Deutsches Dichten und Denken von der germanischen bis zur staufischen Zeit: (Deutsche Literaturgeschichte vom 5. bis 13. Jahrhundert) 9783111366111, 9783111008967


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German Pages 166 [172] Year 1952

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Table of contents :
Inhalt
Kapitel I. Deutsche Dichtung in germanischer Zeit
Kapitel II. Deutsche Dichtung in karolingischer Zeit
Kapitel III. Deutsche Dichtung in ottonischer Zeit
Kapitel IV. Deutsche Dichtung in salischer Zeit
Kapitel V. Deutsche Dichtung in staufischer Zeit
Übersicht und Literaturangaben
Namen- und Sachregister
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Deutsches Dichten und Denken von der germanischen bis zur staufischen Zeit: (Deutsche Literaturgeschichte vom 5. bis 13. Jahrhundert)
 9783111366111, 9783111008967

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Sammlung Göschen Band

1121

Deutsches Dichten und Denken von der germanischen bis zur staufischen Zeit (Deutsche Literaturgeschichte vom 5. bis 13. Jahrhundert) Von

Dr. Hans Naumann

Zweite, verbesserte.

Auflage

W a l t e r de G r u y t e r & Co. vormals G. J. Gosclieivsche Verlagsliandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung: • (u'or£ Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp. Berlin 1952

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A r c h i v - N r . 11 11 21 D r u c k v o n B o d o G r a e f e ( f r ü h e r B e r n a r d & G r a e f e ) , B e r l i n S W 68 Printed

in

Germany

Inhalt. Kapitel Kapitel

.

.

4

I I : Deutsche Dichtung in karolingischer Zeit .

I: Deutsche Dichtung in germanischer Zeit

.

23

Kapitel I I I : Deutsche Dichtung in ottonischer Zeit . . .

37

Kapitel I V : Deutsche Dichtung in salischer Zeit . . . .

50

Kapitel a) b) c) d) e) f) g) h)

V: Deutsche Dichtung in staufischer Zeit Geist und Formen Staufischer Dichtung . . . Das Kapitel weifischer Dichtung Aufstieg und Entwicklung im staufischen Raum . Wien und die W a r t b u r g Die großen staufischen Klassiker Germanische Dichtung in staufischer Zeit . . . Staufischer Nachsommer in Böhmen Das staufische Echo im ganzen Reich

.61 74 . 83 92 105 .128 138 145

Übersicht und Literaturangaben

157

N a m e n - und Sachregister

164

Kapitel

I.

Deutsche Dichtung in germanischer Zeit. Taufrisch und in traumhafter Morgenschönheit rauscht aus den Anfängen deutscher Dichtung das W i e l a n d s 1 i e d auf, mit seinen zwei Akten — Schwanmädchenliebe und Wielands Fesselung und Rache — wie auf zwei Flügeln das Dämmerlicht durchteilend. Wie klares Wasser aus U r tagen der Schöpfung erscheint uns das Lied. So reich an K r ä f t e n und Stimmungen, daß alles, was noch kommt, bereits hierinnen angedeutet zu liegen scheint. Kunst ist übermenschlicher, mythischer H e r k u n f t : das steht mit diesem Lied wie ein Motto am Beginn ihrer Geschichte bei uns. Weiche Seele ringt sich immer wieder durch aus aller H ä r t e und Grausamkeit. Höchste beflügelte Freiheit hebt sich aus tiefster Hilflosigkeit. Aus gelähmtestem Zustand richtet sich erst die Seele, dann der Leib wieder auf. Weitesten symbolischen Ausdeutungen ist — trostvoll dem deutschen Schicksal, aber vom Künstler ungeahnt, einfach aus der Ganzheit seines Gedichtes heraus — T ü r und T o r geöffnet. Doch auch dem Gefühl, daß der Mensch nicht ungestraft Vertreter der göttlichen Künste vergewaltigen, mit Dämonen keine allzu selbstsüchtige Gemeinschaft eingehen darf. Denn die Geschichte eines mythischen, eines dämonischen Repräsentanten ältesten Kunsthandwerks entflieht hier den zivilen Gesetzen und erfüllt sich mit denen tiefster Liebessehnsucht und wildester Rachgier. Einsam-heroische U r landschaft an der See, Landschaft der Schwanjungfrauen und elbischen Bärenjäger, die nicht hätte gestört werden dürfen, wird abgelöst von einem Königsgehöft mit einer Schmiede an der See. Unerreichbar dem Menschen, wölbt sich darüber der eigentliche und dritte Schauplatz, der endlose Luftraum, der von überirdischem Schwingen und Flügelrauschen erfüllt ist.

D e u t s c h e D i c h t u n g in g e r m a n i s c h e r Zeit

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Ein Walkürenflug eröffnet das Lied, bricht rauschend hoch über den „Schwarzwald" hinab an die See, zwei der Mädchen sind Chlodwigs Töchter, eine ist Tochter des römischen Kaisers, aber nun sind die Schwanhemden abgelegt, in Liebe sind die leinspinnenden Frauen den drei Jägerbrüdern verbunden, deren einer Wieland ist, und erst im neunten Jahr entführt sie wieder ihre kriegerische Lust. Wer am tiefsten enttäuscht ist, wird die entflohene Geliebte nicht suchen gehn: Wieland bleibt allein im Wolfstal zurück, er schmiedet Schmuck f ü r die Möglichkeit, daß sie von selbst wieder käme. So nehmen die stummen Tage sehnsüchtigen Wartens Ringgestalt an, Armringe reihen sich auf in unendlicher Reihe am Bast. U n d diese Sehnsucht läßt den weisen Alben, den witterungssicheren Jäger in die H ä n d e von Menschen fallen. Fehlt eines Tages einer, der erste, von den nun schon siebenhundert Armreifen am Bast, so denkt der Schmied nicht an Räuber, sondern an die womöglich heimgekehrte Geliebte. Aber der Schatz lockte Menschen an, einen hab- und kunstgierigen König, der sich des W a l kürengolds mitsamt seines elbischen Künstlers bemächtigt. Auf den R a t der bösen Königin, die an seinem wilden Zähnefletschen und an seinen zornigen Schlangenaugen den Ungeheuren aus dem Walde erkennt, wird er durch Zerschneiden der Sehnen gelähmt, sein Schwert trägt der feindliche König; jenen Reif, der jungen Gattin zugedacht, trägt des Königs Tochter. Sein Besitzrecht, sein künstlerisches Schöpfergefühl, sein dämonisches Freiheitsgefühl sind verletzt. Wenn er nun f ü r das Königspaar schmiedet in endloser schlafloser Arbeit, so ist es als schmiede er nicht jene tausend bunten Dinge, mit denen man ihn beschäftigt weiß, sondern als schmiede er einzig und allein die Rache, so wie er vorher einzig und allein die Sehnsucht in siebenhundert Ringen geschmiedet hat. Wie durch Zauber gezogen, kommen die spielenden Königsknaben in die einsame Werkstatt an der See und werden von ihm ermordet, Trinkschalen und Schmuck f ü r die Königsfamilie verfertigt er aus ihren Schädeln, Augen, Zähnen. Wie durch Zauber gezwungen,

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Deutsche Dichtung in germanischer Zeit

zerspringt jener Reif am Arm der Königstochter; als sie ihn zur Schmiede bringt, wird sie betört und muß sie ihn lieben, gibt sich wehrlos seiner Umarmung hin. In geheimnisvoller Weise ist zugleich mit der Rache das Fluggewand vollendet, in dem der Grausame hohnlachend sich in die dämonische Freiheit erhebt. In schwerster seelischer Erstarrung bleibt der trostlose König zurück, vor ihm die geliebte zerbrochene Tochter, deren H e r z dem Entflohenen gehört und f ü r die und deren Kind sich Wieland vor seinem Entschwinden noch Schonung hat .zuschwören lassen. Denn weiche Seele ringt sich immer wieder durch aus aller H ä r t e . . . Angesichts des hier waltenden Künstlergefühls mag man sich erinnern, daß der erste Satz, der uns aus Germanien entgegen tönt, übrigens zugleich der erste Vers, ein stolzes Künstlerselbstzeugnis ist, eines Holsteiners; wir meinen die Runeninschrift auf dem einen der beiden goldenen Hörner von Gallehus: Ich Leugast der Holtsasse machte das H o r n (Ek H l e w a g a s t i R H o l t i n g a R h o r n a taw i d o , frühes 4. Jhdt.). Unter die „Heldenlieder" möchten wir dies Wielandslied, der Üblichkeit entgegen, nun nicht gerade mehr rechnen; es behandelt ein mythisches Wesen, u n d noch der späte Eddasammler, der es uns überliefert, hat es mit Recht als vorletztes unter seine Götterlieder gestellt. Dies Gedicht ist wie ein Götterlied, ohne geschichlichen Rahmen und Hintergrund, sein „Held" nimmt „keine bewaffnete Rache" und fällt auch nicht zum Schluß, sondern verschwindet in den Lüften, sein göttliches Dasein nach list- und kunstreich erfüllter Rache irgendwo weiterzuführen: „Dort wo du dich hebst zum Himmel empor". So tut man gut, die M a ß stäbe des Heldenlieds fallen zu lassen. Weiser Albe oder Elbenfürst, Gold- und Waffenschmied, Künstler von übermenschlicher Kunstfertigkeit, dessen Dasein keineswegs vergangen ist wie etwa das irgendeines Helden der alten Zeit: über ganz Germanien war so Wieland bekannt als Schöpfer wunderbarster Werke, der „Welands Werke". Niemand zweifelt daran, d a ß das Original dieses Liedes

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von einem Deutschen stammt, d. h. von einem Angehörigen jener germanischen Stämme, die später die Gemeinde der Deutschen bilden, einem Sachsen etwa oder einem T h ü ringer oder Franken. So kann es uns das Vorhandensein von Götterliedern auch bei den deutschen Stammen wahrscheinlich machen. Als Lied dieser Stämme, vielleicht dem 6. Jhdt. zugehörig, kann es Züge aufweisen, die reine Lieder des Nordens erst im 11. und 12. Jhdt. tragen. W i r denken an die zarten und weichen. Wir werden die seltsame Mischung des Gedichts aus Herbheit und Zartheit, Grausamkeit und Weichheit nicht mehr auflösen, indem wir einen älteren grausamen Dichter von einem jüngeren empfindsamen unterscheiden, sondern wir werden diese Mischung gerade bei Götter- oder Dämonenliedern angesichts der mehrgesetzlichen N a t u r ihrer Helden sehr erklärlich finden; denn die menschliche Seele schwankt zunächst, ob sie die Überirdischen fürchten oder ihnen vertrauen soll, und das spiegelt sich wider. Wielands Rache und Wielands Sehnsucht verteilen sich nicht auf zwei verschiedene Schichten, sondern sind e i n s : e i n e r ringenden Seele entwachsen, die sich so sehr in den göttlichen D ä m o n versetzt, so alles aus ihm und seinen Erlebnissen sieht, in nur von ihm aus klar geschauten Bildern, daß es ist, als ob dieser Dämon selber der Dichter des Liedes sei. Natürlich wechseln dann auch nach beiden Seiten die Ausdrucksmittel, wir werden keinen Anstoß an dieser Notwendigkeit nehmen. Beziehungen gerade zu den Zügen und Eigentümlichkeiten eines deutschen Gemüts könnten unschwer erfühlt werden. Gerettet wurde das Wielandslied im geflüchteten Germanien, auf Island. Die norwegische Besiedlung Islands bedeutet eine Flucht in den alten geschichtslosen heidnischbäuerlichen Zustand, eine Flucht vor Großkönigtum, Christentum und antikisch-romanischen Bildungseinflüssen, eine Fortnahme. und Rettung Germaniens vor diesen Bedrohungen. Sie erfolgte Ende des 9. Jhdts., als H a r a l d Schönhaar das norwegische Großkönigtum aufrichtete. Natürlich war

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auch dieser Versuch auf die Dauer vergebens, viel länger als ein Jahrhundert vermochte sich selbst diese äußerste Thüle dem erneuerten Abendland nicht zu entziehen. Immerhin war Germanien zunächst anderswo noch einmal aufgetan und immerhin verdanken wir diesem großartigen Versuch, die altnordische Saga, die in der Form der alt-isländischen Familiengeschichte reinstes.germanisches Bauerntum widerspiegelt, ferner die germanische Götter- und Heldendichtung und die altgermanische Spruchpoesie, wohlgemerkt die Rettung und Überlieferung all dieser kostbaren Dinge, nicht etwa ihre Entstehung. U n d so eben spielt Island auch für das erste Kapitel deutscher Dichtung eine wichtige Rolle; denn auf diese Weise sind wir in den Besitz auch einiger ursprünglich deutscher Dichtungen gelangt wie eben des Wielandsliedes, ganz abgesehen davon, daß Island überhaupt unsre Mutter Germanien repräsentiert. Der sächsische Widukind scheint solchen Versuch einer Flüchtung Germaniens leider nicht ins Auge gefaßt zu haben. Hier war es vielmehr sein Gegner, der fränkische — sagen wir, deutsche — Großkönig selbst, dessen H e r z trotz allem noch so germanisch schlug, daß bekanntlich nun e r eine „Edda" sammelte, die freilich ihrerseits nach seinem Tode alsbald wieder verschwand, aber mit der es wohl in Verbindung zu bringen ist, daß gleichzeitig zwei Fuldaei Mönche uns das alte H i l d e b r a n d s l i e d gerettet haben, aus einem altbairischen oder altlangobardischen Original des 6. Jhdts., dem vermutlich eine ostgotische Quelle zugrunde lag. Diese Mönche werden auch gewußt haben, daß Kaiser Karl sich das Denkmal Dietrichs von Bern aus Ravenna mit nach Aachen gebracht hatte. Denn in den Rahmen gerade der Dietrichsage ist die "Wanderfabel vom Sohn-Vaterkampf in diesem Liede gestellt. Aber auch dieses Liedes, nunmehr eines deutschen wirklichen Heldenliedes, allerletzte Zeilen wenigstens, f ü r die den Fuldaer Mönchen der knappe Raum nicht mehr reichte, hat uns wiederum erst Island überliefert, in Hildebrands Sterbelied nämlich, von wo zurückübersetzt der uns fehlende Schluß etwa lautet:

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nu liggit dar min swaso suno ze fuozum, aftararbeo, den ich eigan scolta; umwellenti wart ih imo ti banin. Dramatisch zugespitzte Wechselrede trug nach ganz kurzer Situationsklärung die Sohn-Vater-Begegnung rasch dem H ö h e p u n k t zu, dem Stolz des Sohnes über seinen vermeintlich längst irgendwo gefallenen Vater, der verzweifelten Anstrengung des Vaters sich durch W o r t u n d Geschenk zu erkennen zu geben, die vergeblich bleibt, gramvolle W o r t e des Alten auslöst, — und d a n n gings unerbittlich hinab zum tragischen Ende. Der Junge kann nicht eine Minute länger als gutgläubig erscheinen, der Alte nicht eine Minute länger als Zauderer und Feigling dastehn. Sie sind ja nicht allein, sondern „zwischen zwei H e e r e n " . H i e r spielen schweigend und gespannt aus dem H i n t e r g r u n d lauschend die beiden Heere mit, die es längst verdächtig und unbegreiflich finden, d a ß kein K a m p f erfolgt. „Stumme C h ö r e " möchten wir die beiden Fronten nennen im A n d e n k e n an die altgriechische Tragödie, mit der der T y p des altgermanischen Heldenlieds überhaupt soviel Ähnlichkeit hat, d a ß man wohl sagen kann, das Heldenlied stehe in der altgermanischen Geistesgeschichte dort, w o in der altgriechischen die T r a g ö d i e steht. Die H a n d l u n g liegt auch im Heldenlied in den Reden, in Dialogen und Monologen, fast im Sinne eines analytischen Dramas. Episches ist ohne Bedeutung, Reden sind nicht Ruhepunkte, sondern sie enthüllen die Vorgeschichte und zugleich den Fortgang, das Ende. Sie wickeln den Stoff auf. Rollen spielen eine H a n d lung, aber nicht diese an sich ist wichtig, sondern wie sie erlebt wird. Gering sind Szenen wie Personen an Zahl. Im Hildebrandslied sinds zwei Personen in e i n e r Szene, in anderen sinds etwas mehr. Aus e i n e m Moment, hier aus der Frage des Alten nach Vater und Sippe des Jungen, ist alles herausentwickelt, in fast antiker Dramentechnik, analytisch aus der inneren Perspektive, mit völliger Einheit v o n H a n d l u n g , R a u m und Zeit, die in Wirklichkeit genau so lange dauert wie die Erzählung selbst u n d also mit Recht

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ideal genannt wird. Der Stoff im germanischen Heldenlied ist der gleiche wie in der griechischen Tragödie, beidemal greift er zur nationalen Heldensage. Das Grausame ist beidemal nur der poetische Ausdruck f ü r die Erfahrung, daß die Welt hart sei, kein Paradies, daß das Leben kein Idyll sei, sondern schicksalerfüllt, und daß Menschsein Kämpfersein heißt. „Vieles Schreckliche gibt es, aber nichts ist schrecklicher als der Mensch". Grausigstes, was es geben konnte f ü r ein so sippenfreudiges Volk, war im Hildebrandslied geschehn. Das Schwert des Vaters mußte den Sohn erschlagen, statt daß dieser es einmal erben dürfte, um es nach dem Vater als einzig Würdiger weiter zu führen. Nicht immer ists so. Der anglische O f f a aus einem frühen Liede des 4. Jhdts. rettet noch Vater und Volk und die Ehre beider. Über Erwarten, man hatte es dem bisher Stumpfen gar nicht zugetraut, erweist ihn gerade das väterliche Schwert als den richtigen Erben. Es zerschlägt ihn nicht; nur e r , der Sohn, kann es führen, und so besiegt er im Holmgang den frechen Räuber der Ehre und Freiheit. Das war noch das natürliche Verhältnis von Vater und Sohn, wie die Götter und die N a t u r es wollten. Dies Lied stammte noch aus der festländischen Heimat der Angeln. Es ist als sei in so früher Zeit, vor der Völkerwanderung, die grausige Tragik noch gar nicht erwacht gewesen, als entfache sie sich erst beim Eintritt in die große ruhmvoll-tragische Geschichte dieser Wanderungszeit. Hier konnte der Sohn, O f f a , die H e i m a t noch retten f ü r Volk und Sippe und Vater, dort mußte der Vater, Hildebrand, angesichts der seit dreißig Jahren entbehrten Heimat sich selbst den ganzen Sinn seiner Heimkehr, die eigene Sippe und damit einen der höchsten Werte seines persönlichen Lebens zerstören im Dienste der Kriegerehre. Beim Eintritt in die große Geschichte ist die gewaltige Macht des Schicksals erwacht, es stellt sich im Hildebrandsliede neben den großen waltenden Gott oben im Himmel, und der Alte hat weniger mit dem Sohne als mit dem Schicksal zu ringen, bis er K r a f t und Entschluß gewinnt,

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es z u b e j a h e n . N i c h t b l i n d w i l l d a s S c h i c k s a l d e n g e r m a n i s c h e n H e l d , d e r A l t e w e i ß h i e r , d a ß es sein S o h n ist; in a u ß e r g e r m a n i s c h e n Fassungen dieser "Wanderfabel erf ä h r t er erst h i n t e r h e r , d a ß er d e n S o h n erschlug. D a n n ist n u r ein g r ä ß l i c h e s U n g l ü c k g e w e s e n , w a s i m G e r m a n i s c h e n z u b i t t e r s t e r T r a g i k w i r d . U n d es ist n i c h t sein S o h n v o n e i n e r b e l i e b i g e n f r e m d e n F r a u in a b e n t e u e r l i c h e r F e r n e gewesen, wie dort, sondern der Sohn aus der Ehe, der Erbe, u n d so e r h ö h t sich d i e T r a g i k i n s o f e r n , als sie w i r k l i c h im S i p p e n g e f ü h l e b e g r ü n d e t ist. Bei aller V e r w a n d t s c h a f t des germanischen Heldenliedes m i ' der griechischen Tragödie in Form und Stoff, bei aller Vergleichbarkeit noch der Nibelungendichtung von 1200 mit der griechischen Tragödie richtiger als mit H o m e r , schneidet doch das Germanische fast regelmäßig in der Reinheit des Menschlichen wie des Heroischen vorteilhafter ab. Im folgenden wird auf solche Wesensunterschiede zwischen den beiden Welten mehrfach hingewiesen. Es ist öfters die Gleichheit von Motiven aufgefallen, die nur freilich nicht immer dort und hier in gleicher Weise behandelt werden. M a n kann den Sigurd des merowingisch-fränkischen S i g u r d l i e d e s mit Jason vergleichen unter dem Motiv des Mannes zwischen zwei Frauen, ferner Alboins Schicksal mit dem Agamemnons, wie ja schon ein Vergleich Dädalus-Wieland möglich w a r und ein Vergleich Gudrun-Medea möglich wäre, der ihre Kinder zur Rache schlachtenden Mütter. Wie so o f t das Frühhellenische zum Frühgermanischen stimmt, im Königtum, in der Architektur, im Schicksalsglauben, in der Mythologie, so ist es auch hier, immer indessen auch hier wieder mit den bezeichnenden Unterschieden. Jason ist an Medea gebunden, die ihm zum goldenen Vließ verhalf, wie Sigurd an Brynhild, nach dem er in Gunthers Gestalt, in Gunthers Dienst das keusche Beilager mit ihr teilte. Jason verstößt die aus Kolchis mitgebrachte Medea und nimmt eine andere Frau, Sigurd überläßt die mitgebrachte Brynhild dem wirklichen Gunther und lebt in Ehe mit Gunthers Schwester, woraus sich beidemal die Tragödie ergibt. Aber Jason erwies sich wirklich als treulos und undankbar, indem er Medea verstieß, während Sigurd ja nur aus jugendlich sorglos unbekümmerter Freundestreue zu Gunther Brynhilden getäuscht hatte. In Wirklichkeit hatte er es zu keinerlei eigentlichen Verpflichtungen ihr gegenüber kommen lassen, sondern w a r nur

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seinen V e r p f l i c h t u n g e n dem H e r r n und Freund gegenüber nachgekommen, in einem freilich ungewöhnlichen Bereich. Alles T r e u l o s e und U n d a n k b a r e liegt ihm völlig fern. E s ergibt sich vielmehr die tragische Ironie, d a ß gerade aus seiner T r e u e zu Gunther, dem er alles tut, dem er sogar die F r a u gewinnt, der finstere V o r w u r f entspringt. Sigurd ist der reinere, verbrechenlosere unter den beiden, auch in der leichtsinnigen U n b e d e n k lichkeit seinen naiveren G ö t t e r n näher als J a s o n .

