Macht und Kommunikation: Augsburger Studien zur europäischen Kulturgeschichte 9783050060644, 9783050060637

Macht ist nicht nur stets auf Kommunikation angewiesen, um sich durchzusetzen und erhalten zu können, sondern bereits se

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German Pages 235 [236] Year 2012

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Macht und Kommunikation: Augsburger Studien zur europäischen Kulturgeschichte
 9783050060644, 9783050060637

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Silvia Serena Tschopp, Wolfgang E. J. Weber (Hg.) Macht und Kommunikation Augsburger Studien zur europäischen Kulturgeschichte

Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg

Colloquia Augustana Band 30 Herausgegeben von Johannes Burkhardt, Theo Stammen und Wolfgang E. J. Weber Redaktion Elisabeth Böswald-Rid, Tobias Brenner und Stefan Paulus

Silvia Serena Tschopp, Wolfgang E. J. Weber (Hg.)

Macht und Kommunikation Augsburger Studien zur europäischen Kulturgeschichte

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Augsburg. Abbildung auf dem Einband: Frontispiz aus Johann Andreas Schachtners Poetischer Versuch in verschiedenen Arten von Gedichten, Augsburg und Innsbruck 1765. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. LD 5917.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2012 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN eISBN

978-3-05-006063-7 978-3-05-006064-4

Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung Silvia Serena Tschopp und Wolfgang E. J. Weber

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Mächtige Könige und mächtige Priester? Kommunikation und Legitimation im ptolemäischen Ägypten Gregor Weber

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Die Versuchung der Macht. Spätrömische Heermeister und ihr potentieller Griff nach dem Kaisertum Wolfgang Kuhoff

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Das Ohr des Königs. Zur Frage der Zugänglichkeit des Monarchen im Frankreich des 16. und frühen 17. Jahrhunderts Lothar Schilling

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Imprimis Politico necessarium, ut cum hominibus aliquid honoris gradu conversari. Informationelle und kommunikative Dimensionen der deutschen Politikwissenschaft des 17. Jahrhunderts Wolfgang E. J. Weber Dilettantismus versus Wissenschaft? Kulturgeschichte und die Formierung der Geschichtswissenschaft als ‚akademischer Zunft‘ im späten 19. Jahrhundert in Deutschland Silvia Serena Tschopp

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Inhaltsverzeichnis

Zur Rettung des Landes – Kommunikative Machtzuschreibungen an die Erziehung Eva Matthes

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Sine vi humana, sed verbo. Macht und Aporien der religiösen Kommunikation von Ohnmacht Bernd Oberdorfer

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Zur Signatur des Geschichtsdramas: Das Todesurteil bei Schiller, Kleist und Hebbel Mathias Mayer

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Ein „Greulsystem von Worten“. Zur sprachlichen Ausweitung des Krieges in Heinrich von Kleists ,Hermannsschlacht‘ Marion Schmaus Die Autoren

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Zur Einführung Silvia Serena Tschopp und Wolfgang E. J. Weber

Der vorliegende Sammelband verfolgt ein doppeltes Ziel. Er möchte einerseits Forschungs­ interessen dokumentieren, die gegenwärtig und in den kommenden Jahren für die vom Institut für Europäische Kulturgeschichte initiierten und an ihm betriebenen wissenschaftli­ chen Aktivitäten von zunehmender Bedeutung sind. Andererseits dient er als eine Art ‚Aus­ hängeschild‘ der Augsburger Kulturgeschichte. Allen Autorinnen und Autoren des Bandes ist freilich klar, dass die Augsburger Kultur­ geschichte im Sinne einer thematisch und methodisch auch nur einigermaßen geschlos­ senen Forschungsrichtung nicht existiert. Die Aufsatzsammlung steht denn auch weniger für ein in theoretischer und methodischer oder thematischer Hinsicht verbindliches Kon­ zept bzw. Programm kulturhistorischer Analyse als vielmehr für die vielfältigen Perspek­ tiven, die im Rahmen einer kulturgeschichtlichen Annäherung an den von uns gewähl­ ten Gegenstand möglich sind. Dennoch erschien es sinnvoll, nicht gänzlich auf einen theoretischen Verständigungsrahmen zu verzichten und sich dabei jene Überlegungen in Erinnerung zu rufen, die in bereits vorliegende Darstellungen dessen, wie wir ‚Kulturge­ schichte‘ an der Universität Augsburg definieren, Eingang gefunden haben. Neben den diesbezüglichen Erläuterungen, die sich im Internet auf den Seiten der Phi­ lologisch­Historischen Fakultät finden, sowie den Informationen auf der Homepage des Instituts für Europäische Kulturgeschichte sind hier eine Reihe von Veröffentlichungen zu nennen, in denen die Augsburger Kulturgeschichte theoretisch begründet und hinsicht­ lich ihrer Methode reflektiert wird.1 Die in den genannten Publikationen formulierte Präferenz für einen weiten Kulturbe­ griff, der ‚Kultur‘ nicht als neben ‚Gesellschaft‘, ‚Wirtschaft‘ und ‚Politik/Staat‘ angesie­ 1

Achim Landwehr/Stefanie Stockhorst: Einführung in die Europäische Kulturgeschichte. Paderborn 2004; Silvia Serena Tschopp/Wolfgang E. J. Weber: Grundfragen der Kulturgeschichte. Darmstadt 2007; Gregor Weber: Kulturgeschichte als Problem, in: Ders. (Hg.): Kulturgeschichte des Hellen­ eismus. Von Alexander dem Großen bis Kleopatra. Stuttgart 2007. S. 7–12 und 426f.; Silvia Serena Tschopp (Hg.): Kulturgeschichte. Basistexte. Stuttgart 2008; Dies.: Die Neue Kulturgeschichte – eine (Zwischen­)Bilanz. In: Historische Zeitschrift. 289. 2009. S. 573–605; Wolfgang E. J. Weber: Kulturgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland. In: Bärbel Kuhn/Susanne Popp (Hg.): Kul­ turgeschichtliche Traditionen der Geschichtsdidaktik. St. Ingbert 2011. S. 199–237.

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Silvia Serena Tschopp und Wolfgang E. J. Weber

delten Sektor menschlicher Lebenswelten, sondern im umfassenden Sinne als denjenigen Komplex aus kurz­ oder langfristigen, situationsbezogen­einmaligen, ritualisierten oder institutionalisierten Wahrnehmungen, Aneignungen und Deutungen versteht, der Indivi­ duen und Gruppen dazu dient, kontinuierlich die für ihren Zusammenhalt und ihr Fort­ leben erforderlichen typischen Ideen, Normen, Zeichen und Praktiken zu entwickeln – diese Präferenz bildet auch die grundlegende, allgemeine Voraussetzung für die Beiträge des Bandes. Der grundsätzlich interdisziplinäre Charakter des Augsburger kulturhistorischen An­ satzes bringt es mit sich, dass ebenso grundsätzlich die unterschiedlichen Informations­ träger Text, Bild und Objekt sowie mündliche Überlieferung und habitualisierte Hand­ lungen als einschlägige Quellen betrachtet und entsprechend herangezogen werden. Sie erfordern naturgemäß je unterschiedliche Analysemethoden und strukturieren Themen­ auswahl und Themenbefassung mit. Gleichzeitig ist diese multiple Herangehensweise geeignet, der Forderung nach einem komplexen, in methodisch­theoretischer und inhalt­ licher Hinsicht sorgfältig begründeten Modus wissenschaftlicher Untersuchung und Er­ klärung gerecht zu werden. Die von den Autoren des vorliegenden Bandes bearbeiteten Forschungsfelder und die daraus resultierenden Erkenntnisperspektiven sind, wie bereits erwähnt, äußerst vielfäl­ tig. Um der vorliegenden Sammelpublikation gleichwohl ein Mindestmaß an inhaltlicher Kohärenz zu verschaffen, haben sich die Herausgeber und Beiträger darauf geeinigt, ihr in Anschluss an einige im Augsburger kulturhistorischen Kontext in jüngerer Zeit geführte Debatten mit den Begriffen ‚Macht‘ und ‚Kommunikation‘ einen thematischen Rahmen zu setzen. Mit dem Aspekt der Kommunikation haben sich bereits zahlreiche im Umfeld des Instituts für Europäische Kulturgeschichte entstandene Publikationen befasst; auch das von 1998 bis 2007/8 am Institut angesiedelte, von der Deutschen Forschungsgemein­ schaft (DFG) finanzierte Graduiertenkolleg Wissensfelder der Neuzeit. Entstehung und Aufbau der europäischen Informationskultur hat sich maßgeblich mit ihm beschäftigt.2 Der Aspekt ‚Macht‘ ist in der jüngeren sozial­ und kulturwissenschaftlichen Forschung in entscheidenden Hinsichten neu konzipiert worden und ermöglicht nunmehr sehr un­ terschiedliche Untersuchungsperspektiven, deren Fruchtbarkeit erste empirische Studien erhärtet haben.3 Die Kategorien ‚Kommunikation‘ und ‚Macht‘ bilden demnach den Aus­ gangspunkt für die Formulierung jenes konzeptionellen Rahmens, der den Autoren des vorliegenden Bands mit Blick auf ihren Beitrag als Orientierung dienen sollte und der sich in aller Kürze folgendermaßen zusammenfassen lässt: Von der Prämisse ausgehend, 2

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Vgl. zuletzt die aus dem Graduiertenkolleg hervorgegangenen Dissertationen von David Petry: Konfliktbewältigung als Medienereignis. Reichsstadt und Reichshofrat in der Frühen Neuzeit. Berlin 2011 (Colloquia Augustana. Bd. 29) und Oswald Bauer: Zeitungen vor der Zeitung. Die Fuggerzeitungen (1568–1605) und das frühmoderne Nachrichtensystem. Berlin 2011 (Colloquia Augustana. Bd. 28). Exemplarisch seien hier folgende genannt: Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 2005; Michel Foucault: Analytik der Macht. Frankfurt a. M. 2005; Rainer Paris: Normale Macht. Soziologische Essays. Konstanz 2005; Niklas Luhmann: Macht. Stuttgart 2003; Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. Tübingen 1999; Pierre Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht. Hamburg 1991.

Zur Einführung

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dass ‚Macht‘ im Sinne von Machtkonstruktion, Machterwerb, Machterhalt und Macht­ verlust immer auch das Ergebnis eines historisch konkreten und entsprechend empirisch fassbaren kommunikativen Prozesses darstellt, steht das Spannungsfeld von ‚Macht‘ und ‚Kommunikation‘ im Zentrum des Sammelbandes. Im Einklang mit modernen For­ schungsansätzen erscheint ‚Macht‘ unter dieser Perspektive als kommunikatives Verhält­ nis, in dem bestimmten Individuen oder Kollektiven, aber auch sozialen und politischen Institutionen, Normen, intellektuellen, spirituellen und praktischen Kompetenzen sowie schließlich Medien aufgrund komplexer Zuschreibungs­ bzw. Anerkennungsprozesse Legitimität, Vorrang, Überlegenheit oder Weisungsbefugnis zugesprochen wird bzw. um­ gekehrt Personen und Gruppen durch bestimmte Verhaltensweisen Legitimität, Vorrang, Überlegenheit oder Weisungsbefugnis und damit Autorität und Macht erfolgreich für sich reklamieren und generieren. In den Fokus rücken dann Fragen nach der Rechtferti­ gung und Begründung von Macht, nach Mechanismen der Machtzuschreibung, nach der Bedeutung spezifischer kommunikativer Strategien im Zusammenhang mit Machtaus­ übung, aber auch nach den Modi der Wahrnehmung und Beschreibung von Macht und der Möglichkeit von Machtkritik. Eine Operationalisierungsmöglichkeit bietet aus unserer Sicht die forschungsstrate­ gische Unterscheidung von a) Institutionen, innerhalb derer sich Macht bildet und le­ gitimiert wird, b) Modi der Legitimation bzw. Kritik von Macht im Diskurs, also die Strategien, Rhetoriken und Formen ihrer (gelingenden oder scheiternden) Durchsetzung, und c) Medien, in und mit denen sich Macht vermittelt (Texte, Bilder, Objekte oder die leibhafte Präsenz von Personen). Dass die einzelnen Ebenen der Vermittlung nicht iso­ liert voneinander zu betrachten sind, sondern in Wechselwirkung miteinander stehen, versteht sich von selbst. Die damit angesprochenen Problemstellungen lassen sich aus unterschiedlichen Fach­ perspektiven entwickeln und auf unterschiedliche Handlungsfelder beziehen; neben der Politik sind auch Ästhetik (Kunst, Dichtung, Musik), Religion, Erziehung und Bildung sowie Wissenschaft zu nennen. Sie bieten deshalb ungeachtet ihrer Orientierung an zwei spezifischen, in definitorischer Hinsicht allerdings tendenziell opaken und in den konkre­ ten Fallstudien jeweils zu präzisierenden Kategorien zahlreiche Anknüpfungspunkte an die Forschungsprofile der an der Augsburger Kulturgeschichte beteiligten Wissenschaftle­ rinnen und Wissenschaftler. Die im vorliegenden Sammelband dokumentierte Konkretisierung dieses Ansatzes un­ terlag naturgemäß auch äußeren Bedingungen. Die Beiträge haben sich deshalb nicht nach bestimmten Themengruppen ordnen lassen, sondern halten lediglich eine ungefähre chronologisch­epochale Reihenfolge ein. Die antike Kulturgeschichte wird mit dem Aufsatz des Inhabers des Lehrstuhls für Alte Geschichte der Universität Augsburg, Gregor Weber, eröffnet. Er befasst sich mit der letzt­ lich erfolgreichen Strategie der Ptolemäer, als neue Herrscher Ägyptens insbesondere bei der ägyptischen Priesterelite Anerkennung und Legitimation zu finden. Nachgewiesen werden kann, dass diese Strategie maßgeblich in der Kommunikation in verschiedenen Formen – etwa in priesterlichen Inschriften, königlichen Dekreten, Briefen, Besuch des Königs in den Tempeln – bestand. Denn sie war mit einer grundsätzlichen Akzeptanz

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Silvia Serena Tschopp und Wolfgang E. J. Weber

der Priesterelite und einer Anerkennung und wechselseitig höchst profitablen Nutzung der religiös­priesterlichen Orientierungs­ und Legitimierungsleistungen verbunden, und damit Kontakten und Austauschformen, die für die einheimischen Eliten in den anderen hellenistischen Dynastien nur schwer zu fassen sind. Der zweite Beitrag zur Antike, verfasst von Wolfgang Kuhoff, Professor für Alte Ge­ schichte, entwickelt detailreich historische Umsetzungen einer strukturellen Versuchung zur Machtergreifung, die im spätrömischen Kaisertum entstanden war: die auch poli­ tisch, zum Erwerb der Kaiserwürde, einsetzbare militärische Machtakkumulation der Heermeister. Wichtigstes Medium sowohl derartigen Aufstiegs in die höchste politische Position als auch des heutigen Forschers, um diese Ansprüche und Vorgänge überhaupt erfassen zu können, war die sich verändernde Gestaltung des Titels, die Titulatur. In sie mussten direkt und indirekt freilich immer die jeweiligen spezifischen, konkreten Um­ stände eingehen. Letztere lassen sich, wie der Beitrag zeigt, am besten im Modus einer ebenso detailfreudigen wie differenzierten Beschreibung rekonstruieren. Mit einem äußerst komplexen Thema befasst sich auch der Beitrag des Inhabers des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit, Lothar Schilling. Mit ihm wird die den Beginn der europäischen Moderne markierende Epoche in den Blick genommen. Im Zen­ trum der Ausführungen steht der Diskurs und die Praxis der Zugänglichkeit des französi­ schen Königs sowohl für einfache Untertanen und Untertanenkorporationen als auch für Eliten bzw. Repräsentativorgane der Eliten. Deutlich wird, dass die Zugänglichkeit des Monarchen und die darin ausgedrückte Bereitschaft zur Kommunikation zugleich der Informationsbeschaffung ‚von oben‘, der Informationsdarbietung ‚von unten‘ und der wechselseitigen Legitimierung und damit der Stärkung eines asymmetrischen Verhält­ nisses diente. In spannender Weise reflektiert der Beitrag die historischem Wandel unter­ worfenen Mechanismen und Funktionen der Kommunikation zwischen Machthaber und Untertanen und veranschaulicht gleichzeitig die Erhellungskraft einer kulturhistorischen Perspektive gerade auch im Bereich der Geschichte von Staat und Politik. Sowohl im Bereich eines maßgeblichen Diskurses als auch im Bereich einer wissen­ schaftlichen Disziplin mit erheblicher politischer Ausstrahlung bewegt sich der Aufsatz von Wolfgang E. J. Weber, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, besonders Eu­ ropäische Kulturgeschichte. Weber richtet das Augenmerk auf die im ausgehenden 16. Jahrhundert entstandene Politica, d. h. das Fach Politikwissenschaft. Die Ausführungen zeigen, dass diese ältere Politikwissenschaft als im Kern Aufrüstungs­ und Zurüstungs­ wissenschaft für den entstehenden frühmodernen Staat Information und Kommunikation als zentrale Bedingungen dieses Staates zwar nicht vollständig erkannte und auf einen systematischen Begriff brachte, begleitende Erörterungen unterschiedlichen Zuschnitts und nicht zuletzt die Praxis des Faches selbst aber gleichwohl wesentliche Fortschritte auf diesem Feld zeitigten. Den Faden der Wissenschaftsgeschichte nimmt der Beitrag der Inhaberin des Lehr­ stuhls für Europäische Kulturgeschichte, Silvia Serena Tschopp, auf, mit dem die Epo­ che der Neuesten Geschichte in den Untersuchungshorizont rückt. Er widmet sich dem Verhältnis der deutschen Geschichtswissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu jenen kulturhistorischen Ansätzen, die zeitgleich in bunter Fülle entstanden, von maßgeb­

Zur Einführung

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lichen Vertretern der Historikerzunft jedoch als Auswüchse bloßen Dilettantismus mar­ ginalisiert wurden. Die Strategien, Rhetoriken und Argumentationen, die der etablierten Historie lästige Konkurrenten und oft genug ernsthafte methodisch­theoretische Heraus­ forderer vom Halse zu schaffen suchten, illustrieren die Verschränkung von Macht und Kommunikation auch im akademisch­wissenschaftlichen Milieu. Ein kulturhistorisch gesättigtes Plädoyer für eine nüchterne Vermessung und Aner­ kennung der Größe und Grenzen der Erziehung zumal in der Moderne stellt der Aufsatz der Inhaberin des Lehrstuhls für Pädagogik, Eva Matthes, dar. An drei Fallbeispielen kann gezeigt werden, wie nach Kriegsniederlagen und den damit verbundenen politisch­ sozialen Katastrophen vor allem in Deutschland regelmäßig gefordert wurde, Erneue­ rung durch Erziehung zu ermöglichen oder herbeizuführen. Der Erziehung wird, so der Befund, meist ohne nähere Substantialisierung oder Differenzierung eine epochale Re­ form­ und Veränderungsmacht zugeschrieben, über die sie letztlich nicht verfügt – und dies keinesfalls nur von Seiten pädagogischer Experten, sondern auch und vor allem von Seiten einer breiteren, sich machtvoll artikulierenden Öffentlichkeit. Den Komplex von Macht und Ohnmacht in der religiösen Kommunikation nimmt sich der Beitrag des Inhabers des Lehrstuhls für Evangelische Theologie (Systematische Theo­ logie und theologische Gegenwartsfragen), Bernd Oberdorfer, in einem allgemeineren neuzeitlichen Horizont vor. Ausgehend von der reformatorischen Kritik an der Macht der römischen Kirche entfaltet er ein eindrucksvolles Spektrum der Logiken und Dynamiken, die diese Kritik vor allem über ihren Bibelbezug, aber auch die praktischen Machtbezü­ ge, die sie begleiten, hervorbringt, und beschreibt eine Reihe von Paradoxien, die sich untrennbar mit ihr verbinden. Die Kritik an der Macht der römischen Kirche erfolgt im Modus einer Selbstermächtigung; indem sie zugleich auf radikale Weise die Ohnmacht des Menschen Gott gegenüber postuliert, schafft sie innerweltliche Handlungsspielräu­ me, welche den für das evangelische Verständnis konstitutiven Zusammenhang von Welt­ distanz und Weltgestaltung gefährden. Eine eingehende Analyse der Thematisierung von Macht in einem existentiellen Punkt, dem Todesurteil, steuert der Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literatur, Ma­ thias Mayer, bei. Der Vergleich der Auffassung des Todesurteils und des Umgangs mit ihm bei Schiller, Kleist und Hebbel erinnert an eine wesentliche Leistung des Geschichts­ dramas, nämlich jene, historische Vorgänge nicht nur in ein poetisches Kleid zu hüllen, sondern sie mit Anspruch auf Wahrheit darstellen und deuten zu können. Der Beitrag der Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ethik, Marion Schmaus, hat sich demgegenüber die kulturhistorisch­kri­ tische Rekonstruktion der sprachlichen Gestaltung von Krieg in Heinrich von Kleists Hermannsschlacht vorgenommen. Ihre Ergebnisse bekräftigen, dass es sich bei diesem Bühnenwerk, anders als in der germanistischen Forschung bisweilen behauptet, nicht um ein dem historischen Augenblick geschuldetes Tendenzstück handelt, sondern vielmehr um ein Drama, dessen sprachliche Machtdemonstrationen den Krieg nicht glorifizieren, sondern im Gegenteil durch die Demontage der Helden, den Verzicht auf Propaganda­ techniken oder der Ausstellung des Gewaltcharakters von Bedeutungsstiftung eine Irrita­ tion erzeugen, die das scheinbar triumphale Bühnengeschehen unterminiert.

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Silvia Serena Tschopp und Wolfgang E. J. Weber

Im vorliegenden Sammelband nicht vertreten ist die kunsthistorische bzw. bildwissen­ schaftliche Perspektive, obwohl ihr für dessen konzeptionellen Rahmen zentrale Bedeu­ tung zukommt; ebenso erscheinen Objekte als Träger von Prozessen, die sich unter die Begriffe ‚Kommunikation‘ und ‚Macht‘ subsumieren lassen, tendenziell unterbelichtet. Die in der Logik des Ansatzes der Aufsatzsammlung liegenden Beiträge aus der Sicht von Kunstgeschichte oder materieller Kultur sind an anderer Stelle nachzuliefern. Die hier veröffentlichten Studien verstehen sich denn auch vor allem als Stimmen in einem Diskurs, der noch lange nicht an sein Ende gelangt ist, und sie vermitteln zugleich, so die Hoffnung der Herausgeber, ein gleichermaßen facettenreiches und profiliertes Bild der Augsburger Kulturgeschichte.

Mächtige Könige und mächtige Priester? Kommunikation und Legitimation im ptolemäischen Ägypten* Gregor Weber

1. Einleitung Am 9. Januar des Jahres 257 v. Chr. schrieben die ägyptischen Hathor­Priester von Aph­ roditopolis, dem heutigen Atfih in Mittelägypten, 80 km südlich von Kairo gelegen,1 in griechischer Sprache an den Dioiketes Apollonios, den bekannten Finanzminister unter Ptolemaios II.: Die Priester der Aphrodite an Apollonios, den Dioiketes, Grüße. Wie auch der König an Dich geschrieben hat, 100 Talente an Myrrhe für die Bestattung der Hesis zu geben, so bist Du wohl beraten, wenn Du Anweisung erteilst, dass sie gegeben werden. Denn Du weißt genau, dass die Hesis nicht in den Gau zurückgebracht wird, wenn wir nicht alles bereit haben, was sie für die Bestattung brauchen, weil am selben Tag [ – ca. 10 Zeichen fehlen – ]. Wisse, dass die Hesis Isis ist. Möge Sie Dir Gunst beim König verleihen. Lebe wohl. Jahr 28, Hathyr 15.2 *

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Die hier vorgelegten Überlegungen wurden in einer Kurzfassung beim Abschiedskolloquium für Jürgen Malitz am 4. Februar 2011 in Eichstätt zur Diskussion gestellt. Ich danke allen Diskutanten für zahlreiche Kommentare und Anregungen, außerdem Hilmar Klinkott (Tübingen), Sabine Ku­ bisch (Heidelberg), Stefan Pfeiffer (Chemnitz) und Maren Schentuleit (Heidelberg) für hilfreiche Auskünfte, Monika Duldner (Augsburg) für ihre Hilfe bei der Manuskripterstellung. Für die aktuelle Forschungslage in Atfih, im 22. oberägyptischen Gau gelegen, und besonders zur Grabanlage für die heiligen Kühe aus ptolemäischer Zeit: Mission égypto­française d’Atfih (MEFA), Atfih, la zone centrale de l’Hésateum (zone A). Travaux dans la nécropole des vaches sacrées (1). In: ENiM. Égypte Nilotique et Méditerranéenne. 3. 2010. S. 137–165; außerdem Wil­ helm Spiegelberg: Die Begräbnisstätte der heiligen Kühe von Aphroditopolis (Atfih). In: Orientali­ sche Literaturzeitung. 23. 1920. S. 258–260, zur Entdeckung der Nekropole; Reinhard Griesham­ mer: Art. Atfih. In: Wolfgang Helck/Wolfhart Westendorf (Hg.): Lexikon der Ägyptologie. 8 Bde. Wiesbaden 1975–1992. Bd. 1. Sp. 519; bes. Angelo Geissen/Manfred Weber: Untersuchungen zu den ägyptischen Nomenprägungen IV. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik. 151. 2005. S. 279­305, hier S. 300–304 (im Folgenden ZPE). PSI IV 328 = Sel. Pap. II 411 = P. Zen. Pestm. 50: οἱ ἱερεῖς τῆς Ἀφροδίτης Ἀπολλωνίωι [τῶι διοικητ] ῆι χαίρειν. καθάπερ καὶ ὁ βασιλεὺς γέγραφέν σοι δοῦναι εἰς τὴν ταφὴ̣[ν τῆς Ἕσιτος] ζμύρνης τάλαντα ἑκατόν, καλῶς ἂν ποιήσαις συντάξας [δοθῆναι. οὐ γὰ]ρ̣ ἀγνοεῖς ὅτι οὐκ ἀνάγεται ἡ Ἕσεις εἰς τὸν νομὸν ἐὰμ μὴ ἕτοιμα ἔ[χωμεν τὰ δέο]ντα ὅσα ποτὲ χρήαν ἔχουσιν εἰς τὴν ταφήν, διὰ τὸ

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Gregor Weber

Dieser Papyrusbrief hat die Bestattung der Hesis­Kuh zum Inhalt, für die die Hathor­ Priester offenkundig zuständig waren: Die Kuh – identisch mit der weißen Hesat­Kuh, der Mutter des Mnevis­Stiers von Heliopolis und des Apis­Stiers von Memphis3 – war offenkundig außerhalb des Gaus verstorben und musste rituell bestattet werden,4 bevor die nächste Kuh installiert werden konnte. Der gesamte Vorgang hatte sich aber trotz der – tatsächlichen oder angeblichen – Zusage des Königs, Myrrhe bereit zu stellen, offen­ kundig verzögert.5 Es ist unklar, ob die genannte Angabe für die Myrrhe das Gewicht oder eine Wertangabe, dann für die Gesamtkosten der Bestattung, meint;6 die Kosten sind nur schwer zu schätzen, da nur für das 2. Jh. v. Chr. Preisangaben vorliegen, sie dürften aber (mit mindestens 40 Talenten) nicht unbeträchtlich gewesen sein.7 Die Priester be­ lehrten Apollonios darüber, dass die heilige Kuh mit der Göttin Isis, deren Kult unter den

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αὐθημερὸν [– ca. 10 –] γίνωσκε δὲ εἶναι τὴν Ἕσιν Εἶσιν· αὐτὴ δέ σοι δοίη ἐπαφροδισίαν π̣ρ[̣ ὸς τὸν βασι]λ̣έα. ἔρρωσο. (ἔτους) κη Ἁθὺρ ιε. Dazu der Kommentar von William J. Tait: Greek Texts Nr. 50. In: Pieter W. Pestman (Hg.): Greek and demotic texts from the Zenon Archive (P.L.Bat. 20). Bd. 1. Leiden 1980 (Papyrologica Lugduno­Batava. Bd. 20A). S. 188–194, dort auch zur Interpre­ tationsgeschichte des Papyrustextes. Vgl. Strab. 17,1,35,809; J. Gwyn Griffiths: Art. Hesat(Kuh). In: Wolfgang Helck/Wolfhart West­ endorf (Hg.): Lexikon der Ägyptologie. 8 Bde. Wiesbaden 1975–1992. Bd. 2. Sp. 1170f.; Günther Hölbl: Aussagen zur ägyptischen Religion in den Zenonpapyri. In: Mario Capasso (Hg.): Papiri documentari greci. Galatina 1993. S. 1–30, hier S. 17–20, mit weiterer Literatur; Michael Konkel/ Andreas Blasius/Christian Tornau: Art. Kuh (Kuhkalb) B.I. In: Theodor Klauser u. a. (Hg.): Real­ lexikon für Antike und Christentum. bish. 24 Bde. Stuttgart 1950–2011. Bd. 22. Sp. 202–205. Tait: Greek Texts (Anm. 2). S. 188 und S. 192f., mit weiteren Belegen für den Tod heiliger Tiere außerhalb des eigentlichen Gaus; Claude Orrieux: Les Papyrus de Zenon. Paris 1983 (Deucalion). S. 95. Hölbl: Aussagen (Anm. 3). S. 19, deutet die Passage anders und übersetzt ἀνάγεται auch nicht mit ‚zurückgebrachtʻ, sondern mit ‚hinaufgebrachtʻ: „War die Ritualkuh gestorben, galt Isis­ Hesat als ‚vom Gauʻ abwesend und ihre Schutzfunktion als erloschen.“ Die ‚Rückkehrʻ der Kuh sei in staatlichem Interesse gelegen, „weil damit die Wiederaufnahme ihrer Schutzfunktion für den König verbunden war“. Hölbl: Aussagen (Anm. 3). S. 18, vermutet ein Dekret des ersten Ptolemäers, während Tait: Greek Texts (Anm. 2). S. 192, nur von einem Briefwechsel zwischen dem König und seinem Dioiketes ausgeht. Letzterer macht auch darauf aufmerksam, dass nach Diod. 1,84,8 bereits Ptolemaios I. die Ptah­Priester von Memphis bei der Bestattung des Apisstieres mit 50 Talenten unterstützt und somit ein Verfahrensmuster geschaffen habe, dazu auch Christophe Thiers: Observations sur le financement des chantiers de construction des temples à l’époque ptolémaïque. In: René Preys (Hg.): 7. Ägyptologische Tempeltagung: Structuring Religion. Wiesbaden 2009 (Königtum, Staat und Gesellschaft früher Hochkulturen. Bd. 3,2). S. 231–244, hier S. 233f., Anm. 7. Beleg für beide Bedeutungen von τάλαντον bei Pieter W. Pestman: A Guide to the Zenon Archive. 2 Bde. Leiden 1981 (Papyrologica Lugduno­Batava. Bd. 21B). II S. 545 und S. 547. Die genannte Menge an Myrrhe war mit 26 kg pro Talent, d. h. insgesamt 2 600 kg, sehr beachtlich; Werner Huß: Der makedonische König und die ägyptischen Priester. Studien zur Geschichte des ptolemaiischen Ägypten. Stuttgart 1994 (Historia­Einzelschriften. Bd. 85). S. 120, Anm. 303, geht wohl zu Recht davon aus, dass das Gewicht von (und nicht der Geldbetrag für) 100 Talente Myrrhe gemeint ist (siehe Anm. 7); anders Hölbl: Aussagen (Anm. 3). S. 18. P.Tebt. I 35 (19.4.111 v. Chr.) legt einen Preis von 40 Silberdrachmen für eine Mine Myrrhe fest. Für ein Gewicht von 100 Talenten Myrrhe (= 6 000 Minen) hätte man dann einen Preis von 40 Talenten Silber zu bezahlen. Eine Vorstellung von den z. T. erheblichen Kosten für Bestattung und Mumientransport, allerdings bezogen auf Menschen, vermittelt Hans­Joachim Drexhage: Einige Bemerkungen zum Mumientransport und der Bestattungskosten im römischen Ägypten. In: Laver­ na. 5. 1994. S. 167–175, mit etlichen Beispielen.

Kommunikation und Legitimation im ptolemäischen Ägypten

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Ptolemäern nicht zuletzt durch die Verbindung mit Arsinoe II. und Aphrodite einen Auf­ schwung erlebte, (nach ihrem Tod) identisch sei – vielleicht deshalb, „damit Apollonios der menschengestaltigen Isis mehr Verständnis entgegenbringe als der heiligen Hesis­ Kuh.“8 Es erfolgte also eine Gleichsetzung von Hesat, Hesis, Isis, Hathor und Aphrodite, wobei Hathor als Mutter der Isis­Hesat und zugleich als Schutzgöttin des Königs galt.9 Es ist durchaus möglich, dass es einige Tage nach der Absendung des Schreibens auch noch zu einer direkten Begegnung zwischen den Priestern und Apollonios kam, der am Isis­Fest im Serapeion von Memphis teilnahm und anlässlich solcher Feste mehrfach von Priester­Abordnungen aufgesucht wurde.10 Für mein Thema ist nun von Relevanz, dass die Priester Apollonios gegenüber einen durchaus selbstbewussten Ton angeschlagen haben, als sie versuchten, ihr Anliegen, für das sie einen Rechtsanspruch sahen, durchzusetzen.11 Mehr noch: Der Wunsch für Apol­ lonios am Schluss des Briefes ist durchaus als Drohung zu verstehen, denn Apollonios konnte auch der Gunst des Königs verlustig gehen, sollte er sich nicht im geforderten Sin­ ne für Hesis­Isis einsetzen wollen.12 Derartige Schreiben in einem solchen Tonfall kennen wir für die gesamte Ptolemäerzeit – mit unterschiedlichen Forderungen und keineswegs nur auf den Tierkult bezogen.13 Zwar liegt zweifellos nur ein Bruchteil der diesbezügli­ chen Korrespondenz vor, und es ist auch nichts über die unmittelbaren Reaktionen bzw. Reaktionszeiten der offiziellen Stellen in den fraglichen Fällen bekannt, doch darf davon ausgegangen werden, dass den Priestern durchaus bewusst war, auf welche Weise sie Er­ folg haben würden; oder anders formuliert: Die Priesterschaften, auch die nicht ganz so bedeutenden wie diejenigen von Atfih und nicht nur die großen in den alten Zentren wie Memphis oder Theben, verfügten zweifellos über beträchtliche Macht, die sie gegenüber 8

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So Heinz Heinen: Ägyptische Tierkulte und ihre hellenischen Protektoren. Überlegungen zum Asy­ lieverfahren SB III 6154 (= IG Fay. II 135) aus dem Jahre 69 v. Chr. In: Martina Minas/Jürgen Zeidler (Hg.): Aspekte spätägyptischer Kultur. Festschrift für Erich Winter zum 65. Geburtstag. Mainz 1994 (Aegyptiaca Treverensia. Bd. 7). S. 157­168, hier S. 163. Hölbl: Aussagen (Anm. 3). S. 18f., geht davon aus, dass dem Dioiketes die Riten und Abläufe bekannt waren, und sieht in der Passage eine Beschreibung des theologischen Inhalts der Begräbnisfeierlichkeiten. Tait: Greek Texts (Anm. 2). S. 190f.; Geissen/Weber: Untersuchungen (Anm. 1). S. 301f. Aus Scha­ fik Allam: Beiträge zum Hathorkult (bis zum Ende des Mittleren Reiches). Berlin 1963. S. 92f., geht hervor, dass der Hathor­Kult in Atfih nicht zu den prominentesten gehört hat. Die Götter­ Gleichsetzungen während der ptolemäischen Herrschaft wären mit Blick auf Akkulturation und Kulturbegegnungen im ptolemäischen Ägypten ein eigenes Thema, dazu zuletzt Sitta von Reden auf dem Historikertag 2008 in Dresden, vgl. dazu den Tagungsbericht von Astrid Möller, in: http:// hsozkult.geschichte.hu­berlin.de/tagungsberichte/id=2336. So vermutet von Hölbl: Aussagen (Anm. 3). S. 18, mit Belegen. So auch Huß: König (Anm. 6). S. 120; Hölbl: Aussagen (Anm. 3). S. 18. Nach Tait: Greek Texts (Anm. 2). S. 194 (mit Belegen), stellt die Passage eine Übersetzung aus dem Demotischen dar. Gunst ist in der höfischen Gesellschaft aufgrund der Konkurrenz zwischen den Freunden des Königs ein höchst knappes und deshalb umstrittenes Gut, dazu Gregor Weber: Inter­ aktion, Repräsentation und Herrschaft. Der Königshof im Hellenismus. In: Aloys Winterling (Hg.): Zwischen ‚Hausʻ und ‚Staatʻ. Antike Höfe im Vergleich. München 1997 (Historische Zeitschrift. Beiheft. Neue Folge. Bd. 23). S. 28–71, hier S. 46ff. Hölbl: Aussagen (Anm. 3). S. 20 und S. 32f., interpretiert die Passage allein im Kontext der Eigenschaft ägyptischer Götter, „dem frommen Ver­ ehrer Berufserfolg und Wohlstand zu verbürgen“. Huß: König (Anm. 6). S. 118–122; Heinen: Tierkulte (Anm. 8). S. 163f.

