösen Einzelnen, die sie einem vergällen; wie man ja auch sein Vaterland lieben muß, auch wenn man darin Ungerechtigkeiten zu erdulden hat; und wie man vor dem höchsten Wesen liebend sich verneigen muß, trotz des Aberglaubens und des Fanatismus, die seinen Kult so oft beflecken." Einige Monate darauf präzisierte Rousseau seinerseits in einem Brief die Fragen, in denen er mit Voltaire uneins war. Anlaß dieses Briefes waren zwei Gedichte, die Voltaire unter dem Eindruck des Erdbebens von Lissabon verfaßt und in denen er jedes optimistische Weltbild verspottet hatte. Rousseaus Polemik ist nicht frei von Trivialitäten. Er behauptet, daß, „wenn die Einwohner dieser großen Stadt mehr zerstreut und bequemer gewohnt hätten, der Schaden viel geringer oder vielleicht gleich Null gewesen wäre" 17 . Aber dieses Argument ist lediglich vorgeschoben. Erst im weiteren Verlaufe des Briefes wird die eigentliche Wurzel der Differenzen 15

Eine knappe Zusammenfassung

z. B . bei Brandes,

Georg, Voltaire, dt., B d 2,

Berlin 1923, S. 107 ff. 16

30. A u g u s t 1 7 5 5 : Voltaire in seinen schönsten Briefen,

17

Rousseau, Jean Jacques, Briefe, hg. v. Friedrich M. Kircheisen, Leipzig (1947), S. 59.

4*

a. a. O., S. 1 1 1 .

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deutlich: wenn Voltaire behauptet hatte, wenige Leute möchten unter denselben Bedingungen, wie sie gelebt haben, noch einmal geboren werden, so antwortet ihm Rousseau, daß das vielleicht für die Reichen gilt, „die von falschen Genüssen übersättigt" 18 sind, und er fährt fort: „Wollen Sie Menschen eines besseren Schlags finden oder wenigstens solche, die allgemein aufrichtiger sind und schon deshalb vorzugsweise gehört werden müssen, weil sie die Mehrzahl bilden, so fragen Sie einen ehrsamen Bürger, der ein unbedeutendes, ruhiges Leben ohne Pläne und Ehrgeiz geführt hat, fragen Sie einen guten Handwerker, der bequem von seinem Berufe lebt, selbst einen Bauern — aber nicht einen in Frankreich, wo man glaubt, die Landleute im Elend sterben lassen zu müssen, damit nur wir leben können — sondern einen aus dem Lande, in dem Sie jetzt weilen, im allgemeinen überhaupt einen in einem freien Lande." In diesen Worten zeigt sich bereits die Unterschiedlichkeit des gesellschaftlichen Ausgangspunktes und der Parteinahme. In den folgenden Jahren wurden die Meinungsverschiedenheiten denn auch öffentlich ausgetragen. Rousseau hatte sich mit dem Argument, Schauspiele würden die Reinheit der Sitten gefährden, gegen Theateraufführungen in Genf gewandt, während Voltaire in aller Öffentlichkeit diesen engherzigen und heuchlerischen Ansichten der kalvinistischen Obrigkeit den Kampf ansagte. Als 1760 Rousseaus Erziehungsroman „La nouvelle Heloise" erschien, lehnte Voltaire das Buch ab, bot aber dem Verfasser — als dieser Verfolgungen ausgesetzt war — Asyl an. Rousseau, der sich in diesen Jahren vom Kreis der Enzyklopädisten getrennt hatte, glaubte, daß auch Voltaire ihn verfolgte, und denunzierte ihn in den „Lettres de la montagne" als den Verfasser des anonym erschienenen, freigeistigen „Sermon des sinquante" — eine Handlung, die ein schlimmer Verstoß gegen die Solidarität der Ideologen der antifeudalen Bewegung war, durch die allein sie ihre Angriffe auf Adel und Kirche zur Wirkung bringen konnte. Jetzt brach auch Voltaire offen mit Rousseau: In einer Flugschrift deckte er, was bisher nur wenigen Vertrauten bekannt war, auf, daß der angeblich so sittenstrenge Rousseau seine Kinder ins Findelhaus gegeben hatte. Es ist wenig interessant, die weiteren Spannungen, in denen von beiden Seiten das Persönliche in den Vordergrund geschoben wurde, noch im einzelnen zu verfolgen. Voltaire erklärte zwar in einem Brief an Helvetius: „Unterstützen wir uns doch gegenseitig im Kampf gegen die grausame Verfolgung, der die Philosophie heute ausgesetzt ist. Wie ist es nur möglich, daß diese Philosophie uns nicht eint? Die erbärmlichsten Mönche sind ein Herz und eine Seele, bis in den Tod, wenn es sich um die Interessen ihres Klosters handelt. Und die Aufklärer der Menschheit sind eine weithin zerstreute Herde, die bald dem Wolf, bald bissigen Angriffen aus den eigenen Reihen zum Opfer fällt. Das abscheuliche Benehmen Jean-Jacques' schadet der Philosophie mehr als bischöfliche Hirtenbriefe. Aber dieser Judas sollte die anderen Apostel nicht entmutigen." 19 In der Praxis aber hat auch er 18 Ebenda, S. 61. 19

27. Oktober 1766: Voltaire in seinen schönsten Briefen,

a. a. O., S. 226.

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nicht von diesen Vorsätzen Gebrauch gemacht, sondern noch in den letzten Lebensjahren Rousseaus versucht, Friedrich II. von Preußen gegen diesen aufzuwiegeln — ein Versuch übrigens, auf den der preußische König nicht einging. Um diese Auseinandersetzungen zu erklären, genügt es nicht, persönliche Motive der Beteiligten anzuführen, so richtig es auch ist, daß Voltaire seine führende Stellung durch den schnell aufsteigenden Vertreter der kleinbürgerlichen und plebejischen Schichten bedroht sah, so richtig es andererseits ist, daß Rousseau, eitel und später vom Verfolgungswahn besessen, wie er nun einmal war, in Voltaire fälschlich den Organisator der gegen ihn gerichteten Verleumdungen und Verfolgungen vermutete. Zur Erklärung genügt auch nicht die in der bürgerlichen Geistesgeschichte zum Dogma erhobene Alternative zwischen Verstand und Gefühl, die als das Schlüsselproblem der geistigen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgegeben wird. Die Grundlage der Differenzen war vielmehr die Spaltung der Aufklärungsbewegung als der Emanzipationsbewegung der antifeudalen Schichten — eine Spaltung, in der das Heranreifen sozialer Gegensätze innerhalb des dritten Standes zum Ausdruck kam. Soboul hat die sozialen Wurzeln dieser Spannungen präzis formuliert: „Während Voltaire, unbestritten der Führer der Aufklärangsbewegung von der Jahrhundertmitte bis zu seinem Tode, zu Reformen innerhalb des Systems der absoluten Monarchie fortschreiten und die Regierung der reichen Bourgeoisie übertragen lassen wollte, gab Rousseau, aus dem Volk hervorgegangen, den politischen und sozialen Idealen des Kleinbürgertums und der Handwerker Ausdruck." 20 Aus diesen verschiedenartigen gesellschaftlichen Positionen ergaben sich auch die Differenzen in der Geschichtsauffassung und im Geschichtsbild. Das sei an zwei Problemen verdeutlicht : an dem Problem des Fortschritts in der Geschichte und der Entstehung des Eigentums. Voltaire war überzeugt von einem Fortschritt in der Geschichte — einem Fortschritt der Vernunft, der Einsicht und der Toleranz, auf Grund dessen, so schien ihm, die liberalen Teile des Adels und die Bourgeoisie ihren Einfluß in der Gesellschaft ständig vergrößerten. Daraus ergab sich eine rationale Haltung zur Geschichte. Schien sie doch der Klasse, die Voltaire vertrat, rechtzugeben. Wenn es augenscheinlich den Schichten von Besitz und Bildung möglich war, die Welt nach ihren Auffassungen umzugestalten, dann war ein Gott, der in die Geschichte eingreift, überflüssig. Die Religion hatte nicht mehr die Aufgabe, Lücken der Erkenntnis zu füllen, sondern sie war lediglich ein Instrument, die Unterschichten zu zügeln, und der Deismus, den Voltaire vertrat, sollte darüber hinaus Adel und Königtum mit den neuen Kräften und ihren Auffassungen versöhnen. Anders mußte das Problem des Fort20

Si Voltaire, chef incontesté du mouvement philosophique après 1750 et jusqu'à sa mort, entend procéder à des reformes daus le cadre de la monarchie absolue, et donner le gouvernement à la bqurgeoisie riche, Rousseau, sorti du peuple, exprime l'idéal politique et social de la petite bourgeoisie et de l'artisanat: Soboul, Albert, La Révolution française 1789—99, 2. Aufl., Paris (1951), S. 36.

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II. Die Aufklärung seit 1 7 5 0

schritts vom Standpunkt der kleinbürgerlichen Demokraten aus aufgefaßt werden. Für diese Schichten war ein Fortschritt in der Geschichte nicht sichtbar. Die historische Entwicklung schien nur zu beweisen, daß die Wünsche und Hoffnungen der Kleineigentümer ständig unberücksichtigt blieben und daß die von ihnen vertretenen Moralauffassungen von den Reichen und Mächtigen theoretisch unterstützt, praktisch aber ständig übertreten wurden. Was bei Gottfried Arnold in theologischem Gewände als metaphysisch-starrer Gegensatz zwischen Kirche und Ketzer erschien, wurde bei Rousseau in weltlichem Gewände zum Gegensatz von Kultur und Natur. Natur — das war für Rousseau nicht einfach der Bereich des Anorganischen und Organischen, das war nicht einfach die Landschaft, sondern das war ein bestimmtes gesellschaftliches Ideal: Natur war für Rousseau diejenige Art und Weise der Regelung der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen, die den kleinen Eigentümern Sicherheit gab und die verhinderte, daß ein Übermaß oder ein allzu großer Mangel an Besitz diese Sicherheit gefährdet. Nicht aus bestimmten Vorstellungen von der Natur wurde ein Ideal der Gesellschaftsordnung hergeleitet, sondern umgekehrt: Diejenigen Erscheinungen in der Natur wurden bevorzugt, die in ihrem Ebenmaß und ihrer Harmonie das Ideal einer homogenen Gesellschaft widerspiegelten. Wie aber sollte eine solche Gesellschaft entstehen? Rousseaus dauerhafte Bedeutung für die Entwicklung des Geschichtsdenkens beruht darauf, daß er das Problem der Demokratie mit dem Problem des Eigentums verknüpfte. Für Voltaire war das Recht auf Privateigentum völlig unproblematisch. Mit der Frage nach der Entstehung des Privateigentums beschäftigte er sich nicht. Ein gewisser Wohlstand war für ihn eine selbstverständliche Voraussetzung der Wissenschaft und der Kultur. Für ihn wie für Turgot und für Condorcet schien es selbstverständlich, daß es immer Reiche und Arme gegeben habe, und der Fortschritt der Vernunft war für sie mit aller Selbstverständlichkeit mit dem Erstarken des wohlhabenden und besitzenden Bürgertums verknüpft. Dem entsprach auch der Optimismus, daß die Leistungen der Wissenschaft und Kultur zum Fortschritt der Menschheit weiter beitragen würden. Gerade die entgegengesetzte Stellung zu dieser Frage nahm Rousseau ein. Für ihn war es keineswegs selbstverständlich, daß die Gesellschaft in Reiche und Arme geschieden sei, daß die Leistungen der Wissenschaft und Kultur, die auf der Grundlage des bürgerlichen Eigentums entstanden waren, der Menschheit nützlich seien und daß es einen Fortschritt in der Gesellschaft gäbe. So kam er dazu, zu fragen, wie denn eigentlich das Privateigentum entstanden sei. Berühmt wurden die Sätze aus seiner Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit der Menschen: „Der erste, welcher ein Stück Land einzäunte und zu sagen wagte: .Dies gehört mir' und Leute fand, die einfältig genug waren, es ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviel Verbrechen, Kriege und Morde, wieviel Elend und Schrecken würde der dem menschlichen Geschlecht erspart haben, der die Pfosten herausgerissen und seinen Landsleuten zugerufen hätte: ,Hütet Euch, auf diesen Lügner zu hören! Ihr seid verloren, wenn Ihr vergeßt, daß die Früchte Euch allen, der Boden aber niemand gehört!"'.

2. Isaak Iselin

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„Das ist reiner Idealismus. Bei Rousseau hat das Eigentum gar keine Geschichte, sondern es entsteht dadurch, daß ein Mann auf den Gedanken kommt, ein Stück Land einzuhegen und es als sein Eigentum zu bezeichnen. Wenn der Mann, der das Land einzäunt, seinen Gegenspieler in dem andern gefunden hätte, der die Pfosten wieder ausriss, so würde die Geschichte vermutlich, das heißt zufällig, einen anderen Verlauf genommen haben, denn dann wäre das Gemeineigentum an Grund und Boden erhalten geblieben." 21 Indem Rousseau aber die Frage nach der Entstehung des Privateigentums überhaupt aufwarf, indem er den Zusammenhang zwischen Demokratie und Privateigentum in die Debatte warf und indem er damit die Schranken der bürgerlichliberalen Geschichtsauffassung durchbrach, schuf er Voraussetzungen für spätere Fortschritte der Geschichtsschreibung, durch die die französische Aufklärung über die Grenzen ihres Jahrhunderts hinaus auch den wissenschaftlichen Sozialismus vorbereiten half.

2. Isaak Iselin Isaak Iselin, 1728 in Basel als Sohn einer wohlhabenden Bürgerfamilie geboren, ist zwar — abgesehen von einem etwa einjährigen Studienaufenthalt in Göttingen und einer halbjährigen Reise nach Paris (1752, er lernte dort u. a. Buffon, Grimm und Rousseau kennen) — nicht über die Grenzen der Schweiz hinausgekommen. Sein Name gehört jedoch auch in die Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft. Iselin stand in unmittelbarem Kontakt mit deutschen Philosophen, Pädagogen und Historikern. Wichtiger noch ist, daß er als der erste bezeichnet werden kann, der den Versuch machte, in deutscher Sprache die Weltgeschichte als Geschichte des menschlichen Fortschritts, genauer: als Geschichte des Fortschritts der menschlichen Vernunft, zu behandeln. In seinen „Philosophischen Mutmaßungen über die Geschichte der Menschheit" 22 kommt die Fortschrittsauffassung dieser Phase der Aufklärung in besonders typischer Form zum Ausdruck. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb er von den neueren bürgerlichen Historikern der Geschichtswissenschaft mit der linken Hand abgetan wird. Meinecke 23 sagt von ihm nicht viel mehr, als daß er eine „schnellfertige Generalrevue" geboten hätte. Srbik zeiht ihn der „platten Verunglimpfung des Mittelalters" 21 22

23

Meusel, Alfred, Jean Jacques Rousseau, in: Aufbau, Berlin 1953, S. 1194. Zuerst unter diesem Titel 1764 erschienen. Von der 2. Auflage an trug das Buch den Titel „Über die Geschichte der Menschheit". Es wurde die 5. Aufl. (Basel 1786) benutzt, nach der auch zitiert wird. Meinecke, Friedrich, Die Entstehung des Historismus, a. a. O., S. 313.

I I . Die Aufklärung seit 1750

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und behauptet, seinen Werken fehle eine „tiefere philosophische Begründung des Fortschritts" 2 i . Selbst Hettner, der der Aufklärung mit mehr Sympathie gegenüberstand als irgendein bürgerlicher Literarhistoriker nach ihm, kritisierte Iselin als Vorläufer jener „Abart der Geschichtsschreibung", die unter dem „prahlerischen Namen einer sogenannten Philosophie der Geschichte" 25 teleologische Vorstellung in die Gesellschaftswissenschaften eingeführt und damit der vom Liberalismus abgelehnten Philosophie Hegels den Weg bereitet habe. Nun ist es zwar richtig, daß Iselin idealistischen Konstruktionen den Weg bereitet hat — wesentlicher aber war, daß er ein Gesamtbild der Weltgeschichte unter dem Gesichtspunkt zu zeichnen versuchte, den ökonomischen und geistigen Aufstieg des Bürgertums als historisch notwendig nachzuweisen. Dabei ist besonders interessant, daß es gerade die Auseinandersetzung mit Rousseaus Leugnung des historischen Fortschritts war, die Iselin dazu brachte, diesen Gedanken auszugestalten. Das zeigt, daß die demokratische Strömung, auch im Ideologischen vorwärtsdrängend, auf die Theoretiker der Bourgeoisie einwirkte. In seiner „Geschichte der Menschheit" gab Iselin, Voltaire verwandt, dem Glücksgefühl des aufsteigenden Bürgertums, das die Welt nach seinem Bild umzuformen wünschte, Ausdruck und verteidigte diese Hoffnungen gegen Feudalismus und Klerikalismus, aber auch gegen die plebejischen Schichten, die an diesem Aufstieg nicht partizipierten. Den Ausgangspunkt seiner Geschichtstheorie bildete die Lehre von den drei menschlichen Vermögen, der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft und der Vernunft — eine Lehre, die der Aufklärungsphilosophie von Wolff bis Kant zugrunde lag. Das Neue, das Iselin in theoretischer Hinsicht bot, war, daß er die Geschichte der Menschheit auffaßte als eine Geschichte der Entfaltung dieser Vermögen. Der alte Orient war seiner Ansicht nach gekennzeichnet durch die Vorherrschaft der „Einfalt und Sinnlichkeit" 26 . „Einbildungskraft und enthusiastische Liebe zum Rühmlichen, zum Großen, zum Schönen" 27 hätten das Leben der Griechen und Römer gekennzeichnet — eine Epoche, in der die Einbildungskraft mächtiger als die Sinne, die Vernunft aber schwächer als die Einbildung war. Erst in den letzten Jahrhunderten hätten sich mit der Entwicklung der Erleuchtung und der Vernunft Aussichten auf eine „dauerhaftere und erhabenere Glückseligkeit" 2 8 ergeben. Nicht die Geschichtskonstruktion, die dieser Grundgedanke ausdrückte, ist das eigentlich Interessante an Iselins Buch, so einflußreich sie auch für die weitere Entwicklung gewesen sein mochte. Unsere Aufmerksamkeit verdient vor allem die Tendenz seiner Geschichtstheorie und die ihr zugrunde liegende politische Konzeption. 24

Srbik, Heinrich Ritter v., Geist und Geschichte, a. a. O., B d 1, S. 146.

25

Hettner, Hermann,

Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts,

2. Aufl.,

Teil 3, B u c h 2, Braunschweig 1872, S. 401. 26

Iselin,

Isaak,

Über die Geschichte der Menschheit, 5. Aufl., Basel 1786, B d 1,

S. X X X I I ff. 27

Ebenda.

28

Ebenda.

2. Isaak Iselin

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Die These vom Fortschritt der Menschheit war für ihn vor allem eine Waffe im Kampf gegen Feudalismus und Klerikalismus. Er bezeichnete die „Feudalverfassung" als „die barbarischste aller Gesetzgebungen" 29 und sagte, „die meisten Edelleute saßen auf ihren Schlössern gleich Raubvögeln" 30 . Alles Licht fällt in seinem Buch auf „die kostbare Klasse von Bürgern, die zwischen dem Stand, den wir Adel nennen, und zwischen dem sogenannten Bauernstand das Mittel hält" 31 . „Ohne Städte und ohne das, was man Bürgerstand nennt, würden wir alle noch Barbaren sein." 32 Es ist nicht verwunderlich, daß für diese Betrachtungsweise die politischen Verhältnisse Englands als Vorbild erscheinen: „Unter den Nationen der Erde ist vorzüglich eine, bei welcher die politische Freiheit sich in einem beträchtlichen Glänze zeigt." 33 Nun konnte natürlich auch Iselin nicht die Frage umgehen, in welchem Verhältnis der Aufstieg der Bourgeoisie zum Schicksal der werktätigen Schichten in Stadt und Land stand. Dieses Problem konnte er insbesondere dann nicht umgehen, wenn er jene Ereignisse berührte, die wir als die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals bezeichnen. Aber für ihn löste sich dieses Problem einfach damit, daß „die vermehrten Manufakturen und Fabriken Menschen, die bisher der Gesellschaft zur Schande und zur Last gelebt hatten, auf eine nützliche Weise beschäftigten" 34 . An anderer Stelle meinte er, die „Straßenräuber und Landläufer" seien eine „unglückliche Zunft", die mit der Ausbreitung des Handels immer mehr vermindert werde. 35 Das spürbare Unbehagen, das ihn aber offensichtlich immer dann befiel, wenn er von diesen Schichten sprach, hatte einen tiefen Einfluß auf die politisch-aktuellen Konsequenzen, in die seine Geschichtsbetrachtung mündet. Er bezweifelte, ob „nicht das wahre Große, das wahre Anständige, das wahre Nützliche über den Gesichtspunkt der Menge erhaben" 36 seien, und zog daraus sofort die Konsequenz: Wahrscheinlich würde nur in einer Monarchie die Aufklärung ihre Früchte tragen können, auch wenn „alle Monarchien, die wir kennen, noch weit von der erhabenen Vernunft entfernt" 37 seien. Die republikanische Staatsform gerät in denVerdacht, „die Einheit" 38 der Bürger zu gefährden, wobei mit dieser „Einheit" natürlich nichts anderes als die widerspruchslose Unterwerfung der werktätigen Schichten und Klassen unter die Herrschaftsansprüche der Oberklassen gemeint ist. Nicht die Eroberung der politischen Macht war es deshalb, auf die nach der Auffassung Iselins die Geschichte das Bürgertum hinwies. Die Aufklärung kann sich 29 Ebenda, 30 Ebenda, 31 Ebenda, 32 Ebenda. 33 Ebenda, 54 Ebenda, 35 Ebenda, 36 Ebenda, Ebenda, 38 Ebenda,

Bd 2, S. 33. Bd 2, S. 262. Bd. 2, S. 272. Bd Bd Bd Bd Bd Bd

2, S. 299. 2, S. 288. 2, S. 304 Anm. 2, S. 313. 2, S. 314. 2, S. 316.

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vielmehr nur zum Ziel setzen, die Stellung der Bourgeoisie in der absoluten Monarchie in ökonomischer und geistiger Hinsicht zu verbessern. So betrachtet, ist es natürlich kein Zufall, daß Iselin sich für das System des Physiokratismus einsetzte — jener politischen Ökonomie, in der, wie Marx feststellte, „die Widersprüche der kapitalistischen Produktion, die sich aus der feudalen Gesellschaft herausarbeitet" 39 , zum Ausdruck kamen In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, daß er einer der wichtigsten Organisatoren des Philanthropismus war — derjenigen Strömung in der zeitgenössischen Pädagogik, die durch eine Verbesserung der Erziehung eine Hebung der Stellung des Bürgertums in der aufgeklärten Monarchie erwirken wollte. Ähnlich wie für die Physiokraten und für die Philanthropen war für Iselin die Vernunft des Bürgers noch nicht der Feind der absoluten Monarchie — das Problem der politischen Macht wurde von ihm nicht aufgeworfen —, der aufgeklärte Bürger sollte vielmehr der beste Verbündete und Ratgeber des aufgeklärten Fürsten sein. Gerade der Abstand des Baseler Bürgers von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den damaligen absoluten Fürstenstaaten mag sein Teil dazu beigetragen haben, daß die Ideologie und die Illusion des Fortschritts der Vernunft gerade von ihm in klassischer Form herausgearbeitet und auf die Geschichte angewendet worden sind.

3. Auseinandersetzungen um die nationale Frage in Deutschland Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war die deutsche Nation erst im Werden. Noch fehlte vor allem eine gemeinsame deutsche Wirtschaft. Wenn auch seit den fünfziger Jahren die Zahl der Manufakturen wuchs und insbesondere der Anteil der Manufakturen, die von Privatleuten betrieben wurden, zunahm und wenn auch in der Landwirtschaft allmählich neue Betriebsformen eingeführt wurden, fehlte doch ein gemeinsamer nationaler Markt. Durch staatliche Monopole, Einfuhrbeschränkungen und Zollschranken blieben die einzelnen Territorialstaaten wirtschaftlich noch voneinander getrennt. Die gemeinsame deutsche Sprache stellte jedoch bereits ein wichtiges Bindeglied zwischen den Deutschen dar, und es gab auch bereits eine Gemeinschaft des Territoriums. Die gemeinsame Nationalkultur hatte mehrere Jahrhunderte zuvor begonnen, sich herauszubilden. Sie gewann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Festigkeit und Dauerhaftigkeit. Das hängt damit zusammen, daß die Aufklärungsbewegung als Ideologie der Emanzipationsbewegung des Bürgertums gegen Feudalismus, Absolutismus und Klerikalismus eine neue Stufe erreichte. Die Idee einer Erziehung der Nation als Vorbereitung der bürgerlichen Umgestaltung 39

Marx, Karl, Theorien über den Mehrwert, Teil 1, Berlin 1956, S. 18.

3. Die nationale Frage

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trat immer mehr in den Mittelpunkt der Literatur, der Philosophie, der Publizistik und der Gesellschaftswissenschaften. Damit hängt es zusammen, daß in dieser Zeit bestimmte Züge des deutschen Nationalcharakters Gestalt annahmen — genauer: des deutschen Nationalcharakters der bürgerlichen Epoche. Da das Problem des Nationalcharakters für eine Analyse der Erscheinungen im geistigen Leben Deutschlands in dieser Zeit von grundsätzlicher Bedeutung ist, seien einige Bemerkungen dazu eingefügt. Der Unterschied zwischen idealistischer und materialistischer Geschichtsbetrachtung besteht ja nicht in der Antwort auf die Frage, ob ein Nationalcharakter existiert oder nicht. Dieser Unterschied besteht zum einen in der Antwort auf die Frage, ob er primär oder sekundär gegenüber den durch die Klassenzugehörigkeit der Individuen bestimmten Zügen ist. Nach materialistischer Auffassung sind die im Nationalcharakter zum Ausdruck kommenden Gemeinsamkeiten unwesentlich gegenüber den durch die Klassenspaltung der bürgerlichen Nation bestimmten Unterschieden. Materialismus und Idealismus unterscheiden sich zum anderen in der Antwort auf die Frage, welche Faktoren den Nationalcharakter prägen. Er ist keine biologische oder psychologische Erscheinimg, sondern eine soziale und wird deshalb, wie alle sozialen Erscheinungen, letzten Endes bestimmt von der materiellen Produktion und ihrer Entwicklung. Genauer gesagt, der Nationalcharakter wird vor allem bestimmt von den besonderen historischen Umständen und Formen, unter denen eine Nation die einzelnen Etappen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung durchläuft. Er ist weder autonom noch unveränderlich, sondern er ändert sich im Laufe der Geschichte, unter dem Einfluß der Wandlung der materiellen Produktion. Die Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung setzen sich aber in der Geschichte der einzelnen Nationen nicht auf gleiche Weise durch. Ungeachtet ihrer grundlegenden und bestimmenden Bedeutung, werden sie in der Erscheinung durch die besonderen historischen Umstände jeweils modifiziert. Deshalb, und nicht zunächst wegen geographischer oder enthnologischer Eigenheiten, gibt es Unterschiede des Nationalcharakters, und deshalb ist der Nationalcharakter in ständiger Veränderung begriffen. Daß der Nationalcharakter sich ändert, bedeutet freilich nicht, daß er sich ebenso schnell ändert wie die Produktionsweise der materiellen Güter. Im Gegenteil: im Nationalcharakter leben fördernde und hemmende Traditionen der Vergangenheit noch besonders lange fort, hier ragt die Vergangenheit besonders lebendig in die Gegenwart hinein, und manche Verhaltensweisen sind noch dauerhafter als die Ideen und Anschauungen einer bereits überwundenen Gesellschaftsordnung. Deshalb sind von besonderer Bedeutung für den Nationalcharakter die Eigenart, die Tiefe und der Erfolg der revolutionären Umwälzungen, die eine Nation erlebt hat. Eben in den Revolutionen, an den Knotenpunkten des Überganges von einer Gesellschaftsordnung zur anderen, in denen sich das grundlegende ökonomische Gesetz der Übereinstimmimg der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte unmittelbar auswirkt, in denen auch die besonderen nationalen Formen, unter denen dieses Gesetz jeweils zur Geltung kommt, besonders be-

6o

II. Die Aufklärung seit 1750

deutsam werden — eben hier wird auch der Nationalcharakter in besonders nachdrücklicher und besonders eigenartiger Weise geprägt. So haben die besonderen Formen des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland tiefgehenden Einfluß auf die politisch-moralische Haltung der Nation auch in den folgenden Jahrzehnten gehabt, wie umgekehrt diese politisch-moralische Haltung, also die wesentlichen Momente des Nationalcharakters, ihrerseits auf die gesellschaftliche Entwicklung einwirkte. Die Existenz eines eigenen, gemeinsamen Nationalstaates ist keine Bedingung für die Existenz einer Nation. Für ihre Entwicklung ist es jedoch nicht gleichgültig, ob es einen solchen Staat gibt oder nicht. Ihre Herausbildung und Konstitutierung werden durch einen einheitlichen Staat erleichtert und beschleunigt. Das Fehlen eines zentralisierten deutschen Staates bis zum Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts hat natürlich die Konstitutierung der deutschen Nation erschwert und verzögert. Mit der verstärkten Entwicklung kapitalistischer Formen setzten in Deutschland seit etwa 1750 lebhafte publizistische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen über die nationale Frage ein. Daß es sich hierbei um einen Emanzipationsprozeß des Bürgertums handelte und daß dieser Prozeß auf dem Erstarken des Kapitalismus beruhte, kam im allgemeinen jedoch noch nicht direkt zum Ausdruck. Anlaß und Anknüpfungspunkt der Auseinandersetzungen um die nationale Frage bildeten vielmehr vor allem die Probleme der Reichsgewalt. Dieses Thema wurde aber zum Anlaß, grundsätzliche Überlegungen über die Perspektive der deutschen Nation überhaupt anzustellen. Bisher hatte man die deutschen Kaiser aus dem Hause Österreich gewählt, „nicht weil man dieses Haus für das am meisten patriotisch gesinnte oder die Lage der österreichischen Länder für die zur Förderung einer nationalen Politik am meisten geeignete hielt (das Gegenteil des einen wie des anderen war längst durch die Erfahrung bewiesen), sondern weil man die kaiserliche Gewalt so sehr abgeschwächt hatte, daß sie ohne den Hintergrund einer starken Hausmacht außerstande schien, sich zu behaupten", — selbst mit diesem Hintergrund einer starken Hausmacht aber drohte „der wohlbefestigten Unabhängigkeit der einzelnen Stände, der größeren wenigstens, nicht allzu viel Gefahr" 40 . Friedrich II. hatte in dem politischen Testament, das sein Vater 1722 verfaßt hatte und in dem dessen Scheu, „die Leistungsfähigkeit seines Staates, dessen Ausbau zur militärischen Despotie er so stark forcierte, im Ernstfall zu erproben" 41 , zum Ausdruck kam, die Warnung gelesen „fanget niemahlen einen ungerechten Krieg an", und es war ihm dort auch geraten worden, „niemals mit Frankreich eine Alliance gegen das Römische Reich zu machen". Er selbst hatte in seinem Anti-Macchiavelli diejenigen kritisiert, die ohne Rücksicht auf die Gebote der Moral dynastische Eroberungspolitik trieben. Kaum hatte er den preußischen 40

Biedermann,

41

Schilfert,

Karl, Deutschland im 18. Jahrhundert, B d 1, Leipzig 1854, S. 22 ff.