Alboin endet wie Agamemnon, beide durch die Anschläge der Gattin und ihres Buhlen, Alboin auf dem Lager wie Agamemnon im Bad, wir denken an den Alboin des verlornen, aber bei Paulus Diaconus in lateinischer Prosa überlieferten langobardischen R o s i m u n d l i e d e s . Die Langobarden sind ein deutscher Stamm, die Alpen sind keine Grenze, ihre Dichtung ist unsere Dichtung. Aber was Rosimund erstens zur Preisgabe ihrer Frauenehre an einen Mann des Königs und zweitens zum Gattenmord treibt, ist einzig Rache, nämlich d a f ü r , daß der trunkene übermütige K ö n i g und Gemahl sie zwang, aus dem Schädel ihres eigenen Vaters zu trinken. Es war nicht Buhlschaft, was sie jenes einzigemal zu Peredeo geführt hat, sondern der unbeugsame Wille, sich ein gefügiges Instrument der Rache zu schaffen. Dieser Rache opferte sie selbst ihre Frauenehre. Klytämnestra aber hatte skrupellos und unverhüllt durch viele Jahre Ehebruch getrieben mit Aeglsth, und sie verriet den endlich heimgekehrten Gatten in schnödester Weise. V o n einem Rachegedanken kann bei ihr keine Rede sein, der Groll über Iphigeniens Opferung ist nur ein schwächlicher V o r w a n d und gehört gar nicht hierher. Bei Dädalus-Wieland w a r d die Atmosphäre, schließlich eine ganz andere dort als hier, bürgerlich dort, heroisch hier. Bei Alboin-Agamemnon ist es beidemal die gleiche heroische geblieben, aber ob verschiedene oder gleiche A t m o sphäre: die Motivierung war im Germanischen beidemal die Rache, im Griechischen beidemal ein Verbrechen gewesen. Für die frühgermanische Denkgesetzlichkeit wird der Kenner des Heldenlieds wie des Rechts dies als durchaus bezeichnend empfinden müssen. Diesem jungen Krieger-

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volk gehörte die Rache für verletztes Recht nun einmal zu den wenigen klaren Selbstverständlichkeiten im verworrenen Bau der Welt, nur so wog sich ihnen schließlich die Gerechtigkeit des Ganzen aus. Ihrem Lebensgefühl wäre das Ausbleiben der Rache noch unerträglich und ein Anzeichen des beginnenden Chaos gewesen. Daß man die Rache lieber sich metaphysisch auswirken lassen soll, um das Chaos auf Erden zu vermeiden, daß der Sieg selbst schon Rache genug ist, je tiefer, je mehr er ohne Vergeltung kommt, war noch unentdeckt. Und so spielt die Rache im Heldenlied eine hohe und wesentliche Rolle. Die Kunst, mit der die direkte Rede im Heldenliede gehandhabt wird, ist groß und entspricht der Rolle, die die lebendige Rede überhaupt im germanischen Altertum (wie bei den Griechen) und die der Dialog noch in der nordischen Saga spielt. Wenn im Hildebrandslied der Dialog die Handlung enthüllt und führt, f ü h r t und enthüllt sie mit wunderbarer Kunst im I n g e l d s l i e d , das uns in lateinischen Versen Saxo Grammaticus aufbewahrt hat, gar der Monolog. Er ist dem alten Gefolgsmann Starkad in den Mund gelegt; die dänische Königshalle ist der Raum, wo der endlich wieder heimgekehrte Starkad von der jungen Königin sächsischer H e r k u n f t , die den zerlumpten Fremdling nicht kennt, auf den untersten Platz verwiesen worden war. U n d nun erfährt man aus seiner Klage, die etwa einer angelsächsischen Elegie entspricht und damit den germanischen Bereich auch dieser Gattung erweist, daß Ingeld, der junge Dänenkönig, Versöhnung schloß mit den sächsischen Swertingssöhnen, deren Vater einst Ingelds Vater Fruote erschlug, daß aber der Sohn Ingeld die Vaterrache vergaß und die Tochter Swertings geheiratet hat, weswegen eben die Sächsin jetzt hier Königin ist, daß er mit seinen Schwägern sein üppiges verweichlichendes Leben jetzt eben hier in der Halle fortsetzt mit Sitten und Genüssen südlicher, sächsischer H e r k u n f t . Nichts vermag den unversöhnlichen, grollenden, beleidigten Vertreter des alten harten rauhen Helden- und Rachegeistes zu besänftigen,

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er wird immer wilder, u n d aus der wilden Rede h ö r t m a n heraus, wie der junge König, schließlich e n t f l a m m t , hier beim Gelage die Swertingssöhne erschlägt u n d endlich so seinen Vater rächt. Den Gott, Odin, r u f t S t a r k a d noch an, die Rache festzustellen, wie H i l d e b r a n d seinen irmingot. Ein D r a m a hat sich abgespielt, der einzige Redner, der die Mimik heraufrief, hat zugleich die Rolle des Chors, der das ganze Spiel mit seiner Meinung begleitet. Ingeld w a r nicht wie der stumpfe Sohn O f f a , der sich d a n n herrlich entpuppte, w a r nicht wie der mißtrauisch-hochmütige Sohn H a d u b r a n d , der den Vater nicht erkennt, weil er sich ihn glänzender vorstellt, der Sohn Ingeld vertritt zugleich den Geist einer anderen Generation, einen weicheren, versöhnlicheren. Es ist o f f e n b a r die tiefste, problemreichste Fassung des Sohn-Vatermotivs im Germanischen, p r e u ß i scher als die andern, w e n n wir an den jungen Friedrich und den Soldatenkönig denken. Dies Ingeldslied ist das Lied, dessen im J a h r e 797 Alkuin E r w ä h n u n g t u n wird, der große Theologe, Kirchenfürst, „Kultusminister" Kaiser Karls, in einem Brief nach Lindisfarne, sein nordhumbrisches Heimatskloster. Die Mönche, schreibt er, sollten beim gemeinsamen Mahle die Kirchenväter sich vortragen lassen, nicht die heidnischen Lieder. W a s habe Ingeld mit Christus zu tun? Z u eng sei das H a u s f ü r beide. W a s habe der himmlische König, der ewige, mit diesen verlorenen Königen der H e i d e n gemein? — Alkuin denkt o f f e n b a r anders als sein Kaiser, der solche Heldenlieder sammeln ließ. Aber w a r u m nennt er gerade den Ingeld? Weil hier durch den Vertreter des alten Racheprinzips und durch die W e n d u n g des jungen Königs v o n der Versöhnung weg zur Rache der Gegensatz der beiden Welten besonders stark u n d a u f f a l l e n d erscheint. Weiches u n d H a r t e s lagen auch hier wieder nahe beieinander. D a w a r d eine schon erwachte Friedens- u n d Versöhnungsrichtung jäh wieder abgebrochen durch schonungslos erweckte Rachepflicht. Der Ingeld v o m A n f a n g hatte immerhin schon einiges mit Christus zu tun, der vom Ende

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nichts mehr. Alkuins Frage t r i f f t den Kern, vorzüglich ausgewählt ist sein Beispiel. Wir erkennen den strengen unerbittlichen Geist des Heldenlieds. Kriegerehrenpflicht durchkreuzt alle andern Bindungen, Friedensneigung, geschlossene Schwäger- und Gastfreundschaft hier, wie dort die Sippengefühle, ob man will oder nicht. H a r t sind die Gesetze einer Kriegerkaste, wenn man die Auflösung fernhalten will. Einer bestimmten Erziehung, einem bestimmten Ethos zu dienen, wird von f r ü h an als Eigentümlichkeit unserer Dichtung erkennbar sein. An die Halle, in der das Ingeldslied spielt wie manches andere auch, wo die Gefolgschaft sitzt und lauscht, wenden sich diese Lieder. U n d noch wenn die angelsächsischen Mönche von Lindisfarne in ihrem Speisesaal saßen, vergaßen sie, wo sie waren, wähnten sie sich auf einmal wieder in der alten Gefolgschaftshalle, verlangten das Ingeldslied und den Geist ihrer Väter. Es wird in Fulda nicht anders gewesen sein, und so eben machten sich jene beiden Mönche dort an die Niederschrift des Hildebrandslieds. Sie hatten dabei zwar nicht an Alkuin, wohl aber am Kaiser einen moralischen Rückhalt. Ohne jedes fremde Vorbild gössen die germanischen Stämme, darunter auch die späteren deutschen, ihr großes geschichtliches Erlebnis ins Heldenlied. Eindeutig war die Form, eindeutig der Geist und die Haltung, erwachsen aus der noch sicheren N ä h e einer eigenen einfachen festen Kultur, deren bäuerlichere Dichtung wir nicht kennen. Eben jetzt übergössen sich Kultur und Dichtung mit Glanz, Ruhm und Tragik, aber ohne nachwirkende K r a f t des bodenständigen Alten wäre dies kaum denkbar. Besonders kräftig treffen wir fränkische Dichter am Werk. Sie zogen kraftvoll gotische und burgundische Stoffe in den deutschen Kreis, zum Beispiel durch U m rahmung mit der Nibelungensage. So taten sie es mit dem gotischen Stoff von E r m a n a r i c h s T o d ( H a i n d i r 1 i e d ) , indem sie die von ihm getötete Swanhild zur Tochter Sigurds und Gudruns (Siegfrieds und Kriem-

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hilds) m a c h t e n , so t a t e n sie es m i t d e m b u r g u n d i s c h e n Stoff'vom U n t e r g a n g d e r B u r g u n d e r durch A 11 i , i n d e m sie ihn in die B e g r ü n d u n g d u r c h die N i b e l u n g e n s a g e e i n b a u t e n . D e r b u r g u n d i s c h e H o r t ist z u m Nibelungenhort geworden, Burgundenuntergang wird zur Nibelungennot. Rache an Atli w u r d e noch immer vollz o g e n ; die F r a u , die sie v o l l z o g , w a r die S c h w e s t e r d e r b u r g u n d i s c h e n K ö n i g e , u n d sie w a r dies n o c h i m m e r in s t ä r k e r e m G r a d e , als d a ß sie die W i t w e S i g u r d s w a r . H i e r w a r e n G u d r u n und G u n n a r noch wirklich Geschwister, v o n gleicher d ä m o n i s c h e r W e i s e w i e v o n gleichem b u r g u n dischen Blut. S p ä t e r h a t K r i e m h i l d m i t G u n t h e r i n n e r l i c h w e n i g m e h r gemein, hier a b e r n o c h alles. So s c h u f e n diese D i c h t e r z w a r im a l t e n S i g u r d l i e d u n d alten A 11 i 1 i e d , die uns w i e d e r u m die E d d a b e w a h r t e , die g e w i ß a b e r auch in K a r l s „ E d d a " s t a n d e n , die ersten K e i m zellen des s p ä t e r e n N i b e l u n g e n e p o s , a b e r sie f a n d e n d o c h die u n g e h e u r e E i n h e i t des G a n z e n n o c h n i c h t , w e i l sie i m A t l i l i e d die R a c h e f ü r S i g u r d w i e d e r v ö l l i g v e r g a ß e n ü b e r d e r alten b u r g u n d i s c h e n N o t w e n d i g k e i t d e r R a c h e a n A t l i . Sie d a c h t e n noch n i c h t in E p e n , sie d a c h t e n in L i e d e r n . I n d e r R a c h e , die G u d r u n - K r i e m h i l d an A t l i v o l l z i e h t , gleicht sie ihrerseits eine Z e i t l a n g d e r M e d e a . A b e r M e d e a t ö t e t ihre u n d J a s o n s K i n d e r aus R a c h e d a f ü r , d a ß er sie z u g u n s t e n einer a n d e r e n s c h n ö d e v e r s t i e ß , aus E i f e r s u c h t also, aus e n t t ä u s c h t e r Liebe, v o n d e r E b e n e i h r e r eigenen P e r s ö n l i c h k e i t aus. G u d r u n t ö t e t ihre u n d Atlis K i n d e r aus R a c h e d a f ü r , d a ß Atli ihre B r ü d e r t ö t e t e , v o m B o d e n d e r S i p p e aus. Alle S i t t l i c h k e i t ergibt sich hier n i c h t v o m I n d i v i d u u m her, allem H a n d e l n liegt, w e n n n i c h t die V e r a n t w o r t l i c h k e i t f ü r die G e f o l g s c h a f t , so d o c h f ü r die S i p p e zugrunde. D e r f r ä n k i s c h - m e r o w i n g i s c h e U m k r e i s , d e r schon d e n N a m e n C h l o d w i g s ins W i e l a n d s l i e d b r a c h t e , t r ä g t a u c h d e n N a m e n d e r f r ä n k i s c h e n B r y n h i l d in d e n b u r g u n dischen S t o f f . E i n e F r a u ist die b e h e r r s c h e n d e G e s t a l t des Sigurdlieds. Sie h a t t e sich e n t t ä u s c h t in die E h e m i t G u n t h e r

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gefunden, dem Eide gehorchend und der unbegreiflichen Erfüllung, obgleich seine Persönlichkeit sie kühl ließ. Als sie den wahren Sachverhalt erfuhr, daß nur infolge einer schlauen List der ihr eigentlich vorsehungshaft Bestimmte nicht ihr Gatte war, ja daß gerade dieser der Betrüger war, war natürlich ihr ganzes Leben vernichtet. Der einzig Würdige hatte sie beleidigt, ein Unwürdiger war durch des Würdigen List ihr Gemahl. Da bleibt nur die Rache für ein zerstörtes Leben, der Untergang jenes und ihrer selbst. Übrig aber blieb vor allem die Witwe Sigurds, die Schwester der Könige, Sigurds Preis f ü r die Erwerbung Brynhilds. Eben ihr war durch die Dichter ein furchtbares Weiterwirken bestimmt. Gunnar selbst erfährt seinen großen Augenblick dann im Atlilied, der ihn hier noch hoch über Hagen erhebt. In sich selbst nach seines Bruders T o d und seiner ungeheuren Vereinzelung vor Atli, die er trotzig bejaht, sieht er den besten Verlaß. Ein Augenblick, der in aller Dichtung vergebens seinesgleichen sucht, legt ihm die Zeile „Einzig bei mir ist nun ewig verhohlen der Nibelungenhort, Hagen ist tot" in den Mund. Bis um 1200 wurde sie nicht mehr vergessen, wenn auch der allwissende Gott nun hinzutrat und Hagen sie erbte. Damals reichte, wie kein Bruder, so kein Gott in die ungeheure Vereinzelung des Königs hinein. Atli wird nun der besiegte Sieger sein. Kriemhild-Gudrun steht in einem Frauenschicksal, das stark in die germanische Wirklichkeit hineingereicht haben muß, zwischen Sippe und Ehe. Sie weiß sich zu entscheiden und rächt die Brüder am Mann. Wir kennen mit gleichem Frauenschicksal ein verlorenes Lied, darinnen die Frau keine Entscheidung findet und das infolgedessen im Grenzenlosen, ja, wie das Wielandslied, mit einem Schwung im Mythischen endet. Es entstammte auch der gleichen niedersächsischen Heimat, der Südküste der Ostsee: Hedin gehört zu Hiddensee, Hagen ist ein König von Rügen. Es ist das H i 1 d e 1 i e d. Wir können seinen Inhalt aus nordischen, altenglischen, deutschen ErwähNtiumann, Dentselies Dichten und Denken

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nungen etwa wie folgt erschließen: H e d i n (Hetel) und Hagen sind Blutsbruder, ein feiner schmaler Schlanker und ein rauher Wilder. Hagens Tochter Hilde ist dem Hedin zugetan. In einer Verleumdung liegt der Grund, daß er die Geliebte entführt, oder — etwa in einer jüngeren Fassung - durch seine Leute Wate, Fruote, H o r a n d entführen läßt, die vielleicht je als Fechter, K a u f m a n n , Sänger aufgetreten sind. Auf einer Insel holt der Vater den Räuber ein. Hilde versucht zweimal vergeblich eine Versöhnung von Vater und Mann, die sie beide liebt. Hagens Schwert ist gezogen, es will Blut trinken, ist es einmal entblößt. Hagen erschlägt den Hedin, der Blutsbruder den Blutsbruder. Sippenehre ging über Blutsbrüderschaft, wie Gattenehre im Sigurdlied. Wate erschlägt den Hagen. Sie fallen alle, aber Hilde lebt und die Verzweiflung vergöttlicht sie. Es folgt die ewige Schlacht der Toten, das H j a d ningavig. Hilde vermag nachts die Toten zu erwecken, so daß der Kampf am Morgen von neuem beginnt. Abends sind sie wieder alle erschlagen und werden zu Stein. Jede N a c h t erweckt sie sie wieder, jeden T a g kämpfen die erweckten Toten, und so fort bis zum Ende der Welt. — Die entführte Geliebte ist zur Kampfweckerin geworden. Zwischen Sippe und Liebe weiß sie keinen anderen Ausweg, als beide, Vater und Mann, zu erwecken und damit beide dem ewigen Kampf preiszugeben. Ihre Liebe, ihr Schmerz ließ keiner Seite die Ruh. Kampf war nicht ihr Gewerbe, man darf ihren N a m e n nicht pressen, aber er wird es ohne ihren Willen aus unentschiedener Liebe. Walküre war sie nicht, nun muß sie fast geradezu zu einer Kampfgöttin werden. Solches zerstört nicht die Tragik; sondern Schmerz und Liebe, Verzweiflung und Tragik dehnen sich gleichsam bis ins Unendliche aus. Tragisches Frauenschicksal hat sich verewigt. Eine Figur, diesmal von überantiker Größe, zwischen Vater und Mann, die zugleich verfeindete Blutsbrüder sind, erfährt mythische Überhöhung. Aufsparung der Entscheidung bis ans Ende der Tage rückt das Schicksal auch dieser Dämonischen aus dem Menschlichen und

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k n ü p f t es ans Göttliche an. Wie sich bei der antiken Niobe der Schmerz verewigt, daß die Tränen unaufhörlich fließen, verewigt sich bei Hilde die Verzweiflung und die Unentschiedenheit der Liebe, also der Kampf derer, zwischen denen sie steht. In einer Kühnheit, Reinheit, Adligkeit der Form ohnegleichen, beherrscht, schlank, knapp, verhalten in allen inneren Bewegungen, zuchtvoll, keusch, kühl in Linienführung wie W o r t w a h l , seine riesigen Fresken sturmgeschwind aneinanderreihend; so v e r l ä u f t das germanische Heldenlied, diese einzigartige idealistische Schöpfung eines jungen Kriegerstandes, der soeben zu P f e r d e stieg, um die W e l t zu erobern und J a h r h u n derte später im staufischen Rittertum sich zu vollenden. N o c h verfügte er über sein eigenes Metrum, die Gruppenbildung vierhebiger, zwei- oder dreimal gestabter Langverse im unverschnörkelten Zeilenstil. N o c h bewegte ihn wohl auch in den deutschen Stämmen das T h e m a der eigenen Götter, wir rührten mit Wieland und Hilde ans Mythische, wir kennen die Göttergeschichte von W o d a n und Frea aus der Langobardengeschichte des PaulusDiaconus. N o c h w a r das Tragische sein großes Bedürfnis, geschöpft aus der fast immer noch ganz nahen Geschichte, die er erlebte, aus dem Sturze der Reiche und Königtümer, Ermenrichs, Attilas, Alboins und, wie wir noch sehen werden, Irminfrieds. Noch bildete das Gefolgschaftswesen H i n t e r g r u n d und Grundlage seiner bevorzugten Motive und ihres Ethos, aber so stark wie etwa das angelsächsische F i n n s b u r g 1 i e d rückte keines der überblickbaren deutschen H e l d e n lieder die gesamte Gefolgschaft in die Mitte. Deutlich und höchst lebendig fanden wir den Gedanken der Sippe, aber gerade daraus ergab sich eine schon erstaunlich große Rolle der Frau. „Heldenlied" wird auch von hier aus ein fast zu enger Begriff. Tatsächlich handelt es sich um Tragödien vielseitigster Art, wie im Altgriechischen. Die Psychologie vollzieht sich in großen geraden Strichen, aber recht mannigfaltig, und die Frau hatte schon viel zu bedeuten, die Macht der Liebe w a r schon geahnt. Künstlerischer Anspruch, künstlerisches Vermögen waren schon von überraschender Höhe. Das U n t e r haltungsbedürfnis der Gefolschaftshalle w a r schon sehr verfeinert, und schon mußte die Kunst durchaus Probleme behandeln und erzieherisch lösen. U n d wenn dann die Ritter die Erben der beritten gewordenen Gefolgsleute sind: so manches in der ritterlichen Kunst war doch vorbereitet gewesen in der

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Kunst der Gefolgsleute. Die S t o f f e w u r d e n sowieso zum großen T e i l e w e i t e r gereicht . . . bis in die Figuren Iring u n d I r n f r i e d des Nibelungenepos, bis in den N a m e n W i e l a n d das Vogelj u n g f r a u n m o t i v des späthöfischen „Friedrich von S c h w a b e n " , bis in Rothers P s e u d o n y m Dietrich. W i r w e r d e n das vielleicht ursprünglich alemannische Lied von W a l t h a r i als latei-. nisches Epos w i e d e r t r e f f e n in ottonischer Zeit, das f r ä n k i s c h e Lied von R o l a n d u n d O l i v i e r , aus dem allerletzten der südgermanischen Sagenkreise, dem um Kaiser K a r l , w e r d e n w i r w i e d e r t r e f f e n als altfranzösisches Epos, dann auf W u n s c h der W e i f e n lehnübersetzt als deutsches. Gerade dieses L i e d zeigt w i e d e r g a n z nahen Bezug zum R i t t e r r o m a n , ohne den zum H e l d e n l i e d zu verlieren. Im „ W a l t h a n " steht H a g e n i m Konf l i k t zwischen Freundestreue (zu W a l t h a r i ) und Gefolgsmannsp f l i c h t (zu Gunther), im R o l a n d l i e d t r e f f e n w i r das Freundesp a a r , und man k a n n hier u n m i t t e l b a r w i e d e r an die griechische Heldensage und ihre Freundespaare erinnern, auf g e f ä h r l i c h e r W a c h t im Gebirg; die gleiche Szenerie stellt die Freunde im „ W a l t h a r i " zunächst feindlich gegeneinander. Für sich selbst w i r d R o l a n d in das rettende H o r n nicht stoßen, auch wenn sein U n t e r g a n g sicher ist, f ü r den Freund w i l l er es tun, aber das lehnt dieser ab. Es bleibt nur das tragische Ende. Aber am S c h l u ß des W a l t h a r i l i e d e s steht bereits die Versöhnung, die H a g e n zwischen Freund und H e r r n nach gefährlichstem K a m p f e erreicht; die Frauenrolle fehlt nicht, sie schmückt u n d bereichert den heiteren Ausgang, das glücklichste Ende, das dem der F r e u n d e s k ä m p f e im R i t t e r r o m a n e fast gleicht. W i r e r w ä h n t e n den Gemeinschaftshintcrgrund oft, sei es Sippe, sei es Gefolgschaft, w i r sahen soeben das Gefolgsf r e u n d e s p a a r , aber es gab im Liede auch den M a n n fast ohne soziale Bindung daneben, den stolzen Eingänger unter den H e l d e n — S i e g m u n d , J u n g S i e g f r i e d —, begleitet höchstens von seinem Schwestersohn, in kühnen Abenteuern die W e l t von Ungeheuern reinigend. Die Lieder sind uns nicht erhalten, nur bezeugt. Der H e l d nähert sich d a n n d e m göttlichen H e i l b r i n g e r t y p , aber auch dem einsam a v e n t i u r e n d e n R i t t e r . U n d sein Ethos ist von dem des christlichen Ritters, der b a r m h e r z i g den Bedrängten zu H i l f e k o m m t , nicht mehr a l l z u w e i t entfernt. Bestimmungsort dieser Kunstpoesie w a r die H a l l e , die Gefolgsherren selber dichteten, trugen vor und standen ihren Dichtern, die zugleich ihre Gefolgsleute w a r e n , g a n z nahe.