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dem anderen Machtfaktor in Ägypten, dem hellenistischen König und seinen Helfern, ein­ zusetzen vermochten, obwohl sie zur Durchsetzung ihrer Interessen kein Machtinstrument wie etwa ein Heer aufweisen konnten.14 Daraus ergeben sich zwei Fragen – einmal nach dem Verhältnis zwischen den beiden Machtfaktoren im ptolemäischen Ägypten: auf der einen Seite die Könige makedoni­ scher Abstammung, die als Fremdherrscher zusammen mit einigen 10 000 Zuwanderern aus der gesamten griechischen Welt als Machthaber in Ägypten fungierten,15 auf der an­ deren Seite die verschiedenen ägyptischen Priesterschaften, die – anders als die Priester, die die griechischen Heiligtümer betreuten – eine gewachsene Struktur aufwiesen und die Elite des Landes repräsentierten.16 Die Tempel arbeiteten nicht nur als eigene Wirt­ schaftseinheiten, sondern die Priester nahmen auch eine Mittlerfunktion gegenüber der ägyptischen Bevölkerung wahr.17 „Damit war ihre Rolle unerläßlich zum Regieren des 14

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Vgl. den Schlusssatz von Huß: König (Anm. 6). S. 186: „Mögen auch die ägyptischen Priester ge­ wöhnlich nicht an den Schaltstellen der politischen Macht gesessen sein, so übten sie doch auf das Leben von Millionen von Bewohnern Ägyptens einen tiefgreifenden Einfluß aus – und manchmal (etwa durch den Hohenpriester von Memphis) vielleicht gar auf den König selbst“; konkret Ursula Verhoeven: Die interkulturelle Rolle von Priestern im ptolemäischen Ägypten. In: Herbert Beck/ Peter C. Bol/Maraike Bückling (Hg.): Ägypten Griechenland Rom. Abwehr und Berührung. Tü­ bingen 2005. S. 279–284, hier S. 284: „der umfangreiche und gut belegte Klerus von Theben und Memphis, aber auch an den großen Tempeln von Philae, Edfu, Dendera, Achmim etc., die zahllosen Stelen, Särge, Totenbücher und Akten von Priestern, Priesterinnen (besonders zahlreich belegt sind die sogenannte Sängerinnen des Amun) und ihrer Familienangehörigen aus den verschiedensten Orten Ägyptens geben Zeugnis von der gesellschaftlichen Bedeutung dieser Berufsgruppe.“ Zur Fremdherrschaft: Hilmar Klinkott: Griechen und Fremde: In: Gregor Weber (Hg.): Kulturge­ schichte des Hellenismus. Von Alexander dem Großen bis Kleopatra. Stuttgart 2007. S. 224–241, hier S. 231. Für das 3. Jh. v. Chr. wird von einer Gesamtbevölkerung von vier Millionen mit ma­ ximal 5 %, also 200 000 Griechen, ausgegangen, dazu mit regional stark differierenden Anteilen; die Zahlen nach Christelle Fischer­Bovet: Counting the Greeks in Egypt. Immigration in the First Century of Ptolemaic Rule. In: Princeton/Stanford Working Papers in Classics. October 2007, die allerdings für das Fayum­Becken von bis zu 25 % Griechen und Makedonen ausgeht; dazu Wil­ ly Clarysse/Dorothy J. Thompson: Counting the People in Hellenistic Egypt. 2 Bde. Cambridge 2006 (Cambridge Classical Studies), mit weitaus geringeren Gesamtzahlen. Die frühere Forschung bezieht sich stets auf Eric G. Turner: Ptolemaic Egypt. In: Frank W. Walbank u. a. (Hg.): The Cambridge Ancient History VII 1. Cambridge 1984. S. 118–174, hier S. 167, der sieben Millionen Ägyptern zu 100 000 Griechen veranschlagt. Die Begriffe ‚Adelʻ und ‚Aristokratieʻ implizieren tendenziell – anders als Elite – eine geringere Zahl an zugehörigen Personen, dazu Hans Beck/Peter Scholz/Uwe Walter: Einführung: Begriffe, Fragen und Konzepte. In: Dies. (Hg.): Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ‚edlerʻ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit. München 2008 (Historische Zeitschrift. Beiheft. Neue Folge. Bd. 47). S. 1–13; Joseph G. Manning: The Last Pharaohs. Egypt under the Ptolemies. 305–30 BC. Princeton 2010. S. 82, spricht in Anlehnung an Jane L. Rowland­ son: The Character of Ptolemaic Aristocracy. Problems of Definition and Evidence. In: T. Rajak u. a. (Hg.): Jewish Perspectives on Hellenistic Rulers. Berkeley/Los Angeles/London 2007 (Hel­ lenistic Culture and Society. Bd. 50). S. 29–49, von „,classicʻ aristocracy“. Walter Otto: Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten. Ein Beitrag zur Kulturge­ schichte des Hellenismus. 2 Bde. Leipzig 1905–1908. S. 255–259; Serge Sauneron: Les prêtres de lʼancienne Égypte. 2. Aufl. Paris 1988. S. 114. Für das Verhältnis von Griechen, Makedonen und Ägyptern auf der Ebene der breiten Bevölkerung: Klinkott: Griechen (Anm. 15). S. 231ff. Darü­ ber hinaus ist festzustellen, dass die ägyptischen Priester während der Ptolemäerzeit immer mehr zu moralischen Instanzen wurden, deren Vorbildcharakter Erwähnung fand, so Sergio Pernigotti:

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Landes. Sie wußten genau, daß die Kommunikation zwischen Herrschern und Beherrsch­ ten nur über sie möglich war. Dies bedeutete Macht und zog Privilegien nach sich“.18 Von besonderem Interesse muss hierbei die Zeit am Beginn der Ptolemäerzeit sein, als vor dem Hintergrund der vorherigen Herrschaft der Achaimeniden und von Alexander dem Großen die Machtverhältnisse neu konstituiert wurden, sodann die Zeit bis zum Ende des 3. Jh.s, als sich die Machtverhältnisse bei aller inhärenten Dynamik verfestigt hatten, bis dann durch die Existenz priesterlich legitimierter Gegenpharaonen in Oberägypten eine empfindliche Störung im Gefüge eintrat.19 Die Beantwortung dieser Frage, die nur im Rahmen einer größeren Studie und in interdisziplinärer Zusammenarbeit erfolgen kann, ist umso wichtiger, als die Forschung hierzu immer noch stark kontroverse Positionen – Opposition oder Kollaboration seitens der Priester, ein Nord­Süd­Gefälle in der Valenz der Priesterschaften oder eine zeitliche Entwicklung im Verhältnis zwischen König und Priestern – vertritt bzw. erhebliche Desiderate bestehen.20 Zuwenden möchte ich mich deshalb einer zweiten Frage, nämlich nach den Formen der Kommunikation in diesem Prozess der Aushandlung und Verfestigung von Macht auf beiden Seiten.21 Die Kommunikation fand nicht nur brieflich statt, sondern es sind als offizielle Dokumente auch etliche Inschriften bekannt, etwa von den Priestersynoden, die seit 243 v. Chr., eventuell bereits seit 266/65,22 stattfanden und zu denen alle Priester nach Alexandreia oder an einen Ort in der Nähe der Hauptstadt zu reisen hatten. Außerdem haben wir von etlichen Reisen der Könige in die ägyptische χώρα – zu unterschiedlichen

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Der Priester. In: Sergio Donadoni (Hg.): Der Mensch des Alten Ägypten. Frankfurt a. M. 1997. S. 143–179, hier S. 176–179. Zum wirtschaftlichen Aspekt siehe unten Anm. 57. So ausdrücklich Stefan Pfeiffer: Das Dekret von Kanopos (238 v. Chr.). Kommentar und histori­ sche Auswertung eines dreisprachigen Synodaldekretes der ägyptischen Priester zu Ehren Ptolema­ ios’ III. und seiner Familie. Leipzig 2004 (Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete. Beiheft. Bd. 18). S. 12. Um diese Zeit lässt sich auch eine verstärkte Hellenisierung der Ägypter feststellen; eine sehr dif­ ferenzierte Sicht bei Klinkott: Griechen (Anm. 15). S. 232f. Dazu Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 6f., außerdem Andreas Blasius, Rez. Pfeiffer 2004. In: H­ Soz­u­Kult vom 10.11.2008. Auf das Desiderat verweist auch ausdrücklich John Baines: Egyptian Elite Self­Presentation in the Context of Ptolemaic Rule. In: William V. Harris/Giovanni Ruffini (Hg.): Ancient Alexandria between Egypt and Greece. Leiden/Boston 2004 (Columbia Studies in the Classical Tradition. Bd. 26). S. 33‑61, hier S. 34. Die Positionen sind wiederum im Kontext der übergreifenden Frage nach dem Verhältnis zwischen Griechen/Makedonen und Ägyptern zu sehen. Huß: König (Anm. 6). S. 182f., betont mit Recht, dass die Differenzierung innerhalb der Priesterschaften nicht zwischen dem hohen und dem niederen Klerus zu verlaufen hat, sondern „hinsichtlich des chronologischen und des lokalen bzw. regionalen Aspekts“. Siehe unten Abschnitt 2. Für das frühere Datum Joachim F. Quack: Innovations in Ancient Garb? Hieroglyphic Texts from the Time of Ptolemy Philadelphus. In: Paul McKechnie/Philippe Guillaume (Hg.): Ptolemy II Phila­ delphus and his World. Leiden/Boston 2008 (Mnemosyne. Supplements. Bd. 300). S. 275–289, hier S. 287. Joachim F. Quack: Der historische Abschnitt des Buches vom Tempel. In: Jan Assmann/Elke Blumenthal (Hg.): Literatur und Politik im pharaonischen und ptolemäischen Ägypten. Kairo 1999. S. 267–278, hier S. 278, zufolge wurden zur Zeit des Alten Reiches bei Tempelneubauten Priester der verschiedenen Orte durch Boten aufgefordert in die pharaonische Residenz im memphitischen Bereich zu kommen; allerdings muss offen bleiben, ob es sich dabei um eine Art Synode oder nur um eine Berichtspflicht gehandelt hat. Manning: Pharaohs (Anm. 16). S. 98, verweist auf „historical precedents for priests meeting at particularly important royal celebrations like the Sed festival.“

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Anlässen – Kenntnis. Schließlich hat man, wenn die priesterlichen Selbstzeugnisse zu­ treffend sind, mit näheren Kontakten einiger Priester zum Königshof zu rechnen. Zwar wird die Quellenlage für diesen Bereich immer besser erschlossen, doch sind die Da­ tierungen etwa von Inschriftenstelen stark umstritten, so dass die Zeugnisse nicht mit Verallgemeinerungen überstrapaziert werden dürfen und in besonderem Maße die Aussa­ geintention und die angezielten Adressaten zu berücksichtigen sind.23 Im Folgenden möchte ich in vier Schritten vorgehen: Im ersten Abschnitt erfolgt der Versuch einer Definition von Macht:24 Nicht nur befindet sich der Begriff in einer intensi­ ven Diskussion,25 sondern man steht auch vor dem Problem, dass sich in der Antike kein umfassender Machtbegriff ausbilden konnte und eine eigene Machttheorie fehlt.26 Dann werden einige Charakteristika zu den ägyptischen Priestern zusammengestellt; die politi­ schen Verhältnisse im ptolemäischen Ägypten im 4. und 3. Jahrhundert sowie die Essen­ 23 24

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Dazu explizit Baines: Self­Presentation (Anm. 20). S. 35f. Macht ist nach Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen 1980. S. 28, „soziologisch amorph“, und zwar deshalb, so Hubert Treiber: Macht – ein soziologischer Grundbegriff. In: Peter Gostmann/Peter­Ulrich Merz­Benz (Hg.): Macht und Herrschaft. Zur Revision soziologischer Grundbegriffe. Wiesbaden 2007. S. 49–62, hier S. 51, weil offen bleibe, worauf die Chance zur Durchsetzung des Willens im einzelnen beruhe, und sich ein Machtverhältnis auch umkehren könne. Macht sei eine relationale Größe „im Sinne von wech­ selseitig vorgenommener Zuschreibung unterstellter Macht“. Deshalb ist in jedem Fall eine Prä­ zisierung erforderlich, dazu Rainer Kühn: Beobachtungen politischer Macht. In: Gerhard Göhler u. a. (Hg.): Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken. Baden­Baden 1997 (Veröffentlichungen aus dem DFG­Schwerpunktprogramm Theo­ rie politischer Institutionen). S. 181–223, hier S. 182f.; Peter Gostmann/Peter­Ulrich Merz­Benz: Einleitung: Revision von ‚Machtʻ und ‚Herrschaftʻ. Die Fortsetzung der Story der Soziologie. In: Dies. (Hg.): Macht und Herrschaft. Zur Revision soziologischer Grundbegriffe. Wiesbaden 2007. S. 7–18, hier S. 15. Dazu Kühn: Beobachtungen (Anm. 24). S. 181–184; Gerhard Göhler: Macht. In: Ders./Mattias Iser/Ina Kerner (Hg.): Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung. Wiesbaden 2004. S. 244­261. Hier S. 244–255; Gostmann/Merz­Benz: Macht (Anm. 24); Treiber: Macht (Anm. 24). S. 49ff. Alexander A. Arweiler/Bardo M. Gauly: Einführung: Was sind Machtfragen? In: Dies. (Hg.): Machtfragen. Zur kulturellen Repräsentation und Konstruktion von Macht in Antike, Mit­ telalter und Neuzeit. Stuttgart 2008. S. 7–18, hier S. 7, weisen mit Recht darauf hin, dass vor allem in literaturwissenschaftlichen Arbeiten vielfach auf eine exakte Begriffsbestimmung von ‚Machtʻ verzichtet wird, was auch in historischen Arbeiten, etwa bei Werner Paravicini: Das Gehäuse der Macht. Einleitung und Zusammenfassung. In: Ders. (Hg.): Das Gehäuse der Macht. Der Raum der Herrschaft im interkulturellen Vergleich. Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit. Kiel 2005 (Mitteilun­ gen der Residenzen­Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 7). S. 7–14, zu beobachten ist; zu diesem Trend: Göhler: Macht (Anm. 25). S. 245. Für die antike Begrifflichkeit Christian Meier: Art. Macht, Gewalt – Terminologie und Begriff­ lichkeit in der Antike. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4. Teil II. Stuttgart 1985. S. 820–835, der (S. 820) betont, dass die Griechen weder zwischen Macht und Herrschaft unterschieden noch einen Macht­ bzw. einen Herrschaftsbe­ griff theoretisch reflektiert gebildet haben, dazu auch Wilfried Nippel: Macht, Machtkontrolle und Machtentgrenzung. Zu einigen antiken Konzeptionen und ihrer Rezeption in der frühen Neuzeit. In: Jürgen Gebhardt/Herfried Münkler (Hg.): Bürgerschaft und Herrschaft. Zum Verhältnis von Macht und Demokratie im antiken und neuzeitlichen politischen Denken. Baden­Baden 1993. S. 58–78, hier S. 60; Kühn: Beobachtungen (Anm. 24). S. 186f. Arweiler/Gauly: Machtfragen (Anm. 25). S. 8f. und S. 13f., heben die Notwendigkeit hervor, die antiken Termini in ihren Spezifika, Abgren­ zungen und Bedeutungsentwicklungen gerade deshalb dennoch zu analysieren.

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tials der hellenistischen Monarchie setze ich hingegen voraus.27 Der dritte Abschnitt wid­ met sich verschiedenen Formen der Kommunikation zwischen Priestern und Königen, und zwar primär von Seiten der Priester. Im vierten Abschnitt soll ein Resümee gezogen sowie ein weiterer Aspekt in die Diskussion eingebracht werden, dessen Klärung künfti­ gen Forschungen vorbehalten bleiben muss.

2. Macht – Versuch einer Definition Lohnend erscheint die Unterscheidung des Berliner Politikwissenschaftlers Gerhard Göhler zwischen transitiver und intransitiver Macht.28 Für transitive Macht kann man die bekannte Definition Max Webers in Anspruch nehmen, nämlich „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen,

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Für die politische Geschichte vgl. Günther Hölbl: Geschichte des Ptolemäerreiches. Politik, Ideolo­ gie und religiöse Kultur von Alexander dem Großen bis zur römischen Eroberung. Darmstadt 1994; Werner Huß: Ägypten in hellenistischer Zeit 332–30 v. Chr. München 2001; Heinz Heinen: Ge­ schichte des Hellenismus. Von Alexander bis Kleopatra. München 2003. Bernard Legras: L’Égypte grecque et romaine. Paris 2004. S. 9–22 und S. 81–90. Zur Monarchie: Hans­Joachim Gehrke: Geschichte des Hellenismus. 3., überarb. und erw. Aufl. München 2003 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte. Bd. 1a). S. 46–61; Gregor Weber: Die neuen Zentralen. Hauptstädte, Residenzen, Paläste und Höfe. In: Ders. (Hg.): Kulturgeschichte des Hellenismus. Von Alexander dem Großen bis Kleopatra. Stuttgart 2007. S. 99–117. Dazu bes. Gerhard Göhler: Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation. In: Ders. u. a. (Hg.): Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken. Baden­Baden 1997. S. 11–62, hier S. 38–43; Göhler: Macht (Anm. 25). S. 255–258; André Brodocz: Behaupten und Bestreiten. Genese, Verstetigung und Verlust von Macht in institu­ tionellen Ordnungen. In: Ders. u. a. (Hg.): Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust. Köln u. a. 2005. S. 13–36, hier S. 17f. Der Vorteil dieses Zugriffs liegt in seiner konstruktiven Ausrichtung: Er „erlaubt eine wesentlich unvoreingenommenere und umfassendere Analyse gesell­ schaftlicher Machtphänomene, frei von der Tendenz, Macht als etwas Vorläufiges, ja Ungeschlach­ tes zu sehen, das in Krisenzeiten verstärkt auftritt, aber bald zugunsten von Ordnung und Herrschaft zurückgedrängt oder verschleiert wird“ (René Pfeilschifter: Spielarten der Macht. Augustus und die Begründung einer neuen Herrschaftsform. In: André Brodocz u. a. (Hg.): Institutionelle Macht. Ge­ nese – Verstetigung – Verlust. Köln u. a. 2005. S. 57–73, hier S. 60). Bernhard Linke: Vorgehen der Forschung. Schlüsselbegriffe und Konzepte. Macht und Herrschaft. In: Eckhard Wirbelauer (Hg.): Antike. Oldenbourg Geschichte Lehrbuch. 3. Aufl. München 2010. S. 353–361, spricht etwa auch von willkürlicher Machtausübung, der er ‚Herrschaft‘ entgegensetzt, weil „die sozial Unterlegenen die überlegene Stellung des Mächtigen als legitim akzeptieren“ (S. 353), ohne dass permanent Machtmittel eingesetzt werden müssen. Die Umwandlung von Macht zu Herrschaft geschieht dann während der Ausbildung gesellschaftlicher Strukturen mit der Vorgabe verbindlicher Handlungs­ formen für die Mitglieder der Gesellschaft (S. 354). Herrschaft wird somit als institutionalisierte Macht verstanden (ähnlich Marlies Heinz: Die Repräsentation der Macht und die Macht der Reprä­ sentation in Zeiten des politischen Umbruchs. Rebellion in Mesopotamien. Paderborn 2008. S. 29, Anm. 6), was aber, so Treiber: Macht (Anm. 24). S. 51, analytisch nicht brauchbar ist. Linke fügt noch hinzu: „Die soziale Gerinnung von Macht zu Herrschaft war also nicht durch die Rahmenbe­ dingungen vorbestimmt, sondern die gesellschaftliche Ordnung musste sich erst in komplizierten Bewährungsphasen durchsetzen“ (S. 360).

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gleichviel worauf diese Chance beruht“.29 Wichtig ist dabei, dass die Ausübung von Macht zwar auf verschiedenen Grundlagen beruhen kann (körperliche oder geistige Überlegen­ heit, höherer sozialer Rang, Androhung von physischer Gewalt),30 die Ressource Macht jedoch stets von einer bestimmten Quantität ist, deren Verteilung eben umstritten ist.31 De facto handelt es sich um „Nullsummenspiele“ – was der eine Beteiligte an Macht besitzt, hat der andere nicht, „und umgekehrt.“32 Mit anderen Worten: Die Präferenzen des einen schränken die Optionen zum Handeln des anderen ein bzw. richten sie dementsprechend aus; deshalb ist transitive Macht „als Willensdurchsetzung stets konfliktiv angelegt“.33 Dies meint nicht, dass die Optionen des Eingeschränkten „auf Null gebracht“ sind und er „nicht auch seinerseits Macht hätte. [...] Macht ist nicht ohne Gegenmacht, sonst wäre sie reiner Zwang oder Gewalt. Tatsächlich kann also eine Machtposition überwiegen [...], es kann aber auch ein Gleichgewicht derart bestehen“, daß beide ‚Partner‘ „wechsel­ seitig Macht aufeinander ausüben, so daß sie sich gegenseitig in ihrer Machtausübung begrenzen.“34 Der Handlungsraum, innerhalb dessen sich dieses Geschehen abspielt, lässt sich als „verschränkt“ bezeichnen, weil er „durch den Aspekt der jeweiligen Über­ und Unterordnung ihres Willens definiert“ ist.35 Für unser Thema heißt das: Der ptolemäische König (einschließlich seines Erzwingungsstabs) verfügte ohne Zweifel über entsprechen­ de Machtmittel, jedoch galt dies in gleicher Weise auch für die ägyptischen Priester. Zu bestimmen sind deshalb nicht nur die Machtmittel und deren jeweilige Anteile in diesem Nullsummenspiel, sondern auch die Formen und Medien der Kommunikation, mittels derer die Positionen und Anteile ausverhandelt wurden. „Intransitive Macht umfaßt das Ensemble der Beziehungen, welche eine Gruppe von Menschen als eine Gemeinschaft konstituiert, sie besteht im Zusammenhandeln der Akteure. ... je intensiver das Zusammenhandeln der Akteure ist, desto mehr wird sie gesteigert.“36 Sie „meint die Geschlossenheit einer Gemeinschaft, den Grad ihrer Gemeinsamkeit, kurz: ihre Mächtigkeit.“ In diesem Zusammenhang sind „gemeinsa­ me Werte, Normen und Handlungsmuster“ zur Definition und Abgrenzung wesentlich. 29

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Weber: Wirtschaft (Anm. 24). S. 28, dazu Linke: Macht (Anm. 28). S. 353; Gostmann/ Merz­Benz: Macht (Anm. 24). S. 12–14 mit Anm. 21. Zu den vielen verschiedenen Machtformen: Treiber: Macht (Anm. 24). S. 55–57, dort auch zur Ge­ walt als grundlegender Machtform sowie als „strukturierende Größe bei Macht­ und Herrschafts­ phänomenen“ (S. 56). Zum Aspekt der Verteilung auch Treiber: Macht (Anm. 24). S. 61, mit dem Bezug auf Max Weber: „Als ‚Phänomene der Machtverteilung innerhalb einer Gemeinschaftʻ gelten ihm Klassen, Stände und Parteien jeweils als Ausprägungen ökonomischer, ehrgebietender und sozialer Macht, deren Verteilungschancen der ‚Kampfʻ bestimmt.“ Transitive Macht kann je nach Ausgestaltung der Beziehung symmetrisch und asymmetrisch sein, dazu Brodocz: Behaupten (Anm. 28). S. 17 und S. 33f. Göhler: Institution (Anm. 28). S. 41. Brodocz: Behaupten (Anm. 28). S. 18. Göhler: Institution (Anm. 28). S. 40. Göhler: Institution (Anm. 28). S. 44. Göhler: Institution (Anm. 28). S. 41. Wenn man transitive Macht mit Max Weber verbindet, so entspricht intransitive Macht dem Konzept von Hannah Arendt, dazu Göhler: Institution (Anm. 28). S. 38f.; Göhler: Macht (Anm. 25). S. 256 und S. 258. Das Folgende nach Pfeilschifter: Spielarten (Anm. 28). S. 58–60, dort auch die Zitate.

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Die Herstellung und „Aufrechterhaltung einer solchen Gemeinschaft bedarf freilich der permanenten Selbstvergewisserung“, nämlich „durch die symbolische und rituelle Ver­ mittlung der gemeinsamen Weltsicht [...] . Somit konstituiert intransitive Macht das Ge­ meinwesen als eine Wirkungseinheit, als einen gemeinsamen und symbolisch präsenten Handlungsraum.“37 Klar sollte auch sein, dass intransitive Macht nicht selbstverständ­ lich und zu jeder Zeit entsteht, „sondern in ihrer Genese entscheidend von der jeweiligen Konstellation der transitiven Machtdurchsetzung“ abhängt.38 Überträgt man diese Be­ schreibung auf unseren Zusammenhang, so ist mit dem genannten gemeinsamen Hand­ lungsraum die Gesellschaft des Ptolemäerreiches gemeint, die etliche relevante Gruppen umfasst: die ägyptischen Fellachen mit ihrer Arbeitskraft, die ägyptischen Priester als Elite, die griechischen und makedonischen Zuwanderer, insbesondere die (angesiedel­ ten) Soldaten sowie die Bevölkerung der Hauptstadt und die Hofgesellschaft. Integrati­ ver Fix­ und Orientierungspunkt stellte der König in seinen verschiedenen Facetten der Selbstdarstellung dar, auf den sich alle anderen gesellschaftlichen Gruppen ausrichte­ ten, das heißt: Für eine gemeinsame Weltsicht gab der König gewissermaßen in seiner Person und seiner Dynastie, in seinem Agieren die Themen vor, und innerhalb dieses Handlungsraums mussten Wertvorstellungen ausgehandelt werden und eine Symboli­ sierung erfahren. Die ägyptischen Priester als ein wichtiger Teil dieses Handlungsraums hatten sich ihrerseits nicht nur mit diesen Wertvorstellungen rezeptiv auseinander zu set­ zen, sondern leisteten auch ihren eigenen Beitrag dazu.39 Das Konzept der intransitiven Macht lässt sich darüber hinaus auch auf die Verhältnisse innerhalb der Priesterschaft anwenden. In diesem Kontext spielen für die Bestimmung der Macht – insbesondere ihres Er­ werbs, Erhalts und Verlusts – über die reine Beschreibung hinaus konkrete kommunika­ tive Prozesse die entscheidende Rolle.40 Somit geht es in beiden Formen, transitiv wie intransitiv, um Macht „als kommunikatives Verhältnis, in dem bestimmten Individuen oder Kollektiven, aber auch sozialen und politischen Institutionen, Normen, intellek­ tuellen, spirituellen und praktischen Kompetenzen sowie schließlich Medien aufgrund komplexer Zuschreibungs­ bzw. Anerkennungsprozesse Legitimität, Vorrang, Über­ legenheit oder Weisungsbefugnis zugesprochen wird bzw. umgekehrt Personen und Gruppen durch bestimmte Verhaltensweisen Legitimität, Vorrang, Überlegenheit oder Weisungsbefugnis und damit Autorität und Macht erfolgreich für sich reklamieren und 37

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Eine solche symbolische Integration kann auch misslingen, dann bleiben „nur die verschiedenen Träger transitiver Mächte, die immer noch auf einander einwirken können“, so Pfeilschifter: Spiel­ arten (Anm. 28). S. 59. Pfeilschifter: Spielarten (Anm. 28). S. 60. Arweiler/Gauly: Machtfragen (Anm. 25). S. 8f., betonen die dynamische Komponente im Verständnis von Macht im Kontext von Handlungen und Vorgängen. Gerhard Göhler/Rudolf Speth: Symbolische Macht. Zur institutionentheoretischen Bedeutung von Pierre Bourdieu. In: Reinhard Blänkner/Bernhard Jussen (Hg.): Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Göttingen 1998 (Veröffent­ lichungen des Max­Planck­Instituts für Geschichte. Bd. 138). S. 17–48, hier S. 21, weisen darauf hin, dass intransitive Macht nicht auf Zustimmung an sich, sondern auf „Zustimmungsfähigkeit von Wertvorstellungen“ gründet (Hervorhebung G. W.). Zur Beschreibung: Kühn: Beobachtungen (Anm. 24). S. 184.

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generieren.“41 Von fundamentaler Bedeutung sind dabei vor allem die konkreten Me­ dien, durch die die Macht vermittelt und wahrgenommen, aber auch bestritten wurde, d. h. es geht um Texte verschiedener Gattungen, um Bildzeugnisse und nicht zuletzt auch um die persönliche Kommunikation zwischen beteiligten Partnern, wobei sich die verschiedenen, vor allem auf Mündlichkeit basierenden Dimensionen einer leibhaftigen Präsenz unserem Quellenzugriff weitestgehend entziehen und meist nur Mutmaßungen erlauben.42

3. Die ägyptischen Priester – einige Grundaspekte Den ägyptischen Priestern und ihrem Verhältnis zu den ptolemäischen Königen ist seit dem Grundlagenwerk von Walter Otto aus den Jahren 1905 und 1908 wieder verstärkte Aufmerksamkeit zuteil geworden.43 Zu nennen sind vor allem die materialreiche Studie von Werner Huß aus dem Jahre 1994, der Formen von Kollaboration und Opposition in offiziellen Verlautbarungen untersucht hat, und die Dissertation von Gilles Gorre von 2009, die ausschließlich auf privaten Inschriften der Priester basiert, sowie weitere pro­ sopographische Untersuchungen.44 Aus der Fülle des Materials möchte ich fünf Aspekte herausstellen, die für die vorliegende Fragestellung relevant sind:45 1. Die Priesterschaft war strikt hierarchisch gegliedert: In der Regel gab es an einem Tempel ‚Gottesdiener‘, d. h. Hohepriester oder auch ‚Prophetenʻ genannt, mit bis zu vier, seit Ptolemaios III. fünf Vertretern, außerdem Wab­Priester, d. h. ‚Reineʻ für die 41

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So die Formulierung in der Einleitung von Silvia Serena Tschopp und Wolfgang E. J. Weber, siehe oben S. 11. Die Bedeutung der Kommunikation mit Untergebenen, Gleichrangigen und Übergeord­ neten betont auch Paravicini: Gehäuse (Anm. 25). S. 12. Dazu bes. Arweiler/Gauly: Machtfragen (Anm. 25). S. 10. In seinem Standardwerk zu den ägyptischen Priestern widmet Sauneron: Les prêtres (Anm. 17) ge­ rade einmal zwei Seiten einschließlich einer großen Abbildung der „l’époque grecque et romaine“ (S. 198f.), dazu noch eine gute halbe Seite (S. 114) den Priestersynoden. Huß: König (Anm. 6), dazu Gregor Weber. In: Gnomon 69/2. 1997. S. 123–128. Gilles Gorre: Les relations du clergé égyptien et des lagides d’après des sources privées. Löwen 2009 (Studia Hel­ lenistica. Bd. 45), dazu Michael N. Weiskopf. In: Bryn Mawr Classical Review 2009.10. 26; Günter Vittmann. In: Bulletin of the American Society of Papyrologists 47. 2010. S. 255–266; Arthur Ver­ hoogt. In: sehepunkte 10/11. 2010; Stefan Pfeiffer: Rez. Gorre 2009. In: Archiv für Papyrusfor­ schung und verwandte Gebiete 56/1. 2010. S. 168–173 (im Folgenden APF). Für Details zu den Tätigkeiten, zur Ausbildung, zum Amtseid, zu den Reinheitsgeboten und zur Amtstracht vgl. Wolfgang Helck: Art. Priester, Priesterorganisation, Priestertitel. In: Wolfgang Helck/Wolfhart Westendorf (Hg.): Lexikon der Ägyptologie. 8 Bde. Wiesbaden 1975–1992. Bd. 4. Sp. 1084–1097; Pernigotti: Priester (Anm. 17). passim; Joachim F. Quack: Königsweihe, Priester­ weihe, Isisweihe. In: Jan Assmann/Martin Bommas (Hg.): Ägyptische Mysterien? München 2002. S. 95–108, hier S. 104ff.; zu den Aufgaben der Priester nach einem rekonstruierten Tempelhand­ buch: Quack: Abschnitt (Anm. 22); Joachim F. Quack: Le manuel du temple. Une nouvelle source sur la vie des prêtres égyptiens. In: Égypte, Afrique et Orient 29. 2003. S. 11–18. In aller Regel waren die Priester Männer; Priesterinnen findet man im Kult weiblicher Gottheiten, aber nicht nur dort, dazu Pernigotti: Priester (Anm. 17). S. 168f.; Joachim F. Quack: Art. Priester. II. Ägypten. In: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. 16 Bde. Stuttgart 1996–2003. Bd. 10. Sp. 316f., hier Sp. 317.

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niederen Arbeiten, dazu einen Vorlesepriester und Ritualspezialisten.46 Sie standen der Gottheit und dem Tempel für unterschiedliche Tätigkeiten zur Verfügung, vor allem für den Vollzug des Rituals des Götterkultes.47 Der erste Prophet war neben der Durchführung der Kultfeiern auch für die Verwaltung der Tempelgüter zuständig; seine Bestellung erfolgte nach dem Willen des Königs. Kleine Heiligtümer besaßen keine ausdifferenzierte Priesterschaft, sondern ein einzelner Priester konnte alle rele­ vanten Ämter vom Hohenpriester bis zum Türhüter innehaben. Den niederen Pries­ tern oblag die Pflege der Kultinstrumente und der heiligen Gegenstände; sie hatten den Tempel rein zu halten, die Statue des Gottes zu schmücken und bei Prozessionen die Statue des Gottes oder seine heilige Barke zu tragen. In ptolemäischer Zeit kam es zu einer generellen Vermehrung der Titel, außerdem der Totenpriester und des Kultpersonals für die Tierkulte.48 2. Die Priester waren zu Beginn der Ptolemäerzeit in vier Phylen eingeteilt, 238 v. Chr. wurden es – wie im Alten Reich – wieder fünf.49 Dies bedeutete, dass ein Priester ei­ nen Monat Dienst tat und danach eigenen Geschäften nachgehen bzw. andere Ämter und Funktionen ausüben konnte, bis seine Phyle wieder an der Reihe war.50 Damit war eine weitaus größere Anzahl von Personen in den Kult involviert, als wenn es nur eine einzige Phyle gegeben hätte. Die Priester bezogen aus ihrer Tätigkeit z. T. beträchtliche Einkünfte sowie eine Altersversorgung, eine Hinterbliebenenrente und eine Bestattung auf Kosten des Tempels.51 3. Die Priesterämter wurden lebenslang versehen und waren bei ausreichender Befä­ higung erblich,52 weshalb sich gerade für Priesterfamilien in großen Zentren wie 46

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Dazu Otto: Priester (Anm. 17). S. 75–125; Jan Quaegebeur: Art. Priester(tum) (griech.­röm). In: Wolfgang Helck/Wolfhart Westendorf (Hg.): Lexikon der Ägyptologie. 8 Bde. Wiesbaden 1975–1992. Bd. 4. Sp. 1098–1100, hier Sp. 1098f.; Pernigotti: Priester (Anm. 17). S. 154ff. und S. 163–167; Quack: Art. Priester. (Anm. 45). Sp. 316f.; Joachim F. Quack: Ämtererblichkeit und Abstammungsvorschriften bei Priestern nach dem Buch vom Tempel. In: Martin Fitzenreiter (Hg.): Genealogie – Realität und Fiktion von Identität. London 2005 (Internet­Beiträge zur Ägyptologie und Sudanarchäologie. Bd. 5). S. 97–102, hier S. 98f. Für die wichtigen Entwicklungen in der Zeit vor den Ptolemäern: Herman de Meulenaere: Art. Priester(tum) (SpZt). In: Wolfgang Helck/Wolf­ hart Westendorf (Hg.): Lexikon der Ägyptologie. 8 Bde. Wiesbaden 1975–1992. Bd. 4. Sp. 1097f. Zum Aspekt des Dienstes: Pernigotti: Priester (Anm. 17). S. 158f. Quaegebeur: Art. Priester(tum) (Anm. 46). Sp. 1099. Otto: Priester (Anm. 17). S. 26–30; Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 101–104, bes. S. 106–112, dort auch zu den Phylen generell sowie zu den Gründen der Reorganisation. Pernigotti: Priester (Anm. 17). S. 150 und S. 166; Quack: Art. Priester (Anm. 45). Sp. 316. Al­ lerdings konnten Priester auch mehreren Gottheiten dienen, dazu Pernigotti: Priester (Anm. 17). S. 155, Beispiele bei Günter Vittmann: Beobachtungen und Überlegungen zu fremden und hel­ lenisierten Ägyptern im Dienste einheimischer Kulte. In: Willy Clarysse/Antoon Schoors/Harco Williams (Hg.): Egyptian Religion. The Last Thousand Years. Löwen 1998 (Orientalia Lovaniensia Analecta. Bd. 84–85). S. 1231–1250, hier S. 1239f. Viele Priester waren in der königlichen Verwal­ tung, etwa als Schreiber, oder im militärischen Bereich, tätig, dazu Vittmann: Beobachtungen (wie oben). S. 1236f. Otto: Priester (Anm. 17). S. 23–42 und S. 168–185; Quack: Art. Priester (Anm. 45). Sp. 317; Quack: Le manuel (Anm. 45). S. 15ff. Quaegebeur: Art. Priester(tum) (Anm. 46). Sp. 1098f.; Quack: Art. Priester (Anm. 45). Sp. 316; Quack: Ämtererblichkeit (Anm. 46). S. 97f.

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Memphis und Theben längere Stammbäume erstellen lassen:53 Kenntnisse und Einfluss konnten so über einen längeren Zeitraum in einer Familie monopolisiert werden,54 wobei Neuernennungen dann besondere Gunsterweise seitens des Königs darstellten.55 Dieser Sachverhalt ist insofern wichtig, als etliche Priester jenseits ihrer ,Dienstzeitenʻ zivile Ämter, auch als staatliche Funktionäre, ausübten.56 Dies machte sie – nicht zuletzt aufgrund des erheblichen Grund­ und Geldbesitzes ihrer Tempel, die jeweils selbständige Wirtschaftseinheiten waren – zu wichtigen Partnern für den König.57 4. Die Priesterschaften der zahlreichen Tempel bildeten keine organisatorische Einheit im Sinne eines monolithischen Blocks und verfügten jenseits der bereits genannten Synoden beim König nicht über eine ‚Standesvertretungʻ. Die Tempel waren viel­ mehr voneinander unabhängig, wobei zwischen den Priestern der kleinen und denen der großen Tempel „Interessengegensätze“ vorgeherrscht haben dürften.58 Dennoch handelte es sich bei den Priestern um die einzige Gruppe, die überhaupt dem König gegenüber als Korporation auftreten konnte,59 wenngleich sich nicht feststellen lässt, wie stark mögliche Absprachen untereinander mit Blick auf eine gemeinsame Linie dem König gegenüber gewesen sind.60 Im Laufe der Zeit hat sich zweifelsohne eine Rangfolge unter den Priesterschaften ausgebildet, so dass bestimmte Priesterschaften 53

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Dazu bes. Dorothy J. Thompson: Memphis under the Ptolemies. Princeton 1988. S. 128f.; Perni­ gotti: Priester (Anm. 17). S. 164f.; Gorre: Les relations (Anm. 44). S. 605–622; Manning: Pharaohs (Anm. 16). S. 90. Für hohe Priesterämter war eine entsprechende Familienabkunft geradezu Vor­ aussetzung, dazu Quack: Ämtererblichkeit (Anm. 46). S. 101. Zur Weitergabe des Wissens und den geforderten Fähigkeiten, besonders – überprüfte! – Kenntnis­ se des Hieratischen: Quack: Ämtererblichkeit (Anm. 46). S. 98–101. Pernigotti: Priester (Anm. 17). 152f. Helck: Art. Priester (Anm. 45). Sp. 1092, zufolge ging in der Spätzeit das Einsetzungsrecht des Königs teilweise auf die Priesterkollegien über. Nach Quack: Ämtererblichkeit (Anm. 46). S. 100, bestanden Chancen für Aufsteiger, wenn es in Familien keine männlichen Nachkommen gab oder die Tempelverwaltung ausgebaut wurde. Gerade deshalb ist es wichtig zu betonen, dass die Priesterschaft nicht im Sinne einer ‚Kircheʻ (so bes. Werner Huß in seinen Arbeiten) der weltlichen Macht entgegenzusetzen ist, zumal der Pharao als oberster Priester fungiert; ebenso wenig ist Ägypten ein theokratischer Staat, dazu Pernigotti: Priester (Anm. 17). S. 154. Vgl. die differenzierte Übersicht bei Otto: Priester (Anm. 17). S. 258–405; außerdem Pernigot­ ti: Priester (Anm. 17). S. 169; Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 290f. mit Anm. 23, betont, dass die Tempel selbständig wirtschaften konnten und nur eine Steuer aus den Erträgen zu entrichten hat­ ten; außerdem Thiers: Observations (Anm. 5). S. 239–241; Manning: Pharaohs (Anm. 16). S. 82f. Thompson: Memphis (Anm. 53). S. 106f., zufolge waren die Tempel Eigentümer von 1/7 des Lan­ des; davon besaßen die Priester von Theben im 12. Jh. v. Chr. 81 %, die Priester von Memphis nur 1 %, d. h. 25,4 km² mit über 3 000 Tempelarbeitern. Aus der Alexanderzeit ist nichts von einer Be­ sitzminderung bekannt; seit Ptolemaios I. kam es immer wieder zu königlichen Landschenkungen. So Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 8f., der den Grund dafür in der wirtschaftlichen Potenz der Hei­ ligtümer sieht. Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 5; Heinz Heinen: Hunger, Not und Macht. Bemerkungen zur herr­ schenden Gesellschaft im ptolemäischen Ägypten. In: Ancient Society 36. 2006. S. 13–44, hier S. 43, zufolge gab es „neben den Priesterschaften keine weitere gesellschaftliche Instanz ..., die ähnlich autoritativ für das Land oder einzelne Regionen hätte sprechen können.“ Vgl. Manning: Pharaohs (Anm. 16). S. 90: „The priests were probably not a unified political body, though Ptolemaic policy may have promoted the possibility of this“.