Gerhard,

Deutschland

von

1648 bis

1789

Geschichte, Beiträge,) 2. Aufl., Berlin 1962, S. 118.

(Lehrbuch der

deutschen

3. Die nationale Frage

6l

Thron bestiegen — Friedrich Wilhelm I. starb am 3 1 . Mai 1740, — wurde mit dem Tode Karls VI. (20. Oktober 1740) die Kaiserwürde vakant. Das genügte für Friedrich II., für den Theorie und Praxis ja stets wenig miteinander zu tun hatten, die erwähnten Mahnungen und Vorsätze zu vergessen, einen Aggressionskrieg zu beginnen, in Schlesien einzufallen und ein Jahr später mit Frankreich sowie Sachsen und Bayern gegen den traditionellen Träger der Kaiserwürde, das Haus Habsburg, „eine Alliance zu machen". Bei Kriegsbeginn erklärte sich der preußische König bereit, die Wahl Franz I., des Gatten Maria Theresias, zum Reichsoberhaupt zu unterstützen, wenn ihm dafür Schlesien überlassen würde. Umgekehrt war aber auch für Habsburg diese Zustimmung keine Provinz aus der österreichischen Hausmacht wert, so daß das preußische Angebot entschieden abgelehnt wurde. Kurfürst Karl Albert von Bayern, mit französischer und preußischer Unterstützung 1742 als Kaiser Karl VII. zum Reichsoberhaupt gewählt, hat unter diesen Umständen natürlich sein Amt nicht wahrnehmen können. In den drei Jahren zwischen der Kaiserwahl und dem Tode Karls VII. (er starb 1745) wurde vielmehr sichtbar, daß das Schicksal des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation besiegelt war: es war zum Instrument im Dualismus zwischen Habsburg und Hohenzollern, in dem Habsburg immer mehr zur defensiven, Hohenzollern immer mehr zur offensiven Seite wurde, hinabgesunken und wurde in ihm aufgerieben. Der Friede von Dresden (1745) beließ das in zwei Kriegen umkämpfte Schlesien in der Hand Preußens. Friedrich II. erklärte sich dafür mit der Wahl Franz I. zum Kaiser einverstanden. Das heißt nicht, daß den Habsburgern der Preis für die Kaiserwürde, den sie 1740 nicht erlegen wollten, jetzt doch lohnend erschien, sondern besagt nur, daß im Augenblick keine Möglichkeit bestand, Friedrich II. seinen Raub wieder abzunehmen. Der Siebenjährige Krieg hat — so gewaltig seine internationale Bedeutung im Kampf zwischen England und Frankreich um die Kolonialherrschaft und den Seehandel ist — diese innerdeutsche Situation nicht grundlegend gewandelt. Er ist in dieser Hinsicht tatsächlich nicht mehr als der Dritte Schlesische Krieg, dessen Ausgang das Ergebnis der beiden ersten Kriege bestätigte. Der Sieg, den die preußische Armee 1757 bei Roßbach über die Franzosen — aber auch über die Reichsarmee — errang, ist von vielen Deutschen als Zeichen dafür aufgefaßt worden, daß die Zeit vorbei war, in der französische Heere nach dem Gutdünken ihres Monarchen in Deutschland einfallen konnten. Diese Tatsache ist aber mindestens ebenso dem Niedergang des Feudalismus in Frankreich und dem Aufkommen der bürgerlich-nationalen Bewegung in den europäischen Staaten zuzuschreiben wie der Schlagkraft des preußischen Heeres. In der Publizistik der ersten Jahre nach dem Siebenjährigen Krieg wird der Name Friedrichs II. im allgemeinen mit Befremden und Respekt zugleich genannt. Das heißt nicht — wie die preußische Legende es wollte —, daß man in dem König den Sachwalter der nationalen Belange erblickt hätte. Offene Kritik an irgendeinem deutschen Fürsten war ja — wenn dies nicht gerade einmal in der „Staatsräson" eines Territorialherren lag — in keinem der Einzelstaaten des Reiches gestattet.

62

II. Die A u f k l ä r u n g seit 1750

Die Haltung der Schriftsteller in diesem besonderen Falle ist einmal zurückzuführen auf die Furcht vor der preußischen Militärmaschine auch in den Mittelund Kleinstaaten Nord- und Westdeutschlands, zum anderen auf die vage Hoffnung, daß das Lippenbekenntnis Friedrichs II. zur Aufklärung eines Tages doch Ergebnis zeitigen würde — eine Hoffnung, die sehr bald der Enttäuschung und Gleichgültigkeit wich. Als gar 1780 das Pamphlet Friedrich II. gegen die deutsche Literatur erschien, wurden gerade bei patriotisch gesinnten Intellektuellen Ablehnung und Abwehr deutlich. Es sei hier nur an Goethe erinnert, der, wie es im zweiten Buch von „Dichtung und Wahrheit" heißt, während des Siebenjährigen Krieges „preußisch oder, um richtiger zu reden, Fritzisch" gesinnt war, später aber von der preußischen Monarchie nur mit Abneigung zu sprechen pflegte. In diesem Zusammenhang verdient das Gespräch Beachtung, das Friedrich II. am 18. Dezember 1760 in dem von den Preußen besetzten Leipzig mit Christian Fürchtegott Geliert führte. Seinen Verlauf gab Geliert selbst aus unmittelbarer Erinnerung wieder. 4 2 Friedrich II. kam bald auf sein Lieblingsthema, die angebliche Minderwertigkeit der deutschen Literatur und Geschichtsschreibung, zu sprechen, worauf ihn Geliert recht bestimmt Gegenbeispiele nannte und ihm auch entgegenhielt: „Ihre Majestät sind einmal gegen die Deutschen eingenommen . . ., wenigstens gegen die deutschen Schriftsteller." Geliert versuchte dann, seinem gekrönten Gesprächspartner zu erklären, warum die Deutschen sich noch nicht „in aller Arten guten Schriften hervorgetan" haben. E r stellte die Frage „vielleicht ist jetzt noch das kriegerische Säkulum der Deutschen. Vielleicht hat es ihnen auch an Augusten und Ludwigs X I V . gefehlt?" Friedrich II. begriff schnell, was der Schriftsteller meinte: daß nämlich die Herrschaft der Territorialfürsten und die deutsche Zersplitterung die Herausbildung einer nationalen Literatur behinderten: „Wie, will E r denn einen August in ganz Deutschland haben?" Man kann es Geliert nicht verdenken, wenn er seinem mächtigen Gesprächspartner hier auswich. „Nicht eben das, ich wünsche nur, daß ein jeder Herr in seinem Lande die guten Genies aufmunterte." Kurz darauf griff er noch einmal Friedrich II. an, in dem er auf dessen Frage, „es sind wohl jetzo böse Zeiten?" knapp erklärte: „Jawohl, und wenn nur Ihro Majestät Deutschland den Frieden geben wollte" — eine Kritik, die Friedrich II. abzuwälzen versuchte: „ W i e kann ich denn! Hat Er's denn nicht gehört, es sind ja Dreie wider m i c h . " Geliert beteuerte mit vielsagender Ironie: „ I c h bekümmere mich mehr um die alte als um die neue Geschichte." Dieses Gespräch zeigt die grundlegenden Differenzen zwischen der höfischen Aufklärung, die ja nur eine Spielart der feudalen Ideologie war, und der bürgerlichnationalen Bewegung: auf der einen Seite die hochmütige Ablehnung der nationalen 42

Zit.

nach:

Der

Siebenjährige

Krieg

im

Spiegel

der zeitgenössischen

deutschen

Literatur, hg. v. Fritz Brüggemann (Deutsche Literatur, Reihe Aufklärung, B d 9), Leipzig

1935, S. 180. Als Kuriosum sei vermerkt, daß der Herausgeber

aus-

gerechnet aus diesem Gespräch einen „ E i n k l a n g mit der Generation Gellerts" bei Friedrich I I . herauslesen wollte.

3. Die nationale Frage

63

Kultur, die Verteidigung der territorialen Zersplitterung und die Rechtfertigung des Krieges, auf der anderen Seite der aufkommende Stolz auf die Leistungen des eigenen Volkes, die Hoffnung auf einen festeren nationalen Zusammenschluß und die Forderung nach Beendigung der unablässigen Aggressionskriege der absoluten Fürsten. Friedrich II. hat erklärt, „der friedliche Bürger soll es gar nicht merken, wenn die Nation sich schlägt". Solche Erklärungen werden nicht nur durch die Leiden derjenigen, die unmittelbar von den Feldzügen betroffen waren, und von dem Schicksal der Toten und Verwundeten der preußischen Kriege Lügen gestraft. Der Siebenjährige Krieg hatte tiefgehende Folgen für alle Schichten der Bevölkerung. Seine wirtschaftlichen Konsequenzen 43 waren Münzverschlechterung im Kriege und Deflation in der Nachkriegszeit, Stagnation, des Handels, Häufung der Zwangsvollstreckungen auf dem Lande, Stockung der Bautätigkeit und Wohnungsmangel. Darüber hinaus folgte ihm 1763 eine ausgedehnte Wirtschaftskrise, die in Hamburg, Leipzig und Berlin eine Fülle von Bankrotten zur Folge hatte — eine Erscheinung übrigens, die Friedrich II. seinen Beamten zur Last legte und diese durch französische und italienische Abenteurer, die fortan die Finanzpolitik des preußischen Staates bestimmten, ersetzte. 44 Alle diese Erscheinungen — das Erstarken der kapitalistischen Formen, die zunehmende Ohnmacht der Reichsgewalt und die Zuspitzung des Dualismus Hohenzollern/Habsburg, wie sie in den Verwüstungen und Leiden des Siebenjährigen Krieges ihren Ausdruck fanden, die wirtschaftlichen Folgen des K r i e g e s das wachsende Selbstbewußtsein des Bürgertums und die Desillusionierung über die höfische Aufklärung — erklären es, daß sich nun die Forderung nach einer Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verbreitete. Die unbestimmte Klage über das Leid der Welt wandelte sich in die konkrete Anklage gegen die Mächtigen, die für die Leiden des Volkes verantwortlich waren. Der Wunsch nach Veränderung wurde von den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten, wurde aber vor allem von der Intelligenz, in der Literatur und in der Publizistik, in der Philosophie, und in den Gesellschaftwissenschaften zum Ausdruck gebracht. Die Aufklärungsbewegung beschränkte sich aber zu dieser Zeit auf dies e Kreise. Die leidenschaftliche Anklage der werktätigen Massen kam etwa in Sprüchen von Deserteuren aus dem friderizianischen Heer zum Ausdruck — Sprüchen, in denen die geschundenen Söldner auch ihre Kameraden aufforderten, die Flinten wegzulegen. 45 Über diese spontane Selbsthilfe hinaus wurde aber von den Volksmassen noch kein Bild einer anderen gesellschaftlichen Ordnung entwickelt. Das aber ist gerade das Ziel der nun einsetzenden Auseinandersetzungen unter den Aufklärern. Ohne daß schon Einmütigkeit über die Richtung der Veränderungen 43

44

45

Vgl. Treue, Wilhelm, in: Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 8. Aufl., Bd 2, Stuttgart 1955, s - 4 2 9 f Skalweit, Stephan, Die Berliner Wirtschaftskrise von 1763 und ihre Hintergründe. Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 34 (1937). Steinitz, Wolfgang, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Bd 1, Berlin 1954, S. 465 f.

64

II. Die A u f k l ä r u n g seit 1750

bestanden hätte, rückte doch ein Thema in den Mittelpunkt der Diskussion: Das Problem der Nation und der Wege zur nationalen Einheit. Die Worte „Patriot" und „Nation" erhielten eine neue Bedeutung. Schon 1724 hatte Brockes in Hamburg eine Zeitschrift „Patriot" begründet, und in den folgenden Jahren waren Nachahmungen dieses Beispiels wie „Leipziger Patriot", „Wetterauer Patriot", auch eine „Patriotin" entstanden. 46 Unter „Patriot" verstand man damals aber noch einfach denjenigen Bürger, für den ein gewisses Selbstbewußtsein charakteristisch war, ohne daß er bereits zum politischen Handeln bereit gewesen wäre. Seit der Jahrhundertmitte wurde vom „Patrioten" mehr verlangt. „Patriot" war derjenige, der aktiv im gesellschaftlichen Leben tätig war und dabei — freilich noch innerhalb der Grenzen der bestehenden Ordnung — die bürgerlichen Interessen aktiv vertrat. Dafür ist der „Vorschlag eines Patrioten-Saals" charakteristisch, den Friedrich Karl von Moser der Öffentlichkeit vorlegte. Friedrich Karls Vater war Johann Jakob Moser, „einer der edelsten und ehrwürdigsten Charaktere, welche die deutsche Geschichte kennt" 4 7 .1701 in Stuttgart geboren, wurde er bereits mit 19 Jahren Professor an der Juristischen Fakultät in Tübingen. Da ihm das bloßs Gelehrtendasein nicht genügte, suchte er nach Möglichkeiten praktisch-politischer Betätigung. Er war an mehreren Höfen in verantwortlichen Stellungen tätig, wurde aber wegen seines offenen Auftretens gegen Willkürmaßnahmen der Fürsten nirgendwo lange geduldet. 1759 ließ der württembergische Herzog den fast Sechzigj ährigen verhaften und ohne Untersuchung fast 5 Jahre einkerkern. Die Angelegenheit mußte erst von auswärtigen Mächten beim Kaiser und — nach dem Scheitern dieser Bemühungen — von den württembergischen Ständen beim Reichsoberhaupt vorgebracht werden, ehe Moser im September 1764 endlich freigelassen wurde. Er war dann noch 15 Jahre eifrig wissenschaftlich tätig und gehört zu denjenigen, die die Wendung der deutschen Staatswissenschaften von der ausschließlichen Betrachtung des Verhältnisses der Fürsten zu Kaiser und Reich zur Untersuchung des Verhältnisses der Fürsten zum Volk durchsetzte. 48 Johann Jakob Moser starb 1780 in Stuttgart. Sein Sohn Friedrich Karl von Moser, 1723 in Stuttgart geboren, wurde zuerst durch sein 1759 erschienenes Buch „Der Herr und der Diener" bekannt. Er forderte eine Einschränkung der Macht der absoluten Fürsten zugunsten solcher Beamter, die die Gesetze kennen und beachten. „Zum ersten Male erhebt sich der kühne Ruf, daß der Beamte nicht königlicher Diener, sondern Staatsdiener ist." 4 9 Wie sein Vater wurde auch Friedrich Karl von Moser ein Opfer fürstlicher Willkür. Nach achtjähriger gewissenhafter Tätigkeit als Staatsminister wurde er 1781 wegen angeblichen Mißbrauchs seiner Befugnisse vom Landgrafen von Hessen46

Ermatinger, Emil, Deutsche K u l t u r im Zeitalter der Aufklärung, P o t s d a m (1935),

47

Hettner, Hermann,

S. 240 (Handbuch der Literaturwissenschaft). Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Teil 3, B u c h 2,

Braunschweig 1872, S. 69. « Ebenda, S. 68. «> Ebenda, S. 360.

65

3. Die nationale Frage

Darmstadt verhaftet und ohne Urteil aus dem Lande verwiesen. Er war alles andere als ein radikaler Aufklärer. Ebenso wie sein Vater stark vom Pietismus beeinflußt, war er nicht nur ein Gegner der Französischen Revolution und der Lehre vom Staatsvertrag, sondern griff sogar 1792 Schlözer an, da dieser das „geduldig auf Gottes Hilfe vertrauende Volk aufgehetzt" habe. Er starb 1795. Friedrich Karl von Moser hat durch seine Veröffentlichungen wesentlich dazu beigetragen, daß die nationale Frage in den sechziger Jahren in den Mittelpunkt der Debatten rückte. Sein „Vorschlag eines Patrioten-Saals" 50 nimmt die Tatsache, daß Friedrich II. eine Marmorbüste des Großkanzlers von Cocceji (gestorben 1755) aufstellen ließ, zum Anlaß für seinen Vorschlag: alle Regierungen sollten „Bildnisse solcher Diener, welche durch vorzüglichste Verdienste und persönliche edle Eigenschaften des Herzens ihren Namen veredelt haben, als öffentliche Ehren- und Denkmale" 5 1 aushängen lassen. In Abstimmungen der leitenden Beamten sollte festgelegt werden, wessen Verdienste derartige Ehrungen rechtfertigen. Ein „Patriot" war für ihn also ein Angehöriger der Bürokratie, der Bürgertum und Volk vor fürstlicher Willkür schützt. Das wird durch die interessante Forderung Mosers bestätigt: „Der Landesherr dürfte, meiner Meinung nach, bei allen Wahlen keine Stimme haben, noch sich auf irgendeine Weise dabei einmischen oder eindringen." 52 Mosers Vorschlag lief auf die Forderung hinaus, die herrschende Klasse solle den besten Vertretern der Unterdrückten Denkmale setzen. So formuliert, zeigt sich die oppositionelle Tendenz in den politischen Ideen Friedrich Karl von Mosers mit aller Deutlichkeit — zeigt sich aber auch ihre Irrealität: In Wirklichkeit hat keine herrschende Klasse sich zu ähnlichem verpflichtet gefühlt, sondern haben nur die unterdrückten umgekehrt den herrschenden Klassen Denkmale müssen setzen. 53 Moser blieb freilich die Antwort auf die Frage schuldig, wo denn nun eigentlich die Grenze liege zwischen fürstlicher Willkür, der sich zu widersetzen Pflicht sei, und Gesetzen, die zu befolgen seien. Dieselbe Unbestimmtheit ist auch für sein oft genanntes Werk „Von dem deutschen Nationalgeiste" charakteristisch, das 1765 anonym in Frankfurt (Main) und ein Jahr später in einem Nachdruck ohne Druckort und Verleger, aber mit dem Namen des Verfassers erschien. Der Titel lehnt sich an Montesquieus Esprit des lois und Voltaires Essai sur les mceurs et l'esprit des nations an. In seinem Mittelpunkt stand die Klage über die Zersplitterung und die Ohnmacht der deutschen Nation: 50

Moser, Friedrich

Karl v., Gesammelte moralische und politische Schriften, B d 1,

2. Aufl., Frankfurt/Main 1766, S. 469ff. 51

Ebenda, S. 474.

52

Ebenda, S. 479.

53

Wenn König L u d w i g I. v o n Bayern durch Leo von Klenze 1830—42 bei Regensburg die Walhalla zu Ehren der nationalen Bewegung errichten ließ, bestätigt dies gerade unsere A n s c h a u u n g : die bürgerlich-nationale Bewegung war damals schon

so stark,

daß Fürsten

mußten. 5

Streisand, Geschichtliches Denken

wie L u d w i g

patriotische Traditionen

usurpieren

66

I I . A u f k l ä r u n g seit 1750

„Wir sind ein Volk, von einem Namen und Sprache, unter einem gemeinsamen Oberhaupt, unter einerlei unsere Verfassung, Rechte und Pflichten bestimmenden Gesetzen, zu einem großen gemeinschaftlichen Interesse der Freiheit verbunden, auf einer mehr als hundertjährigen Nationalversammlung zu diesem wichtigen Zweck vereinigt, an innerer Macht und Stärke das erste Reich in Europa, dessen Königskronen auf deutschen Häuptern glänzen, und so, wie wir sind, sind wir schon Jahrhunderte hindurch ein Rätsel politischer Verfassung, ein Raub der Nachbarn, ein Gegenstand ihrer Spöttereien, ausgezeichnet in der Geschichte der Welt, uneinig unter uns selbst, kraftlos durch unsere Trennungen, stark genug, uns selbst zu schaden, ohnmächtig, uns zu retten, unempfindlich gegen die Ehre unseres Namens, gleichgültig gegen die Würde der Gesetze, eifersüchtig gegen unser Oberhaupt, mißtrauisch untereinander, unzusammenhängend in Grundsätzen, gewalttätig in deren Ausführung, ein großes und gleichwohl verachtetes, in der Möglichkeit glückliches, in der Tat selbst aber sehr bedauernswürdiges Volk." Den Ausweg sollte eine Stärkung der Zentralgewalt bilden. Moser betrachtete als Heimat des Nationalgeistes diejenigen Landschaften, wo man zwanzigerlei Herrschaften in einer Tagesreise erblicken könne. „Nun hat uns der Kaiser zu befehlen, sagten die Reisenden, wenn sie aus dem Kurbrandenburgischen ins Fuldasche hinüberfuhren." Wenn Moser so in Hohenzollern den Hauptfeind der Zentralgewalt erblickte, brachte er natürlich die preußische Partei gegen sich auf. Nicolai bezeichnete ihn als einen „Mann . . ., der . . . seine Gelehrsamkeit und Einsicht auf die niedrigste Art zu hämischem und politischem Parteigeiste mißbrauchte" 54 . Moser erkannte durchaus richtig, daß die kleinen Reichsstände, die vom Kaiser Schutz vor den benachbarten größeren Territorialstaaten erhofften, die einzige gesellschaftliche Kraft waren, in deren Interesse eine Stärkung des Reichsoberhauptes lag. Aber diese Kraft war historisch längst überlebt, befand sich seit Jahrhunderten im Niedergang und konnte nicht mehr zum Träger und Führer der Nation werden. Diese politische Konzeption bestimmt auch die Darstellung der deutschen Geschichte, die Friedrich Karl von Moser in seinem Buch „Was ist: gut Kaiserlich und: nicht gut Kaiserlich" 55 gab. Das Buch wird durch die resignierte Erklärung eingeleitet „wir haben keine politischen Vollkommenheiten, unser Gutes ist immer nur relativ gut" 5 6 . Der Verfasser verfolgt dann das Verhältnis zwischen dem Reichsoberhaupt und den Ständen im Verlaufe der deutschen Geschichte. Er will nachweisen, daß das Reich dann vor fremden Übergriffen sicher war, wenn Kaiser und Stände miteinander und nicht gegeneinander standen. Diese Einsicht sei aber nur selten beherzigt worden. Dafür liefert ihm vor allem die jüngste Geschichte den Beweis.

54

Nicolai,

Friedrich, Leben Justus Mosers, in: Justus Moser, Sämtliche Werke, hg. v .

B. R . Abeken, Bd 10, 2. Aufl., Berlin 1858, S. 68. 55

Hier zit. nach

der 2. Aufl., anonym erschienen, „gedruckt im Vaterland,

leserlichen Schriften" 1766. sc Ebenda, S. 6.

mit

3. Die nationale Frage

67

Uber die kurze Regierungszeit Karls VII. heißt es: „ E s ist ja wohl ein seltsamer Kontrast, wenn man in den Reichshandlungen dieses Herrn die prächtige Erklärung liest, womit einige deutsche Höfe damals ihre Sorgfalt, Eifer und patriotisches Anliegen um die Aufrechterhaltung der Würde, Ansehens und Gewalt des kaiserlichen Amts bei allen Gelegenheiten zu Tag legten, und anderer Seits den lauten Unwillen und Abneigung dagegen hält, wovon ganz Deutschland über die Schmach erschallte, ein Oberhaupt zu haben, das von Frankreich erschaffen und unterhalten, um dessen Ehrgeizes willen so viele andere Lande von fremden Heeren überschwemmt worden, und von dem man, so lange er lebte, nichts als Unruhen, Zerrüttungen und Verwüstungen des Vaterlands, Verachtung bei den Nachbarn, deren steten Einfluß und Einmischung in die Reichs-Angelegenheiten, Verfall und Ohnmacht der Justiz, und andere traurige, aber bei jedem allzuschwachen Kaiser unvermeidliche Folgen vor Augen sehen mußte." 57 Deshalb wird vom Tode dieses Kaisers gesagt, er wäre „mehr eine Wohltat und Freude als Betrübnis für das deutsche Vaterland" gewesen — eine Feststellung, die sich natürlich vor allem gegen den preußischen König, auf dessen Bajonette sich Karl VII. stützte, richtet. So wird auch der Siebenjährige Krieg als eine „überfließende Quelle von Seufzern und Tränen ohne Zahl, von Hass und Verbitterung ohne gleichen, von Millionen Tropfen vergossenen deutschen Blutes" 5 8 beklagt. Moser verurteilt leidenschaftlich die deutsche Zersplitterung und wendet sich gegen ihre Nutznießer, die Territorialfürsten, vor allem die preußische Monarchie. In der „Schlußanmerkung" schreibt er: „Deutschland ohne ein gemeinsames Oberhaupt würde das unglücklichste Reich in der Welt sein, und es ist nur in dem Verhältnis glücklich und mächtig, je genauer Oberhaupt und Glieder unter sich harmonieren."59 Wie aber diese Harmonie zwischen Oberhaupt und Gliedern gesichert werden könne, bleibt auch in dieser Schrift offen. „Wo finden wir die Nation? An den Höfen? Dies wird niemand behaupten. In den Städten sind verfehlte und verdorbene Kopien; in der Armee abgerichtete Maschinen; auf dem Lande unterdrückte Bauern." Diese Kritik an den zeitgenössischen deutschen Zuständen bildet das Kernstück der Rezension60, die Justus Moser von dem Buch Mosers über den deutschen Nationalgeist 1766 in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" veröffentlichte. Wer derartig scharfe Worte finden konnte, schien in der vordersten Reihe der Aufklärung zu stehen — und dennoch konnte Marx von der „blödsinnigen westfälischen Junkeransicht (Moser etc.), daß die Deutschen sich jeder für sich niederlassen und erst nachdem Dörfer, Gaue etc. gebildet" hätten, sprechen.61 Der scheinbare Widerspruch läßt sich auflösen. Diese Lösung ist aber nicht auf dem Wege zu finden, auf dem sie die offizielle deutsche Geisteswissenschaft der 57

Ebenda, S. 107 f. Ebenda, S. 110. sä Ebenda, S. 335. 60 Moser, Justus, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd 9, S. 240 f. 61 Karl Marx an Friedrich Engels, 25. März 1868, in: Marx/Engels, Briefwechsel, Bd 4, Berlin (1950), S. 40. 5*

68

II. Die A u f k l ä r u n g seit 1750

imperialistischen Epoche sucht, nach der wir bei Moser, „dessen Lebenszeit noch ganz in die Periode der Aufklärung fällt,... eine Strömung, die dem rationalistischen Individualismus durchaus entgegengesetzt ist", finden.62 Dieser Behauptung Belows ist entgegenzuhalten, daß der rationalistische Individualismus überhaupt nicht das eigentliche Kennzeichen der Aufklärung war. Wenn Friedrich Meinecke auch mit Recht darauf hinweist, daß auf die Ausbildung der Anschauungen Mosers „ein ganz besonderes und merkwürdiges Milieu" 63 von Einfluß war, so behauptet doch auch er, Moser sei nicht eigentlich der Aufklärung zuzurechnen. Nach Meinecke sei er vielmehr neben Herder der „erste Bahnbrecher des Historismus" 64 . Gerade die eigenartige Umgebung, in der Justus Moser aufwuchs, erklärt aber, inwiefern er der Aufklärungsbewegung zuzurechnen ist. 1720 als Sohn des Kanzleidirektors von Osnabrück geboren, wuchs er in einem der bizarresten unter den deutschen Duodezstaaten auf. Osnabrück war ein Bistum, das nach den Bestimmungen des Westfälischen Friedens abwechselnd von einem katholischen und einem protestanischen Fürsten regiert wurde. War ein protestantischer Landesherr an der Reihe, so mußte er aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg stammen. Da dieses Haus inzwischen auf den englischen Thron gelangt war, wurde also ein Mitglied der dortigen Königsfamilie Bischof des Zwergstaates. Im Inneren des Landes lag die eigentliche Macht bei der Vertretung des größeren Grundbesitzes, der im wesentlichen protestantischen Ritterschaft. Neben und in einem gewissen Gegensatz zu der Ritterschaft stand das vorwiegend katholische Domkapitel. Nach außen war Osnabrück so ohnmächtig, daß der Vater Justus Mosers es nicht einmal wagte, seinen Sohn zu Lebzeiten Friedrich Wilhelms I. zum Studium außer Landes gehen zu lassen: wegen seiner ungewöhnlichen Körpergröße bestand die Gefahr, daß er preußischen Werbern zum Opfer fallen würde, ohne daß das Bistum etwas unternehmen könne. Erst 1740 ging also Justus Moser als Student der Rechte nach Jena und dann nach Göttingen, von wo er 1742 zurückkehrte, um als Advokat in seiner Vaterstadt zu wirken. Bereits im selben Jahre wurde er zum Sekretär der Ritterschaft und wenige Jahre später zu ihrem Syndikus berufen. Seit 1727 war der Kurfürst von Köln, Clemens August, Bischof von Osnabrück. Da Moser sich wirkungsvoll für die Interessen der protestantischen Ritterschaft gegen den Statthalter des Bischofs einsetzte, wurde er 1747 von dieser zum Advocatus Patriae berufen, d. h. mit der Führung der Rechtsangelegenheiten des Landes beauftragt. 1761 starb Bischof Clemens August. Der englische König, der nun an der Reihe war, den Regenten zu bestimmen, ernannte 1763 zum Bischof Below, Georg v., Die deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis

62

zu unseren Tagen, Leipzig 1916, S. 6. Meinecke,

63

Friedrich,

Die Entstehung des Historismus, in: Werke, Berlin 1959,

S. 304. 64 1

Ebenda, S. 354. Schon für Dilthey war, wie bereits in der Einleitung erwähnt wurde, Moser der Kronzeuge für eine angebliche prinzipielle Sonderentwicklung der deutschen Aufklärung.