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W i r w e r d e n dies soziale B i l d noch unter den Minnesingern w i e d e r t r e f f e n . W i r haben germanische Zeugnisse darüber, w i e das K u n s t w e r k n a c h dem V o r t r a g bei K ö n i g und G e f o l g s c h a f t sachverständigstem Interesse und sachverständigster B e u r t e i l u n g begegnet. P r e i s l i e d e r auf den lebenden und K l a g e lieder a u f den v e r s t o r b e n e n H e r r n gehörten gleichfalls zum ständigen W o r t k u n s t s c h a t z der G e f o l g s c h a f t s h a l l e . W i r werden noch in k a r o l i n g i s c h e r u n d in s t a u f i s c h e r Z e i t d a v o n G e b r a u c h m a c h e n müssen. P r e i s l i e d - Z e i t g e d i c h t e liebten besonders das M o t i v d e r Begegnung, u r t ü m l i c h an Flüssen, später in H a l l e n und D o m e n ; „Flußgespräche" reichen v o m Wesergespräch A r m i n s m i t seinem B r u d e r F l a v u s über das C h l o t h a r l i e d v o n 6 0 0 und viele andere Beispiele bis z u m eddischen H a r b a r d s l i e d m i t dem G e s p r ä c h zwischen O d i n und T h o r . Natürlich reichen auch e i n f a c h e r e G a t t u n g e n wie S p o t t s t r o p h e n ( N e i d v e r s e ) und M ä d c h e n - L i e b e s v e r s e (mansöngvisur), die so gehalten sein m u ß t e n , d a ß sie die G e l i e b t e n i c h t ins G e r e d e der L e u t e b r a c h t e n , in die H a l l e hinein. Es gab eine ausgebildete K u n s t r ä t s e l d i c h t u n g , n a t ü r l i c h auch eine sehr bedeutende S p r u c h p o e s i e , u n m i t t e l b a r aus den E r f a h r u n g e n des Lebens s c h ö p f e n d , K r i e g e r w e i s h e i t , T r u n k und G a s t m a h l , R u h m und L o b , F r e u n d s c h a f t und Liebe, E l e n d u n d W a n d e r tum, W i r t und G a s t , G o t t und R e l i g i o n , Sippe, F r a u e n , gutes B e n e h m e n , W i t z und T o r h e i t h a r t , klug, gütig, b i t t e r , jedenfalls w i r k l i c h k e i t s n a h e b e h a n d e l n d . W i r w e r d e n an alle diese G a t t u n g e n im folgenden wieder a n k n ü p f e n müssen, sie werden z u m T e i l a u ß e r o r d e n t l i c h w i c h t i g sein, a b e r sie sind f ü r die spezifisch germanische D i c h t u n g d o c h nicht so ungeheuer b e z e i c h n e n d wie das H e l d e n l i e d . W i r w e n d e n uns d a h e r z u r ü c k und beschließen unser K a p i t e l noch mit der B e h a n d l u n g des I r i n g - und des T h u r i s i n d l i e d s . D a s I r i n g l i e d ist t h ü r i n g i s c h , d a s T h u r i s i n d l i e d ist l a n g o b a r d i s c h . " W i d u k i n d v o n C o r v e y t e i l t uns d e n I n h a l t des e i n e n , P a u l u s D i a c o n u s d e n des a n d e r e n m i t . D e r S a c h s e erzählt das thüringische Lied, der Langob'arde berichtet a u s d r ü c k l i c h , d a ß d i e A l b o i n l i e d e r seines V o l k e s , i n d e r e n K r e i s d a s T h u r i s i n d l i e d g e h ö r t , bis z u d e n S a c h s e n h i n g e sungen w u r d e n . E s w a r e n eben alles L i e d e r der deutschen S t ä m m e , v e r m u t l i c h G e r m a n i e n s ü b e r h a u p t . D e n S t u r z des Thüringerreiches ( 5 5 2 ) und den T o d K ö n i g Irminfrieds h a t d e r D i c h t e r des g e w a l t i g e n I r i n g l i e d e s z u m H i n t e r -

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grund seiner Waffenmeister-Dichtung genommen. Er greift damit in die Problematik einer Figur, die auch die mittelhochdeutsche Dichtung noch liebt. Den alten Vertrauten, Iring, hatte sein Herr, König Irminfried, wohl in seiner Ehre gekränkt. Irminfrieds Gattin Amalberga, Ostgotin eigentlich, ist zu Chlodwigs Tochter gemacht wie zwei der Walküren des Wielandslieds; Chlodwigs Kebssohn Theuderich (der spätre Wolfdietrich), von seinen hochmütigen thüringischen Verwandten beleidigt, läßt den Schwager durch den von ihm geköderten Iring vor seinen Augen erschlagen. Aber mit ungeheurem und genialen Griff macht der Dichter den Verräter zugleich zum Rächer des Verrats, indem er ihn mit zweitem Hiebe den Theuderich niederstrecken läßt. Jäh war Iring aus seiner Meintat erwacht, rettet seine Ehre und die seines H e r r n zugleich, indem er ihn rächt. D a n n bricht er sich seine unsterblich gewordene Bahn. U n d wenn die Gleichung Iringsweg = Milchstraße wirklich das alte Lied beschloß, wie sie das Ende von Widukinds Berichterstattung bildet, dann hätten wir zum drittenmal in einem Lied aus dem Raum zwischen Main und Ostsee zuletzt den Aufschwung ins Mythische, hätten ein himmlisches Sinnbild dieser Unsterblichkeit: „Dort wo du dich hebst zum Himmel empor". Das langobardische L i e d v o n T h u r i s i n d schließlich wirkt wie ein Protest gegen die Verletzung des Gastrechts in der eigenen Halle; es verleiht dem, der es unter allen Umständen hält, dem Gepidenkönig Thurisind, eine ritterliche, fast übermenschliche Verklärung. Den, der seinen eigenen Sohn im K a m p f e erschlug, den blutjungen Alboin, schützt der Vater im eigenen Saal, in der gepidischen Königshalle, zeitweise gegen das Murren seiner Gefolgschaft, ja er gibt ihm die W a f f e n des eigenen Sohns und verleiht ihm damit die Wehrfähigkeit, wir können auch sagen, die Schwertleite, die Ritterwürde. Zur glänzenden Kühnheit des jungen Alboin kommt das ungeheure M a ß von Selbstüberwindung des Vaters. So abgestreifte Entsetzlichkeit, so ritterlich-schöne Verklärtheit begegnet kaum

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irgendwo im altgriechischen Heroismus, wohl aber mehrfach in der hohen ritterlichen Dichtung der Stauferzeit. Schmerzlich tragisch erfüllt bleibt die Figur des Vaters, aber glücklich und heiter gestaltet sich der Ausgang, wie ihn später die höfische Dichtung liebt. U n d es war doch das alte heroische Motiv von der sonst immer todbringenden Fahrt in die Burg des Gegners. Mag dieser Stoff im Gegensatz zu anderen später verlorengegangen sein, in seiner Haltung schlägt sich gerade hier am deutlichsten die Brücke zwischen Heldenlied und Ritterroman. Kapitel

II.

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nicht dem geistigen Erbe seiner älteren Brüder, des Römers und des Griechen, entziehen konnte, daß auch er dem lateinischen Christentum schicksalhaft überantwortet und gerade er zum Träger der abendländischen Reichsidee auserlesen war, zog Karl entschlossen die Konsequenz, nahm, wandelte und erfüllte das Unvermeidliche in Sprache, Geist, Baustruktur, Einheitlichkeit, Zielklarheit, Vorherrschaft nach Möglichkeit mit germanisch-deutscher Art. Wir Nachfahren sehen leicht, daß es, um vom germanischen Held zum staufischen Ritter zu gelangen, nunmehr dreier Größen bedurfte, wo bisher eine stand, daß zur germanischen Grundhaltung die antike Bildungsidee und die christliche Ethik sich schwesterlich gesellen mußten. H ä t t e n die Germanen nicht frühzeitig die Reichsidee übernommen, so wäre sie hingesunken. H ä t t e n sie nicht nacheinander die Sarazenen und die H u n n e n verjagt, so wäre kein Christentum in unserer Welt. Asien hätte es ausgelöscht. Reichsidee und Christentum waren also den Germanen geradezu überwiesen, gewiß nicht zu starrer Konservierung, sondern als lebendige Aufgabe, zu immerwährender Wandlung und Erfüllung. Schon indem Karl auf Übersetzung des Christentums, gegen seine hochtheologische Umgebung, in die deutschen Mundarten drang, war die erste Vorbedingung zu einer lebendigen Wandlung gelegt. Für die Übersetzung lateinischer Bildungsgüter gilt das gleiche. Wir wissen, wie hinter dem frühen deutschen Übersetzungsschrifttum, das unsere althochdeutschen Lesebücher füllt, Stück f ü r Stück Kaiser Karls Admonitio generalis von 789 steht, ferner der Druck seiner Aachener und seiner Frankfurter Konzilien von 794 und 802. Wille und Person des Kaisers hielten sie ab, als wenn er der Papst wäre. Das war germanisches Königserbe in ihm, denn im Germanischen war der König der einzige Mittler des Volkes zu Gott; er hatte keinen Hohenpriester neben sich. So nimmt denn — nach einem bairisch-langobardischen Beginn — seit 768 das deutsche Schrifttum seinen ersten großen Aufschwung in einer Übersetzungs- und Vermittlungsliteratur,

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der der Wille des Königs Raum schuf. Es erfolgt die Erneurung und Erweiterung des sogen, k e r o n i s c h e n G l o s s a r s , die Anlage weiterer Wörterbücher, dienstbar gemacht dem kaiserlichen Verdeutschungswillen. Eben dies keronische Glossar, nach seinem ersten Worte neuerdings der A b r o g a n s getauft, führt uns auf jenen früheren Beginn, durch den wir über Freising bis ins Oberitalien der Langobarden zurückblicken. Freising war, schon in der ersten H ä l f t e des 8. Jhdts., ein allerfrühster Mittelpunkt deutscher Bildung; Bischof Arbeo war die Persönlichkeit, um die sie sich gruppierte, aber durch ihn eben, der seine Bildung aus Langobardien hatte, stellt sich die Verbindung mit der antiken Schulüberlieferung her. Arbeo ist der U r heber und lenkende Geist dieses frühesten deutschen W ö r terbuchs antiken sprachlichen Bildungsguts. Aber durch ihn eröffnet sich ein reizvoller Fernblick auf die Rolle der Langobarden, die ja — wir wissen es schon aus dem 1. Kapitel — gleichfalls ein deutscher, sogar ein hochdeutscher Stamm sind. U n d der Wille Karls ergriff folgerichtig Baiern wie Langobardien, schlug sie zu seinem germanischen Reich und setzte die begonnene Vermittlung der christlichen Latinität in größtem Ausmaße fort. Auf jene „Gesamtvermahnung" antworten das S t . G a l l e r C r e d o , der W e i ß e n b u r g e r K a t e c h i s m u s , die T a u f g e l ö b n i s s e , die V a t e r u n s e r , die nun auf Deutsch wie ein rechtes Bauerngebet wirken, unmittelbar verständlich einem Volk, das oftmals Notzeiten zu überstehen hat, dem nichts von allein in den Mund wächst und das sich Gott wie einen Haus- und Sippenvater vorstellt, der das tägliche Brot verteilt. Es folgen das G l o r i a , die S y m b o 1 a , die S ü n d e n v e r z e i c h n i s s e , die freilich manch unbekanntes Ding zum erstenmal in deutscher Sprache benennen, folgt das fränkische Original der M o n s e e r - P r e d i g t e n . Dem Frankfurter Konzil entspringt das Stück über die „ B e r u f u n g d e r V ö l k e r " , welches das Recht aller Sprachen vor Gott verficht, also auch das Recht der deutschen. Hierin eben stieß

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Karl wie so o f t auf den Widerstand seiner Umgebung. Alkuin vertrat noch wie einst Bonifaz die alte Lehre der Kirchenväter von den drei heiligen Hauptsprachen Griechisch, Hebräisch, Latein, die an der Wiege der christlichen Kirche erklangen. Für sie war es durchaus zweifelhaft, ob eine T a u f e Gültigkeit habe, die in deutscher Sprache v o l l zogen war. Aber gerade durch Karl, durch seine Kapitularien und Synodalbeschlüsse, wurde dieser Irrtum überwunden. Es folgen E v a n g e l i e n ü b e r s e t z u n g s v e r s u c h e , weitere Gebete und die Übertragung von Schriften des Kirchenvaters I s i d o r , darunter der „gegen die Juden", die nun mit einem Male eine erstaunliche H ö h e der deutschen Kunstprosasprache verrät. Einer Agende von 802 antworten die deutschen B r u c h s t ü c k e d e r L e x S a 1 i c a und die ersten U r k u n d e n in deutscher Sprache, die uns, unschätzbaren Wertes, die ersten deutschen Flurnamen aus der W ü r z - und Hamelburger Mark überliefern. U n d auf das Aachener1 Konzil schließlich antworten die deutsche B e n e d i k t i n e r r e g e l und die deutsche Vermahnung, den Glauben und das Vaterunser zu lernen. All dies erste deutsche Schrifttum wäre nicht da ohne Karl. Hier griff sein Geist in die unerhörte U m w a n d lung energievoll ein; es handelte sich um die Gleichschaltung mit dem Abendland zwecks seiner Verwaltung, möglichst ohne Verlust der eigenen Art. An sich bestand natürlich auch f ü r Germanien nun in Europa die Gefahr einer radikalen Überfremdung, wie sie f ü r Gallien längst vollzogen war. Es drohte der Prozeß einer Germania Romana et christiana, ein Prozeß, der aus Gallien eine unzweideutige Gallia Romana et christiana gemacht hat, so daß die Gallier sich seitdem nicht mehr zu den Kelten, sondern zu den Romanen rechnen. U n d es drohte ferner der Prozeß einer völligen Abtrennung des deutschen Nordens vom deutschen Süden. Sprachlich wie kulturell standen die Niedersachsen bereits gefährlich abgetrennt von den übrigen Deutschen. Beide Prozesse zerschlug des Kaisers gewaltige H a n d . Den einen durch den

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Zwang zur Sprache der Väter, den andern durch die Eingliederung der Sachsen in e i n Reich mit Franken, Alemannen, Baiern, Friesen und Langobarden. Das war in doppelter Richtung eine nun unzerstörbare Verstärkung des germanischen Elements. U n d daß also die beim Willen zur Reichsidee und zu ihrer Durchführung unvermeidliche Germania Christiana nicht f ü r ewig und immer wie in Gallien eine Romana war, sondern tausendfältig heimischen Gedankengängen offenstehen konnte, die sich uns auch im staufischen Rittertum offenbaren werden, das ist eine deutsche Folge des germanischen Dranges zur Sprache der Väter in Karl. Wie der König nach germanischer Weise sich priesterlicher, ja sogar theologischer Funktionen annahm, auch in der c h r i s t l i c h e n Religion (792 machte sich Karl z. B. zum Abte von Murbach), so erfüllte der deutsche Adel nach seinem altgermanischen Vorrecht die kirchlichen Stellen bis in die Mönchskonvente hinein, die in St. Gallen, Reichenau, Fulda usw. reine freiherrliche Adelskonvente waren. U n d da diesmal mit der Religion in engster Verbindung die antike Schulbildung gekommen war, so wurde auch sie das Vorrecht des deutschen Adels noch auf ein Jahrtausend hin; als der Adel sich später zum Rittertum erweiterte, wurde sie auch dessen Vorrecht. Unsere alten sogen. Sprachdenkmäler sind zugleich begreiflicherweise Bildungsdenkmäler, und da die deutschen Kleriker bis über die Zeit von Cluny hin ihre adlig-germanische Gesinnung nur wenig oder nicht immer unterdrücken ließen, atmen diese ihre Bildungsdenkmäler noch sehr o f t germanischen Geist. U n sere Dichtungsgeschichte hatte den Nutzen davon. D a n n eben dürfen wir uns nicht wundern, wenn zu Fulda das Hildebrandslied gerettet wurde, wenn Alkuin die Mönche von Lindisfarne anfahren mußte, daß sie die Heldenlieder im Konvent den Kirchenvätern vorzogen. So brauchten also in ottonischer Zeit Waltharius und Ruodlieb f ü r deutsche Geistliche nicht verwunderlicher zu sein als die Aufzeichnung der Islendingasögur und der Eddalieder f ü r nordische.

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Erscheinungen im Priestergewande wie P a u l u s D i a c o n u s und W i d u k i n d v o n C o r v e y sind dann keine Rätsel mehr. Die strengeren Geister wie A l k u i n , T h e g a n , W a l a h f r i e d scheinen bis zur kluniazensischen Zeit, die sehr viele Züge der altdeutschen Kirche beseitigt, fast die Ausnahme zu sein. Der adlig-kriegerische, ganz ungeistliche Ton, der durch so viele der alten lateinischen und deutschen „Geistlichendichtungen" weht „ P i p p i n s A v a r e n s i e g " , „ S c h l a c h t bei Font a n e t u m " , L u d w i g s l i e d , M o d u s O t t i n g usw. usw. - verrät eben die tiefeingeborne innerste Empfänglichkeit der adeligen Kleriker f ü r diesen Ton. So sagt denn Wibald von Stablo in Hinsicht auf Corvey: „Von diesen Brüdern wird nicht über die Regel (Sti. Benedicti) geredet, nicht über die Gewohnheiten von Monte Cassino, sondern von Rechtsangelegenheiten, Verwaltungen usw.; über die ernsten Sitten, Religion, Geduld, Demut, Nächstenliebe hört man niemals ein W o r t usw." U n d Alkuin verriet ihr literarisches Interesse mit der berühmten Frage, die wir kennen: Quid Hinieldus cum Christo? Man kann im lateinischen Sprachkleide zwei Richtungen zu dieser Zeit unterscheiden, eine besonders strenge, hochgelehrte und gebildete, auch in Geist und Stoff latinisierte, deren stärkster Träger der nordhumbrische Edle A l k u i n war, Vorsteher der Hofschule Karls, Abt mehrerer Klöster und schließlich eine A r t Kultusminister des Kaisers. E r ist es, der sich in seinen poetischen Werken mit Vorliebe im Bilde Virgils und Karlen im Bilde des Augustus sah, der f ü r den ganzen Kreis um Karl, in dem man philosophischen, theologischen, philologischen, astronomischen, künstlerisch-archäologischen Neigungen unter Einschluß der Frauen des H o f e s sich hingab, den Ausdruck A c a d e m i c i prägte, „die gute Freundschaft untereinander halten". Es gehörten ferner zu dieser Richtung der westgotische Edle T h e o d u 1 f , der in seinen Gedichten eine ganz besonders archäologisch-künstlerische Neigung und einen weltschmerzlichen Zug v e r r ä t ; der fränkische Edle A n g i l b e r t , der wie Einhard als Laie doch Abt war, Vater des Geschichtsschreibers N i t h a r d von Kaiser Karls T o c h t e r ( N i t h a r d ist es, der uns die Straßburger Eide überliefert), mehr in die Gegenwart greifend mit seinen Poemen, des K a i s e r s , des neuen Augustus

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R u h m und Baukunst, H o f j a g d und Familie feiern; M o d o i n v o n A u t u n , der den Anspruch auf renaissanceartige Geltung dieser Epoche ausdrücklich erhebt und als der w a h r e V a t e r des Stichworts „Karolingische Renaissance" gelten d a r f . Sie w a r s im f o r m a l e n Sinn, eine Art Klassizismus, eine intensivere R e z e p tion der A n t i k e in ein helleres Bewußtsein, als es in den langobardisch - merowingisch - romanischen Vorblüten der Fall w a r . Diese Leute betrieben das Idealbild einer alles beherrschenden Erneuerung der A n t i k e , eiferten den römischen Dichtern nach, a n deren R e t t u n g u n d Oberlieferung sie stark beteiligt sind, stehen allenthalben hinter den Schuleinrichtungen ihres H e r r n . Ihre Bedeutung ist mehr eine abendländische überhaupt als eine eigentlich deutsche. Die zweite Richtung füllte ihr nicht immer ganz so klassizistisches Latein mehr mit heimischen Stoffen. H i e r h i n rechnen w i r den langobardischen Edlen P a u l u s D i a c o n u s , der seine langobardische Geschichte z u m T e i l aus heimischen Helden-, ja Göttersagen erbaut. H i e r h i n auch möchten w i r E i n h a r d stellen, einen fränkischen Edlen, w i e d e r u m L a i e und Abt mehrerer Klöster zugleich, den berühmten Biograph seines H e r r n , der sein schönes Karlsbild kunstvoll a u f b a u t z w a r nach den strengen Kategorien des Sueton, stilistisch alles auf die A n t i k e projizierend, aber gerade auf diesem H i n t e r g r u n d den alten fränkischen V o l k s k ö n i g , der K a r l zeitlebends blieb, in w u n d e r v o l l s t e r Weise erkennen lassend. Der „Mönch von St. Gallen", N o t k e r d e r S t a m m l e r , hat dann ein p a a r J a h r z e h n t e später in seinem Karlsbuch das Bild des Kaisers noch reizvoller und ungeistlich-volkstümlicher gemalt. W i r mögen auch den großen R h a b a n u s M a u r u s von F u l d a hierher rechnen, A l k u i n s Schüler und trotzdem f ü r die deutsche Predigtsprache eintretend, eben d a m i t der Anreger der U b e r setzung der Evangelienharmonie T a t i a n s ins Fränkische, Lehrer O t f r i d s und des H e l i a n d d i c h t e r s . Er erhob nach des Kaisers T o d das Kloster F u l d a z u m M i t t e l p u n k t e der Bildung, aber er bezog in diese z u m Beispiel auch die altgermanischen R u n e n hinein, deren (23) Zeichen er in einem T r a k t a t behandelt. W i r erinnern uns, d a ß g e r a d e zu F u l d a z w e i Mönche das H i l d e b r a n d s l i e d gerettet haben. F u l d a w a r schon längst ein bedeutsames Glied der angelsächsischen Mission und Bildung auf deutschem Boden, hier s t a m m t e ein anderes sehr altes W ö r t e r b u c h her, der berühmte, fälschlich sogen. V o c a b u l a r i u s S t i . G a l l i . Gerade die angelsächsiche Mission w a r seit

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je von einem ausgesprochenen Zug zum Nationalen und Einheimischen begleitet. U n d gerade den Bestrebungen dieser unserer zweiten Richtung gehörte in ottonischer Zeit die Z u k u n f t . Zwei Züge an der „karolingischen Akademie" erscheinen besonders bemerkenswert und eindrucksvoll. Erstens blühte eine Art Gemeingermanien hier ja noch einmal auf, denn es waren Franken, Langobarden, Angeln, Sachsen, Friesen, Baiern, Alemannen und sogar noch ein Westgote hier versammelt und diese A k a d e m i e w a r also ein Abbild des großen Karlsreiches, das ja möglichst alle germanischen Stämme sammelte, im Kleinen. Sodann sind es mehrfach L a i e n , die hier eine Rolle spielen wie Einhard, Angilbert, N i t h a r d , adlige Laien, die dennoch die Abtswürde erhalten, Schriftsteller sind und hervorragende Bildung besitzen. Das sieht wie ein Vorspiel der Hohenstaufenzeit aus oder wie ein Nachspiel der Antike, ist beides zugleich und beruht eben auf den alten Vorrechten und Vorpflichten des germanischen Adels. W i r fügen hinzu, d a ß ja möglicherweise auch der Helianddichter ein Laie war. Jedenfalls scheint sich mit diesem gemeingermanischen literarischen Laientum eine Haltung zu berühren, die von den Angelsachsen, wo sie besonders stark ausgeprägt war, bis zu den Baiern reichte und die sich nicht scheute, auch christliche Stoffe mit der ganzen K r a f t des gemeingermanischen Stabreimstils und mit der ganzen Fülle der heimischen Anschauungen zu durchdringen. Das ist der denkbar größte Gegensatz zu der Alkuinrichtung, aber es ist nicht zweifelhaft, d a ß die Karolinger selbst Verständnis d a f ü r besaßen. Karl selbst liebte das Erbe der Väter auf den allerverschiedensten Gebieten und stieß sich sogar an ihren heidnischen Inhalt, ihre gentilitas, nicht. Ludwig der Fromme hat die altsächsische Bibeldichtung angeregt und stieß sich an die germanische Stilform nicht. Ludwig der Deutsche hat sich das M u s p i l l i , so wie er es hörte, höchstselbst aufgezeichnet, er stieß sich weder an die Stilform, noch an sehr heidnische Elemente wie das unheimliche W o r t Muspilli selbst. W e s s o brunner Gebet, Muspilli, Heliand, Genesis sind die deutschen Zeugnisse dieser Bewegung, die so etwas wie ein germanisiertes Christentum der W e l t geschenkt hat.