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in Ober­ und Unterägypten einen Vorrang genossen,61 wie denn auch mit einer star­ ken regionalen Differenzierung zu rechnen ist.62 5. Ptolemaios I. profitierte bei seinen Kontakten zur priesterlichen Elite von Beginn an von einem Zweifachen: Zum einen gab es während der persischen Herrschaft über Ägypten durchaus eine Zusammenarbeit zwischen den Priestern und dem fernen Achaimenidenkönig;63 zum anderen wurde Tempeln und Priestern z. T. auch noch unter Alexander eine eher schlechte Behandlung zuteil – zumindest findet sich viel­ fach ein solcher Topos.64 Indem Ptolemaios von Beginn an Zuwendungen verschie­ dener Art, etwa Land­ und Geldschenkungen,65 an die Tempel verfügte, die auch wohl tatsächlich erfolgt sind,66 demonstrierte er, dass ihm an einem guten Verhält­ nis zu den Priestern sehr gelegen war.67 Allerdings war eine solche Entscheidung 61

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Pernigotti: Priester (Anm. 17). S. 169. Die Position einzelner Priesterschaften im Gesamtgefüge konnte sich im Laufe der Jahrhunderte auch wandeln, wie, so Muhammad I. Moursi: Die Hohen­ priester des Sonnengottes von der Frühzeit Ägyptens bis zum Ende des Neuen Reiches. Berlin 1972. S. 157–159, an Heliopolis ersichtlich ist. Huß: König (Anm. 6). S. 113, verweist auf die Verwandtschaft zwischen den Familien der Hohepriester von Memphis und von Letopolis. Dazu unter Einbeziehung des hieroglyphischen Materials: Alan B. Lloyd: The Egyptian Elite in the Early Ptolemaic Period. Some Hieroglyphic Evidence. In: Daniel Ogden (Hg.): The Hellenistic World. New Perspectives. London 2002. S. 117–136. Pfeiffer: Rez. Gorre 2009 (Anm. 44). S. 171, deklariert „die Frage nach Kontinuität oder Diskon­ tinuität“ zu einem offenen Problem: Es müsste „der Blick erheblich erweitert und zunächst auf die persische Reichsverwaltung mit ihren Leitprinzipien gerichtet werden. Danach müßte ein genau­ erer Blick auf die Priester der beiden Perserzeiten und das Verhältnis der ägyptischen Tempel zu Fremdherrschaft auch auf der Grundlage anderer Dokumente geworfen werden.“ Ausführliche Belege bei Otto: Priester (Anm. 17). S. 262–278; Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 288–291. Für eine Interpretation der Satrapenstele von 311 auf der Basis einer neuen Überset­ zung: Hilmar Klinkott: Xerxes in Ägypten. Gedanken zum negativen Perserbild in der Satrapen­ stele. In: Stefan Pfeiffer (Hg.): Ägypten unter fremden Herrschern zwischen persischer Satrapie und römischer Provinz. Frankfurt a. M. 2007 (Oikumene. Bd. 3). S. 34–53; außerdem Roberto B. Gozzoli: The Writing of History in Ancient Egypt during the First Millennium BC (ca. 1070– 180 BC). Trends and Perspectives. London 2006 (Golden House Publications: Egyptology. Bd. 5). S. 133–136; Manning: Pharaohs (Anm. 16). S. 95; jetzt vor allem Donata Schäfer: Makedoni­ sche Pharaonen und hieroglyphische Stelen. Historische Untersuchungen zur Satrapenstele und verwandten Denkmälern. Löwen 2011 (Studia Hellenistica. Bd. 50). S. 74­83, mit einer Diskussion des Realitätsgehalts derartiger Formulierungen. Dimitri Meeks: Les donations aux temples dans l’Égypte du Ier millénaire avant J.­C. In: Edward Lipiński (Hg.): State and Temple Economy in the Ancient Near East II. Löwen 1979 (Orientalia Lo­ vaniensia Analecta. Bd. 5–6). S. 604–689, hier S. 655f. und S. 683–686, dort auch teilweise exakte Angaben zur Größe des Landes; Dorothy J. Thompson: Language and Literacy in Early Hellenistic Egypt. In: Per Bilde u. a. (Hg.): Ethnicity in Hellenistic Egypt. Aarhus 1992 (Studies in Hellenistic Civilisation. Bd. 3). S. 39–52, hier S. 45f.; Thiers: Observations (Anm. 5). S. 232–237. Dass die Zuwendungen unter den einzelnen Ptolemäern unterschiedlich ausfielen, versteht sich von selbst. Huß: König (Anm. 6). S. 26–39. Huß zitiert (S. 19, Anm. 34) eine briefliche Mitteilung von Willy Clarysse, der zu diesem Punkt seine deutliche Skepsis äußert: „The ‚Bautätigkeitʻ of the Ptolemaic kings is in my opinion mostly a pious fiction rather than a reality ... Even when a temple text says that a king was there to lay the foundation stone, even then I would doubt if he had really done so.“ Es lässt sich nicht sagen, ob die Könige von sich aus agierten oder reagiert haben, was aber im Ergebnis keinen Unterschied macht. Die Priester der ägyptischen Tempel waren in aller Regel Ägypter, dazu Vittmann: Beobachtungen (Anm. 50). S. 1249, mit dem Fazit, dass die Grenzen zwischen Griechen und Ägyptern nicht so

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zugunsten der Priester nicht unbedingt selbstverständlich, da zuvor und auch noch während der Satrapenzeit die Nomarchen der ägyptischen Gaue die eigentliche ein­ heimische Elite bildeten.68

4. Formen der Kommunikation Eine gelungene Kommunikation mittels Texten und Worten, Bildern, Zeichen und Gesten zwischen Beteiligten aus verschiedenen Kulturen macht Personen als Mittler erforderlich, die entweder in beiden Kulturkreisen zu Hause sind oder sich entsprechende (Sprach­) Kenntnisse zum Verständnis der Gedankenwelt usw. angeeignet haben.69 In diesem Punkt befanden sich die ägyptischen Priester gegenüber den makedonischen Königen und den griechischen Einwanderern zweifellos im Vorteil,70 denn sie verfügten über einschlägige Erfahrungen mit einer Fremdherrschaft und hatten mit Naukratis seit Jahrhunderten eine griechische Polis auf ägyptischem Boden; darüber hinaus waren sie in Ägypten Grup­ pen griechischer Söldner gewohnt.71 So dürften aus ihren Reihen die Dolmetscher und

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scharf gewesen seien, wie lange von der Forschung angenommen. Fremde, etwa Griechen und Makedonen, finden sich am Beginn der Ptolemäerzeit eher selten, sondern erst seit der 2. Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. Hinzu tritt das Problem, dass die vorliegenden Namen oftmals weder Auskunft über die tatsächliche ethnische Abstammung noch über die ‚gefühlteʻ Zugehörigkeit geben. Huß: Ägypten (Anm. 27). S. 217. Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 289f., verweist auf die Satrapen­ stele, in der nicht die Priester gefragt werden, sondern die ‚Großen von Unterägyptenʻ: „Sie waren damals also noch in Amt und Würden.“ Außerdem Gozzoli: Writing (Anm. 64). S. 129f.; Lloyd: Elite (Anm. 62). S. 118: „the Egyptian elite families will have continued to exist in most, if not all, cases, and we can absolutely confident that their aspirations will have remained as powerful as ever, even if the had to take account of the new political and even social environment created by foreign conquest.“ Schäfer: Makedonische Pharaonen (Anm. 64). S. 181. Siehe unten S. 28. Wichtig sind die Überlegungen von Herfried Münkler: Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung. In: Gerhard Göhler (Hg.): Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht. Baden­Baden 1995. S. 213–230, der vor allem auch auf die „Strategie des Verbergens“ (S. 227) verweist, d. h. es gibt stets auch Machtressourcen, die nicht sichtbar sind bzw. zum Macht­ erhalt auch invisibel bleiben müssen. Hilfreich für die Ptolemäer (wie zuvor bereits für die Achaimeniden und für Alexander) dürfte der bereits bald nach 322 v. Chr. ermordete Kleomenes von Naukratis gewesen sein, der sicherlich über sehr großes Wissen über das Land verfügten, wenngleich wir nichts über die Sprachbeherrschung oder die theologischen Kenntnisse erfahren; dazu die eingehende Analyse von Bernard Legras: Καθάπερ ἐκ παλαιοῦ. Le statut de l’Égypte sous Cléomène de Naucratis. In: Jean­Christophe Cou­ venhes/Ders. (Hg.): Transferts Culturels et Politique dans le Monde Hellénistique. Paris 2006 (His­ toire ancienne et médiévale. Bd. 86). S. 83–102. Zur sprachlichen Situation seit dem 7. Jh. v. Chr.: Frank Feder: Der Einfluß des Griechischen auf das Ägyptische in ptolemäisch­römischer Zeit. In: Thomas Schneider (Hg.): Das Ägyptische und die Sprachen Vorderasiens, Nordafrikas und der Ägäis. Münster 2004 (Alter Orient und Altes Testa­ ment. Bd. 310). S. 509–521, hier S. 510–515; Sofia Torallas Tovar: Linguistic Identity in Graeco­ Roman Egypt. In: Arietta Papaconstantinou (Hg.): The Multilingual Experience in Egypt, from the Ptolemies to the ‘Abbāsids. Farnham/Burlington 2010. S. 17–43, hier S. 18–21, der zufolge die sog. Hellenomemphiten von den griechischen Einwanderern seit dem Ende des 4. Jh. als stark ägyptisch assimiliert angesehen wurden. Griechen hingegen lernten wohl selten die ägyptische(n) Sprache(n), dazu Heinz­Josef Thissen: ,... αἰγυπτιάζων τῇ φωνῇ ...‘ Zum Umgang mit der ägyptischen Sprache

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‚Übersetzerʻ gekommen sein – umso mehr, als sich die Beherrschung der griechischen Sprache später als ein probates Mittel zum sozialen Aufstieg erweisen sollte und Pries­ ter auch als Schreiber der Tempel fungierten; sie dienten in dieser Funktion ebenso der Administration und waren nicht selten zweisprachig.72 Ptolemaios I. benötigte nämlich zwingend des Ägyptischen Kundige – und zwar der Volkssprache und des Hieratischen – sowohl für die Alltagskommunikation mit den Priesterschaften selbst als auch zum Ver­ ständnis der Tempelorganisation und der Götterwelt samt ihrer theologischen Konzepti­ on.73 Vor allem konnte die neue Monarchie – und dies ist der entscheidende Punkt – nur mit Hilfe der Priester in die bisherigen Vorstellungen des pharaonischen Königtums in­ tegriert werden.74 Dieser Zusammenhang hat die Position der Priester erheblich gestärkt. Denn gerade sie waren aus beruflichen Gründen mit den Problemen des Schrifterwerbs, etwa des Hieratischen, vertraut, so dass es ihnen nicht unbedingt schwer gefallen sein dürfte, sich auf die griechische Welt einzulassen und sich in ihr zurecht zu finden75 – ohne dass wir jedoch viel darüber wissen, was genau sie über diese Welt gedacht haben. Ihre Tätigkeit als Dolmetscher und Berater impliziert einen punktuellen, dann aber recht direkten Zugang zum König bzw. zu seinem näheren Umfeld.76 Sie bot vor allem, was gerne übersehen wird, die Chance, konkrete Informationen, aber auch Wünsche an den makedonischen König heranzutragen.

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in der griechisch­römischen Antike. In: ZPE 97. 1993. S. 239–252, hier S. 241; Torallas Tovar: Linguistic Identity (Anm. 71). S. 29 mit Anm. 53. Zu den Schreibern: Thompson: Language (Anm. 65). S. 40; Willy Clarysse: Ptolémées et temples. In: Dominique Valbelle (Hg.): Le decret de Memphis. Paris 2000. S. 41–66, hier S. 54; Legras: L’Égypte (Anm. 27). S. 178–180; Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 299; zur Tradition: Hans­Werner Fischer­Elfert: Art. Schreiber. II. Ägypten. In: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. 16 Bde. Stuttgart 1996–2003. Bd. 11. Sp. 220–223. So war es bereits unter den Achaimeniden und Alexander üblich. Zum Grad der Verständigung: Gregor Weber: Dichtung und höfische Gesellschaft. Die Rezeption von Zeitgeschichte am Hof der ersten drei Ptolemäer. Stuttgart 1993 (Hermes­Einzelschriften. Bd. 62). S. 143, Anm. 2; Claudia Wiotte­Franz: Hermeneus und Interpres. Zum Dolmetscherwesen in der Antike. Saarbrücken 2001 (Saarbrücker Studien zur Archäologie und Alten Geschichte. Bd. 16). S. 63–71; zum Komplexitäts­ grad: Torallas Tovar: Linguistic Identity (Anm. 71). S. 25f. Manning: Pharaohs (Anm. 16). S. 94 und S. 99f.; exemplarisch auch Martina Minas: Die hiero­ glyphischen Ahnenreihen der ptolemäischen Könige. Ein Vergleich mit den Titeln der eponymen Priester in den demotischen und griechischen Papyri. Mainz 2000 (Aegyptiaca Treverensia. Bd. 9). Zu den Beziehungen zwischen den Sprachen: Baines: Self­Presentation (Anm. 20). S. 40; zu ägyp­ tischen Schreibern des 3. Jh.s, die Griechisch lernten, und zu ihren Texten: Willy Clarysse: Egyptian Scribes Writing Greek. In: Chronique d’Égypte 68. 1993. S. 186–201, hier S. 187f. und passim (im Folgenden CdE); zum Bilingualismus generell: Thompson: Language (Anm. 65). S. 42; Torallas Tovar: Linguistic Identity (Anm. 71). S. 28–31 und S. 32–34 (zu den Priestern); zu den Kenntnissen der Priester von der griechischen Welt: Philippe Derchain: Les impondérables de l’hellénisation. Littérature d’hiérogrammates. Turnhout 2000 (Monographies Reine Elisabeth. Bd. 7); Manning: Pharaohs (Anm. 16). S. 89f. Für die vor­ und frühptolemäische Zeit: Lloyd: Elite (Anm. 62). S. 119f. Seit der Mitte des 3. Jh.s v. Chr. finden sich dann Belege „for widespread Greek schooling in the Egyptian countryside“, so Thompson: Language (Anm. 65). S. 48.

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Hierfür gibt es mehrere Belege,77 ich verweise nur auf zwei: Manethon aus Seben­ nytos, Hohepriester von Heliopolis, der direkt am Hof von Alexandreia verkehrte und vor allem im Kontext der Einführung des Sarapis­Kults sowie durch seine Aigyptiaka in griechischer Sprache bekannt ist.78 Dann unter Ptolemaios II. der Priester Senucheri aus dem oberägyptischen Koptos, für den ein griechischer Vater, Jason, und eine Mutter aus einer alten ägyptischen Priesterfamilie belegt sind. Er verfügte seinen Selbstzeugnissen zufolge über mehrere bemerkenswerte Titel – „erster Großer seiner Majestät“, „Mitglied der ‚Geheimen Kammerʻ“, „Vorsteher des königlichen Harim“ – und wurde vom König „wegen seiner Weisheit, Eloquenz, Loyalität und Vertrauenswürdigkeit“ favorisiert.79 Handelt es sich hierbei stets um Personen, die nur einzeln zu fassen sind, so wird in der Satrapenstele aus Buto aus dem Jahre 311 festgestellt, dass Ptolemaios bereits als Satrap über einen eigenen Beraterstab aus ägyptischen Priestern verfügt habe.80 Über die Zusammensetzung dieses Beraterkreises – nur aus Buto oder nur im Kontext eines Tem­ pels? –, über die Gegenstände der Beratung sowie über die Häufigkeit und den Ort mög­ licher Treffen erfahren wir nichts, zumal sich griechische Quellen darüber ausschweigen. Sprache und Dolmetscherfunktion dürften jedoch zu den gewichtigsten Argumenten der priesterlichen Elite für die eigene Machtposition gezählt haben, nachdem Ptolemaios die Grundsatzentscheidung getroffen hatte, Ägypten nicht mit militärischen Mitteln und strikter Sanktionierung zu beherrschen.81 Im Falle von Senucheri lässt sich gut die Problematik dieser privaten Inschriften er­ kennen, insofern völlig unklar (und in der Forschung umstritten) ist, ob die genannten Titel für eine reale Funktion stehen oder topisch das Repertoire früherer Jahrhunderte wiedergeben;82 dies gilt insbesondere für die wiederholt auftretenden Titel in militäri­ 77

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Dazu Thompson: Language (Anm. 65). S. 44f. mit Anm. 11, dort auch zu Nektanebo, Mitglied der letzten Pharaonen­Dynastie, „holding high military and administrative positions under Ptolemy (or so he claims on his tombstone)“ (S. 45); Huß: Ägypten (Anm. 27). S. 213–215, der deutlich macht, dass die Einschätzung der Personen mitunter nicht leicht fällt; „Petosiris und Somtutefnachte waren allerdings – politisch gesehen – etwas zwielichtige Gestalten“ (S. 214), dazu auch Baines: Self­ Presentation (Anm. 20). S. 45–47. Dazu Jacco Dieleman/Ian S. Moyer: Egyptian Literature. In: James J. Clauss/Martine Cuypers (Hg.): A Companion to Hellenistic Literature. Oxford 2010. S. 429–447, hier S. 430ff. Zu Mane­ thon: Thompson: Language (Anm. 65). S. 44; Huß: König (Anm. 6). S. 123–129; Gozzoli: Wri­ ting (Anm. 64). S. 191–225; Gregor Weber: Ungleichheiten, Integration oder Adaptation? Grie­ chisch­ägyptischer Herrscherkult in Alexandria und in der chora: Herrscher­ und Dynastiekult in griechisch­makedonischer Perspektive. In: Ders. (Hg.): Alexandreia und das ptolemäische Ägypten. Kulturbegegnungen in hellenistischer Zeit. Berlin 2010. S. 55–83, hier S. 59; außerdem John D. Dillery: Manetho and Udjahorresne: Designing Royal Names for Non­Egyptian Pharaohs. In: ZPE 144. 2003. S. 201f., mit einem Beispiel für die vermutete Beratungstätigkeit Manethons, was den Königsnamen anbelangt. Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 299; Verhoeven: Rolle (Anm. 14). S. 281. Eine andere Namensform, Senenshepsu, präferiert Lloyd: Elite (Anm. 62). S. 122–125. Dass er sich auch im Bereich des Herr­ scherkultes engagierte, verweist auf seine Verbundenheit mit der Königsfamilie. Zur Satrapenstele siehe oben Anm. 64 und Anm. 68, außerdem Schäfer: Makedonische Pharaonen (Anm. 64). S. 136f. und S. 159. Weitere Belege bei Huß: König (Anm. 6). S. 71f. Eine „dermaßen auf negativen Sanktionen gegründete transitive Macht“ wäre ohne Zweifel prekär, dazu Brodocz: Behaupten (Anm. 28). S. 23. Vgl. dazu die Analyse von Gorre: Les relations (Anm. 44). S. 451–462.

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schem Kontext.83 Derlei Inschriften waren meist auf dem Rücken der Statuen angebracht und dementsprechend schwer zu lesen;84 die Texte dürften bei der Aufstellung im Tem­ pelareal oder in funerärem Kontext auch mündlich vorgetragen worden sein.85 Sicherlich hatten solche Aussagen neben der Selbstvergewisserung vor allem die eigene Statusgrup­ pe sowie den für die Familie nutzbaren Nachruhm zum Ziel, doch muss man davon aus­ gehen, dass der König und die mit ihm herrschende Elite eher selten mit diesen Zeug­ nissen in Kontakt kamen und ihnen somit jenseits des Symbolischen keine allzu große Bedeutung für eine priesterliche Machtdemonstration zugebilligt werden kann. Direkte Kommunikation mit dem König war auch während dessen Reisen in die χώρα möglich. Derartige Besuche lagen insofern nahe, als der Ptolemäerkönig als Pha­ rao Oberpriester war und zu bestimmten Zeiten festgelegte Rituale in den Tempeln zu vollziehen hatte.86 Allerdings war es die Regel, dass der König vom Hohepriester eines Tempels vertreten wurde, so dass die persönliche Anwesenheit eine Ausnahme und da­ mit Besonderheit darstellte.87 Willy Clarysse hat in mehreren Beiträgen die überlieferten Fälle königlicher Reisen bis nach Oberägypten analysiert.88 Belegt ist für die alte phara­ onische Königsstadt Memphis etwa ein Besuch von Ptolemaios II. im Juli 253,89 wobei mit Memphis insofern eine Sondersituation bestand, als die Ptolemäer dort einen eigenen Palast besaßen, der sich in unmittelbarer Nähe zum Ptah­Tempel befand.90 Seit dem 2. Jh. v. Chr. feierten die Könige in Memphis auch regelmäßig den Beginn des ägyptischen Jahres und hielten die Priestersynoden ab;91 außerdem begannen sie dort ihre Herrschaft 83 84

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Heinen: Hunger (Anm. 59). S. 44; sehr kritisch Pfeiffer: Rez. Gorre 2009 (Anm. 44). S. 170. Verhoeven: Rolle (Anm. 14). S. 79ff., mit Belegen aus dem rein ägyptischen und dem bikulturellen Milieu. Baines: Self­Presentation (Anm. 20). S. 35. Otto: Priester (Anm. 17). S. 4358; Pernigotti: Priester (Anm. 17). S. 170, außerdem Huß: König (Anm. 6). S. 54. Willy Clarysse: The Ptolemies Visiting the Egyptian Chora. In: Leon Mooren (Hg.): Politics, Ad­ ministration and Society in the Hellenistic and Roman World. Löwen 2000 (Studia Hellenistica. Bd. 36). S. 29–53, hier S. 30f., betont, dass die hieroglyphischen Bilder die traditionelle Rolle des Pharao herausstellen, jedoch nicht zwingend historische Fakten präsentieren, sondern eine ideale Situation. Willy Clarysse: A Royal Visit to Memphis and the End of the Second Syrian War. In: Dorothy J. Crawford/Jan Quaegebeur/Ders. (Hg.): Studies on Ptolemaic Memphis. Löwen 1980 (Studia Hellenistica. Bd. 24). S. 83–89, hier S. 86, verweist auf eine Bemerkung des älteren Plinius (NH 5,9,10), demzufolge die ägyptischen Könige nicht auf dem Nil fahren durften, wenn dieser Hochwasser führte, d. h. im August – eine Vorschrift, die vielleicht eher theoretischer Natur war, da etwa für den 23. August 237 ein Hinweis auf die Gründung eines Tempels in Edfu durch den König von eigener Hand vorliegt. Clarysse: Visit (Anm. 87); Clarysse: Ptolemies (Anm. 87), dort (S. 30f.) auch zum Quellenproblem und zu einer Auswertung von 40–50 Reisen (S. 33f.); Willy Clarysse: A Royal Journey in the Delta in 257 B.C. and the Date of the Mendes Stele. In: CdE 82. 2007. S. 201–206. Clarysse: Visit (Anm. 87). S. 87–89. Die Reise zog im Kontext des Friedensschlusses mit den Se­ leukiden etliche Kleruchenansiedlungen in der Region nach sich. Thompson: Memphis (Anm. 53). S. 14–17; Inge Nielsen: Hellenistic Palaces, Tradition and Re­ newal. Aarhus 1994 (Studies in Hellenistic Civilization. Bd. 5). S. 27–31; für die vorausgehende Zeit vgl. die Beiträge in: Rolf Gundlach/John H. Taylor (Hg.): Egyptian Royal Residences. Wies­ baden 2009 (Königtum, Staat und Gesellschaft früher Hochkulturen. Bd. 4,1). Clarysse: Ptolemies (Anm. 87). S. 38f.; Clarysse: Journey (Anm. 88). S. 205.

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mit einer zeremoniellen Reise durch das Land, bei der sie sich außerdem den Unterta­ nen zeigten und das Land in Besitz nahmen.92 Den zweiten Ptolemäer führten Reisen aber auch in andere Orte, etwa zum heiligen Bock nach Mendes – aufgrund der Nähe zum Seleukidenreich zweifellos in militärischem Kontext.93 Reisen dorthin lassen sich für 280, also recht rasch nach der Thronbesteigung, nachweisen, aber auch 257, um die Zeit des Ausbruchs des 2. Syrischen Krieges, als sich Ptolemaios II. in Begleitung von Apollonios und seines Verwalters Zenon in Mendes aufhielt; diese Reise erfolgte nicht nur zu einer Jahreszeit, in der man den König eigentlich wegen der Feier von Geburts­ tag und Thronbesteigung in Alexandreia wähnte, sondern der Zeitpunkt fiel – was sehr ungewöhnlich ist – auf den Beginn des neuen makedonischen Jahres.94 Offenbar wurden bei der Planung der Reise weitere lokale Feste berücksichtigt, etwa in Leontonpolis und vielleicht auch in Bubastis. Ptolemaios III. besuchte zusammen mit seiner Familie 243 oder 242 die χώρα und kam, wie Weihungen belegen, bis zum oberägyptischen Philae.95 Dies alles spräche für eine persönliche Involvierung des Königs in den Tempelkult, so dass die entsprechenden inschriftlichen Hinweise auf königliche Präsenz nicht bloß reine Behauptung wären.96 Fragt man nach dem Kontext der Reisen, sind mit Clarysse drei Zwecke – militärisch, administrativ, zeremoniell – zu unterscheiden, die sich oft auch überschnitten haben dürf­ ten, letztlich aber allesamt ein politisches Ziel verfolgten.97 Insgesamt hatte der König eine Vielzahl an Aufgaben auf seinen Reisen zu bewältigen, etwa Gesandte und Bittsteller zu empfangen, Gericht zu halten, sich mit Beamten zu besprechen sowie in die Tempel zu gehen und an Zeremonien teilzunehmen. Allerdings sind auf Seiten der modernen For­ schung empfindliche Wissenslücken zu konstatieren, etwa bei der Frage, nach welchen Auswahlkriterien die Tempel besucht und welche Personen zu Audienzen zugelassen wurden.98 Auch wenn, anders als ägyptische Quellen mitunter suggerieren, die religiösen Aufgaben nicht immer im Zentrum standen und dem Kontakt mit der Bevölkerung große 92 93

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Clarysse: Ptolemies (Anm. 87). S. 35f. Militärische Aktionen im Kontext der Aufstände waren am Beginn des 2. Jh.s für verschiedene Rei­ sen verantwortlich, dazu Clarysse: Ptolemies (Anm. 87). S. 35. Pithom im Wadi Tumilat besuchten Ptolemaios II. und Arsinoe II. der Pithomstele zufolge (Z. 15f.) zu Beginn des Jahres 273, also während des ersten syrischen Krieges, dazu Christophe Thiers: Ptolémée Philadelphe et les prêtres d’Atoum de Tjékou. Nouvelle édition commentée de la ‘stele de Pithom’ (CGC 22183). Montpel­ lier 2008. S. 50 und S. 97–106; Schäfer: Makedonische Pharaonen (Anm. 64). S. 226­229. Jan K. Winnicki: Der zweite syrische Krieg im Lichte des demotischen Karnak­Ostrakons und der griechischen Papyri des Zenon­Archivs. In: Journal of Juristic Papyrology 21. 1991. S. 89–104; Clarysse: Journey (Anm. 88). S. 203–205; Gozzoli: Writing (Anm. 64). S. 137f. Clarysse: Ptolemies (Anm. 87). S. 37f., mit Belegen für die Organisation der königlichen Aufent­ halte an einzelnen Orten; zum Aufenthalt von Ptolemaios III. im Jahre 237 in Edfu: Thiers: Obser­ vations (Anm. 5). S. 238. Mitunter scheint der Überlieferung gegenüber Skepsis angebracht zu sein, so Clarysse: Ptolemies (Anm. 87). S. 36f. und S. 42f. Thiers: Observations (Anm. 5). S. 237. Ob man angesichts der lückenhaften Überlieferung aus den Reisezielen verbindliche Aussagen über die Privilegierung einzelner Gottheiten und ihrer Tempel ableiten kann, wie dies von Thiers: Obser­ vations (Anm. 5). S. 238, behauptet wird, erscheint fraglich.

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Bedeutung zugemessen wurde,99 boten sich vielfältige Kontaktmöglichkeiten zwischen den Priestern und dem König. Dass dieser es als seine Aufgabe ansah, wenigstens einige der Heiligtümer des Landes persönlich aufzusuchen, und diese Besuche auch realisier­ te, ist nicht zum wenigsten den Fähigkeiten der Priester geschuldet, ihm zumindest für den religiösen Sektor die Bedeutung der Reisen plausibel zu machen. Jedenfalls lässt sich mehrfach nachweisen, dass konkrete Bitten der Priester um Vergünstigungen, die im Kontext der königlichen Reisen geäußert wurden, durchaus von Erfolg gekrönt waren.100 Solche Vergünstigungen sind als positive Maßnahmen in jedem Fall herrschaftsstabi­ lisierend, weil auf diese Weise die transitive Macht des Königs zumindest partiell und temporär aufgehoben wurde, „um sie auch für die Zukunft dauerhaft zu behaupten“.101 Von den Synoden der ägyptischen Priester mit dem König, die in jedem Fall seit 243 jährlich stattgefunden haben, kann man sich durch die Arbeiten von Werner Huß und Stefan Pfeiffer ein ungefähres Bild machen, wenngleich auch hier nach wie vor vieles ungeklärt bleibt:102 Dies betrifft z. B. die Zahl der Teilnehmer und die besprochenen The­ men, etwa Spannungen zwischen den einzelnen Priesterschaften oder neue Anweisungen des Königs. Die Quellen dazu sind allein die überlieferten trilinguen Synodaldekrete, wobei vor Ptolemaios III. rein hieroglyphische Versionen üblich waren.103 Die Texte er­ scheinen wie griechische Ehrendekrete und lassen vermuten, dass die Initiative für die Ehrungen beim König oder beim Hof lag.104 Neuere Untersuchungen trauen jedoch den Priestern durchaus auch eine selbständige Erstellung zu bzw. sehen wenig Sinn in einer allzu strikten Unterscheidung Priester/Hof.105 Aus der Tatsache, dass die Priester dem Ka­ nopos­Dekret von 238 v. Chr. zufolge verpflichtet waren, sich am 5., 9. und 25. Tag des Monats Dios in Alexandreia aufzuhalten (andere Synoden dauerten noch länger),106 kann man schlussfolgern, dass es nicht zum wenigsten um Kontrolle ging. Allerdings fungierte der Pharao immerhin auch als oberster Priester, so dass etliche Gesprächsthemen quasi vorgegeben gewesen sein dürften. Nach den Inschriften waren freilich die Priester die Hauptakteure, die mit Ehrungen auf die Wohltaten des Königs reagierten und die die jeweilige Inschrift in ihrem Tempelareal an einem für die Sichtbarkeit markanten Ort auf­

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Clarysse: Ptolemies (Anm. 87). S. 39f.: „The presence of the king in the chora was not only a powerful symbol of royal pomp and power, it also offered possibilities for the highest authorities to check upon local offices and for the people to bring their grievances in person to the highest authori­ ties.“ Quack: Innovations (Anm. 22). S. 279f., geht hingegen von einer weitaus geringeren Präsenz des Königs in den Tempeln aus und sieht darin eher eine Entwertung des ägyptischen Kultes. Dazu Thiers: Observations (Anm. 5). S. 237f., der allerdings mit Blick auf den Gesamtbeitrag der Ptolemäer zu den Tempelbauten urteilt: „Au total, il semble relativement modeste. Le financement local paraît beaucoup plus significatif, fondé sur la gestion des revenues des temles, avec un impor­ tant soutien del la communauté locale“ (S. 243). Brodocz: Behaupten (Anm. 28). S. 24. Werner Huß: Die in ptolemaeischer Zeit verfaßten Synodal­Dekrete der ägyptischen Priester. In: ZPE 88. 1991. S. 189–208; Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). Quack: Innovations (Anm. 22). S. 275. So Huß: König (Anm. 6). S. 47f. Clarysse: Ptolémées (Anm. 72). S. 53f. Huß: König (Anm. 6). S. 47.

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stellten.107 Daraus lässt sich ersehen, dass zumindest die priesterliche Selbstdarstellung die realen Herrschaftsverhältnisse überdecken konnte. Auch wenn die Priester zu diesen Reisen in die Hauptstadt verpflichtet waren, bestand dadurch immerhin die Möglichkeit, eine Art gemeinsamer Position zu entwickeln. Sicherlich konnten die Priester bei den Synoden Probleme ihrer jeweiligen Tempel zur Sprache bringen, doch war es ihnen auch unbenommen, während des Jahres Abgesandte zum König oder zu dessen Beamten zu entsenden, um ihre Anliegen persönlich vorzutragen.108 In späterer Zeit haben sich die Könige vor allem in Form von Dekreten an die Bevöl­ kerung des gesamten Landes gewandt,109 doch darf man davon ausgehen, dass über die direkten persönlichen Begegnungen hinaus von Beginn an auch eine rege Korrespondenz zwischen dem König bzw. seiner Kanzlei und den Priestern bestand, und zwar sowohl in Briefen als auch in Form offizieller, persönlich überbrachter Eingaben (ἐντεύξεις).110 Hält man Briefe wie den aus Atfih an Apollonios für einigermaßen repräsentativ, haben sich die Priester zweifellos nach Möglichkeit der griechischen Sprache bedient, um ihre Anliegen bzw. Forderungen beim König bzw. dessen Beauftragten vorzubringen.111 Auf die Literaturproduktion der Priester als eine weitere Kommunikationsform, von der sich letztlich – anders als im Falle der ‚Autobiographienʻ der Priester, die auf Grab­ stelen aufgeschrieben wurden112 – nur ein bescheidener Ausschnitt erhalten hat, sei nur verwiesen:113 Sie war kaum direkt an den König gerichtet, sondern wurde tempelintern 107

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So Heinen: Hunger (Anm. 59). S. 34f.; zu den visuellen Aspekten der Aufstellung: Manning: Pha­ raohs (Anm. 16). S. 100 mit Anm. 107. Der König erwies sich, wie Huß: König (Anm. 6). S. 14ff., eindrucksvoll zusammengestellt hat, auf verschiedene Weise als großer Wohltäter. Huß: König (Anm. 6). S.121. Christophe Thiers: La stèle de Ptolémée VIII Évergète II à Héra­ cléion. Oxford 2009, legt den Text einer monumentalen bilinguen Steininschrift aus dem Jahre 144 vor, aus der (Z. 20) ein erfolgreiches Zusammenwirken von Priestern sowie „les grands, les notab­ les, les membres des Trente, les ancien du palais, les membres du corps (et) les grands de l’Égypte“ mit dem König hervor geht. Zu den Dekreten, unter denen vor allem die φιλάνθρωπα­Erlasse herausragen: Walter Eder: Art. Philanthropa. In: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der An­ tike. 16 Bde. Stuttgart 1996–2003. Bd. 12/2. Sp. 1086; Werner Huß: Die Verwaltung des ptolemai­ ischen Reichs. München 2011 (Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und Antiken Rechtsge­ schichte. Bd. 104). S. 184f. Dazu Erich Ziebarth: Art. Enteuxis. In: Georg Wissowa u. a. (Hg.): Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. 84 Bde. Stuttgart/München 1893–1980. Suppl. Bd. VII. Sp. 175f. So auch Huß: König (Anm. 6). S. 118f., ohne dies weiterhin zu analysieren. Weitere Schreiben bei Heinen: Tierkulte (Anm. 8). S. 157–161 und S. 163f., und Huß: König (Anm. 6). S. 120–122. Dieleman/Moyer: Egyptian Literature (Anm. 78). S. 435: „Rather than documenting particular bio­ graphical or historical events, most texts portray timeless model characters who are unaffected by historical circumstances“. Grundsätzlich ist die fortschreitende Auswertung dieser Quellenzeug­ nisse zu begrüßen, dazu Manning: Pharaohs (Anm. 16). S. 90: „We can hope to know more about this elite, and its relationship to the rulers, when more of the biographical inscriptions have been studied.“ Dazu die aktuellen Übersichten bei Joachim F. Quack: Einführung in die altägyptische Literatur­ geschichte III: Die demotische und gräko­ägyptische Literatur. 2. Aufl. Berlin 2009, der (S. 198f.) auch griechische Einflüsse in der ägyptischen Literatur erkennt, wenngleich es ungleich mehr Be­ lege für die umgekehrte Richtung gibt; Dieleman/Moyer: Egyptian Literature (Anm. 78), denen zufolge die Texte primär, aber nicht ausschließlich dem Milieu der indigenen Priester entstammen.

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verwendet bzw. allenfalls zwischen den Priesterschaften ausgetauscht.114 Zwar müssen sie als mögliche Zeugnisse machtkritischer Diskurse von besonderem Interesse sein, ebenso solche, in denen Ohnmacht formuliert und reflektiert wird, doch besteht für un­ ser Thema die Schwierigkeit, dass die Intention dieser Schriften, etwa der demotischen Chronik, des ‚Lammes des Bokchorisʻ oder des ‚Töpfer­Orakelsʻ, noch nicht eindeutig geklärt werden konnte.115 Ob dem vom König in jedem Tempel eingesetzten ἐπιστάτης eine Bedeutung jenseits der direkten – schriftlichen oder mündlichen – Kommunikation als ‚Mittlerinstanzʻ zukam, lässt sich kaum ermessen.116 Die Amtsinhaber waren wohl nicht selten Ägypter und primär für die wirtschaftlichen Belange eines Tempels zuständig.117 Formal hatten sie die könig­ lichen Vorgaben zu erfüllen,118 und vielleicht waren sie letztlich auch nicht wichtig genug, als dass die Priester über sie – und eben nicht direkt – mit dem König kommunizierten. In eine Kommunikation indirekter Art mit dem König sind die Priester schließlich auch durch den Vollzug des Herrscher­ und Dynastiekults in ihren Tempeln eingetreten. Denn damit akzeptierten sie die königlichen Vorgaben, die kultische Verehrung von König und Dynastie zu implementieren. Vor allem aber kam es hier zu wirklichen Neuerungen,119 114

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William J. Tait: Demotic Literature and Egyptian Society. In: Janet H. Johnson (Hg.): Life in a multi­cultural Society: Egypt from Cambyses to Constantine and beyond. Chicago 1992. S. 303– 310, hier S. 306f. Für eine konsequente Lesart dieser Prophezeiungen als Kritik bzw. Ausdruck von Opposition: Huß: König (Anm. 6); anders Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 6f. Quack: Einführung (Anm. 113). S. 174f., verweist hingegen auf die überaus geringe Zahl derartiger Kompositionen und versteht sie jeweils als ein Dokument, „das Unbehagen mit den derzeitigen Zuständen, aber Mangel an konkreten Gegenansätzen zeigt“ (S. 175). Nach Dieleman/Moyer: Egyptian Literature (Anm. 78). S. 439f., reflektieren die Texte Spannungen zwischen der Zentrale und der χώρα. Es ist also zu fragen, ob sich die Kritik bzw. Opposition gegen die Ptolemäer auf deren Macht oder Herrschaft bezogen hat. Letztlich erfahren wir auch kaum, wie seitens der Ägypter, besonders der ägyptischen Elite, über die griechische Fremdherrschaft gedacht wurde, dazu Günter Vittmann: Ägypten und die Fremden im ersten vorchristlichen Jahrtausend. Mainz 2003 (Kulturgeschichte der antiken Welt. Bd. 97). S. 244. Nach Armin Eich: Die Bedeutung publizierter Texte für die Kritik politischer Macht. His­ torische Entwicklungen von der klassischen griechischen Epoche bis zur Spätantike. In: Gianpaolo Urso (Hg.): Ordine e sovversione nel mondo greco e romano. Pisa 2009 (I Convegni della Fonda­ zione Niccolò Canussio. Bd. 8). S. 331–351, hier S. 337f., kann von einer „subversiven Wirkung von Literatur in der Antike“ – sieht man von wenigen Ausnahmen ab – keine Rede sein. Thompson: Memphis (Anm. 53). S. 109–112; Huß: König (Anm. 6). S. 57f.; Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 194–196. Bislang ging man davon aus, dass es sich nicht um eine Institution pharaonischen Ursprungs, sondern um eine Erfindung der Ptolemäer gehandelt hat; doch hat Günter Vittmann: Der demo­ tische Papyrus Rylands 9. 2 Bde. Wiesbaden 1998 (Ägypten und Altes Testament. Bd. 38,1/2). S. 290–292, plausibel machen können, dass der λεσῶνις genannte Verwaltungsbeamte mit dem ἐπιστάτης identisch ist (anders noch Karl­Theodor Zauzich: Art. Lesonis. In: Wolfgang Helck/ Wolfhart Westendorf (Hg.): Lexikon der Ägyptologie. 8 Bde. Wiesbaden 1975–1992. Bd. 3. Sp. 1008); zu den Aufgaben des λεσῶνις, „der in saitischer wie auch persischer Zeit an der Spitze der Tempelverwaltung stand: Vittmann: Papyrus (wie oben). S. X. Nach Thompson: Memphis (Anm. 53). S. 112, kam es eher zu einer moderaten Kontrollausübung; zu weiteren Details Manning: Pharaohs (Anm. 16). S. 83. Dazu ausführlich Stefan Pfeiffer: Herrscher­ und Dynastiekulte im Ptolemäerreich. Systematik und Einordnung der Kultformen. München 2008 (Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und Anti­ ken Rechtsgeschichte. Bd. 98).