3. Die nationale Frage

69

von Osnabrück seinen Sohn, der damals ganze sieben Monate alt war. Moser wurde nach England entsandt, um finanzielle Angelegenheiten des Ländchens, die mit der Besetzung Osnabrücks durch englische Truppen während des eben beendeten Krieges zusammenhingen, zu regeln. Während seines acht Monate langen Aufenthaltes in London studierte er die politischen Verhältnisse des Landes und die Literatur der englischen Aufklärung. Nach der Rückkehr wurde er zum Ratgeber des Regenten berufen, ein Amt, das er bis zu dessen Volljährigkeit zwanzig Jahre lang wahrnahm, so daß er also zugleich den Landesherrn und die Stände vertrat. Von 1766 bis 1782 leitete er die ,, Osnabrückischen Intelligenzblätter" 65 , für die er selbst eifrig tätig war, um „nützliche Wahrheiten, die ihm von seiner Erfahrung aus dem täglichen Leben in die Hand gegeben wurden, auf eine dringende Art einzuprägen"66. Seine Tochter gab bald diese Beiträge gesammelt als „Patriotische Phantasien" heraus. Seit 1765 veröffentlichte Justus Moser darüber hinaus sein historisches Hauptwerk, die „Osnabrückische Geschichte". Auch nach dem formellen Regierungsantritt des Fürstbischofs 1783 weiter von maßgeblichem Einfluß auf die Politik des Bistums, starb Moser 1794. Diese ausführliche Schilderung des Lebens und der Lebensumstände Justus Mosers war notwendig, um die Eigenart seiner politischen und historischen Ansichten verständlich zu machen. Er war der erste deutsche Historiker, der den Zusammenhang zwischen den politischen und den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen seines Landes zu begreifen versuchte. Den Staat bezeichnet er ganz nüchtern als eine „Aktiengesellschaft", in der nur diejenigen mit beraten und mit beschließen dürften, die Landaktien, und in neueren Zeiten diejenigen, die Land- oder Geldaktien einbringen. Ebenso illusionslos prüfte er die Religion nach ihrem Nutzen für die Sicherung des Eigentums. Voltaire insofern verwandt, auch wenn er gegen diesen 1750 einen Brief zur Verteidigung der Reformation richtete, bezeichnete er Religion als „Kappzaum für den Pöbel" 67 (an welcher Charakteristik ihrer die sozialen Funktion nichts dadurch geändert wird, daß er hinzusetzte: „Wir sind alle Pöbel"). Das alles klingt, als wenn es aus den radikalsten Schriften der französischen Aufklärung zitiert wäre. Aber bei Moser sollen diese Erkenntnisse die Erhaltung der ständisch-patrizischen Ordnung seines Heimatlandes sichern. Moser hat seine Theorie in enger Verbindung mit seiner staatlich-politischen Praxis entwickelt. Das ist schon des öfteren festgestellt worden, so nicht zuletzt von Goethe, der ihn im 15. Buch von Dichtung und Wahrheit einen Schriftsteller nennt, dessen „Talent aus dem täglichen Leben ausging und in dasselbe unmittelbar nützlich sogleich wieder zurückkehrte". J a noch mehr: die Eigenart der Auffassungen Mosers erklärt sich gerade daraus, daß er als führender politischer Kopf des Bistums Osnabrück, in dem vorabsolutistische Verhältnisse noch weitgehend erhalten 65

66

67

Seit 1773 erschienen seine Beiträge getrennt unter dem Titel „Westfälische Beiträge zum Nutzen und Vergnügen". Justus Moser an Friedrich Nicolai am 20. Februar 1775, in: Moser, Justus, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd 10, S. 43. Schreiben an den Herrn Vicar in Savoyen in: Moser, Justus, a. a. O., Bd 5, S. 240.

70

II. Die Aufklärung seit 1750

geblieben waren, die Ideen der Aufklärung zugleich aufnehmen und verwandeln konnte. In der bereits erwähnten Kritik an Mosers Buch vom Nationalgeist fügt Justus Moser den oben zitierten Worten hinzu: „Die Zeit, wo jeder Franke oder Sachse paterna rura (das ist sein allodialfreies, von keinem Lehns- oder Gutsherrn abhängendes Erbgut) bauete, und in eigener Person verteidigte, wo er von seinem Hofe zur gemeinen Landesversammlung kam, und der Mensch, der keinen solchen Hof besaß, wenn er auch der reichste Krämer gewesen wäre, zur Klasse der Armen und ungeehrten Leute gehörte, diese Zeit war im Stande, uns eine Nation zu zeigen. Allein die gegenwärtige ist es nicht." 68 Dieser politischen Konzeption erwächst auch seine Auffassung von der Geschichte, wie sie in der Osnabrückischen Geschichte niedergelegt wurde. Den leitenden Gedanken faßt die Vorrede zusammen: „Die Geschichte von Deutschland hat meines Ermessens eine ganz neue Wandlung zu hoffen, wenn wir die gemeinen Landeigentümer als die wahren Bestandteile der Nation,, durch alle ihre Wandlungen verfolgen, aus ihnen den Körper bilden, und die großen und kleinen Bedienten dieser Nation als böse oder gute Zufälle des Körpers betrachten." 69 Er unterscheidet vier Hauptperioden, wobei Landeigentum und Heeresverfassung die Maßstäbe der Periodisierung bilden. In der ersten, die mit Karl dem Großen endete, gab es nach Moser in seiner westfälischen Heimat auf allen Ackerhöfen freie Eigentümer. Sie nahmen ausnahmslos im Heerbann an der „gemeinen Verteidigung" teil. Die zweite Periode begann mit Ludwig dem Frommen und endete mit Otto dem Großen. Von Ludwig dem Frommen heißt es: „ihm und den unter ihm entstandenen Parteien war zu wenig mit Bannalisten, die bloß ihren Herd und ihr Vaterland bei eigener Kost und ohne Sold verteidigen wollten, gedient. Er opferte aus Einfalt, Andacht, Not und falscher Politik seine Gemeinen den Geistlichen, Bedienten und Reichsvögten auf." 7 0 In der dritten Periode setzt sich dieser Verfall des freien Landeigentums und einer volkstümlichen Heeresverfassung fort : „Der ganze Reichsboden verwandelt sich überall in Lehn-, Pacht-, Zins- und Bauerngut, so wie es dem Reichsoberhaupt und seinen Dienstleuten gefällt." 7 1 Geldreichtum erhält das Übergewicht über Landeigentum. In der letzten, der vierten Periode, hat sich dann nach Moser die Landeshoheit der Territorialfürsten durchgesetzt. Justus Moser meinte, aus ähnlichen Prinzipien auch die Geschichte anderer Länder begreifen zu können. Für das Studium der Geschichte Roms hatte er Abbt empfohlen, „Rom erst aufmerksam als ein Dorf zu betrachten und die Hypothese anzunehmen, daß aus Landbauern Bürger geworden wären; weil ihm dieses, nämlich daß sich Bauernrecht in Bürgerrecht verwandelt hätte, ungemeine Dienste tun würde." 7 2 Ebenda, Bd 9, S. 241. 69 Ebenda, Bd 6, S. I X f . ™ Ebenda, S. X I . Ebenda, S. X I I . 72 Justus Moser an Nicolai, 5. April 1767, in: Ebenda, Bd 10, S. 148. 68

3. Die nationale Frage

71

Solche Überlegungen richteten sich gegen idealistische Konstruktionen der Geschichte. Moser war sich dieser Tendenz durchaus bewußt: „Die Leute werden glauben, ich plaudere zuviel von Heerbann und Dienstmannschaft; und doch gibt mir dieses allein den mächtigen und für eine kleine Landesgeschichte sogar zu mächtigen Faden. Ich kann mir aber nicht helfen; mit der moralischen Schnur ist es Kinderei in der Geschichte; und alle reißen ab, außer jenem nicht." 73 Die Weltgeschichte aus der Perspektive des privaten Landeigentümers entwickeln zu wollen und ihren Höhepunkt im freien Bauern der vor- und frühfeudalen Periode zu sehen ist von Marx mit Recht als „blödsinnige westfälische Junkeransicht" charakterisiert worden. Es handelt sich hier aber um einen Junker, der die Auffassungen der Aufklärung in höherem Maß 2 als seine Standesgenossen aufgriff und in dem von der Geschichte scheinbar vergessenen osnabrückischen Winkel auch aufgreifen konnte. Nicht in den ökonomischen Auffassungen liegt das Positive der Geschichtsschreibung und Publizistik Mosers. Von Bedeutung für die weitere Entwicklung war sein Werk einmal deshalb, weil er überhaupt den Zusammenhang zwischen der Sozial-, Heeres- und politischen Verfassung herauszuarbeiten versuchte. Darüber hinaus hatte er Anteil daran, daß die Erinnerung an die Leistungen des deutschen Volkes in der Vergangenheit geweckt wurde — sei es, daß er in einem frühen Trauerspiel 1748 an die Bestrebungen des Arminius zur Einigung der germanischen Stämme erinnerte, sei es, daß er noch 1781 Friedrich II. auf dessen Schreiben über die deutsche Literatur antwortete. Wichtig aber wurde vor allem seine Kritik am Untertanengeist als einem Hemmnis des echten Patriotismus. Gerade diese Tendenz wird in den traditionellen Darstellungen seines Werkes entstellt. Den Höhepunkt in dieser Richtung bildet das 1936 erschienene Buch von Peter Klassen. Hier wird der Versuch gemacht, Moser in einen Vorläufer des Faschismus umzufälschen, indem behauptet wird, die Bauern seien bei Moser „der Aufklärung überlegen, nicht nur durch Umwertung, sondern man könnte sagen, auch durch Aufklärung s e l b s t . . . sie haben etwas von einer neuen Art Menschen . . . die frei bewußt sich an deutende Verehrung bindet" 74 . In Wirklichkeit hat Justus Moser, so rückständig und beschränkt seine ökonomischen Auffassungen waren, so ablehnender später auch der Französischen Revolution gegenüberstand, gerade in politischer Hinsicht im Einklang mit den fortschrittlichen Kräften seiner Zeit dem Untertanengeist den Kampf angesagt. Noch einmal sei die Rezension des Buches von Moser herangezogen. Die Pointe dieser Besprechung ist es wert, ausführlich zitiert zu werden: „Es ist schon lange der Fehler unsrer deutschen Geschichtsschreiber und Publizisten gewesen, daß sie in Deutschland nichts als Herrn und Diener erblickten. Ein Teil eignet Alles dem höchsten Oberhaupt zu, der andere schreibt und streitet für die Diener, und über diesen Zank denkt kein Mensch daran daß beides, der Herr und der Diener, eigentlich nur die Türwärter der Nation, keineswegs aber die wahren 73 74

Justus Moser an Nicolai, 14. Dezember 1778, in: Ebenda, S. 174. Klassen, Peter, Justus Moser, Frankfurt/Main (1936), S. 119.

72

I I . D i e A u f k l ä r u n g seit 1 7 5 0

Bestandteile derselben seien. Was helfen uns alle Intriguen und Machinationen der großen und kleinen Diener im heil. Römischen Reiche zur Erkenntnis des Nationalcharakters, wenn solche nicht außer ihrer Verbindung mit dem großen Interesse der Nation geschildert, und von den Wirkungen getrennt werden, welche sie im Ganzen hervorgebracht haben? Der Schöpfer des Nationalgeistes ist in eben diesen Fehler verfallen. E r hält sich allein bei der Staatsintrigue auf; und wenn er sein Werkchen der Geist der deutschen Höfe betitelt hätte, so würde solches dem Titel weit mehr entsprechen. Er sieht nichts als Höfe, und wirft noch höchstens einen Blick auf die Gelehrten, welche dem Staate seiner Diener zustutzen. Allein am Hofe lebt nicht der Patriot, nicht der Mann, der zur Nation gehört, sondern der gedungene Gelehrte, der sich schmiegende Bediente, und der Chamäleon, der allezeit die Farbe annimmt, welche ihm untergelegt wird; und die Gelehrsamkeit überhaupt hat ein solches air étranger, daß sich der Nationalcharakter darunter beinahe ganz verliert." 7 5 Das traf vor allem die Territorialfürsten der Zeit, und es sollte sie treffen. Hier wird offen der Zusammenhang zwischen dem Problem der Nation und der Notwendigkeit, den „wahren Bestandteilen derselben" Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ausgesprochen. Eben damit war die Richtung der weiteren Entwicklung angedeutet, einer Entwicklung, die in ganz andersartigen Persönlichkeiten wie Lessing und K a n t einen Höhepunkt erreichte. So unbestimmt auch die Auffassungen Karl Friedrich von Mosers und Justus Mosers vom W e g zur nationalen Einheit waren, so sehr sie noch in Klassen und Schichten den Träger der nationalen Bewegung erblickten, die historisch im Niedergang waren — das Neue, das sie von vielen ihrer Zeitgenossen unterscheidet, deutet sich doch bereits in dem Sinne an, den für sie das Wort „national" hat. Für sie gibt es keine preußische oder sächsische oder sonst irgendwie nach den Grenzen eines Territorialfürstentums bestimmte Nation — für sie ist Nation die deutsche Nation. Das zu begreifen und auszusprechen wurde natürlich dadurch erleichtert, daß sie in Kleinstaaten lebten, deren herrschende Klassen kein Interesse am Aufstieg des militaristischen Preußens hatten, sondern vom Reichsoberhaupt Schutz vor den größeren Territorialstaaten erhofften. Aber auch bei einigen Publizisten und Historikern, die als Vaterland noch einen einzelnen Territorialstaat auffaßten, finden sich seit den sechziger Jahren neue Züge in der Auffassung vom Patriotismus. Das wachsende Selbstbewußtsein des Bürgers, der nicht länger bloßer Untertan sein wollte, kam auf historischem Gebiet vor allem in den Werken Thomas A b b t s zum Ausdruck. Thomas Abbt wurde 1738 als Sohn eines wohlhabenden Perückenmachers in der Freien Reichsstadt Ulm geboren und studierte in Halle Theologie sowie Mathematik und Philosophie. 1760 wurde er Professor in Frankfurt (Oder) und dann in Rinteln, an einer winzigen Universität, die ganze 120 Studenten zählte und an der er sich nach seinen eigenen Worten wie ein Gefangener vorkam. Im Dezember 1760 übersandte Thomas A b b t seine Abhandlung „ V o m Tode für's 75

Justus

Moser,

S ä m t l i c h e W e r k e , a . a . O . , B d 9, S. 2 4 2 t .

73

3. Die nationale Frage

Vaterland" an Friedrich Nicolai, der sie Anfang 1761 in seinem Verlag veröffentlichte. Gewiß hatte der Versuch, Begeisterung für die Kriege Friedrich II. zu wecken, der äußerlich das Ziel der Schrift bildete, mehr als fragwürdige Züge. Es darf aber nicht übersehen werden, daß dieser Versuch mit Mitteln unternommen wurde, in denen sich Neues ankündigte. Abbt warnte davor, Eroberungskriege zu führen. „Die Liebe des Vaterlandes macht uns nicht zu Geißeln des menschlichen Geschlechts, sondern zu tapferen Männern." 76 Der absolutistischen Auffassung, der Untertan hätte jedem Befehl seines Fürsten zu folgen, stellt er die Forderung entgegen, zu prüfen, „ob wir . . . für das Vaterland fechten oder bloß dem Ehrgeiz aufgeopfert werden" 7 7 . 1765 erschien seine Schrift „Vom Verdienst". Im selben Jahr ging er als „gräflich Schaumburg-Lippischer Hofregierungs- und Konsistorialrat und Patronus Scholarum" nach Bückeburg, starb dort aber bereits 1766, kaum 28jährig. In den letzten Lebensjahren hat sich Abbt besonders der Geschichte gewidmet. Er bereitete eine Weltgeschichte vor, die auf den Ideen Montesquieus und Voltaires beruhte. Von Voltaire sagteAbbt, er entnehme ihm zwarnicht die Begebenheiten, die Charaktere und Umstände, wohl aber die Kunst, dabei zu denken, und die „Logik der Geschichte". Abbt, dessen historische Arbeiten in den von Nicolai, zeitweilig unter maßgeblicher Beteiligung von Lessing, seit 1759 herausgegebenen „Briefen, die neueste Literatur betreffend" erschienen, fand unter den Zunfthistorikern der Zeit kaum Verständnis. Mit Recht aber konnte Herder von ihm sagen, er hätte als Bürger gefühlt und gedacht und sei ein echter Nationalschriftsteller gewesen. 78 Einen Publizisten und gar einen Publizisten, der sich mit historischen Fragen beschäftigt, als „echten Nationalschriftsteller" zu würdigen wäre zwei Jahrzehnte zuvor noch undenkbar gewesen. Die Tatsache, daß diese Worte der Ehrung für Abbt gefunden werden konnten, zeigt, wie tief der Wandel war, der sich im Geschichtsdenken des deutschen Bürgertums seit der Mitte des Jahrhunderts vollzogen hatte. 76

Zit.

nach:

Literatur,

Der

Siebenjährige

Krieg

im

Spiegel

der zeitgenössischen

a. a. O., S. 70.

77

Ebenda, S. 87.

78

Vgl. Haym, Rudolf, Herder, Berlin 1954, B d

S. 191 ff. und S. 200.

deutschen

III. Die vorrevolutionäre Phase (1770-1789)

1. Die Veränderungen im Kräfteverhältnis der Klassen Für die neue Situation, die etwa mit dem Jahre 1770 begann, ist es — rein äußerlich betrachtet — bereits charakteristisch, daß eine bisher ungekannte Fülle von Richtungen und Persönlichkeiten auftrat. Diese Fülle ist auch hier nicht annähernd erschöpfend zu charakterisieren. Wir beschäftigen uns vielmehr nur mit einer Seite, der u. E. freilich wesentlichen: allenthalben wurde das Bewußtsein lebendig, daß eine gesellschaftliche Krise herangereift und daß eine Überwindung dieser Krise nur in der Richtung der Verstärkung des bürgerlichen Einflusses in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat möglich sei. So unklar das Wann und das Wie dieser Veränderung auch zunächst blieben, wurde sich doch der größte Teil der deutschen Intelligenz der Notwendigkeit einer solchen Veränderung bewußt. Insofern kann davon gesprochen werden, daß mit dem Jahre 1770 die „vorrevolutionäre Phase der deutschen Aufklärungsbewegung" 1 begann. Sowohl im internationalen als auch im deutschen Rahmen änderte sich das Kräfteverhältnis zwischen Bürgertum und Adel. Diese Veränderung wurde im internationalen Rahmen vor allem durch den Beginn des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges markiert — eines Krieges, der, wie Marx 2 feststellte, „die Sturmglocke für die europäische Mittelklasse läutete". U. Wertheim hat in einer wichtigen Untersuchung gezeigt, daß sich das Interesse der deutschen Intelligenz am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf die militärischen und politischen Ereignisse, auf die Person Benjamin Franklins, vor allem aber auf den Soldatenhandel der deutschen Fürsten, die die Armee des englischen Königs zur Niederwerfung des nationalen Befreiungskampfes mit Söldnern unterstützten und sich dabei bereicherten, konzentrierte. 3 Besonders wirksam unterstützte Christian Friedrich Daniel Schubart die „Bosto1

Diese Charakteristik zuerst bei Stolpe, Heinz, Die Auffassung des jungen Herder vom Mittelalter, Weimar 1955, S. 1.

2

Marx,

Karl,

Das Kapital, Vorwort zur ersten Auflage, in: Marx/Engels, Werke,

B d 23, Berlin 1962, S. 15. 3

Wertheim,

Ursula,

zeitgenössischen

Der

amerikanische

deutschen

Literatur,

Unabhängigkeitskrieg in:

im

Spiegel

der

Braemer, Edith/Wertheim, Ursula,

Studien zur deutschen Klassik, Berlin (i960), S. 71 ff.

i. Die Veränderungen im Kräfteverhältnis der Klassen

75

nier" in der von ihm herausgegebenen und von ihm auch fast ausschließlich selbst geschriebenen „Deutschen Chronik". Es erschienen zahlreiche wissenschaftliche Werke über die Geschichte und Geographie Amerikas — so etwa Schlözers „Neue Erdbeschreibung von ganz Amerika" 1777, freilich mit der Tendenz, die englische Politik zu rechtfertigen. Die Sympathie für den Befreiungskampf der amerikanischen Kolonisten und die Empörung gegen die deutschen Fürsten und den von ihnen betriebenen Soldatenhandel fanden nicht zuletzt in Schillers „Kabale und Liebe" ihren Ausdruck. Das Wort „Patriot" erhielt jetzt einen neuen Sinn: Als einen Patrioten bezeichnete man nicht mehr denjenigen Untertanen, der sich für die Interessen seines Landesvaters einsetzte, auch nicht mehr den Bürger, der im Rahmen der Feudalordnung nationale Interessen zu vertreten suchte, sondern denjenigen, der gegen die Herrschaft des Adels und der Fürsten rebellierte. Nur deshalb aber konnte der amerikanische Unabhängigkeitskrieg in den deutschen Staaten einen so tiefen Eindruck hinterlassen, weil sich dort selbst wirtschaftliche und soziale Wandlungen vollzogen. Im gewerblichen Bereich wurden neue Produktionsinstrumente eingeführt. Die Herstellungstechnik wurde weiter entwickelt. Vor allem belebte sich das Interesse an einer Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion, ein Interesse, das in zahlreichen publizistischen Vorschlägen zur Hebung der Viehzucht und zur Verbesserung der Bodennutzung — so z. B. durch den von Johann Christian Schubart propagierten Anbau des Rotklees — seinen Ausdruck fand. Diese Vorschläge und die Versuche ihrer Verwirklichung stießen freilich an die Grenze der feudalen Produktionsverhältnisse. Das lähmte aber nun nicht mehr die Initiative der Reformer, sondern trieb sie im Gegenteil auf dem Wege einer Kritik an den feudalen Bindungen weiter. 4 Etwa seit 1770 fand der Physiokratismus in Deutschland eifrig wirkende Anhänger. Wie Quesnay und Turgot betrachteten auch Johann August Schlettwein und Jakob Mauvillon 5 die landwirtschaftliche Arbeit als einzige produktive Arbeit und daher die Grundrente als einzige Form des Mehrwertes. Sie forderten deshalb eine Besteuerung der Grundherren und Freiheit für die Manufakturen. Marx bezeichnet dieses System als „das erste System, das die kapitalistische Produktion analysiert" 6 und die Widersprüche des Physiokratismus als Ausdruck der „Widersprüche der kapitalistischen Produktion, die sich aus der feudalen Gesellschaft herausarbeitet" 7 . Während aber in Frankreich zu der Zeit, als die Physiokraten auftraten, bereits eine antifeudale Massenbewegung heranreifte und wenige Jahre später die Revolution ausbrach, fehlte diese Bewegung in Deutschland. Die Wirkung des Physiokratismus war hier deshalb eine andere als in 4 5

u

7

Vgl. dazu: Schilfert, Gerhard, a.a.O., S. i 2 ö f . Vgl. dazu: Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd 10, Berlin i 9 6 0 , S. 19ff. u. Braunreuther, Kurt, über die Bedeutung der physikalischen Bewegung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Wiss. Zs. d. Humboldt-Univ. zu Berlin, Ges. Reihe, Jg. V (1955/56), Nr 1, S. 15 ff. Marx, Karl, Theorien über den Mehrwert, Teil 1, Berlin 1 9 5 6 , S. 1 5 . Ebenda, S. 18.