Greifbar nahe liegt unter der karolingischen Ebene überall noch die germanische Welt; wie freiliegendes Urgestein ragt es noch allenthalben heraus aus der karolingischen Landschaft. Wie in Karls eigener Seele, so lagen in jener ganzen Epoche die Dinge noch grob, groß und unvermittelt

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nebeneinander. Ein schönes karolingisches Prosagebet konnte sich noch einen besonderen Aufschwung geben durch viel ältere Stabreimverse über den ewigen Gott, über die Allmacht des neuen Schöpfergottes, der aus dem Nichts die Dinge der Welt hervorrief, Verse die, auch im i n n e r e n Stabreimstil, zur Zeit der ersten Mission in Baiern verfaßt worden sein mögen, so daß das ganze W e s s o b r u n n e r Gebet nun aussieht wie die Apsis eines uralten heidnischchristlichen Bauwerks, das ein neues karolingisches Ausgangsportal erhalten hat. - Eine Bußpredigt über das jüngste Gericht, ein früher deutscher Michelangelo in Versen, greift noch schöpferisch zur germanischen Stabreimform und läßt nur an ein paar besonderen Stellen maßloser Ergriffenheit den fallenden Rhythmus der alten Langzeile durchbrochen werden von dem steigenden Schwung des südlichen ambrosianischen Endreimverses. Diese Partien wirken wiederum wie neue Ausgangsprodukte oder neue Mittelstücke in älteren Bauwerken. Das mit germanischem Heimatgefühl geladene Wort Mittilagart, der dämonische Schreckensname M u s p e 11 s, jenes alten Ragnarökdämonen, vermag noch die Seele eines späten Karolingerprinzen so zu durchzittern, daß er sich dies ihn stark berührende Gedicht in ein Buch seiner Privatbibliothek verzeichnet. Beide Male berühren sich Karolingertum und Germanentum in eigentümlicher Weise. Die Berührung ist noch unmittelbarer im niedersächsischen Raum, der dem Reich als Morgengabe G e n e s i s und H e 1 i a n d schenkte. Es scheint sich um zwei verschiedene Dichterpersönlichkeiten zu handeln, bei aller stilistischen Verwandtschaft. Der Genesisdichter ist idyllischer und morgenfrischer veranlagt als der opernhaftere Heliand-Dichter. Ein germanisches Christentum ergoß sich nun hier, im H e 1 i a n d , in monumentaler Größe in ein deutsches Gedicht. Dabei glich die innere Situation dieses heiligen Buchepos in überraschender Weise der äußeren Situation des Volksstammes, dem der Dichter gehörte. Fern in Rumuburg herrscht der Weltkaiser, dessen Bild auf den Münzen steht. Der hat den

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Herodes zum Judenkönig erkoren, damit er des Reichs und Gerichts dort pflege und ihm Zins entrichte; dessen Residenz ist im Gau Galiläa, in Jerusalem weilt er nur ausnahmsweise. Zugleich hat der Weltherr noch einen Richter, Boten, Herzog im Land, Pilatus aus Pontien, der sitzt in Jerusalem. M a n sieht, die römisch-jüdische Spannung gleicht der karolingisch-sächsischen. Christus rückt w i e selbstverständlich in die Linie des aufstehenden V o l k s f ü h rers W i d u k i n d , Augustus in die Kaiser Karls, des Kaisers Beamte sind richtend und zinsfordernd im Land. Der an besonderen K r ä f t e n erkennbare Führer w i r d eine Gefolgschaft sammeln, die den Verdacht der Herrschenden erregt. der fremden und der mit ihnen verbundenen einheimischen. So christlich der Stoff des Heliand ist,, so germanisch sein Versgewand, sein Wortschatz und seine heroische Einkleidung; so sächsisch die Sprache ist, so fränkisch ihre Orthographie. Aber sein Stil hat nun eine völlig andere Ausdrucksgebärde als der frühgermanische der Eddazeit. Er hat alles Gleichmaß der Bewegung verlassen, ist breit ausladend, unruhig, maßlos, eifrig und unbändig geworden. Gewaltiger Drang nach Belehrung und Verkündung scheint ihn zu beseelen. Er l ä ß t nicht mehr los, w o v o n er einmal erfüllt ist, er strömt es, stets neu v e r w a n d e l t und variiert, immer wieder mit empor. Unendliche Bewegung, schwerer drängender eifervoller Rhythmus, verschlungene Wortstellung, Variationsverflechtung, endlose V e r z a h n u n g der Verse, ewiges Ringen der über die Versenden fließenden Perioden mit den Zeilengrenzen, Fülle und Anschwellung, W o g e n und Wechseln bezeichnen ihn. Aber auch hier handelt es sich um eine vornehm-heroisierende und zugleich völkische Kunst, nur vom Boden eines inzwischen gemütstiefer gewordenen Lebensgefühles aus. Die didaktische u n d gelehrte H a l t u n g , die A r t der Quellen- und K o m m e n t a r benutzung, die literarische S y n t a x , die Verquickung mit den karolingischen Missionsbestrebungen in Sachsen sind eine nicht wegzuleugnende Note. Aber das ingwäonische

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Edelingsideal ist ausgeprägter als das christliche Mönchsideal, und so kann der Dichter eben gerade zu dieser Zeit (s. o.) ein Laie gewesen sein. Wenn Christus neben dem eigentlichen König Herodes doch - oft mit den feinsten Mitteln - nach der Richtung des Gefolgsherrn stilisiert ist, der mit seinen Leuten, „kindjungen Burschen", durchs Land zieht, in die Herrenhalle zu Kana tritt und die Bergpredigt wie ein Thing eröffnet, so ist das die germanische Übersetzung des in der Frühkirche längst ganz ausschließlich herrschenden Krist-Königsbildes. Der Christus des 11. Jhdts, der für das Rittertum so bedeutungsvoll wurde, lebt hier, wie damals überhaupt, noch nicht. Das Samaritergleichnis fehlt hier, wie es bei Otfrid und überhaupt noch bis zu Hartmann von Aue fehlt. Man kann sehr wohl sagen, daß hier das Evangelium unter ingwäonischem Adel und Großbauerntum spielt; die Herrenhalle mit dem typischen jubilus aulae bildet für Diesseits wie Jenseits den Innenraum der Begebnisse: an der See, als Königshalle auf Erden, wie im Himmel auf der grünen Paradiesaue; Lichtwelt und Wonne des Lebens, freudige Daseinsbejahung umspielt uns hier wie dort. Daß dahinein nun die heroische Tragik fällt, ist dem Frühgermanischen gleich, ändert sich erst im staufischen Weltbild. See- und Schiffsleben in Bildern und Formeln wird mit der altniedersächsischen Spielart des germanischen Heldenliedes noch unmittelbar in Berührung stehen. Freilich die Lehre der Demut wird nicht vergessen, aber allzu Demütigendes im Stoffe bleibt im Gegensatz zu Otfrid einfach fort (Gespräch des Gefolgsherrn mit dem Weib am Brunnen oder Ritt des Königs auf der Eselin). Petrus ist zum Schwertdegen, Thomas zum Typus des getreuen Gefolgsmanns hinaufgeadelt, der mit Worten des Heldenlieds Gefolgstreue und Nachruhm preist. Es enthüllt sich in überraschender Weise, wie tief verwandt letzten Endes die Geschichte Christi mit der Situation des Heldenlieds war. Das Ende ist Tragik auch hier. Auch dieser Held könnte das Schlimmste vermeiden, gäbe er seine Ehre preis. Sehend Naumann, D e u t s c h e s D i c h t e n und D e n k e n

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und wissend zieht auch er in den Untergang nach Jerusalem. „Die wir nun todgeweiht fahren, fern werden wir sterben", gilt auch f ü r ihn. Freiwillige Übernahme des Schicksals in T r o t z und Trauer ist auch sein Entschluß, damit das Höchste leuchtend erhalten bleibt. Denn auch der Geist dieses Frühchristentums lehrte nicht anders als der des Heldenlieds, d a ß das Leben keinen Sinn habe, wenn man es nicht f ü r Großes und Weithinleuchtendes hingeben kann. Als Germanisch zu Deutsch ward, brauchte es deshalb noch lange nicht pfäffisch zu werden. Aber dieser längst vorkarolingische Wandel vom Stabreim-Zeilen- zum Stabreim-Hakenstil war weniger bedeutungsvoll als jetzt der karolingische Übergang zum E n d r e i m , zum Endsilbenreimpaar, verbunden mit der ambrosianischen Strophe zu je vier Kurz- oder zwei Langzeilen, ein weiches klangvolles Geschenk des römischen Christentums, dem in ungeheuersten Ausmaß die Z u k u n f t gehörte. Die Langzeile ward also nicht aufgegeben. Sie verbindet sich, nun durch Endreim geregelt, abermals zu Gruppen von zweien, dreien und vieren, und so entstehen Formen, von denen die mittelhochdeutsche Heldendichtung noch nach Jahrhunderten Gebrauch machen kann, in der Nibe'ungen- wie in der Rabenschlachtstrophe, aus denen aber vor allem das Otfridsche Langzeilenreimpaar, das vierhebige höfische Reimpaar und der Knittelvers stammt. O t f r i d v o n W e i ß e n b u r g ist es, der zum ersten Male die neue Form in größtem U m f a n g verwendet, aber „ C h r i s t u s und die S a m a r i t e r i n " , P e t r u s l i e d , G e o r g s l i e d , P s a l m 1 3 8 sind vor, neben oder nach ihm weitere Proben dieser frühen neuen Poesie der Karolinger Zeit. Indem die Dichter die Silben nicht zählen, A u f t a k t und Senkungen frei behandeln, indem sie die neuen Langzeilen dem alten Gruppenbau zu zweien, dreien und vieren unterwerfen, verband sich germanisches Versgefühl mit der neuen Form. O t f r i d ist eine gänzlich andre Persönlichkeit als der Helianddichter; eben daran, daß sie beide die gleiche Vor-

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läge haben, ermißt sich das leicht. Es kommt ihm nicht auf Epik, auf die Lebensgeschichte des Heilands an, sondern er will dessen göttliche Natur und Wirksamkeit, seine Stellung im Heilsplan erbaulich, theologisch, allegorisch, symbolisch darlegen. Mit seinen Widmungen, Prologen, Epilogen, Akrostichen und Telestichen ist er ein Klassizist. Wer an seinem frühen Humanismus zweifelt, braucht nur sein schönes und gediegenes Verskapitel Cur scriptor hunc librum theodisce dictaverit zu lesen, um ihn einzusehn. Da spricht er auf Fränkisch vom literarischen Nachruhm, von der Strenge der Quantitäten, von der Zierlichkeit der Versfüße, davon, daß ein Vers gefügt sein müsse wie ein Kunstwerk aus Elfenbein. Und nun bricht, durch Karls germanische Art geweckt, ähnlich wie vorher im Vorwort der Lex Salica oder wie nachher beim Monachus St. Galli, ein früher typisch humanistischer Nationalstolz glühend in ihm durch. Griechen und Römer hätten in Prosa und Vers ihre Weisheit offenbart, warum sollten die Franken zurückstehn? Sie seien ebenso kühn und stolz wie die Römer und es sei nicht wahr, daß ihnen die Griechen den Rang streitig machten. Warum sollten die Franken nicht auch auf Fränkisch Gottes Lob singen? „Es ist gewiß noch nicht so eingesungen und in Regeln gebändigt, und doch hat es seine geordnete Art in schöner Einfachheit." Warum sollten die Franken zu dem einen unzuständig sein, sie, die doch nicht zurückblieben hinter den Griechen und Römern, Medern und Persern. Stellung und Anspruch des karolingisch-fränkischen Volkes sind diesem Dichter deutlich bewußt. Bei dem Helianddichter ist der Gesichtssinn sehr ausgebildet, bei Otfrid vor allen Dingen das Gehör. Besonders die Wonnen des Himmels sind süß und lieblich durchmusiziert. Er erscheint uns als echter Lyriker, wenn auch als Lyriker wider Willen, und einige Partien seines Werkes, wie das bildhafte Gedicht Mariae Verkündigung, können, die lateinische Literatur mit eingerechnet, als die schönsten Gedichte des ganzen Zeitalters gelten. Hier wird zugleich die endliche Eroberung des 3*

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Bildhaft-Beschreibenden auch in der Dichtkunst sichtbar, welche die Kunstgeschichte an der Karolingerzeit rühmt. O t f r i d malt wie ein W a n d - oder Buchmaler oder beschreibt wie ein Elfenbeinschnitzer, das tat der Heliand nicht. Otfrids Wortschatz atmet Stimmung, Wärme, Gefühl, stille minnigliche Schönheit, weiche innere Regung. Wenn es in der Benediktinerregel heißt, der Mönch solle leniter et sine risu, humiliter loqui, nun so eben spricht Otfrids Christus, so spricht O t f r i d selbst. H ä l t man das Aristokratische, sehr fest kriegerisch Stolze und Männliche, den starken freudigen Königstolz daneben, so ergibt sich eine fesselnde Struktur f ü r dieses auf Jahrhunderte hinaus ersten deutschen namentlich bekannten Dichters Geist. Was der norddeutsche Helianddichter als zu demütigend und kleinbürgerlich wegließ, der Südrheinfranke O t f r i d aber sehr predigtmäßig mitteilte, das Gespräch des fahrtmüden Heilands mit der S a m a r i t e r i n a m B r u n n e n , bringt als Sonderlied ein andrer südwestdeutscher Dichter in großartig schmuckloser, episch straffer, auf vielfache Weise fast frühgermanischer Technik. Neuer Marsch- und Chorgesang auf den ersten Gefolgs- und Scharmann Christi, auf S t . P e t e r , ferner auf S t . G e o r g , der den Weg vom Helden zum Heiligen geht, das ererbte Reich ließ und sich ein Königreich gewann im Himmel, stellt die ersten deutschen Kirchenlieder dar, beide vielleicht von der Reichenau. Lebendig wandelt sich hier überall das Neue in eigene volkstümliche Form. Das P s a l m l i e d 1 3 8 offenbart die unentrinnbare Allwissenheit, erschreckende Allgegenwart, unglaubliche Allmacht des neuen Gottesbegriffs, wie das Wessobrunner Gebet seine erstaunliche Vorewigkeit enthüllte. — Aber die neue Reimpoesie dehnte sich alsbald auch aus auf die weltliche Dichtung. Pippins des Karlssohns S i e g ü b e r die A v a r e n 796, die karolingische Bruders c h l a c h t b e i F o n t a n e t u m 841 waren noch im lateinischen rhythmischen Zehnsilber gedichtet, da diesen

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fränkischen Dichtern der deutsche Stabreim offenbar schon zu altmodisch war; aber im gleichen frischen kampfgewohnten Tenor, nun aber deutsch im Otfridschen Kunststil, erklingt das L u d w i g s l i e d auf den Normannensieg des jungen Karolingers bei Saucourt 881. Ohne gattungsmäßige Verbindung mit der christlichen oder klassischen Latinität setzt dies Gedicht in neuer deutscher Sprache die Linie des altgermanischen Königspreislieds fort, aber zugleich weitvorausgreifend macht es im König schon den christlichen Ritter sichtbar, sein Sieg über die Heiden ist zugleich des neuen Gottes Sieg. U n d so mündet auch dieses Kapitel schon im Ausblick auf das Rittertum. Das nächste wird sich darin verstärken. Kapitel

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Deutsche Dichtung in ottonischer Zeit. Überraschend schnell und reich vollzieht sich nun in ottonischer Zeit aus solchen Anfängen die große W a n d lung des karolingischen Klassizismus oder dessen, was an der karolingischen Renaissance klassizistisch war, ins Deutsche, auf allen Gebieten, selbst die kaiserliche Idee bekam ja einen viel stärkeren nationalstaatlichen Untergrund in einem deutschen Königtum. Der gewaltige Zuschlag des norddeutschen, sächsischen Raumes zum Reich wirkte sich f ü r uns beglückend aus; das Abrücken vom Klassizismus karolingischer Art in Deutschland wird desto sichtbarer, je mehr er nämlich in Romanien rein und streng, aber etwas unschöpferisch und unfruchtbar weiter blüht. Zwar die Sprache war sogar in größerem U m f a n g als vorher auch im deutschen Raum die lateinische Sprache, so gab es ja auch in Romanien kaum eine nationalsprachliche Literatur, das Reich schien lateinisch sprechen zu sollen, aber vom Latein ganz Europas schrieb man im deutschen Raum doch jetzt die nationalste Form. Ja Notker Labeo Teutonicus schenkte jetzt sogar große

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Werke der antiken und spätantiken Literatur seinem Kloster in deutscher Sprache, auch die Psalmen, fügte zu O t f r i d die nächsten großen deutschsprachigen Literaturerscheinungen und setzte den Impuls Kaiser Karls also ungemein mächtig fort. So kann zwar die karolingische Renaissance, später die Epoche des klunizensischen Geistes, die höfische Kultur, der Humanismus, das Barock usw. auch in andern europäischen Ländern wiedergefunden werden, aber die Wunder der ottonischen Zeit besitzt Deutschland allein. Es gibt so wenig eine Hrotsvit, einen Waltharius, ein Cambridger Liederbuch, einen nationalsprachlichen Boethius oder Aristoteles, es gibt so wenig einen Ruodlieb in ganz Romanien (einen Boethius freilich schuf f ü r sein Volk auch der angelsächsische König Aelfred in heimischer Sprache), wie es eine Reichenauer Buchmalerschule, eine so klare und so beliebte Architektur der Krypta, eine Begründung so frühromanischer Baukunst wie St. Michael , in Hildesheim oder die dazu gehörigen Bronzewerke in Türe und Säule irgendwo sonst in Europa gibt. Hier hinkt nirgends die deutsche Kunst irgendwo hinter dem Romanischen her. Die Fremde, die zuletzt noch einen starken Einfluß gewinnt, ist die byzantinische; aber sie kam in der Dichtung doch nirgends so uneingeschränkt zum Ausdruck wie etwa in der Bartholomäuskapelle zu Paderborn. So muß man denn die „ottonische Renaissance" in wesentlichen Stücken trennen von der karolingischen, aus der sie doch stammt. Sie bleibt kein Klassizismus und es erfolgt in ihr der starke glückliche Aufbruch zu etwas Anderem, Neuem, durchaus Eigenem. Das Christliche erstarkt langsam und sicher, aber auch das Einheimische nimmt wieder zu, die Dinge beginnen sich zu ordnen. Jenes wird langsam innerlicher und frömmer, dieses bringt das Kriegerisch-Heroische zurück, aber auch die reale und romantische bunte Volkstümlichkeit. Heroisch und fromm, reich und volkstümlich sind so die Signaturen der Zeit. Es beginnt der Ritter sich genau so zu entwickeln wie der

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Goliarde oder Vagant. Hier fängt das deutsche Mittelalter an, hier beginnt neben allem Caesarismus das erste deutsche Königtum. Hier erscheint das Wort Deutsch nunmehr in regulärem, uns gewohntem Gebrauch. Es erhöht sich über das Karolingische hinaus die starke Energie und Aktivität auch auf dem geistig-künstlerischen Gebiete, die sich alsbald das Drama ( H r o t s v i t ) , die heroische Buchepik ( W a l t h a r i u s ) , die große deutsche Übersetzungsprosa ( N o t k e r ) , die Geschichtsschreibung in Prosa ( W i d u kind, T h i e t m a r , Liutbrandi der Langob a r d e ) und Epos (wiederum H r o t s v i t ) , die erste bunte reiche Kunstlyrik seit der Antike ( C a m b r i d g e r L i e d e r b u c h ) , das Klosteridyll ( C a s u s St. G a l l i ) , die Tierdichtung, den Schwank und vor allem den ersten Versritterroman in Europa ( R u o d l i e b ) geradezu erobert mit Anmut und Kraft. Alles was geschah, war nicht mehr beschränkt wie einst auf den Kaiserhof und die drei, vier alemannisch-fränkischen Klöster:, — Stammesfürsten und Herzöge, Bischöfe und jene hundert weiteren Klöster und Stifte, die man schon zu Ottos I. Zeiten in Deutschland zählte, waren inzwischen dem Beispiel gefolgt. Der sächsische Norden erschloß sich als ein Quellbecken unverbrauchter Kraft, das neue Land der Krone trat überraschend schnell an die Spitze aller kulturellen und politischen Geschäfte; dazu kamen die Bischofsstädte. des Rheins, aufwärts den Strom vom ottonischen Köln aus, und ferner die alte Bodenseegegend, jetzt in besonderer Blüte. Da verlor sich bei so veränderten Grundlagen und bei so erweitertem Kreis die Form des strengen und starren Klassizismus. Alles wird um eine Idee allgemeiner, zugänglicher, volkstümlicher, und der Inhalt der lateinsprachlichen Literatur ward immer deutscher, in gewissem Sinn gar germanischer. Nun strömt das nationale Kolorit, die Heldensage, strömt das volkstümliche, die Volkssage, strömt das "Wunderbare und das Phantastisch-Mystische, die fromme Legende, die Märchennovelle ein und prägt den Stil

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der Zeit. Es war nichts Negatives, was sich so vollzog, es war im höchsten Grade Positives, Gesundes, Organisches, Schöpferisches. Als die Brüder Grimm nach deutschen Sagen suchten, konnten ihnen die karolingischen Autoren - den einen langobardischen Paulus Diaconus ausgenommen — keine Ausbeute gewähren, aber die sächsisch-ottonischen boten sie ihnen in reichster Weise. Wenn E k k e h a r d jetzt die alte westgotische Heldensage von Walthari und Hildegunde erneuert, so erzählt W i d u k i n d v o n C o r v e y in erwünschter Ausführlichkeit den ganzen Inhalt des alten thüringischen Heldenlieds von Iring und Irminfried mitsamt einem reizenden „Flußgespräch" an der Unstrut, so mündet der R u o d l i e b in die Heldensage. Diese Dinge gehören untrennbar zusammen; die Irminsul ersteht verchristlicht wie der Waltharius, in der Hildesheimer Bernwardsäule wieder auf. Die heiligen Quellen, die Karl gerade noch offen hielt, die der christliche Klassizismus Alkuins, Ludwigs, Walahfrieds aber verschüttete, fließen jetzt wieder neu, so stark, daß sie selbst der Geist von Cluny und Hirsau nicht mehr ganz versiegen lassen konnte. Es ist gewiß kein Zufall, daß sich noch einzelne historische Figuren der Ottonenzeit in der deutschen Heldendichtung ablagern konnten: Oda, die Stammutter der Ottonen, als Frau Uote verewigt, die Markgrafen Gero und Eckewart, der Bischof Pilgrim schließlich von Passau. Zu den Benediktinerklöstern kommen die hochadeligen Frauenstifter, ohne die ewigen Gelübde der Keuschheit und ohne strenge Klausur. Zur Gandersheim gesellen sich Herford, Essen, Nordhausen, Quedlinburg, Gernrode. Man weiß auch aus der politischen Geschichte der Zeit, Frauen spielten jetzt nicht mehr nur eine dekorative Rolle. Die Frau war wieder Kamerad des Mannes geworden wie einst in germanischer Zeit, Genossin in Recht, Stand und Würde, nunmehr auch in Bildung und Kunst wie H r o t s v i t , war wieder Herrin im Haus, Herrin womöglich im Herzogtum, wie jene Hadwig auf dem