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und insbesondere die Verknüpfung von Herrscherfesten mit dem ägyptischen Kultka­ lender stellt den Versuch dar, „sich als loyale Stützen der Regierung zu empfehlen und zugleich den makedonischen Herrscher auf die Verpflichtungen des pharaonischen Kö­ nigtums festzulegen“.120 Hinzuweisen ist noch auf die bildlichen Darstellungen der Herr­ scher im Rahmen des Kultgeschehens auf den Tempelwänden und auf Stelen, die ebenso in ihrer jeweiligen Akzentsetzung als direkte Antwort der Priester bzw. Beitrag zur theo­ logischen Diskussion über die Personen des Pharaos im ägyptischen Weltgeschehen gel­ ten können.121 Allerdings entzieht es sich unserer Kenntnis, was die Könige selbst davon verstanden haben und wie sie darauf reagierten. Mit Blick auf diese kurz skizzierten Kommunikationsformen hat man zu fragen, wo­ rauf die Macht der ägyptischen Priester gegenüber den mächtigen Königen gründete, denn es ist evident, dass sie hinsichtlich der transitiven Macht über nicht unbeträchtliche Anteile in diesem Nullsummenspiel verfügt haben. Heinz Heinen hat mit Recht deutlich gemacht, dass in Ägypten – anders als in den anderen hellenistischen Monarchien – die Priester neben der üblichen Trias König, φίλοι und Heer einen zusätzlichen Machtfaktor darstellten.122 Zunächst sind die Priester „unmittelbare Diener der Götter und tragen Sorge um die Aufrechterhaltung der Kulte.“123 Auf dieser Linie liegt exakt die eingangs zitierte Formulierung der Hathorpriester gegenüber Apollonios: Ohne eine sorgsame Beachtung der Kulte lässt sich weder die Gunst der Götter noch der Erhalt des Landes gewinnen. Hierin bestand sozusagen das Prä der Priester als Vertreter der Götter, weshalb sie primär als Vollzieher der Kulte von den Königen respektiert worden sind. Offenkundig ist es ihnen gelungen, genau diesen Aspekt bereits in der Konstituierungsphase der ptolemäi­ schen Monarchie dem Satrapen, später dem König und seinen Helfern zu kommunizieren. Militärisch hatten die Priester nicht den Hauch einer Chance, ein anderes System, das letztlich über den religiösen und wirtschaftlichen Einfluss auch ihren politischen Einfluss hätte verstärken können, gegen den Fremdherrscher durchzusetzen, weshalb sie sich auf eine andere Ebene verlegten: Das Verhältnis ist als ‚perfekte Symbioseʻ (Heinen) bezeich­ net worden, zu seinem Funktionieren bedurfte es jedoch ständig der Vergewisserung und Aushandlung auf verschiedenen Ebenen der Kommunikation, vor allem – durchaus auf beiden Seiten – auch zur jeweiligen Legitimation der eigenen Position:124 Weder rissen die königlichen Vergünstigungen für die Tempel ab noch die Anfragen seitens der Priester, 120

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Heinen: Hunger (Anm. 59). S. 21. Die Oberpriester des Ptah in Memphis waren gleichzeitig auch Schreiber bzw. Priester der Arsinoe und erhielten entsprechende Ehrungen, dazu Charles Maystre: Les grands prêtres de Ptah de Memphis. Freiburg/Göttingen 1992 (Orbis biblicus et orientalis. Bd. 113). S. 179–193; Thompson: Memphis (Anm. 53). Hierbei gab es durchaus zeitliche und räumliche Unterschiede und Eigenheiten, dazu Richard H. Wilkinson: Die Welt der Tempel im Alten Ägypten. Darmstadt 2005. S. 76–80. Heinen: Hunger (Anm. 59). S. 21, mit dem Verweis auf OGIS I 12 B 6–8 (= HGIÜ II 306), wo freilich noch von der Verwaltung (τὰ πράγματα) gesprochen wird, die jedoch keinen eigenständigen Faktor darstellte. Ein Unterschied zu den φίλοι und zum Heer besteht freilich darin, dass diese etwa in Königsbriefen explizit neben dem König genannt wurden, die Priester hingegen nicht. Heinen: Hunger (Anm. 59). S. 20. Dieser Aspekt wird von Manning: Pharaohs (Anm. 16). S. 92–96, mit Recht stark betont: „But it was the priesthoods who were the guarantors of political legitimacy, the conduit through which Egyptian culture was understood, and indeed the creators of the renewed image of kingship. There­

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und sowohl königliche Besuche, die zweifellos nach einem festgelegten Ritual abliefen, als auch die symbolische Repräsentation des Pharaos samt seiner Familie auf ägyptischen Tempelwänden machten von beiden Seiten aus die Positionen deutlich. Die Einberufung von Synoden lässt sich durchaus ambivalent verstehen: Auf der einen Seite konnten die Zusammenkünfte als Disziplinierungsinstrumente verstanden werden, auf der anderen Seite dienten sie auch der rituellen Umsetzung des Konsenses zwischen dem König und den Priestern;125 schließlich boten sie den Priestern zumindest die Möglichkeit – dafür haben wir freilich keine expliziten Belege – bei aller Konkurrenz untereinander um die Gunst des Königs sich zu einer gemeinsamen Position zusammen zu finden.126

5. Zusammenfassung Den Ptolemäern gelang es von Beginn ihrer Herrschaft an, auch von den indigenen Ägyp­ tern akzeptiert zu werden und über sie eine Herrschaft aufzubauen. Dabei standen ihnen zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Zum einen eine gewaltsame Unterdrückung des er­ oberten Landes, zum anderen der Versuch, sich auf die politischen Gegebenheiten des Landes einzustellen und „unter aktiver Beteiligung des dazu willigen Teils der Elite des Landes zu herrschen“.127 Rein pragmatisch bot sich die zweite Möglichkeit an, und so hat Ptolemaios I. wohl von Beginn an auf die Anwendung zweifellos möglicher Sanktionen zur Durchsetzung der eigenen Person verzichten können.128 So war dann auch die ägypti­ sche Elite, d. h. die Priester der zahlreichen Tempel, in diesen Prozess des Machterwerbs und Machterhalts integriert, nicht zuletzt als Mittler zwischen Pharao und ägyptischer Bevölkerung: Dies taten sie offenkundig weitgehend erfolgreich, denn von Problemen erfahren wir nicht vor der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr., und Aufstände größeren Ausmaßes sind erst für die Wende vom 3. zum 2. Jh. überliefert. Dass es letztlich zu einer solchen Kooperation kommen konnte, war das Ergebnis intensiver Kommunikationstä­ tigkeit mittels verschiedener Medien, vor allem durch Texte, Bilder, Symbole und die leibhaftige Präsenz des Königs selbst. Vor allem war es den Ptolemäern gelungen, den ägyptischen Priestern gegenüber ihre „Herrschaft als materialisierten Ausdruck der gel­ tenden Ordnungsvorstellungen darzustellen und so breite Anerkennung zu generieren.“129

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fore it was the bargain between the king and the priests that grew to become increasingly important in the course of Ptolemaic history“ (92f.). Den Vorrang unter den Priestern hatte dabei der Hohepriester von Memphis, der die Einzugsprozes­ sion anführte, dazu Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 297. Eine Möglichkeit des Pharaos, mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten, stellte auch das sogenann­ te Erscheinungsfenster dar; die Belegsituation jenseits der Amarnazeit ist freilich sehr schwierig, so dass man für die Ptolemäerzeit wohl nicht damit zu rechnen hat; vgl. die Aufbereitung des Materi­ als von Petra Vomberg, Das Erscheinungsfenster innerhalb der amarnazeitlichen Palastarchitektur. Herkunft – Entwicklung – Fortleben. Wiesbaden 2004 (Philippika. Bd. 4); Laila Ohanian: La fine­ stra di apparizione nell’antico Egitto. Rom 2009 (Quaderni di egittologia. Bd. 7). Pfeiffer: Dekret (Anm. 18). S. 288. Die Formulierungen in Anlehnung an Brodocz: Behaupten (Anm. 28). S. 21, für Augustus. Brodocz: Behaupten (Anm. 28). S. 21.

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Umgekehrt sahen die Priester ihre Anliegen und Vorstellungen, ebenso ihre materiellen Interessen offenkundig in hinreichendem Maße berücksichtigt und konnten außerdem das Konzept der ptolemäischen Monarchie in ihrer ägyptischen Facette entsprechend be­ einflussen. Diese gelungene Integration hat sich für die ptolemäische Herrschaft zweifel­ los als stabilisierend erwiesen.130 Darüber hinaus haben die Priester mit ihren Beiträgen zur Ausgestaltung der ptolemäischen Monarchie in der Person des Königs bzw. Pharaos, seiner theologischen Fundierung und seiner kultischen Verehrung für die intransitiven Machtverhältnisse förderlich gewirkt. Abschließend sei nochmals auf einen Sachverhalt eingegangen, der bislang – eben­ so wie die Gegenpharaonen und die antiptolemäischen Agitationen131 – nur kurz ange­ sprochen wurde, nämlich die Tatsache, dass die Priester keinesfalls die einzige indigene Elite Ägyptens und somit Ansprechpartner für die Ptolemäerkönige darstellten.132 Poly­ bios spricht im Kontext der Niederschlagung von Aufständen durch Ptolemaios V. nach 186/85 v. Chr. von „ägyptischen Dynasten“ (οἱ δυνάσται τῶν Αἰγυπτίων), von denen einige – Athinis, Pausiris, Chesuphos und Irobastos – auch namentlich genannt werden.133 Diese ‚Dynastenʻ lassen sich freilich nicht in anderen Zusammenhängen nachweisen und somit auch nicht näher prosopographisch bestimmen. Denkbar ist jedoch, dass es sich um Nachkommen der früheren Nomarchen bzw. Gaufürsten handelt, die aufgrund ihrer Familientradition quasi reaktiviert worden sind. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass sie Priesterämter ausübten bzw. mächtigen Priesterdynastien entstammten – umso mehr, als die Tätigkeit als Priester nur eine der Betätigungen entsprechender Personen darstellte, die zeitlich begrenzt war und genügend Zeit für andere Aufgaben und Aktivi­ täten ließ.134 Es ist somit zu vermuten, dass es sich um einen identischen Personenkreis 130

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In diesem Zusammenhang verdient jedoch noch weitere Klärung, wie sich die Formen der Kommuni­ kation zum 2. und 1. Jahrhundert hin unter veränderten historischen Bedingungen gewandelt haben. Vgl. den Forschungsstand bei Brian C. McGing: Revolt Egyptian Style. Internal Opposition to Pto­ lemaic Rule. In: APF 43. 1997. S. 273–314; Andreas Blasius: Zur Frage des geistigen Widerstandes im griechisch­römischen Ägypten. Die historische Situation: In: Ders./Bernd U. Schipper (Hg.): Apokalyptik und Ägypten. Löwen 2002 (Orientalia Lovaniensia Analecta. Bd. 107). S. 41–62, und Anne­Emmanuelle Veïsse: Les ,révoltes égyptiennes‘. Recherches sur les troubles intérieurs en Egypte du regne de Ptolémée III à la conquete romaine. Löwen 2004 (Studia Hellenistica. Bd. 41). Eine möglichst präzise Bestimmung der gesellschaftlichen Gruppen ist unabdingbar, weshalb eine Aussage wie etwa: „Die Ägypter – wir denken insbesondere an den ägyptischen Adel – sahen sich den Weg zur Macht versperrt“ (so Leon Mooren: Macht und Nationalität. In: Herwig Maehler/ Volker M. Strocka (Hg.): Das ptolemäische Ägypten: Mainz 1978. S. 51–57, hier S. 52) sicherlich nicht falsch, aber auch nicht weiter führend ist. Polyb. 22,17 (= Michel M. Austin: The Hellenistic World from Alexander to the Roman Conquest. A Selection of Ancient Sources in Translation. Cambridge 2006. Nr. 284). Dazu Frank W. Walbank: A Historical Commentary on Polybios. Bd. 3. Oxford 1979. S. 203f., dort auch zur Verbesserung der ursprünglichen Lesart Pausiras in Pausiris (Hdt. 3,15); Frank W. Walbank: Egypt in Polybius. In: John Ruffle u. a. (Hg.): Glimpses of Ancient Egypt. Studies in Honour of H.W. Fairman. Warminster 1979. S. 180–189, hier S. 184 mit Anm. 81; Frank W. Walbank: The Surrender of the Egyptian Rebels in the Nile Delta (Polyb. xxii. 17.1–7). In: Philias charin. Miscellanea di Studi Classci in onore di Eugenio Manni. Bd. 6. Rom 1980. S. 2189–2197, mit einer Einbeziehung der ägyptischen Zeugnisse. So auch auf der Basis prosopographischer Untersuchungen Huß: König (Anm. 6). S. 185f., Anm. 19; außerdem Lloyd: Elite (Anm. 62). S. 118ff., unter Verweis auf die Karrieren von Udjahorresnet und Nekhthorheb; Schäfer: Makedonische Pharaonen (Anm. 64). S. 138f.

Kommunikation und Legitimation im ptolemäischen Ägypten

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handelt, bei dem nach Bedarf verschiedene Funktionen aktiviert wurden. Möglicherweise liegt bei einigen der ägyptischen Strategen und Epistrategen des 2. und 1. Jh.s v. Chr., die in Mittel­ und Südägypten eingesetzt wurden, ein ähnlicher Kontext vor;135 so zeigt das Beispiel der Familie des Epistrategen Kallimachos im oberägyptischen Theben, dass sie sich als eigenständiger regionaler Machtfaktor etablieren konnte, den die Zentrale ge­ währen lassen musste,136 was wiederum im Kontext gravierender Machtverschiebungen innerhalb des Landes steht.137

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Diese Hinweise verdanke ich Hilmar Klinkott (Tübingen); außerdem J. David Thomas: The Epist­ rategos in Ptolemaic and Roman Egypt. Bd. 1. Opladen 1975. S. 9–54 und S. 86–122 (Prosopogra­ phie, u. a. zu Paos und Phommous). Dazu Walter Ameling: Art. Kallimachos [8]–[10]. In: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. 16 Bde. Stuttgart 1996–2003. Bd. 6. Sp. 195f.; Heinen: Hunger (Anm. 59). S. 22–41. Stefan Pfeiffer: Die Politik Ptolemaios’ VI. und VIII. im Kataraktgebiet. Die ‚ruhigenʻ Jahre von 163–132 v. Chr. In: Andrea Jördens/Joachim F. Quack (Hg.): Ägypten zwischen innerem Zwist und äußerem Druck. Die Zeit Ptolemaios’ VI. bis VIII. Wiesbaden 2011 (Philippika. Bd. 45). S. 235–254, hier S. 244–246. Der Verfasser zeigt am Beispiel des Standartenträgers Petiese, Sohn des Pachum, dass jemand als Mitglied der lokalen Priesterelite über „eine enge Bindung ... an das ptolemäische Königshaus“ verfügen konnte (S. 246).

Die Versuchung der Macht. Spätrömische Heermeister und ihr potentieller Griff nach dem Kaisertum* Wolfgang Kuhoff

Als am 24. August des Jahres 410 die Westgoten unter ihrem Heerkönig Alarich mithil­ fe von Sympathisanten innerhalb der Stadtbevölkerung in das seit rund 800 Jahren von keinem äußeren Feind mehr eroberte Rom eindrangen, fand dieses Ereignis vielfältigen Widerhall in den Darstellungen der damaligen Zeitzeugen und den Werken späterer Hi­ storiker. Das Ereignis ist unschwer erklärbar, denn knapp zwei Jahre zuvor war der ,Star­ ke Mann‘ im Westteil des Römischen Reiches, Flavius Stilicho, von Neidern und Rivalen mit Zustimmung seines Schwiegersohnes, des Kaisers Honorius, in Ravenna ermordet worden.1 Dieses Geschehen war symptomatisch für die Situation nach der Regierung von Theodosius dem Großen (379–395), der die Aufteilung der Herrschaft unter seine jungen Söhne Arcadius und Honorius zu verantworten hatte.2 * 1

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Auf Wunsch des Autors erfolgt der Abdruck des Beitrags – abweichend von den Richtlinien der Publikationsreihe – in alter Rechtschreibung. Die Einnahme Roms im Sommer 410 behandelt jetzt kurz Wolfgang Kuhoff: Rom in Bedrängnis. Vor 1 600 Jahren eroberten die Westgoten unter König Alarich I. die alte Hauptstadt des Imperium Romanum. In: Antike Welt. 41/4. 2010 S. 49–54. Die jüngste Gesamtdarstellung zur Geschich­ te der Goten, nämlich Michael Kulikowski: Die Goten vor Rom. Darmstadt 2009, krankt daran, daß sie für ein breites Publikum verfaßt wurde und daher oberflächlich klingt (hier S. 11–20 und S. 165–179). Die Person des ersten Theodosius hat stets große Aufmerksamkeit gefunden: Adolf Lippold: Pau­ lys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (im folgenden RE). Suppl. XIII. 1973. Sp. 837–961, s. v. Theodosius 10; Ders.: Theodosius der Große und seine Zeit. 2. Aufl. München 1980; Ders.: Theodosius I. (379–395). In: Manfred Clauss (Hg.): Die römischen Kaiser. 55 histo­ rische Portraits von Caesar bis Iustinian. 3. Aufl. München 2005. S. 368–374; Hans Roland Baldus: Theodosius der Große und die Revolte des Magnus Maximus – das Zeugnis der Münzen. In: Chiron. 14. 1984. S. 175–192; Evgenij P. Gluschanin: Die Politik Theodosiusʼ I. und die Hintergründe des so­ genannten Antigermanismus im oströmischen Reich. In: Historia. 38. 1989. S. 224–249; Maria Cesa: Impero tardoantico e barbari: la crisi militare da Adrianopoli al 418. Como 1994; Neil B. McLynn: Theodosius. The Empire at Bay. London 1994; Robert M. Errington: Theodosius and the Goths. In: Chiron. 26. 1996. S. 1–27; Ders.: Roman Imperial Policy From Julian to Theodosius. Chapel Hill 2006; Jörg Ernesti: Princeps christianus und Kaiser aller Römer. Theodosius der Große im Lichte zeitgenössischer Quellen. Paderborn 1998; Hartmut Leppin: Theodosius der Große. Auf dem Weg zum christlichen Imperium. Darmstadt 2003; Ders.: Kaiser Theodosius der Große (379–395). Auf dem Weg zu einem christlichen Imperium. In: Florian Schuller/Hartmut Wolff (Hg.): Konstantin der

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Die Einrichtung des militärischen Oberkommandos durch Konstantin I. Als einige Jahrzehnte zuvor Konstantin der Große das Amt der Heermeister als Oberbe­ fehlshaber der Reichstruppen unterhalb der Kaiser eingerichtet hatte, war diese Entwick­ lung nicht vorherzusehen, und Konstantin, der seine Schlachten stets selbst schlug, hätte sie auch nicht gutgeheißen. Doch die tatsächliche Entwicklung ging über seine Vorstel­ lungen hinweg, und schon seine Söhne Constantius II. und Constans bedienten sich ihrer Oberkommandeure, die zuerst als magistri equitum und magistri peditum für die Kaval­ lerie und Infanterie separat zuständig waren, in vielfältiger Weise. Seitdem stiegen nicht nur originäre Reichsangehörige zu diesem Amte auf, sondern auch die ,fremdstämmigenʻ Befehlshaber der aufgrund von foedera zwischen dem Reich und auswärtigen Völkern von letzteren gestellten Truppeneinheiten sahen ihre Chance, auf diese Weise Vorteile für sich und ihre Volksangehörigen zu erringen. Dieser Dualismus bestimmte die Zukunft des Imperium Romanum bis zum politischen Untergang des Westteils in entscheidender Weise mit.3 Für das Jahr 306 wird ein Befehlshaber alamannischer Söldner mit dem Titel rex litera­ risch mit dem Namen C(h)rocus erwähnt: Er soll eine mitentscheidende Rolle am 25. Juli bei der Ausrufung Konstantins zum Nachfolger seines am gleichen Tage verstorbenen Vaters Constantius I. durch die Truppen im britannischen Eburacum (York) gespielt ha­ ben.4 Er war offensichtlich ein Mann, der ein persönliches Nahverhältnis zum Augustus Constantius besaß, verständlich angesichts der vielen Kämpfe, welche dieser wie bei Lingonae (Langres) und Vindonissa (Windisch) im Jahre 302 gegen die Alamannen auszufechten hatte. Dokument für diese Auseinandersetzungen ist das fragmentarische Siegesdenkmal von Nikaia, dessen eines Relief, heute freilich stark beschädigt, bei der Darstellung des Siegers Constantius das Wort Alamannia enthält. In seiner Person äußert sich erstmals der Einfluß germanischer Truppenführer auf die Auswahl von Kaisern, was

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Große. Kaiser einer Epochenwende. München 2007. S. 216–238; Ders.: Theodosius der Große und das christliche Kaisertum. Die Teilungen des Römischen Reiches. In: Mischa Meier (Hg.): Sie schu­ fen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007. S. 27–44. Unerläßlich für die Darstellung des spätrömischen Reiches ist das grundlegende Werk von Alexan­ der Demandt: Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian 284–565 n. Chr. 2. Aufl. München 2007. Zusammenfassende Beiträge zu den spätantiken Heermeistern legten fol­ gende Autoren vor: Wilhelm Enßlin: Zum Heermeisteramt des spätrömischen Reiches. In: Klio. 24. 1931. S. 102–147 und S. 467–502; Wolfgang Rau: Die römischen Heermeister des 4. Jahrhunderts n. Chr. (mit einer prosopographischen Dokumentation). Diss. Erlangen 1968; Manfred Waas: Ger­ manen im römischen Dienst im 4. Jahrhundert. 2. Aufl. Bonn 1971; Alexander Demandt: Magister militum. In: RE. Suppl. XII. 1970. Sp. 553–790; John M. O’Flynn: Generalissimos of the Roman Army. Edmonton 1982 (nur für das 5. Jahrhundert); Penny MacGeorge: Late Roman Warlords. Oxford 2002. Zur Person des C(h)rocus und seiner historischen Einordnung siehe u. a. Wolfgang Kuhoff: Diokle­ tian und die Epoche der Tetrarchie. Das römische Reich zwischen Krisenbewältigung und Neu­ aufbau (284–313 n. Chr.). Frankfurt a. M. 2001. S. 796f.; John F. Drinkwater: The Alamanni and Rome 213–496 (Caracalla to Clovis). Oxford 2007. S. 146, 153, 159, 163; Ders.: Crocus, King of the Alamanni. In: Britannia. 40. 2009. S. 185–195.

Spätrömische Heermeister und ihr potentieller Griff nach dem Kaisertum

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hier der Anwesenheit der Offiziere in Eburacum wegen des vorangegangenen Feldzuges des Constantius gegen die Pikten geschuldet ist.5 Der um 500 schreibende Historiker Zosimos ist der Gewährsmann für die Annahme, Konstantin habe die Heermeisterstellen geschaffen. Er ordnet diese Aussage in eine Reihe von Vorwürfen ein, welche er gegen ihn im Sinne, er habe den Grund für den Niedergang des römischen Reiches gelegt, anspricht. Trotz dieser Tendenz zur Ankla­ ge gegen den ersten christlichen Herrscher ist dem Autor zuzubilligen, daß er durchaus richtige Mitteilungen über die Neugliederung des Militärwesens liefert.6 Weil das Ge­ schichtswerk von Ammianus Marcellinus, das die konstantinische Dynastie und die Zeit bis 378 behandelt, nur für die Jahre zwischen 355 und dem genannten Enddatum vorliegt, fehlt eine Parallelüberlieferung, die Korrekturen bieten könnte. Insofern wissen wir nicht genau, wann Konstantin den militärischen Oberbefehl eingeführt hat, denn zuvor gab es außer den Kaisern nur die Statthalter der großen Heeresprovinzen als Feldherrn im Bedarfsfalle oder für aktuelle Aufgaben ernannte Kommandeure, zu denen jedenfalls, wie es Zosimos richtig angibt, immer wieder auch die Prätorianerpräfekten zählten, und zwar diejenigen der normalerweise zwei gleichzeitig amtierenden, die nicht als Fachleute für das Rechtswesen zuständig waren. In der Zweizahl der Präfekten war die Zweizahl der konstantinischen Heermeister vorgebildet, in der Kaisernähe der Präfekten in Rom und auf Feldzügen findet sich die Stellung der Heermeister zu ihren Augusti vorgeprägt: Die Fälle von Macrinus, Philippus I. und Carus illustrieren, daß Präfekten sich selbst zu Kaisern aufschwingen konnten.7 Neben die magistri equitum bzw. peditum traten im Laufe kurzer Zeit in Gallien, Illyricum und Oriens regionale Oberbefehlshaber, wobei gegenseitige Ergänzung, aber auch Kontrolle eine Rolle spielten. Entscheidend waren für diese Maßnahme weniger die Auf­ teilung des Reiches in die drei Verantwortungsbereiche der Konstantinssöhne nach dem 9. September 337, sondern die sonst nicht zu bewältigenden militärischen Gefährdungen 5

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Das Nikaia­Monument behandelten Hans von Schoenebeck: Alamannia. In: FuF. 13. 1937. S. 159– 161; Kurt Bittel: Das Alamannia­Relief in Nicaea (Bithynia). In: Festschrift für Peter Goessler. Tübingen 1954, S. 11–22; Ders.: Das Alamannia­Relief in Nicaea. In: MDAI(I). 39. 1989. S. 85– 89; Hans Peter Laubscher: Ein tetrarchisches Siegesdenkmal in Iznik (Nikaia). In: JdI. 108. 1993. S. 375–396; Kuhoff: Diokletian (Anm. 4). S. 596–598 (siehe auch Ders.: Quellen zur Geschichte der Alamannen VI: Inschriften und Münzen. Heidelberg 1984. S. 45f. Nr. 59). Drinkwater: Alaman­ ni (Anm. 4). S. 183, erwähnt das Monument nur äußerst knapp und ohne Literaturhinweise. Zosimos: Historia Nova II. S. 32–34; zur Person des Historikers siehe jetzt allgemein Wolfgang Kuhoff: Zosimos. In: Biographisch­Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL) XXXI. 2010. Sp. 1541–1555, und zuvor François Paschoud: RE X A 1. 1972. Sp. 795–841, s. v. Zosimos 8. Die Entstehung des Heermeisteramtes faßt Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 556–562, mit Diskussion der früheren Forschung, zusammen. Zu den Prätorianerpräfekten in der hohen Kaiserzeit und den Prätoriumspräfekten der Spätan­ tike sind folgende allgemeine Arbeiten heranzuziehen: Michel Absil: Les préfets du prétoire dʼAuguste à Commode, 2 avant Jésus­Christ – 192 après Jésus­Christ. Paris 1997; Joachim Migl: Die Ordnung der Ämter. Prätorianerpräfektur und Vikariat in der Regionalverwaltung des Römi­ schen Reiches von Konstantin bis zur Valentinianischen Dynastie. Frankfurt a. M. 1994; Andreas Gutsfeld: Der Prätorianerpräfekt und der kaiserliche Hof im 4. Jahrhundert n. Chr. In: Aloys Winterling (Hg.): Comitatus. Beiträge zur Erforschung des spätantiken Kaiserhofes. Berlin 1998. S. 75–102.

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Wolfgang Kuhoff

an den Grenzen, besonders als Constantius II. nach der Niederwerfung des Usurpators Magnentius am 10. August 353 für einige Jahre Alleinherrscher war.8

Die Zeit der Konstantinssöhne Noch für die Samtherrschaft von Constans und Constantius II. sind die ersten Feldherren konstantinischer Form überliefert, die den Rang von viri clarissimi besaßen, also dem Se­ natorenstand angehörten. Im Jahre 342 war Hermogenes tätig, doch bleibt er eine blasse Figur.9 Die ordentlichen Konsuln von 338 und 343, Flavius Ursus und Flavius Polemius bzw. Romulus, mögen ebenfalls Heermeister gewesen sein.10 Dies ist für Sallustius Bo­ nosus, Konsul von 344, eindeutig bezeugt und gilt ebenso für den ersten, des Namens wegen als Germane ausgewiesenen Heermeister, Flavius Salia, den Konsul von 348, der ausdrücklich als magister equitum des Constans und katholischer Christ nachgewiesen ist. Seine Vertrauensstellung und Kaisernähe offenbart eindeutig der ihm 346 von Con­ stans erteilte Auftrag, bei dessen Bruder Constantius energisch für die Wiedereinsetzung abgelöster Bischöfe, darunter Athanasius von Alexandria, einzutreten und sogar mit ei­ nem militärischen Vorgehen zu drohen.11 8

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Die häufig gescholtene Politik des Constantius wurde nur einige Male behandelt: Ilse Müller­Sei­ del: Die Germanenpolitik der Kaiser Konstantius und Julian im Rahmen der römischen Reichspoli­ tik des IV. Jahrhunderts. Diss. Heidelberg 1945; Edward A. Thompson: Constantine, Constantius II, and the Lower Danube Frontier. In: Hermes. 84. 1956. S. 372–381; Joachim Szidat: Der Feldzug Constantius II. an der mittleren Donau im Jahre 358 n. Chr. In: Historia. 21. 1972. S. 712–720; Roger C. Blockley: Constantius II and His Generals. In: Studies in Latin Literature and Roman History 2. Brüssel 1980. S. 467–486; Ders.: Constantius II and Persia. In: Ebd. 5. 1989. S. 465–490; Kirsten Groß­Albenhausen: Constantius II. (337–361). In: Clauss: Die römischen Kaiser (Anm. 1). S. 322–333; Robert Rollinger: Zum Alamannenfeldzug Constantiusʼ II. an Bodensee und Rhein im Jahre 355 n. Chr. und zu Julians erstem Aufenthalt in Italien. Überlegungen zu Ammianus Mar­ cellinus 15,4. In: Klio. 80. 1998. S. 163–194; Pedro Barceló: Constantius II. und seine Zeit. Die Anfänge des Staatskirchentums. Stuttgart 2004. Zu Hermogenes: Otto Seeck: RE VIII 1. 1912. Sp. 864; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 72; The Prosopography of the Later Roman Empire (im folgenden PLRE) I. S. 422f., s. v. Hermogenes 1; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 564; Ders.: Spätantike (Anm. 3). S. 113. Zu Ursus: PLRE I. S. 989, s. v. Ursus 4; zu Polemius PLRE I. S. 710, s. v. Polemius 4; zu Romulus: Seeck: RE I A 1. 1914. Sp. 1104, s. v. Romulus 3; PLRE I. S. 771, s. v. Romulus 3; der letztgenannte Mann hat nichts mit dem Heermeister des Magnentius zu tun, der in der Schlacht bei Mursa fiel (zu ihm Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 563f.). Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 311f. und S. 320f., sieht in Ursus mit Recht einen Heermeister, während Polemius zwar als comes, doch ohne Präzisierung des Titels, bezeugt ist. Roger S. Bagnall/Alan Cameron/Seth W. Schwartz/Klaas A. Worp: Consuls of the Later Roman Empire. Atlanta 1987. S. 201f. und S. 220f., erörtern die Konsu­ late; Timothy D. Barnes: Constantine and Eusebius. Cambridge/MA 1982. S. 262, bezeichnet beide Konsuln von 338 als Militärs, als Heermeister, für Romulus aber gibt er keine Einschätzung. Bonosus: Seeck: RE I A 2. 1920. Sp. 1950f.; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 64; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 564f. (hier heißt er Sallustius Bonosus); PLRE I. S. 164, s. v. Bonosus 4; bei Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 10). S. 222f., sind zwei Personen, Bonosus und Sallustius, ange­ nommen. Zu Salia: Seeck: RE I A 2. 1920. Sp. 1872; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 83; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 562; PLRE I. S. 796, s. v. Salia 2; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 10).

Spätrömische Heermeister und ihr potentieller Griff nach dem Kaisertum

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Schließlich ist als magister peditum des Constantius Flavius Eusebius genannt, der aus dem makedonischen Thessalonica stammte und im Jahre 347 die Ehre des Konsulates erhielt. Sein Fall verdient besondere Aufmerksamkeit, denn rund sechs Jahre später hei­ ratete Constantius seine Tochter Eusebia, als deren Vater möglicherweise schon tot war, und 359 gelangten beide Söhne, Eusebius und Hypatius, zum gemeinsamen Konsulat, was eine außerordentliche Ehre bedeutete. Überdies erkannte Constantius den Besitzun­ gen des Eusebius eine umfängliche Befreiung von Steuerlasten zu.12 Alle diese genannten Feldherrn im Konsulat können mit der Aussage des Kaisers Iulianus gemeint sein, der ungenau behauptete, schon Konstantin habe den gemanischen Heermeistern den Zugang zum höchsten Ehrenamte eröffnet.13 Die Ermordung des Constans am 18. Januar 350 führte ein germanischer Offizier na­ mens Gaiso durch, den der zum Augustus proklamierte Magnentius entsandt hatte: Da ihn der neue Kaiser, mütterlicherseits ein Franke, noch für das Jahr 351 zum Konsul in seinem Machtbereich ernannte, ist Gaiso als magister militum einzustufen und darf ebenfalls als Franke angesehen werden. Erneut erkennt man hier ein besonderes Vertrau­ ensverhältnis zum Kaiser, das mit der gemeinsamen Herkunft zusammenhängen mag.14 Der in der blutigen Schlacht bei Mursa (Osijek) am 28. September 351 von Magnentius zu Constantius übergegangene Claudius Silvanus verkörpert als einer der ersten bezeug­ ten magistri militum die zwiespältige Stellung der allmählich an Bedeutung gewinnen­ den Heermeister. Als Sohn eines reichsfränkischen Vaters namens Bonitus, für den die Nomenklatur eine Zugehörigkeit zum Imperium dokumentiert, und einer wohl gleichfalls fränkischen Mutter stand er auf der Grenze zwischen romanitas und peregrinitas, doch fühlte er sich stets als Römer und handelte entsprechend. In der Funktion eines tribunus armaturarum, des Kommandeurs einer Reiterabteilung der Kaisergarde, trat er zu Con­ stantius über und wurde von diesem, wie es Ammianus Marcellinus süffisant und treffend charakterisiert, immodico saltu, mit übermäßigem Sprung, ins Amt des magister peditum befördert und nach Gallien entsandt, um die Lage nach der Ausschaltung des Magnentius

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S. 230f.; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 113, 312, 320f. Das Christentum Salias nennt Theodo­ ret, Hist. Eccl. II 8, die Demarche des Constans untersuchte eigens Werner Portmann: Die politische Krise zwischen den Kaisern Constantius II. und Constans. In: Historia. 48. 1999. S. 301–329. Eusebius: Seeck: RE I A 1. Sp. 1187f.; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 67; Demandt: Magister mili­ tum (Anm. 3). Sp. 565; PLRE I. S. 307f., s. v. Eusebius 39; Bagnall: Consuls (Anm. 10). S. 228f.; Demandt: Spätantike (Anm. 3), erwähnt zwar mehrfach die Tochter, nicht aber Eusebius selbst. Der die Besitzungen begünstigende Erlaß des Constantius ist CTh XII 1, 1 mit der Nennung clarissimae memoriae Eusebii exconsule et exmagistro equitum et peditum; da die Datierung unrichtig überlie­ fert ist, bleibt trotz der Emendation auf 360 eine Unsicherheit bestehen. Allgemein siehe auch Richard W. Burgess: Consuls and Consular Dating in the Later Roman Em­ pire. In: Phoenix. 43. 1989. S. 143–157. Die Aussage Iulians führt mit kritischer Erläuterung Amm. Marc., Hist. Rom. XXI 10, 8 und 12, 25, an: tunc ... eum [i. e. Constantinum] aperte accusans, quod barbaros omnium primus ad usque fasces auxerat et trabeas consulares ... und qui [i. e. Iulianus] nuper ut primum augendae barbaricae vilitatis auctorem immoderate notaverat Constantinum. Gaiso: Seeck. RE VII 1. 1910. Sp. 488; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 69; Demandt: Magister mi­ litum (Anm. 3). Sp. 563; Waas: Germanen (Anm. 3). S. 84; PLRE I. S. 380; Demandt: Spätantike (Anm. 3). Sp. 106. Der verschiedentlich als zweiter Heermeister des Magnentius bezeichnete Mar­ cellinus ist wohl der gleichnamige magister officiorum desselben Kaisers (so Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 563, gegen PLRE I. S. 546, s. v. Marcellinus 8 und 9).

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zu stabilisieren: Hierin äußert sich das Vertrauen des Constantius, also eine Kaisernähe, obwohl Silvanus wie Magnentius und Gaiso fränkischer Herkuft war, doch wurde diese Tatsache von seinem Handeln in entscheidender Situation überwogen.15 Dieses offensichtliche Nahverhältnis wurde allerdings entscheidend gestört, weil Sil­ vanus seine Herkunft doch im Wege stand. Neider am Kaiserhof in Mailand intrigierten gegen ihn, der in Köln weit entfernt war, und beschuldigten ihn einer beabsichtigten Usurpation, womit das „Vorbild“ des Magnentius beschworen wurde. Jetzt wurde Silva­ nus seine geographische Kaiserferne zum Verhängnis, obwohl er Vertrauensleute eben­ falls fränkischer Abstammung in Mailand besaß, die ihn von der bedrohlichen Intrige und sogar von deren absehbarem Erfolg in Kenntnis setzten. Der versuchte Befreiungs­ schlag bestätigte allerdings nachträglich die Vorwürfe, weil er sich wirklich zum Kaiser proklamieren ließ, wohl wissend, wie allergisch Constantius gegen Aspiranten auf den Thron reagierte. Man kann dem Kaiser diese Haltung nicht verübeln, denn immerhin war sein Bruder Constans vom comes rei militaris Magnentius gestürzt worden, einem rangniedrigeren Truppenbefehlshaber, und kurz darauf hatte sich der aus Oberpannonien stammende und angeblich des Schreibens unkundige illyrische Heermeister Vetranio in Sirmium von seinen Soldaten zum Augustus proklamieren lassen. Daß dieser nach fast zehn Monaten zugunsten des Constantius abdankte, ging auf eine entsprechende Verein­ barung zurück.16 Silvanus jedoch bezahlte sein Verhalten mit dem Tode, als er im Ver­ lauf einer Geheimaktion umgebracht wurde, die sein von Mailand nach Köln entsandter Kollege Ursicinus, magister equitum per Orientem, inszeniert hatte.17 Als Augenzeuge überliefert der Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus dieses dramatische Gesche­ 15

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Die römisch geprägte Haltung des Silvanus drückt Epit. de Caes. 42, 11 aus, wo er als institutione Romana satis cultus et patiens bezeichnet wird. Zur Person: Seeck: RE III A 1. 1927. Sp. 125f.; Karl Friedrich Stroheker: Germanentum und Spätantike. Zürich/Stuttgart 1965. S. 17f., 20f., 27; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 86f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 567f.; PLRE I. S. 840f., s. v. Silvanus 2; David C. Nutt: Silvanus and the Emperor Constantius II. In: Antichthon. 7. 1973. S. 80–89; Hanns Christof Brennecke: Ammianus Marcellinus über die Usurpation des Silvanus (Amm. XV 5–6). In: Manuel Baumbach/Helga Köhler/Adolf Martin Ritter (Hg.), Mousopolos ste­ phanos. Festschrift für Herwig Görgemanns. Heidelberg 1998. S. 57–71; David Hunt: The Outsider Inside: Ammianus on the Rebellion of Silvanus. In: Jan Willem Drijvers/David Hunt (Hg.): The Late Roman World and Its Historian. Interpreting Ammianus Marcellinus. London/New York 1999. S. 51–63; Bruno Bleckmann: Silvanus und seine Anhänger in Italien. Zur Deutung zweier kampa­ nischer Inschriften für den Usurpator Silvanus (CIL X 6945 und 6946). In: Athenaeum. 88. 2000. S. 477–483; Werner Portmann: Der Neue Pauly (DNP). XII 1. 2002. Sp. 1054f.; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 151–153, 203, 211–214; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 107, 109, 121, 382. Zu Vetranio: Wilhelm Enßlin: RE VIII A 2. 1958. Sp. 1838–1840; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 93; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 562f.; PLRE I. S. 954, s. v. Vetranio 1; Bruno Bleckmann: Constantina, Vetranio und Gallus Caesar. In: Chiron. 24. 1994. S. 29–68; John F. Drinkwater: The Revolt and Ethnic Origin of the Usurper Magnentius (350–353) and the Rebellion of Vetranio (350). In: Chiron. 30. 2000. S. 131–159; Alan Dearn: The Coinage of Vetranio: Imperial Representation and the Memory of Constantine the Great. In: Numismatic Chronicle (NC). 163. 2003. S. 169–191; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 106f., 471. Zu Ursicinus: Adolf Lippold.: RE Suppl. IX. 1961. Sp. 1058–1063; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 44, 50; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 91f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 569–574; PLRE I. S. 985f., s. v. Ursicinus 2; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 208–215; De­ mandt: Spätantike (Anm. 3). S. 107, 109, 517. Beide Protagonisten behandelt zusammen Drinkwa­

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hen in einer minutiösen Schilderung. In den Personen von Vetranio und Silvanus hat man es mit gleich zwei Heermeistern zu tun, die ihre Nähe zur Staatsspitze dazu nutzten, diese für sich selbst zu reklamieren – die Zwiespältigkeit des militärischen Führungsamtes äußerte sich hier schon recht früh, denn die Amtsinhaber hatten einen gewichtigen Teil der Aufgaben übernommen, die den Herrschern selbst zukamen, nämlich die persönliche Führung des Heeres in Friedens­ und Kriegszeiten. Das Vorbild von Trajan, Marcus Au­ relius und Konstantin verflüchtigte sich in dieser Hinsicht, was nach Theodosius I. zum fundamentalen Problem wurde.18 Während unter Constans nur drei Oberbefehlshaber überliefert sind, kann für Constan­ tius II. fast von einem Verschleiß an Heermeistern gesprochen werden. Das Mißtrauen des letzten Konstantinssohnes brach sich immer wieder Bahn, wobei er sich mehrfach von Intrigen beinflussen ließ, die auch Heermeister gegeneinander lancierten. Eklatant war der Fall des magister equitum Arbitio, eines vom Soldaten aufgestiegenen Alaman­ nen, der im Jahre 359 gegen seinen Kollegen Barbatio intrigierte. Dieser war Silvanus als magister peditum nachgefolgt und hatte mit wechselndem Ausgang gegen die Alamannen gefochten; zuvor war er comes domesticorum des Caesar Constantius Gallus gewesen und hatte diesen bei Constantius verleumdet, und seine Stellung beim neuen Caesar Iu­ lianus in Gallien diente ebenfalls der Bespitzelung. Am Ende der gegen ihn selbst 359 gerichteten Intrige wurde er zusammen mit seiner Frau umgebracht. Dieser Vorfall zeigt deutlich, daß sich die Heermeister auf einer Gratwanderung befanden, wenn es um die Behauptung ihrer Stellung und das Nahverhältnis zum Kaiser ging. Gerade dieses wurde aber Arbitio nachgesagt, der im Jahre 355 als weiterer Amtsinhaber einen ordentlichen Konsulat erhalten hatte. Erst Iulianus als Alleinherrscher entließ den ihm zu mächtig er­ scheinenden Arbitio 362 aus dem Amte; die sechs Jahre zuvor erhobene Beschuldigung, er strebe die Kaiserwürde an, wertet Ammianus Marcellinus als haltlose Invektive. Es handelt sich somit um einen weiteren Fall, der die potentielle Nähe der Heeresbefehlsha­ ber zum Thron verdeutlicht. Die Bekleidung des Konsulates ist als wichtiger Gradmesser dafür aufzufassen, wie nachhaltig die Beziehung zwischen den Kaisern und ihren wich­ tigsten militärischen Beratern sein konnte. Später wurde sie durch die auf Lebenszeit verliehene Ehrenwürde des Patriziates noch übertroffen.19

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ter: Silvanus, Ursicinus and Ammianus: Fact or Fiction? In: Studies in Latin Literature and Roman History 7. 1994. S. 568–576. Der Bericht des Ammianus über die Umstände und die Niederschlagung der Silvanus­Usurpation findet sich in Hist. Rom. XV 5. Arbitio: Seeck: RE II 1. 1895. Sp. 412; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 44f.; Rau: Heermei­ ster (Anm. 3). S. 59f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 567; PLRE I. S. 94f., s. v. Arbitio 2; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 10). S. 244f. Zu Barbatio: Seeck: RE III 1. 1897. Sp. 1f.; Rau: Heermei­ ster (Anm. 3). S. 60f.; PLRE I. S. 146f.; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 207–210 (für Arbitio) und S. 224–238 (für Barbatio). Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 122, erwähnt kurz die Niederlage eines Heeres unter Barbatios Befehl am Rheinknie bei Augusta Raurica im Jahre 357.