76

III. Die vorrevolutionäre Phase

Frankreich: Sie beschränkte sich darauf, die Bemühungen zur Entwicklung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft zu unterstützen, und nur in dieser mittelbaren Funktion wurde der deutsche Physiokratismus auch zu einem Instrument des antifeudalen Kampfes. 8 Da sich das „Emporkriechen" des deutschen Bürgertums beschleunigte, da gewerbliche und landwirtschaftliche Produktion an den feudalen Fesseln rüttelten, vergrößerte sich auch das Publikum für die deutschen Schriftsteller. Die Buchproduktion wuchs in diesen Jahrzehnten schnell an. Die Zahl der in den einzelnen Jahren neu erschienenen Titel betrug 1779 = 2194 1764 = 1344 1794 = 3199 1782 = 2740 1767 = 1438 1797 = 3623 1785 = 2713 1770 = 1676 1800 = 3906 17 8 8 = 3 5 1 1 1803 = 3924 1773 = 1704 1791 = 3168 1806 = 3271 9 1776 = 2150 Insbesondere in der Habsburger-Monarchie führte dies freilich zunächst auch zu einer Verschärfung der Zensur. Der 1775 in Wien erschienene Katalog verbotener Schriften enthielt unter anderem Lessings Schriften und die „Leiden des jungen Werthers". Zu welchen Absurditäten sich die feudale Bürokratie verstieg, erhellt daraus, daß die Fassung dieses Kataloges aus dem Jahre 1777 diesen selbst unter den verbotenen Schriften aufführte. 10 Die Entstehung eines bürgerlichen Lesepublikums machte es nun einzelnen Schriftstellern möglich, vom Ertrag ihrer Feder zu leben. Der erste, der diesen Versuch unternahm, war Lessing. Noch bis zum Ende des Jahrhunderts war dieser Versuch jedoch trotz großer persönlicher Opfer und Entbehrungen dieser Schriftsteller meist zum Scheitern verurteilt. Auch Lessing war 1770 schließlich gezwungen, als Bibliothekar des braunschweigischen Herzogs seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Relativ erfolgreicher waren die Bemühungen, durch Zeitschriften einen größeren Leserkreis zu erreichen. Schlözers „Staatsanzeiger", Schubarts „Deutsche Chronik", Weckhrlins „Neues Graues Ungeheuer", Wielands „DeutscherMerkur" und Winkopps „Deutscher Zuschauer" sind die bekanntesten unter ihnen. Richtig ist von Wieland gesagt worden, daß er in seinem „Deutschen Merkur" das „klassische Altertum für den gebildeten Bürgerstand seiner Tage redigierte" 11 . Friedrich Nicolais „Allgemeine Deutsche Bibliothek" wurde zeitweilig zum ein8

Vgl. Kuczynski, Jürgen, a. a. O. Nach Paschke, Max ¡Rath, Philipp, Lehrbuch des deutschen Buchhandels, a. a. O., B d 1, S. 68. Aus der dort aufgeführten vollständigen Zusammenstellung für die Jahre 1764 bis 1 9 1 6 werden die Ziffern für jedes dritte Jahr innerhalb des hier behandelten Zeitabschnittes wiedergegeben. 10 Biedermann, Karl, Deutschland im 18. Jahrhundert, a. a. O., B d 1, S. 130. Im Jahre 1 7 8 1 wurde unter Joseph die Zensur wesentlich gelockert, nach Ausbruch der Französischen Revolution im Jahre 1790 aber wieder verschärft. 11 Benjamin, Walter, Schriften, Bd 2, Frankfurt/Main 1956, S. 3 4 1 . 9

i. Die Veränderungen im Kräfteverhältnis der Klassen

77

flußreichsten Rezensionsorgan. Politische Veränderungen vorzuschlagen lag Nicolai freilich fern, und die von Moser zur Diskussion gestellte Idee eines deutschen Nationalgeistes bezeichnete er ausdrücklich als ein „politisches Unding". Die Polemik späterer Jahrzehnte gegen den Berliner Buchhändler und Publizisten darf jedoch nicht zum Maßstab der Beurteilung seiner Wirksamkeit überhaupt gemacht werden: Sein Roman „Sebaldus Nothanker" (1773) ließ den Helden im Zusammenhang mit Abbts „Tod fürs Vaterland" immerhin die Frage stellen, „für wen sollen wir sterben?" 12 . Und wenn Nicolais Polemik vor der preußischen Monarchie haltmachte, war der Angriff auf die protestantische Orthodoxie, die die Hauptperson des Romans von Land zu Land hetzte, doch prononciert genug, um auch die junkerlichen Nutznießer der Verfolgung freisinniger Bürger zu treffen. Vor dem so umrissenen Hintergrund wird auch die Entstehung des „Sturm und Dranges" verständlich. In den Werken der Stürmer und Dränger war, wie in den Werken der Aufklärung, das Wesentliche die bürgerliche Freiheitsforderung. Das Neue besteht darin, daß diese Forderung jetzt im Namen der sich selbständig fühlenden bürgerlichen Persönlichkeit — vertreten durch den schöpferischen Künstler, das Genie, — erhoben wurde. Die Kritik an der feudalen Unterdrückung wandte sich jetzt an ein breiteres Publikum. Zentrales Thema war nicht mehr die Gegenüberstellung feudaler Unmoral und bürgerlicher Moral — Gegenstand der Dichtung wurde nun die wirkliche Unterdrückung, darunter auch die Unterdrückung der Bauern (Goethes „Götz"), und sie war deshalb sowohl realistischer, als auch volkstümlicher. Der feudalen Unnatur wurde nicht nur eine neue Weise zu denken, sondern auch eine neue Art des Lebens und Handelns gegenübergestellt. Deshalb wurde auch das nationale Problem tiefer erfaßt als früher. Bürgertum und Volk wurden jetzt offen dem Adel und den Hofkreisen entgegengestellt und als die eigentlichen Träger der Nation bezeichnet. Goethe unterschied 1772 zwischen der „polierten Nation" und dem „Naturstoff unter der Politur", zu der er „den Mann in seiner Familie, den Bauern auf seinem Hof, die Mutter unter ihren Kindern, den Handwerksmann in seiner Werkstatt, den ehrlichen Bürger bei seiner Kanne Wein und den Gelehrten und Kaufmann in seinem Kränzchen oder seinem Kaffeehaus" 1 3 zählte. Mit dem Interesse für das Volk und der neuen Auffassung von der Nation als der Gesamtheit derjenigen, die vom Adel und den Fürsten unterdrückt waren, erwachte auch das Interesse für die nationale Vergangenheit und ihre revolutionären Traditionen. 12 13

Nicolai, Friedrich, Sebaldus Nothanker, Berlin i960, S. 39. Goethe, Johann Wolfgang v., Rezension in den „Frankfurter gelehrten Anzeigen" 1772/73, Charakteristik der vornehmsten europäischen Nationen. Aus dem Englischen, in: Werke, hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jugendwerke 3, Prosaschriften, Berlin 1956, S. 1 3 1 . Vgl. dazu Braemer, Edith, Goethes Prometheus und die Grundpositionen des Sturm und Drang. Berlin 1959, S. 87ff.

78

III. Die vorrevolutionäre Phase

2. Die Geschichtswissenschaft an den Universitäten Wenn nun Schriftsteller versuchten, allein vom Ertrag ihrer Bücher zu leben, so waren solche Versuche allenfalls auf dem Gebiet der Publizistik und der schönen Literatur möglich. Ein gelehrter Autor fand aber noch kein Publikum, das groß genug war, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Wenn Jacob Siegfried Baumgarten ein englisches Sammelwerk als „Hallische allgemeine Welthistorie" übersetzte und bearbeitete, so daß es in viele bürgerliche Häuser Eingang fand, so war dies doch nicht mit der Verbreitung der Zeitschriften zu vergleichen. Fortschrittliche Ideen über gesellschaftliche Erscheinungen und über geschichtliche Fragen konnten in Dichtungen und Zeitschriftenaufsätzen zum Ausdruck gebracht werden. Die Gelehrten waren jedoch darauf angewiesen, an den Universitäten, die von den feudalen Behörden kontrolliert wurden, zu wirken. Wenn wir das Neue im Geschichtsdenken der Zeit suchen, werden wir es vor allem in den populäreren Formen der Literatur finden, nicht aber in der Geschichtswissenschaft im engeren Sinne und am wenigsten im Lehrbetrieb der Universitäten. 14 Der Freiherr vom Stein etwa, der an der damals fortgeschrittensten Universität, nämlich Göttingen, studierte und sich lebhaft für geschichtliche Fragen interessierte, konnte die deutsche Geschichte nur in Pütters Vorlesungen über Reichshistorie an der juristischen Fakultät kennenlernen — bei den Historikern selbst konnte er nur Territorial- oder Universalgeschichte hören. 15 Die Auffassung: „Die unter dem Einfluß der Aufklärungsphilosophie stehende Göttinger Schule (Spittler, Pütter, Gatterer u. a.) bewirkte, daß die Geschichte zu einer selbständigen, empirischen Wissenschaft emporstieg" 16 , dürfte also kaum zu halten sein. Die Universität Göttingen war im September 1737 von Georg II. als Konkurrenz zu der preußischen Neugründung (1694) in Halle eröffnet worden. Wenn es in Göttingen weniger Einschränkungen der Lehrfreiheit der Professoren als an anderen deutschen Universitäten gab, so entsprang dies dem Bestreben, wohlhabende Studenten in die Stadt zu ziehen, nicht aber einer grundsätzlich neuen wissenschaftspolitischen Haltung. „Auch die Aufblähung der Göttinger philosophischen Fakultät um neue Fächer war bloße berechnete Aushilfe und nicht

14

15

16

Dieser Sachverhalt wird angedeutet bei Griewank, Karl, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Weimar 1955, S. 2 1 7 : „Wollen wir eine tiefere Verarbeitung der westeuropäischen Anregungen und Ansätze zu einem neuen weltgeschichtlichen Verständnis der Revolution schon in der Zeit vor 1789 suchen, so müssen wir von den amtlichen Historikern und Lobrednern übergehen zu den individualistischen Philosophen und philosophischen Dichtern." Ritter, Gerhard, Stein, Neugestaltete Aufl., Stuttgart (1958), S. 2gf. Dort auch der Hinweis, daß noch die Monumenta Germaniae Historica an die recAtohistorische Tradition anknüpfen. Geschichte der Universität Jena, a. a. O., S. 265.

2. Geschichtswissenschaft an Universitäten

79

der Ausdruck für einen neuen Bildungs- oder gar Wissenschaftsgedanken." 17 Gewiß: in dem mit England in Personalunion verbundenen Hannover konnten die Lehren Lockes und Montesquieus an einer Universität ungehindert vorgetragen werden. Die Befugnisse der theologischen Fakultät waren bei der Gründung der Universität beschränkt worden — das Aufsichtsrecht über die anderen Fakultäten, das sie an älteren Universitäten besaß, stand ihr in Göttingen nicht zu, und insofern war hier ein wesentlicher Fortschritt erzielt worden. Aber dies bedeutete noch nicht, daß Universitätslehrer und Studenten sich für die Interessen des deutschen Bürgertums einsetzen konnten. Im Gegenteil: Die Universität Göttingen wurde nach 1789 zu einem ideologischen Zentrum der Gegenrevolution. In Hannover wirkte August Wilhelm Rehberg, einer der ersten, die prinzipiell das Recht des Volkes auf Revolution bestritten (unmittelbar gegen seine „Untersuchungen über die Französische Revolution" richtete sich ja Fichtes „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution"), und hier fand auch die konterrevolutionäre Lehre Burkes von der organischen Entwicklung in Staat und Gesellschaft die ersten Anhänger. Gewisse Voraussetzungen für Fortschritte in der Geschichtswissenschaft bestanden freilich in Göttingen früher als an anderen Universitäten, was jedoch nicht bedeutet, daß diese Voraussetzungen hier bereits hätten genutzt werden können. Für die Universitätsbibliothek etwa war nicht mehr der Hauptzweck die Sammlung von Büchern, sondern ihre Nutzung im Dienste der Wissenschaft. In seinem 1765 erschienenen „Versuch einer akademischen Gelehrtengeschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen" schrieb Pütter: „Der größte Vorteil von dieser Bibliothek besteht in dem freien und unbeschränkten Gebrauch, ein Vorzug, den ihr schwerlich irgendeine Bibliothek in Deutschland noch auch vielleicht in anderen Gegenden streitig machen dürfte." 1 8 Die Professoren der Universität genossen für ihre Veröffentlichungen Freiheit von der Zensur, und Schlözer hat in seinem „Staatsanzeiger" diese Freiheit zu nutzen versucht. Aber diese Freiheit war eng genug: Die befreundeten Höfe in Wien, Berlin und Braunschweig wurden von ihm nicht angegriffen, und als er es einmal wagte, die Einrichtung der hannoverschen Post zu kritisieren, erhielt er sofort einen Verweis und die Warnung, sich dergleichen Anmaßung nicht wieder zuschulden kommen zu lassen. 19 Im Jahre 1764 gründete Johann Christoph Gatterer (1727—1799), ein Historiker, der in seinen Arbeiten an sich durchaus in konventionellen Bahnen wandelte, in Göttingen eine „Academia historica", in der wenige, meist dem Lehrkörper angehörende ordentliche Mitglieder zusammengeschlossen waren und zu der als außerordentliche Mitglieder auch Studenten gehörten. Das war das erste Historische Institut. Von 1767 bis 1771 wurden in 16 Bänden eine 17

18 19

Engel, Josef, Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift, B d 189, München 1959, S. 276. Vgl. Schottenloher, Karl, Bücher, a. a. O., Bd 2, S. 3 6 6 « . Biedermann, Karl, Deutschland im 18. Jahrhundert, Bd 1, S. 143.

8o

I I I . Die vorrevolutionäre Phase

„Allgemeine Historische Bibliothek" veröffentlicht und seit 1772 ein „Historisches Journal". Dieses Institut machte sich um die Förderung der Hilfswissenschaften verdient und unterhielt ein diplomatisches, ein heraldisches und ein numismatisches Kabinett. 2 0 Gatterer machte, ähnlich wie Johannes von Müller, Versuche, eine systematische Veröffentlichung von Quellen zur älteren deutschen Geschichte herauszubringen — aber auch dieser wie andere frühere Versuche scheiterten. Erst nach dem Aufschwung der bürgerlich-nationalen Bewegung in den Befreiungskriegen konnten die von Stein inaugurierten „Monumenta Ger-maniae histórica" erfolgreich in Angriff genommen werden. Unter den Hilfswissenschaften war es vor allem die Statistik, die zuerst in Göttingen gepflegt wurde, und zwar von Schlözer und Achenwall. Der erste Versuch auf diesem Gebiet war bereits früher und außerhalb einer Universität unternommen worden. Johann Peter Süssmilch, 1707 als Sohn eines begüterten Kornhändlers in Berlin geboren und 1742 als Propst an die Petrikirche berufen, veröffentlichte in dem gleichen Jahre „Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben". Bereits der Titel zeigt die Tendenz dieses Versuches: Die deistische Anschauung von Gott als Konstrukteur einer Weltmaschine, die, einmal fertiggestellt, ohne weiteren Eingriff sich selbst regulierend arbeitet, sollte auf das gesellschaftliche Leben ausgedehnt werden. Von diesem Versuch führte eine direkte Linie zu Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht". Die Statistik, wie andere Hilfswissenschaften der Geschichte, wurde in Göttingen als Vorbereitungswissenschaft der Jurisprudenz gelehrt — charakteristisch für die noch immer nicht überwundene Auffassung der absolutistischen Epoche, die Geschichtswissenschaft sei bloßes Instrument der Rechts-, Staats- und Kameralwissenschaften. Die Eigenart der Verhältnisse in Göttingen besteht nur darin, daß mehrere von ihnen hier zuerst an einer Universität Aufnahme fanden und sie hier von den Juristen selbst gelehrt wurden, während sie anderswo propädeutische Fächer, die an den philosophischen Fakultäten gelesen wurden, waren. Die Gründung der Universität Göttingen hat also, wie wir zusammenfassend feststellen können, insofern die Entwicklung der Geschichtsschreibung beeinflußt, als hier die verschiedenen Hilfswissenschaften systematischer als anderswo gepflegt wurden. Die neuen Zweige der Geschichtsschreibung selbst entstanden aber nicht in Göttingen (die dreibändige „Geschichte des hanseatischen Bundes", Göttingen 1802—1808 erschienen, bestätigt gerade als Ausnahme die Regel: Ihr Verfasser, Georg Sartorius, erklärte im Vorwort ausdrücklich, er hätte sich diesem Gegenstand zugewandt, um in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen nicht Partei nehmen zu müssen), sie entstanden im allgemeinen überhaupt nicht an den Universitäten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Altertums" (1764), aber auch an die kulturgeschichtlichen 20

Heimpel, Hermann,

Organisationsformen historischer Forschung, in: Historische

Zeitschrift, B d 189, München 1959, S. 147.

2. Geschichtswissenschaft an U n i v e r s i t ä t e n

81

Arbeiten von Christoph Meiners, so etwa seine „Geschichte des weiblichen Geschlechts", die in vier Bänden 1788—1790 erschien. (Auch für Herder war die , .Behandlung'' der Frau, ,der erste kritische Scheidepunkt in der Geschichte unseres Geschlechts."21) Etwas anders war die Situation in der Kirchengeschichte: Johann Salomo Semler (1725—1791), geboren in Saalfeld, seit 1752 Professor der Theologie in Halle, trat in diesen Jahren mit der Forderung, auch die Bibel textkritischer Untersuchung unterziehen zu dürfen, an die Öffentlichkeit. Er faßte das Alte und das Neue Testament als Erziehungsbücher auf, deren einzelne Sätze keinen Offenbarungscharakter hätten und vernünftiger Prüfung unterworfen werden sollten. Semler verteidigte Arnolds Kirchen- und Ketzergeschichte: „Arnold meinte es auch herzlich gut, und seine Kirchen- und Ketzerhistorie hat ganz gewiß mehr Nutzen als Schaden gestiftet; man sollte auch nicht so wohl ihn eifrig und gelehrt widerlegt, als das viele Wahre gern angenommen und genutzt haben." Aber er schränkte diese Rechtfertigung sofort ein: „Er ging freilich selbst zu weit und hatte einen ebenso falschen Begriff von der Vortrefflichkeit der ersten Kirche, als jetzige falsche Hoffnungen." 22 Mit der Unterscheidung einer öffentlichen und einer privaten Religion fiel Semlers Kritik an der Orthodoxie auf jene Stufe zurück, in der die Kritik am Klerikalismus mit der Unterscheidung zweier Wahrheiten verbrämt worden war. Als öffentliche Religion, die für die Masse da sei und ihren Ausdruck in der offiziellen Theologie finde, bezeichnet er das System der von der Kanzel vorgetragenen Lehrmeinungen — ein System, das zu ändern nur der Landesherr berechtigt sei. Dieser öffentlichen Religion wurde die private gegenübergestellt, also die subjektive Frömmigkeit des Individuums — genauer freilich die Frömmigkeit nur der Gebildeten. So reduzierte sich auch die Forderung einer philologischen Untersuchung der Heiligen Schrift auf eine gewisse Diskussionsfreiheit unter den Theologen selbst. Deutlicher waren die oppositionellen Tendenzen in der klassischen Philologie. Fueter 23 hat auf die Tendenz der Beschäftigung mit der Ilias und ihren Zusammenhang mit den Sympathien der Stürmer und Dränger hingewiesen: „Indem man aus der Ilias Volkslieder ausschied, glaubte man den Nachweis zu führen, daß die homerischen Epen, die bisher gleich den Dichtungen Virgils und Tassos für bewußte künstliche Schöpfungen eines Mannes gegolten hatten, ihren Ursprung im Volke genommen hätten." 23 Bei der späteren Übertragung der philologischen Methode auf das Gebiet der historischen Überlieferung wirkten ähnliche Gründe mit. Niebuhr wollte „bei Livius die Reste eines großen Nationalepos entdecken, das er der künstlichen Rhetorik der klassischen Zeit entgegensetzt" 24 . Zu der Erweiterung des Gesichtskreises der Geschichtsschreibung gehört auch das wachsende Interesse für die Geschichte Rußlands. Hier liegen vor allem die Ver-

21

Herder, Johann

Gottfried, Z u r Philosophie der Geschichte, B d 2, Berlin 1952, S. 196.

22

Semler, Johann

Salomo,

23

Fueter, Eduard,

Geschichte der neueren Historiographie, M ü n c h e n 1 9 1 1 , S. 463.

V e r s u c h einer freieren theologischen L e h r a r t , 1 7 7 7 , S. 62.

24

Ebenda.

6

Streisand, Geschichtliches Denken

82

I I I . Die vorrevolutionäre Phase

dienste A ugust Ludwig von Schlözers25 (1735—1809), seit 176g Professor in Göttingen. Schlözer hielt sich mehrfach in Rußland auf und hat als erster die Nestor-Chronik herausgegeben. Aus seiner Schule gingen Wilhelm von Humboldt, Schlosser, Johannes von Müller, Stein und Eichhorn hervor. Die deutsche Geschichte freilich wurde an den Universitäten noch im Rahmen der „Reichsgeschichte" im wesentlichen weiter unter juristischen Gesichtspunkten gelehrt. Michael Ignaz Schmidt (1736—1794) veröffentlichte seit 1778 eine vielbändige „Geschichte der Deutschen", die von ihm selbst bis zum Jahre 1660, von späteren Bearbeitern bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts geführt wurde und das erste Werk über deutsche Geschichte war, das sich an ein größeres Publikum wandte. Aber auch ihm ging es darum, zu zeigen,, ,wie Deutschland seine damaligen Sitten, Aufklärungen, Gesetze, Künste und Wissenschaften, hauptsächlich seine sehr ausgezeichnete Staats- und Kirchenverfassung bekommen hat". Mit ganz ähnlichen Worten wurde das Ziel der jahrzehntelang als Standardwerk geltenden Veröffentlichung auf diesem Gebiete bezeichnet: der „Deutschen Reichsgeschichte" von Johann Stephan Pütter. In den verschiedensten Fassungen und in zahlreichen Auflagen verbreitet, haben die reichsgeschichtlichen Arbeiten Pütters, der von 1725 bis 1807 lebte und seit 1747 Professor in Göttingen war, bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein einen Kanon der deutschen Reichs- und Verfassungsgeschichte dargestellt. Er bezeichnete das deutsche Reich als „das einzige in seiner Art, da jeder Reichsstaat einen völlig eigenen Staat ausmacht, und also auch seine eigene Spezialgeschichte hat, und doch die allgemeine Reichsgeschichte wiederum alle jene Staaten als Mitglieder eines Reiches zusammen in sich faßt" 2 6 . Aufgabe der Reichsgeschichte war für ihn daher, zu „zeigen, wie Deutschland überhaupt zu dieser besonderen Verfassung gekommen ist" 21. Wenn die Reichsgeschichte weiter nur den Zweck hatte, die bestehenden Verhältnisse mit historischen Argumenten zu verteidigen und gehorsame Staatsdiener heranzuziehen, wurden dagegen auf dem Gebiet der allgemeinen Geschichte doch auch auf den Universitäten gewisse neue Züge sichtbar. Besonders repräsentativ dafür sind die zahlreichen Bücher Arnold Hermann Ludwig Heerens. Er gehört seinen Lebensdaten nach — er wurde 1760 in Arbergen bei Bremen geboren, wirkte an der Universität Göttingen und starb 1842 — bereits in eine etwas spätere Periode. Als typischer Vertreter der Spätaufklärung ist er jedoch in unserem Zusammenhang zu nennen. Neben seinen „Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt" (seit 1793 in mehreren Bänden erschienen) wurde vor allem das „Handbuch der Geschichte des europäischen Staatensystems" 28 bekannt. 25

Vgl. dazu Schilfert, Gerhard, A u g u s t L u d w i g von Schlözer, in: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, B d 1 (Deutsche Akademie der Wissenschaft zu Berlin, Schriften des Instituts für Geschichte), Berlin 1963, S. 81 ff.

26

Pütter, Johann

Stephan,

Deutsche Reichsgeschichte an ihrem H a u p t f a d e n ent-

wickelt, 3. Aufl., Göttingen 1793, S. 5. 28

Heeren, Arnold

Ludwig

Hermann,

27

Ebenda.

H a n d b u c h der Geschichte des europäischen

Staatensystems, Göttingen 1809, nach dieser Ausgabe auch die folgenden Zitate.

2. Geschichtswissenschaft an Universitäten

83

Heerens Ideal war die konstitutionelle Monarchie, die das bürgerliche Eigentum sichern sollte — „Sicherheit des Eigentums" bezeichnete er ausdrücklich als den „ersten, nicht alleinigen Zweck des Staates". Dieser seiner nüchternen Betrachtungsweise halber ist Heeren schon zu seinen Lebzeiten sowohl von den Vertretern der älteren Spielart der feudalreaktionären Auffassung als auch von den Romantikern heftig angegriffen worden. In Wirklichkeit aber hat Heeren, der sich bemühte, „über menschliche Verhältnisse menschlich zu urteilen" 29 , wichtige Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen, besonders der frühen Neuzeit, durchaus realistisch erfaßt. Er wandte sich gegen die idealistische Philosophie und ihre Spekulationen: „wenn also auch der Verfasser zu bemerken glaubte, daß das europäische Staatensystem weder in die Periode der Unschuld noch der vollendeten Rechtfertigung falle, so bekennt er doch auch, nicht zu wissen, ob es in die der angehenden oder vollendeten Sündhaftigkeit gehöre" 30 , polemisierte er gegen Ficht es „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters". Als Beginn der neueren Geschichte, mit der sich sein Handbuch beschäftigte, faßte er einen „Zusammenfluß mehrerer großer Begebenheiten" auf: „ 1 . Die Eroberung von Constantinopel und Gründung des Türkischen Reichs in Europa 1453. 2. Entdeckung von Amerika durch Christ. Columbus 1492. 3. Entdeckung der Schiffahrt nach Ostindien durch Vasco de Gama 1497, und durch beide veränderter Gang des Welthandels. 4. Die durch den Gebrauch des Schießgewehrs veränderte Kriegskunst. Zu zeigen, wie sie auf Europa politisch gewirkt haben, ist die Hauptaufgabe für das gegenwärtige Buch." 3 1 So nüchtern wie Heeren bei der Charakteristik der Erscheinungen, die die neuere Zeit einleiten, materielle Faktoren in Betracht zog, verfuhr er auch bei der Periodisierung dieser Epoche. Er unterschied in der „Geschichte des neueren Europa" drei Perioden: die erstere von 1492 bis zum Regierungsantritt Ludwig XIV.; eine „politisch-religiöse", eine zweite von 1661 bis 1786, dem Tode Friedrichs II., die er als die „merkantilisch-militärische" charakterisierte, und eine letzte, die er als die „revolutionäre" auffaßte. 32 Er erläuterte dies noch einmal näher damit, daß er als „allgemeine Charakteristik" der ersten Periode die „Verflechtung deir Religion und der Politik" bezeichnete, für die zweite dagegen die „Verflechtung des Geldinteresses mit der Politik" als maßgebend bestimmte. Damit ist schon umrissen, welchen Erscheinungen seine besondere Sympathie gehörte: denjenigen Persönlichkeiten, die die Ausbreitimg des Welthandels förderten, und denjenigen Nationen, die die Führung auf dem Gebiet des Handels hatten. Das waren vor allem die Niederlande: „Wie wenig. . . auch die Entstehung einer solchen Republik den Charakter des monarchischen Staatensystems von Europa im ganzen änderte, so wirkte sie doch sehr stark darauf ein. Einen solchen Handelsstaat, eine solche Seemacht hatte Europa noch nicht gesehen. Es war ein Gewicht ganz neuer 29 Ebenda, S. I X . so Ebenda, S. 10. 31 Ebenda, S. 5. 32 Ebenda, S. 14 t.



III. Die vorrevolutionäre Phase

84

Art, welches dieser Staat in die politische Waagschale warf." 3 3 So gelang es ihm auch, neues Licht auf die diplomatischen und militärischen Ereignisse zu werfen : E r betonte beispielsweise ausdrücklich, welche Rolle der Kampf um die Freiheit der Niederlande für die Entstehung und den Verlauf des Dreißigjährigen Krieges spielte.34 Zweierlei war freilich die Grenze der Auffassung Heerens vom Verlauf der neueren Geschichte: Weil er den Handel als alleinigen Maßstab des Entwicklungsstandes auffaßte und die Produktion der materiellen Güter für nebensächlich hielt, gelang es ihm z. B. nicht einmal, das Wesen des Merkantilismus zu begreifen. Die progressive Rolle der Herausbildung nationaler Märkte wurde von ihm geleugnet und als „Isolierungssystem" kritisiert. Wesentlicher aber noch war, daß er der bürgerlich-antifeudalen Bewegung ratlos gegenüberstand, Rousseau und die Enzyklopädisten hätten nach ihm die Ordnung „untergraben" 35 , und die neueste Periode, die er als die „revolutionäre" charakterisierte, wurde deshalb kritisiert, weil „der Egoismus das herrschende Prinzip auch des öffentlichen wie des Privatlebens ward" 3 6 — als ob nicht gerade von ihm selbst die Rolle materieller Interessen auch in früheren Perioden als Schlüssel zum Verständnis ihres Wesens dargestellt worden wäre.

3. Die Geschichtsphilosophie Die wichtigsten Leistungen im bürgerlichen Geschichtsdenken dieser Zeit entstammten nicht der Universitätsgeschichtsschreibung, sondern der Geschichtsphilosophie. Diese Leistungen wurden freilich, auch wenn sie von Universitätsprofessoren vollbracht wurden, doch nicht an den Universitäten selbst vorgetragen: Auch Kant mußte seinen Vorlesungen im allgemeinen noch ältere Lehrbücher zugrunde legen, die er in seinen eigenen Werken bereits kritisiert hatte. Das Hauptproblem der philosophischen Diskussion dieser Zeit war das Problem des historischen Fortschritts. An der Stellung zu dieser Frage entschied sich die Haltung zum Problem des Ubergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus überhaupt. Deshalb haben die Auseinandersetzungen um die „Philosophie der Geschichte", die Voltaire 1765 veröffentlichte, wie sie gerade in Deutschland in den folgenden Jahren geführt wurden, zentrale Bedeutung. Gegen die Konzeption, daß es in der Geschichte einen Fortschritt der menschlichen Kultur und des Geistes gäbe, wurde eine ganze Armee von Publizisten mobilisiert. 37 Auch von den Kanzeln 33 34 37

35 Ebenda, S. 112. Ebenda, S. 414. 36 Ebenda, S. 144. Ebenda, S. 532. Vgl. dazu Kor ff, Hermann August, Voltaire im literarischen Deutschland des 18. Jahrhunderts, Bd 2, Heidelberg 1918, S. 276ff.