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Hohentwiel, oder im Reich wie Adelheid, Theophanu, Mechthild. Eine Frau, eben Oda, die Stammutter der Ludolfinger, hatte den eingreifenden fränkischen Kultureinfluß in das sächsische Geschlecht gebracht. Eigenmächtigkeit, Geachtetheit, Selbständigkeit der Frau in ottonischer Zeit spiegelt sicher germanische Verhältnisse wider, die auch hier zum Durchbruch gelangen. Von hier bis zu der hohen Stellung der Frau im ersten Ritterroman, dem Ruodlieb, ist kein großer Schritt. Man entwerfe sich von Hrotsvit kein falsches Bild, kein zimperliches Altjüngferchen ist sie gewesen, aber die keusche natürliche Reinheit der Frau ist ihr ewiges Thema. Energisch verfährt sie dabei, tapfer im Zugriff auch beim Derben und Natürlichen, eine ihrer K r a f t bewußte Frau der Ottonenzeit; wenn ihre Dichtung niemandem gefalle, ihr selbst gefalle sie allemal, sagt sie, und sie wolle zeigen, wie die sogen. Schwachheit der Frauen o f t mehr vermöge als die Robustheit der Männer, - wenn nur die K r a f t natürlicher Reinheit hinter den Frauen stünde. Sie war Bürgerin des römischen Reichs, Christin, Germanin in seltsamer Durchdringung zugleich. Frauenrollen stehen mehr oder minder unmittelbar im Mittelpunkt ihrer Stücke. Alle ihre "Werke sind lebendig, natürlich, trotzdem es - in den 8 kurzen Epen aus leoninischen Hexametern, wie in den 6 Dramen aus gereimter Prosa - sich immer um fromme Legenden handelt. Von "Weltflucht ist keine Rede, auch wenn es sich ausschließlich um Keuschheit und Jungfräulichkeit dreht. Die Klöster und Stifter waren nicht außerhalb der Welt, vielmehr sie sind ihre Zentren gewesen; wir sind noch nicht in der Hirsauer Zeit, die Verbindung mit König und hohem Adel war noch naturgemäß und germanisch eng. Hier lebte die Vergangenheit, hier lebte die Gegenwart. Hier stiegen die Kaiser ab, hier gingen sie zur ewigen Ruhe ein. Man war Gott und der "Welt zugleich so nahe im „Kloster" der ottonischen Zeit, wie ein Dichter es sich nur wünschen kann. H r o t s v i t w a r etwa 934 geboren, sie hat also christliche Legenden zu frommen Novellen umgedichtet, sie hat dabei in

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der Theophiluslegende, v o m Manne, der sich dem T e u f e l verschreibt, ihrem Volke die erste Faustdichtung beschert. Ihr nahes Verhältnis zum Kaiserhaus und der A u f t r a g ihrer Äbtissin Gerberga, der Nichte Ottos, ließ sie, gleichfalls in leoninischen Hexametern, die T a t e n Ottos beschreiben, von der W a h l H e i n richs I. (919) bis zur K r ö n u n g des jungen O t t o (967), im Legendenstil und -Ethos und im strahlenden Nimbus eines Gotteshelden; mit W i d u k i n d hat sie vermutlich in literarischer Verbindung gestanden; die H e i m a t Gandersheim ließ sie das Gedicht über den U r s p r u n g des Coenobiums, des Stiftes, schreiben. Es w a r die Angehörige des Römischen Reichs, die mitteninne die 6 berühmten D r a m e n gedichtet hat, die ersten seit rund 900 Jahren, seit Seneca wieder, ausdrücklich um den Terenz zu verdrängen, d. h. durch Stücke mit einem ernsteren Inhalt, mit Helden, die vollkommen sind oder es durch die Bekehrung werden; so sind es diesmal dialogisierte Legenden. Es handelt sich um den M ä r t y r e r Gallicanus; um den kaiserlichen Richter Dulcitius, der verblendet die rußigen T ö p f e und P f a n n e n statt der edlen schönen Mädchen u m a r m t ; um den Callimachus, den frühen Romeo an der Leiche der Geliebten; um den guten alten Einsiedel Abraham, der tiefgebeugt, in der Rolle eines Liebhabers, das v e r f ü h r t e Mädchen Maria, seine Nichte, aus dem üblen H a u s e zurückgewinnt, bei Terenz plagt H e a u t o n t i morumenos sich vergeblich um den vertriebenen Sohn, in dem Mädchen siegte zuletzt ihr guter ursprünglicher Zug; um den Pafnutius oder die Bekehrung der schönen Buhlerin Thais; um die Passion schließlich dreier heiliger J u n g f r a u e n in dem Stück Sapientia. Frauenrollen also, wie man sieht; reine J u n g f r a u e n bekehren einen Heiden zum Christentum (1, 2, 3, 6) oder sterben durch einen Heiden (2, 6); u n f r o m m e Buhlerinnen werden durch heilige Männer bekehrt (4, 5). Manche Szenen vornehmlich dieser ihrer dramatischen Legenden nehmen sich wie erzählerische Felder auf den Bronzetüren aus, weltkundig, klar und sicher in ihrer einfachen, spannungsreichen Arbeit. Sittliche Bewährung ist dieses „sächsischen W u n d e r s " Frömmigkeit, immer wird energisch das Ziel erreicht, sei es im Diesseits, sei es im Jenseits; der Verlorene w i r d gerettet, der Bedrohte entgeht der Bedrohung durch die einfache himmlische Wendung.

Die Ausdrucksformen der Zeit sind seltsam bunt, man ist wie auf der Suche nach dem Richtigen und Endgültigen. Ekkehard I. griff noch nach dem virgilisierenden Hexameter. Hrotsvit und der Ruodliebdichter gebrauchen ihn

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in leoninischer Form, d. h. mit Zäsurreim, das ist ganz unklassizistisch, eine der Modeformen ottonischer Zeit; liest man ihn rhythmisch, so ist es ein Kurzzeilenreimpaar wie die Otfridsche Langzeile auch. Für die Dramen nimmt Hrotsvit lateinische Endreimprosa. Notker L a b e o kommt zu einem lateinisch-deutschen Mischprosastil, den der Klassizismus Karls noch glatt abgelehnt hätte; lateinisch-deutsche Mischpoesie gibt es auch in der neu erwachenden Lyrik. Diese bewegt sich gewöhnlich in lateinischen Rhythmen und im einfachen Stil biblischen Lateins; klassische Metrik mit klassischem Stilapparat gibt es noch reichlich daneben, aber sie bezeichnet die Zeit nicht mehr. Die S e q u e n z , jene wundervoll neue rhythmische Form, in die sich zuerst religiös-lyrische und bald auch weltlich-lyrische, ja erzählende Verskunst lateinisch kleidet, in St. Gallen durch Notker Balbulus mindestens mächtig gefördert, wird eine der H a u p t f o r m e n ottonischer Dichtung, später entwickelt sich aus ihr rein deutsch der Leich. Im schönen, feierlich schweren, paarweise gegliederten Bau, der allen Klassizismus weit hinter sich ließ, hat sich das ottonische Zeitalter einen ganz eigentümlichen Ausdruck seines Wesens geschaffen. Stark war an ihrer Entstehung das musikalische Element beteiligt, sie bezeichnet eine neu errungene Einheit von Dichtung und Musik, kennzeichnet den Aufschwung der Musik in ottonischer Zeit und trägt zugleich etwas architektonischen Charakter wie ein langer Gang mit paarweise gegliederten Säulen. N o t k e r I I I . L a b e o , Mönch und Schulmeister zu St. Gallen, 1022 siebzigjährig gestorben, war der N e f f e des Walthariusdichters Ekkehard I. und der Oheim des Verfassers der Casus Sti. Galli, Ekkehards IV. Von seiner gewaltigen Lebensarbeit, den vielen großen Übersetzungswerken, die mit einer völlig freien Bearbeitung eine fortlaufende Kommentierung verbanden, sind erhalten: der Boethius De consolatione Philosophiae; des Martianus Capella Nuptiae Philologiae et Mercurii, Buch 1 und 2; die Kategorien und die Hermeneutiken des Aristoteles

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nach der lateinischen Übersetzung des Boethius; der ganze Psalter; außerdem liegen vor ein deutsches Schriftchen über die Musik und zwei lateinische über Logik und Rhetorik. Das geistesgeschichtlich Wichtigste an dem Werk dieses frommen, weisen, gütigen, gelehrten, des täglichen Lebens kundigen, an Logik und Astronomie besonders interessierten Mannes ist sein deutscher Stil. Wollte Hrotsvit den Terenz verdrängen, - nun so sind niemals vor oder nach Notker römische Autoren ihrer üppigen Latinität in Sprache, Schmuck und Stil so bewußt und systematisch entkleidet worden wie Boethius und Martian von ihm. In den Psalmen wird von ihm der lateinischbiblische Stil, mit seiner Verschmähung der metaphorischen Tropen und alles klassischen Apparates, weithin gewahrt; Notkers Mischsprache erwähnten wir schon, seine Syntax latinisiert, aber stilistisch war es mit allen Mitteln ein rein deutsches Gewand, mit dem er die beiden Spätlateiner bekleidete: an Stelle des antiken Gewandes zog er ihnen das des germanisch-deutschen gehobenen Prosastils, etwa der alten Rechtssprache, an, ein ungemein bedeutungsvoller Vorgang. Es erblüht eine innige zarte lateinische Lyrik, die manchen T o n und manches Motiv der späteren C a r m i n a Burana f r ü h lingshaft vorweg nimmt. Sie liegt uns vor in jenem nach C a m b r i d g e verschlagenen, rheinischen, etwa speierischen, L i e d e r b u c h , das in seinen 41 Originalen mit 6 deutschen Königen und vier deutschen Bischöfen in Verbindung steht, in buntem Gemisch Begrüßungslieder und Totenklagen f ü r weltliche und geistliche Fürsten, Schwanke, Lügenmärchen, Gedichte rein religiösen Inhalts (Hymnen, Legenden), solche ethischen, musikwissenschaftlichen Inhalts, sowie N a t u r - und Liebeslieder enthält. Sie stammen aus hochgebildeten geistlichen Kreisen, von den Verfassern ist wenigstens einer, der kaiserliche H o f kaplan Wipo,bekannt; Frauen mögen beteiligt sein; Satire auf Geistliche selbst und Schwanke über sie (Alfrads Eselin; Priester und 'Wolf, in dieselbe Grube gefallen; der kleine Abt Johannes), ironisierende Behandlung des Wunders, solches und anderes mehr weist auf den entstehenden literarischen T y p des Clericus vagans, auf die H a n d s c h r i f t als das „Textbuch eines ältesten

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Goliarden" hin. Weltliche Dinge, Schwanke, Scherze hüllen sich ganz nach dessen Art in geistliche Formen, so der Modus Florum (Wer am besten lügen kann), der Modus Liebinc (der Schwabenstreich vom Schneekind) in Sequenzenform. Neue und unerhörte T ö n e der N a t u r und der Liebe zeigen, wie die Macht des Geistes und der Seele neben aller Bildung wirkt. „Kleriker und N o n n e " nennt man ein fast ganz getilgtes zartes Liebesgespräch in Mischpoesie, aber dem betörenden V e r f ü h r e r gelingt scheints die V e r f ü h r u n g der S t a n d h a f t e n nicht. De Lantfride et Cobbone ist eine rührende Freundschaftssequenz. Auch l a n d f r e m d e n Liedern stand die Sammlung o f f e n gastlicherweise und bezeichnend genug, auch in der Auswahl: das berühmte Romlied O Roma nobilis ist hier auch überliefert. Trier begrüßt seinen neuen Bischof im Stil des Hohenlieds; Wipos Klagelied auf Konrads I I . T o d wird 1039 im Speirer D o m gesungen worden sein. Ottonischer Zeitstil arbeitet mit eingestreuten griechischen W ö r t e r n . Die Ottonen leben alle drei im Modus Otting, einem Preislied-Zeitgedicht, nunmehr natürlich lateinisch und in Sequenzenform, aber gattungsmäßig ist es noch ein germanisches tal, eineFürstengenealogie in Versen. Ottos Sieg auf dem Lechfeld und der H e l d e n t o d Konrads des Roten von Lothringen bilden den Mittelpunkt. Das Gedicht De Heinrico — Otfridsche Verse, aber in Mischpoesie — verklärt ein Ereignis aus dem Kaiserhaus, die Empörung Heinrichs gegen seinen Bruder O t t o I. und die Versöhnung Weihnachten 941 zu F r a n k f u r t , um diese Dinge in der öffentlichen Meinung zurechtzurücken, ist also ein erstes politisches Gedicht in (halb) deutscher Sprache, ein Preislied-Zeitgedicht mit dem Motiv der Begegnung im Dom. E h e r als H r o t s v i t u n d N o t k e r , f r ü h e r als d i e m e i s t e n dieser L i e d e r e n t s t a n d e n w a r e n , w a r E k k e h a r d I. ( e t w a 9 0 0 - 9 7 3 ) a n seine Waltharii poesis, seine vita Waltharii manu fortis, w i e E k k e h a r d I V . sagt, d e r sie s p ä t e r e i n e r Ü b e r a r b e i t u n g u n t e r z o g , g e g a n g e n ; so e r k l ä r t sich d i e n o c h s t a r k a n t i k i s i e r e n d e F o r m . H i e r ist, u m g e k e h r t w i e n a c h h e r bei N o t k e r , e i n e m g e r m a n i s c h e n S t o f f ein virgilisch-christliches Kleid angezogen w o r d e n . U n m i t t e l alterlich, u n d schon v o m „ R u o d l i e b " nicht mehr befolgt, ist d i e s t r a f f e , w o h l g e g l i e d e r t e , ü b e r s i c h t l i c h e u n d u n z e r s t ö r b a r e A r c h i t e k t u r des A u f b a u s . Sie ist a n t i k u n d g e r m a n i s c h z u g l e i c h ; sie b e s a ß g e w i ß s c h o n im K l e i n e n d a s

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a l t a l e m a n n i s c h e Lied, das w o h l ausschließlich d e n K a m p f Walthers mit Gunther und H a g e n und den K o n f l i k t Hagens zwischen Mannen- u n d Freundestreue behandelte, u m die g a n z e V o r g e s c h i c h t e aus d e m L i e d selbst h e r a u s l e u c h t e n z u lassen, u n d n u n h a t sie u n s e r B u c h e p i k e r in d i e e b e n m ä ß i g e B e h a n d l u n g aller T e i l e , d e r S z e n e n a m H u n n e n h o f , d e r F l u c h t , d e r S z e n e in W o r m s , d e r elf E i n z e l k ä m p f e u m g e s e t z t , h a t seine k l a r e n R a u m - u n d Z e i t v o r s t e l l u n g e n m i t virgilischen A n k l ä n g e n a u s g e s c h m ü c k t , h a t alles m i t g e n a u e s t e r M o t i v i e r u n g u n d K a u s a l i t ä t , m i t folgerichtigem Wirklichkeitssinn neuerfaßt. Mit Recht v i e l g e r ü h m t w i r d seine a b w e c h s l u n g s r e i c h e K u n s t in d e r B e h a n d l u n g d e r E i n z e l k ä m p f e , d e r W a f f e n , W u n d e n , gewechselten W o r t e ; aber im Gesamtton und Einzelnen, vor a l l e m a u c h i m kriegerischen T e n o r sowie im Interesse f ü r W a f f e n u n d W u n d e n sind diese E i n z e l k ä m p f e a u f s s t ä r k s t e b e e i n f l u ß t v o n d e r klassischen A n t i k e , v o n S t a t i u s u n d O v i d . A n t i k in erster L i n i e ist w o h l a u c h die neue G r u n d idee, d e r F l u c h d e r avaritia, die auri sacra fames, als d e r e n b e t ö r t e s O p f e r besonders G u n t h e r erscheint. H e i ß t er a u c h d e r superbus, so s t a m m t das w o h l aus d e r c h r i s t l i c h e n E i n k l e i d u n g . W a l t h a r i i w a r j e t z t n u r n o c h als christlicher H e l d v o r s t e l l b a r , d e r G o t t u m V e r z e i h u n g f ü r seinen Selbstruhm bittet, der seufzend nach dem K a m p f die zers t ü c k e l t e n L e i c h e n w i e d e r z u s a m m e n f ü g t , sich n i e d e r w i r f t u n d z u G o t t betet, G o t t f ü r seine R e t t u n g d a n k t , reuig u n d d e m ü t i g i h n b i t t e t , die G e f a l l n e n im Jenseits w i e d e r sehen z u d ü r f e n . Zeitstil sind die i m m e r h i n z a h l r e i c h e n , t r o t z allem v o r h a n d e n e n leoninischen Verse, d i e A u f f a s sung d e r B u r g u n d e r als F r a n k e n . A b e r g e r m a n i s c h ist die geringe R o l l e des n o c h g a n z u n g a l a n t e n Liebesverhältnisses g e g e n ü b e r d e r u n g e h e u r e n W i c h t i g k e i t des K r i e g e r i s c h e n . K a m p f ist hier w i r k l i c h n o c h K a m p f , n i c h t Spiel u n d S p o r t , d a s heroische G e s c h e h e n ist g a n z e r n s t g e n o m m e n u n d g u t in seiner G r ö ß e belassen wie s p ä t e r n u r n o c h im Nibelungenlied. Kein germanischer H e l d mehr u n d noch längst kein s t a u f i s c h e r R i t t e r ist dieser W a l t h a r i u s E k k e -

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hards; da ist der um etwa 80 bis 100 Jahr jüngere „Ruodlieb" bedeutend näher am Rittertum! Dieser R u o d 1 i e b , vom Ende der ottonischen Zeit, ist eine frühe deutsche Verheißung des Ritterromans, ja ein Vorläufer des Parzival im besonderen. Als sich der Ritterstand entwickelte, mußte die großbäuerliche Familiensaga, wie sie im Germanischen besonders auf Island erhalten ist, langsam etwa über die Fornaldarsaga zur Riddarasaga werden, d. h. erst verflocht sich die Heldensage mit ihr, dann das fremde bretonische Stoffgebiet. Familiensaga wie Königssaga germanischer Art werden in Deutschland gerade noch sichtbar, indem sie in den „Ruodlieb" münden und schimmern aus ihm noch durch. Wenn nicht wie ein Ächter, so doch als Verbannter (exul), ein Recke, schlecht gelohnt von den bisherigen Herrn, verfolgt von Feinden und Nachstellungen, bricht Ruodlieb in die Fremde auf. Aufnahme in den Dienst eines fremden Königs ist, was man beim Aufbruch aus der Heimat, in der man unbeliebt wurde, wünscht; sie erfolgte auch hier nach altem Sagaskelett. Denn die Parallelen liegen hier im ganzen und einzelnen keineswegs im Alexander- oder Apolloniusroman, sondern in der Saga, man denke zum Vergleich etwa an die Laxdoelasaga. Wir bemerken die archaische Rolle, die Armbauge und Mäntel als Geschenke spielen; die Entfaltung reichen bäuerlichen Lebens in großen schönen Gehöften, nur daß es sich hier um Dörfer, nicht um Einzelsiedlung handelt; die germanische Art der Bestrafung der Ehebrecherin (am Baum und im Moor); die Träume der Mutter und deren offenbar konstitutive Rolle; das Verhalten des Königs zu seinen Leuten wie Freund zu Freund nach alter nordischer Art; wir bemerken die guten Schilderungen, das erzählende Präsens, den realistischen Stil, der zum Beispiel neben den ritterlichen Waffen Mantel- und Futtersack nicht vergißt, überall die Andeutungen des Wirklichen setzt, bis es sich fast übersteigert in der berühmten Ehebruchsszene; neben aller Realistik den plötzlichen Übergang ins Mythische zu Immung, Härtung,

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Zeit

Heriburg und den so voller Sympathie behandelten Zwergen; unter den Lehren klingt eine, die fünfte, über den Besuch bei Freunden, als wäre sie aus den Havamal. Man könnte die ganze Geschichte weitgehend in Sagaform wiedergeben. Freilich liebt die ottonische Zeit überhaupt das erzählerische Formen, das plastische Schildern (man erinnere sich an die Bronzetüren und -säule), das Prägen unvergeßlich-ewiger Gestalten: die schöne Buhlerin bei Hrotsvit, die Gestalt des Mörders auf der Hildesheimer Bronzetür (Kain), der verkaterte Attila bei Ekkehard, die einsam-sehnsüchtige Nonne in den Cambridger Liedern, die büßende Ehebrecherin und das Bild der Greisin im „Ruodlieb". Aber das eben ist ein Stück germanischer Kunst in der ottonischen Zeit. Andrerseits beginnt hier die ritterliche Epik. Noch ohne Feindschaft und Ablehnung wird hier der neue Stand sichtbar nebst seiner Kultur, trotzdem der Verfasser ganz deutlich ein Kleriker ist, ein Tegernseer Mönch, vermutlich selbst ortus ex militibus (wie später der Erzpoet von sich sagt), ja sogar mit auffallender Parteinahme gegen den (Welt)kleriker in dem Verhältnis Miles oder Clericus zur Dame. Bevorzugung des ritterlichen Standes, Interesse an seiner Erziehung und edlen Zucht beherrschen sein Gedicht. Es handelt sich um das Leben eines ministerialen Ritters aus edlem Geschlecht, um seine Dienste in Krieg, Jagd, häuslichen und politischen Geschäften bei Herren daheim, beim Könige in der Fremde (in Afrika, vgl. Gahmuret!), um seine ehrenvolle Heimkehr, Heirat und vielleicht seinen Aufstieg zum Königtum, vor allem um die Bewährung seines edlen Charakters in allen Lagen. In einzelnen Lehren, die der König dem Scheidenden mitgibt, klingen die Lehren Herzeloydens voraus, die sie dem aufbrechenden Knaben erteilt, und wenn auch jene abgründige Versenkung in tiefstes Ethos noch fehlt, hier ist in dem Rothaarigen, vor dessen Art sich Ruodlieb hüten soll und der sich dennoch an ihn heftet, der düstere verbrecherische T y p jenes unsteten Gesellen gezeichnet, der alsbald

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unfehlbare Beute der Hölle wird, während Ruodlieb selbst mit unverzagtem Mannesmut die rechtliche Bahn der Mitte einschlägt, um sicherlich mehr und mehr eine Freude der Welt und des Himmels zu werden. Dieser Roman strebt danach, ein Bildungsroman zu sein. Weit fort auch er von seiner Mutter, in der Fremde, am Königshof, im D o r f , auf einer ritterlichen Burg soll der junge Held heranreifen und sich bilden. Dieser Parzival, dieser Ruodlieb, t r i f f t nach einem zehnjährigen Aufenthalt in der Fremde seine Mutter noch lebend an. Erprobt in Krieg und Herrendienst, in Treue und lauterer Gesinnung, geliebt von Königen und seinesgleichen hat ihn ein Brief der alten Mutter zurückgerufen. Die H e i m f a h r t selbst hatte noch einmal eine Generalerprobung seines Charakters in bezug auf die 12 Lehren werden sollen. Ruodlieb war rein und lauter, seelisch unbehelligt aus der düsteren Affäre des Rothaarigen mit der jungen Bauersfrau herausgekommen. Auf einer Burg vor den Damen und dann daheim löst er spielend die Aufgaben frühen höfischen Rittertums. Einen N e f f e n hat er verehelicht, nun soll dem Würdigen selbst die würdige Gattin gefunden werden. Eine Art Orgeluse ist da, sie erweist sich als unwürdig. In eine heroische übernatürliche unwirkliche Sph'äre, die der Heldensage, läuft nun auch dieser frühe Parzival ein, um hier vielleicht das hohe Ziel zu erreichen. Die alte Mutter hat jenen prophetischen T r a u m , wie ihn sonst die alten Heldenmütter träumen. Bei verklärenden Heldentaten wird ihr geliebter Sohn die rechte Braut schon finden, das war der Zweck der Heimberufung gewesen. - Die geistreich-anmutig-beseelte und noch nicht straffe Erzählung weist gleichfalls in diese große Richtung. Becher, Purpurkissen, G r u ß v Kuß, Abschiedsschmerzen, Empfänge, Innerliches wie H o f f n u n g , Bangen, Gottvertrauen, Betonung der Gesinnung, der Veränderlichkeit der Zeitläufte, Jagd, fremde Tiere, Schmuck, Wundersteine, Rosse, Kleider, Pelzwerk, Tafelfreuden, Zelt, Messe, Schachspiel, Bad, H a a r - und Bartpflege, H o f und Tischzeremoniell, symbolische Händlungen und GeNfuinuinri, D e u t s c h e s D i e h t e n u n d D e n k e n

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Deutsche Dichtung in salischer Zeit

genstände, Saitenspiel des Ritters zum T a n z , Ehrerbietung gegen die Frauen, die durchaus das gesellschaftliche Vorrecht besitzen, die Rolle Afrikas, Beziehung ausdrücklich auf den H o f , das alles spielt hier erstaunlich f r ü h seine wesentliche Rolle in der Dichtung. Die Herausstellung edler Gesinnungen u m f a ß t Großmut und Mäßigung im Sieg, ritterliche Behandlung der Gefangenen, Edelmut, Selbstbeherrschung, Dankbarkeit, Erwiderung empfangener Güte, Höflichkeit, die dem andern den Sieg läßt im Spiel, Vorzug der Ehre vor dem bloßen Gewinn, von Weisheit und Ehre vor allem Materiellen, Verbleiben in Demut bei allem Glück. Will man noch zweifeln, daß das staufische Rittertum seine inländische Wurzel hatte, die dann nur die kluniazensische Zeit zunächst verdeckte? Kurzum, wie die Bauern- und Königsteile ins Germanische weisen bei dieser Dichtung, so weisen Ritterliches und Höfisches in die Z u k u n f t . Dies Gedicht ist ein Januskopf wie etwa 400 Jahre später der Ackermann aus Böhmen. Nicht mit Unrecht glaubt man vermuten zu dürfen, d a ß sich in dem edlen, großmütigen König der letzte Ottone, Kaiser Heinrich II., spiegelt.