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Die Heermeister des Iulianus Iulianus hatte als Caesar wie als Augustus im Gesamtreich Heermeister genuin römischer wie nichtrömischer Herkunft. Zu letzteren gehörten der magister equitum Gomoarius mit seiner wohl alamannischen origo und der magister peditum Agilo, dessen alamannische Abstammung Ammianus Marcellinus bezeugt. In beiden dokumentiert sich erneut das problematische Verhältnis eines obersten Militärbefehlshabers zum Kaiser, da Gomoa­ rius zuerst von Constantius seinem Vetter zugeordnet und Agilo überhaupt Feldherr des Augustus war, den Iulianus zuerst weiterverwendete, dann aber entließ. Gomoarius war schon kurze Zeit nach der Selbstproklamation Iulians zum Augustus im Februar 360 ver­ abschiedet worden, woraufhin sich der in Ungnade Gefallene zu Constantius zurückzog: Sein früheres Überwechseln von der Seite Vetranios auf diejenige des Constantius ließ ihn vor einem drohenden Waffengang zwischen den Vettern unzuverlässig erscheinen. Beide Heermeister wechselten 364 auf die Seite des Usurpators Procopius über, um diesen in der Entscheidungsschlacht gegen Kaiser Valens jedoch wieder zu verlassen. Insofern war das Mißtrauen Iulians vollauf gerechtfertigt und umgekehrt erweist sich das Vertrauen der Kaiser erneut als ausschlaggebender Faktor für das gegenseitige Verhältnis.20 Sicher genuin römischer Herkunft waren drei Heermeister in Gallien, die zur Un­ terstützung Iulians entsandt wurden. Für Marcellus ist die Herkunft aus Serdica (Sofia) bezeugt, er geriet aber in Gegensatz zum Caesar und wurde deshalb abberufen. Sein Nachfolger Severus erwies sich als fähiger Befehlshaber und trug zum Siege Iulians über die Alamannen bei Straßburg im Sommer 357 bei; später kämpfte er gegen die Franken und erneut die Alamannen. Lupicinus, den Constantius 359 an seiner Stelle zum magister equitum per Gallias ernannte, wurde nach Britannien entsandt, bei seiner Rückkehr nach Gallien jedoch von Iulianus unter Arrest gestellt, weil seine Loyalität im Machtkampf des neuen gegen den alten Augustus im Zweifel stand. Erst von Iovianus reaktiviert, erhielt er die Stelle des magister equitum per Orientem und diente danach auch Valens, für den er die Schlacht bei Nakoleia gegen Procopius gewann; Belohnung dafür war die Ernennung zum Konsul des Jahres 367 als Kollege des Iovinus. Als Christ pflegte er eine gute Bezie­ hung zum altgläubigen Redner Libanios in Antiochia, welche dieser lobend anerkannte. Seine Charakterisierung durch Ammianus Marcellinus ist demgegenüber kritischer, doch trennt der Historiker zwischen den militärischen Fähigkeiten und der persönlichen Hal­ tung, die verurteilt wird: Erstere aber waren es, die Lupicinus für sein Amt empfahlen.21 20

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Gomoarius: Seeck: RE VII 2. 1912. Sp. 1582; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 45; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 60f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 575; Waas: Germanen (Anm. 3). S. 84f. (Alamanne); PLRE I. S. 397f.; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 149, 151, 153 (Alamanne). Agilo: Seeck: RE I 1. 1893. Sp. 809; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 43–45, 48–50; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 58f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 579, 581, 587; Waas: Germanen (Anm. 3). S. 68f.; PLRE 1. S. 28f.; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 146– 157 (passim), 176, 207. Marcellus: Enßlin: RE XIV 2. 1930. Sp. 1491; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 573f.; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 76; PLRE I. S. 350f., s. v. Marcellus 3; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 214, 221–228 (passim). Severus: Seeck: RE II A 2. 1923. Sp. 2004; Demandt: Ma­ gister militum (Anm. 3). Sp. 574; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 85f. (Severus starb im Amte);

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Anders als Agilo und Gomoarius stand der Gote Nevitta stets in der Gunst Iulians, der ihn zuerst 361 zum magister equitum per Gallias in der Nachfolge des Gomoarius, dann ein Jahr später zum Nachfolger Agilos als magister equitum praesentalis berief. Zu diesem Zeitpunkt hatte er aber schon die Ernennung zum Konsul erhalten, als der er am 1. Januar 362 zusammen mit dem Prätoriumspräfekten Claudius Mamertinus ins Amt gelangte. Dieser ist als Verfasser eines Panegyricus auf Iulianus noch heute lebendig, und man erfährt aus dieser Lobrede auch eine Äußerung zum Heermeister. Ammianus Marcellinus fügt hinzu, Nevitta habe früher im Jahre 358 während eines Feldzuges des Barbatio gegen die Juthungen in Rätien als Kommandeur einer Reitereinheit erfolgreich agiert und sich damit für die spätere Beförderung empfohlen. Militärische Fähigkeiten spielten hier die entscheidende Rolle, die Nähe zum Kaiser errang er aber schnell, was sich besonders in seiner Betrauung mit der Führung einer der drei Heeresgruppen äu­ ßerte, die Iulianus in den Feldzug gegen Constantius sandte und die schließlich bis zum wichtigen Paß von Succi vorstieß, dem Einfallstor in den zentralen Balkan. Die Ernen­ nung zum Konsul war die Belohnung für diese Leistungen, und das Kommando über eine der wiederum drei Heeresgruppen im Perser­Feldzug drückte erneut das Vertrauen in sei­ ne Fähigkeiten aus. Daher verwundert es nicht, daß Nevitta eine gewichtige Rolle im Rat der Truppenbefehlshaber spielte, der am 27. Juni 363 über die Nachfolge des in einem Scharmützel ums Leben gekommenen Kaisers entschied. Allerdings konnte er sich nicht durchsetzen und nahm deshalb vielleicht seinen Abschied. Während ihn Mamertinus als adoreis militaribus gloriosus collega im Konsulat hervorhebt, beurteilt ihn Ammianus Marcellinus kritischer, und da dieser Autor die Herrschaft Iulians ansonsten überwiegend positiv darstellt, wird man seiner Einschätzung folgen dürfen. Dennnoch kann Nevitta als einer der erfolgreichsten nichtrömischen Heermeister des 4. Jahrhunderts angesehen werden, und seine Rolle als wenn auch erfolgloser Kaisermacher, zudem nach dem Ende einer Dynastie, muß als maßstabsetzend eingestuft werden: Kaisernähe also auch über den Tod des amtierenden Herrschers hinaus.22 Die übrigen von Iulianus berufenen Feldherren sind ebenfalls bekannt geworden, zu­ mal sie schon wegen ihrer unterschiedlichen Herkunft Beachtung verdienen. Iovinus, wohl genuiner Römer, war zuerst magister equitum per Gallias und führte als solcher eine Heeresgruppe auf Iulians Feldzug gegen Constantius, wurde im selben Range nach Illyricum versetzt und dann erneut nach Gallien entsandt, wo er im Verlauf der nächsten Jahre erfolgreich gegen die Alamannen operierte und kurzzeitig auch in Britannien ein­ gesetzt wurde. Wie bedeutsam das Vertrauensverhältnis und die Loyalität zum Kaiser war, zeigt sich in seinem Falle sehr deutlich, als der Herrscherwechsel nach Iulians Tod

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PLRE I. S. 832, s. v. Severus 8; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 225, 233, 242f. Lupicinus: Seeck: RE XIII 2. 1927. Sp. 1844; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 75; Demandt: Magister mi­ litum (Anm. 3). Sp. 573–575, 585, 587; PLRE I. S. 520f., s. v. Lupicinus 6; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 10). S. 268f.; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 246, 253; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 123. Nevitta: Enßlin: RE XVII 1. 1936. Sp. 156–158; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 11, 27, 45; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 79; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 580–582, 585f.; Waas: Germanen (Anm. 3). S. 99–101; PLRE I. S. 626f.; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 10). S. 258f.; Werner Lütkenhaus: DNP 8. 2000. Sp. 884; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 125, 320, 381.

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vollzogen wurde: Der neue Augustus Iovianus wollte ihn erst ablösen und durch einen fränkischen Nachfolger, Malaricus, ersetzen, der schon zur Zeit der Silvanus­Affäre als dessen Vertrauter in Mailand hervorgetreten war, doch als dieser verzichtete, beließ der Kaiser jenen im Amte, weil Iovinus ausdrücklich die Treue der gallischen Truppen nach Osten meldete. Auch Valentinian I. änderte daran nichts, ja er ernannte Iovinus wegen eines 366 beim nordgallischen Durocatalaunum (Chalons) errungenen Sieges gegen ein eingefallenes Alamannenheer sogar zum Konsul für 367 zusammen mit Lupicinus. In be­ merkenswerter Weise ist Iovinus als Adressat von immerhin fünf Kaisererlassen im Co­ dex Theodosianus der Nachwelt bekannt geblieben. Außerdem stiftete der Heermeister in Durocortorum (Reims), wohl seiner Heimatstadt, eine Kirche zu Ehren des heiligen Ag­ ricola, in der er später auch beigesetzt wurde; deren in Reimen formulierte Bauinschrift wurde durch den frühmittelalterlichen Chronisten Flodoard überliefert und dürfte wohl von einem eigens engagierten Dichter stammen, doch kann man nicht ausschließen, Io­ vinus habe sie selbst entworfen. Man hat es also insgesamt mit einem Manne zu tun, der es verstand, sich in alle Richtungen abzusichern und auf diese Weise eine ansehnliche Amtstätigkeit von acht Jahren zu erreichen. Für die Personalpolitik Iulians gilt es aber zu betonen, daß die Zugehörigkeit zum Christentum trotz der gegenteiligen Haltung des Kaisers keine Rolle spielte, denn es entschieden allein die militärischen Fähigkeiten und das Vertrauensverhältnis beider zueinander. Letzteres war auch für die Berufung von vier der Heermeister in den Sondergerichtshof von Chalkedon maßgeblich, den Iulian für die Aburteilung der allzu kompromittierten Beamten höchsten Ranges unter Constantius einsetzte: Es waren Nevitta, Iovinus, Agilo und Arbitio.23 Weniger erfolgreich war der aus dem pannonischen Sirmium (Šremska Mitrovica) ge­ bürtige Lucillianus, den Constantius im Jahre 350 als comes rei militaris mit der Abwehr der Perser beauftragte, als er selbst gegen Magnentius nach Westen zog. Dabei konnte der neue Kommandeur immerhin die Stadt Nisibis gegen einen Vorstoß des Großkönigs Šapur II. verteidigen. Im Jahre 354 wurde er mit der delikaten Aufgabe beauftragt, den Caesar Constantius Gallus als dessen neuer comes domesticorum zum Kaiser zu begleiten, doch endete diese Reise in Pula (Pola) mit der Hinrichtung des älteren der beiden Vettern des Constantius: Hier greift man ein weiteres Mal das Vertrauensverhältnis zwischen Kaiser und Offizier. 358/9 weilte Lucillianus als Gesandter bei den Persern und wurde danach zum magister equitum per Illyricum befördert, als der er vergeblich den Vormarsch Iuli­ ans aufzuhalten suchte. Von diesem entlassen, trat er nach dem Regierungsantritt Iovians 23

Iovinus: Seeck: RE IX 2. 1916. Sp. 2011f.; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 73; Demandt: Magi­ ster militum (Anm. 3). Sp. 580–587; PLRE I. S. 462f., s. v. Iovinus 6; John Matthews: Western Aristocracies and Imperial Court A.D. 364–425. Oxford 1975. S. 44, 51; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 10). S. 268f.; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 268–278 (passim); auffälligerweise nennt ihn Demandt: Spätantike (Anm. 3), nicht. Das Gedicht zur Kirchenweihe (CIL XIII 3256) verdient wörtlich zitiert zu werden: felix militiae sumpsit devota Iovinus cingula virtutum culmen provectus in altum bisque datus meritis equitum peditumque magister extulit aeternum saeclorum in saecula nomen. Hier ist die Bezugnahme auf den Ruhm bei der Nachwelt ausdrücklich angesprochen. Warum sich keiner der genannten Autoren zur möglichen Herkunft aus Reims äußert, bleibt unver­ ständlich. Die fehlende Berücksichtigung der Glaubenszugehörigkeit betont Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 587.

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wieder in Erscheinung, was nicht verwundern kann, war er doch der Schwiegervater des neuen Augustus. Als magister equitum et peditum nach Mailand gesandt, traf ihn nach der Weiterreise in Gallien ein fatales Schicksal, als er im Zuge eines Soldatenaufstandes in Reims ums Leben kam. Damit endete die Laufbahn eines Mannes, der zwar keine große historische Bedeutung gewann, aber durch seine Verwandtschaft mit einem Kaiser Ver­ hältnisse späterer Zeit vorprägte.24

Die Regierung der Brüder Valentinian I. und Valens und des Gratianus Valentinian I. und Valens bedienten sich in gewohnter Weise ihrer Heermeister, obwohl zumindest ersterer etliche Male selbst als Feldherr tätig war und verschiedentlich erfolg­ lose Militäraktionen seiner Heerführer sah. Neben Iovinus ist an nächster Stelle der Gote Dagalaifus zu nennen, der von Iulianus zum comes domesticorum ernannt wurde und als solcher bis zum Tode dieses Kaisers amtierte, wobei er die Gefangennahme des Lu­ cillianus in Sirmium durchführte; hier greift man erneut eine frühere Funktion vor der Beförderung. Befehlshaber der Nachhut im Perser­Feldzug, nahm er wie Nevitta an der Offiziersversammlung teil, die nach Iulians Tod einen neuen Kaiser kürte, und gehörte zur ,gallischen‘ Fraktion. Der Kompromißkandidat Iovianus beförderte ihn zum magister equitum, und in dieser Funktion war er an der zweiten Kaiserwahl binnen weniger Mo­ nate entscheidend beteiligt, weil er sich für Valentinian aussprach, dessen Benennung eines Mitherrschers in der Person des Bruders Valens er allerdings nicht uneingeschränkt guthieß. Deshalb verblieb er nach der Aufteilung des Heeres in Naissus (Niš) im Juni 364 an der Seite des älteren Augustus und diente in Gallien als magister peditum gegen die Alamannen im Jahre 365; obwohl er keinen wirklichen Erfolg vorzuweisen hatte, wurde er wie im Jahre darauf Iovinus, als dessen Vorgänger er tätig war, zum Konsul für 366 ernannt, und zwar mit besonderer Ehre als Kollege des Kaisersohnes Gratianus. Das weitere Schicksal ist allerdings nicht bekannt. Bei ihm ermöglichte die aktive Beteiligung an der Wahl Valentinians zum Kaiser das Fortkommen, gipfelnd im Konsulat. Weder im Falle Iovians noch Valentinians wurden aktive Heermeister selbst zu Augusti gekürt, sondern rangniedrigere Offiziere, weil sich die höchsten Befehlshaber eine solche Wahl gegenseitig neideten und einander bei den Wahlversammlungen blockierten.25 24

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Zu Lucillianus: Seeck: RE XIII 2. 1927. Sp. 1647f., s. v. Lucillianus 1; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 74; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 570f., 575–577, 585, 587; PLRE I. S. 517f., s. v. Lucillianus 3. Über seine Tätigkeiten berichten vor allem Ammianus Marcellinus und Zosimos, doch bleibt er eher im Schatten, was die geringe Behandlung seitens der modernen Forschung ausdrückt. Die antiken Stellen sind Amm. Marc., Hist. Rom. XIV 11, 14; XVII 14, 3; XVIII 6, 17; XXI 9, 5–10; XXV 8, 9f.; 10, 6f.; Zos., Hist. Nov. II, 45, 2; III 8, 2; 35, 1f. Dagalaifus: Seeck: RE IV 2. 1901. Sp. 1983f.; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 65; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 585–587, 591f.; Waas: Germanen (Anm. 3). S. 81f.; PLRE I. S. 239; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 10). S. 266f.; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 267f., 273.

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Wie Dagalaifus war auch Victor von Iulianus zum comes rei militaris berufen wor­ den und erhielt die Aufgabe, das Heer von Konstantinopel nach Antiochia zu führen; anschließend war er Kollege desselben als Führer der Nachhut beim Perser­Feldzug. An­ ders als jener agierte er bei der Kaiserwahlversammlung nach Iulians Tod als Anführer der „östlichen” Fraktion. Iovianus ernannte ihn zum magister equitum per Orientem und dessen Nachfolger im Osten, Valens, verwandte ihn vielfach als Gesandten zu den Goten und Persern, auch dies selbstverständlich Ausdruck eines Vertrauensverhältnisses: Die Ernennung zum Konsul des Jahres 369 ist dessen Bekundung, wobei auch hierbei ein Kaisersohn, nämlich Valentinianus, mit Beinamen Galates, der Kollege war. Der von Ammianus Marcellinus als vorsichtiger Feldherr eingestufte Victor vermochte es später allerdings nicht, Valens von der verhängnisvoll ausgehenden Schlacht bei Hadrianopolis am 9. August 378 abzuhalten, aber ihm gelang wenigstens der geordnete Rückzug seiner eigenen Truppen. Daß er anschließend sofort persönlich den im Westen nach Valentinians Tod am 17. November 375 regierenden Kaiser Gratianus vom Geschehen informierte, spricht für seine unbedingte Loyalität gegenüber der neuen Herrscherdynastie. Wegen seines Alters zog er sich danach ins Privatleben zurück und verbrachte die Folgezeit auf seinen Besitzungen bei Konstantinopel. Zwei wichtige Details müssen freilich zur Deu­ tung seiner Person noch erwähnt werden: Einerseits war er der erste bekannte Angehörige des Volkes der Sarmaten, der zur Spitze der Militärlaufbahn aufstieg, andererseits trat er als entschiedener Anhänger des katholischen Glaubens in Erscheinung und geriet deshalb ab und zu mit seinem Kaiser in Konflikt, ohne damit seine Stellung zu gefährden. Be­ sonders auffällig ist sein Briefwechsel mit zweien der Hauptvertreter der kleinasiatischen Kirchenhierarchie, Gregor von Nazianz und Basileios dem Großen, respektive Bischof von Nazianz und später Konstantinopel bzw. Metropolit von Kappadokien. Dessenunge­ achtet pflegte Victor auch eine gute Beziehung zu Libanios in Antiochia und angesichts dieser vielfältigen persönlichen Verbindungen verwundert seine Heirat mit der Tochter einer christlichen Araberfürstin, die als Geisel ins römische Reich gekommen war, nicht. So erweist er sich am Ende als einer der treuesten und zuverlässigsten Heermeister, die im gesamten 4. Jahrhundert bezeugt sind.26 Mit Victor nicht ganz auf eine Stufe zu stellen sind seine Kollegen Hormisdas und Arintheus, der erste in singulärer Weise ein Perser, dazu Sohn des Großkönigs Hormis­ das II. und Bruder des Großkönigs Šapur II., der zweite wahrscheinlich Gote. Der Per­ ser, der schon unter Konstantin dem Großen ins Römische Reich geflohen war und am denkwürdigen Rom­Besuch des Constantius am 28. April 357 teilgenommen hatte, wurde zum magister equitum per Orientem ernannt und befehligte als solcher auf Iulians Feld­

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Victor: Enßlin: RE VIII A 2. 1958. Sp. 2058–2060, s. v. Victor 9; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 11, 17f., 25, 45; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 93f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 581f.; Waas: Germanen (Anm. 3). S. 110–113; PLRE I. S. 957–959, s. v. Victor 4; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 120f., 129f.; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 10). S. 272f.; De­ mandt: Spätantike (Anm. 3). S. 147, 152. Auch für Victor sind Ammianus Marcellinus und Zosimos die wichtigsten Zeugen, die Briefe der Bischöfe sind Basileios, Ep. 152f., und Gregor, Ep. 133f., die Beziehung zu Libanios findet sich in Ders.: Orat. II 9, angesprochen.

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zug gegen die Perser die Kavallerie der nördlichen Heeresgruppe.27 Dabei war Arintheus sein Kollege, der als Regionalheermeister für Illyricum fungierte. Zusammen mit Victor wirkte dieser dann an der Offiziersversammlung nach Iulians Tod mit und wurde von Iovianus als Gesandter zum persischen Großkönig geschickt, um die Verhandlungen über den Rückzug des römischen Heeres zu führen: Ergebnis des Abkommens war die Abtre­ tung des östlichen Teiles von Nordmesopotamien an die Perser. Diese delikate, letztlich für die römische Seite abträgliche Mission offenbart das Vertrauen des neuen Kaisers in den Feldherrn, der von ihm noch mit einer zweiten Aufgabe betraut wurde, nämlich die Heermeisterstelle in Gallien für Iovinus zu bestätigen. Nach Iovians Tod gehörte Arin­ theus wiederum zu den ,Kaisermachern‘ und sprach sich für Valentinian aus, danach aber ging er mit Valens in den Osten und sicherte diesem die Herrschaft in der Entscheidungs­ schlacht gegen Procopius. Eine dritte diplomatische Mission führte im Jahre 369 zum Friedensvertrag mit den Goten. Zuvor hatte er am Krieg gegen diese teilgenommen, und 371 agierte er in Armenien gegen die Perser. Dieser Erfolg brachte ihm den Konsulat von 372 ein, als magister peditum am Hof des Valens amtierte er aber noch bis 377 und dürfte spätestens im folgenden Jahre verstorben sein, nachdem er sich zuvor hatte taufen lassen. Wie für Victor ist auch für ihn ein guter Kontakt zu Basileios dem Großen in zwei Briefen bezeugt, welche dieser schrieb. Da Arintheus auch als Gesandter tätig war, erkennt man eine merklich derjenigen Victors vergleichbare Karriere, die von beträchtlicher Kaiser­ nähe gekennzeichnet war und dem vielseitig fähigen Mann seine eindrucksvolle, rund vierzehnjährige Tätigkeit ermöglichte.28 Einen besonderen Fall stellt Equitius dar, der mit dem Tode Iovians ins Licht der Ge­ schichte trat: Als tribunus scholae primae scutariorum im gleichen Rang wie Valentinian, suchte er vergeblich die eigene Kandidatur für das Kaisertum zu lancieren, scheiterte aber an seinen von Ammianus Marcellinus angesprochenen Charaktereigenschaften als asper et subagrestis. Dennoch unterstützte er anschließend seinen erfolgreichen Rivalen und wurde von diesem als comes rei militaris in Illyricum eingesetzt, um im Herbst 365 nach Ausbruch der Procopius­Revolte zum dortigen magister militum befördert zu werden. In dieser Funktion ist er durch einige Bauinschriften von Kastellen an der Donau bezeugt, die seine Titulatur anführen und dadurch dokumentarischen Wert besitzen. Ungewollt rief er durch diese Bautätigkeit einen Krieg mit den Quaden auf dem jenseitigen Fluß­ ufer hervor; später führte er eine Gesandtschaft der Feinde zur Audienz in Brigetio bei 27

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Hormisdas: Seeck: RE VIII 2. 1913. Sp. 2419, s. v. Hormisdas 3; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 72; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 581–585, 587; PLRE I. S. 443, s. v. Hormisdas 2 (nicht Heermeister, sondern comes rei militaris); Robert O. Edbrooke: Constantius II and Hormisdas in the Forum of Trajan. In: Mnemosyne. 28. 1975. S. 412–417; Alan D. Cameron: Biondoʼs Ammianus: Constantius and Hormisdas at Rome. In: Harvard Studies in Classical Philology (HStCPh). 92. 1989. S. 423–436; Karin Mosig‑Wallburg: Die Flucht des persischen Prinzen Hormizd und sein Exil im Rö­ mischen Reich. In: Irania Antiqua. 35. 2000. S. 69–109; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 125, 323. Arintheus: Seeck: RE II 1. 1895. Sp. 831; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 11; Rau: Heer­ meister (Anm. 3). S. 61f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 583f., 586f.; Waas: Germanen (Anm. 3). S. 73–75; PLRE I. S. 102f.; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 129f.; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 278f.; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 148. Die Briefe des Basileios sind Ep. 179 und 269; dazu David Woods: Dating Basil of Caesareaʼs Correspondence with Arintheus and His Widow. In: Studia Patristica. XXXVII. Oxford 2001. S. 301–310.

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Valentinian ein, in welcher dieser an einem Schlaganfall verstarb. Seine Bedeutung wird durch den Konsulat unterstrichen, den er im Jahre 374 erhielt. Durch gleiche Herkunft wie der Kaiser aus Pannonien, die ihn zum originär römischen Amtsinhaber machte, besaß Equitius einen Vorteil, den er auch nach Valentinians Tode zu nutzen verstand, als er zusammen mit dem illyrischen Prätoriumspräfekten Sextus Petronius Probus am 22. November 375 in Aquincum den zweiten Sohn des Verstorbenen, Valentinian II., trotz seines jugendlichen Alters von nur vier Jahren zum dritten Augustus proklamierte. Wie­ der einmal agierte damit ein Heermeister als Kaisermacher, dieses Mal zum Nutzen der Dynastie, die jetzt in Gratianus ihren ältesten Vertreter besaß, der allerdings auch erst 16 Jahre alt war, aber immerhin mit Equitius den Konsulat des vergangenen Jahres versehen hatte. Das weitere Schicksal des illyrischen Oberbefehlshabers ist unbekannt, doch kann er als erneutes Beispiel für die Scharnierfunktion der Heermeister zwischen Kaisertum und Militär angesehen werden, die zu jener Zeit noch merklich von den Herrschern be­ stimmt wurde, aber bereits die Problematik aufzeigte, welche die Thronbesteigung von Kinderkaisern in sich barg.29 Einer derjenigen Heermeister, dem seine Erfolge zum Nachteil gereichten, war dage­ gen Theodosius, der aus dem nordwestlichen Hispanien stammende Vater des Kaisers dieses Namens. Als comes rei militaris in Britannien 368/369, später als magister equitum in der Nachfolge des Iovinus gegen die Alamannen und gegen die Sarmaten 370 bis 372 sowie schließlich 373–375 gegen den afrikanischen Usurpator Firmus erfolgreich, wurde er in die Intrigen nach dem Tode Valentinians I. verwickelt und bezahlte dies unter noch nicht wirklich geklärten Umständen in Karthago mit dem Leben. Aufgrund aller seiner militärischen Erfolge wurde er nicht nur im Panegyricus des Pacatus vom Jahre 392 gewürdigt, ihm wurde auch postum durch die italische Provinz Apulia et Calabria unter Leitung des Statthalters eine vergoldete Ehrenstatue gestiftet, deren Inschriftbasis erhalten ist: Der Text rühmt seine Lebensleistung mit den Worten cuius virtute felicitate iustitia et propagatus terrarum orbis et retentus. Eine derartige Ehrung ist aber nicht als ungewöhnlich einzustufen, weil alle hohen Staatsbeamten und Militärbefehlshaber einer solchen teilhaftig werden konnten, was noch weitere Beispiele demonstrieren. In diesem Falle bedingte freilich die Tatsache, daß der Geehrte der Vater eines Kaisers war, die Statuenaufstellung. Bemerkenswert ist der Dedikant, eine Provinz in Süditalien, zu der Theodosius senior nach heutiger Kenntnis keinerlei persönliche Beziehung besaß. Leider kann man nicht ermessen, wieviele derartige Ehrungen der Kaiservater im Reiche insge­ samt erfuhr, zumal die Datierung des einzigen Zeugnisses unsicher ist. Am ehesten kann man an einen Zeitpunkt denken, als sich Theodosius I. persönlich in Italien aufhielt, also in den Jahren 384, 388–390 und Ende 394 bis zu seinem Tode am 17. Januar 395. Weitere Statuenehrungen sind aus Rom und Ephesos bezeugt, die erste sogar eine Reiterstatue. Daß Theodosius senior auch Empfänger zweier Kaisererlasse war, ist nicht ungewöhn­ 29

Equitius: Seeck: RE VI 1. 1907. Sp. 321f.; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 66f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 588f.; PLRE I. S. 282, s. v. Equitius 2; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 35f., 64; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 282f.; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 141, 144. Die Amtstitulatur in den pannonischen Bauinschriften lautet (mit Varianten) illustris vir utriusque militiae magister Equitius comes (so in CIL III 3653 = ILS 775 von 371 in Salva, Provinz Valeria).

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lich, seine Beziehung zum Redner Symmachus verdient immerhin eine Hervorhebung, aber sein Tod rief zahlreiche, wenn auch um Jahre spätere Reaktionen hervor, die für sein Schicksal eine Neiderclique verantwortlich machten, zu der Equitius, der Prätoriumsprä­ fekt Maximinus und ein anderer Heermeister im Westen, nämlich Merobaudes, zählten. Theodosius I. konterkarierte alle früheren Intrigen gegen seinen Vater, indem er diesen wohl kurz nach seiner Thronbesteigung als divus Theodosius pater offiziell vergöttlichen ließ wie einst ähnlich der ebenfalls aus Hispanien stammende Kaiser Traianus – eine solch erklärbare Ehrung erfuhr sonst keiner der spätrömischen Heermeister.30 Als comes domesticorum Valentinians zwischen 365 und 367 in Britannien mit mä­ ßigem Erfolg tätig, dann als magister peditum in Gallien gegen Alamannen und Sach­ sen eingesetzt, fiel Severus insofern eine besondere Rolle zu, als er bei einer Krankheit Valentinians I. 367 als möglicher Nachfolger gehandelt wurde. Zwei der drei an ihn ge­ richteten Kaisererlasse sichern seine Tätigkeit bis ins Jahr 372, doch nachher verliert sich seine Spur. Da er sicherlich originär römischer Herkunft war, kann seine potentielle Kaiserfähigkeit nicht verwundern, es ist aber darauf hinzuweisen, daß Heermeister bis dahin kaum als Kandidaten aufgetreten waren.31 Kaisermacher war andererseits der ge­ bürtige Franke Merobaudes. Erstmals erwähnt als Offizier, der die Leiche Iulians nach Tarsos geleitete, wohl kaum schon als comes rei militaris, wurde er im Jahre 375 nach unbekannter Zwischentätigkeit als magister peditum noch von Valentinian I. eingesetzt. Nach der Kaiserbestimmung Valentinians II. soll er am Sturz seines Kollegen Theodo­ sius beteiligt gewesen sein, doch bleibt dies unbewiesen. Daß er rasch die Gunst Gratians gewann, zeigt seine Ernennung zum Konsul des Jahres 377, und zwar zusammen mit dem Kaiser selbst. Im Jahr darauf trug er maßgeblich zum großen römischen Sieg über die Alamannen bei Argent(ov)aria bei, doch warum Merobaudes über vier Jahre später die vollkommen ungewöhnliche Ehre eines zweiten Konsulates erhielt, ist bis heute nicht wirklich geklärt. Ob er noch im selben Jahre zum Sturze Gratians im Kampf gegen den Usurpator Magnus Maximus beitrug, als er gemäß einer Angabe des Chronisten Prosper 30

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Theodosius: Rudolf Egger: Der erste Theodosius. In: Byzantion. 5. 1930. S. 9–32; Alfred Hoepff­ ner: La mort du magister militum Theodosius. In: Revue des Études latines (REL) 14. 1936. S. 119– 129; Enßlin: RE V A 2. 1934. Sp. 1937–1945; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 39f., 59–62, 66; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 89; Alexander Demandt: Der Tod des älteren Theodosius. In: Historia 18. 1969. S. 589–626; Ders.: Magister militum (Anm. 3). Sp. 590f.; Ders.: Die Feldzüge des älteren Theodosius. In: Hermes 100. 1972. S. 81–113; Waas: Germanen (Anm. 3). S. 95f.; John F. Matthews: Symmachus and the magister militum Theodosius. In: Historia 20. 1971. S. 122–128; PLRE I. S. 903f., s. v. Theodosius 3 (mit den zahlreichen literarischen Zeugnissen); Adolf Lip­ pold: Kaiser Theodosius der Große und sein Vater. In: Rivista di Storia Antica (RSA). 2. 1972. S. 195–200; Domenico Vera: Le statue del senato di Roma in onore di Flavio Teodosio e lʼequilibrio dei poteri imperiali in età teodosiana. In: Athenaeum. 67. 1979. S. 381–403; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 167, 279–284; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 140–142, 155; Klaus Rosen: Am­ miano Marcellino, Teodosio padre e l’insurrezione di Firmo. In: Annali della Facoltà di Lettere e filosofia (Università di Siena). 29. 2008. S. 35–45. Die Ehreninschrift ist CIL IX 333 = ILS 780, aufgenommen auch bei Kuhoff: Quellen (Anm. 5). S. 55f. Nr. 74; die anderen epigraphischen Do­ kumente sind ILS 8950 und Inschriften von Ephesos (IEph) 306. Severus: Seeck: RE II A 2. 1923. Sp. 2005; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 85; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 592f.; PLRE I. S. 833, s. v. Severus 10; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 284, 307.

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Tiro den rechtmäßigen Augustus im Stich ließ und so seiner Ermordung Vorschub leiste­ te, die vom neuen magister equitum Andragathius durchgeführt wurde, ist gleichfalls zweifelhaft, denn im Panegyricus des Pacatus ist davon keine Rede. Erledigt hat sich immerhin die Frage, ob Merobaudes für 388 sogar zu einem dritten Konsulat unter Maxi­ mus vorgesehen war, denn nur eine einzige, dubiose Inschrift scheint dies anzudeuten. Jedenfalls kann man den Worten des Pacatus entnehmen, Merobaudes sei zu unbekann­ tem Zeitpunkt von Maximus zum Selbstmord genötigt worden. Allgemein ist festzuhal­ ten, daß der Heermeister schon mit dem zweiten Konsulat neue Wege beschritt, die in spätere Jahrzehnte vorausweisen, auch wenn sich in seinem Falle erneut die kardinale Schwierigkeit offenbart, das Vertrauensverhältnis zwischen Kaiser und Oberbefehlshaber ungetrübt zu wahren. Seit den einschlägigen Erlassen Valentinians I. konnten die Heer­ meister zumindest statt des bisherigen Ranges einfacher viri clarissimi den höchsten der viri illustres für sich reklamieren.32 Von den Heermeistern des Valens wurden Victor und Lupicinus, Arintheus und Victor bereits genannt; die übrigen waren wahrscheinlich alle gebürtige Römer. Von letzteren war Iulius wenigstens sechs Jahre lang tätig, nachdem er im Jahre 365 comes rei militaris per Thraciam und als solcher vorübergehendes Opfer der Erhebung des Procopius gewesen war. Bekannt wurde er nicht wegen seiner inschriftlich bezeugten Bautätigkeit am limes Orientis, seinem Verantwortungsbereich, sondern wegen seines von Ammianus Marcellinus gerühmten raschen Handelns nach dem Verhängnis von Hadrianopolis, als er aus eigener Initiative alle Goten, die bereits ins römische Heer aufgenommen worden waren, umbringen ließ, wofür nachträglich eine Zustimmung des Senates in Konstanti­ nopel erfolgte.33 Trotz seines bedeutungsschwangeren Namens vermochte Traianus, der zuerst als dux Aegypti 367/8 in kirchenpolitischen Aufgaben überliefert ist, keine militä­ rischen Meriten für sich verbuchen, obwohl er zeitweise durchaus erfolgreich war, indem er als comes rei militaris in Armenien 373/4 den aufsässigen König Papa ausschalten konnte. Eifriger katholischer Christ, kam er in der Schlacht von Hadrianopolis ums Le­ ben.34 Dieses Schicksal traf auch Sebastianus, einen Anhänger der manichäischen Reli­ 32

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Merobaudes: Enßlin: RE XV 1. 1931. Sp. 1038f., s. v. Merobaudes 1; Emil Vetter: Das Grab des Flavius Merobaudes in Trier. In: Rheinisches Museum (RhM). 103. 1960. S. 366–372; Strohe­ ker: Germanentum (Anm. 15). S. 11–13, 21, 61; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 77f.; PLRE I. S. 598f., s. v. Merobaudes 2; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 593, 597–599; Waas: Ger­ manen (Anm. 3). S. 42–44, 93–98; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 64, 173; Barbara S. Rodgers: Merobaudes and Maximus in Gaul. In: Historia 30. 1981. S. 82–105; Bagnall u. a.: Con­ suls (Anm. 13). S. 288f., 300f., 650–652; Peter Kehne: DNP VIII. 2000. S. 6f., s. v. Merobaudes 1; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 144, 159, 312, 337. Die Erlasse Valentinians I. sind CTh VI 7, 1 von 372 = CJ XII 4, 1 und VIII 5, 30 von 368. Iulius: Seeck: RE X 1. 1917. Sp. 107, s. v. Iulius 7; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 73f. (römische Herkunft vermutet); Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 704; PLRE I. S. 481, s. v. Iulius 2; Michael P. Speidel: The Slaughter of Gothic Hostages After Adrianopel. In: Hermes. 126. 1998. S. 503–506; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 153, 324. Traianus: Enßlin: RE VI A 2. 1937. Sp. 2089; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 91; Demandt: Ma­ gister militum (Anm. 3). Sp. 705–707; PLRE I. S. 921f., s. v. Traianus 2; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 129; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 148f., 152. Das Christentum bezeugen Basil., Ep. 148f., und Theodoret, Hist. Eccl. IV 28, 2. 33.