3. Geschichtsphilosophie

85

wurde vor den Auffassungen des französischen Aufklärers gewarnt. Trotz mancher Differenzen im einzelnen trat freilich der bedeutendste Teil der deutschen Intelligenz für ihn ein. Bereits 1751 hatte Lessing in der „Vossischen Zeitung" gerühmt, daß Voltaires Werke geeignet seien, „den Geist zu erleuchten und das Herz zu ordnen . . . die Menschen kennen zu lehren", und er hatte „Kleinere historische Schriften des Herrn von Voltaire" übersetzt. Thomas Abbt schrieb 1764 über Voltaire: „Ich betrachte ihn immer als meinen Lehrer, nicht in der Geschichte, sondern in der Kunst, dabei zu denken . . . Er hat mir die Logik der Geschichte beigebracht." 38 Nicolai schrieb 1772 in der „Allgemeinen Deutschen Bibliographie" über ihn: „Die allgemeine Historie der Welt war bis auf ihn Lebensgeschichte der Regenten, er machte sie zuerst zur Geschichte der Menschen. Er ordnete zuerst die Begebenheiten nicht nach den Regierungen der Beherrscher, sondern nach den Schicksalen der Beherrschten." 39 Schlözers „Vorstellung der Universalhistorie" (1772) war von Voltaire in den Grundgedanken beeinflußt. Der Verfasser wandte sich aber gegen die lockere publizistische Form und einzelne Ungenauigkeiten in den Werken des französischen Aufklärers. Derartigen Nörgeleien hielt 1787 die „Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften" entgegen: „Das ganze aufgeklärte Europa hat nur eine Stimme über Voltaires große Verdienste, und niemand hat ihn der Unsterblichkeit unwert geachtet, als in Frankreich der verächtliche Haufe seiner persönlichen Feinde und in Deutschland eine Menge handfester Autoren und Professoren, die es nicht verdauen konnten, daß seine, wie sie sagen, leicht und seicht geschriebenen Schriften von einem Ende unseres Weltteiles zum anderen gelesen und bewundert werden, indes niemand ihre vollwichtigen, gründlichen und gravitätischen Quartanten keimen, geschweige lesen wollte. Unsere Chronikenschreiber ziehen in seinen historischen Schriften eine Menge falscher Jahreszahlen und unrichtiger Fakten an und glauben nun steif und fest, größere Geschichtsschreiber zu sein als er." 40 Aus solchen Auseinandersetzungen erwuchsen die drei wichtigsten, in ihrer Grundtendenz durchaus verwandten geschichtstheoretischen Arbeiten dieser Periode: Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts" (1780), Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) und Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (seit 1784). Alle drei Werke verkündeten die Idee eines notwendigen historischen Fortschritts und durchbrachen damit endgültig die erstarrten fürstlichen und höfischen Denkkonventionen und die kirchliche Orthodoxie, die dem Feudaladel als wichtigste ideologische Herrschaftsmittel dienten. Gotthold Ephraim Lessing hatte schon in seiner „Minna von Barnhelm" (1767) „die Verhältnisse des bürgerlichen Lebens zu der Würde echter sozialer Konflikte in 38

Briefe, die neueste Literatur betreffend, 1764, N r 796 ( X X , S. 3ff). Zit, nach Korff, Hermann August, a. a. O., B d 1, S. 352.

39

Zit. nach Korff, Hermann August,

40

Korff, Hermann August,

a. a. O., B d 1, S. 353.

a. a. O., B d 2. S. 5 i 8 f .

86

I I I . Die vorrevolutionäre Phase

echten gesellschaftlichen Lagen" erhoben 41 und in der Symbolik seines dramatischen Gedichtes „Nathan der Weise" (1779) die brüderliche Verbundenheit aller Menschen als Vernunftswesen über konfessionelle Schranken hinweg gestaltet. Die „Erziehung des Menschengeschlechts" verglich die Weltgeschichte mit der Entwicklung des Menschen vom Kind über den Jüngling zum Mann. Während das Alte Testament Gebote, wie sie Kindern aufgetragen werden, durch den Hinweis auf zeitliche Belohnung oder Strafe unterstützt hätte, wäre im Neuen Testament, das das Jünglingsalter der Menschheit repräsentierte, bereits auf jenseitigen Lohn verwiesen und damit gleichsam der Drohung mit der nackten physischen Gewalt ein neues geistiges Prinzip entgegengestellt worden. Noch aber sei die Periode, in der die Menschheit erwachsen sei, nicht angebrochen. Erst dann, wenn die Moral „als Vernunft Wahrheit" erkannt, wenn der Mensch „das Gute tun wird, weil es das Gute ist" (§ 85) und wenn dies in einem neuen Evangelium verkündet würde, würde diese Epoche erreicht sein. Eingehüllt in diese idealistische Konstruktion, in die schließlich sogar der Gedanke der Seelenwanderung mit der Begründung aufgenommen wird, es wäre unverständlich, wenn nicht jeder des Glücks, in dieser letzten Periode zu leben, teilhaftig würde, wurde damit das Christentum historisch relativiert und der Fortschritt zu einer Gesellschaft, in der bürgerliche Moralauffassungen herrschen, für notwendig erklärt. Immanuel Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" kam von ganz anderen Voraussetzungen zu ähnlichen Ergebnissen. Diese Schrift leitete den Gedanken des gesetzmäßigen Fortschritts nicht, wie Lessing es tat, aus moralischen Überlegungen ab, sondern begründete ihn mit der Herrschaft gerade des materiellen Interesses. Diese Schrift Kants ist oft von den Revisionisten mißbraucht worden, um eine Versöhnung zwischen Idealismus und Materialismus mit dem Argument zu proklamieren, bereits aus der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte" Kants ließe sich die Notwendigkeit des Ubergangs zum Sozialismus rechtfertigen. Tatsächlich aber beschränkt sich der Horizont Kants auf die bürgerliche Gesellschaft. „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird." 42 Kant versucht in seiner Schrift zu zeigen, daß eben das Gegeneinander der Interessen in der Gesellschaft die Menschen zwinge, sich in einer „gerechten bürgerlichen Verfassung" 43 zu vereinigen, und er leitete aus diesen Überlegungen auch die Notwendigkeit der Errichtung eines Völkerbundes, der den ewigen Frieden sichere, ab. Kant hat in einer Besprechung der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der 41

Rilla, Paul, Lessing und sein Zeitalter, Berlin i960, S. 105. Vgl. auch:

Erläuterun-

gen zur deutschen Literatur,

im Volks-

hg. v. Kollektiv für Literaturgeschichte

eigenen Verlag V o l k und Wissen. Berlin 1958, S. 396. 42

Kant, Immanuel,

Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, E t h i k und Politik,

hg. v. Karl Vorländer, 2. Aufl., Leipzig 1922, S. 8 f. 43

Ebenda, S. 10.

3- Die Geschichtsphilosophie

87

Menschheit" Herders scharf gegen ihn polemisiert 44 , Kant führte seine Polemik vom Standpunkt der subjektiv-idealistischen Erkenntnistheorie aus. Im Vordergrund stand die Kritik an objektiv-idealistischen Zügen der Philosophie Herders, etwa an der Behauptung der Existenz „geistiger Kräfte, zu welchen Materie nur den Bauzeug ausmacht" 45 oder der Hypothese einer „Stufenerhebung" der Menschen „zu einer vollkommeneren Organisation in einem anderen Leben" 4 6 . Den Hauptstoß richtete Kant gegen die materialistische Tendenz der „Ideen". Er unterschied scharf zwischen Natur und Gesellschaft und wollte nur für die Gesellschaft das Prinzip der Entwicklung gelten lassen. Johann Gottfried Herder dagegen näherte sich der Idee einer gesetzmäßigen Entwicklung sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft. „Auch in ihr (der Geschichte — J . S.) müssen . . . Naturgesetze gelten, die im Wesen der Sache liegen." 47 Diese Idee einer „kontinuierlichen Gradation" der „Geschöpfe, samt der Regel derselben, nämlich der der Annäherung zum Menschen" 48 lehnte Kant in dieser Besprechung schroff ab. Auf die Tatsachen, die Herder zur Begründung seiner Auffassung angeführt hatte, ging er überhaupt nicht ein. Mit Recht konnte daher Karl Leonhard Reinhold in einer anonym erschienenen Einsendung an Wielands „Deutschen Merkur" (Februar 1785) zugunsten Herders feststellen: „Finden Sie das nicht seltsam genug . . ., daß der Ree. immer nur mit Raisonnements zu tun haben will, auf die Tatsachen hingegen, an denen dem Verfasser alles gelegen war, so wenig Rücksicht nimmt, als ob sie garnicht da wären?" 4 9 Über der Schärfe der Polemik auf beiden Seiten darf aber nicht übersehen werden; daß Kant und Herder in der grundsätzlichen Überzeugung übereinstimmten, es gäbe einen Fortschritt in der Geschichte. Herder vertrat jedoch in politischer wie in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht eine höhere Stufe der bürgerlich-fortschrittlichen Bewegung als Kant. Dieses Neue wird von ihm in der Formel zusammengefaßt, daß „Patriotismus und Aufklärung die beiden Pole . . ., um welche sich alle Sittenkultur der Menschheit bewegt" 50 , sind. In politischer Hinsicht war das Neue die „Propagierung des Bündnisses aller vom Feudalabsolutismus unterdrückten Schichten" 51 . „ J e mehr die Vernunft unter den Menschen zunimmt, desto mehr muß man'svon Jugend auf einsehen lernen, daß es eine schönere Größe gibt, als menschenfeindliche Tyrannengröße, daß es besser und 44

Kants Rezension erschien in der Allgemeinen Literaturzeitung vom 6. Januar 1785 und veranlaßte eine ganze Anzahl von zustimmenden bzw. ablehnenden Stellungnahmen. Sie sind jetzt zusammengestellt bei: Fambach, Oskar, Der Aufstieg zur Klassik in der Kritik der Zeit (Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik, B d 3), Berlin 1959, S. 357 ff. 46 « Ebenda, S. 362. Ebenda, S. 363. 47 Herder, Johann Gottfried, Zur Phüosophie der Geschichte, Bd 2, Berlin 1952, S. 457. 48 Bei Fambach, Oskar, a. a. O., S. 362 f. 49 Ebenda, S. 373. 50 Herder, Johann Gottfried, a. a. O., Bd 2, S. 357. 51 Stolpe, Heinz, Die Auffassung des jungen Herder vom Mittelalter, a. a. O., S. 9.

88

III. Die vorrevolutionäre Phase

selbst schwerer sei, ein Land zu bauen, als es zu verwüsten, Städte einzurichten, als solche zu zerstören." 52 Das Wesentliche seiner „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" war in wissenschaftlicher Hinsicht, daß hier die damaligen Ergebnisse der Natur- und Gesellschaftswissenschaften für die Begründung des Entwicklungsgedankens verwendet wurden. Echte materialistische Einsichten, wie sie Herder vor allem durch August von Einsiedel, dessen „Ideen" er exzerpiert hatte, vermittelt worden waren, liegen seiner Auffassung zugrunde, daß der Mensch sich nicht durch irgendein besonderes geistiges Prinzip von anderen Lebewesen unterscheidet. Herder versuchte vielmehr nachzuweisen, daß er durch seine Naturanlagen selbst „zur Vemunftfähigkeit organisiert" 53 ist. Herder glaubte darüber hinaus, eine Organisation des Menschen „zu besseren Sinnen, zur Kunst und zur Sprache" 5 4 , zu „feineren Trieben, mithin zur Freiheit" 5 5 , und „zur zartesten Gesundheit, zugleich aber zur stärksten Dauer, mithin zur Ausbreitung über die E r d e " 5 6 erkennen zu können. E r leitete die Idee der Humanität also nicht aus übersinnlichen Prinzipien ab, sondern — ähnlich wie Goethe, mit dem er während der Arbeit an den „Ideen" in engstem Gedankenaustausch stand 57 — aus dem Gedanken einer gesetzmäßigen Entwicklung in der Wirklichkeit selbst. Die Menschheit, das war für Herder „Zusammenwirkung der Individuen, die uns allein zu Menschen macht" 5 8 . Auch die Idee des Friedens unter den Völkern, die im Mittelpunkt seiner politischen Uberzeugungen stand, war für ihn kein bloß moralisches Prinzip, sondern wurde mit historischen Überlegungen begründet: „Friede ist der Naturzustand des unbedrängten menschlichen Geschlechts." 59 Das war zugleich eine konkrete Kampfansage an Adelsherrschaft und Absolutismus, und sie blieb nicht bloße Theorie, sondern wurde durch Herders mutiges Eintreten gegen den feudalen Interventionskrieg nach 1792 praktisch bestätigt. Diesem System geschichtsphilosophischer Ideen liegt Herders Auffassung von der Eigenart und der Gleichberechtigung der Nationen zugrunde — eine Auffassung, die er besonders auf die slawischen Völker anwendet, an denen sich „mehrere Nationen, am meisten aber die vom deutschen Stamme . . . hart versündigt" 60 haben. Seine Geschichtsphilosophie ist also nicht, wie die spätbürgerliche HerderInterpretation behauptet, Ergebnis einer relativistischen und irrationalistischen Weltanschauung, sondern entspricht einer weltgeschichtlichen Konzeption, in der die Forderung nach nationaler Einheit und Unabhängigkeit, die Sehnsucht nach Frieden unter den Völkern und die Kritik an Feudalismus und Absolutismus zur Synthese gebracht wurden. 52

Herder, Johann Gottfried, a. a. O., Bd 2, S. 436. 53 Ebenda, S. 88. 54 Ebenda, S. 106. 55 Ebenda, S . u . 56 Ebenda, S. 117. 57 Haym, Rudolf, Herder, Neuausgabe, Berlin 1954, Bd 2, S. 225ff. 58 Herder, Johann Gottfried, a. a. O., Bd 2, S. 214. 59 Ebenda, S. 194. Ebenda, S. 484.

IV. Das historisch-politische Denken in der Zeit der Französischen Revolution und des Beginns der bürgerlichen Umgestaltung Deutschlands

Mit der Französischen Revolution wurde das internationale Kräfteverhältnis zwischen Kapitalismus und Feudalismus grundlegend verändert: In ganz Europa wurde der Kapitalismus zum bestimmenden Faktor der Entwicklung. In denjenigen west- und mitteleuropäischen Ländern, die nicht unmittelbar von der Revolution und den Revolutionskriegen berührt wurden, wurde der Feudalismus doch beträchtlich erschüttert. Auch in Deutschland begann jetzt die bürgerliche Umgestaltung — ein Prozeß, der sich über mehrere Jahrzehnte hinzog und in dem die feudalen Bindungen der Bauern, die mittelalterliche Gewerbeverfassung und schließlich mit der Einigung von oben 1 8 7 1 auch die nationale Zersplitterung beseitigt wurden. Dieser Prozeß führte zu einem qualitativen Sprung in der Geschichte Deutschlands: An die Stelle der feudalen trat die kapitalistische Gesellschaftsordnung. Der Beginn dieser bürgerlichen Umgestaltung geht insofern von der Französischen Revolution aus, als diese ja einen Aufschwung der Volksbewegungen in den deutschen Staaten veranlaßte. Diese Bewegungen hatten wesentlichen Einfluß darauf, daß Adel und Fürsten dem Bürgertum und den Volksmassen nun gewisse Zugeständnisse machen mußten. In derselben Richtung wirkte der unmittelbare französische Einfluß in den von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten und den deutschen Staaten rechts des Rheines. Diese Umgestaltung begann in den einzelnen Teilen Deutschlands zu verschiedenen Zeiten. Preußen war der größte und von nun an gerade für die bürgerliche Entwicklung wichtigste deutsche Territorialstaat. E s stand mit seinen Reformen aber nicht am Anfang, sondern am Ende dieser Reihe. Erst der Sieg der napoleonischen Armeen über das altpreußische Heer im Kriege von 1806/07 machte die Kräfte frei, die für eine solche Umgestaltung wirkten. Mit diesem Krieg war der Höhepunkt und Wendepunkt des fortschrittlichen Einflusses Frankreichs auf die deutsche Entwicklung erreicht: Nach innen und außen vor einer feudalen Restauration gesichert, erblickte die französische Bourgeoisie in der Bourgeoisie der anderen Länder nur noch einen Konkurrenten und nicht mehr auch den potentiellen Verbündeten. In den Beziehungen zwischen dem napoleonischen Frankreich und den unter seinem Einfluß stehenden anderen Nationen wurde nun das wesentliche Moment das der Unterdrückung. Der Ubergang vom Feudalismus zum Kapitalismus konnte aber auch in Preußen nicht mehr aufgehalten werden. „Der Tilsiter Frieden war die größte Erniedrigung

90

I V . Die Zeit der Französischen Revolution

Deutschlands und gleichzeitig eine Wendung zu einem gewaltigen nationalen Aufschwung." 1 In der Einsicht, daß die innere Erneuerung die wichtigste Voraussetzung für die Befreiung von der Fremdherrschaft war, setzte sich die bürgerlichnationale Bewegung für eine Überwindung der feudalen Verhältnisse in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat ein. Trotz des Widerstandes der französischen Okkupanten, vor allem aber der Junker und des Königs, konnten auf zahlreichen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens bürgerliche Reformen durchgesetzt werden, so daß Friedrich Engels davon sprechen konnte, damals habe in Preußen die „bürgerliche Revolution . . . begonnen" 2 . Auch in der Geschichte der Geschichtsphilosophie und der Geschichtsschreibung in Deutschland begann mit der Französischen Revolution eine neue Epoche. Das gilt zunächst für die materiellen und wissenschaftsorganisatorischen Voraussetzungen der Geschichtsschreibung. So, wie die Französische Revolution die Archive, die den Historikern bisher grundsätzlich verschlossen geblieben waren, geöffnet hatte, wurde nun auch in den deutschen Staaten der Zugang allmählich erleichtert. Das erst machte die Ausdehnung der quellenkritischen Methode auf die neuere Geschichte möglich. Auch dieser Fortschritt ist nicht auf die beschauliche Atmosphäre der Restaurationszeit zurückzuführen — wie dies etwa Rothacker im Anschluß an Ranke behauptet, wenn er erklärt: „Das historische Denken ist das spezifische Produkt einer konservativen Weltanschauung" 3 —, im Gegenteil: gerade die Stürme der Revolution leiteten diese Phase in der Geschichte der Geschichtswissenschaft ein. Darüber hinaus wurden durch die Säkularisierungen — vor allem durch den Reichsdeputationshauptschluß — geistliche Bibliotheken, die den Gelehrten bisher verschlossen geblieben waren, staatliches Eigentum und wurden damit leichter zugänglich. Es war insbesondere die Münchener Bibliothek — öffentlicher Benutzung übrigens schon seit 1790 zugänglich —, die um zahlreiche geistliche Bibliotheken bereichert wurde. Jeseph Görres erwarb um 1800 über 200 Handschriften, die aus rheinischen Klöstern nach Ehrenbreitstein gebracht worden waren. 4 Mit der bürgerlichen Umgestaltung änderten sich die Aufgabe und damit auch die Struktur der Universitäten. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Eröffnung der Berliner Universität, die im Zusammenhang mit dem Reformwerk gegründet wurde und als Zentrum fortschrittlicher und patriotischer Gelehrter wie Boeckh, Fichte, Niebuhr, Schleiermacher und Wolf Lehre und Forschung vereinigen sollte. So wie Fichte in seinen „Reden an die deutsche Nation" eine demokratische Nationalerziehung als Voraussetzung der Befreiung von der Fremdherrschaft bezeichnet hatte, sollte diese Universität vor allem nationalpädagogischen Auf1

Lenin,

W. /., Die H a u p t a u f g a b e unserer Tage, in: Werke, B d 27, Berlin i960,

S. 149. 2

Engels,

Friedrich,

Ergänzung

der Vorbemerkung von

1870 zu „ D e r

deutsche

Bauernkrieg" (1874), in: Marx/Engels, Werke, B d 18, Berlin 1962, S. 513. 3

Rothacker, Erich, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 1930,

S-75'» Vgl. Schottenloher, Karl, a. a. O., B d 2, S. 390.

I V . Die Zeit der Französischen Revolution

91

gaben dienen. Deshalb erlangten in Berlin die philosophische Fakultät und mit ihr die Geschichtswissenschaft den ersten Platz unter den Fakultäten. In ähnlichem Sinne änderten sich auch Funktion und Struktur der Berliner Akademie der Wissenschaften. Vor allem auf Grund der Initiative Wilhelm von Humboldts gab sie sich 1812 ein neues Statut, das die Voraussetzung dafür schuf, daß die Funktion der Akademie als Gelehrtengremium ergänzt werden konnte durch ihre Funktion als Träger von Forschungseinrichtungen. Damit begann die große Zeit der Akademie in der bürgerlichen Epoche. Editionen und Wörterbücher sollten die Gesellschaftswissenschaften und die nationale Kultur fördern und dem nationalen Führungsanspruch des Bürgertums Ausdruck geben. Die Akademie war nicht mehr eine provinziell-preußische, sondern eine deutsche Einrichtung. Aber ihre Leistungen beschränkten sich in der Epoche des Kapitalismus darauf, Materialien für die Forschung bereitzustellen: Für die bürgerliche Auffassung von den Gesellschaftswissenschaften gibt es ja eine Kooperation nur in der Materialsammlung, während die Zusammenfassung als etwas betrachtet wird, das subjektivem Belieben ausgeliefert ist und daher nicht in das Tätigkeitsgebiet einer Akademie der Wissenschaften gehört. Noch in einem anderen Sinne änderten sich die materiellen Voraussetzungen der Geschichtsschreibung: Die Zahl der historisch Interessierten und Gebildeten wuchs. Bisher hatten Kinder aus den werktätigen Schichten nur auf dem Wege eine qualifizierte Ausbildung erhalten können, daß sie in den Dienst der Kirche traten, und selbst für Wohlhabendere bot der Beruf des Schriftstellers oder Privatgelehrten in Deutschland kaum Existenzmöglichkeiten. Jetzt änderte sich das lesende Publikum seiner sozialen Zusammensetzung und seiner Zahl nach, und der Leserkreis für die Veröffentlichungen der bürgerlichen Historiker entstand. Die Entwicklung der Buchproduktion und des Buchhandels, seither von wesentlichem Einfluß auf das geistige Leben, sei in diesem Zusammenhang wenigstens kurz skizziert. Die Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse fand auf diesem Gebiet in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ihren Ausdruck in häufigen Auseinandersetzungen zwischen Schriftstellern und Gelehrten einerseits, den Verlegern andererseits. 1781 war in Dessau eine Schriftstellergenossenschaft „Buchhandlung der Gelehrten" gegründet worden. Sie brachte in den folgenden Jahren durchschnittlich jeweils 200 Titel heraus, erlag aber dann der Konkurrenz und wurde 1787 aufgelöst. Bereits ein Jahrzehnt zuvor hatte Klopstock mit seiner „Deutschen Gelehrtenrepublik", die er 1773 im Selbstverlag veröffentlichte, einen ähnlichen Versuch unternommen, aber dabei einen Mißerfolg erlitten. Dies waren die letzten größeren Versuche der Schriftsteller und Gelehrten, durch eine Art genossenschaftlicher Selbsthilfe von den bürgerlichen Verlegern, die von ihrem Profit den Autoren natürlich nur einen Teil abließen, unabhängig zu werden. Von nun an war es üblich, daß auch wissenschaftliche Bücher gegen Honorare von den Verlegern übernommen und als Ware auf den Markt gebracht wurden. In den Jahren um die Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts entstanden große Verlage, die

92

I V . D i e Zeit der Französischen Revolution

zunächst die bürgerlich-progressive Bewegung unterstützten. 1796 gründete Friedrich Christoph Perthes in Hamburg ein Sortiment 5 , durch das er in enge Verbindung mit führenden Historikern wie Arndt, Stein, Görres, Niebuhr und Savigny trat. Friedrich Arnold Brockhaus gründete 1805 einen Verlag. Er wurde sowohl durch sein Lexikon bekannt als auch durch die Zeitschrift „Deutsche Blätter" (erschienen von 1813 bis 1816), deren Ziel es war, „Gemeinsinn zu erwecken, die deutsche Nationalwürde zu erheben, Haß gegen fremde Unterjochung und Vertrauen zu uns selbst einzuflößen" 6 . 1809 wurde in Berlin der Verlag Duncker & Humblot gegründet, der sich zunächst auf das Gebiet der Geschichte konzentrierte und in dem auch Rankes Werke erschienen. Ein anderer Berliner Verleger, Georg Andreas Reimer, veröffentlichte die meisten Werke der romantischen Schule und gab auch Arbeiten von Niebuhr und Lachmann heraus. Reimer nahm als Offizier an den Befreiungskriegen teil. Friedrich Justin Bertuch veröffentlichte in den Jahren nach den Befreiungskriegen die von Heinrich Luden herausgegebene „Nemesis" und gab auch zeitweilig die erste bürgerlich-liberale deutsche Tageszeitung, das „Oppositionsblatt", heraus. Auch in der historischen Literatur spielte das kommerzielle Element bald eine wesentliche Rolle. Göschen veröffentlichte seit 1790 einen „Historischen Kalender für Damen", von dem in kürzester Zeit 7000 Exemplare verkauft wurden. Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges entstand auf eine Anforderung des Verlages hin für diesen Kalender. Verleger und Autoren wirkten jedoch in den folgenden Jahrzehnten zusammen, um eine Auswirkung der nationalen Zersplitterung zu bekämpfen, die sich im Buchwesen besonders lähmend bemerkbar machte, nämlich das Nachdruckunwesen. Da eine für alle deutschen Staaten verbindliche Gesetzgebung gegen den Nachdruck von Büchern fehlte, wurde dies von skrupellosen Verlegern und Buchhändlern ausgenutzt, um die Autoren um ihre Honorare und die Konkurrenten um ihre Profite zu prellen. Trotz der Versprechungen, die in der Bundesakte 1815 gemacht worden waren, erwies sich auch der Deutsche Bund außerstande, diese Probleme zu lösen.7 Derartige Veränderungen in den materiellen Voraussetzungen trugen natürlich dazu bei, die Verbreitung bürgerlicher Ideen und Auffassungen auch auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft zu erleichtern. Entscheidend aber war, daß die 5

E s wurde 1822 nach Gotha verlegt und mit dem Verlag vereinigt, den sein Onkel Justus Perthes dort bereits 1785 gegründet hatte.

6

Schottenloher, Karl, a. a. O., B d 2. S. 452f.

7

E s ist charakteristisch, daß der 1825 zunächst zur Erleichterung der Abrechnung zwischen Verlegern und Buchhändlern entstandene „Börsenverein der deutschen Buchhändler",

eine der ersten gesamtnationalen Organisationen überhaupt, die

ersten wirksamen Schritte unternahm, indem er Nachdrucker nicht aufnahm und seinen Mitgliedern den Vertrieb nachgedruckter Bücher verbot. Erst nachdem so durch Selbsthilfe gewisse Erfolge erreicht waren, schwangen sich auch die deutschen Staaten allmählich auf, den Nachdruck v o n Büchern zu verbieten. Vgl. Max/Rath,

Philipp,

Paschke,

Lehrbuch des deutschen Buchhandels, a. a. O., B d 1, S. 77 ff.