Kapitel

IV.

Deutsche Dichtung in salischer Zeit. Ganz Romanien kennt keinen ottonischen Geist, keinen Ruodliebgeist, der wie eine große schöne H o f f n u n g erblüht war; und wiederum bleibt ohne französische Vorbilder, bleibt eine eigentümliche deutsche Angelegenheit die nun folgende geistliche Dichtung der salischen Zeit, obwohl die volle Wucht der großen Kirchenreform doch gerade aus Romanien zu uns stieß, aus dem schon ganz romanisierten Burgund; sie war es auch, die jene H o f f n u n g wieder zerstörte. Der Ritter wie der Goliarde, der Vagant, soeben erst verheißungsvoll dichterisch in Erscheinung getreten, müssen nun für ein Jahrhundert warten, ehe sie

Deutsche Dichtung in salischer Zeit

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aufs neue erscheinen und sich weiter entwickeln; Wolfram wie der Erzpoet werden noch für viele Jahrzehnte unmöglich sein. Das salische Jahrhundert gehört dem Mönch. Die Signatur der Zeit ist geistlich, ja theologisch, ob sie nun zunächst noch salisch-kaiserlich oder ob sie dann später salisch-kluniazensisch ist und trotzdem sie sich vor allem an die weite Welt der Laien wendet. Für die salisch-mönchische, die volle kluniazensische Richtung verstand sich dieser geistliche Inhalt natürlich von selbst; die salischkaiserliche Richtung der Kirchenreform und der deutschen geistlichen Dichtung mochte sich noch herleiten aus dem alten germanischen Verantwortungsgefühl der principes und reges auch für die Religion; eben als germanische Fürsten glaubten Konrad II. und Heinrich I I I . auch für die Reinheit der Kirche die Verantwortung tragen zu müssen. Wie wir zwischen der kaiserlichen Reformbemühung und der mönchischen von Cluny und Hirsau unterscheiden müssen, so dürfen wir auch die geistliche Dichtung dieses Jahrhunderts nicht ganz über einen Leisten schlagen. Das Regensburger O t l o h g e b e t , das Bamberger E z z o l i e d , Willirams Ebersberger Paraphrase d e s H o h e n L i e d s , das S i e g b u r g e r A n n o l i e d haben mit dem Geist von Cluny direkt noch wenig zu tun, sie stammen aus kaiserfreundlichem Raum. Aber ob nun kaiserliche oder mönchische Kirchenreform, jedenfalls bringt erst diese Epoche das volle Eindringen des kirchlichen Christentums, fügt zum alten königlichen Herrscherbilde Christi die Züge des Leidens, der Erniedrigung, der Demütigung, des Sterbens, der Barmherzigkeit, der Gnade, der leidend-liebenden Erlösung, verwandelt in dieser Hinsicht zwar die Religion, aber leider nicht die weltlich-herrischen Machtansprüche der Kirche. Die kirchliche Reform siegt. W o unlängst der Waltharius entstand, entsteht jetzt das ,Memento mori'; kommt der Übersetzer und Prosaist Williram noch aus Notker Labeos Schule, so verwirft er doch die Humaniora, übersetzt und kommentiert nur mehr einen bibli4*

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D e u t s c h e D i c h t u n g in salischer

Zeit

sehen Text und gibt dem altnationalen Prosastil infolgedessen keine Gelegenheit zu weiterer Entfaltung; dichtet der Bischof Gunther, wovon wir gleich sprechen werden, noch deutsche Heldenlieder selbst, so veranlassen ihn doch seine „kritischen Domherrn", das Ezzolied dichten zu lassen, und der Dichter des Annoliedes glaubt ausdrücklich zu Eingang seines Gedichts, die Epoche, in der man sang, „wie schnelle Helden fochten und mächtige Könige vergingen", endgültig abschließen zu können, um eine andre zu eröffnen, wo es statt Amalung Anno heißt, und sogleich in seiner 2. Strophe zeigt er den Dualismus, der die Harmonie der Welt zerreißt, enthüllt er den fremden Geist, der nun erst ganz das Abendland ergriff. Die Welt verliert ihre Einheitlichkeit, sie wird ganz ungermanisch, ganz unabendländisch. Sie wird aufgerissen in Jenseits und Diesseits, Gott und Welt, Seele und Leib, Geist und Natur, und alles Hier ist nur teuflisch, göttlich nur alles Dort. Sie wird zerspalten in Papst und Kaiser, und der Kaiser muß den Investiturstreit durchkämpfen, selbst mit dem bitteren Gang nach Kanossa, nur um sein altgermanisches Königsrecht auch in den kirchlichen und religiösen Dingen zu behaupten. Wird es die Zeit des Mönchs, so wird es damit allmählich die Zeit des Kaiserfeinds; stellt die Zeit den Ritter zurück, so stellt sie eben damit den Freund des Kaisertumes zurück, ja sie macht aus dem Ritter Heinrich von Melk einen ritter- und weltfeindlichen kluniazensischen Laienbruder. Das Tragische ist, daß die salischen Kaiser selbst ihren Feind, der sie nach Kanossa zwang, groß gezogen hatten, indem sie sich für die Reinheit und Strenge Roms und der Kirche eingesetzt hatten. N u r sehr bedingt, sehr eingeschränkt ist es also ganz ihr Jahrhundert; sie hatten freilich gerufen, was kam. Man weiß auch, daß ihr hoher Geist, ihre edle Liebe die großen Bauten, Dome und Pfalzen, dieser Epoche umschwebte, daß sie dem Stil, der völlig sinnlos „romanisch ' heißt, zum großen europäischen Durchbruch verhalfen. Aber die Dichtung der salischen Zeit ward schließlich

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ganz unkaiserlich, die Kaiser selbst hatten alsbald wohl keinerlei Einfluß mehr auf sie. Indessen hauchte der Geist ihrer Architektur auch jener Richtung ihre eigentlich künstlerische Seele ein, wie gerade allerjüngste Forschung, der wir sogleich folgen werden, klar bewies. Doch damit vom Ruodlieb wirklich die Brücke sich schlage zum Parzival, von den Cambridger Liedern zum Minnesang, mußte nicht nur das Formgefühl sich erneuern, der Sinn für Bau und Gliederung auch im Gedicht, sondern mußte ja auch die Sprache wechseln vom ottonischen Latein zum staufischen Deutsch. Man mag mit Recht den Geist dieser Reformen, besonders den von Cluny, wie einen Mehltau empfinden auf der H o f f n u n g einer ungebrochnen germanisch-deutschen Entwicklung, aber in dem Durchbruch zur deutschen Sprache lag dennoch ebensosehr ein Verdienst wie in der Gewinnung des Formensinns. Das ottonische Latein war der Besitz einer dünnen Schicht von Gebildeten und die Nation hätte daran nur Anteil nehmen können, wenn sie sich weiter wenigstens sprachlich romanisierte; die deutsche Sprache aber verlangte dringlichst der Geist der Reform, weil er auf die Laien, das weite Volk an sich abzielte, um es dem Mönchtum und der Kirche zu unterwerfen. Es galt ja, die Mönche zum gefeinigten Mönchtum der strengen Gelübde; der Armut, der Keuschheit, der evangelischen Gleichheit mit Abstreifung aller adligen Herrengewohnheiten zu bekehren, die Weltgeistlichen zum klösterlichen Leben, die Laien aber in Massen zum Laienbrudertum (Conversentum) zu bringen. Do ilten sieb alle munechen, stellt das Ezzolied als Folge seiner selber fest, setzt damit ein Motto über die ganze Zeit und schlägt damit ein Motiv an, in welchem noch eine ganze Klasse späterer, neuer Erzählungsliteratur ihre Helden enden lassen wird. Aber mit dem Latein hätte dieser Geist mindestens die Laienbrüder, hätte er das weite Volk nicht erreicht. So schuf er zwar eine rein kirchliche, aber immerhin eine nationalsprachliche Dichtung. Wie er sie anlegte in der Form, darin aber zeigte sich wieder der

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salische Geist, der Geist der Baukunst des salischen Kaiserhauses. Wir wissen nunmehr seit allerjüngster Zeit, daß Dichtung und Kunst auch hier wieder in überraschender Weise zusammengehören. Über die Vielfältigkeit des Lebens sagen alle beide zwar gleich wenig aus, aber in der Formhöhe ist die Dichtung um nichts geringer als die Architektur. An der Form herrscht die gleiche Freude hier wie dort. Es kommen Architekturwerke mit H i l f e liturgischer Formen auch in der Dichtung zustande, gleich straff und konzentriert, aufs Ziel gerichtet, voller O r d nung und Zusammenballung aller K r ä f t e auch hier. Ein eigentümlicher, stark einheitlicher Stil beherrscht diese Gedichte, auf Bildhaftigkeit wird kein Wert gelegt, auf jede sprachliche Ornamentik verzichtet. Aber im festgefügten A u f b a u der absichtlich knappen und einfachen Sätze, in der wohl gegliederten rhetorisch wirksamen A u f reihung ihrer Gedanken, ihrer zerlegten Vorstellungen stehen alle diese Gedichte wie strenge romanische Kirchen da. Die klaren Umrisse ihrer Architektur, die kein H a k e n stil und keine Verschnörkelung mehr verwischt, halten ein seltsames Helldunkel von Mystik u n d Symbolismus zusammen, die wir gleich noch erwähnen. Für alles Kaiserlich-Salische in der Kunst hält die Kunstgeschichte die Bezeichnungen klar, kraftvoll, sauber, groß, vprnehm, ruhig, streng, kühl, ernst, mitunter düster, karg und entschlossen bereit. Wir werden diese Bezeichnungen unbedenklich auch der salischen Dichtung zuschreiben müssen, mit oder ohne kluniazensischer Gesinnung. Es ist ihr Geist, der uns fremd ist und bleibt, aber ihre Formhöhe können wir nicht geringer und nicht weniger als deutsch empfinden als die der salischen, „romanischen" Kunst. D a s erste H ö f i s c h e , wie sichs im Ruodlieb glücklich gewann, ging übrigens zunächst nicht verloren. W i r wissen aus d e m Ruodliebschluß und später aus dem Nibelungenlied, d a ß auch die heimische H e l d e n d i c h t u n g durchaus — ja bis zum Kaiser M a x und darüber hinaus — dem H ö f i s c h e n , d e m „Curialen" entsprach und höfischen Kreisen angehörte. D a f ü g t es sich glücklich, daß wir auch wissen, wie gerade der schon erwähnte

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„edle Bischof Gunther von Bamberg", eine der H a u p t f i g u r e n der ersten H ä l f t e unserer Epoche, seine Freude an jabulae curiales hatte, welche Etzel, Dietrich et cetera id genus zum Gegenstande hatten, ja ganz neuerdings wissen wir, d a ß er selbst Gedichte dieses Inhalts, uncl z w a r in deutscher Sprache verfaßte. W i r stellen sie uns als kleinere Epen vor. U n d so stellte er sprachlich sogar das Ottonische in den Schatten, b e f a n d er sich in urältester Tradition. Aber er eben ließ auch das Ezzolied verfassen, unternahm bekanntlich auch einen Kreuzzug (1065), von dem er lebend nicht mehr heimkehren sollte, der durch „Schönheit des Leibes wie Weisheit des Geistes ausgezeichnete M a n n " , wie die eigene Zeit ihn nennt. D a fügte sich also ein gut Teil ritterlicher G r u n d k r ä f t e in diesem salischen Reichsfürst zusammen, den Figuren wie Wolfger von Passau im Staufischen fortsetzen werden. Aber nur sein Ezzolied ist erhalten, des Bischofs germanische Heldenepik verschlang der kirchliche Geist, doch w i r d gerade dieser in den letzten Kluniazensern unfreiwillig von der lebendigen Fortentwicklung des Rittertums Zeugnis ablegen.

Christliche Heilsgeschichte ist das einzige Thema dieser geistlichen Dichtung. Sie äußert sich in der Übersetzung oder Nachdichtung biblischer Geschichten beider Testamente: in G e n e s i s , E x o d u s , J u d i t h , T o b i a s (vom P f a f f e n Lamprecht), dem F r i e d b e r g e r C h r i s t und V o n C h r i s t i G e b u r t usw., und in dieser Reihe steht auch der N a m e der „ersten Dichterin in deutscher Sprache", der F r a u A v a . Sie äußert sich in Gedichten dogmatisch-theologischen Inhalts, wozu eben E z z o s G e s a n g , ferner das A n e g e n g e , das Patern o s t e r , das G e d i c h t v o n d e r Siebenzahl, die Summa Theolog iae gehören, in Dichtungen von den letzten Dingen wie L i n z e r Antichrist, Himmel und Hölle, Himmlisches Jerusal e m ; in Legenden und Jenseitsvisionen wie S i l v e s t e r , A e g i d i u s , T u n d a l u s , S t . B r a n d a n , in G e b e t e n und S ü n d e n k l a g e n , in dichterischen Bußund Sittenpredigten wie M e m e n t o m o r i, W a h r h e i t , V o m R e c h t e und V o n d e r H o c h z e i t und den beiden Dichtungen H e i n r i c h s v o n M e l k

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(Erinnerung und Priesterleben), schließlich auch in M a r i e n l i e d e r n und M a r i e n s e q u e n z e n wie denen von Melk, Arnstein und Muri, vielleicht um den erwachenden Drang nach dem Frauendienst in eine besondere kirchliche Bahn zu lenken. Kloster Vorau in der Steiermark hat uns einen großen Teil dieser Dichtungen in einer berühmten Handschrift gesammelt. Die Kirche ist die Braut Christi, das war schon der Sinn von Willirams Werk. Von der -Zuständigkeit weltlicher Herrscher ist sie füglich zu lösen. Die Welt verfällt der Verachtung. Wie ist das Heil der Seele völlig sicher zu stellen, was ist die eigentlich christliche Lehre?, das sind die großen Fragen der Zeit. Demut, Liebe, Barmherzigkeit sind die alleinigen Güter des Lebens. Streben nach Besitz ist superbia, den Reichtum läßt man durch got. Die Begriffe Sünde, Gnade, Buße erfüllen die Herzen, jeder will in der Sorge für Jenseits und Seele der Sündigste sein. Alle göttliche Schöpfergüte wird gründlichst verkannt, selbst Augustin wird verkannt, nach welchem hoc mundo utendum non fruendum war, und die ungeheure Entfernung dieses Christentums von dem des Heliand ermißt man, wenn man sieht, wie aus dem königlichen Gefolgsherrn nunmehr „der arme Heiland" (Anegenge) geworden ist. Den Gott, der Sünde, Fall, Schuld und Erlösung als ausschließlichem Weltplan kennt, muß erst die staufische Zeit wieder überwinden. Inzwischen werden ihm Dichtungen wie Dome errichtet, beide in der gleichen formsicheren Kunst der Fügung, in der gleichen strengen Zusammengeballtheit der Kräfte, die man für die Dichtung nunmehr klargelegt hat. Drei Tiriaden von Doppelstrophen errichten das Memento mori, die erste überzeugt von der Unbeständigkeit der Welt, die zweite von der notwendigen Sündhaftigkeit aller irdischen Dinge und die dritte davon, daß alle weltliche Herrlichkeit nur Schein und Betrug ist; davon, daß wir alle sterben müssen, ist der ganze Bau durchtönt. Vierunddreißig Strophen bilden die Architektur des E z z o l i e d e s , sie entsprechen den 34 Lebensjahren

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Christi; seine 30 Jahre in der Verborgenheit entsprechen den 3 Dekaden, von denen die erste die 5 Weltalter vor Christus, die zweite Christi Geburt und Leben, die dritte seine Erlösungstat behandelt; den 3 Jahren seiner Lehren und Wunder entsprechen die 3 Strophen des Gebets zum Kreuz; die Schlußstrophe 34 entspricht seinem Todesjahr. Symbolische Maßgefüge und Zahlengliederungen, ähnlich denen der kirchlichen Architektur, machen den Plan dieser Dichtung aus, ja sind diese selbst, indem sie sich unmittelbar mit ihrem zentralen Sinne berühren; ein ungeheuer geschlossener Wille zur starken und geordneten Ganzheit beherrscht das Gedicht. Zum erstenmal wird die ganze geistliche Menschheitsgeschichte, das einfache und gewaltige System der christlichen Weltanschauung den Laien vermittelt in imponierender Weise, bezwingender formaler Klarheit und höchstem Verantwortungsgefühl f ü r das Heil des Menschengeschlechts. - In 7 mal 7 Strophen erbebt sich der sakrale Bau des A n n o l i e d s ; 33 Bischöfe hatte Köln bis auf Anno, 7 davon sind Heilige, so erzählen denn 33 Strophen die Vorgeschichte, und zwar die 7 ersten Strophen die Herleitung der geistlichen Würde Annos von der Stellung des Menschen im Kosmos her, endend mit Annos Preis, die übrigen die Herleitung der Würde Kölns von der Stadt Ninive an, endend mit dem Preis von Köln als Annos Sitz; Strophe 34 aber bis 49 feiern die Heiligkeit Annos in vier Gruppen zu je vier Strophen. Ein Bau, aus dem kein Stein gelöst werden könnte, ward mit diesem Gedicht nach seinem Tode (1075) für den gewaltigen Kölner Reichsfürst errichtet, ein Schrein in Worten, dem Schrein seiner Gebeine in Siegburg vergleichbar, denn Schreine wie Gedichte atmen zu jener Zeit den Geist der großen Architektur. — Von der heilsgeschichtlichen Symbolik der Zahl 7 handelt in 7 Versgruppen das „ G e d i c h t v o n d e r Siebenz a h l ' , es bedeutet alles andere als eine Spielerei. Gott gab seine 2. Offenbarung in der heiligen Schrift, sie belehrt uns über die symbolische Bedeutung aller geschaffenen

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Dinge, der Erleuchtete erkennt Gottes Bild in der Substanz der Dinge, in Gewicht, Zahl, Maß, Beziehung, O r d nung der Dinge zu einander. Gott wird erkannt, nicht durch Abstraktion, sondern durch Analogie, Analogiegedenken bestimmt die künstlerische Komposition in Dichtkunst wie Baukunst. Theologen sind zu Dichtern u n d Architekten geworden. Der transzendental-religiöse Idealismus, der die Erscheinungen restlos propter deum, d. h. im Dienste der Kirche erfaßte, mußte sie dennoch sammeln und sich f ü r sie interessieren, um ihnen die symbolisch-jenseitige Beziehung geben zu können. Entweder beziehen diese Dichtungen die Dinge und Erscheinungen dieser Welt systematisch in geheimnisvoll-religiöser Ausdeutung auf das Transzendentale oder aber sie verwerfen sie rücksichtslos. Müssen Mönch und Kleriker am Ende der Clunyzeit wieder zu weltlicher Propaganda-Epik greifen, bringen sie, die zum Theologiestudium nach Frankreich gingen, gerade von dort Stoffe, Motive, Stilmittel und Form der neuen großen nationalsprachlichen Epik mit, so erwachte zwar auch in ihnen das Erzählen und Fabulieren, der Sinn f ü r das Charakteristische und Individuelle, f ü r das literarische Porträt, f ü r die höfische Parade, für das Kriegerische und Minnigliche, f ü r das Spannungsreiche und die unbekümmerten Mittel zur Lösung von Spannungen, f ü r die großen Abenteuer namentlich des Orients und der Kreuzzüge, aber es verquickt sich damit untrügbar der kluniazensischkirchliche Geist noch langhin in zahlreichen W u n d e r n und Gebeten, im Heidenhaß und Heidentaufen, in Keuschheitsgelübden und typischen Mönchwerdungen der Helden und Liebespaare am Schluß (Moniagen). W i r haben vorund unterhöfische Epik wie O s w a l d , Orendel, S a 1 m a n und M o r o 1 f im Auge, ihre Vorläufer oder ihre frühesten Fassungen; aber auch R o t h e r und R o l a n d , die uns im Welfenkapitel wieder begegnen, atmen noch weithin diesen Geist. Nichtchristen wie Alexander beim P f a f f e n L a m p r e c h t , Personen an denen

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nichts besonders Christliches zu rühmen ist, wie König Roger-Rother können dann wieder zu Helden der Dichtung geistlicher Dichter werden, aber die Motive vom contemptus mundi, von der vanitas vanitatum und dem Memento mori bilden dann noch langhin den in der geistigen Herkunft unverkennbaren Schluß. Es sind, schon in staufischen Tagen, die beiden Laienbrüder und letzten Kluniazenser, von denen der eine, in Mittelfranken, sich der A r m e H a r t m a n n , der andere, in M e l k an der Donau, sich der Arme Knecht H e i n r i c h nennt, die mit engverwandten Beobachtungen, Vorstellungen, Formeln, "Worten, Bildern die ritterliche Kultur, wie sie sich offenbar fortgesetzt hatte und wie sie eben neuerlich erblühte, in scharfen Konturen zeichnen und zugleich gnadenlos verwerfen; sie tun das in ihren dichterischen Glaubens- und Moralpredigten. Daß Heinrich anläßlich eines ländlichen Pfarrhauses, dessen Treiben er schildert, auch die Kunst einer Realistik aufweist, die Bindeglied zwischen ,Ruodlieb' und ,Meier Helmbrecht' ist, sei wenigstens nebenbei hier verzeichnet. Uns interessieren hier nur die wichtigsten Partien, die den Geist des Rittertums beleuchten, weil ihm die Zukunft gehört, was die beiden Dichter eben noch, so gut es geht, verhindern wollen. Burgen, Lehen, Meierhöfe, Hufen und Herrschaft, Schilde, Helme, Speere, Brünnen, Sättel und Pferde, Gefolge von Knechten, goldene Trinkschalen, silbernes Speisegerät, Edelstein, Goldborten, Scharlachmäntel, Wandteppiche, gemalte Zimmer, Bettstätten, reiches Mahl und Wein: - all diese schönen Dinge der ritterlich-höfischen Kultur werden sichtbar und genannt, aber nur um verworfen zu werden. In jeder Regung ritterlicher Kreise liege die Sünde; ihr Schmuck, ihre Bildung seien Blendwerk des Teufels; das Leben der Ritter und ihrer Frauen sei Gott widerwärtig. Minne und Liebe sind Hurerei, Hoher Mut ist Hoffahrt; Besitz ist nicht Ausweis der Tüchtigkeit und auch nicht die notwendige Grundlage der Freigebigkeit, sondern ist Habgier. Den Reichen ist das