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gion, der früher als Traianus im selben Amt des dux Aegypti ebenfalls religionspolitische Aktionen unternommen hatte. Nach der Beförderung zum comes rei militaris befehligte er im Perser­Feldzug Iulians eine Heeresgruppe, um danach unter Valentinian im Westen gegen Alamannen und Quaden zu fechten. Schließlich erhielt er von Valens als Nachfol­ ger des Traianus das Amt des magister peditum, das er zum Nachteil des Reiches, seines Kaisers und seiner selbst dazu benutzte, Valens zur Schlacht gegen die Terwingen vor dem Eintreffen der von Gratianus geschickten Unterstützung anzustacheln, in der er, bei­ nahe gerechterweise, den Tod fand.35

Theodosius I.: Mit­ und Alleinherrschaft In der Regierungszeit von Theodosius I. waren besonders viele Heermeister im Amte, weil es sich bekanntlich um äußerst problemvolle Jahre handelte. Der spätere Kaiser zählte zuvor selbst zu den Militärbefehlshabern und war damit nach Vetranio der zweite, der den Aufstieg zum Augustus schaffte. Für seine Berufung zum magister militum in Illyricum waren nach der vernichtenden Schlachtenniederlage des Valens drei miteinan­ der verbundene Faktoren maßgeblich, nämlich die Abstammung von einem in der Krieg­ führung erfolgreichen Vater, die eigene Erfahrung als dux Moesiae primae 374–376 und die Verfügbarkeit im Reichsteil des Gratianus zur richtigen Zeit. Nach eigentlich be­ scheidenen Erfolgen im Abwehrkampf gegen die Terwingen des Fritigern wurde er be­ reits am 19. Januar 379 von seinem merklich jüngeren „Mentor“ Gratianus zum Mitkaiser im Osten erhoben, eine notwendige Konsequenz des Fehlens eines dortigen Augustus. Theodosius überflügelte nach und nach seinen auctor imperii sowie den nach offiziellen Maßstäben gleichfalls rangälteren, aber an Alter noch jüngeren Valentinian II. an Bedeu­ tung, was der Verkettung für ihn günstiger Umstände zuzuschreiben war, zu denen auch die Ermordung der beiden Söhne Valentinians I. durch Herrschaftskonkurrenten gehörte. Einen hervorragenden Einblick in die im Osten vertretene Auffassung von der Bedeu­ tungsgewichtung vermittelt das sogenannte Theodosius­Missale in Madrid, das aufgrund des zehnjährigen Regierungsjubiläums im Jahre 388 als Geschenk für einen hochrangi­ gen Staatsbeamten geschaffen wurde: Auf ihm thront Theodosius als ältester Kaiser mit dem zweiten Valentinian und seinem eigenen älteren Sohn Arcadius zusammen, überragt diese aber an Größe merklich. Das signifikante Dokument ist nicht nur ein prachtvolles Erzeugnis des spätrömischen Kunsthandwerks, sondern darf auch als Beispiel für eine ereignisbezogene Selbstdarstellung seitens der Kaiser angesehen werden, welche die höchsten Beamten und Generäle für sich einnehmen und dieses Nahverhältnis erhalten sollte.36 35

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Sebastianus: Seeck: RE II A 2. Sp. 954; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 85; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 705f.; PLRE I. S. 812f., s. v. Sebastianus 2; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 282; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 502. Zum Theodosius­Missorium: Richard Delbrück: Die Consulardiptychen und verwandte Denkmä­ ler. 2 Bde. Berlin/Leipzig 1929. S. 235–242; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 112; Jutta

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Als Augustus besaß Theodosius noch selbst die Verfügungsgewalt über seine magistri militum, allein schon aufgrund der eigenen militärischen Erfahrung. Dies gilt es ange­ sichts der fundamentalen Veränderungen, die sein überraschender Tod hervorrief, zu un­ terstreichen. Die von ihm ins Amt berufenen Männer gehörten wie selbstverständlich sowohl der römischen wie der germanischen Gruppe unter den hohen Offizieren an. Zur ersten zählten Maiorianus, Großvater des späteren Kaisers gleichen Namens, in Illyricum, und Saturninus, in dessen mindestens fünfzigjähriger Laufbahn das Entkommen aus der Niederlage von Hadrianopolis zusammen mit Victor eine bedeutende Zäsur darstellte. Weil er 382 den ersten Friedensvertrag mit den Terwingen zustandebrachte, erhielt er für das nächste Jahr als Kollege des Merobaudes den Konsulat, stand noch einmal im Ram­ penlicht bei der Aburteilung eines Kollegen 396 und verstarb kurz nach 400 im Alter von sicherlich über 80 Jahren.37 Von den anderen magistri militum des Theodosius waren mit Timasius und Promotus am Kaiserhof und mit Addaeus sowie Abundantius im Osten vier weitere Römer, mit Sapores im Osten ein Perser, mit Modares in Thrakien, Buthericus in Illyricum und Hellebichus im Osten drei Goten und schließlich mit Stilicho ein Vandale mit römischer Mutter wiederum am Hofe tätig: Mit wahrscheinlich sechs Männern waren die gebürtigen Römer also in der Überzahl. Von diesen war Addaeus Empfänger von im­ merhin vier Kaisererlassen als comes domesticorum und Heermeister sowie Briefpartner des Libanios, Abundantius mit seiner gesicherten Herkunft aus der Provinz Scythia diente zuerst Gratianus, wurde Heermeister des Theodosius und als solcher Konsul des Jahres 393, immerhin als Kollege des Kaisers selbst. 396 Opfer einer Intrige am Hofe in Kon­ stantinopel, mußte er in die Verbannnung nach Phönizien und ans Schwarze Meer gehen, während sein Besitz konfisziert wurde.38 Wesentlich wichtiger als die zuvor genannten Männer waren Timasius und Promotus, die beiden Konsuln des Jahres 389, deren ersterer als Verwandter des Kaisers vermutet wird, während für Promotus das Amt des comes Africae vor der Beförderung in Anrech­ nung steht. Als gemeinsame magistri utriusque militiae am Kaiserhof erscheinen beide fast unzertrennlich, wobei Timasius offiziell die Reiterei, Promotus das Fußvolk befeh­ ligte. Ersterer erscheint nach einer Kommandotätigkeit unter Valens im Jahre 386 als Empfänger eines Kaisererlasses in der Funktion des comes et magister equitum, um dann 388 mitsamt seinem Kollegen die Führung des Heeres im Feldzug gegen Maximus zu übernehmen; ihnen stand Arbogastes zur Seite. Nach dem erfolgreichen Ausgang kehrten

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Meischner: Das Missorium des Theodosius in Madrid. In: Jahrbuch des Instituts (JdI). 111. 1996. S. 389–432; Martin Almagro­Gorbea/José M. Alvarez Martinez/José M. Blázquez Martinez/Sal­ vador Rovira: El Disco de Teodosio. Madrid 2000. Die umfängliche Literatur zu Theodosius ist auszugsweise in Anm. 2 angesprochen. Maiorianus: Enßlin: RE XIV 1. 1928. Sp. 589f.; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 75f., Demandt: Ma­ gister militum (Anm. 3). Sp. 602, 716; PLRE I. S. 537. Saturninus: Seeck. RE II A 1. 1921. Sp. 215; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 84; Demandt: Magister militum (Anm. 3) Sp. 717f.; PLRE I. S. 807f., s. v. Saturninus 10; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 92f., 120f., 129; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 300f., 650f.; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 156. Addaeus: Seeck. RE I 1. 1893. Sp. 349; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 58; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 711f.; PLRE I. S. 13. Abundantius: Seeck: RE I 1. Sp. 126f.; Rau: Heermei­ ster (Anm. 3). S. 58; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 717 (für Illyricum beansprucht); PLRE I. S. 4f.; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 320f.

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beide mit Theodosius aus Mailand und Rom, wo sie in Kontakt zu Symmachus wie Am­ brosius getreten waren, im Herbst 391 nach Konstantinopel zurück. Hier aber trafen sie auf einen Konkurrenten um die erste Stellung hinter dem Kaiser, den magister officiorum Rufinus, Konsul des Jahres 392, der kurz darauf die Prätoriumspräfektur erreichte und in diesem Amte drei Jahre lang nicht zum Wohle des Staates, sondern nur für den eigenen Nutzen wirkte. 394 konnte Timasius noch den Feldzug gegen Eugenius, dieses Mal zu­ sammen mit Stilicho, leiten, während Promotus schon 391 nach einem Eklat mit Rufinus in einem angeblich von diesem angestifteten Hinterhalt in Thrakien ums Leben gekom­ men war. Sein Kollege zog sich nach dem Tode des Theodosius in den Ruhestand zurück, fiel aber 396 einer Intrige des Eusebius, des damaligen starken Mannes im östlichen Reichsteils, zum Opfer, wurde nach Ägypten verbannt und verstarb dort unter dubiosen Umständen. Machtkämpfe hinter den Kulissen führten in beiden Fällen zur Ausschaltung der Militärs durch höchste Zivilbeamte als Konkurrenten, was sich binnen weniger Jahre in Ost und West wiederholte und offenbarte, daß die Heermeister unter solchen Umstän­ den noch unterliegen konnten.39 Von den übrigen Militärbefehlshabern des Theodosius sind für Modares und Sapores Spezialaufträge in religiösen Angelegenheiten bezeugt, die ersterem, einem Christen, ei­ nen Briefwechsel mit Gregor von Nazianz einbrachten, dem zweiten den Kontakt mit Libanios. Hellebichus konnte sich der Beziehung zu beiden genannten Geistesgrößen rühmen, wobei der Briefwechsel mit Libanios umfänglicher und persönlicher ist, weil der Heermeister in Antiochia tätig war, wo er zudem öffentliche Gebäude errichtete; überdies ist er als Empfänger eines Kaisererlasses von 383 bezeugt. Butericus schließlich ist als Opfer des Volksaufstandes in Thessalonica im Jahre 390 bekannt geworden, der Theo­ dosius zum Massaker­Befehl bewegte, welcher zur persönlichen Krise des Kaisers im Konflikt mit Ambrosius und zum Bußgang in Mailand führte.40 Der rangältere, aber merklich jüngere Augustus im Westen, Valentinianus II., ver­ mochte anders als Theodosius seine Heermeister nicht im Zaume zu halten. Damit be­ gann das Verhängnis innerer Machtrivalität zwischen den nominellen, noch dynastisch legitimierten Herrschern und den faktisch regierenden magistri militum germanischer und römischer Herkunft – der Weg führte von hier direkt zum Ende des Kaisertums im 39

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Promotus: Enßlin: RE XXIII 1. 1957. Sp. 734f.; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 79f.; Demandt: Ma­ gister militum (Anm. 3). Sp. 714f.; PLRE I. S. 750f.; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 116, 119f., 179; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 17, 26f., 160, Anm. 9 (keine Anstiftung des tödlichen Hinterhaltes durch Rufinus); Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 312f.; Timasius: Enß­ lin: RE VI A 1. 1936. Sp. 1240f.; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 63 (Verwandtschaft mit Theodosius); Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 90f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 713; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 95, 119, 234; Kirsten Groß­Albenhausen: DNP XII 1. 2002. S. 581f.; PLRE I 914f.; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 167. Beide Heermeister wurden entgegen ihrer Bedeutung nur wenig behandelt. Zu den vier Personen: Enßlin: RE XV 2. 1932. Sp. 2315 (Modares); Seeck: RE I A 2. 1920. Sp. 2356 (Sapores); Ders.: RE VIII 1. 1912. Sp. 163 (Hellebichus); Ders.: RE III 1. 1897. Sp. 1083 (Butericus); Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 64, 71, 78, 83f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 711, 713f., 717; PLRE I. S. 605 (Modares), 803 (Sapores), 277f. (Hellebichus), 166 (Buteri­ cus); Waas: Germanen (Anm. 3). S. 80f. (Butericus), 85f. (Hellebichus), 98 (Modares); Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 91, 129 (Modares).

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Westen. Als entscheidender Faktor setzte, wie schon die Antike bemerkte, das Auftreten der Kinderkaiser diese unheilvolle Entwicklung auf römischer Seite in Gang. Da mono­ kausale Erklärungen allerdings kaum greifen, kommt die Vervielfältigung der äußeren Gefahren hinzu, welche die Schwächung der Militärkraft und zwangsläufig die Auswei­ tung der Rekrutierung reichsfremder ,Wehrwilliger‘ hervorrief, die als zersetzende Kraft für die Integrität des Imperium Romanum wirkten, das den reichsfremden Staatengrün­ dungen nichts mehr entgegenzusetzen vermochte. In Gallien und dann Italien konnten die fränkischen Heermeister eine regelrechte, kurzzeitige Dynastie begründen. Richo­ meres, Bauto und Arbogastes waren die Protagonisten, doch zogen sie nicht alle an ei­ nem Strange. Richomeres war der Onkel, Bauto der Vater des jüngsten der drei, aber mit Arbogastes endete diese militärische Machtstellung, welche sich zu einer politischen ausgewachsen hatte, der Valentinian II. und seine 388 verstorbene Mutter Iustina nichts entgegensetzen konnten. Der dem alten Glauben anhängende Richomeres war ein loyaler Diener des Gratianus und danach des Theodosius, seitdem er als comes domesticorum des ersteren ins Licht der Geschichte trat; wie Victor und Saturninus vermochte er sich bei Hadrianopolis zu retten. Als Heermeister für den Osten erlangte er 384 den Konsulat und wurde dann als comes et magister utriusque militiae Empfänger eines Kaisererlasses. Erfolgreicher Feldherr im Bürgerkrieg gegen Maximus 388, übte er eine Art Aufsicht über den in den Westen zurückgekehrten Valentinian II. aus und kam in Kontakt mit dem Redner und Politiker Symmachus, nachdem er Jahre zuvor in Antiochia die Be­ kanntschaft des Libanios gemacht hatte: Dokumente gegenseitigen Briefwechsels stützen diese Verbindung zu führenden Intellektuellen seiner Zeit. Libanios seinerseits suchte bewußt die Beziehung zu den in seinem geographischen Umfeld tätigen Staatsbeamten und Militärbefehlshabern, was sich konkret in der Ausarbeitung einer Lobrede auf den Konsulat äußerte. Richomeres verstarb noch vor dem Feldzug des Theodosius gegen den zweiten westlichen Gegenkaiser Eugenius 394 und brauchte nicht zu erleben, gegen sei­ nen Neffen Arbogastes ziehen zu müssen.41 Bauto scheint im Gegensatz zu seinem Bruder Christ gewesen zu sein, doch engagierte er sich im Streit um den Viktoria­Altar in der Curia Iulia als Unterstützer des Symma­ chus, von dem er Briefe empfing, und Gegner des Ambrosius. Dieses Ereignis aus dem Jahre 384 erweist ein weiteres Mal die gestiegene Einbeziehung der Heermeister in die religiösen Auseinandersetzungen, wobei die Fronten nicht festgelegt waren. Trotz sei­ nes anfänglichen Eintretens für die unterlegene Partei wurde Bauto noch für das folgen­ de Jahr in einvernehmlicher Absprache aller drei Kaiser zum Konsul ernannt, und zwar als Kollege des älteren Theodosius­Sohnes Arcadius. Damit wurden seine militärischen Dienste im Kampf gegen die Terwingen in Thrakien, die Sarmaten an der Donau und die Juthungen in Rätien als Feldherr von Gratianus und Valentinianus II. anerkannt, obwohl 41

Richomeres: Seeck: RE I A 1. 1914. Sp. 796f.; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 11–13, 18, 21–28; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 80f.; Lippold: Theodosius (Anm. 30). S. 30, 109, 120; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 718f.; Waas: Germanen (Anm. 3). S. 101–103; PLRE I. S. 765f.; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 302f.; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 152, 164, 382. Der Kaisererlaß ist CTh VII 1, 13; briefliche Zeugnisse sind Lib., Ep. 866, 972, 1007, 1024, und Symm., Ep. III 54–69, die Konsulatsrede wird in Lib., Or. I 219f., angesprochen.

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es mit Maximus eine Diskrepanz über die Haltung gegenüber den Franken gegeben hatte. Der damals vom östlichen Herrscher als Mitregent geduldete Kaiser in Gallien soll spä­ ter, als der Franke am Hofe von Mailand politisch dominierte, einen charakteristischen und für die Zukunft wegweisenden Satz geprägt haben: ille Bauto, qui sibi regnum sub specie pueri vindicare voluit. Der noch nicht christlich gewordene Augustinus hielt dem Konsul die übliche Lobrede. Beim Tode des Heermeisters vor 388 ereignete sich ein Vorfall, der ein bemerkenswertes Licht auf die wirklichen Machtverhältnisse wirft, denn der Sohn des Verstorbenen, Arbogastes, eignete sich in einem Soldatentumult das Amt des Vaters selbst an, ohne den jungen Kaiser zu fragen, und stellte diesen vor vollendete Tatsachen: Deutlicher konnte die Begründung einer Heermeister­Dynastie nicht erwiesen werden, aber schon Ambrosius hatte in religiösen Angelegenheiten mehrfach die Autori­ tät Valentinians bzw. seiner Mutter untergraben. Im Nachhinein wurde Bautos Bedeutung durch die Heirat seiner Tochter Eudoxia mit Arcadius im Frühjahr 395 unterstrichen, als deren Bruder schon nicht mehr lebte. Damit setzte sich die Tradition der Verschwägerung von Kaisern und Oberbefehlshabern fort, die später merkliche Probleme aufwarf.42 Arbogastes ist als Kaisermörder, Kaisermacher und Verlierer der Entscheidungs­ schlacht um die Religion im römischen Reich bekannt geworden. Zuvor aber hatte er seine Fähigkeiten schon als Feldzugsgenosse seines Vaters Bauto in der Funktion eines comes rei militaris gegen die Goten in Thrakien 380 erwiesen, bevor er sich zu dessen Nachfolger beförderte und sogar eine Entlassungsurkunde seines Kaisers in bewußter Provokation ignorierte, womit er eines der wichtigsten Prärogativrechte der Kaiser, die Ernennung und Abberufung der hohen Staatsbeamten, infragestellte und für sich selbst okkupierte: Der fränkische Historiker Gregor von Tours bringt diesen Sachverhalt nach­ haltig auf den Punkt, indem er Valentinian II. sogar als Gefangenen seines Heermei­ sters bezeichnet und alle Staatsmacht als von diesem ausgehend ansieht. Der Erfolg gab Arbogastes vorerst recht, denn seine Aktionen im Feldzug gegen Maximus brachten das Ende des gallischen Gegenkaisertums. Bemerkenswert ist auch die energische Bekämp­ fung der Franken als niederrheinische Gegner Roms, die in der Rache für die frühere Vertreibung aus der Heimat begründet war, doch auch der Integritätsbewahrung Galliens diente. Der epigraphische Nachweis von Bauarbeiten in der niedergermanischen Metro­ pole Köln gehört in diesen Zusammenhang hinein. Daß Arbogastes dabei den letzten be­ zeugten Feldzug jenseits des Rheines leitete, ist seit jeher betont worden. Er zählt damit zu denjenigen nichtrömischen Feldherren, die zugunsten des Imperium Romanum gegen die eigenen Landsleute vorgingen und so ihre Loyalität unter Beweis stellten. Nach dem mit oder ohne Fremdeinwirkung erfolgten Tode Valentinians in seiner Nebenresidenz Vienna am 15. Mai 392 im Alter von 21 Jahren wartete Arbogastes drei Monate auf eine Entscheidung des Theodosius über die Neubesetzung des Kaiseramtes im Westen, wobei er sogar eine Gesandtschaft zu ihm schickte, um den Vorwurf des Kaisermordes zurück­ 42

Bauto: Seeck: RE III 1. 1897. Sp. 176; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 11–14, 21f., 24–27, 68; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 63; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 600, 607f.; Waas: Germanen (Anm. 3). S. 77–79; PLRE I. S. 159f.; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 177, 214; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 304f., 652f.; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 145, 152f., 315, 317; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 156, 160, 165, 190, 192, 210, 217, 312, 382.

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zuweisen. Doch als er dann, weil er sich als desavouiert ansah, mit Eugenius einen ei­ genen Augustus ausrufen ließ, überschätzte er seine Möglichkeiten. Der Ausgang des neuen Bürgerkrieges, eines weiteren Schrittes zur Desorganisation des Reichswestens, beendete auch die von ihm bestimmte Rückbesinnung auf die traditionelle Religion und ermöglichte die endgültige Durchsetzung des von Ambrosius dominierten Christentums. Das Scheitern seiner religiösen und militärischen Zielsetzungen am 6. September 394 in der Schlachtniederlage am Frigidus quittierte Arbogastes konsequent mit seinem Selbst­ mord, was das bisher deutlichste Eingreifen eines Heermeisters in die Politik ohne hin­ tergründige Maskierung beendete. Der Franke hatte jedoch hiermit Maßstäbe gesetzt, die andere Protagonisten in derselben Funktion aufgriffen und weiter vorantrieben.43

Die theodosianische Dynastie nach Theodosius I.: Niedergang und Agonie Schon in der Antike galt für einen der wichtigsten germanischen Heermeister, Flavius Stilicho, der Ausspruch Friedrich Schillers: „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“. Einige Inschriften beschreiben seine Laufbahn im Staatsdienst und betonen ausdrücklich, wie wichtig die Kaisernähe erachtet wurde. Sie erreichte bei ihm mit der angeheirateten Verwandtschaft zur domus divina eine besondere Qualität, seitdem es Theodosius I. dem aufstrebenden Offizier im Jahre 384 erlaubt hatte, seine Nichte und Adoptivtochter Serena zu heiraten. In früherer Zeit hatte etwa der Prätorianerpräfekt Fulvius Plautianus seine Verwandtschaft mit der severischen Kaiserfamilie mit ähnlichen Worten beschrieben, doch wie diesem gereichte auch Stilicho diese Stellung am Ende nicht zum Wohle, weil er wie Plautianus umgebracht wurde.44 43

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Arbogastes: Seeck: RE II 1. 1895. Sp. 415–419; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 12–14, 24–29, 51, 62; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 60f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 608– 612; PLRE I. S. 95–97; Waas: Germanen (Anm. 3). S. 70–73; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 225, 238f., 247; Brian Croke: Arbogast and the Death of Valentinian II. In: Historia. 25. 1976. S. 235–244; Ders.: The Editing of Symmachusʼ Letters to Eugenius and Arbogast. In: Latomus. 35. 1976. S. 533–549; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 7–13, 22–24; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 315–319; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 156, 165–167, 189f., 210, 217, 256, 312, 317. Die Kölner Bauinschrift ist CIL XIII 8262 = ILS 790, die charakteristische Aussage Gregors von Tour, die beinahe eine Würdigung des Landsmannes darstellt, lautet ausführlich: clauso apud Viennam palatii aedibus principe Valentiniano paene infra privati modum redacto, militaris rei cura Francis satellitibus tradita, civilia quoque officia transgressa in coniurationem Arbogastis; nullusque ex omnibus sacramentis militiae obstrictis reperiebatur qui familiari principis sermoni aut iussis obsequi auderet. Stilichos Person und Wirken: Theodor Mommsen: Stilicho und Alarich. In: Hermes. 38. 1903. S. 101–115; Seeck: RE III A 2. 1929. Sp. 2523f.; Santo Mazzarino: Stilicone. La crisi imperiale dopo Teodosio. Rom 1942; Rau: Heermeister (Anm. 3). S. 87f.; Lászlo Várady: Stilicho proditor arcani imperii. In: Acta Antiqua Hungariae (AAntHung). 16. 1968. S. 413–432; Alan D. Cameron: Theodosius the Great and the Regency of Stilico. In: HStCPh. 73. 1969. S. 247–280; Demandt: Ma­ gister militum (Anm. 3). Sp. 613–628; PLRE I. S. 853–858; Hans­Joachim Diesner: Das Buccel­ lariertum von Stilicho und Sarus bis auf Aetius (454/455). In: Klio 54. 1972. S. 321–350; Herbert R.

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Aus den Inschriften erfährt man exemplarisch den Aufstieg eines von Anfang an be­ vorzugten Mannes, dessen Vater als Reiteroffizier gedient hatte: Nach einem kurzen, unbekannten Laufbahnbeginn wurde Stilicho tribunus praetorianus, eine Art Ordonanz­ offizier am Kaiserhofe, und nahm 383 an einer Gesandtschaft nach Persien teil. Danach erhielt er als comes sacri stabuli die Aufsicht über die kaiserlichen Stallungen und be­ ging damals seine Heirat mit Serena. Nach der Beförderung zum comes domesticorum befehligte er jahrelang einen Teil der Gardetruppen zu Fuß und zu Pferde und nahm am Feldzug gegen Maximus teil. 392 wurde er zum magister militum in Thrakien ernannt und empfing einen Kaisererlaß, der dokumentiert, daß er noch nicht die oberste Spitze der Militärhierarchie erreicht hatte. Den Feldzug gegen Eugenius und Arbogastes führte er dann aber als jüngerer Kollege des Timasius an. Anschließend übertrug ihm Theodosius die leitende Heeresführung im Westen, an die sich die umstrittene Frage knüpft, ob der Kaiser seinen cognatischen Verwandten mit der tutela über seinen jüngeren Sohn Hono­ rius allein oder auch über den älteren Arcadius betraute, als er unvermutet Mitte Januar 395 in Mailand verstarb. Bereits die zeitgenössischen Autoren waren sich darüber uneins und beantworteten diese Frage je nach ihrer Affinität zum Protagonisten, dessen Tätigkeit aufgrund der aktuellen Situation so stark im Rampenlicht stand wie bei keinem seiner Amtsvorgänger. Sein Hauptpropagandist Claudianus tat sich durch einige Panegyrici auf Stilicho und Serena sowie Schmähschriften gegen dessen politische Gegner in Konstan­ tinopel hervor, welche außer dem überbordenden Ruhm des Gefeierten auch historische Details enthalten, die zur Kenntnis der politischen Lage beitragen, doch kann er nicht alle Fragen nach den Handlungen und Motiven der entscheidenden Personen beantworten.45

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Minn: Stilicho and the Demise of the Western Empire. In: Prudentia. 4. 1972. S. 23–32; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 248f., 257–286; Gerhard Albert: Stilicho und der Hunnenfeldzug des Eutropius. In: Chiron. 9. 1979. S. 621–645; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 14–62; Arnaldo Marcone: Stilicone ,Parens Publicusʻ. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik (ZPE). 70. 1987. S. 222–224; Bente Kiilerich/Hjalmar Torp: Hic est: hic Stilicho. The Date and Interpreta­ tion of a Notable Diptych. In: JdI. 104. 1989. S. 319–371; Adolf Lippold: Principes pueri – parens principum. Timesitheus – Stilicho? Constantius? Aetius? In: Werner Dahlheim/Wolfgang Schuller/ Jürgen von Ungern­Sternberg (Hg.): Festschrift Robert Werner zu seinem 65. Geburtstag. Konstanz 1989. S. 213–227; Ralf Scharf: Aufrüstung und Truppenbenennung unter Stilicho. Das Beispiel der Atecotti­Truppen. In: Tyche. 10. 1995. S. 161–178; Ders.: Die Kanzleireform des Stilicho und das römische Britannien. In: Historia. 39. 1990. S. 461–474; Tido Janßen: Stilicho. Das weströmische Reich vom Tode des Theodosius bis zur Ermordung Stilichos (395–408). Marburg 2004; Emma Burrell: A Reexamination of Why Stilicho Abandoned His Pursuit of Alaric in 397. In: Historia. 53. 2004. S. 251–256; Nicoletta Brocca: Il proditor Stilicho e la distruzione dei Libri Sibyllini. In: Isabella Gualandri/Fabrizio Conca/Raffaele Passarella (Hg.): Nuovo e Antico nella Cultura Greco­Latina di IV–VI secolo. Mailand 2005. S. 137–184; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 157, 170–177, 256, 260, 312, 331, 337, 383, 385f., 427, 606. Claudians Darstellung Stilichos: James H. Crees: Claudian as an Historical Authority. Rom 1968; Alan D. Cameron: Notes on Claudianʼs Invectives. In: Classical Quarterly (ClQ). 18. 1968. S. 387– 411; Ders.: Claudian. Poetry and Propaganda at the Court of Honorius. Oxford 1970; John F. Nolan: Claudian. Poet of Peace and Unity in the Later Empire. Diss. Seattle 1973; Peter L. Schmidt: Politik und Dichtung in der Panegyrik Claudians. Konstanz 1976; Siegmar Döpp: Zeitgeschichte in Dich­ tungen Claudians. Wiesbaden 1980; Petra Riedl: Die Romidee Claudians. In: Gymnasium. 102. 1995. S. 59–72; Alan D. Cameron: Claudian Revisited. In: Franca Ela Consolino (Hg.): Letteratura e propaganda nellʼoccidente latino da Augusto ai regni romanobarbarici. Rom 2000. S. 127–144;

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Dazu zählt diejenige, warum Stilicho den ersten seiner beiden Konsulate erst im Jahre 400 erreichte. Da für 396 naturgemäß die beiden neuen Kaiser vorgesehen wurden und sich danach bis 399 die inneren Auseindersetzungen entspannen, so daß um des Einver­ nehmens zwischen den beiden Reichsteilen willen Stilicho kein Konsul werden konnte, blieb nur 400 nach dem Sturz des Eutropius in Konstantinopel übrig.46 Die Rivalitäten zwischen den Drahtziehern, die anstatt der beiden Kinderkaiser die Regierungsgeschäfte führten, stürzten das römische Reich in die fundamentale Krise, die den Untergang des Kaisertums im Westen und die Auflösung seines Staatsgebietes zur Folge hatte. Stilicho konnte zwar seine Konkurrenten Rufinus und Eutropius ausschalten, doch erst nachdem die Auseinandersetzungen bereits große Breschen in die Verteidi­ gungsfähigkeit geschlagen hatten: Westgoten, Alamannen, Franken, Vandalen, Alanen und andere Völkerstämme profitierten von den inneren Schwierigkeiten, und Stilicho konnte nur noch reagieren. Die Revolte des Regionalheermeisters von Afrika, Gildo, ver­ mochte er zwar 398 niederzuwerfen, der Emazipationsbestrebungen der Westgoten unter ihrem Heerkönig Alarich aber konnte er nicht Herr werden, obwohl einige Siege wie bei Pollentia 402 und Faesulae 406 erfochten wurden. Als sich dann 407 Konstantin III. zum Gegenkaiser in Britannien und Gallien aufschwang und im Frühjahr 408 Arcadius in Konstantinopel starb, wollte Stilicho beidesmal eingreifen, doch folgten ihm aufgrund ei­ ner Hofintrige die Soldaten nicht, brachten seine Anhänger um und ein Offizier tötete ihn in Ravenna selbst. Vorgeblicher Grund war die Behauptung, Stilicho arbeite darauf hin, seinen Sohn Eucherius zum Nachfolger des Honorius aufzubauen. Damit fand der bis dahin wirkungsmächtigste Heermeister einen zwangsläufigen Tod, weil ihn der Kaiser, den er zu lenken meinte, nicht mehr unterstützte. Daß zwei Jahre später Alarichs Westgo­ ten die 800 Jahre lang von äußeren Feinden unbehelligt gebliebene alte Reichshauptstadt Rom einnahmen, war konsequente Folge des Sturzes eines Mannes, der sich stets für die Belange des Imperium Romanum eingesetzt und diesem in den wechselvollen Jahren nach dem Tode von Theodosius I. trotz gegenteiliger Aussagen von damals und heute die Treue gehalten hatte.47

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Fritz Felgentreu: Quomodo Claudianus in Stilichone consule laudando Ciceronem poetam imitatus sit. In: Hyperboreus. 7. 2001. S. 276–282; Ders.: Wie ein Klassiker gemacht wird. Literarischer Anspruch und historische Wirklichkeit bei Claudian. In: Gabriele Thome/Jens Holzhausen (Hg.): Es hat sich viel ereignet, Gutes wie Böses. Lateinische Geschichtsschreibung der Spät­ und Nach­ antike. München/Leipzig 2001. S. 80–104; Michael Dewar: Spinning the Trabea: Consular Robes and Propaganda in the Panegyrics of Claudian. In: Jonathan Edmondson/Alison Keith (Hg.): Ro­ man Dress and the Fabrics of Roman Culture. Toronto/Buffalo/London 2008. S. 217–237. Stilichos Konsulate behandeln eigens Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 334f. und S. 662 bzw. S. 344f. und S. 664f. Gemeinsam ist beiden Jahren, daß im Westen anfänglich die östlichen Konsuln nicht anerkannt wurden. Zu zeitgeschichtlichen Apekten der claudianischen Werke: Monika Balzert: Die Komposition des claudianischen Gotenkriegsgedichtes c. 26. Diss. Tübingen 1973; Siegmar Döpp: Claudianʼs In­ vektive Against Eutropius as a Contemporary Historical Document. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft. 4. 1978. S. 187–196; Erich Potz: Claudians In Rufinum. Invektive und Laudatio. In: Philologus. 134. 1990. S. 66–81; Michael Dewar: The Fall of Eutropius. In: ClQ. 40. 1990. S. 582–584; Ders.: Hannibal and Alaric in the Later Poems of Claudian. In: Mnemosyne. 47. 1994. S. 349–372; Jacqueline Long: Claudianʼs In Eutropium or, How, When, and Why to Slander a Eunuch. Chapel Hill/London 1996; Peter Hajdu: Poetics of an Unfinished Poem: Claudianʼs De

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Stilicho ist der antiken wie heutigen Nachwelt in verschiedener Form im Gedächtnis geblieben. Die literarische Überlieferung besteht aus historiographischen Darstellungen sowie den poetischen Werken des Claudianus. Die epigraphische Tradition beinhaltet die Bauinschriften für die Renovierung der Aurelianischen Mauer an der Porta Praenestina und der Porta Tiburtina sowie der Aqua Marcia am Aniene­Fluß südlich von Arsoli und die den beiden Kaisern und Stilicho gemeinsam wie auch dem Feldherrn allein gewid­ meten statuarischen Ehrungen, deren Inschriftenbasen erhalten blieben, obwohl Stilichos Name verschiedentlich der abolitio nominis zum Opfer fiel.48 Dazu kommen zwei be­ deutende Schöpfungen des Kunsthandwerks. Eine im Sarkophag der Maria, der älteren Tochter Stilichos und erster Gattin des Honorius, gefundene Goldbulle bildet auf beiden Seiten die Namen sämtlicher Familienangehöriger in Form je eines Chirho ab und drückt so ihre zumindest nominelle Zusammengehörigkeit aus. Das andere Dokument steht seit jeher im Blickpunkt der Öffentlichkeit wie der Forschung, die beiden Elfenbeintafeln im Domschatz von Monza. Sie werden als Darstellungen von Stilicho auf der einen und von Serena und beider Sohn Eucherius auf der zweiten verstanden. Immer wieder vor­ gebrachte Einwände gegen diese Interpretation sind zwar verständlich, können aber die seit geraumer Zeit gültige Auffassung nicht erschüttern: Die filigrane, mit verschiedenen Nobilitierungselementen wie den Bögen hinter den Personen ausgestattete Darstellung zweier erwachsener Personen aus der obersten Führungsschicht und eines erwachsen ge­ kleideten Knaben, von denen der Mann eindeutig als Militärbefehlshaber gekleidet ist, kann zwanglos mit den drei genannten Personen verbunden werden. Die Kaisernähe des Heermeisters verdeutlichen die beiden kleinen Büsten auf seinem Schild, die analog zu den Truppenfeldzeichen die beiden gemeinsam regierenden Augusti meinen.49

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bello Gildonico. In: AAntHung. 37. 1996/1997. S. 89–113; Emma Burrell: Claudianʼs in Eutropium liber alter: Fiction and History. In: Latomus. 62. 2003. S. 110–138; Andrea Scheithauer: Gildo und seine Revolte im Spiegel der Dichtungen Claudians. In: Angela Hornung/Christian Jäkel/Wer­ ner Schubert (Hg.): Studia Humanitatis ac Litterarum Trifolio Heidelbergensi dedicata. Festschrift für Eckhard Christmann, Wilfried Edelmaier und Rudolf Kettemann. Frankfurt a. M. u. a. 2004. S. 309–328; Catherine Ware: Gildo tyrannus: Accusation and Allusion in the Speeches of Roma and Africa. In: Widu­Wolfgang Ehlers/Fritz Felgentreu/Stephen M. Wheeler (Hg.): Aetas Claudia­ nea. München/Leipzig 2004. S. 96–103; Henriette Harich­Schwarzbauer: Das „dritte Geschlecht“. Zur Eunuchenherrschaft in Claudians Invektive gegen Eutrop. In: Robert Rollinger/Christoph Ulf (Hg.): Frauen und Geschlechter. Bilder – Rollen – Realitäten in den Texten antiker Autoren der römischen Kaiserzeit/Mittelalter. Wien/Köln/Weimar 2006. S. 105–122. Die Inschriften für Stilicho selbst sind CIL VI 1730 und 1731 + p. 4746 = ILS 1277f. und CIL VI 41382 (Ehreninschriften auf Statuenbasen) sowie 1732–1734 (Bronzetäfelchen). Dazu kommen die drei Dokumente zur Mauerrenovierung CIL VI 1188–1190 = ILS 797 an den Toren (diejenige an der Porta Portuensis ist verloren), die beiden Inschriften zum Gotensieg, nämlich CIL VI 1196 = ILS 798 und CIL VI 31987 = ILS 799 und für die Renovierung der Wasserleitung am Aniene CIL IX 4051 = ILS 795. Zur Aussage der Goten­Inschriften siehe kurz Veit Rosenberger: Bella et expeditiones. Die antike Terminologie der Kriege Roms. Stuttgart 1992. S. 126. Zum Elfenbeindiptychon: Delbrück: Consulardiptychen (Anm. 36). S. 242–248; Marilena Abbate­ paolo: Il dittico di Stilicone nel Duomo di Monza. In: Invigilata lucernis. 27. 2005. S. 11–23; Dome­ nico Lassandro: I „diptycha eburnea“ tardoantichi e il Die Consulardiptychen di Richard Delbrueck. In: Massimiliano David (Hg.): Eburnea Diptycha. I dittici dʼavorio tra Antichità e Medioevo. Bari 2007. S. 73–77; Rainer Warland: Ein Bildnis Stilichos? Das Diptychon von Monza. In: Das König­

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Indirekter Nachfolger Stilichos wurde der dritte Heermeister, der auch sich den Zu­ tritt ins Kaiserkollegium zu verschaffen wußte, und zwar Flavius Constantius, mit der modernen Bezeichnung Constantius III. kurzzeitiger Augustus im Jahre 421. Er arbei­ tete sich als originärer Römer, der aus Naissus stammte, aufgrund seiner Erfolge gegen Goten und Gegenkaiser zu einer bedeutenden Stellung empor. Die Ausschaltung eines Rivalen am Hofe, des magister officiorum Olympius, der für die Ermordung Stilichos verantwortlich war, bedeutete nach früheren unbekannten Funktionen einen Erfolg, der Constantius spätestens das Amt des comes et magister utriusque militiae einbrachte, in dem er wenigstens sieben Kaisererlasse empfing. Der völlig ungewöhnliche dreifache Konsulat in den Jahren 414, 417 und 420 honorierte die Vernichtung des Gegenkaisers Konstantin III. 411, die Abwehr des Angriffes des afrikanischen Usurpators Heraclianus auf Italien im Frühjahr 413, die Vertreibung der Westgoten aus Gallien nach Hispanien, die Gefangennahme des zweifachen Gegenkaisers Priscus Attalus, den Abschluß eines Föderatenvertrages mit den Goten, deren Ansiedlung in der Provinz Aquitania Secunda und die Rückgabe der Stiefschwester des Honorius, Galla Placidia, aus gotischer Ehren­ haft nach dem Tode ihres ersten Gatten, des Königs Athaulf. Darüberhinaus wurden die letzten beiden Konsulate in ehrenvoller Weise zusammen mit Honorius bekleidet. Als erster Heermeister erhielt Constantius spätestens 414 zusätzlich die Würde eines patricius, die seitdem zum entscheidenden Distinktiv für den leitenden Militäroberbefehlshaber wurde. Aus diesem Grunde erschien die Heirat mit Galla Placidia am 1. Januar 417, dem Anfangstag des zweiten Konsulates, nur als logische Konsequenz: So tritt hier ein weiteres Mal die cognatische Verwandtschaft mit der domus divina als auschlaggeben­ des Element für die Erringung der politischen Entscheidungsmacht auf. Damit war die Kaisernähe ohne Bruch erreicht, und die allerdings vom östlichen Kaiser Theodosius II. nicht anerkannte Erhebung zum zweiten Kaiser im Westen ist gleichfalls als folgerichtig einzustufen, zumal der neue Augustus zuvor wie Stilicho den Ehrentitel parens principum erhalten hatte. Überdies waren aus der Ehe bereits zwei Kinder hervorgegangen, die in selbstverständlicher Weise als Angehörige der theodosianischen Kaiserfamilie anerkannt wurden: Einer von beiden war der spätere Augustus Valentinian III., der seine eigene Er­ fahrung mit den in der Person des Aëtius kulminierenden Heermeistern zu machen hatte. Bei den zeitgenössischen Historikern erfuhr Constantius eine in jeder Hinsicht vorzügli­ che Einstufung, die vor allem seine Selbstlosigkeit für das Wohl des Staates hervorhob. Dies kommt in einer Ehreninschrift zum Ausdruck, die ihn am Anfang als reparator rei publicae et parens invictissimorum principum tituliert und vom römischen Stadtpräfek­ ten Aurelius Anicius Symmachus gestiftet wurde, einem Neffen des berühmten Redners Symmachus. Schließlich sind zwei Elfenbeindiptycha erhalten, die ihn in üblicher Form bei der Eröffnung der Wagenrennen aufgrund seines Amtsantritts als consul II zeigen.50