I V . Die Zeit der Französischen Revolution

93

Ereignisse dieser Zeit selbst die historische Konzeption der fortschrittlichen Historiker bestätigten. 8 Die Schriftsteller und Gelehrten litten unter staatlichem, kirchlichem und feudalem Zwang. Sie waren für die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit besonders empfänglich und jubelten deshalb, als in einem benachbarten großen Staat die Freiheit des Individuums begründet und die Befreiung von den feudalen Fesseln durchgesetzt wurde. In dreifacher Hinsicht war der Ausbruch der Französischen Revolution von Einfluß auf das deutsche Geistesleben : Erstens: Die Revolution entfachte bei den deutschen Intellektuellen Begeisterung für das französische Volk. Wieland erklärte: „Nie hat eine Nationalversammlung nicht nur ihren Konstituenten, sondern der ganzen Menschheit so viel Ehre gemacht als diese." Der Pädagoge Joachim Heinrich Campe, der die französische Hauptstadt im Herbst 1789 besuchte, fand für seine „Briefe aus Paris" ein leidenschaftlich interessiertes Publikum, das auch seine Übersetzung des französischen Wortes .fraternité' = .Brüderlichkeit' sofort aufgriff und im Deutschen heimisch machte. August Ludwig von Schlözer feierte den Beginn der Revolution mit den Worten: „Eine der größten Nationen in der Welt . . . w i r f t . . . das Joch der Tyrannei endlich einmal a b . " Friedrich Gottlob Klopstock schrieb : „ H ä t t ' ich hundert Stimmen, ich feierte Galliens Freiheit." Als die feudale Reaktion die Intervention vorzubereiten begann, vertieften sich bei den besten Deutschen diese Sympathien noch. In der Auseinandersetzung mit dem höfisch-feudalen Kosmopolitismus, der vor allem in der Unterwerfung der deutschen Höfe unter den französischen seinen Ausdruck gefunden hatte, und im Kampf gegen den ungerechten Krieg, durch den die Feudalmonarchien die Revolution ersticken wollten, wuchs das Verständnis für die bürgerliche Gemeinsamkeit aller fortschrittlichen Menschen. „Frankreich ist jetzt mein Gedanke Tag und Nacht — ist Frankreich unglücklich, so verachte ich die ganze W e l t " , schrieb der junge Ludwig Tieck. Zweitens: Die Revolution, in der sich das französische Volk als Nation konstituierte, stärkte in den deutschen Intellektuellen zugleich aber auch die Begeisterung für eine freiheitliche Entwicklung und die nationale Einigung ihres eigenen Vaterlandes. Der Vergleich zwischen den französischen und den deutschen Verhältnissen machte ihnen noch deutlicher, wie schwer feudale Unterdrückung und politische Zersplitterung auf dem deutschen Volk lasteten. „Frankreich schuf sich frei und wir? Ach, ich frag' umsonst ; ihr verstummet, Deutsche ! was zeiget Euer Schweigen? Bejahrter Geduld Müden Kummer? Oder verkündet es nahe Verwandlung? " (Friedrich Gottlob Klopstock, Kennet euch selbst) 8

Vgl. zum folgenden: Streisand, Joachim, Deutschland von 1 7 8 9 - 1 8 1 5 (Lehrbuch der deutschen Geschichte, Beiträge), 2. Aufl., Berlin 1961, S. 16ff., 49ff.

IV. Die Zeit der Französischen Revolution

94

Drittens: Wenn auch die anfängliche Begeisterung oft nicht anhielt, konnte doch der Eindruck der welthistorischen Umwälzung aus dem Bewußtsein der Zeitgenossen nicht mehr ausgelöscht werden. Von bleibender Bedeutung für die Entwicklung des deutschen Denkens war vor allem, daß die Idee einer Entwicklung in der Natur und in der Gesellschaft durch diese großen Erfahrungen bestätigt und konkretisiert wurde. Kant sah in der entsprechend dem Willen des Volkes und gemäß den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit regierten Republik das Ziel der inneren Entwicklung der Staaten. Er veröffentlichte 1795 seine Schrift „Zum ewigen Frieden". In diesem Werk bezeichnete er als das Ziel der Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen die Konstituierung eines Völkerbundes, der den ewigen Frieden sichere. Im Jahre 1798 würdigte er die Begeisterung für die Französische Revolution mit den Worten: „Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweiten Male unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde — diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann." 9 Diese Begeisterung war aber bei der Mehrzahl der deutschen Dichter, Schriftsteller und Gelehrten nicht von Dauer. Sie hielt während der ersten Phase der Revolution an, als ein Übereinkommen zwischen dem französischen Königtum einerseits, der liberalen Sektion des Adels und der Bourgeoisie andererseits möglich zu sein schien, solange es also möglich erschien, daß der Monarch aus einem König der Feudalaristokratie zu einem König des Besitzbürgertums werden konnte. Die wenigen deutschen Publizisten, die während dieser Jahre den französischen Ereignissen feindselig gegenüberstanden, waren so gut wie isoliert, und noch 1792 gab es nur einen einzigen namhaften Dichter, der Lieder zur Verherrlichung des Interventionsfeldzuges der preußischen Armee schrieb, den alten Gleim. Als aber in Frankreich das Königtum beseitigt und die Republik ausgerufen wurde, als sich dort die verschiedenen Klassen und Schichten innerhalb des dritten Standes politisch voneinander abgrenzten, als die Gironde, die Vertretung der Handels- und Industriebourgeoisie, gestürzt und vom jakobinischen Kleinbürgertum abgelöst wurde, als die Revolution über die französischen Grenzen hinausgriff und die demokratischen Volksbewegungen in Deutschland erstarkten — da vollzog sich auch hier eine schärfere Differenzierung der verschiedenen politischen Richtungen. Das Ergebnis dieses Prozesses war natürlich nicht ein schema9

Kant, Immanuel, heit

Der Streit der Fakultäten, II. Abschnitt, 6. V o n einer Begeben-

unserer Zeit, welche diese moralische Tendenz

beweist.

des

Menschengeschlechts

IV. Die Zeit der Französischen Revolution

95

tisches Abbild der Klassenfronten, wie sie in Frankreich bestanden. Im zurückgebliebenen Deutschland wurden die Auseinandersetzungen oft in mehr oder minder theoretisch-abstrakter Form, ja in ideologischer Verhüllung geführt. Entscheidend ist aber, daß in ihren Mittelpunkt die Probleme der bürgerlichen Entwicklung Deutschlands selbst traten. Die deutsche Feudalreaktion formierte sich jetzt auch auf politisch-ideologischem Gebiet. Ihre Waffen entnahm sie dabei dem Arsenal gerade der bürgerlichen Bewegung, gegen die sie zum Gegenschlag ausholte. Der Gedanke der historischen Entwicklung, der von den Denkern der Aufklärung im Zusammenhang mit ihrer Lehre vom Fortschritt der Vernunft konzipiert worden war, sollte nun gegen alle revolutionären Maßnahmen gekehrt werden. Justus Moser wandte sich — ohne damit freilich zu dieser Zeit viel Beachtung zu finden — schon 1790 gegen alle Versuche, Verfassungen zu schaffen, da sie historisch entstandene Gesetze und Eigentumsverhältnisse gefährdeten. Ähnlich äußerte sich August Wilhelm Rehberg, ein Beamter des Königs von Hannover. War es schon nicht zufällig, daß sich gerade in dem unter englischem Einfluß stehenden Hannover die literarische Gegenrevolution sammelte, so wurde bald darauf ein Engländer, Edmund Burke, zum prominentesten Theoretiker des europäischen und auch des deutschen Konservativismus. In seinen „Betrachtungen über die Französische Revolution" lehnte Burke jede Umwälzung als Verstoß gegen das organische Wachstum, das für die Entwicklung in der Natur wie in der Gesellschaft charakteristisch sei, ab. Das Buch wurde 1792 von Friedrich Gentz ins Deutsche übersetzt und bildete wegen seiner philosophischen Grundlage — der Leugnung jedes qualitativen Umschlages im Entwicklungsprozeß — und seiner politischen Tendenz — der Rechtfertigung jedes bestehenden Zustandes aus der bloßen Tatsache, daß er historisch geworden sei — den Ausgangspunkt für die romantische Staatstheorie und später für die historische Schule. Auf primitiverem Niveau dienten demselben Zweck, dem Kampf gegen die Französische Revolution und gegen diejenigen, die in anderen Ländern mit ihr sympathisierten, die von vielen Regierungen geförderten Schmähschriften. Zu ihren übelsten gehört der „Revolutionsalmanach" (erschienen 1793—1803), der jede Gewaltmaßnahme der Unterdrücker feierte, jede Gewaltmaßnahme der Unterdrückten aber brandmarkte. Aber nicht die Stellung zu der fortgeschrittensten Phase der Französischen Revolution oder das Verständnis für die plebejisch-demokratischen Methoden, mit denen die Jakobiner die französische Nation vor den Anschlägen ihrer inneren und äußeren Feinde retteten, waren es, woran sich in Deutschland Fortschritt und Reaktion schieden. Wesentlich ist nicht, daß Klopstock trauerte: „Ach, des goldenen Traums Wonn' ist dahin." In den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen traten gerade unter dem Eindruck der Französischen Revolution mehr und mehr die wichtigsten Fragen der bürgerlichen Entwicklung in Deutschland selbst, die Forderung nach Beendigung des Interventionskrieges, nach Aufhebung der feudalen Bindungen, vor allem aber nach Überwindung der deutschen Zersplitterung. Während die Französische Revolution auf dem Boden eines zentralisierten

96

IV. Die Zeit der Französischen Revolution

Staates vorbereitet und ausgekämpft wurde, fehlte dieser in Deutschland. Die deutsche klassische Dichtung und Philosophie hat eben dadurch die Herausbildung eines deutschen Nationalbewußtseins gefördert, daß sie unter der Oberfläche der ökonomischen und politischen Erscheinungen dieses Problem entdeckte und daß sie die Konstituierung Deutschlands als bürgerlicher Nation anstrebte. Das ist eine der Ursachen dafür, daß der klassische Realismus in dieser Zeit seinen Höhepunkt erreichen konnte und daß die Vertreter dieser bürgerlich-nationalen Strömung seine Träger wurden. Diese bürgerlich-nationalen Strömtingen im deutschen Geistesleben sahen freilich zu dieser Zeit keinen Weg der Erneuerung Deutschlands als den der Reformen durch einen einsichtigen Fürsten. Sie wollten die Einsicht verbreiten, daß derartige Reformen notwendig seien. Die führenden Geschichtswissenschaftler standen dieser Richtung nahe. In der Person Friedrich Schillers fand diese Verbindung ihren unmittelbaren Ausdruck. Die Antrittsvorlesung, die er — wenige Wochen vor dem Ausbruch der Französischen Revolution — am 26. Mai 1789 als Professor der Geschichte an der Universität Jena hielt, ist ein programmatisches Dokument, in dem die neuen Aufgaben und die ihnen entsprechende neue Bedeutung der Geschichtswissenschaft formuliert wurden. Schiller hat die Professur nicht deshalb angenommen, weil er sich als Historiker von Profession fühlte, sondern deshalb, weil ihm damit endlich ein gesicherter Lebensunterhalt geboten zu werden schien. Für die Regierungen der vier Erhalterstaaten, denen die Universität Jena unterstand (Sachsen-Weimar, Sachsen-Gotha, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Coburg), war umgekehrt ebenfalls ein durchaus materielles Interesse bei dieser Berufung maßgebend. Goethe empfahl diese Berufung mit der Begründung, man könne dadurch „der Academie neue Vorteile . . . beschaffen. Dies ist von Weimar und Gotha gebilligt worden, besonders da diese Requisition ohne Aufwand zu machen ist" 10 . Der Dichter stand dem akademischen Routinebetrieb fern. Die Geschichtswissenschaft war für ihn ein Mittel der Erziehung zu bürgerlichem Klassenstolz, ein Mittel, die Studenten mit den Aufgaben des, wie er sagt, „menschlichen Jahrhunderts" vertraut zu machen. Die Antrittsrede trägt den Titel: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" Dieses Fach — bisher im Dienste der Ausbildung gehorsamer Staatsdiener — erhielt in Schillers Antrittsrede damit eine ganz neue Würde. Er stellte dem „Brotgelehrten" den „philosophischen Kopf" gegenüber. Diese Gegenüberstellung darf aber nicht, wie dies in der Literatur fast stets geschehen ist, als Rechtfertigung einer Wissenschaft, die um ihrer selbst willen betrieben wird, verstanden werden. Die Kontrastierung des „Brotgelehrten" mit dem „philosophischen Kopf" hat vielmehr einen sozialen Inhalt: Der traditionellen Auffassung von der Geschichtswissenschaft als Instrument zur Rechtfertigung der Herrschaft des Adels und der Fürsten wird die neue Auffassung, daß die Geschichte die Rechtmäßigkeit der Forderung nach bürgerlichen Freiheiten erweist, entgegengesetzt. Damit wurden Töne angeschlagen 10

Vgl. Geschichte der Universität Jena, a. a. O., S. 267 ff.

I V . D i e Zeit der Französischen R e v o l u t i o n

97

wie sie bisher noch von keinem historischen Katheder einer deutschen Universität erklungen waren. In dieser Rede wurde unmittelbar sichtbar, daß die bürgerlichnationale Bewegung nun auch ihren Platz an den Universitäten zu erobern begann. Das mit Schillers Rede aufgestellte Programm zu verwirklichen hieß nicht zuletzt, die Thematik der Forschung zu ändern und sie mit den Interessen der antifeudalen und nationalen Kräfte in Übereinstimmung zu bringen. Diese Änderung, die für die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den folgenden Jahrzehnten charakteristisch war, zeigte sich in der Wendung zu drei neuen Forschungsgebieten. Zum ersten richtete sich das Interesse auf die griechische und römische Antike. Niebuhrs Sympathie galt den freien Bauern des alten Rom, die als Vorbild für die Gegenwart aufgefaßt wurden. „Eine wahre Geschichtsschreibung findet nur für das statt, was wir selbst erlebt haben", führte er zur Rechtfertigung seiner aktualisierenden Betrachtungsweise an. Das zweite neue Thema der Geschichtswissenschaft dieser Zeit waren die Volksbewegungen der Vergangenheit. Die Untersuchung der Befreiungsbewegungen vergangener Zeiten und anderer Länder und die Erinnerung an sie sollten das Selbstgefühl des Volkes heben und das Nationalbewußtsein beleben. Es genügt, in diesem Zusammenhang Schillers „Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande" zu nennen. 11 Das dritte neue, für die weitere Entwicklung bedeutungsvollste Thema war die Zuwendung zur vaterländischen Geschichte, die sich in dem Maße durchsetzte, wie das napoleonische Frankreich sich immer offensichtlicher als Bedrohung für die nationale Unabhängigkeit Deutschlands erwies. Es war insbesondere Heinrich Luden, der im Wintersemester 1808 an der Universität Jena vor einer großen Zahl von Hörern über deutsche Geschichte las und damit dem Studium der Geschichte der deutschen Nation die zentrale Stellung in der Geschichtswissenschaft gab. 12 Von diesen Richtungen grenzte sich seit 1792 immer deutlicher eine dritte Richtung ab. Neben der aristokratisch-reaktionären und der bürgerlich-reformerischen entstand eine entschieden demokratische Strömung im politischen Denken Deutschlands. Ansätze dazu hatte es unter den Freunden der Revolution schon früher gegeben, so etwa bei Wilhelm Ludwig Weckhrlin (1739—1792) und dem braunschweigischen Publizisten Jakob Mauvillon. Diese Ansätze weiterzuführen wurde zwar dadurch erleichtert, daß in Frankreich alle Gegensätze der damaligen Gesellschaft offen ausgetragen wurden, wurde aber dadurch erschwert, daß in Deutschland diese Gegensätze noch gar nicht völlig herangereift waren. Das ist 11

V g l . Engelberg,

Ernst,

Friedrich Schiller

als Historiker,

in:

Studien

über

die

deutsche Geschichtswissenschaft, B d 1, Berlin 1963, S. 11 ff. 12 D i e ersten vier dieser Vorlesungen wurden unter d e m T i t e l „ E i n i g e W o r t e über das S t u d i u m der v a t e r l ä n d i s c h e n G e s c h i c h t e " 1 8 1 0 veröffentlicht. V g l . Karl,

Heinrich L u d e n ,

in:

B d 1, a. a. O., S. 9 3 ^ 7

Streisand, Geschichtliches Denken

Studien über die deutsche

Obermann,

Geschichtswissenschaft,

98

I V . Die Zeit der Französischen Revolution

eine Ursache dafür, daß die deutschen Demokraten, im zersplitterten und rückständigen Deutschland voneinander isoliert und ohne den Rückhalt einer im gesamtnationalen Rahmen organisierten Massenbewegung, ihre Ideen in mehr oder minder abstrakter Form oder — wie etwa Fichte — im Gewände einer idealistischen Philosophie vortrugen. Umgekehrt vermochte es Georg Förster, der in der Mainzer Republik den Anschluß an eine Massenbewegung fand, im Denken und Handeln diese Schranken zu überwinden. In zweifacher Hinsicht hatten ja schon seine „Ansichten vom Niederrhein'* (seit 1791) eine grundsätzlich neuartige Auffassung der Geschichte enthalten. Das Neue bestand einmal darin, daß Forster besonderes Interesse für die Bedeutung der materiellen Faktoren des gesellschaftlichen Lebens gezeigt hatte. „Die Art der Beschäftigung . . . h a t . . . in der Länge der Zeit wenigstens, mittelbaren Einfluß auf die Verschiedenheit der körperlichen Bildung und folglich auch des Charakters." 13 Ähnlich, wenn sich auch in dieser Bemerkung deutlicher gewisse Züge eines mechanischen Materialismus zeigen, betonte er bei einem Vergleich zwischen den Deutschen, den Böhmen, den Ungarn und den Belgiern: „Die Verschiedenheit des Bodens, der Lage, des Himmelstrichs bestimmt die Mannigfaltigkeit im Menschengeschlecht." 14 Zum anderen aber ist für Forster das Vertrauen in die Kräfte der Volksmassen charakteristisch, aus dem heraus er zum Führer der ersten demokratischen Republik auf deutschem Boden, der Mainzer Republik, wurde: „Es sei die Bewegung, die einmal entstanden ist, auch noch so schwach, so ist sie doch durch keine Macht mehr vertilgbar." 15 Ohne daß Forster selbst die Möglichkeit gehabt hätte, größere geschichtswissenschaftliche Arbeiten zu veröffentlichen, sind diese seine geschichtstheoretischen Ansichten doch von so grundsätzlicher Bedeutung, daß sie in unserem Zusammenhang eine Erwähnung verdienen. Aber es gab darüber hinaus in den Jahren der Französischen Revolution auch bereits in Deutschland Ansätze zum utopischen Sozialismus. Carl Wilhelm Frölich (1759—1828), Geheimsekretär am Generalpostamt zu Berlin, später (seit 1792) Landwirt in Scharfenbrück bei Luckenwalde, kritisierte in seiner anonym veröffentlichten Schrift „Über den Menschen und seine Verhältnisse" (Berlin 1792) das Privateigentum und gelangte in seiner Auseinandersetzung mit dem Christentum bereits zu atheistischen Schlußfolgerungen. 16 Er forderte in seiner in Dialogform gehaltenen Schrift die Einführung des Gemeineigentums, da nur dadurch auch das gemeinschaftliche Glück gesichert werden könne. Franz Heinrich Ziegenhagen (1753—1806), der einer wohlhabenden deutschen Kaufmannsfamilie aus Straßburg entstammte, lernte in Hamburg das Elend der is Forster,

Georg, Ansichten v o m Niederrhein, in: Werke, hg. v. der

Deutschen

Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Reihe I, B d 9, bearb. v. Gerhard Steiner, Berlin 1958, S. 11. 14

Ebenda, S. 175.

16

Vgl. Steiner,

15

Ebenda, S. 318.

Gerhard, Der Traum

v o m Menschenglück. Leben und literarische

Wirksamkeit von Carl Wilhelm und Henriette Frölich, Berlin 1959.

I V . Die Zeit der Französischen Revolution

99

plebejischen und frühproletarischen Schichten kennen und kritisierte eine Gesellschaft, in der der Handel nur dem Luxus der Reichen dient, in der der Ackerbau verfällt und in der immer neue Kriege, „die schauervollste Übertreibung menschlicher Verirrungen"17, entfesselt werden. Schon in den letzten Jahren der Französischen Revolution hatten sich diese Hauptströmungen im politisch-historischen Denken in Deutschland herausgebildet. Erst in den folgenden Jahren wurden aber im Kampf um den nationalen Führungsanspruch die Auffassungen der Hauptströmungen theoretisch verallgemeinert, systematisiert und präzisiert. Den Anlaß dazu bildete die Einsicht, daß sich auch in Deutschland der Verfall der Feudalordnung beschleunigte und die bürgerliche Umgestaltung zur unmittelbar aktuellen Notwendigkeit geworden war. Auch für die Romantiker, ja gerade für sie, war die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution von grundlegender Bedeutung. Aus der Enttäuschung über die Jakobinerdiktatur oder über französische Expansionsbestrebungen unter Napoleon wurde aber bei ihnen bald eine Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft und darüber hinaus alles historisch Fortschrittlichen überhaupt. Es blieb den Romantikern nicht verborgen, daß sich auch Deutschland unaufhaltsam in ein modernes Land verwandelte. 18 Gerade das lag dem Wunsch nach einer Flucht in vergangene Zeiten oder ferne Länder und nach einer ironischen oder sentimentalen Abwendung von der Wirklichkeit zugrunde. In der Praxis wurde aber daraus für die protestantische Romantik die Unterstützung des preußischen Weges der 17

18

7*

Ziegenhagen, Franz Heinrich, Lehre vom richtigen Verhältnis zu den Schöpfungswerken und die durch öffentliche Einführung derselben allein zu bewirkende allgemeinmenschliche Beglückung, Hamburg, 1792, S. 331. W e n n es für die deutsche Romantik charakteristisch ist, daß sie den Führungsanspruch des Adels — wenn auch mit gewissen Konzessionen an die Bourgeoisie — vertrat, so gilt diese Charakteristik nicht für die französische sowie vor allem nicht für die englische Romantik. Eudo C. Mason (Edinburgh) stellt in seinem B u c h „Deutsche und englische R o m a n t i k " (Göttingen 1959) richtig fest: „ E i n e Hauptschwierigkeit beim Versuch, deutsche und englische R o m a n t i k zu vergleichen, ergibt sich daraus, daß das Wort .Romantik' (.romanticism') mit abweichender Sinngebung in den beiden Sprachen verwendet w i r d " (S. 3). ,,. . . das, was sich in England gleichzeitig mit der deutschen R o m a n t i k abspielt, hat in mancher Hinsicht mehr mit dem deutschen Sturm und Drang als mit der deutschen R o m a n t i k gemeinsam, ist in der T a t so etwas wie ein verspäteter Sturm und Drang, und dabei bleibt es auch im wesentlichen bis zuletzt, ohne daß es in England zu weiteren Entwicklungen gekommen wäre, die mit der Weimarer Klassik und der Jenaer Romantik verglichen werden könnten. Dort, wo in der deutschen Romantik Antriebe des Sturms und Drangs weiterleben und fortgesetzt werden, stimmt sie einigermaßen mit der englischen Romantik überein, dort aber, w o sie neue, eigene esoterischere und subtile Wege geht, unterscheidet sie sich grundsätzlich von der englischen Romantik. Daher kommt es, daß englische Leser spezifisch .Romantisches' in ihrem Verstand viel eher in Werken des deutschen Sturms und Drangs wie .Götz von Berlichingen' oder .Faust' als in Werken der deutschen Romantik erkennen" (S. 17).

100

I V . Die Zeit der Französischen Revolution

kapitalistischen Entwicklung, für den es ja gerade charakteristisch ist, daß bei dem unaufhaltsamen Umwandlungsprozeß die feudalen Verhältnisse und Einrichtungen soweit wie möglich geschont wurden, und für die katholische Romantik die Unterstützung der Politik der Habsburger und vor allem Metternichs, der in der „Heiligen Allianz" das auch von den Romantikern erstrebte Ziel erreichte. Umgekehrt aber erreichte in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts das bürgerlich-fortschrittliche Geschichtsdenken in der deutschen Klassik seinen Höhepunkt. Den Schluß unserer Darstellung bildet deshalb die Charakteristik der geschichtstheoretischen Auffassungen der bedeutendsten Vertreter der klassischen deutschen Philosophie und Dichtung — Fichtes, Hegels und Goethes — und des Zusammenhanges dieser Auffassungen mit dem Prozeß des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland. Johann Gottlieb Fichtes eigenartige Stellung beruht darauf, daß er von seinen Jugendjahren an die zeitgenössischen deutschen Zustände vom Standpunkt des demokratischen Kleinbürgertums aus kritisierte und ihre Veränderung forderte. 1 9 Daraus entspringt Fichtes Konzeption der deutschen Geschichte, für die zweierlei charakteristisch ist: zum ersten die entschiedene Kritik an der Feudalordnung, deren Entstehung und historischer Verfall Fichte zeit seines Lebens beschäftigten, zum zweiten die Forderung nach einer bürgerlich-demokratischen Erneuerung Deutschlands. Fichtes Konzeption der deutschen Geschichte ist also nicht nur und und nicht im wesentlichen auf die Vergangenheit orientiert, sondern der in seiner Philosophie formulierten tätigen Haltung entsprechend, gilt diese Konzeption zugleich und vor allem der Perspektive der weiteren Entwicklung. Die demokratische Grundhaltung Fichtes und der ihr entsprechende Wille zur Veränderung der Wirklichkeit werden in der bürgerlichen Fichte-Legende der imperialistischen Epoche übergangen. Im Gegensatz dazu sehen wir gerade in dieser Grundhaltung das Wesentliche. Seine Auffassungen von der deutschen Geschichte haben sich im einzelnen gewandelt, aber ihre Einheit im Wandel ist das Grundlegende: Es besteht, das sei noch einmal betont, in der Kritik der deutschen Zustände vom Standpunkt der kleinbürgerlichen Demokratie aus, in der Kritik vor allem der feudalen Verhältnisse in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat und in der Forderung nach ihrer Veränderung. Mit anderen Worten: Fichtes nationalgeschichtliche Konzeption soll den nationalen Führungsanspruch der bürgerlichdemokratischen Kräfte begründen und verkünden. Bereits in den 1788 entstandenen, unveröffentlichten „Zufälligen Gedanken in einer schlaflosen Nacht", dem ersten und interessantesten Dokument seiner Frühperiode, setzte er sich mit dem Druck des Adels auseinander, kritisierte er die Verschwendung an den Höfen, die Willkür der feudalen Justiz und den Verfolgungsgeist des Klerus. E r beklagte die „Vernachlässigung des allgemeinen Nützlichen" in der Wissenschaft und brachte all diese Erscheinungen in Zusammenhang mit der „äußersten Verachtung des Ackerbaus" und dem „Elend der Ackerbauer". 19

Das hier nur Skizzierte wird ausgeführt in: Streisand, Joachim,

Johann Gottlieb

Fichte und die deutsche Geschichte, in: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, B d 1, a. a. O., S. 32ff.

I V . Die Zeit der Französischen Revolution

101

Wir unterscheiden im folgenden vier Perioden im Werke Fichtes. Was sie trennt, ist nicht, daß sich die bereits charakterisierte Grundhaltung geändert hätte, sondern lediglich, daß jeweils ein anderes Moment dieser Konzeption in den Vordergrund tritt. In der ersten Etappe seines Schaffens, die bis zum Jahre 1794 reicht, bilden die beiden Schriften zur Verteidigung der Französischen Revolution den Höhepunkt. Fichte erhebt sich hier bis zur Forderung einer umfassenden demokratischen Umgestaltung der deutschen Verhältnisse. Bei der Verteidigung der Abschaffung adliger und geistlicher Privilegien in Frankreich stützt er sich auf die Vertragstheorie Rousseaus. Diese Theorie legt er auch den historischen Betrachtungen über den Ursprung und den Wandel der historischen Rolle des Feudalismus zugrunde — ein Thema, das, auch wenn er sonst für die Geschichtswissenschaft wenig Interesse zeigte, im Mittelpunkt seiner historischen Überlegungen stand. Seiner Ansicht nach hätte es bei den germanischen Völkerschaften keine adligen Vorrechte gegeben. „Der Eroberer teilte, wie er schuldig war, die Beute unter seine getreuen Waffenbrüder." 20 Damals war also Waffenbrüderschaft Grund des Lehnsbesitzes. Später hätte sich das Verhältnis umgekehrt. Mit der Erblichkeit wurde Lehnsbesitz Grundlage der Waffenbrüderschaft, die die Lehnsleute dem König zu leisten hatten. Steht schon hier die Frage der Eigentumsformen an hervorragender Stelle in Fichtes historischen Überlegungen, so wird sie für die Gegenwart und Zukunft noch stärker betont: Das Gleichheitsideal Rousseaus wird auf die ökonomischen Verhältnisse mit der Forderung, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, ausgedehnt. In der zweiten Periode (1795—1799) mußte die Hoffnung auf Verwirklichung der Forderungen der kleinbürgerlichen Demokratie in Deutschland in weitere Ferne rücken. Jetzt wurden die erkenntnistheoretischen, metaphysischen und staatstheoretischen Grundlagen der Philosophie weiter ausgearbeitet. Zu einer Zeit, da zwar Preußen mit dem Baseler Frieden 1795 aus dem ungerechten Krieg gegen die französische Republik ausgeschieden war, Österreich und das Reich diesen Krieg aber fortsetzten, gewann die Frage Krieg oder Frieden besondere Bedeutung. Das kleinbürgerlich-demokratische Ideal einer homogenen Gesellschaft kleiner Produzenten wurde auch der Untersuchung der internationalen Beziehungen zugrunde gelegt. In der Rezension von Kants „Zum ewigen Frieden" versucht Fichte zu zeigen, daß eine solche Gesellschaft auch den Frieden garantieren würde. „Durch das fortgesetzte Drängen der Stände und der Familien untereinander müssen sie (die Staaten — J. S.) endlich in ein Gleichgewicht des Besitzes kommen, bei welchem jeder sich erträglich befindet." 21 Nach der Vertreibung von dem Lehrstuhl in Jena begann 1799 die dritte Periode im Leben Fichtes. Mit dem zweiten Koalitionskrieg (1799—1802) wurde offenbar, 20

Fichte, Johann Gottlieb, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution. Sämtliche Werke, hg. v. J. H. Fichte, B d 6, Leipzig (1844), S. 200.