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Himmelreich versperrt. H a a r s c h a r f werden die 2 Punkte e r k a n n t , in d e n e n d e r w e r t e i g e n e B e r e i c h d e r r i t t e r l i c h e n K u l t u r erscheint, d e r sie v o n d e r K i r c h e e n t f e r n t u n d d e n diese d a r u m nicht d u l d e n k a n n : E h r e und M i n n e . „ N a c h d e r S c h w e r t l e i t e erst b e g i n n e n d i e e i g e n t l i c h e n S o r g e n u m die armselige E h r e " , sagt der A r m e Heinrich (von M e l k ) ; „es gibt ein W o r t , das Ehre heißt; d a trachtet u n d handelt mancher d r u m u n d mancher verliert Leib u n d Seele d a b e i ; je m e h r er d r u m f e i l s c h t , d e s t o m e h r e r s ä u f t er S e e l e u n d L e i b d a r i n " , s a g t der A r m e H a r t m a n n . B e r ü h m t s i n d die V e r s e , in d e n e n H e i n r i c h v o n M e l k die s c h ö n e R i t t e r s f r a u z e i c h n e t a n d e r B a h r e des t o t e n G e m a h l s . H i e r ist es, w o absurer a u c h d i e M i n n e k u l t u r d u r c h d e n T o d g l a u b t ad dum f ü h r e n z u k ö n n e n . I n d e r s c h a u e r l i c h e n V e r w e s u n g e r k e n n t d i e F r a u ihres G e l i e b t e n H a a r - u n d B a r t t r a c h t , seine h ö f i s c h e H a l t u n g , seine s e i d e n e K l e i d u n g n i c h t m e h r . „ W o s i n d die F ü ß e , d i e so h ö f i s c h z u d e n F r a u e n s c h r i t t e n ? W o s i n d seine W o r t e , m i t d e n e n er d e i n e H o f f a r t e n t z ü n d e t e ? W i e l i e g t n u n d i e Z u n g e in s e i n e m M u n d , d i e dir einst die s ü ß e n T r a u t l i e d e r g e s u n g e n ? " - W i n e l i e d e r , w i e sie g e l e g e n t l i c h in d e r k a r o l i n g i s c h e n K u l t u r e r w ä h n t wie das altnordische s i n d , „ M ä d c h e n l i e d e r " (mansöngr), S c h r i f t t u m sie k e n n t , h e i ß e n T r a u t l i e d e r j e t z t , b a l d w e r d e n sie M i n n e s a n g heißen. D e n n d i e L i e b e r e i f t z u einer seelischen M a c h t u n d w i r d sich a l s M i n n e z u einer e r z i e h e r i s c h e n u n d e t h i s c h e n I n s t i t u t i o n , z u einer d i c h t e rischen K u l t u r außerhalb der K i r c h e entwickeln. U n d die alte Kriegerehre w i r d eine desto zentralere R o l l e spielen, je m e h r sie v e r f e i n e r t u n d ethisiert in ein l e h r f ä h i g e s S y s t e m der T u g e n d e n eingerückt wird. Aber die K i r c h e k a n n a l l e s gelassen ertragen, sogar völlige Wertlosigkeit, d o c h n i m m e r k a n n sie E i g e n g e i s t i g k e i t u n d E i g e n w e r t i g k e i t in i h r e m G e h e g e d u l d e n o h n e G e f a h r f ü r i h r e n B e s t a n d , u n d a l s o m u ß sie W i d e r s t a n d leisten. E h r e u n d M i n n e , ritterliches T u r n i e r w e s e n u n d h ö f i s c h e D i c h t u n g , i m G r u n d e w i r d ihr d a s a l l e s ein G r e u e l sein. D r e i m a l v e r d a m m t i m 12. J h d . d a s L a t e r a n k o n z i l d a s r i t t e r l i c h e

Geist und F o r m e n staufischer D i c h t u n g

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Turnier. D e r christliche R i t t e r erscheint der K i r c h e im Grunde genau so verdächtig und als Feind wie der christliche Kaiser. Mündete bisher ein jedes unsrer vorausgehenden K a p i t e l im Ausblick aufs Rittertum, so haben wir es nunmehr e r r e i c h t . Erst wenn etwas b e k ä m p f t wird, ist es wirklich da. Uns erscheint es von Anbeginn an wie Verheißung, Erfüllung, Vorausbestimmung und Ziel des großartigen germanischen Wesens. Aber damit sich das völlig o f f e n bare, muß nun der R i t t e r , wie einst der Krieger, die D i c h tung, die ihn ganz darstellen soll, auch selber pflegen. W i e er es dem Steinmetz nicht allein überlassen kann, ihm über M ö j e b r o und Hornhausen hinaus die D e n k m a l e seiner Vollendung von Bassenheim und von Bamberg zu geben, so auch kann er die Dichtung, die ihn selber erziehen und darstellen soll, nicht länger mehr andern Ständen allein überlassen, sondern muß selber wieder zum Dichter werden. Kapitel

V.

Deutsche Dichtung in staufischer Zeit. a) G e i s t

und

Formen staufischer Dichtung.

Höfische Dichtung ist im wesentlichen Dichtung des staufischen Rittertums, daher wir sie auch ritterliche oder staufische Dichtung nennen können. I h r Gegenstand ist im wesentlichen das höfische Rittertum selbst, der R i t t e r und die höfische Frau, ihr Verhältnis zueinander, zur W e l t und zu G o t t . D i e H u l d der geliebten Herrin, die H u l d der W e l t , die H u l d Gottes ist das höchste Ziel, in dessen E r reichung alle nur erdenkbaren Güter und W e r t e eingeschlossen sind, vor allem Minne und Ehre. So stark wie einst das Heldenlied nach der Idee des Helden strebte, ihn erziehen wollte, so stark strebt die Dichtung des Rittertums nach der Idee des Ritters und der Dame, sowie nach der Erziehung zu diesen.

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Deutsche Dichtung in staufischer Zeit

Das zwischen beiden Epochen eine V e r b i n d u n g besteht, erweist die erneute ungeheure Bedeutung der Ehre, erweist auch das alte stoffliche Erbe. M a n fasse das H ö f i s c h e nicht zu eng, es erkennt sich in vielerlei N a m e n und Figuren wieder. Es handelt sich nicht nur um G a w a n , Artus, Iwein, sondern auch um Parzival, Willehalm, Dietrich. W i r wissen, d a ß auch die erneuerte Heldenepik durchaus den höfischen Kreisen angehörte; als bloße Artusepik wäre die höfische Dichtung zu eng gefaßt. Das Nibelungenlied ist so gut höfische Dichtung wie die ,Eneid' oder der ,St. Georg' oder der ,Iwein' oder der ,Parzival' oder der ,Willehalm', sie besitzen alle, freilich jeweilig verschiedenen Grades, Momente, durch die sie dazu gehören und wieder sich von ihr trennen. K u r z u m die S t o f f e mögen stammen, woher sie wollen, die erstaunliche K r a f t der Idee, des Ethos, des Stils, der Form verkleidet sie in Rittert u m so gut es geht, macht aus antiken, christlichen, germanischen Helden und Heldinnen nach Möglichkeit höfische Ritter und Frauen so gut wie aus den Figuren der bretonischen Artusstoffe, mögen auch die fremden das manchmal leichter ertragen als die einheimischen. Aber d a ß es überhaupt noch einen germanisch-einheimischen Einschlag gibt, wird uns f ü r die H e r k u n f t des Rittertums bedeutsam genug sein. W e n n doch die Ritter die Erben der beritten gewordenen germanischen Gefolgsleute sind, begreift man, d a ß i h r e Dichtung zu einem Teile vorbereitet w a r in d e r e n Dichtung. Deren S t o f f e bis in Nebenfiguren wie Iring und I r n f r i d hinein, bis zum N a m e n Wieland und dem V o g e l j u n g f r a u m o t i v im späthöfischen „Friedrich von Schwaben" sind ja nun wieder da. A n sich ist es viel wunderbarer, d a ß H i l d e b r a n d , Wolfdietrich, W a t e nun noch in deutscher Dichtung leben konnten, die doch kein Bildungskatalog umschloß, als etwa Aeneas, Alexander und St. Georg. Wie tief also und eigentlich gründlich m u ß der germanisch-deutsche Zusammenhang im Rittertume gewesen sein, da sie in Wirklichkeit ja nun sogar reich und erneuert lebten. So erklärt sich eine Einzelheit wie das Wiederaufleben der Klagelieder um den verstorbenen H e r r n . Die germanische Situation ist eben im Grunde unverändert. D a ß Fürst und M a n n dichten, dies altgermanische Verhältnis lebt weithin wieder auf, vom Ministerialen bis empor zum Kaiser. U n d so kommen auch in einer fast erschütternden und geheimnisvollen Weise die zweiten Ausfertigungen jener alten großen Lebensund Göttermythen zu erneuter Geltung. Siegfried ist z w a r

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nicht Balder und Reinhard Fuchs ist nicht Loki, der Burgundenuntergang ist nicht die G ö t t e r d ä m m e r u n g und der betrogene Kreis der Tiere um ihren König, den Löwen, herum, ist nicht der Kreis der Asen, der unter Loki leidet, ihrem Gesellen; Wartburgkrieg ist nicht die Lokasenna; Kriemhild, die das Todeszeichen arglos einstickt in Siegfrieds Kleid, ist nicht Frigg, die das Mistelgeheimnis arglos verrät, — aber unter fast göttergleich unveränderten Figuren, Menschen natürlich nun oder Tieren, spielen diese zweiten Ausfertigungen doch, und die alten Grundstimmungen wie W e l t - und Lebensanschauungen repräsentieren sie uns mit reicherer Kunst aufs neue. Wenn wir die Zusammenhänge tief und richtig verstehen, wird uns dies alles nicht mehr verwunderlich sein. Es ist in der T a t , als sei nach der Götterdämmerung die alte Welt verjüngt wieder neu erstanden, nunmehr in staufischer Zeit, aber mit den gleichen Kräften. Wie hinter dem Nibelungenlied die , N o t ' von 1160 steht, so hinter dem ,Willehalm' die chanson de geste, beide gleich nah und gleich weit zur höfischen K u l t u r : H a g e n wie Willehalm. A m reinsten verkörpert sich der Mythos der höfischen Gesellschaft zweifellos in der Artustafelrunde. Die Tafelrunderitter sind die allerbesten der Welt. Es ist eine wahre Mythologie, was sich das abendländische Rittertum hiermit erbaut hat. Artus ist der H ü t e r unvergänglicher höfischer Freudenherrlichkeit. Sein H o f ist wie ein H i m m e l auf diesem Gebiet, die Freude dieses H i m mels ist grundsätzlich unzerstörbar. Jeder einzelne Artusritter wird zum Zuträger von immer neuen Anlässen zur Freude und zu Freudenfesten, erst wenn er durch Leid und Zweifel hindurch das geworden ist, hat er die Freude als große himmlische Aufgabe erfüllt. Noch auf weite Generationen hin werden diese Figuren und die dazugehörigen Frauengestalten wie neue Götter oder neue Heilige fortwirken. Sie werden noch langhin zitiert und beschworen, sie sind bestimmten, nicht auswechselbaren Begriffen verbunden in bejahendem oder verneinendem Sinn, sie symbolisieren bestimmte Daseinsweisen und Lebensstile. U n d sie treten wie Götter oder Sterne in bestimmten, sich immer wiederholenden Konstellationen miteinander auf, die o f t von ungemeinem Tiefsinn und Belangreichtum sind. In einer Dioskurenstellung der Brüderlichkeit und der Freundschaft erscheint da zum Beispiel G a w a n regelmäßig mit Erec, mit Iwein, mit P a r zival. Denn seine überlegene Problemlosigkeit, verbunden mit edelstem freundschaftlichem Anstand, ist geradezu wie vor-

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Deutsche Dichtung in staufischer Zeit

bestimmt, den tiefer veranlagten N a t u r e n aus ihren leichten und schweren Wirren zu helfen. Auch sind diese Figuren nicht Privateigentum eines Dichters allein, wiewohl W o l f r a m einmal scherzhaft H a r t m a n n in diesem Sinne anspricht, — sie gehören allen wie Götter oder wie die Helden der einheimischen Sage. Sie begegnen überall in der Zeit, nicht in einem W e r k e allein. — Aber zur Bretagne, Antike, Germanien, Kirche, alles Sphären grauer Vorzeit, gesellt sich f ü n f t e n s auch manches aus der eigenen Zeit wie ,Graf R u d o l f ' , ,Moritz von C r a u n ' ,Elisabeth'. Die bretonisch-französischen Stoffe n a h m wohl meist unmittelbar der hohe fürstliche verbindungsreichere Adel aus der Fremde und gab sie deutschen Dichtern in A u f t r a g ; die nationalheroischen S t o f f e verdanken wir als ganzes Gebiet wohl eher der freien W a h l von Ministerialien, die dem Bodenständigen und V o l k h a f t e n noch näherstanden. Die Fesselung an die verschiedenen Quellgebiete ergab sich aus der verschiedenen sozialen H e r k u n f t . Aber an den fremdsprachlichen, die erst übersetzt werden mußten, f ü h l t sich der Dichter selbst gewöhnlich stärker beteiligt, reflektiert auch mehr im Verlauf der Dichtung über sich selbst, über die Sache, über seine W e l t anschauung, sein Verhältnis zum Publikum, f ü g t Vor- und Nachwort hinzu, nennt seinen eigenen N a m e n , auch den des Gönners, als brauchte der fremde Stoff besondere E i n f ü h r u n gen, Begleitungen und Begründungen. Bei den nationalheroischen geschieht das gewöhnlich nicht, war dergleichen nicht nötig, denn sie waren — man ersieht dies eben hieraus — noch allgemein zu bekannt. Weltliche Stoffe überwiegen die geistlichen, erscheinen diese doch, so sind auch sie ritterlich und laienfromm verwandelt; dichten Kleriker, so dichten sie ritterlich, auch die Bürgerlichen verhalten sich so. A b e r z u m h ö f i s c h e n R i t t e r , o b er n u n F ü r s t , G r a f , F r e i h e r r o d e r o b er M i n i s t e r i a l e ist, g e h ö r t d e r F r a u e n d i e n s t , d e r d e n K r i e g e r j e t z t so s i t t i g t u n d z ä h m t w i e e i n s t d e r H e r r e n d i e n s t . E s w a r ein n e u e r a n d e r s a r t i g e r „ D i e n s t " , er stellte g e w i s s e r m a ß e n e i n e „ F ü h r e r i n " a n d i e Stelle des Gefolgschaftsführers u n d Lehnsherrn. M a n k a n n auch sagen: der Gefolgschaftsdienst, dem R i t t e r t u m im Blute, e r h i e l t eine u n g e h e u r e A u s w e i t u n g in d e r Ü b e r t r a g u n g a u f d i e geliebte F r a u u n d m a c h t e so i n d e n A u g e n dieser Reiterkrieger den F r a u e n d i e n s t ü b e r h a u p t erst sinnvoll,

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dichterisch faßbar und möglich. Wir wissen, daß solcher Gefolgs- und Lehnsdienst die deutsche Übersetzung der romanischen Vasallität bedeutet; im Minnesang der spanischen Araber steht an dieser Stelle das Bild vom Sklaven. Nationale Heldenepik bringt das Gefolgschaftsethos gern noch an sich und ohne diese Übertragung - aus ihrer einstigen frühgermanischen Blüte stammen ja wie gesagt die Stoffe - ; aber auch Siegfried, H a r t m u t , selbst Dietrich werden dem Frauendienst eingegliedert. Die bretonischen Stoffe bringen vornehmlich die Übertragung auf die Frau, von alter Gefolgschaftstreue ist unter den Rittern der Tafelrunde und ihresgleichen nicht viel die Rede. Siegfried kann noch den Frauendienst beleidigen zugunsten des Freundes aus fingierter Mannestreue: umgekehrt brechen Tristan und Lanzelot skrupellos alle Mannestreue gegenüber Marke und Artus zugunsten ihrer „Freundin", ihrer Liebe zu den Gattinnen ihrer Herren: Isolde und Ginover. Das Erlebnis der Liebe in Dichtung umzusetzen, die Freundin neben dem Freund erscheinen zu lassen, dahin war mit den Skaldensögur in Erzählung und eingestreuter Lyrik rein aus sich auch Nordgermanien schon gelangt; der Süden bringt einzeln, unter fremdem Formeneinfluß, den Aventiurenroman und das Liebeslied, nur Ulrich von Lichtenstein versuchte autobiographisch eine Vereinigung. Das Ganze steht jedenfalls zu Kirche und Christentum in größerem Widerspruch als zum Germanentum. Minne ist die große seelische H a u p t e r f a h r u n g der Epoche. Begriffen und ermöglicht im Frauendienst, tritt sie neu und natürlich zunächst fesselnder neben das alte Gefolgschaftsethos, bezieht aber von dort Haltung, Bilder, Worte und Vergleiche (hold, eigen, undertan, dienestman usw.). Man sieht, unsre erste große Blütezeit bleibt in dieser oder jener Weise bestimmend f ü r die ganze Zeit, bald unterirdisch, bald oberirdisch fließt der germanische Strom, So begegnen sich nun Mann und Herrin, Mann und Freundin in der Minne, wie sich Mann und Herr, Mann und Freund sonst im Gefolgschaftsethos begegneten; das gilt nicht nur N a u m a n n , D e u t s c h e s Dichten u n d D e n k e n

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für die Ministerialen, sondern für alle Ritterlichen überhaupt . . . Und schon der Kürenberg, der den Antipoden des erwachenden Frauendienstes spielt, sagt, die Herrin verlange von ihm, daß er ihr dienstbar sei (hold), aber er selber, der Heißumworbene, wisse sich jedem Frauendienst zu entziehn. Den Begriff .Dienst' behält er offenbar noch ganz der alten Ebene vor. In Deutschland hat die höfische Dichtung nicht nur e i n e n Gipfelpunkt wie mit Chrestiens von Troyes in Frankreich, sondern etwa ein halbes Dutzend; sie blüht auch etwas länger, hat stofflich eine breitere Grundlage, ist ethisch vertiefter und liefert durch einzelne Dichter große weltanschauliche Lebenswerke, die eine Bedeutung für alle Zeiten besitzen. Es kommt ihr nicht so sehr auf das Ästhetische wie auf das Ethische an, sie dient mehr der tieferen Schönheit der Idee, als der oberen Schönheit der Form, aber auch formal kann sie erstaunlich schöne Kunstwerke liefern. Es geht also in ihr um die höchsten menschlichen Dinge, etwa wie man das Dasein durch ritterlichen Dienst in eine gute große edle Form des Lebens bringen könne, wie in solcher Lebensform "Welt und Gott sich nicht mehr widerstreiten, wie der Dualismus also in seiner mittelalterlichen Aktualität überwunden werden könne, wie der Ritterdienst mit Frauenliebe zu vereinigen sei und von ihr den wertvollsten erzieherischen Auftrieb empfange, wie nicht etwa nur für den einzelnen alle diese Probleme gelöst werden können, sondern für die ganze Standesgemeinschaft, wie also der Menschheit einmal wieder eine große vorbildliche zeitgemäße Daseinsweise geschenkt werden könne. War es die Tat der Klassiker untei den Dichtern, sie zu schaffen, so ist es das Werk dei „Epigonen", diese Vorbildlichkeit voll auszuprägen und für die Nachwelt sowie für andere Stände sie weithinleuchtend hinzustellen. Form, Zucht, mäze, Beherrschung, Gleichgewicht, Treue, Schönheit, Kraft trägt diese Dichtung beispielhaft oder belehrend ihren Zuhörern vor, nicht durch stille private

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Lektüre, sondern durch Vortrag vor Leuten, die im tätigen Weltleben stehn, im kriegerischen Dasein, in weltlicher Gemeinschaft. Fast vollständig herrscht wieder das alte selbstverständliche unklerikalisierte, vorchristlich-germanische Kriegerideal der Ehre. Wenn der P f a f f e Konrad noch im Rolandslied sorgfältig und fast schamlos die gesamte Haltung und Ehre des altdeutschen Kriegers Stück f ü r Stück auf die Heiden übertrug, um beide damit zu kompromittieren, so hatte er damit den gegenteiligen Erfolg; man weiß: W o l f r a m und alle staufische Welt mit ihm verklärte nicht nur den Heiden, sondern ethisierte ihn sogar im Grunde christlich (Feirefiz). Sowohl die Heiden wie die alten Kriegerwerte sind nun verklärt und unangefochten, ohne daß der Ritter aufhörte ein Gottesritter zu sein. Gott und Kriegertum sind nun so wenig noch ein Dualismus wie einst, brauchen so wenig im Konflikt miteinander zu stehen wie himmlische und irdische Liebe, mit der Ehre verträgt sich völlig die christliche Liebe, man muß nur diesen Rittern nichts Pfäffisches dabei unterschieben. Es ist eine Laienfrömmigkeit, die gesund und schön hier aufleuchtet. Rittertum ist Dienst des Starken am Schwachen, Liebe zum Nächsten, der es verdient, Verpflichtung zum Zuhilfekommen auch dem gegenüber, der nicht zur unmittelbaren Gemeinschaft gehört. Hier ist die einfachste Verbindung zum Samaritergleichnis, zum Zentralpunkt des Christentums überhaupt, und eben dieser karitative Zug stellt sich in der ritterlichen Dichtung mächtig heraus. So bekommt wahres Ritterwerk durchaus über das Sportliche hinaus seinen ganz tiefen Sinn. Positiv christlich ist also das Rittertum im tiefsten, weltanschaulich christlich ist aber seine Dichtung in erster Linie deshalb, weil in ihr keine Tragik möglich ist, denn der Sinn der Welt war nicht mehr Untergang. Die christliche Gottheit rückte endlich in das alte Vertrauensverhältnis zum Krieger, das einst die heidnische zu ihm besaß, und er zu ihr. Die Welt war wieder das Werk Gottes, ingleichen die Frau, über ihnen lag der Glanz und die Schönheit des 5*

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staufischen Lebens. Alles Kluniazensische ward abgeworfen, alles Diesseits hatte wieder seinen alten Rang und freudenreichen Wert. Es war eine Diesseitigkeit, die der Antike wie dem Germanentum gleich nahe stand. Der Ehrbegriff schloß wieder jeden bloßen Materialismus aus, wie hoch auch die Güter der Welt und des Leibes im Werte standen. Der thomistischen Lebensanschauung ward mit dem allem lebensgefühlsmäßig mächtig der Weg bereitet. Als Thomas geboren wurde (1224), war sie in aller staufischen Dichtung längst breit e n t f a l t e t . . . . Gehaltlich, seelisch, geistig, stilistisch, formal strebt also alles einer höchsten Vollendung zu. Seelenanalyse ist diese Dichtung weithin, ein Sichversenken in die Seele der lyrisch zu besingenden oder episch zu behandelnden Person. Alles Denken geschieht in Anmut und Schärfe. Stark ist das symbolische Denken entwickelt, in gewissen Dingen herrscht eine rationale Klarheit, das Dämonisch-Magische ist verdrängt, etwa in Türlins „Krone" bricht es noch mächtig auf. Mannheit und Minne sind nach allem die Hauptthemen der ritterlichen Dichtung, erreicht oder bewährt in dem, was der Einzelne erlebt in Aventiure, Kampf, Turnier und Fest. Auch in diesen Dingen soll die Dichtung durchaus Vorbilder und vollkommene Beispiele geben, daher die Schilderungen von Kämpfen, Turnieren und Festen, von Kleidern und Waffen, von Speise und Schmuck einen breiten Raum einnehmen. Es handelt sich auch in diesen Aventiuren des Kampfes und der Minne um Vorbilder des höfischen Daseins, des ritterlichen Lebens. Monologe und Dialoge dienen zur Entwicklung der Probleme, sie liegen oft mit der Lyrik auf einer Ebene und könnten ausgetauscht werden. Die bunten gefährlichen Abenteuer, in die der fahrende Ritter nacheinander gerät, sind die Folie seiner Furcht- und Tadellosigkeit, der Hintergrund seiner Unerschütterlichkeit, die Bewährungsprobe seines Hohen Mutes, sind Erziehung zu dem allem. Sind die höfischen Stoffe auch anfangs meist fremden Ursprungs, so spielt die Quellenfrage doch eine geringere