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reich der Vandalen. Erben des Imperiums in Nordafrika. Mainz 2009. S. 98. Als Interpretationsalter­ native kommen nur Constantius III., Galla Placidia und Placidus Valentinianus in Betracht. Constantius: Seeck: RE IV 1. 1900. Sp. 1099–1102, s. v. Constantius 9; Delbrück: Consulardipty­ chen (Anm. 36). S. 87–93 und S. 156–158; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 253, 257; Ste­ wart I. Oost: Galla Placidia Augusta. Chicago/London 1968; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 629–633; PLRE II. S. 321–325; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 302, 312f., 317–319,

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Der nächste erwähnenswerte Heermeister, Flavius Felix, ging als tragische Figur in die Geschichte ein, weil er im Machtkampf einem Konkurrenten unterlag. Aus unbekannten früheren Ämtern aufgestiegen, wurde er 425 nach der Niederwerfung des Usurpators Jo­ hannes gleichzeitig zum comes et magister utriusque militiae et patricius befördert und ist daher als Anhänger des neuen Kaisers Placidus Valentinianus anzusehen, den ein aus dem Osten entsandtes Expeditionsheer inthronisiert hatte. In seinem Konsulat von 428 ist er zusammen mit seiner Gattin inschriftlich als Stifter des originalen Apsismosaikes in der Basilika S. Giovanni in Laterano bezeugt, was seine christliche Religion erweist; für einen seiner Nachfolger ist eine ähnliche Stiftung überliefert. Überdies ist sein Konsulat auch durch ein Elfenbeindiptychon wie bei Constantius dokumentiert. Im Mai 430 fie­ len Felix und seine Gattin jedoch einer Intrige zum Opfer, die sein seit 429 amtierender Amtskollege inszeniert hatte.51 Die insgesamt längste Zeit, während der ein Heermeister als „starker Mann“ in Kaiser­ nähe am westlichen Hofe wirken konnte, nämlich annähernd 25 Jahre lang, war Flavius Aëtius beschieden, der mit Recht als „letzter Römer“ bezeichnet wird. Auch er wurde mit einer uns bekannten Inschrift gewürdigt, allerdings schon im Jahre 439, also etliche Zeit vor seinem Tode: Dieses im Atrium Libertatis in Rom aufgestellte Dokument sagt daher nichts über die nachfolgenden Jahre und wegen des Fehlens zumindest der ersten Zeile auch über die frühen nichts aus, weshalb man auf die literarische Überlieferung angewiesen ist.52 Diese weist ihn als Sohn des aus der Provinz Scythia stammenden, auf­

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354f., 377f.; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 63–73; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 362f., 368f., 374f. und S. 668f.; Werner Lütkenhaus: Constantius III. Studien zu seiner Tätigkeit und Stellung im Westreich 411–421. Bonn 1998; Drinkwater: Alamanni (Anm. 4). S. 320–326; De­ mandt: Spätantike (Anm. 3). S. 170, 180f., 312, 338, 384; Giovanni E. Cecconi: Lineamento di storia del consolato tardo antico. In: Eburnea Diptycha (Anm. 49). S. 109–127; Valeria Marotti: Gli spetta­ coli in epoca tardoantica. I dittici come fonte iconografica. In: Ebd. S. 245–266. Die Ehreninschrift ist CIL VI 1719 = ILS 801; eine fragmentarische Ehrung für Galla Placidia bietet jetzt CIL VI 40804. Felix: Seeck: RE VI 2. 1909. Sp. 2167f., s. v. Felix 12; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 653f.; PLRE II. S. 461f. (mit falscher Namensnennung); O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 76–79, 102; Giuseppe Zecchini: Aezio. L’ultima difesa dell’occidente romano. Rom 1983. S. 34f., 50, 72f., 141–154, 232f.; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 390f.; Demandt: Spätan­ tike (Anm. 3). S. 184. Die Inschrift zur Mosaikstiftung ist Inscriptiones Latinae Christianae urbis (ILCV) 1293 = ILS 1293, das Diptychon CIL XIII 10032, 1 = ILS 1298, besprochen bei Delbrück: Consulardiptychen (Anm. 36). S. 93–95. Aëtius: Seeck: RE I 1. 1894. Sp. 701–703, s. v. Aetius 4; Theodor Mommsen: Aetius. In: Hermes. 36. 1901. S. 516–547; Stewart I. Oost: Aetius and Majorian. In: Classical Philology (ClPh). 59. 1964. S 23–29; Ulf Täckholm: Aetius and the Battle on the Catalaunian Fields. In: Opuscula Romana (ORom). 1969. S. 257–276; Briggs L. Twyman: Aetius and the Aristocracy. In: Historia. 19. 1970. S. 480–503; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 654–659; Werner Dahlheim: Aetius. In: Real­ lexGerm Altert I. 2. Aufl. 1973. S. 91f.; John R. Moss: The Effects of the Policies of Aetius on the History of Western Europe. In: Historia. 23. 1973. S. 711–731; Matthews: Aristocracies (Anm. 23). S. 329f., 337–339, 379–381; Santo Mazzarino: Aezio, la Notitia Dignitatum e i Burgundi di Worms. In: Renania Romana. Rom 1976. S. 297–315; PLRE II. S. 21–29, s. v. Aetius 7; Giuseppe Zecchini: La politica religiosa di Aezio. In: Marta Sordi (Hg.): Religione e politica nel mondo antico. Mai­ land 1981. S. 250–277; Ders.: Aezio (Anm. 51); Ders.: Lʼimitatio Caesaris di Aezio. In: Latomus. 44. 1985. S. 124–142; Ders.: Aezio ventʼanni dopo. In: Mediterraneo Antico. 7. 2004. S. 447–458; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 74–103; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 398f., 408f., 426f., 672 und S. 674; Hartmut Leppin: DNP. I. 1996. S. 210f.; Ders.: Aetius. In: Michael Sommer

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grund seiner Heirat über Grundbesitz in Italien verfügenden und unter Honorius tätigen Gaudentius aus, der die comitiva Africae, während der er in einem Kaisererlaß von 399 genannt wird, ausübte und später zum Amt des magister equitum per Gallias aufstieg, als der er wohl 407 in einer Soldatenrebellion ums Leben kam. Wegen der Zerstörung von Tempeln in Karthago gelangte er sogar zur Ehre, von Augustinus erwähnt zu werden. Man hat es daher erneut mit einer Heermeisterfamilie zu tun, in der die zweite Generation den Höhepunkt des Einflusses errang.53 Die Jugend des Aëtius stellt sich als Konsequenz der Auflösungserscheinung im west­ lichen Reichsteil dar, denn zuerst trat er in einer zuvor undenkbaren Funktion hervor, nämlich als Geisel bei Alarichs Westgoten zwischen 405 und 407 und einige Zeit später bei den Hunnen, wo er deren Kampfestechnik studierte. Wann er danach die eher als Sinekure aufzufassende Stellung eines tribunus praetorianus wie früher Stilicho erhielt, bleibt offen. Erst 423 wurde er vom Usurpator Johannes zum Palastverwalter als cura palatii befördert, gewann mit entsprechenden Geldmitteln die Hunnen für dessen Unter­ stützung im Machtkampf um die Herrschaft in Ravenna, kam aber mit Hilfstruppen zu spät, um die Entscheidung noch wenden zu können. An diesem Punkte erwies er sich ein erstes Mal als gewitzter Taktiker der Macht, denn er vermochte in Verhandlungen mit der neuen Regierung der Augusta Galla Placidia eine Entschädigung für sich auszuhandeln, die in der Ernennung zum magister equitum per Gallias bestand, wo er im Kampfe ge­ gen Westgoten und Franken die nominelle Suprematie des Reiches einigermaßen wahren konnte. 429 zum Kollegen des Felix als zweiter magister utrusque militiae praesentalis befördert, stürzte er sich in Intrigen um den Aufstieg zum alleinigen Machthaber, die für erneute Verwirrung im Westen sorgten. In seinem Konsulatsjahr 432 geriet er nach der Ermordung des Felix, einem Sieg über Juthungen und erneutem Erfolg gegen die Franken in Konflikt mit Galla Placidia, die als Konkurrenten den ihr gut vertrauten comes Africae Bonifatius, der in Personalunion auch nomineller comes domesticorum war, mit dem Heermeisteramt ausstattete und ihn sogar zum patricius ernannte. Dieser war einige Zeit zuvor temporäres Opfer einer Intrige des Felix geworden und soll damals die Vandalen zu seiner Hilfe nach Afrika gerufen haben. Im offenen Machtkampf siegte Bonifatius und vertrieb Aëtius zu den Hunnen, doch verstarb er kurz danach an einer Verletzung aus der Schlacht bei Rimini. Eine Verklärung dieses Geschehens offenbart sich im angeblichen Ratschlag des Sterbenden, seine Frau Pelagia solle nur Aëtius heiraten. Als dieser 433

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(Hg.): Politische Morde. Vom Altertum bis zur Gegenwart. Darmstadt 2005. S. 80–88; Timo Stickler: Aetius. Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich. München 2002; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 9–14; Gilbert Sincyr: Lʼépopée dʼAetius, dernier géneral de la Rome antique. Coulommiers 2006; Peter Heather: Der Untergang des römischen Weltreiches. Stuttgart 2007. S. 301–347, 426–432; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 184–191, 205f., 312f., 337f., 590; Bruno Bleckmann: Attila, Aetius und das „Ende Roms“. Der Kollaps des Weströmischen Reiches. In: Meier: Sie schufen Europa (Anm. 2). S. 93–110. Gaudentius: Seeck: RE VII 1. 1912. Sp. 859, s. v. Gaudentius 6; Demandt: Magister Militum (Anm. 3). Sp. 641; PLRE II. S. 493f., s. v. Gaudentius 5 (Heermeister in Gallien vor 425); Zecchini: Aezio (Anm. 51). S. 20, 115–119, 134–137 (Ermordung 425 als Anhänger des Usurpators Johannes), 242f.; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 182, 184 (keine Spezifizierung). Wegen der Nennung bei Gregor von Tours dürfte Gallien richtig sein, nur die Datierung ist fraglich: Es wird um 407 gewesen sein, denn ein magisterium viel später als die comitiva, erst 423, kommt kaum in Betracht.

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den neuen Machtkampf gegen den Nachfolger und Schwiegersohn des Bonifatius, Seba­ stianus, gewann und diesen in den Osten vertrieb, heiratete er tatsächlich die Witwe und gewann dadurch dessen Anhänger als Verstärkung der eigenen Leibgarde. Sebastianus aber wurde nach langen Irrwegen am Hofe des Vandalenkönigs Geiserich in Karthago um 450 ermordet. Nach diesen singulären Auseinandersetzungen um das Reichsfeldherrnamt war Aëtius unbestrittener Machthaber im Westen, doch wurden die ohnehin nur noch schmalen Ressourcen des westlichen Reichsteiles entscheidend geschwächt.54 Bekanntlich vermochte Aëtius, der seit dem 5. September 435 auch patricius war, 436 das Burgunderreich um Worms durch hunnische Hilfstruppen auszulöschen, woraufhin die Besiegten in Südostgallien angesiedelt wurden; die hieraus erwachsene Nibelun­ gensage vermengt dieses Ereignis in souveräner Weise mit späteren Geschehnissen. Nach seinem zweiten Konsulat 437 konnte er einen Sieg gegen die Westgoten in Gallien am unbekannten Mons Colubrarius erringen, doch mußte im Jahr der Inschriftsetzung, 439, den Vandalen in Afrika die Unabhängigkeit zugestanden werden. Danach agierte der Reichsfeldherr abwechselnd in Gallien und Italien, um die im Reichsgebiet anwe­ senden germanischen und sonstigen Völkerschaften durch Verträge zur Anerkennung der nominellen Suprematie Roms zu veranlassen. Im Jahre 446 übte er zum dritten Mal den Konsulat aus, wodurch er mit Constantius gleichzog. Einem damaligen Ansuchen um Militärhilfe gegen die Feinde in Britannien konnte er allerdings nicht nachkommen, was die entfernteste Region des Reiches endgültig an die Sachsen und Angeln auslieferte. Der berühmteste Militärerfolg gelang Aëtius 451 in der Schlacht gegen Attilas Hunnen auf den sogenannten Katalaunischen Feldern, doch bestand sein Heer vornehmlich aus Föderatentruppen, darunter die Westgoten unter ihrem König Theoderich I., aber auch die Hunnen hatten ihre Verbündeten, unter ihnen Ostgoten, Alanen und Gepiden, aufge­ boten. Der Expansionswille Attilas bewirkte die Umkehrung der Bündnisse, denn Aëtius hatte seine Verbindung zu dessen Vorgänger Rua geknüpft, während Attila vorher aus­ schließlich mit dem östlichen Reichsteil zu tun gehabt hatte. Nach außen führte die Bitte um Unterstützung durch Valentinians Schwester Iusta Grata Honoria zum Vorstoß nach Gallien, doch Attila kam sie nur recht. Sein Rückzug nach Osten und der Abbruch des Vorstoßes nach Oberitalien 452 verschafften Aëtius den letzten Erfolg seiner Karriere.55 54

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Bonifatius: Seeck: RE III 1. 1897. Sp. 698f., s. v. Bonifatius 1; Johannes L. de Lepper: De rebus gestis Bonifatii comitis Africae et magistri militum. Tilburg­Breda 1941; Hans­Joachim Dies­ ner : Die Laufbahn des comes Africae Bonifatius und seine Beziehungen zu Augustin. In: Ders.: Kirche und Staat im spätrömischen Reich. 2. Aufl. Berlin 1964. S. 100–127; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 655–657; PLRE II. S. 237–240, s. v. Bonifatius 3; O’Flynn: Generalissi­ mos (Anm. 3). S. 75–81, 102; Zecchini: Aezio (Anm. 51). S. 24–26, 30–36, 50–76 passim, 95f., 102, 106f., 129f., 133–165 passim; Hartmut Leppin: DNP II. 1997. S. 744; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 181–185. Sebastianus: Seeck: RE II A 1. 1921. Sp. 954f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 657; PLRE II. S. 983f., s. v. Sebastianus 3; Zecchini: Aezio (Anm. 51). S. 69, 73, 102, 161–165, 181f., 190, 195f.; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 185. Attila: Seeck: RE II 2. 1896. Sp. 2241–2247; John B. Bury: Iusta Grata Honoria. In: Journal of Roman Studies (JRS). 9. 1919. S. 1–13; Franz Altheim: Attila und die Hunnen. Baden­Baden 1951; Helene Homeyer: Attila. Der Hunnenkönig von seinen Zeitgenossen dargestellt. Ein Beitrag zur Wertung geschichtlicher Größe. Berlin 1951; Edward A. Thompson: A History of Attila and the Huns. Oxford 1948; Joachim Werner: Beiträge zur Archäologie des Attila­Reiches. 2 Bde. München

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Die im Tode Attilas 453 gipfelnde Minderung der Hunnengefahr sah der Reichsfeldherr als letzten Grund dafür an, wie Constantius eine Heiratsverbindung mit dem Kaiserhaus anzustreben. Wegen des eigenen Alters von über 60 Jahren suchte er seinen Sohn Gau­ dentius mit der Kaisertochter Placidia zu vermählen, was Valentinian zugestand. Jedoch überzeugten 454 zwei Gegner des Heermeisters, der Senator Petronius Maximus und der primicerius sacri cubiculi Heraclius, den Kaiser davon, Aëtius wolle seinem Sohne die Herrschaft verschaffen. Der ohnehin wankelmütige, nun 35jährige Valentinian ließ sich dazu hinreißen, Aëtius am 21. September 454 im palatium in Rom eigenhändig zu tö­ ten. Dieser letztmögliche Befreiungsschlag war zugleich der letzte Versuch eines Kaisers im Westen, sich gegenüber einem übermächtigen Heermeister durchzusetzen. Allerdings konnte sich der scheinbare Gewinner seines Erfolges nicht lange erfreuen, weil er be­ reits im folgenden Frühjahr selbst umgebracht wurde. Besonders charakteristisch aber ist das Bemühen des Kaisers, durch Gesandtschaften an die föderierten Völkerschaften das Fortgelten der abgeschlossenen Verträge zu betonen: Da der römische Vertragspart­ ner faktisch Aëtius gewesen war, galt es Westgoten, Vandalen, Franken, Alamannen und Sueben zu überzeugen, sie nicht als gegenstandslos anzusehen. Schon die zeitgenössi­ sche Literatur verstand die Situation, in die das hesperium regnum nun gekommen war, als entscheidende Schwächung nach innen wie außen: Der Chronist Marcellinus Comes schätzte die Ermordung mit Recht als Anfang vom Ende des Kaisertums im Westen ein.56 Nicht nur die Ehreninschrift für Aëtius kündet heutzutage als direktes Dokument von seiner politisch­militärischen Dominanz. Im Proömium des Codex Theodosianus sind au­ ßer den Lobpreisungen auf die Kaiser Theodosius II. und Valentinian III. auch solche auf den Reichsfeldherrn des Westens zu lesen.57 Dazu kommt das Zeugnis des Panegy­

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1956; Reinhard Wenskus/Hans Beck: Attila. In: ReallexGermAltert I. 2. Aufl. 1973. S. 467–473; Frank M. Clover: Geiseric and Attila. In: Historia. 23. 1973. S. 104–117; Otto Maenchen­Helfen: Die Welt der Hunnen. Wien/Köln/Graz 1978; Robert L. Hohlfelder: Marcianʼs Gamble: A Reas­ sessment of Eastern Imperial Policy Toward Attila AD 450–453. In: American Journal of Ancient History (AJAH). 9. 1984. S. 54–69; Roger C. Blockley: Constantius the Gaul, Secretary to Attila and Bleda. In: Échos du Monde Classique (EMC). 31. 1987. S. 355–357; Silvia Blason Scarel (Hg.): At­ tila Flagellum Dei? Convegno internazionale sulla figura di Attila e sulla discesa degli Unni in Italia nel 452 d. C. Rom 1994; Attila a gli Unni. Ausstellungskatalog. Rom 1995 (Bezugnahmen auf die nachantike Interpretation Attilas); Walter Eder: DNP II. 1997. S. 246f.; Gerhard Wirth: Attila. Das Hunnenreich und Europa. Stuttgart 1999; John Man: Attila the Hun. A Barbarian King and the Fall of Rome. London 2005; Jörg Fündling, Horden gegen das Abendland? Attila (ca. 400–453 n. Chr.). In: Stig Förster/Markus Pöhlmann/Dierk Walter (Hg.): Kriegsherren der Weltgeschichte. 22 historische Portraits. München 2006. S. 93–109; Alexander Koch (Hg.): Attila und die Hunnen. Stuttgart 2007. Valentinian III.: Enßlin: RE VII A 2. 1948. Sp. 2232–2259, s. v. Valentinianus 4; Edgar Pack: Valentinian III. (425–455). In: Clauss: Die römischen Kaiser (Anm. 2). S. 395–401; Werner Port­ mann: DNP XII 1. 2002. 1986f.; Konrad Vössing: ReallexGermAltert XXXII. 2. Aufl. 2006. S. 47– 49; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 183–191. Zur Vertragsproblematik: Umberto Roberto : Gei­ serico, Gaudenzio e lʼeredità di Aëzio: Diplomazia e strategia di parentela tra Vandali e impero. In: Mediterraneo Antico. 9. 2006. S. 71­85. Die Inschrift für Aëtius ist AE 1950, 30, veröffentlicht von Attilio Degrassi: L’iscrizione in onore di Aezio e l’„atrium libertatis”. In: Bolletino Communale di Archeologia Romana (BCAR). 1946/1948. S. 33–44, und behandelt bei Kuhoff: Quellen (Anm. 5). S. 56f. Nr. 75; siehe auch Ralf Scharf: Der Iuthungenfeldzug des Aetius. Eine Neuinterpretation einer christlichen Grabinschrift aus Augsburg. In: Tyche. 9. 1994. S. 131–145.

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ricus, den der aus Hispanien stammende Redner Merobaudes, vielleicht ein Nachfahre des gleichnamigen Heermeisters, zum Konsulat von 432 hielt. In bemerkenswerter Weise wurde auch er durch eine Statue geehrt, deren Inschriftbasis erhalten ist. Sie rühmt nach­ haltig seine gleichzeitigen Fähigkeiten als Redner und Soldat, so daß es nicht verwundert, ihn kurzzeitig 443 als Kollegen des Aëtius im Amt eines magister militum in Gallien zu sehen, überdies als Nachfolger seines Schwiegervaters. Zuvor hatte er zusammen mit Valentinian 437 aufgrund von dessen Hochzeit mit der Tochter Theodosius’ II., Licinia Eudoxia, Konstantinopel aufgesucht; später wurde er sogar zum patricius erhoben.58 Für Aëtius kann man wie im Falle Stilichos eine zweigleisige öffentliche Würdigung seiner Taten in literarischer und epigraphischer Form festhalten. Die überschwenglichen Worte der antiken Autoren, besonders die bei Gregor von Tours zitierte Wertung des Renatus Pro­ futurus Frigeridus, haben die moderne Einschätzung der Persönlichkeit bestimmt: Aus der Rückschau über fast 1 600 Jahre hin stellt sich Aëtius als letzte zum Wohl des westlichen Reichsteils handelnde Person dar, doch besaß er nur noch die Möglichkeit eingeschränkter Schadensbekämpfung, aber diese hat er in wesentlichem Maße zu realisieren vermocht. Insofern kann man die Wertung als ,letzter Römer‘, die rund ein Jahrhundert später Pro­ kopios, der Historiker der justinianischen Epoche, prägte, uneingeschränkt gutheißen.59

Der Erfolg der Heermeister – das Ende des Kaisertums Die Ermordung des übermächtigen Aëtius bewirkte wenige Monate später den Sturz Va­ lentinians: Der Anführer der bucellarii, der Leibwache des Aëtius und zugleich dessen Schwiegersohn, Thraustila, und ein weiterer Angehöriger dieser Privatgarde, Optila, er­ mordeten den Kaiser am 16. März 455 nahe Roms während einer Truppenparade und beendeten auf diese Weise die theodosianische Dynastie nicht nur im Westen, sondern insgesamt. Damit wurde in negativer, aber nachdrücklicher Weise das enge Verhältnis zwi­ schen beiden Protagonisten nachträglich bestätigt und ein weiteres Mal demonstriert, daß Kaiser und oberster Militärbefehlshaber nicht ohne den anderen auskommen konnten.60 58

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Merobaudes: Friedrich Lenz: RE XV 1. 1931. Sp. 1039–1047, s. v. Merobaudes 3; Demandt: Ma­ gister militum (Anm. 3). S. 667–669; Therese Olajos: RE Suppl. XII. 1970. Sp. 863–866; Dies.: L’inscription de la statue d’Aétius et Merobaudes. In: Acta Fifth International Congress Greek and Latin Epigraphy. Oxford 1971. S. 469–472; Frank M. Clover: Toward an Understanding of Merobaudesʼ Panegyric. In: Historia. 20. 1971. S. 354–367; André Loyen: Lʼœuvre de Flavius Me­ robaudes. LʼHistoire de lʼOccident de 430 à 450. In: Revue des Études Anciennes (REA). 74. 1972. S. 153–174; Willi Schetter: Zu Merobaudes, Paneg 63–68. In: Hermes. 120. 1992. S. 120–123; Kurt Smolak: DNP VIII. 2000. S. 7f. Des Merobaudes Inschrift ist CIL VI 1724 = ILS 2950. Nicht auf Aëtius bezogen werden kann ein Elfenbeindiptychon im Musée du Berry in Bourges, das in einem einfachen Stil gestaltet ist und keinesfalls an die stadtrömischen Exemplare heranreicht; überdies fehlt als entscheidendes Distinktiv eine Inschrift. Siehe Delbrück: Consulardiptychen (Anm. 36). S. 158–161 Nr. 37 (nur vage Bezugnahme auf Aëtius); Jean­Pierre Caillet: L’ivoire et l’os. In: Naissance des arts chrétiens. Atlas des monuments paléochrétiens de la France. Paris 1991. S. 324–333, hier S. 324f. (Ablehnung einer Beziehung zum Reichsfeldherrn). Enßlin: RE XVIIII 1. 1939. Sp. 771f., s. v. Optila; Ders.: RE VI A 1. 1936. Sp. 595, s. v. Thraustila; Diesner: Buccellariertum (Anm. 44). S. 321–350; Norbert Wagner: Optila*, Accila*, Thraufistila*

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Die undurchsichtige Situation nutzte Petronius Maximus, der höchstrangige Zivil­ beamte, zur eigenen Kaiserproklamation, nachdem ihm die Mörder Valentinians dessen Herrscherinsignien übergeben hatten. Angeblich soll er auch diese Tat angestachelt ha­ ben, was für den ehrgeizigen, jeweils zweimaligen Stadtpräfekten Roms, Prätoriumsprä­ fekten in Italien und Konsul 433 und 443, nicht unmöglich erscheint. Immerhin rühmt seine stadtrömische Ehreninschrift die Bekleidung der ersten Ämter bis zum jungen Le­ bensalter von erst 25 Jahren; zwei spätere Inschriften zu Ehren Valentinians sprechen alle Ämter an, zu denen 445 noch der Patriziat hinzutrat. Die Vandalen aber sahen im Thron­ wechsel den Grund zur zweiten Plünderung Roms vom 2. bis 16. Juni 455, weil Maximus seinen eigenen Sohn Palladius als Caesar mit Valentinians Tochter Eudocia verheiratet hatte, die Verlobte des vandalischen Thronfolgers Hunerich war. Noch vor dem Einfall der Feinde wurde der Zweimonatskaiser am 31. Mai von der römischen Bevölkerung ge­ lyncht. Es war das letzte Mal im Reichswesten, daß ein Zivilbeamter aus eigenem Antrieb nach dem Kaisertum griff.61 Noch im selben Jahre wurde in Gallien Eparchius Avitus zum Kaiser ausgerufen, der in auffälligerweise Weise militärische wie zivile Ämter bekleidet hatte, darunter das Heeres­ kommando in Gallien selbst und 455 die Heermeisterstelle bei Petronius Maximus. Als er wegen des Widerstandes der Senatoren in Rom und der Truppen in Italien abdankte, ließ er sich zum Bischof von Piacenza weihen, doch konnte diese ungewöhnliche Maßnah­ me seinen Tod nicht verhindern. Seine Laufbahn schildert sein Schwiegersohn Sidonius Apollinaris im Panegyricus auf den Konsulat von 456.62 Diese Turbulenzen begünstigten

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und die Gaut(h)igoth. Ein Beitrag zur Urheimat der Goten. In: Beiträge zur Namenforschung (BN). 29/30. 1994/1995. S. 358–370; Werner Lütkenhaus: DNP XX 1. 2002. Sp. 499, s. v. Thraustila 1. Petronius Maximus: Enßlin: RE XIV 2. 1930. Sp. 2543–2545; Arturo Solari: Dissidio costituziona­ le alla morte di Valentiniano III. In: RABol 10. 1936/1937. S. 11–45; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 659–661; Timothy D. Barnes: Patricii Under Valentinian III. In: Phoenix. 29. 1975. S. 155–170; Giuseppe Zecchini: I Gesta de Xysti purgatione e le fazioni aristocratiche a Roma alla metà del V secolo. In: Rivista di Studi Classici (RStCl). 34. 1980. S. 60–74; Ders.: Aezio (Anm. 51). S. 9, 31f., 34, 45–47, 50–57, 61, 70f., 243–248, 251f., 282–284, 296; Béla Czúth: Geiserich und seine Wandalen in Rom. 2.–16. Juni 455. In: Acta Antiqua et Archaeologica Universitatis Szeged (AAA Szeged). 2. 1979. S. 25–32; Ders.: Petronius Maximus, Kaiser der italischen Senatorenaristo­ kratie 455. In: Oikumene. 4. 1983. S. 253–258; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 400f., 420f. und S. 672f., 675; Dirk Henning: Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströ­ mischen Reiches 454/455–493 n. Chr. Stuttgart 1999; Hartmut Leppin: DNP VII. 1999. Sp. 1079f.; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 189, 205f., 256f., 331, 424, 428; Helmut Castritius: Die Geschichte des Vandalenreichs. In: Königreich der Vandalen (Anm. 49). S. 189–191, 193–195, 198f., 202–204 . Die Ehreninschrift ist CIL VI 1749 = ILS 809, die Kaiserinschriften sind CIL VI 1197f. = ILS 807f. Avitus: Seeck: RE II 2. 1896. Sp. 2395–2397; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 90f., 93, 250; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 672f.; William N. Bayless: The Peace of 439 A. D. Avitus and the Visigoths. In: Ancient World. 1. 1978. S. 141–143; PLRE II. S. 196–198; Gerald E. Max: Political Intrigue During the Reigns of the Western Roman Emperors Avitus and Majorian. In: Historia. 28. 1979. S. 225–237; Ralph W. Mathisen: Sidonius on the Reign of Avitus: A Study in Political Prudence. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association (TAPhA). 109. 1979. S. 165–171; Ders.: Avitus, Italy and the East in AD 455–456. In: Byzan­ tion. 51. 1981. S. 232–247; Ders.: The Third Regnal Year of Eparchius Avitus. In: ClPh. 80. 1985. S. 326–335; Zecchini: Aezio (Anm. 51). S. 46f., 81f., 237–239, 284f., 296–299 und passim, Richard W. Burgess: The Third Regnal Year of Eparchius Avitus. A Reply. In: ClPh. 82. 1987. S. 335–345;

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den Aufstieg des wie Stilicho aus einer germanischen ,Mischehe‘, diesmal zwischen den Königsfamilien der Westgoten und Sueben, stammenden Rikimer, der gegen Avitus re­ voltiert hatte, zur Stellung des dominierenden Politikers im niedergehenden Westteil des Imperium Romanum. Seine moderne Einstufung als „Totengräber des römischen Rei­ ches” im Vergleich zur Einschätzung des Aëtius legt den Nachdruck auf seine Rolle als Kaisermacher wie auch Kaisermörder, die er wie niemand vorher in extremster Weise betrieb. In seinem Handeln kulminierte die Nähe zur Macht ausschließlich destruktiv, auch im Verhältnis zu den Kaisern in Konstantinopel. Zuerst wahrscheinlicher Mörder des Avitus, agierte er dann im Rahmen der Gepflogenheiten, als er seinen jüngeren Kolle­ gen als magister militum, Iulius Valerius Maiorianus, bewegte, sich zum neuen Augustus ausrufen zu lassen: Hier trat Rikimer, der vom Kaiser im Osten, Leo I., zum patricius er­ nannt worden war, erstmals als Kaisermacher auf, was dem gewöhnlichen Handeln eines Heermeisters seit einiger Zeit entsprach.63 Maiorianus, dessen Großvater schon Heermeister gewesen war, ließ sich nach der er­ sten Kaiserproklamation am 1. April 457 nach mehrmonatigen Verhandlungen mit Leo Ende Dezember desselben Jahres endgültig zum Augustus akklamieren: Damit war er, zählt man Vetranio hinzu, nach Theodosius I., Constantius III. und Avitus der fünfte Heer­ meister, der regulär zur Kaiserherrschaft aufstieg. Aufgrund einer tatkräftigen, sich auch in neun erhaltenen Rechtserlassen äußernden Politik suchte sich Maiorianus zu profilie­ ren und erschien vor allem selbst als Befehlshaber seines Heeres in Gallien und Hispani­ en, wo er zuerst passable Erfolge erringen konnte. Das letzte militärische Vorgehen eines Kaisers im Westen, das die antike Geschichte kennt, endete allerdings im Frühjahr 461 in einem Fiasko, als die zum Übersetzen nach Afrika vorgesehene Flotte von den Vandalen des Königs Geiserich im Hafen von Carthago Nova vernichtet wurde. Als sich daraufhin Rikimer, der 459 seinen einzigen Konsulat innegehabt hatte, gegen seinen Kaiser wandte und ihn umbringen ließ, trat er zum zweiten Mal als Kaisermörder auf, doch zeugte der

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Dirk Henning: CIL VI 32005 und die „Rostra Vandalica“. In: ZPE. 110. 1996. S. 259–264; Klaus­ Peter Johne: DNP I. 1997. Sp. 372; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 205–207. Rikimer: Seeck: RE I A 1. 1920. Sp. 797–799; Lucio Vassili: Il comes Agrippino collaboratore di Ricimero. In: Athenaeum. 14. 1936. S. 175–180; Ders.: Rapporti fra regni barbarici e impero nella seconda metà del V secolo. In: Nuova Rivista Storica (NRS). 21. 1937. S. 51–56; Annunziata M. Papini: Ricimero. L’agonia dell’impero romano d’occidente. Mailand 1959; Stroheker: Germanen­ tum (Anm. 15). S. 92; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 673–676; PLRE II 942–945, s. v. Ricimer 2; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 104–128; Leo R. Scott: Antibarbarian Sentiment and the „Barbarian“ General in Roman Imperial Service. The Case of Ricimer. In: Actes VII Congr. FIEC. Budapest 1984. S. 23–33; Guy Lacam: Ricimer, Léon I, Maiorien. Le monnayage de Ricimer 465–472. Paris 1985; Ders.: Le monnayage de Ricimer. In: Peter Kos/Zoltan Demo: Studia Nu­ mismatica Labacensia. Ljubljana 1988. S. 219–246; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 452f., 679; Jean M. Ropars: La défense de lʼArmorique dans les dernières années de lʼEmpire romain dʼOccident, à travers une nouvelle interprétation dʼun texte de Grégoire de Tours. In: Annales de Bretagne et des pays de lʼOuest (ABPO). 100. 1993. S. 3–17; Andrew Gillett: The Birth of Ricimer. In: Historia. 44. 1995. S. 380–384; Werner Lütkenhaus: DNP X. 2001. Sp. 1011f.; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 173–268 (auf S. 263–268 eine Bewertung der Person); David Woods: A Misunderstood Monogram: Ricimer or Severus? In: Hermathena. 172. 2002. S. 5–21; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 206–210, 213, 223, 312, 323, 331; Friedrich Anders: Flavius Ricimer. Macht und Ohnmacht des weströmischen Heermeisters in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2010.

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sich dagegen in Gallien und Dalmatien regende Widerstand, daß der Reichsfeldherr nicht unbestritten schalten und walten konnte.64 Das dem Sturz von Maiorianus folgende Interregnum stellte keine Neuerung dar, aber der nächste Augustus wurde ohne Zutun des östlichen Kaisers bestimmt und dann vom Senat formell bestätigt: Der italische Senator Livius Severus trat allerdings während seiner vierjährigen Herrschaft nie wirklich in Erscheinung, doch sind seine Münzen er­ halten und auf kleinen exagia, Metallstücken zur Überprüfung des Normgewichtes von Solidi, erscheint er neben Leo, wie schon zuvor Maiorianus, als zweiter Augustus. Die Rückseiten von Kupfermünzen tragen jedoch statt eines Bildes den Namen Rikimers in Ligatur, eine unerhörte Beanspruchung kaiserlicher Prärogative, die den nunmehr kai­ ser­ähnlichen Rang des Reichsfeldherrn nachhaltig demonstriert; freilich waren es keine Solidi oder Siliquae, was den Sachverhalt etwas abschwächt. Nach dem Tode seines Kai­ sers Mitte November 465 gab Rikimer vielleicht sogar eigene Kupfermünzen heraus, deren Averse sein Bild und seinen Namen zeigen, doch sind die raren Stücke zweifelhaft. Leider weiß man nicht, wie die hauptsächlichen Benutzer, die römischen Normalbürger, auf diese Anmaßung reagierten, und auch die literarische Überlieferung registrierte sie nicht. Die Tatsache ist immerhin gebührend als weiterer Schritt zur Angleichung oder Verschmelzung des Reichsfeldherrnamtes an das Kaisertum einzustufen.65 64

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Maiorianus: Enßlin: RE XIV 1. 1928. Sp. 584–589; Lucio Vassili: La figura di Nepoziano e lʼopposizione ricimeriana al governo imperiale di Maggiorano. In: Athenaeum. 14. 1936. S. 56–66; Ders.: Nota cronologica intorno allʼelezione di Maggioriano. In: Rivista di Filologia e di Istruzione Classica (RFIC). 14. 1936. S. 163–169; Ders.: La strategia di Maggioriano nella spedizione gallico­ vandalica. In: Ebd. S. 296–299; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 92f.; Helmut Meyer: Der Regierungsantritt Kaiser Majorians. In: Byzantinische Zeitschrift (BZ). 62. 1969. S. 5–12; De­ mandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 673f.; Gerald E. Max: Majorian Augustus. Diss. Univ. of Wisconsin 1975; Ders.: Political Intrigue (Anm. 62). S. 225–237; PLRE II. S. 702f.; Ralph A. Mathisen: Resistance and Reconciliation. Majorian and the Gallic Aristocracy After the Fall of Avitus. In: Francia. 7. 1979. S. 597–627; Béla Czúth: Machtantritt des Maiorian (17.10.456 – 28.12.457). In: AAA Szeged. 6. 1983. S. 53–60; Hans Wieling: Iniusta lex Maioriani. In: Revue In­ ternationale des Droits de lʼAntiquité (RIDA). 38. 1991. S. 385–420; Ralf Scharf: Zu einigen Daten der Kaiser Libius Severus und Maiorian. In: RhM. 139. 1996. S. 180–188; Hartmut Leppin: DNP VII. 1999. Sp. 715f.; Giovanni Mennella: Una nuova dedica a Maioriano e un probabile corrector Lucaniae et Brittii nel 459. In: ZPE. 133. 2000. S. 237–242; Fabio Giovannini: La politica demo­ grafica di Maioriano e il mutamento sociale e culturale della seconda metà del V secolo. In: Ancient History Bulletin (AHB). 15. 2001. S. 135–142; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 182–214; De­ mandt: Spätantike (Anm. 3). S. 205–207, 255, 362, 456, 539. Livius Severus: Seeck: RE II A 2. 1923. Sp. 2006; John M. C. Toynbee: Two New Gold Medallions of the Later Roman Empire. In: NC 20. 1940. S. 9–23; Oscar Ulrich­Bansa: Moneta Mediolanensis (352–498). Venedig 1949. S. 275; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 94f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 674f.; Stewart I. Oost: D.N. Libius Severvs P.F. AVG. In: ClPh. 65. 1970. S. 228–240; PLRE II. S. 104f., s. v. Severus 18; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 111–115, 126; Émilienne Demougeot: À propos des solidi gallici du V siècle après J.C. In: Revue Histo­ rique (RH). 107. 1983. S. 3–30; Hartmut Leppin: DNP XI. 2001. Sp. 487; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 215–233; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 208, 261, 272, 424. Die in RIC X, 1994, 408 Nr. 2715–2717, aufgeführten Münzen interpretiert Lacam: Monnayage (Anm. 63) als solche Rikimers im Interregnum nach Severus’ Tod; die von diesem als angeblich eigene angesehenen Stücke weist RIC 190f. nachdrücklich zurück (diesem folgend MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 218–222); Anders: Ricimer (Anm. 63). S. 173–179, erkennt eine Ehrung Rikimers.