21

Fichte, Johann Gottlieb, Rezension von K a n t s „ Z u m ewigen Frieden", in: Sämtliche Werke, hg. v. J. H. Fichte, B d 8, Leipzig o. J., S. 435.

102

I V . Die Zeit der Französischen Revolution

daß auch die deutschen Fürsten nun zu Reformen gezwungen sein würden. Der letzte deutsche Territorialstaat, auf den sich dieser Einfluß des bürgerlichen Frankreichs auswirkte, war Preußen, dessen herrschende Klassen zu dieser Zeit noch dem Wahn huldigten, durch starres Festhalten an den alten, feudalen und militaristischen Prinzipien den historisch notwendigen Veränderungen ausweichen zu können. Fichte fand in Berlin zunächst weder ein angemessenes Wirkungsgebiet noch den Anschluß an einen größeren Kreis Gleichgesinnter. Das drückt sich auch in seinem Buch „Der geschlossene Handelsstaat" aus. Das kleinbürgerlich-demokratische Gleichheitsideal wird hier seiner antifeudalen politischen Tendenz beraubt. Es tritt nur einer seiner Aspekte, nämlich der einer Rückkehr zum Zunftsystem, in Erscheinung. Fichte vertritt in diesem Buch die Vorstellung, die modernen Staaten seien durch den Zerfall eines früher angeblich einheitlichen „christlichen Europa" entstanden. Die Konstituierung einzelner Staaten, die sich auf Politik und Gesetzgebung beschränkt hat, müsse nun auch auf die Wirtschaft ausgedehnt werden. Mit dieser Vorstellung einer angeblichen Einheit Europas im Mittelalter zeigt sich eine Annäherung an die feudalreaktionären Ideen der Romantik. Zum Unterschied von den Romantikern jedoch war Fichte auch in dieser Periode von der historischen Notwendigkeit des Prozesses der Herausbildung der modernen Nationen überzeugt. Die letzte Periode im Leben und Schaffen Fichtes hat den Aufschwung der bürgerlich-nationalen Bewegung zur Grundlage, den die Zerschlagung des altpreußischen Feudalstaates durch die französischen Armeen im Kriege von 1806/07 auslöste. Die Rolle des bürgerlichen Frankreichs unter dem Kaiser Napoleon änderte sich nun. Nach innen und außen gesichert, wurde es zum Unterdrücker der Völker. Bürgerliche Umgestaltungen mußten nun gegen französischen Widerstand durchgesetzt werden und umgekehrt: Solche Umgestaltungen waren die Voraussetzung für die nationale Befreiung. Die bürgerlich-nationale Bewegung, die dies begriff, nahm einen Aufschwung. Auch für Fichte war dies ein neuer Aufschwung. In das im übrigen unverändert gebliebene System seiner politischen Ideen wurde nun die Forderung nach der nationalen Einheit Deutschlands aufgenommen. Daß dieses System unverändert blieb, zeigt zugleich, welchen sozialen Inhalt für ihn die nationale Frage hatte. In seinen „Reden an die deutsche Nation" forderte er eine innere Erneuerung Deutschlands als Voraussetzung zur Befreiung von der Fremdherrschaft und zur Erringung der nationalen Einheit. Er rief dazu auf, das Reformwerk, das in diesen Monaten begonnen hatte und das Friedrich Engels den Beginn der bürgerlichen Revolution in Preußen nennt, durch eine grundlegende Veränderung des Erziehungswesens zu ergänzen. Diese Nationalerziehung, die vor allem „die große Mehrzahl, auf welcher das gemeine Wesen recht eigentlich ruht, das Volk" 2 2 zu ergreifen habe, war für ihn der wich22

Fichte, Johann Gottlieb, Reden an die deutsche Nation: Sämtliche Werke, hg. v. J. H. Fichte, B d 7, Leipzig (1845), S. 277.

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tigste Beitrag zur Verwirklichung des demokratischen Nationalideals: des Ideals einer Nation gleichberechtigter Staatsbürger, die dem Fortschritt des Menschengeschlechts dienen, indem sie sich von den Fesseln des Feudalismus befreien. Die Rückständigkeit Deutschlands und die Schwäche der antifeudalen Bewegung dieser Zeit fanden ihren Ausdruck darin, daß sich der nationale Führungsanspruch der bürgerlich-demokratischen Kräfte vorerst nur auf das Gebiet der Ideologie erstreckte. Fichte kleidete seine Forderungen in die Hülle einer idealistischen Philosophie und erwartete ihre Verwirklichung nicht von den Volksmassen — die Reden wurden ja auch nur vor einem recht kleinen Hörerkreis gehalten. Alle Hoffnungen setzte er vielmehr zunächst auf eine Veränderung der Erziehung. Zur Begründung seines Programms erdachte er darüber hinaus eine Geschichtskonstruktion, nach der die Deutschen die Wohnsitze eines angeblichen germanischen Stammvolkes und ihre ursprüngliche Sprache behalten hätten und daher ein „Urvolk" seien. Diese Konstruktion, die von der späteren imperialistischen Fichte-Legende mißbraucht werden konnte und mißbraucht worden ist, um ihn in einen geistigen Wegbereiter der Expansion und des Krieges umzufälschen, hatte aber bei ihm in Wirklichkeit keinerlei Tendenz der Rechtfertigung nationaler Unterdrückung. Fichte wandte sich gegen die unaufhörlichen Eroberungskriege der herrschenden Mächte und forderte, daß Deutschland, statt sich in Zwistigkeiten anderer Staaten ziehen zu lassen, endlich „sich mit sich selbst verbünde". In vorsichtigen, aber eindeutigen Wendungen stellte er die „Einheit der Regierung" der ganzen deutschen Nation in der Form der Republik als die günstigste Perspektive dar. Wenn in den „Reden an die deutsche Nation" manche dieser Forderungen aus Rücksicht auf die französischen Okkupanten einerseits, auf die preußische Zensur andererseits, die ja auch tatsächlich die Reden bei ihrer Veröffentlichung verstümmelte, nur angedeutet werden konnten, so werden sie in seinem politischen Testament unverhüllt ausgesprochen. Dieses politische Testament, der „Entwurf zu einer politischen Schrift im Frühling 1813", ist eines der bedeutendsten Dokumente des deutschen politischen Denkens dieser Zeit. Auf der neuen, höheren Stufe, die durch die Französische Revolution, die Revolutionskriege und die nationalen Befreiungskämpfe gegen die napoleonische Fremdherrschaft erreicht worden war, werden in diesen Fragmenten die „Zufälligen Gedanken" von 1788 neu formuliert. Ebenso wie diese Notizen aus seiner Jugend ist auch der Entwurf von 1813 deshalb von besonderem Interesse, weil er ohne Rücksicht auf die Zensur verfaßt wurde und daher unmittelbaren Einblick in das Wesen der politischen Auffassungen Fichtes geben kann. Bereits in den Überlegungen zur Vorrede der geplanten Schrift wird das Ziel, ein freies, einheitliches und unabhängiges Deutschland, deutlich, werden aber auch die Schwierigkeiten deutlich, die der Verwirklichung dieses Planes entgegenstehen: „Was . . . will ich? Das Volk anfeuern durch die vorausgesetzte Belohnung, politisch sich frei zu machen? Es will nicht frei sein, es versteht noch nichts von der Freiheit. — Die Großen erschüttern? Dies wäre unpolitisch im gegenwärtigen Momente. Aber die Gebildeten, bis zur Idee der Freiheit Entwickelten auf-

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fordern, daß sie die Gelegenheit brauchen, um wenigstens theoretisch ihr Recht geltend zu machen und auf die Zukunft zu weisen." 23 Die Fragmente beschäftigen sich dann mit der Frage, was eigentlich ein Volkskrieg sei. Bald fällt die entscheidende Formulierung, „daß es zu einem deutschen Volk garnicht kommen kann, außer durch Abtreten der einzelnen Fürsten" 24. Das ist ein Gedanke, den wohl kaum ein anderer der Zeitgenossen auch nur zu fassen wagte. Fichte, so dürfen wir sagen, antizipiert hier Ziele der entschiedensten Demokraten aus der Revolution von 1848/49. Ja, es wird nicht nur die Einheit Deutschlands in einer Republik als Perspektive der zukünftigen deutschen Entwicklung bezeichnet — Fichte fordert hier auch eine Nationalisierung des Bodens: „Der terminus ad quem ist überhaupt: durchaus kein Landeigentum, sondern lebenslängliche Nutznießung gegen die nötigen Abgaben." 2 5 Die Gedanken gehen also hier über die bloße Forderung einer staatlichen Aufsicht über die Verteilung der Arbeitskräfte, wie sie etwa in der „Grundlage des Naturrechts" und dem „Geschlossenen Handelsstaat" enthalten waren, hinaus. Auch über den Weg dazu war sich Fichte klar: die Abschaffung der „Privilegien des Adels"26. Die Überlegungen kehren dann zum Problem der deutschen Einheit zurück. Allein durch die Abschaffung feudaler Privilegien „werden wir nicht Deutsche, und unsere Freiheit bleibt auch außerdem, wegen der kleinlichen eigennützigen Interessen, ungesichert. Alle Kriege der Deutschen gegen Deutsche sind dafür schlechthin vergeblich gewesen, auch ist fast immer für die Interessen des Auslandes gefochten worden, dessen einzelne Provinzen wir wurden" 27 . Von neuem wird die Perspektive einer einheitlichen Republik sichtbar: „Kein Volk von Sklaven ist möglich. Nicht mehr umzubilden daher wäre ein Volk, noch zum Anhang eines anderen zu machen, wenn es in einen regelmäßigen Fortschritt der freien Verfassung hineingekommen. Dazu also ist es fortzubilden, um seine nationale Existenz zu sichern. Dies ein Hauptgedanke!" 28 Gewiß: über den Weg zu diesem Ziel war sich Fichte nicht klar. Von Preußen heißt es: „Der Geist seiner bisherigen Geschichte zwingt es . . . fortzuschreiten in der Freiheit, in den Schritten zum Reiche, nur so kann es fortexistieren. Sonst geht es zu Grunde." 29 In diesem Zusammenhang taucht aber die wirklichkeitsfremde Illusion auf, der preußische König würde nicht nur „Zwingherr zur Deutschheit" werden, sondern 23

Fichte, Johann Gottlieb, A u s dem Entwurf zu einer politischen Schrift im Frühling 1813, in: E b e n d a S. 546.

24

Ebenda, S. 547.

25 Ebenda, S. 548. 26

Ebenda.

27

Ebenda.

28

Ebenda, S. 549f. (Hervorgehoben bei Fichte).

29

Ebenda, S. 554.

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nach seinem Tode würde sich Deutschland auf friedlichem Wege in eine Republik verwandeln können.30 A m Ende dieser Fragmente schildert Fichte die „besonderen Züge im Bilde eines deutschen Fürsten": „Fechten für ein fremdes Interesse, lediglich um der Erhaltung seines Hauses willen: — Soldaten verkaufen; — Anhängsel sein eines fremden Staates. Seine Politik hat gar kein Interesse, als den Flor und die Erhaltung des lieben Hauses." 31 „Dies alles hat die Deutschen bisher gehindert, Deutsche zu werden: Ihr Charakter liegt in der Zukunft: jetzt besteht er in der Hoffnung einer neuen und glorreichen Geschichte." 32 Dreierlei ist nach Fichtes Ansicht der „Grundcharakter der Deutschen": „Erstens, Anfangen einer neuen Geschichte, zweitens Zustandebringen ihrer selbst mit Freiheit; drittens, bisher haben eigentlich nur . . . die Gelehrten die künftigen Deutschen vorgebildet." 33 „Der Einheitsbegriff des deutschen Volkes ist noch gar nicht wirklich, er ist ein allgemeines Postulat der Zukunft." 34 Diesen „Anfang einer neuen Geschichte" haben — und darin hat die Geschichte Fichte recht gegeben — die deutschen Fürsten nicht machen können. Auch die deutsche Bourgeoisie war nicht in der Lage, diese Aufgabe zu lösen, unterwarf sie sich doch dem Weg der Einigung von oben, der mit der Reichsgründung 1871 Militarismus und Junkerherrschaft fortbestehen ließ und damit schwerste Belastungen für die ganze Nation mit sich brachte. Die einheitliche demokratische Republik kann nur durch eine Erneuerung von Grund auf — eine Erneuerung, die nur unter der Führung der Arbeiterklasse möglich ist — erreicht werden. Das war die Lehre, die Karl Marx und Friedrich Engels aus der deutschen Geschichte zogen, das war der Leitfaden, an dem die revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland seither ihren Kampf orientierte, und das ist die Politik, die der erste sozialistische Staat unserer Geschichte verwirklicht. Eine neue Geschichte anzufangen — in dieser Forderung gipfelte die Beziehung zwischen Fichte und der deutschen Geschichte. Sein Erbe wird gewahrt in dem deutschen Staat, der diesen Anfang gemacht hat. Die dialektische Methode Georg Wilhelm Friedrich Hegels und sein System eines objektiven Idealismus entstanden in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Prozeß des Übergangs von Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert.35 Die Philosophie Hegels bildete eine Wider30 Ebenda, S. 565. 31 Ebenda, S. 571. 32 Ebenda. 33 Ebenda, S. 571 f. 34 Ebenda, S. 573. 35 Das hier nur Skizzierte wird ausgeführt in: Streisand, Joachim, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und das Problem des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland, in: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Bd 1, S. 56fr.

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Spiegelung dieses Prozesses vom Standpunkt derjenigen Teile des deutschen Bürgertums, die die bürgerliche Umgestaltung auf dem Wege der Reform von oben anstrebten, also in der Form eines Klassenkompromisses zwischen Adel und Bürgertum unter der Führung des Bürgertums. Diese Widerspiegelung hatte nicht nur passiven Charakter — Hegels philosophisches Denken ist untrennbar mit seinen politischen Auffassungen verbunden, und die entscheidenden Impulse für die Ausbildung und Abwandlung seiner philosophischen Auffassungen entsprangen der Entwicklung seiner gesellschaftlich-politischen Haltung. Noch während der Kongreß, der die Ergebnisse des ersten Koalitionskrieges fixieren sollte, in Rastatt tagte, begann bereits der Krieg der zweiten Koalition, die auf den Bündnissen zwischen England, Rußland und Österreich beruhte, gegen Frankreich. Anfängliche Mißerfolge veranlaßten das französische Großbürgertum zu der Forderung, an die Stelle des Direktoriums eine starke und stabile Staatsgewalt zu setzen. Das war die Situation, in der Napoleon Bonaparte am 18. Brumaire (9. November) 1799 seinen Staatsstreich durchführen und alle Macht in seiner Hand, der des Ersten Konsuls, konzentrieren konnte. Unter seiner politischen und militärischen Leitung wurde im zweiten Koalitionskrieg die bürgerliche Ordnung in Frankreich gegen die feudale Restauration gesichert. Frankreich konnte darüber hinaus in den folgenden Jahren die Hegemonie in Europa erringen und politische und soziale Wandlungen in den Nachbarstaaten durchsetzen, die auch für die Folgezeit nachhaltige Wirkimg hatten. Der Verlauf des zweiten Koalitionskrieges machte die Veränderung im internationalen Kräfteverhältnis unmittelbar sichtbar, auch wenn die bürgerliche Ordnung in Frankreich noch nicht endgültig nach außen gesichert war. Daß Napoleon mindestens einige der deutschen Fürsten zu Reformen zwingen, sie aber zugleich bei der Unterdrückung der Volksbewegungen unterstützen würde, zeichnete sich nun immer deutlicher ab. So ist es kein Zufall, daß sich gerade in dieser Zeit die verschiedenen Strömungen im geistigen Leben Deutschlands immer deutlicher voneinander differenzierten und daß die wesentlichen Züge der Philosophie Hegel gerade in diesen Jahren ausgebildet wurden. Nach jahrelangen, der Selbstverständigung dienenden philosophischen Überlegungen und auf Grund aufmerksamer Beobachtung der politischen Entwicklung Deutschlands unter dem Einfluß der Französischen Revolution, mit realistischem Blick für die Wandlung im internationalen Kräfteverhältnis zwischen Kapitalismus und Feudalismus, wie sie am Ende des zweiten Koalitionskrieges sichtbar geworden war, war Hegel am Ende seiner Jugendperiode zu der Einsicht gelangt, daß die bürgerliche Umgestaltung Deutschlands historisch notwendig sei. Diese Einsicht formuliert er in der Schrift „Die Verfassung Deutschlands". Sie war die Grundlage auch für die endgültige Ausgestaltung seines philosophischen Systems. Zur gleichen Zeit, in der er an dieser politischen Schrift arbeitete, formulierte er in einem Fragment, das mit dem 14. September 1800 datiert ist, die Umrisse seines Systems. 36 36

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Tübingen 1907, S. 343 ff.

Theologische Jugendschriften, hg. v. H. Nohl,

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Hegel bejahte die bürgerliche Gesellschaft als etwas Neues und Fortschrittliches. Aber er zog Reformen, deren Ergebnisse bürgerliche Verhältnisse bilden würden, der bürgerlichen Revolution vor. So sprachen aus seinen politischen Anschauungen von nun an sowohl die nüchterne Einsicht, daß eine Massenbewegung gegen Adel und Territorialfürsten in Deutschland fehlte, als auch eine durch die Erfahrungen der Jakobinerdiktatur verstärkte Furcht vorsolchen Massenbewegungen. Daß der Einfluß des bürgerlichen Frankreichs auf die deutschen Verhältnisse dazu führen würde, daß die deutschen Fürsten zu solchen Reformen gezwungen sein würden, sah Hegel voraus. Er sah die Tatsache, daß diese Reformen ohne unmittelbare Mitwirkung der Volksmassen vor sich gingen, gerade für einen Vorzug der deutschen vor der französischen Entwicklung an. Eben dieser Zwiespalt in seinem politischen Denken ist auch für die um 1800 ausgebildete Philosophie Hegels charakteristisch, in der das idealistische System der dialektischen Methode widerspricht. Dieses System eines objektiven Idealismus, wie es im Systemfragment von 1800 vorgelegt wird, ging davon aus, daß das Bewußtsein primär gegenüber der Materie sei, womit freilich nicht ein individuelles Bewußtsein eines einzelnen Menschen gemeint war, sondern ein absoluter Geist schlechthin. Die Beziehung zwischen dem absoluten Geist und dem individuellen Bewußtsein des Menschen, in welchem allein dieser absolute Geist sich selbst erkennt, näher zu bestimmen war die theoretische Notwendigkeit, die Hegel zur Ausbildung der dialektischen Methode veranlaßte. Dieser seiner Dialektik liegt aber vor allem der Eindruck der Umwälzungen dieser Jahrzehnte, der Erneuerung Frankreichs und Europas unter dem Einfluß der Revolution, zugrunde. In klassischen Worten hat Friedrich Engels die Grundlage und die Bedeutung der Dialektik Hegels formuliert: „Ihren Abschluß fand diese neuere deutsche Philosophie im Hegeischen System, worin zum ersten Mal — und das ist sein großes Verdienst — die ganze natürliche, geschichtliche und geistige Welt als ein Prozeß, d. h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen, dargestellt und der Versuch gemacht wurde, den inneren Zusammenhang in dieser Bewegung und Entwicklung nachzuweisen."37 Bekanntlich wurden die letzten Seiten der „Phänomenologie des Geistes", in der der erste Versuch gemacht wurde, die dialektische Methode auf die gesamte Weltgeschichte anzuwenden, in der Nacht vor der Schlacht von Jena abgeschlossen — mehr als ein historischer Zufall, wenn man begreift, daß der Sieg der französischen Armeen über das altpreußische Heer eben den Weg zur bürgerlichen Umgestaltung Deutschlands frei gemacht hat, deren historische Notwendigkeit Hegel in diesem Werk nachzuweisen bemüht war. Auch wenn der Sieg Napoleons für ihn persönlich große Schwierigkeiten zur Folge hatte — die Studentenzahlen der Universität Jena sanken so ab, daß er aus materiellen Gründen eine andere Tätigkeit suchen mußte und sie auch bald als Redakteur der „Bamberger Zeitung" fand — blieb 37

Engels, Friedrich, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: Marx/Engels, Werke, Bd 19, Berlin 1962, S. 206.

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er doch davon überzeugt, daß der französische Kaiser den Fortschritt zur bürgerlichen Gesellschaft verkörpere. Am 13. Oktober 1806 schrieb er an seinen Freund Niethammer die oft zitierten Worte: „Den Kaiser — diese Weltseele — sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; — es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferd sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht." 38 Hegel unterstützte auch die Reformpolitik im Rheinbund als Redakteur der „Bamberger Zeitung" (1807—1808). Zu einer Zeit, da das Moment der nationalen Unterdrückung in den Beziehungen zwischen dem napoleonischen Frankreich und seinen Nachbarländern bereits ausschlaggebend geworden war, sympathisierte er immer noch mit dem französischen Kaiser. Dies entsprang nicht spießbürgerlicher Untertänigkeit oder Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der deutschen Nation. Hegel hoffte, daß die Rheinbundfürsten von Napoleon auf dem Wege der bürgerlichen Reform weitergetrieben werden würden: „Bisher sahen wir bei den Nachahmungen des Französischen immer nur die Hälfte aufnehmen und die andere Hälfte weglassen, diese andere Hälfte, welche das edelste, die Freiheit des Volkes, Teilnahme desselben an Wahlen, Beschließungen oder wenigstens Darlegung aller Gründe der Regierungsmaßregeln vor die Einsicht des Volkes enthält. . . doch es ist bereits viel, was Deutschland von Frankreich gelernt hat, und die langsame Natur der Allemands wird mit der Zeit noch manches profitieren. Auf einmal kann nicht alles verlangt werden." 39 Hegel war auch am Ende der Befreiungskriege noch davon überzeugt, daß die Pläne der feudalen Reaktion, das Rad der Geschichte um eine ganze historische Epoche zurückzudrehen, scheitern würden. Deshalb konnte er schließlich auch im Sieg der Gegner Napoleons eine Bestätigung seiner historisch-politischen Konzeption erkennen. Davon zeugt der wichtige Brief an Niethammer vom 29. April 1814, der nicht nur die oft zitierte Bemerkung, „es ist ein ungeheures Schauspiel, ein enormes Genie sich selbst zerstören zu sehen" enthält, sondern auch — was in der bisherigen Literatur meist übersehen wird — feststellt: „Die ganze Umwälzung habe ich übrigens, wie ich mich rühmen will, vorausgesagt. In meinem Werke (in der Nacht vor der Schlacht von Jena vollendet) sage ich p. 547: ,Die absolute Freiheit (sie ist vorher geschildert; es ist die rein abstrakte, formelle der französischen Republik, aus der Aufklärung, wie ich zeigte, hervorgegangen) geht aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land (ich hatte dabei ein Land im Sinn) des selbstbewußten Geistes über . . .'". 4 0 38

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Briefe von und an Hegel, hg. v. Hoffmeister, Johannes, Bd 1, 2. Aufl., Hamburg 1961, S. 120. Hegel an Niethammer, November 1807, Briefe von und an Hegel, a. a. O., Bd 1, S. 1 9 7 I Vgl. dazu auch den Brief vom 11. Februar 1808, ebenda, S. 218, in dem nach der Einführung des Code Napoleon auch die Übernahme weiterer „Teile der französischen oder westfälischen Konstitution" erhofft wird. Briefe von und an Hegel, a. a. O., Bd 2, S. 28.

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Auch im Jahre 1814 berief sich Hegel also noch auf die bereits zitierte zentrale Stelle aus der „Phänomenologie des Geistes", in der die Bedeutung der Französischen Revolution für Deutschland dargestellt und die theoretische Grundlage für die Forderung nach der bürgerlichen Umgestaltung Deutschlands gegeben worden war. „Ich halte mich daran, daß der Weltgeist der Zeit das Kommandowort zu avancieren gegeben. Solchem Kommando wird pariert; dies Wesen schreitet wie eine gepanzerte festgeschlossene Phalanx unwiderstehlich und mit so unmerklicher Bewegung, als die Sonne schreitet, vorwärts durch dick und dünne." 41 Auch als Hegel 1818 an die Universität Berlin berufen wurde, blieb er der politischen Grundüberzeugung treu, die auf einen Kompromiß zwischen Adel und Bürgertum unter bürgerlicher Führung hinauslief und in der Forderung nach Reformen von oben ihren Ausdruck fand. Wie aber vor allem das wichtigste von Hegel selbst veröffentlichte Werk seiner Berliner Zeit, die „Grundlinien der Philosophie des Rechts" (1821) zeigt, konnte und mußte derjenige, der für einen solchen Kompromiß eintrat, sich auch zu einem gewissen Opportunismus bei der Anpassung an die politischen Verhältnisse in dem jeweiligen Wirkungsbereich bereitfinden. Den Grundgedanken seiner Berliner geschichtsphilosophischen Vorlesungen faßte er mit den Worten zusammen, „die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit — ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben" 42 . Diese idealistische Konstruktion findet auch darin ihren Ausdruck, daß für Hegel die Volksmassen unfähig sind, den Lauf der Geschichte zu bestimmen, daß sie vielmehr große Persönlichkeiten brauchen, die ihnen überhaupt erst das Rechte sagen und sie zwingen, dementsprechend zu handeln. Weil Hegel willkürlich seine eigene idealistische Philosophie zum Maßstab der Beurteilung der historischen Entwicklung machte, vertrat er auch die nationalistische Auffassung, daß andere, vor allem die slawischen Völker keine wirkliche „historische" Rolle spielen könnten. Die Philosophie der Geschichte Hegels konnte daher der Rechtfertigung der Expansion der preußischen Junker und später der deutschen Imperialisten nutzbar gemacht werden. Ein weiterer Grund dafür ist, daß Hegel den Krieg nicht nur als letzte Instanz für die Entscheidung der zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen ansah, sondern ihn sogar als belebendes Element feierte. Darüber hinaus veränderte sich auch in dieser letzten Periode die Beurteilung der Rolle der Französischen Revolution für Deutschland. Hatte Hegel früher erklärt, diese Revolution wäre die Voraussetzung für Fortschritte auch in der deutschen Entwicklung gewesen — erinnert sei hier nur an die bereits mehrfach erwähnten Darlegungen der „Phänomenologie des Geistes" —, so wurde jetzt die Französische Revolution zu einem Sonderfall in der weltgeschichtlichen Entwicklung. Nach der Darstellung des späten Hegel wäre für die bürgerliche Entwicklung eine Revolution 41 42

A n Niethammer, 5. Juli 1816, a. a. O., B d 2, S. 85f. Hegel,

Georg Wilhelm

Friedrich,

Vorlesungen

über die Philosophie der

geschichte, hg. v. Georg Lasson, B d 1, 3. Aufl., Leipzig 1930, S. 40. 8

Streisand, Geschichtliches Denken

Welt-

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nur dort notwendig, wo die absolute Monarchie mit der katholischen Kirche verbündet war. „Mit der Reformation haben die Protestanten ihre Revolution vollbracht."« Und doch: auch und gerade in der Philosophie der Geschichte kommt der Widerspruch zwischen dem idealistischen System und der dialektischen Methode zum Ausdruck, findet sich eine Fülle von Beobachtungen und Ahnungen über die Dialektik in der Geschichte. Das gilt vor allem für die idealistische Konstruktion der „List der V e r n u n f t . . ., daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet" 4 4 . Hegel preßt in diese idealistische Konstruktion die tiefe Ahnung, daß es einen Fortschritt in der Geschichte gibt, daß dieser Fortschritt in den früheren Epochen sich unabhängig vom Wollen und Wissen der Menschen durchgesetzt hat und daß das bewegende Prinzip dieser Entwicklung nicht außerhalb der wirklichen Geschichte liegt, sondern das Allgemeine in den historischen Ereignissen, Auseinandersetzungen und Kämpfen selbst ist. Hegels Dialektik hatte keine revolutionäre Funktion, und daher kann es auch in bezug auf seine Methode — und erst recht in bezug auf sein System — kein „Zurück zu Hegel" geben. Aber diese Dialektik entsprang der Beobachtung eines welthistorisch fortschrittlichen Prozesses: sie bejahte wesentliche Züge dieses Prozesses, und sie gehört damit zum Besten, was unsere Nation in der Vergangenheit an geistigen Leistungen schuf und was im Werk von K a r l Marx und Friedrich Engels aufgehoben wurde, um — freilich erst in dieser verwandelten Form — lebendige Gegenwart zu werden. Mit dem Jahre 1786 begann eine neue Phase im Schaffen Johann Wolfgang Goethes, eine Phase, die wir als die des klassischen Humanismus bezeichnen. Die Nachricht vom Skandalprozeß um das Halsband des Kardinals Rohan (Herbst 1785) hatte auf ihn einen so tiefen Eindruck gemacht, daß Freunde ihn damals von Sinnen glaubten; sowohl die Fäulnis des französischen Feudalabsolutismus als auch die Unvermeidlichkeit einer Revolution waren ihm durch diesen Prozeß plötzlich und unmittelbar bewußt geworden. So sehr Goethe die bürgerliche Umgestaltung bejahte, schreckte ihn doch die Ahnung der heranreifenden Revolution. Ein solches Ereignis stimmte nicht mit seiner Idee einer stetigen Entwicklung zusammen, die für ihn kurz zuvor im März 1784 ihre Bestätigung durch seine eigene Entdeckung des Zwischenkieferknochens erhalten hatte. Die Erschütterung durch die Ereignisse in Frankreich wird aber nur vor dem Hintergrund der in Deutschland und vor allem in Sachsen-Weimar selbst gemachten Erfahrungen verständlich. 1783 hatte der badische Minister Wilhelm von Edelsheim die Konzeption eines Fürstenbundes entworfen, ein Bündnis der mittleren und kleineren Staaten des Reiches gegen die als fremd und bedrohlich empfundenen großen Feudalmonarchien Preußen und Österreich. Karl August hatte den Plan unterstützt. 43 44

Ebenda, Bd 4, S. 925. Ebenda, Bd 1, S. 83.