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R o l l e gegenüber den steten D u r c h b r ü c h e n der germanischen W e l t und der G e w i n n u n g immer tieferer deutscher Z ü g e besonders g e r a d e bei d e n g r o ß e n D i c h t e r n . D a s K l e i d der h ö f i s c h e n E p i k ist g e w ö h n l i c h d a s v i e r h e b i g e R e i m p a a r mit der Reinheit des R e i m s , der möglichst auch außerhalb d e r e n g e r e n H e i m a t d e s D i c h t e r s ein r e i n e r R e i m b l e i b e n soll, mit der V e r m e i d u n g v o n M u n d a r t l i c h k e i t e n daher v o r n e h m l i c h a n d i e s e r S t e l l e d e s V e r s e s u n d m i t einer m a ß v o l l e n T e n d e n z z u m a l t e r n i e r e n d e n R h y t h m u s in g e g l ä t teter V e r s f ü l l u n g . A u c h die ursprünglich noch strophische H e l d e n e p i k geht t r o t z ihres g e w a l t i g e n T r i u m p h e s i m N i b e l u n g e n e p o s s p ä t e r h i n meist z u dieser G e s t a l t u n g über, w ä h r e n d v o m umgekehrten W e g nur ,Titurel' und ,Lohengrin' Zeugnis ablegen. D i e G a t t u n g e n sind: rein lehrhaft die D i d a k t i k ; darstellerisch in beiden T h e m e n , der Mannheit und der Minne, der V e r s r o m a n ; in bezug auf die Minne hauptsächlich die L y r i k . V o n einer höfischen D r a m a t i k k a n n nicht gesprochen werden, vielleicht nur deshalb nicht, weil sich z u f ä l l i g keine große dramatisch begäbte Persönlichkeit unter den ritterlichen D i c h tern f a n d , die das D r a m a in die deutsche höfische Poesie heraufgehoben hätte. Lateinisch w a r es mit dem staufischen L u d u s de Antichristo gewiß nahe d a r a n , es hätte nun eines Ritters b e d u r f t . S o w a r es wohl auch mit der volkstümlichen ritterlichen Ballade, die S k a n d i n a v i e n von uns in den R i d d a r avisur geerbt hat, wie es einst die eddischen Heldenlieder v o n den südgermanischen S t ä m m e n b e z o g ; mehrere unserer späteren sog. V o l k s b a l l a d e n reichen bis in die ritterliche Zeit zurück, unter ihnen vornehmlich die Minnesingerballaden, die ja rein Ritterliches zum G e g e n s t a n d haben. Es w a r vielleicht mit W o l f r a m nahe genug d a r a n , d a ß die B a l l a d e auch bei uns höfisch, d. h. literatur- und s a m m l u n g s f ä h i g wurde. Solche G a t t u n g e n ritterlich-volkstümlicher A r t sind ja zunächst auch das T a ^ e ' i e d mit seiner Unerhörtheit unzweideutigster Liebeserfüllung, die nationale H e l d e n e p i k mit ihrem ausschließlich männlichen G e f o l g schaftsethos und die alte Spruchpoesie gewesen. Aber es w a r wie dem D r a m a so auch der B a l l a d e in Deutschland nicht beschieden gewesen, von einem g a n z großen eigenmächtigen deutschen Meister e r g r i f f e n und unwiderstehlich höfisch gem a c h t zu werden, wie es doch dem T a g e l i e d durch W o l f r a m

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beschieden war, der nationalen Heldenepik durch den Nibelungendichter und der Spruchpoesie durch Walther. Ein Epigone, Rudolf von Ems, hat sogar die Weltchronik höfisch gemacht und im Frauendienst f ü r die Gemahlin Konrads von Winterstetten gedichtet. W a l t h e r hat das rein geistliche Kreuzlied literarisch gemacht, zu hoher Kunst geführt. Andere haben gar aus dem Leich, d. h. eigentlich aus der Sequenz, „Paradestücke des Minnegesanges" gemacht. Grenzen in den Gattungen gab es hier wohl gar nicht grundsätzlich und von vornherein.

Aber es gab andere Grenzen, sie liegen in der H a l t u n g und sie werden besonders im Minnesang sichtbar. Minnesang ist nicht gleich Liebeslyrik überhaupt, sondern eine merkwürdig einmalige und ganz besondere Erscheinung derselben, eine eigentümliche Verengung der wohl schon seit längerer Zeit erwachten höheren Liebeslyrik beider Geschlechter, deren Geschichte sich an den Termini Minnesang, Trautlied, Winelied weit und vage zurückverfolgen läßt. Sobald die Frau in die Gesellschaft der Männer aufgenommen, wird Liebe zum literarischen T h e m a : wir wissen diese Tatsache von der Karlszeit und es erscheint der Terminus Winelied, von der Ottonischen Zeit und nicht eben sehr lange danach erscheint der Terminus Trautlied. D a ß die Frau auch selbst zunächst Strophen verfaßte, daran ist gar kein Zweifel. H a t vielleicht die Frau, dem Heimischen näher, den Weg zur Nationalsprache finden helfen? Die ganz frühe Lyrik kennt das Bild der werbenden, liebenden Frau, was später undenkbar ist. Die staufische Verengung besteht nun darin, daß so getan wird, als könnte die Liebe nur von dem Ritter ausgehn und nicht von der Frau, die immer nur die Umworbene ist, und dies ist die große Grundfiktion des Minnesangs überhaupt; ferner darin, daß sie sich nur erstrecken könne auf die verheiratete vornehme Frau eines andern, und als wäre anderes gar nicht möglich. Minnesang solcher Art gehört zum Frauendienste des Ritters. Unter diesen Fiktionen wird dann der Minnegesang zu einer Art Gesellschaftsphilosophie in Versen, steht er bei uns an Stelle der platonischen Dialoge bei den Griechen, etwa so wie das

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Heldenlied an Stelle der attischen Tragödie steht, ist aber immer noch hundertfältig bereit, in wirkliche Liebeslyrik auszumünden, aus der er im Deutschen auch seinen A n f a n g nahm. Er erschafft sich die Form des ,Wechsels' als Ausdruck dieser Haltung gerade in seiner eigentümlich deutschen Zeit. Der wissenschaftliche Dialog in der Weise des Lucidarius sprüht nicht von der Dialektik des Minnesangs oder der sokratischen Gespräche. Es handelt sich um nationalsprachliche Liebeslyrik im Einzelvortrag vor ritterlicher Gesellschaft, zur Unterhaltung im Palas, nicht mehr um Gemeinschafts- oder Chorlyrik, sondern um die persönliche Stimme des Ritters, des H e r r n selbst oder seiner Leute, welche aber die Anwesenden alle als Leistung interessiert, die sie beurteilen. Wenn das in Frankreich wie in Deutschland erscheint, wird diese Situation in ihrer Wurzel germanisch sein — so eben ging es schon mit Heldenlied und Skaldenstrophe in der germanischen Königshalle. Jetzt aber nehmen die Frauen daran teil und der Inhalt gilt ihnen. Der H e r r und seine Leute dichten, man weiß wie das Urbild unter den Hohenstaufen wieder lebendig wird, wie sie es nach Sizilien verpflanzen u n d damit italienische Lyrik ins Leben rufen. Antikes Gut, scholastische Gedanken- und Gefühlsanalyse, provenzalischer Vortritt, provenzalische Form- und Musikkunst haben auf den deutschen Minnesang eingewirkt, aber die soziale Wurzelsituation entstammt dem Altheimischen und Gewohnten. Gefordert ist ehrliche treue Absicht, unverbrüchliche Stete; arebeit muß der Ritter in diesem Dienst genau so auf sich nehmen wie im Waffendienst. Ob oder wie seine Minne je erfüllt und der Lohn erlangt wird, spielt grund sätzlich keine Rolle. Erfüllung wird unverblümt gewünscht, wie Lohn und Lehen im Herrendienst gewünscht werden, aber die wahre Minne richtet sich so wenig nach ihrem Eintritt wie die wahre Mannentreue. Sie hat auf jeden Fall ihren Lohn in sich, und der besteht in der Erziehung zur Vollkommenheit, die H o h e Minnedame

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w i r d zur Erzieherin. So deutlich Wunsch und Werben, so verschleiert bleiben Erfüllung und Ziel, eben deshalb braucht das unzweideutige Tagelied erst einen ganz großen Meister, damit er es unwiderstehlich höfisch macht. Rühmen darf man sich des Lohnes jedenfalls nicht, die Minne muß tougen sein, der Name der Herrin verschwiegen. Aber der Unterschied zwischen Hoher und Niederer Minne liegt gar nicht im Physiologischen, daß etwa die eine „platonisch" bliebe, die andere nicht, sondern allein darin, daß der niederen Minne jedes erzieherische Ethos fehlt - bis zu Walther, der es ihr gibt und auch das Lied der Niederen Minne damit höfisch macht. Denn man bedarf sämtlicher Tugenden des großen Tugendsystems, will man ein Hoher Minner sein. Und nur im Minnedienst kann der Ritter alle verlangten Tugenden Leibes und der Seele erwerben, lehrt die gesamte höfische Dichtung. Sich Erziehung und sittliche Kraft von einer so irdischen Institution, nicht nur von Gott herzuholen, die Dame zur Erzieherin zu wählen, nicht nur den Priester, gerade dies w a r das Unkirchliche an der ganzen Erscheinung. Sie w a r trotzdem nicht unreligiös, denn man w a r sich bewußt, gerade Gott habe die Frau mit dieser Absicht erschaffen. Das Thema des üblen Weibes w a r kirchlich-kluniazensisch gewesen. Gott selbst will den Minnedienst, Hohe Minne entsündigt vor Gott und ist eine Führerin in den Himmel. Gott selbst w i r d eben in Minne wie in Mannheit ritterlich, höfisch gesehen. Mit dem Marienkult hat solche Hohe Minne zur Frau eines ändern begreiflicherweise zunächst gar nichts zu tun; jede Berührung wird meist vermieden; später erst ist gegenseitige Beeinflussung möglich, so sehr daß schließlich Sunburg mit fast überdreister Freiheit Marias Minneaventiuren behandeln kann. D a ß Minne a l l e s ist auf der W e l t , dem gegenüber das Andere n i c h t s ist, daß ihr Reich absolut ist, jenseits auch der Ehe, daß die Frau ein Wesen von höherer Art sei, von welcher Vollkommenheit ausgeht, werdekeit und Hoher Mut, was an sich schon Lohn ist, geht aus dem Minnesang deutlich hervor. Aufnahme in

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den Dienst, Glück der N ä h e und des Grußes, Sehnsucht aus der Entfernung, Lohn oder Nichtlohn, Lösung aus dem Dienst oder Treue trotz allem, womöglich ewiger wart, d. h. H o f f n u n g , die der Illusion gleichkommt, sind die ewigen Motive. Von einer uniformen Monotonie sollte man trotzdem nicht sprechen. Es ist mit den Minneliedern wie mit den Burgen der Ritter: sie scheinen einförmig sich an ein Schema zu schließen, aber in Wirklichkeit haben sie alle ihr eignes Gesicht. Wie die Dame sein soll, die langsam und spät erst an den Lohn denken muß f ü r den Einen, ist im Minnesang hundertfältig gesagt. D a ß ein richtiger Ritter ganz selbstverständlich auch vil wol von minnen singen kann, geht zum Beispiel aus dem Armen Heinrich (71) unzweifelhaft hervor, das ist einfach zum Ritter gehörig. Aber das Allerpersönlichste zu sagen, konnte nicht erlaubt sein, wie sehr es, wo es durchbricht, auch uns gerade interessiert. Diese Lyrik, niemals ohne Melodie und in dem Grade immer Einzelerlebnis, in dem sie auch immer Einzelvortrag war, trotzdem immer die g a n z e Gesellschaft aufs stärkste berührend, war stark psychologisch, betraf o f t genug das Problem der Minne selbst, was Minne sei, auf jeden Fall ihr Erlebnis. Sie war in ihrer reinsten klassischsten Form - bei Reinmar und dem jungen Walt h e r - o f t Standesethik in Versen von staunenswerter, kaum je wieder erreichter Leistung und Kunst, der man das Lehrhafte vor lauter Liedhaftigkeit kaum anmerkt. Mehrstrophigkeit des Liedes und Dreiteiligkeit der Strophe gelten als romanischer I m p o r t . Umgekehrt macht in der T a t die alte Einstrophigkeit unseres frühesten Minnesangs einen sehr germanischen Eindruck (die Form der visa). Altes Erbe aus spätestens winilcgds Zeiten sind auch als solche die Frauenstrophen, die auch in Minnesangs Frühling, unter Dietmars N a men, meistens noch von Frauen sind. Verschwiegenheit über Person und N a m e n der Geliebten ist schon eine Pflicht der altnordischen Mädchenlieder, d. h. „Lieder auf Mädchen" (mansöngr) gewesen. Daher sind Geleitstrophen, wie die romanische Lyrik sie kennt, im Deutschen von vorneherein unmöglich. D i a loge (Frau und Bote, Frau und Ritter) spielen auch hier eine große Rolle; der Wechsel (Gedanken der Liebenden über ihre

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Deutsche Dichtung in staufischer Zeit

Liebe aus der Entfernung) ist wie gesagt eine Eigentümlichkeit des frühen deutschen Minnesangs. Auch er ist germanisches Erbteil: wer die germanische Dichtung kennt, weiß, wie von G r u n d auf dialogisch, ja dialektisch sie angelegt ist. Man sollte überhaupt, trotz allem greifbaren romanischen Einfluß, mehr die Z u n f t der Meistersinger mit den T r o u b a d o u r s vergleichen als unsere staufischen Minnesinger. Diese sind nicht Berufsdichter, die davon leben, sondern Ritter und H o f b e a m t e , Hausgenossen, sie umgeben dichtend ihren dichtenden H e r r n ; Dichterinnen gibt es alsbald nicht mehr. T i e f e Vergeistigung (Reinmar) und sittliche Weltanschauung (Hausen) haben sie den T r o u b a d o u r s voraus.

b) D a s K a p i t e l w e i f i s c h e r

Dichtung.

Der stürmische Aufbruch zum Neuen, zu neuen und reicheren Schönheiten, zu größerem Glanz, zur südlichen Farbenpracht, zum Kaiserlichen und Weltaufgeschlossenen scheint an den staufischen Raum und Geist gebunden zu sein. Aber der Geist des deutschen Rittertums war im 12. Jahrhundert nicht nur in die großen Auseinandersetzungen Kaiser-Papst, Christentum-Heidentum hineingerissen, sondern auch in den Kampf zwischen Staufern und Weifen. So gibt es denn etwas wie ein Kapitel weifischer Dichtung, und natürlich auch so etwas wie ein Kapitel weifischer Kunst. Im weifischen Raum und Geist setzt sich begreiflicherweise viel stärker die innere Linie Deutschlands fort, hier ist viel salisches, viel ottonisches Erbe, ein langhin wie absichtlich festgehaltener, archaischkräftiger und zugleich altertümlich-frommer Geschmack. Aber der staufische „Sturm aus Schwaben" hat sich die Welt und den neuen, den „höfischen" Geist viel absichtsvoller und rascher eröffnet. Der Gebrauch des neuen Kulturworts „höfisch" ist viel seltener und zaghafter im weifischen Raum, seine Bedeutung meist wenig positiv, mindestens nicht einheitlich, zum Teil ironisch. Der P f a f f e Konrad legt es sehr bewußt nur dem schönen Heiden Margariz bei, das heißt er lehnt damit die ganze höfische Haltung als unfromm, als heidnisch ab.

D a s K a p i t e l weifischer Dichtung

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M a n hat mit Recht d a r g e t a n , d a ß die D o m e v o n W o r m s und Braunschweig sich zueinander verhalten wie B a r b a r o s s a und H e i n r i c h der L ö w e selbst, m a n hat d a m i t auch f ü r die B a u kunst unseren Unterschied erwiesen. In der A n l a g e der P f a l z e n hat m a n sinnfällige Unterschiede zwischen staufisch und weifisch gefunden, wieder ist der weifische T y p der umständlichere, altvaterische. A b e r so ist es auch in der K l e i n kunst; Heinrichs berühmtes E v a n g e l i a r , Heinrichs Psalter vertreten einen nicht mehr üblichen T y p , sind so, als stammten sie aus dem 9. bis 11. J h d t . ; die N i e l l o k u n s t der weifischen S c h ä t z e ist sehr archaisch, die O r n a m e n t i k archaisch-flächenfüllend. Ein sehr rückblickendes Anglisieren macht sich in der weifischen Kleinkunst bemerkbar. D i e Reliquienfreude, die sich im W e i f e n schatz kundgibt, ist ottonisch und salisch, gänzlich unstaufisch. Archaischer ist der weifische H e r r s c h e r b e g r i f f . D a s Wort „ R e n a i s s a n c e " w ä r e im Z u s a m m e n h a n g mit allem Weifischen völlig unbrauchbar. Eine Wiederbelebung der Antike ist hier nicht zu spüren. D a s an sich schon im Sinn g a n z altertümliche und unnaturalistische Braunschweiger L ö w e n d e n k m a l hält sich von lateinischen H e x a m e t e r i n s c h r i f t e n mit cäsarischem Inhalte völlig fern, aber die S t a u f e r b e d u r f t e n ihrer; Heinrichs R u h m sinn greift nicht nach antikisierender V e r b r ä m u n g . N i c h t in der reinhöfischen Artusepik, sondern im H a g e n des Nibelungenlieds, wenn er gleichsam freiplastisch und ausdrücklich als wildes T i e r v o r Kriemhild und den H e u n e n sitzt, mit dem g r ü n k n a u f i g e n B a l m u n g auf den K n i e n , zum S p r u n g e bereit, also in der archaischeren nationalheroischen Dichtung, w i r d sich bezeichnenderweise die ungesuchte literarische Parallele zum B r a u n schweiger L ö w e n finden. I m Weifischen setzt sich mehr d a s Bodenständige fort, das Nordischere, in der K u n s t wie in der Dichtung. Zugleich auch das Frömmere. H i e r herrscht keine so starke Verweltlichung wie im Staufischen, welches viel p r o f a n e r und g a n z unkirchlich erscheint. Kleriker sind hier noch die V e r treter des Geistes, daher der unmodernere, unfortschrittlichere Zug. H i e r herrscht noch nicht die neuere Stellung der F r a u , dem Minnesang steht m a n hier fern. Viel stärker interessiert hier noch d a s alte G e f o l g s c h a f t s e t h o s . Selbst bis in den Stil der hier meist noch anonymen Dichtung hinein herrscht der archaischk r ä f t i g e f r o m m e G e s c h m a c k , so findet sich z u m Beispiel d a s „ Z e u g m a entgegengerichteter B e g r i f f e " ( e t w a : d a s w a r ihm lieb und leid, lieb aus dem G r u n d e und leid aus jenem), ein Ergebnis der neuen seelenanalysierenden Stilkunst, in der weifischen

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Deutsche Dichtung in staufischer Zeit

Dichtung nicht, ausgiebig aber im staufischen und französischen Raum. Doch hat wohl das Weifische zuerst den germanischen H o h e n Mut als W e r t wiedererkannt, rasch griff d a n n die übrige deutsche ritterliche Welt nach ihm, der f r ü h e einheimische Minnesang im Südosten verbindet ihn als .freudigen Stolz von der Ehre her auch mit der Minne, die staufischen Dichter geben ihm dann die volle tiefe Beseelung. Aber allein schon die Weifennamen Heinrich der Stolze und Heinrich der Löwe haben unzweideutig in die Sphäre des H o h e n Mutes gewiesen.

Das Kapitel weifischer Dichtung hätte füglich mit der großen K a i s e r c h r o n i k zu beginnen, die sich eben aus der Fragestellung Papst oder Kaiser langsam löst, um in die Fragestellung Weif oder Staufer hinüberzugleiten, und die entschlossen und sicher den Weifen bejaht. Sie gehört noch der Zeit Heinrichs des Stolzen an, dessen Schwiegervater Lothar ihr der H e r r des Reiches schlechthin ist; bekanntlich lagen mit ihm die schwäbischen Stauferherzöge in Fehde, aber gerade ihm gibt die weifische Dichtung mit der Geschichte des römischen Kaisertums den riesigen Hintergrund. Baiern, nicht der Rhein, und Baierns Machtstellung unter Lothar und den Weifen bilden den eigentlichen Hintergrund dieser Dichtung; Regensburg, die Residenz Heinrichs des Stolzen, ist ihr die „ H a u p t stadt" schlechthin. Konrad III., der Staufer, und seine Wahl erscheinen in trübem Licht wegen seines Zwiespalts mit Heinrich dem Stolzen. Dieser aber wird gepriesen, und ihm hätte der Dichter gern die Kaiserwürde gegönnt. Mit Vorliebe ist die Kaiser-Karlsgeschichte und Sage in dieser Dichtung behandelt, dazu kommt die volle Gewinnung der Karlssage f ü r den weifischen Kreis durch das Rolandslied. Auch das bedeutet den Versuch, besondern legitimen Glanz und kaiserlichen Nimbus auf die weifische Sphäre zu lenken. Den Verfasser, einen Regensburger Geistlichen, kennen wir nicht. Meist nur in gleichsam verirrten Stücken, wie in dem eingelegten köstlichen Kleinod der Lucrezianovelle, atmet schon der von den letzten Kluniazensern gezeichnete staufisch-frühhöfische Geist.

Das Kapitel weifischer Dichtung

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Das weifische R o 1 a n d s 1 i e d ist erheblich jünger; jener bairische Herzog Heinrich, der dem P f a f f e n Konrad die französische Vorlage zur deut chen Um- und Nachdichtung gab, ist Heinrich der Löwe selbst. Um 1170 ist es in ganz archaischer Schönheit des Stils, aber noch in stark kluniazensischem Geiste, in gewisser Abhängigkeit von der Kaiserchronik, an des Löwen bairischem H o f e gedichtet worden; die staufische Heiligsprechung Kaiser Karls von 1165 ignoriert natürlich der Dichter, desto lieber hat man das Werk auch am sächsischen H o f e der Weifen gelesen, wie das hervorragend schöne und vornehme Schweriner Handschriftfragment erweist. Die französische Chanson de Roland von 1108 hatte den Geist von Cluny bereits wieder hinter sich gelassen, der P f a f f e Konrad gibt sich ihm noch stark hin, er macht aus dem weltlichen einen geistlichen Stoff. Er versucht aus den fränkischen Kriegern Karls eine Art kluniazensisch-christlicher Gottesritter zu machen und die Sarazenen sieht er in erster Linie als Glaubensfeinde. Sein christlicher Ritter strebt nach seinem Opfer f ü r Gott, er k ä m p f t für die Ehre Gottes und Christi, f ü r sein Seelenheil, gegen die civitas terrena sive diaboli; ihn verbindet mit seinem Führer nichts andres als Gkubenstreue. wirkliche Heimat und lang verheißenes E