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Der Bund war zwar 1785 zustande gekommen — aber er war mit dem Eingreifen Friedrichs II. gerade in ein Werkzeug des preußischen Hegemoniestrebens verwandelt worden. Solche Erfahrungen machten Goethe die Fragwürdigkeit seiner politischen Tätigkeit überhaupt offenbar. „Wer sich mit der Administration abgibt, ohne regierender Herr zu sein, muß entweder ein Philister oder ein Schelm oder ein Narr sein" schrieb er in den entscheidenden Wochen des Sommers 1786, am 9. Juli. Die Flucht nach Italien — Goethe selbst sprach davon, er hätte sich aus Karlsbad „weggestohlen" — hatte ihren Anlaß in einer tiefen Resignation. Es war dies eine Resignation vor allem in Hinblick auf die Möglichkeit wesentlicher Veränderungen in Sachsen-Weimar und darüber hinaus in Deutschland überhaupt. So sehr aber Enttäuschung und Mißbehagen Anlaß für die Suche nach neuen Wegen waren — das Wesentliche dieser neuen Phase machten sie doch nicht aus. Aus den ersten großen Werken, die in den folgenden Jahren entstanden — im Dezember 1786 wurde in Italien die vierte Fassung der Iphigenie vollendet, 1787 schloß Goethe den Egmont ab und zwei Jahre später den Tasso —, spricht eine neue Haltung, die etwa gleichzeitig auch in Schillers Don Carlos Ausdruck findet. Sie ist kein radikaler Bruch mit der vorhergehenden Phase. Auch dem klassischen Humanismus lagen die bürgerliche Freiheitsforderung und die Uberzeugung von der Zusammengehörigkeit aller Deutschen zugrunde. Der bürgerlich-nationale Inhalt wandelte sich jedoch in gewisser Weise. Die recht unbestimmten Erwartungen der Stürmer und Dränger, daß in Deutschland in der nächsten Zeit eine Volksbewegung heranreifen und es in bürgerlich-demokratischem Sinne umgestalten würde, waren nun geschwunden. Das bedeutet aber nicht, daß die deutsche klassische Literatur ein Produkt politischer Gleichgültigkeit oder einer Neutralität gegenüber den weltgeschichtlichen Erscheinungen der Zeit gewesen wäre, wie dies vor allem von Ranke behauptet wurde. In seiner Arbeit über Hardenberg erklärte er, der Baseler Frieden hätte Preußen neutralisiert und damit überhaupt erst die Blüte der deutschen Klassik ermöglicht.45 Diese Auffassungen wurden von der späteren bürgerlichen Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung übernommen; in der faschistischen Geschichtsentstellung darüber hinaus mit der Tendenz, den klassischen Humanismus zu diffamieren. 46 In Wirklichkeit stand diese Literatur im Widerspruch zu den feudal-partikularistischen Tendenzen, die Preußens Verhalten beim Abschluß des Baseler Friedens bestimmten, und sie war keineswegs Ausdruck einer Neutralität gegenüber den in dieser Zeit ausschlaggebenden gesellschaftlichen Kräften, sondern nahm Partei gegen Feudalismus und Klerikalismus und für eine bürgerliche Umgestaltung. Goethe und Schiller waren freilich der Ansicht, daß es noch einer langen Frist 45 46

Ranke, Leopold v., Hardenberg, in: Sämtliche Werke, B d 46, Leipzig 1 8 7 9 , S. 2 8 7 . Zum Beispiel bei Westphal, Otto, Feinde Bismarcks, München 1 9 3 0 , S. 68 ff., und noch in der 1 9 5 3 erschienenen „Weltgeschichte der Neuzeit 1 7 5 0 bis 1 9 5 0 " (Stuttgart 1 9 5 3 ) desselben Verfassers, in der das „ S y s t e m des deutschen Klassizismus" als ein „ S y s t e m der Neutralität und nicht der Parteinahme und des K r i e g e s " (S. 36) bezeichnet wird.

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bedürfe, ehe Deutschland in politischer und sozialer Hinsicht die fortgeschritteneren Länder eingeholt haben würde. Voraussetzung dafür, daß sich dieser Fortschritt durchsetze, war für sie eine allseitige Erziehung, in der freilich der ästhetischen Erziehung besondere Bedeutung beigemessen wurde. Das ist der gesellschaftliche Hintergrund der Herausbildung des humanistischen Ideals der harmonisch gebildeten Persönlichkeit: einer Persönlichkeit, die ihre vielseitigen Fähigkeiten und Kräfte in der Gesellschaft und für die Gesellschaft bestätigt. „Immer tätiger, nach innen und außen fortwirkender poetischer Bildungstrieb macht den Mittelpunkt und die Base seiner Existenz", schrieb Goethe 1797 in seiner Selbstschilderung. Bei der Anwendung dieser Anschauungen auf die Geschichte konnte die zeitgenössische Geschichtsschreibung wenig nützen. Bekanntlich stand ihr Goethe mit unverhohlener Abneigung gegenüber. Bereits im Urfaust entgegnete Faust dem auf die Leistungen der Geschichtsschreibung pochenden Wagner: „Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit, sind uns ein Buch mit sieben Siegeln." Später erklärte Goethe im Gespräch mit Friedrich von Müller: „Die Weltgeschichte ist eigentlich nur ein Gewebe von Unsinn für den höheren Denker und wenig aus ihr zu lernen." 47 Als sich der kurz zuvor zum Professor in Jena berufene Heinrich Luden bei ihm 1806 vorstellte, sagte er ihm, „wie wenig enthält auch die ausführlichste Geschichte, gegen das Leben eines Volkes gehalten? Und von dem Wenigen, wie Weniges ist wahr? Und von dem Wahren, ist irgendetwas über alle Zweifel hinaus? Bleibt nicht vielmehr alles ungewiß, das Größte wie das Geringste?" 48 Es wäre aber verfehlt, deshalb von einer Gleichgültigkeit Goethes gegenüber der Geschichte selbst zu sprechen. Nicht die Kenntnis einzelner Ereignisse war es, um die er sich bemühte: „Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt." Deshalb beschäftigte er sich mit der Vergangenheit nicht um ihrer 47

Goethes

Gespräche, hg. v. F. v. Biedermann,

Insel-Ausgabe, Wiesbaden

1949,

S- 73448 Ebenda, S. 735 — Es sei übrigens darauf hingewiesen, daß Goethe das Wort „historisch" in einem anderen Sinne gebraucht als wir dies heute tun. Er versteht darunter eine Betrachtungsart, die gleichsam mechanisch-materialistisch ist. In der Einführung zu den „Bekenntnissen einer schönen Seele" im Wilhelm Meister heißt es einmal, „er sagte das . . . bescheiden . . . gleichsam historisch", und in den Bekenntnissen wird historisch dem gegenüber gestellt, was in einem Menschen vorgeht. Die im Gespräch mit Riemer, a. a. O., S. 701, gefallene Äußerung ist nur zu verstehen, wenn dieser Sprachgebrauch berücksichtigt wird: „Bloß die Naturwissenschaften lassen sich praktisch machen und dadurch wohltätig für die Menschheit. Die abstrakten, der Philosophie und Philologie führen, wenn sie metaphysisch sind, ins Absurde der Möncherei und Scholastik; sind sie historisch, in das Revolutionäre der W e l t - und Staats Verbesserung." Diese Äußerung stellt also nicht, wie dies öfter behauptet wird, die Geschichtswissenschaft als eine ihrem Wesen nach revolutionäre Wissenschaft dar; Goethe stellt hier vielmehr die gesellschaftliche Tendenz des Idealismus und des Materialismus dar.

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selbst willen, sondern er suchte das, was in seiner Zeit selbst aus der Vergangenheit noch lebendig war. Die politische Geschichte ließ ihn im allgemeinen recht gleichgültig. Von der römischen Geschichte sagte er, sie sei „für uns eigentlich nicht mehr an der Zeit. Wir sind zu human geworden, als daß uns die Triumphe des Cäsar nicht widerstehen sollten. So auch die griechische Geschichte bietet wenig Erfreuliches." 49 Dagegen fesselte ihn zeit seines Lebens das 16. Jahrhundert, jene Periode, in der das Bürgertum zum ersten Male politisch handelnd aufzutreten versuchte, jene Zeit also, aus der die Stoffe zum Götz, zum Egmont und zum Faust stammen. Goethes Beschäftigung mit der Geschichte fand ihren Ausdruck nicht nur in der Aneignung, sondern auch in der Gestaltung des historischen Stoffes. Wieder ist es kein Zufall, daß der Plan einer Geschichte Bernhards von Weimar bald wieder fallengelassen wurde. Die literaturhistorischen Partien von Dichtung und Wahrheit, Goethes Arbeiten zur Geschichte der Kunst — so etwa die sich durch sein ganzes Leben hindurchziehende Beschäftigung mit Dürer — und seine Leistungen als Historiker der Wissenschaft — „Geschichte der Farbenlehre" — sind dagegen fester Bestandteil der Geschichte dieser Wissenschaftszweige geworden. Vor allem aber: Goethe beschäftigte sich mit der Geschichte seiner eigenen Zeit. Seine Autobiographie „Dichtung und Wahrheit" war nicht nur das Zeugnis einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, sondern zugleich mit der gesellschaftlichen und besonders der geistigen Entwicklung seiner Zeit. Die „Campagne in Frankreich", das 1822 veröffentlichte Tagebuch aus dem Interventionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich, an dem Goethe im Gefolge Karl Augusts, der ein preußisches Regiment kommandierte, teilnahm, ist ein Stück echter Zeitgeschichte. Dieses Tagebuch wird bestimmt von dem Gegensatz zwischen den Ansichten und Interessen der Fürsten, Adligen und hohen Offizieren, in deren Gesellschaft der Dichter den Feldzug erlebte, und der Wirklichkeit dieses Krieges, die er immer deutlicher erfaßte: der historischen Ungerechtigkeit und Aussichtslosigkeit der Intervention. Im Umgang mit der „großen Welt" der politischen und militärischen Führer lernte er ihre Pläne aus erster Hand kennen. Um so skeptischer wurde er gegen ihre Absichten, um so tiefer wurde seine Sympathie für das französische Volk, das sich diesen Absichten erfolgreich widersetzte. Der unbestechliche Blick des wachen Beobachters, sein Mitgefühl für alle, die durch den Krieg leiden mußten, und seine Überzeugung, daß die Zeit des Feudalismus zu Ende war, ließen ihn das Scheitern der Intervention ahnen. So ist die am Abend der Schlacht von Valmy getroffene Feststellung, „von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen", kein Zufallsprodukt momentaner Erschütterung, sondern Ereignis wachen historischen Begreifens. Nicht in seinen theoretischen und historischen Werken fällt das letzte Wort Goethes zur Geschichte. In seinen Dichtungen selbst fand Goethes Uberzeugung von der schöpferischen Kraft des Menschen ihren größten und dauerhaftesten Ausdruck. 49

Goethe zu Eckermann, 24. November 1824, in: Goethes Gespräche, mit Eckermann, Leipzig o. J., S. 139.

ii4

IV. Die Zeit der Französischen Revolution

In diesen Dichtungen wurden auf eigene Weise Einsichten antizipiert, zu denen die idealistische Philosophie der Zeit nicht vordringen konnte. Selbst die fortgeschrittenste Ideologie einer ausbeutenden Klasse — und das war das Bürgertum selbstverständlich auch in der Periode, in der es den Klassenkampf noch vornehmlich gegen den Adel und den Absolutismus führte — kann nicht zum Wesen der historischen Entwicklung vordringen. Jede bürgerliche Theorie der Geschichte stößt an die Grenze des Interesses einer ausbeutenden Klasse, und sie läßt daher die Geschichte an dieser Grenze enden — klassisches Beispiel dafür ist Hegels Auffassung, der Geschichtsprozeß erreiche seinen Höhepunkt in der konstitutionellen Monarchie. Die bürgerliche Geschichtstheorie wie die bürgerliche Ideologie überhaupt, wird an diesem P u n k t zum Hemmnis einer adäquaten Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit. In der künstlerischen Widerspiegelung typischer Erscheinungen dagegen können Wesenszüge erfaßt werden, die der bürgerlichen Geschichtstheorie unzugänglich sind. „Zum Schönen wird gefordert ein Gesetz, das in die Erscheinung t r i t t " , erklärte Goethe selbst. Bis zu einem gewissen Grade vermag die künstlerische Widerspiegelung der Wirklichkeit in allen antagonistischen Klassengesellschaften Grenzen zu überschreiten, vor denen die Wissenschaft verharren muß. Das bedeutet nicht, daß wir dem Irrationalismus der Ästhetik der imperialistischen Epoche und seinen revisionistischen Gefolgsleuten das Wort reden. Mit der Begründung des wissenschaftlichen Sozialismus kehrte sich das Verhältnis zwischen Theorie und Kunst u m : Seither nämlich wird die Aneignung und Anwendung der Theorie auch die Voraussetzung für künstlerische Leistungen, die auf dem Niveau der historischen Wirklichkeit stehen, für Leistungen also des sozialistischen Realismus. Ein Triumph des künstlerischen Realismus über die vorgefaßte Theorie, wie ihn Engels bei Balzac festgestellt, ist im kritischen Realismus der bürgerlichen Epoche möglich — in den wesentlichen Grundfragen kann es ihn im Sozialismus, in dem Theorie und Ideologie eine größere Rolle als in jeder früheren Gesellschaft erlangen können und erlangen, nicht geben. Dem Persönlichkeitsideal des klassischen Humanismus entsprach die Überzeugung von der schöpferischen K r a f t des Menschen, vom unaufhaltsamen Fortschritt des Menschengeschlechts in der Vervollkommnung und Ausbildung dieser K r a f t und von der sich daraus ergebenen Solidarität der Menschen aller Völker. „Die ganze Menschheit allein ist der wahre Mensch." Indem in Goethes Faust diese Überzeugung Gestalt fand, wurde hier die größte zu ihrer Zeit in Deutschland mögliche Leistung im Verständnis des Gesamtverlaufes der Geschichte vollbracht: Goethes Schauspiel bringt zum Ausdruck, d a ß sich der unaufhaltsame Fortschritt des Menschengeschlechts durch alle Konflikte, in die die Individuen verstrickt werden, Konflikte, die oftmals tragisch ausgehen können, durchsetzt und sich damit letzten Endes auch den Individuen eine optimistische Perspektive eröffnet. Aus diesem Vertrauen in den Fortschritt des Menschengeschlechts s t a m m t e auch der Glaube Goethes an die Zukunft der deutschen Nation. Gewiß: der Spott der Studenten über das Heilige Römische Reich in „Auerbachs Keller" entsprach ganz Goethes eigener Auffassung, und in den Xenien hieß es:

IV. Die Zeit der Französischen Revolution

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„Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden, Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf." Aber er war überzeugt davon, daß auch das deutsche Volk seine nationale Einheit erringen würde und zu bedeutenden Leistungen berufen sei. „Aber die Zeit, die Gelegenheit, vermag ein menschliches Auge nicht vorauszusehen und menschliche Kraft nicht zu beschleunigen oder herbeizuführen. Uns Einzelnen bleibt inzwischen nur übrig, einem jeden nach seinen Talenten, seiner Neigung und seiner Stellung, die Bildung des Volkes zu mehren, zu stärken und durch dasselbe zu verbreiten nach allen Seiten und wie nach unten, so auch, und vorzugsweise, nach oben, damit es nicht zurückbleibe hinter den andern Völkern, sondern wenigstens hierin voraufstehe, damit der Geist nicht verkümmere, sondern frisch und heiter bleibe, damit er nicht verzage, nicht kleinmütig werde, sondern fähig bleibe zu jeglicher großen Tat, wenn der Tag des Ruhms anbricht." 50 Dieses Bekenntnis Goethes zur kulturellen als der Vorstufe der politischen Einheit beweist, daß die Weimarer Klassik ästhetische Erziehung als Nationalerziehung betrachtete. Sie konnte es nicht als unmittelbar aktuelle Aufgabe ansehen, einen deutschen Nationalstaat auf bürgerlicher Grundlage zu schaffen — mittelbar aber hat die klassische Dichtung, die in den Deutschen das Bewußtsein der Notwendigkeit des historischen Fortschritts zur bürgerlichen Gesellschaft und zur nationalen Einheit über territorial-fürstliche Zersplitterung und konfessionelle Spaltung hinweg verwurzeln wollte und verwurzeln konnte, auch dem politischen und sozialen Fortschritt gedient. Eckermann berichtet über ein Gespräch vom 12. März 1828, das sich mit einem Vergleich des Charakters der verschiedenen Nationen beschäftigte: „Wir wollen indes", fügte Goethe lächelnd hinzu, „hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhundert um uns Deutsche aussieht und ob wir es sodann dahin werden gebracht haben, nicht mehr abstrakte Gelehrte und Philosophen, sondern Menschen zu sein." 51 Diese Hoffnung des klassischen Humanismus wurde aufgehoben und auf höherer Stufe verwirklicht im sozialistischen Humanismus unserer Epoche — eines Humanismus, in dem die schöpferische Kraft des Volkes, die wissenschaftlich begründete Einsicht und die staatliche Macht der Arbeiter und Bauern zur Einheit gelangt sind und der der neuen, sich in der Deutschen Demokratischen Republik herausbildenden sozialistischen Nation das Gepräge gibt. 50 51

Goethe zu Heinrich Luden am 13. Dezember 1813, in: Gespräche, a. a. O., S. 304L Gespräche mit Eckermann, a. a. O., S. 394

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Zeitraum

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Thema

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Personenregister A b b t , T h o m a s 70, 72—73, 77, 85 Achenwall, G o t t f r i e d 80 A l e m b e r t , J e a n le R o n d d ' 49 A r n d t , E r n s t Moritz 92 A r n o l d , G o t t f r i e d 15 t., 21—29, 54. 8 1 B a t i m g a r t e n , J a c o b Siegfried 78 B a y l e , P i e r r e 47 B e a u s o b r e , I s a a c d e 29 Below, Georg v. 68 B e r t u c h , F r i e d r i c h J u s t i n 92 B o e c k h , A u g u s t 90 Bolingbroke, H e n r y S t . J o h n , Lord 42-43 B o s s u e t , J a c q u e s B é n i g n e 15 Brockes, B a r t h o l d H e i n r i c h 64 B r o c k h a u s , F r i e d r i c h A r n o l d 92 B ü n a u , H e i n r i c h Graf v . 40, 41 B u f f o n , Georg-Louis Leclerc, C o m t e d e 54 B u r k e , E d m u n d 95 B u t t e r f i e l d , H e r b e r t 11, 12 B u t t l a r , E v a v. 21 C a m p a n e l l a , T h o m a s 26 C a m p e , J o h a n n H e i n r i c h 93 C a r t a u d de la Villate, F r a n ç o i s 47 Cave, W i l l i a m 22 C h e m n i t z , B o g i s l a v P h i l i p p 3iff., 35 Clemens A u g u s t , Erzbischof v. K ö l n 68 Condorcet, Marie J e a n A n t o i n e - N i c o l a s d e C a r i t a t , M a r q u i s de 49, 54 C y p r i a n , E r n s t S a l o m o 27 D a n c k e l m a n n , E b e r h a r d v. 28 Dehio, L u d w i g 45 Dibelius, F r a n z 21 D i l t h e y , W i l h e l m 7 f. Dippel, J o h a n n C o n r a d 21

E c k h a r t , J o h a n n G e o r g 27 E d e l m a n n , J o h a n n C h r i s t i a n 29 Edelsheim, Wilhelm v. 110 E i c h h o r n , K a r l F r i e d r i c h 82 E i n s i e d e l , A u g u s t v . 88 E n g e l , Josef 12 E n g e l s , F r i e d r i c h 9, 10 f., 14, 16, 20, 36, 47, 102, 105, 107, 1 1 0 Ernst, Landgraf von Hessen-Rheinfels 38 E r n s t Ludwig, Landgraf von HessenD a r m s t a d t 23 Feiler, J o a c h i m 35 F i c h t e , J o h a n n G o t t l i e b 79, 90, 98, 100—105 F o r s t e r , Georg 98 F r a n c k , S e b a s t i a n 25 F r a n c k e , A u g u s t H e r m a n n 20 F r a n z I, d e u t s c h e r K a i s e r 61 F r i e d r i c h I, K ö n i g in P r e u ß e n 28, 37 F r i e d r i c h W i l h e l m I, K ö n i g v o n P r e u ß e n 60, 61, 68 Friedrich II, König von Preußen i3f., 43. 53. 6 ° f f - . 7 1 . i n F r ö l i c h , Carl W i l h e l m 98 F u e t e r , E d u a r d 81 G a t t e r e r , J o h a n n C h r i s t o p h 78, 79 Geliert, C h r i s t i a n F ü r c h t e g o t t 62—63 G e n t z , F r i e d r i c h v. 44, 95 Gleim, J o h a n n W i l h e l m L u d w i g 94 G o e t h e , J o h a n n W o l f g a n g v. 7, 8, 13, 29, 62, 64, 76, 77, 88, 96, 110—115 G ö r r e s , J o s e p h 90, 92 G r i m m , F r i e d r i c h Melchior 55 Grosche, Georg 27 G r o t i u s , H u g o 33

Personenregister

122

Heeren, Arnold H e r m a n n Ludwig 82—84 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7, 56, 105—110

Heimpel, H e r m a n n 12 f. Heine, Heinrich 7 Heinrich IV, König v o n F r a n k r e i c h 48 Herder, J o h a n n Gottfried 8, 68, 73, 81, 85, 86-88

H e t t n e r , H e r m a n n 7, 23, 56 H o f f m a n n , Heinrich 38 H u m b o l d t , Wilhelm v. 82, 91 Iselin, I s a a k 55—58 K a n t , I m m a n u e l 56,80, 85, 86-87, 93. 1 0 1 K a r l V I I , deutscher Kaiser 61, 67 K a r l X I I , König von Schweden 48 Karl-August, Großherzog von SachsenW e i m a r 61, 67 Klassen, P e t e r 71 Klenze, Leo 65 Klopstock, Friedrich Gottlob 91, 93, 95 Kratzenstein, Heinrich 22 Krauss, W e r n e r 11 L a c h m a n n , K a r l 92 Leibniz, Gottfried Wilhelm 8, 11, 26, 27. 35. 3 6 - 3 8 , 50 L ' E n f a n t , J a c q u e s 29 Lenin, W . I. 11, 90 Leo, Heinrich 9 Lessing, Gotthold E p h r a i m 40, 73, 76, 85-86

Locke, J o h n 79 Luden, Heinrich 39, 92, 97, 112 Ludolf, H i o b 35, 36 Ludwig I, König v o n B a y e r n 65 Ludwig X I V , König v o n F r a n k r e i c h 36, 38, 47, 48 ff., 61, 62

L u t h e r , Martin 25 Machiavelli, Niccolo 31 Maria-Theresia, Königin v o n U n g a r n u n d Böhmen 61 Marx, Karl 9, 10 f., 42, 47, 58, 67, 71, 74. 75. W , 110 Mascov, J o h a n n J a c o b 4 0 ! Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 13 Mauvillon, J a k o b 75, 97 Mehring, F r a n z 11 Meinecke, Friedrich 7 ff., 31, 45, 48, 55, 68

Meiners, Christoph 81 Melanchthon, Philipp 17 Mercier, Louis-Sébastian de 44 Metternich, Klemens 100 Meusel, Alfred 55 Moser, J u s t u s 8, 67—72, 95 Montesquieu, Charles de 11, 48, 65, 73, 79 Moser, Friedrich Karl v. 64—67, 70, 71 f-, 77 Moser, J o h a n n J a k o b 64 Mosheim, J o h a n n Lorenz v. 28 f. Müller, J o h a n n e s v. 80, 82 Müntzer, T h o m a s 26 Napoleon I 46, 99, 106, 107, 108 Nicolai, Friedrich 66, 73, 76—77, 85 Niebuhr, B a r t h o l d Georg 81, 90, 92, 97 Pauliini, F r a n z Christian 35 Perthes, Friedrich Christoph 92 Pertz, Georg Heinrich 37 P e t e r I, Zar v o n R u ß l a n d 48 P ü t t e r , J o h a n n Stefan 78, 79, 82 P u f e n d o r f , Samuel 32—35 Quesnay, François 75 R a n k e , Leopold v. 9, 44 f., 90, 92 Rehberg, August Wilhelm 79, 95 Reimer, Georg Andreas 92 Reinhold, K a r l Leonhard 87 R h e n a n u s , B e a t u s 17 Rickert, Heinrich 9 R o t h a c k e r , Erich 8, 90 Rousseau, J e a n - J a c q u e s 48, 51—55, 56, 101

Sagittarius, Caspar 35 Saint-Pierre, Charles-Irénée Castel, Abbé de 44 Sartorius, Georg 80 Savigny, Friedrich K a r l v. 9, 92 Schedel, H a r t m a n n 17 Schiller, Friedrich 39, 75, 92, 96—97, 1111

Schleiermacher, Friedrich 90 Schlettwein, J o h a n n August 75 Schlözer, August Ludwig v. 65, 75, 76, 79, 80, 82, 85, 93

Schlosser, Friedrich Christoph 82 Schmauss, J o h a n n J a k o b 31, 43 Schmidt, Michael Ignaz 82

Personenregister Schubart, Christian Friedrich Daniel 74. 76 Schubart, Johann Christian 75 Seeberg, Erich 21 Semler, Johann Salomo 81 Sickingen, Franz v. 26 Sleidan, Johann 17 Soboul, Albert 53 Spener, Philipp J a k o b 19 ff., 28 Spittler, Ludwig Timotheus 78 Srbik, Heinrich Ritter v. 7 ff., 55 Stein, Heinrich Friedrich K a r l Freiherr v. u. z. 78, 80, 82, 92 Süßmilch, Johann Peter 80 Thi6riot, Nicolas-Claude 48

123 Thomasius, Christian 18, 24, 26, 38—40 Tieck, Ludwig 93 Turgot, Anne-Robert Jacques 54, 75 Vattel, Emmerich v. 43 f. Voltaire 29, 48—54, 56, 65, 69, 73, 84t. Weckhrlin, Wilhelm Ludwig 1 1 , 76, 97 Weigel, Erhard 38 Wertheim, Ursula 74 Wieland, Christoph Martin 76, 93 Wimpfeling, J a k o b 17 Winckelmann, Johann Joachim 80 Windelband, Wilhelm 9 Wolf, Friedrich August 90 Wolff, Christian 20, 56 Ziegenhagen, Franz Heinrich 98—99