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Rikimer konnte noch einige Erfolge gegen die vielen Feinde des Römerreiches er­ ringen, so 464 gegen die Alanen des Königs Beorgor in Oberitalien, aber diese vermochten den Niedergang nicht zu bremsen. Die Beendigung der ständigen Vandalengefahr an den Küsten gelang ihm jedenfalls auch während des auffallend langen zweiten Interregnums nicht, das er in eigener Machtvollkommenheit eintreten ließ. Erst auf Drängen Kaiser Leos I. erklärte er sich mit einem neuen Herrscher einverstanden, der in der Person des Procopius Anthemius aus Konstantinopel entsandt und am 12. April 467 in Rom inthroni­ siert wurde. Dieser war einerseits Sohn eines Heermeisters und Schwiegersohn des frühe­ ren Kaisers Marcianus, andererseits erfahrener Truppenkommandeur und selbst magister militum wie auch patricius und Konsul von 455; überdies war er als Kaiserkandidat nach dem Tode des Schwiegervaters im Gespräch gewesen. Zähneknirschend akzeptierte Ri­ kimer diesen potenten Rivalen im eigenen Hause, doch wurde das Verhältnis anfänglich durch seine Heirat mit der Tochter des neuen Augustus geglättet, zumal Anthemius mit einem Heer aus dem Osten gekommen war. Mit ihm errang der sechste Heermeister im Gesamtreich den Thron. Wie eine Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären wirkt aber die Wahl der Aufenthaltsorte, denn während der neue Kaiser das palatium in Rom bezog, verblieb Rikimer in Ravenna, dem eigentlichen Regierungssitz.66 Gleichzeitig zur Heirat mit Anthemius’ Tochter stimmte Rikimer widerwillig zu, daß sein militärischer Gegner im Westen, der comes Dalmatiae Marcellinus, ein Anhänger der alten Religion, zum zweiten Heermeister am Hofe und patricius ernannt wurde; dieser war einer der Widersacher nach der Ermordung des Maiorianus gewesen, weil der Reichsfeld­ herr ihm 461 bei einer Aktion gegen die Vandalen in Sizilien die eigenen Truppen abspen­ stig gemacht hatte. Schon 468 führten Marcellinus und der zweite östliche Reichsfeldherr Basiliscus gemeinsam das großangelegte Flottenunternehmen gegen Geiserich in Afrika an, das jedoch grandios scheiterte und dem Ansehen des Anthemius schadete; Marcellinus kam auf dem Rückzug in Sizilien ums Leben, ob auf Anstiften Rikimers, ist unbekannt. Nach einem ersten, notdürftig beigelegten Zerwürfnis zwischen Kaiser und Reichsfeldherr 470 brach dann 472 eine richtige militärische Auseinandersetzung aus, die zu einer dreimo­ natigen Belagerung des Anthemius in Rom führte. Diese erwies die militärische Fähigkeit 66

Anthemius: Seeck: RE I 2. 1894. Sp. 2365–2368, s. v. Anthemius 3; Lucio Vassili: Note di sto­ ria imperiale. In: RFIC. 15. 1937. S. 160–168; Ders.: La cultura di Antemio. In: Athenaeum. 16. 1938. S. 38–45; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 95–98, 197; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 776f.; Gottfried Haertel: Die zeitgeschichtliche Relevanz der Novellen des Kaisers Anthemius. In: Klio. 64. 1982. S. 151–159; PLRE II. S. 96–98; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 115–123, 126; Ders.: A Greek on the Roman Throne: the Fate of Anthemius. In: Historia. 40. 1991. S. 122–128; Hagith S. Sivan: Sidonius Apollinaris, Theodoric II, and Gothic­Roman Poli­ tics From Avitus to Anthemius. In: Hermes. 117. 1989. 85–94; Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 444f.; Ralph W. Mathisen: Leo, Anthemius, Zeno and Extraordinary Senatorial Status in the Late Fifth Century. In: Byzantinische Forschungen (ByzF). 17. 1991. S. 191–222; Dirk Hennnig: Mes­ sius Phoebus Severus und die Chronologie der Praefecti urbi unter Kaiser Anthemius (467–472). In: ZPE. 108. 1996. S. 145–158; Klaus­Peter Johne: DNP I. 1996. Sp. 730; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 234–255; Dirk Henning: Der erste „griechische Kaiser“. Überlegungen zum Scheitern des Procopius Anthemius im Weströmischen Reich. In: Hans­Ulrich Wiemer (Hg.): Staatlichkeit und politisches Handeln in der römischen Kaiserzeit. Berlin/New York 2006. S. 175–186; De­ mandt: Spätantike (Anm. 3). S. 208–210, 220, 424; Anders: Ricimer (Anm. 63). S. 195–232.

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des Kaisers, der die alte Reichshauptstadt mit der Aurelianischen Mauer zur Verteidigung eingerichtet hatte und so deren Zweckbestimmung erweisen konnte. Als Rom dennoch am 11. Juli 472 fiel, kostete diese dritte Einnahme im 5. Jahrhundert Anthemius das Leben und brachte Rom eine weitere Plünderung. Zugleich wurde der Heermeister ein drittes Mal zum Kaisermörder, auch wenn sein Neffe Gundobadus den Mord tatsächlich ausführte.67 Schon im April hatte Rikimer den stadtrömischen Senator Anicius Olybrius, den Leo I. als Vermittler entsandt hatte, zum Gegenkaiser proklamiert und damit ein drittes Mal auch die Herrscherkür vorgenommen. Olybrius war nicht nur Mitglied der herausragendsten Fa­ milie im Senat, sondern auch Schwiegersohn Valentinians III. und damit Schwager Geise­ richs, patricius und Konsul von 464, doch kein Heermeister gewesen. Als nach Anthemius auch Rikimer und Olybrius am 19. August und 2. November starben, erbte Gundobad Pa­ triziat und Reichsfeldherrnamt.68 Rikimer trieb die innenpolitische Entwicklung so deut­ lich wie kein Vorgänger in die völlige Gegenrichtung früher üblicher Verhältnisse, die dem Kaiser das Übergewicht über seine Mitarbeiter im militärischen Bereich gaben – er institu­ tionalisierte das Heermeisteramt als entscheidende Instanz im Staate mit der tatsächlichen Verfügbarkeit über Wohl und Wehe der neben ihm nominell als Augusti tätigen Personen, die er nach eigenem Ermessen ein­ oder absetzte, wobei er auch einen Bürgerkrieg nicht scheute. Im fast nur noch auf Italien beschränkten und durch derartige innere Machtkämpfe weiter geschwächten Reich beschleunigte dieses Verhalten unweigerlich den Niedergang, auch wenn Rikimer außenpolitisch aus Einsicht in die Realität militärischen Abenteuern abgeneigt war. Dagegen trat er auf ganz anderem Felde, nämlich in Religionsangelegenhei­ ten, als Förderer auf, denn er ist in einer heute verlorenen Inschrift nach seinem Konsulat von 459 als Stifter eines Fußbodenmosaiks in der einst arianischen Kirche S. Agata dei Goti in Rom bezeugt; hierin war er indirekter Nachfolger des Felix von 429. Noch charakteri­ stischer ist aber ein exagium aus nicht präziser Zeit, das mit der Inschrift salvis dd. nn. et patricio Ricimere genau diejenige Wertigkeit der Macht dokumentiert, die er sich erstritten hatte: Das Heermeistertum war zur Staatsspitze aufgestiegen, und dies wurde überhaupt nicht mehr verhehlt, sondern als selbstverständlich der Öffentlichkeit präsentiert.69 67

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Marcellinus: Enßlin: RE XIV 1. 1930. Sp. 1446f., s. v. Marcellinus 25; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 92, 95, 97; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 684–687; PLRE II. S. 708–710, s. v. Marcellinus 6; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 111, 116–118, 130f.; Zecchini: Aezio (Anm. 51). S. 208, 237, 295–299; Michael E. Kulikowski: Marcellinus „of Dalmatia“ and the Dis­ solution of the Fifth­Century Empire. In: Byzantion. 72. 2002. S. 177–191; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 17–67; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 189f., 207–209; Anders: Ricimer (Anm. 63). S. 467–480. Olybrius: Seeck: RE I 2. 1894. Sp. 2207f., s. v. Anicius 52; Vassili: Note di storia imperiale (Anm. 66). S. 160–168; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 90, 96f.; Frank M. Clover: The Family and Early Career of Anicius Olybrius. In: Historia. 27. 1978. S. 169–196; PLRE II. S. 796–798, s. v. Olybrius 6; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 108, 113, 120–130 passim; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 255–261; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 210, 217, 256, 342, 424; Anders: Ricimer (Anm. 63). S. 232–241. Die Mosaikbodeninschrift Rikimers, ILCV 1637 = ILS 1294, = ICUR 11, 127, wird von Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 210, als Bauinschrift der ganzen Kirche verstanden, doch widerspricht diesem das Verb ornavit; siehe dazu auch MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 180f. Das exagium ist CIL X 8072 = ILS 813 (MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 217f., datiert es in die Zeit von Livius Severus; ebenso Anders: Ricimer (Anm. 63). S. 172f.). Die zutreffende Charakterisierung Rikimers

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Es wundert nicht, daß sich Rikimers Nachfolger als Reichsfeldherr mit dem patricius­ Titel, Gundobad, nach einem viermonatigen dritten Interregnum und der Einsetzung des Glycerius als Schattenkaiser am 3. März 473 nicht mehr um das Kaisertum kümmerte, als Leo I. in Konstantinopel Ende dieses Jahres eine andere Wahl traf und ein zweites Mal einen Kaiserkandidaten nach Westen schickte: Es war erneut ein Heermeister, der in Dalmatien tätige Iulius Nepos, Neffe des Marcellinus, Gatte einer Nichte der Kaiserin Verina und ad personam zum dortigen magister militum ernannt. Als siebter im Gesamt­ reich setzte er sich durch, als er, schon nach Leos Tod, im Juni 474 in Roms Hafen Portus einzog und Glycerius vertrieb, der ähnlich wie Avitus sein Heil in der Weihe zum Bischof sah, als den ihn Nepos in die dalmatinische Metropole Salona schickte, nahe des eigenen bisherigen Amtssitzes im Diokletianspalast von Spalato. Gundobad verdeutlichte gleich­ zeitig seine Präferenz, als er lieber die Nachfolge des Vaters als König der Burgunder antrat, anstatt weiter in Italien auszuharren.70 Iulius Nepos etablierte sich als neuer Kaiser am 19. Juni 474 und ernannte Ecdicius, den Sohn des Avitus und energischen Feldherrn gegen die Westgoten, zum magister militum et patricius. Als dieser jedoch Verluste gegenüber König Eurich hinnehmen mußte, wurde er durch den aus Pannonien stammenden Orestes ersetzt, der ähnlich wie einst Aëtius eine Zeitlang bei den Hunnen, und zwar als notarius Attilas, geweilt hatte; in dieser Funktion war er zweimal als Gesandter nach Konstantinopel gegangen. Weitere Ämter sind unbekannt, bis er im Sommer 475 zum Reichsfeldherrn im Westen ernannt wurde. Wenig später wandte er sich gegen Nepos und vertrieb ihn am 28. August aus Ravenna; ohne abzudanken, zog sich dieser nach Spalato zurück, wo er sich im selben Palast wie früher einrichtete, dieses Mal als weiterhin vom östlichen Herrscher, nunmehr Zenon, anerkannter Kaiserkollege.71 Orestes inthronisierte am 31. August seinen sechsjährigen Sohn Romulus als Augustus und realisierte damit ein Vorhaben, das Stilicho und Aëtius nicht gelungen war, nämlich

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bei Demandt lautet: „Er ist der Prototypus der germanischen Kaisermacher und Hausmeier, ein Mann, der durchweg negativ beurteilt wird, weil er auf die Kaiser keine Rücksicht nahm ...“ (es folgt der Hinweis zur Beschränkung auf Italien). Glycerius: Seeck: RE VII 1. 1910. Sp. 1467f.; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 97f.; PLRE II. S. 514; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 130; Klaus­Peter Johne: DNP IV. 1998. Sp. 1104; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 272f.; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 210, 213, 272. Zu Gundobad: Conrad Benjamin: RE VII 2. 1912. Sp. 1938–1940; Lucio Vassili: Il dux Vincenzo e lʼincursione gotica in Italia nellʼanno 473. In: RFIC. 16. 1938. S. 56–59; Demandt: Magister mili­ tum (Anm. 3). Sp. 676f.; PLRE II. S. 524f., s. v. Gundobadus 1; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 104, 125f., 129–131; David Frye: Gundobad, the Leges Burgundionum, and the Struggle for Sovereignty in Burgundy. In: Classica et mediaevalia. 41. 1990. S. 199–212; Mischa Meier: DNP V. 1998. Sp. 11; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 269–275; Ian N. Wood: The Latin Culture of Gundobad and Sigismund. In: Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (Hg.): Akkultura­ tion. Probleme einer germanisch­romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter. Berlin/New York 2004. S. 367–380; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 209f., 217, 228, 323. Iulius Nepos: Enßlin: RE XVI 2. 1935. Sp. 2505–2511, s. v. Nepos 6; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 88, 97–99; John P. C. Kent: Julius Nepos and the Fall of the Western Empire. In: Corolla Memoriae Erich Swoboda Dedicata. Köln/Graz 1966. S. 146–150; Demandt: Magister mi­ litum (Anm. 3). Sp. 677–680; PLRE II. S. 777f., s. v. Nepos 3; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 130–134, 136, 138–144 passim; Hartmut Leppin: DNP VIII. 2000. Sp. 840; MacGeorge: War­ lords (Anm. 3). S. 273–275, 277–279; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 210f., 213f., 223, 424f.

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als Reichsfeldherr durch den eigenen Sohn zu regieren: Diese Alternative zum eigenen Kaisertum oder zum Interregnum hatte ihr direktes Vorbild in Konstantinopel, wo 474 der junge Enkel Leos I. die nominelle Herrschaft mit seinem Vater Zenon als Reichsfeld­ herrn angetreten hatte, bis dieser wenig darauf zum ,zweiten‘ Augustus erwählt worden war. Andererseits war Zenon im Januar 475 von seinem Schwager Basiliscus entthront worden, den Orestes als Verbündeten zu gewinnen suchte. Letztlich jedoch hatte dieser keinen Erfolg, denn in einer weiteren zeitlichen Verschränkung der Ereignisse in beiden Reichsteilen kündigte ihm nach dem Sturz des Basiliscus und der Rückkehr Zenons an die Macht im Sommer 476 der Föderatenkommandeur Odovacer die Gefolgschaft auf. Nach einer militärischen Auseinandersetzung ließ dieser Orestes genau am Jahrestag der Machtübernahme, dem 28. August 476, töten.72 Odovacer entledigte sich sogleich, ohne Heermeister zu sein, des Kinderkaisers Ro­ mulus, der auf seinen Münzen ausdrücklich als Romulus Augustus benannt ist, was ihm schon damals den Spottnamen ,Augustulus‘ bescherte. In der Lesart Friedrich Dürrenmatts übte er den Beruf des Hühnerzüchters aus, was allerdings für Honorius wirklich bezeugt ist. Das Ende des westlichen Kaisertums kam aber nicht zum genannten Zeitpunkt, wie es noch heute meist zu lesen ist, und Odovacer war auch nicht am tatsächlichen Ende betei­ ligt, weil er als von seinen Soldaten zum rex ausgerufener Machthaber die Gunst des Kai­ sers im Osten, Zenon, zu gewinnen suchte, indem er diesem die Kaiserinsignien zusandte und als Kompensation dafür den patricius­Titel erbat, was ihm gewährt wurde.73 Zenons Antwort aber war staatsrechtlich signifikant, denn er verwies Odovacer an Iulius Nepos in Spalato. Aus diesem Grunde erlosch das westliche Kaisertum erst am 9. Mai 480, als der vertriebene Nepos in seiner Exilresidenz ermordet wurde, angeblich im Auftrag des von ihm einst entthronten Glycerius durch zwei eigene comites rei militaris. Diese histo­ rische Kuriosität tieferen Inhalts sagt Einiges über die Turbulenz der damaligen Zeit aus, in der persönliche Rache eine wichtige Rolle spielte. Das Imperium Romanum als Staats­ wesen endete aber auch damit nicht, wie es ein westeuropa­zentrierter Blick vermutet, 72

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Orestes: Enßlin. RE XVIII 1. 1939. Sp. 1012f.; Lucio Vassili: Oreste, ultimo esponente del tradizio­ nalismo romano. In: RFIC 17. 1939. S. 261–266; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 98f.; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 680f.; PLRE II. S. 811f., s. v. Orestes 2; O’Flynn: Ge­ neralissimos (Anm. 3). S. 130–144 passim; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 276–282, 289–291; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 211–213, 272, 340. Odovacer: Assunta Nagl. RE XVII 2. 1937. Sp. 1888–1896, s. v. Odoacer 1; Wilhelm Enßlin: Zu den Grundlagen von Odoakers Herrschaft. In: Serta Hoffileriana. Zagreb 1937. S. 381–388; Robert L. Reynolds/Robert S. Lopez: Odoacer: German or Hun? In: American Historical Review (AHR). 52. 1946/1947. S. 36–53; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 88f., 92, 99, 112, 279f., 284f., 304; André Chastagnol: Le sénat romain sous le règne d’Odoacre. Bonn 1966; PLRE II. S. 791–793; Michael McCormick: Odoacer, Emperor Zeno and the Rugian Victory Legation. In: Byzantion. 47. 1977. S. 212–222; O’Flynn: Generalissimos (Anm. 3). S. 83, 112, 136–148; Bruce Mac Bain: Odovacer the Hun? In: ClPh. 78. 1983. S. 323–327; Wolfram Brandes: Familienban­ de? Odoaker, Basiliskos und Harmatios. In: Klio. 75. 1993. S. 407–437; Maria Cesa: Il regno di Odoacre: la prima dominazione germanica in Italia. In: Barbara und Piergiuseppe Scardigli (Hg.): Germani in Italia. Rom 1994. S. 307–320; Dies.: Odoacre nelle fonti letterarie dei secoli V e VI. In: Paolo Delogu (Hg.): Le invasioni barbariche nel meridione dellʼimpero: Visigoti, Vandali, Ostro­ goti. Soveria Mannelli 2001. S. 41–60; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 281–293; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 211–217, 226, 312, 315, 323, 331, 520, 543.

Spätrömische Heermeister und ihr potentieller Griff nach dem Kaisertum

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es lebte stattdessen als ,Ost‘­römisches Reich weiter, das sich als bruchlose Fortsetzung verstand und seine Bürger als ῾Ρωμαῖοι bezeichnete – in diesem Sinne bedeutet erst der Mittag des 29. Mai 1453 das wirkliche Ende des Römischen Reiches.74 Im Ostteil des Imperium Romanum vermochte sich das Kaisertum unter Mühen zu be­ haupten, aber Rivalitäten zwischen den Augusti und ihren magistri militum gab es auch. Der Gote Gainas versuchte im Jahre 400 vergeblich, Konstantinopel einzunehmen, aber von 421 bis 471 bestimmte eine Familie von Heermeistern die Politik entscheidend mit. Sie ist auf einem kunsthandwerklichen Dokument bestens bezeugt, einer Silberschale mit aller Namen: Ardabur, Ardabur Aspar, Ardabur iunior und Plintha. Drei Generatio­ nen alanischer Heermeister mit Namensbeziehungen sind hier gesichert, der vierte war wohl Schwiegervater des zweitgenannten. Die Schale wurde im Jahre 434 hergestellt: Sie zeigt entsprechend der detaillierten Umschrift Aspar als amtierenden Konsul sitzend mit seinem Sohn Ardabur iunior als gleichzeitigem Prätor stehend neben ihm, und über beiden enthalten zwei Medaillons die Büsten der beiden anderen Männer. Das einzigar­ tige Stück ähnelt merklich dem Missorium von Theodosius dem Großen und diente als Geschenk zur Konsulatsausübung. Dieses Verhalten des Heermeisters verdeutlicht seinen großen Einfluß, darf aber nicht überbewertet werden, da die Konsuln ihren Amtsantritt stets mit Geschenken begingen. Aspar amtierte insgesamt 40 Jahre lang als oströmischer Reichsfeldherr, eine von niemandem sonst in dieser Stellung erreichte Zeit. Der mit der Ernennung seines Sohnes Patricius zum Caesar angestrebte Aufstieg zum Kaisertum in der nächsten Generation konnte jedoch nicht verwirklicht werden: Als latente Gefahr für die eigene Stellung verstand nämlich Kaiser Leo I., der als Gefolgsmann Aspars auf den Thron gekommen war, die Alanen an seiner Seite und ließ die beiden letzteren mitsamt ihrem Anhang deshalb 471 ermorden.75 74

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Romulus „Augustulus“ und das Ende des weströmischen Kaisertums: Seeck. RE I A 1. 1914. Sp. 1105f.; Stroheker: Germanentum (Anm. 15). S. 98f.; Marinus A. Wes: Das Ende des Kaisertums im Westen des Römischen Reiches. Den Haag 1967; Arnaldo Momigliano: La caduta senza rumore di un impero nel 476 d. C. In: Vittore Branca (Hg.): Concetto, storia, miti e immagini del Medio Evo. Florenz 1973. S. 409­428; Alexander Demandt: Der Fall Roms. Die Auflösung des Römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. München 1984; Laszlo Várady: Epochenwechsel um 476. Odoaker, Theoderich der Große und die Umwandlungen. Bonn 1984; Arthur Ferril: The Fall of the Roman Empire: The Military Explanation. London 1986; Stephan Krautschick: Zwei Aspekte des Jahres 476. In: Historia. 35. 1986. S. 344–371; Josef Ceška: Sechstausend Solidi dem entthronten Romulus Augustulus. In: Listy Filologické (LF). 110.1987. S. 119f.; Wolfgang Hahn: Die Münzstätte Rom unter den Kaisern Julius Nepos, Zeno, Romulus und Basiliscus (474–491). In: Rivista Italiana di Numismatica (RIN). 90. 1988. S. 349–366; Geoffrey Nathan: The Last Emperor: the Fate of Romu­ lus Augustulus. In: Classica et mediaevalia. 43. 1992. S. 261–271; Peter J. Heather: The Huns and the End of the Roman Empire in Western Europe. In: English Historical Review (EHR). 110. 1995. S. 4–41; Maria H. Dettenhofer: Romulus Augustulus (475–476). In: Clauss: Die römischen Kaiser (Anm. 2). S. 415–418; MacGeorge: Warlords (Anm. 3). S. 294–305; Adrian Murdoch: The Last Ro­ man. Romulus Augustulus and the Decline of the West. Stroud 2006; Dariusz Brodka: Eustathios von Epiphaneia und das Ende des Weströmischen Reiches. In: Jahrbuch der Österreichischen Byzan­ tinistik (JÖByz). 56. 2006. S. 59–78; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 211, 213, 272, 287, 590f. Zur Geschichte der Heermeisterfamilie, besonders Aspars: Seeck: RE II 1. 1895. Sp. 607–610, s. v. Aspar 2; Demandt: Magister militum (Anm. 3). Sp. 746 (Plinta), Sp. 747f. (Ardabur), Sp. 748–753, 769–773 (Aspar), Sp. 764f. (Ardabur iunior); Leighton R. Scott: Aspar and the Burden of Barbarian Heritage. In: Byzantine Studies. 3. 1976. S. 59­69; Ronald A. Bleeker: Aspar and Attila: The Role

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Der einzige magister militum, der im Osten während des 5. Jahrhunderts zum Kaiser aufstieg, war Zenon, der Schwiegersohn Leos, der seinen eigenen Sohn Leo II. bei dessen frühem Tode als Alleinherrscher beerbte. Doch noch Iustinianus, der große Visionär ei­ nes zu erneuernden gesamtrömischen Kaisertums, fungierte vor seiner Proklamation zum Augustus, zuerst als Kollege seines Onkels Iustinus, als magister militum praesentalis.76 In seiner Regierungszeit erfuhr das Heermeisteramt allerdings eine merkliche Inflation, was beinahe jedem irgendwie wichtigen Truppenkommandeur erlaubte, sich mit diesem Titel zu schmücken. Um einen neuen oberen Rang zu schaffen, erhielten später die Mili­ tärbefehlshaber in den beiden wichtigsten Außenbesitzungen Afrika und Italien den Titel eines Exarchen und vereinten damit militärische wie zivile Gewalt in einer Hand. Der Stifter der Bronzestatue des Kaisers Phokas auf der einzigen noch stehenden Monumen­ talsäule auf dem Forum Romanum, der Phokassäule, ist noch heute epigraphisch präsent: Er hieß mit hintergründigem Namen Smaragdus.77 In der Epoche nach 480 verschwanden für geraume Zeit die Kaiser, nicht jedoch die Heermeister aus der Geschichte Westeuropas, weil die Exarchen von Ravenna in Italien ihre Nachfolge antraten. Sie amtierten bis zum Jahre 751, als die Langobarden das Exar­ chat eroberten. Kurze Zeit später jedoch wurde das Kaisertum im Sinne einer renovatio imperii Romani durch Karl den Großen am 25. Dezember 800 erneuert – es ging erst 1 006 Jahre später, am 6. August 1806, unter. Ständige Reichsfeldherrn allerdings kannte das Heilige Römische Reich (Deutscher Nation) nicht.78

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of Flavius Ardaburius Aspar in the Hun Wars of the 440s. In: AncW. 3. 1980. S. 23–28; PLRE II. S. 135–137 (Ardabur 1), S. 137f. (Ardabur 3), S. 164–169 (Aspar), S. 892f. (Plinta); Bagnall u. a.: Consuls (Anm. 13). S. 371f. (Plinta), S. 388f. und S. 671 (Ardabur), S. 402f. und S. 673 (Aspar), S. 428f. (Ardabur iunior); Brian Croke: Dynasty and Ethnicity: Emperor Leo I and the Eclipse of Aspar. In: Chiron. 35. 2005. S. 147–203; Demandt: Spätantike (Anm. 3). S. 183f., 189f., 196, 209, 218, 220–223, 255f., 312f., 449. Zum Missorium Aspars, CIL XI 2637 = ILS 1299: Delbrück: Con­ sulardiptychen (Anm. 36). S. 154–156; Mario Cygielman/Benedett Adembri (Hg.): Ori e argenti nelle collezioni del Museo Archeologico di Firenze. Florenz 1990. S. 16f.; François Baratte: La vaisselle d’argent à l’époque théodosienne: „Renaissance classique“ ou fin de l’art antique? In: An­ tiquité Tardive (AnTard). 16. 2008. S. 195–208, hier S. 206f. Über Leo I. handelt Wolfgang Kuhoff: BBKL. 25. 2005. Sp. 810–829. Für Iustinianus sind drei gleichartige Diptychen bekannt: Delbrück: Consulardiptychen (Anm. 36). S. 141–143. Zu den beiden Exarchaten: Paul Goubert: Byzance avant l’Islam. Band II. 2: Rome, Byzance et Carthage. Paris 1965. S. 33–124 (Ravenna) und S. 180–220 (Karthago); Jadran Ferluga: Lexikon des Mittelalters IV. 1986. S. 151–155; Mischa Meier: DNP. IV. 1998. Sp. 331f.; Giorgio Vespigna­ ni: La Romania italiana dall’Esarcato al Patrimonium. Spoleto 2001. Zu Phokas: Wolfgang Kuhoff: BBKL. 33. 2012. Sp. 1022–1046. Zur Geschichte des deutschen Römischen Reiches siehe jüngst den Ausstellungskatalog: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962–1806. 5 Bde. Dresden 2006.

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Fazit: Heermeister und Kaiser – vom Zusammenwirken zum Konflikt Konstantin der Große, selbst ein energischer Feldherr, schuf das Heermeisteramt zu sei­ ner Unterstützung, hatte aber nie im Sinne, es solle an die Stelle der Augusti bei der Füh­ rung von Feldzügen treten. Die Vielfältigkeit der Kriegsschauplätze und seit 395 die häu­ fige Unfähigkeit der als Kinder zur Herrschaft gelangten Kaiser erzwangen allerdings die Notwendigkeit, erfahrene Heerführer an den Brennpunkten des Geschehens einzusetzen, was eine regelrechte Dynamik der Stellenvermehrung erzeugte, die neben den zwei Heer­ meistern am Kaiserhof regionale Feldherrn in Gallien, Illyricum und Oriens kreierte. Sie alle benötigten das Vertrauen der Herrscher, was schon der erste einschlägige Fall einer Usurpation durch Silvanus erwies, die nur durch dessen Fehlen überhaupt zustan­ dekam. Danach beruhigte sich die Situation, und das normale Verhältnis von Kaisern und Heermeistern als stellvertretenden Oberbefehlshabern stellte sich wieder ein, besonders wenn wie Iulianus und Theodosius I. in der Nachfolge Konstantins durchsetzungsfähige Augusti das Heft in der Hand hatten. Zwei Tendenzen begannen sich schon recht früh ab­ zuzeichnen, nämlich die Verschwägerung von Kaisern und ihren magistri militum sowie die Bildung von Heermeisterfamilien. Den entscheidenden Wendepunkt brachte der überraschende Tod des ersten Theodosius, nachdem schon Valentinian II. als Knabenkaiser der Hilfe erfahrener Heerführer bedurft hatte, die ihrerseits eine Vorzugsstellung zu gewinnen suchten, wie sie Merobaudes unter Gratian errungen hatte. Fatal wurde dagegen die Abgabe falscher Ratschläge, was für Va­ lens Niederlage und Tod bedeutete: Dieses Ereignis wirkte sich insgesamt verhängnisvoll aus, weil es einem ersten Dammbruch gegenüber den andrängenden Reichsfeinden glich. Trotz aller zwischenzeitlichen Erfolge diverser Heermeister gelang es seitdem nicht mehr, die landsuchenden Fremdvölker aus den Reichsgrenzen zu vertreiben, worunter besonders Gallien und Illyricum zu leiden hatten. Die schon lange Zeit geübte Anwer­ bung von Söldnern für das durch Bürgerkriege geschwächte Heer brachte immer mehr Germanen und sonstige nichtrömische Soldaten in das Imperium, was parallel zur größe­ ren Zahl nichtrömischer Truppenbefehlshaber führte, aus denen sich die magistri militum rekrutierten. Obwohl diese Perser, Goten, Alanen, Alamannen oder Franken waren, über­ trafen sie niemals eklatant die Zahl originär römischer Heermeister, so daß anfänglich keine wirklich in der Öffentlichkeit virulenten Ressentiments zum Ausdruck kamen. Erst die Eliminierung der in Kleinasien stationierten gotischen Söldner nach der Schlacht bei Hadrianopolis bereitete einer solchen Entwicklung den Weg. Nach der langen Dominanz Stilichos in Ravenna und der kurzen des Gainas in Konstantinopel ereigneten sich zwei weitere Pogrome gegen gotische Föderaten, deren eines die fremden Söldner gänzlich aus der östlichen Hauptstadt vertrieb, während das andere die Überlebenden in die Arme Alarichs trieb und die Einnahme Roms Ende August 410 begünstigte. Inwiefern freilich das Vorhandensein energischer Kaiser und die Beschränkung der Aktionsweite der an ihrer Stelle die Macht ausübenden Heermeister und im Osten auch Zivilbeamten diese Richtung hätte verändern können, bleibt natürlich unbeantwortet.

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Die Verselbständigung der magistri militum setzte mit Arbogastes ein, sie hatte aber ihren Vorläufer in den zwei Kaiserwahlen nach dem Ende der konstantinischen Dynastie 363 und Iovians Tod 364. Damals verzichteten die Heermeister auf die Kür eines Mit­ glieds ihres Kreises, aber die Möglichkeit, neue Augusti zu bestimmen, blieb seitdem eine potentielle Chance, entscheidend in die Geschicke des Reiches einzugreifen; sie wurde später erneut genutzt, als auch die valentinianisch­theodosianische Dynastie aus­ starb. Die Auseinanderentwicklung der beiden durch die Herrschaftsaufteilung zwischen Arcadius und Honorius gebildeten Reichshälften förderte, bedingt durch die ununterbro­ chenen Einfälle der auswärtigen Feinde, auch die Machtgewinnung der Heermeister nachdrücklich, obwohl diese im Osten stets mit der Konkurrenz der höchsten Zivilbe­ amten zu rechnen hatten und der Ausgang solcher Auseinandersetzungen ungewiß war. Im stärker den militärischen Bedrohungen ausgesetzten Westteil neigte sich die Schale des Machtübergewichtes jedoch eindeutig auf die Seite der Reichsfeldherrn und patricii, die mit Stilicho, Constantius, Aëtius und Rikimer jeweils eine beträchtliche Zeitlang die Geschicke militärisch wie innenpolitisch bestimmten. Dabei stand das Kaisertum durch­ aus im Blickpunkt der Ambitionen, auch wenn nur Constantius es für sich selbst gewin­ nen konnte, dann aber rasch ausschied. Das Nahverhältnis der Heermeister zur Herrschaft konkretisierte sich nach dem vergeblichen Versuch des Silvanus und dem nur temporä­ ren des Vetranio insgesamt achtmal im Aufstieg eines Amtsinhabers zur Spitze des Staa­ tes, und zwar bei Theodosius I., Constantius III., Avitus, Maiorianus, Anthemius, Iulius Nepos, Zenon und Iustinianus als letztem hier angesprochenen Falle. Zeitgenössische Äußerungen zum Heermeistertum allgemein sind selten. Zosimos als Ausnahme geht auf die Einrichtung durch Konstantin ein, kritisiert aber nur ein Kompe­ tenzgerangel zwischen ihnen und den Prätoriumspräfekten um die Versorgung der Solda­ ten.79 Dagegen liegen noch heute nicht nur etliche literarische Zeugnisse wie Briefe oder Reden, sondern auch Dokumente anderer Art zu Einzelpersonen vor. Die epigraphischen sind meist Ehrungen für sie, die Mosaikdedikationen von Felix und Rikimer geben Aus­ kunft über deren religiöse Einstellung, und die Beschriftungen von exagia reflektieren die realen Machtverhältnisse im zusammengeschrumpften Westteil, während die Münzen mit Rikimer dessen kaisergleiche Stellung ausdrücken. Am aufwendigsten präsentieren sich aber die Geschenke der Heermeister­Konsuln in Form von Elfenbeindiptycha einschließ­ lich der beiden ohne solche Bestimmung erhaltenen Stilicho­Tafeln sowie die Silberscha­ len wie im Falle Aspars, die eine deutliche Nachahmung kaiserlicher Geschenke darstel­ len, welche in Form des Theodosius­Missoriums vorliegen. Magistri militum und Augusti glichen sich auch in dieser Hinsicht an, womit ihre wechselhafte historische Beziehung nach außen hin in der Öffentlichkeit nicht nur durch große Staatsmonumente, sondern auch durch kleinteilige Dokumente sichtlich zum Ausdruck gelangte.

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Zos., Hist. Nov. II 33, 3–5.

Das Ohr des Königs. Zur Frage der Zugänglichkeit des Monarchen im Frankreich des 16. und frühen 17. Jahrhunderts* Lothar Schilling

König Philipp von Makedonien wußte offenbar Prioritäten zu setzen. Eine arme Frau, die Unrecht erlitten hatte, wandte sich mehrfach mit der Bitte an ihn, sie anzuhören und ihr zu ihrem Recht zu verhelfen. Doch immer, wenn sie ihn ansprach, entschuldigte er sich unter Hinweis auf seine Amtspflichten. Schließlich wurde die Frau ungehalten und schrie ihn an: Wenn er keine Zeit habe, sein eigentliches Amt als König auszuüben, solle er es aufgeben. Der König aber war von dem Vorwurf so betroffen, daß er sich sofort ihrer annahm und anschließend noch mehrere Tage lang Bittstellern Gehör schenkte. Im frühneuzeitlichen Frankreich wurde diese Geschichte aus dem vierten vorchrist­ lichen Jahrhundert über viele Jahre regelmäßig als Exempel erzählt, wenn es galt, die Aufgaben und Pflichten eines legitimen Monarchen im Unterschied zu einem Tyrannen zu verdeutlichen. Erstmals in diesem Sinne als politisches Gleichnis in die Debatte ein­ geführt hat sie offenbar der französische Kanzler Michel L’Hospital. In seiner Rede aus Anlaß der Eröffnung der Generalstände von Orléans am 13. Dezember 1560 zitierte er sie, um zu verdeutlichen, daß der König niemandem das Gehör verweigern dürfe1. Entlehnt hat L’Hospital diese Episode mit Sicherheit bei Plutarch, der die Begebenheit zwischen dem makedonischen König und der armen Frau an zwei Stellen erzählt: in den Apophthegmata (Βασιλέων αποφθέγματα και στρατηγών) und in den Parallelbiographi­ en (Βίοι παράλληλοι) – hier interessanterweise nicht in der Vita König Philipps, sondern * 1

Auf Wunsch des Autors erfolgt der Abdruck des Beitrags – abweichend von den Richtlinien der Publikationsreihe – in alter Rechtschreibung. L’Hospital gibt die Geschichte wie folgt wieder: la bonne femme qui demandoit audience au roy Philippes, qui s’excusoit a elle, disant qu’il n’avoit loisir de l’oyr, eut grande raison de luy repliquer: ,Ne soyez doncques roy!ʻ Druck bei Robert Descimon (Hg.): Michel de l’Hospital, Discours pour la majorité de Charles IX et trois autres discours. Genf 1993. S. 69–94, hier S. 74; Loris Petris: La plume et la tribune. Michel de L’Hospital et ses discours (1559–1562). Suivi de l’édition du De initiatione Sermo (1559) et des Discours de Michel de L’Hospital (1560–1562) (Travaux d’Humanisme et Renaissance. Bd. 360). Genf 2002. S. 383–405, hier S. 386; Auszug auch bei Gordon Griffiths (Hg.): Representative Government in Western Europe in the Sixteenth Century (Commentary and Documents for the Study of Comparative Constitutional History). Oxford 1968. S. 146–156.

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in jener des Diadochen Demetrios I. Poliorketes († 283 v. Chr.), der Plutarch zufolge dafür bekannt war, daß er seinen Untertanen kein Gehör schenkte.2 Obwohl L’Hospital als Humanist3 Plutarch im Original oder in lateinischer Überset­ zung gelesen haben könnte, ist wahrscheinlicher, daß er eine französische Übersetzung der Βίοι παράλληλοι benutzt hat, die 1559 von dem Humanisten und späteren Bischof von Auxerre, Jacques Amyot († 1593), publiziert worden war.4 Diese sehr freie Übertragung der Parallelbiographien traf offensichtlich den Geschmack des gebildeten französischen Publikums, denn noch zu seinen Lebzeiten wurden zahlreiche Nachdrucke und vier von ihm selbst überarbeitete Neuauflagen publiziert. Bis ins 18. Jahrhundert erfuhr Amyots Plutarque zahlreiche weitere Neuauflagen.5 So wurden Plutarchs Parallelbiographien zum Gemeingut der französischen Gebildeten, die den darin behandelten Stoffen bald auch in den literarischen Werken zeitgenössischer französischer Autoren begegneten.6 Damit war aber auch die Voraussetzung geschaffen für die topische Verwendung der ein­ gangs erzählten Episode in den politischen Debatten der Zeit. Tatsächlich findet man in französischen politischen Texten des späteren 16. und frühen 17. Jahrhunderts – unabhängig von der religiösen und politischen Position der jeweiligen Autoren – immer wieder das Exempel von König Philipp und der Bittstellerin, und stets zie­ len die entsprechenden Passagen gleichnishaft darauf ab, im Sinne L’Hospitals die Pflich­ ten eines guten Königs gegenüber seinen Untertanen zu verdeutlichen. So kann man sie bei dem protestantischen, in der Bartholomäusnacht ermordeten Juristen Jean de Coras7 2

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Plutarch: Regum et imperatorum Apophthegmata, zu König Philipp. Nr. 32 (hier verwendet: Fran­ çois Fuhrmann (Hg.): Plutarque. Oeuvres morales. Bd. 3. Paris 1988. S. 45f.); Vita des Demetrios. XLII. 7f. (hier verwendet: Konrat Ziegler (Hg.): Vitae parallelae. Bd. 3.1. 2. Aufl. Leipzig 1971. S. 47); auf die Schilderung dieser Episode folgt in der Demetrios­Vita Maximen zur Bedeutung der Gerichtsbarkeit als Hauptaufgabe des Königs: „Nichts geziemt einem König mehr als die Gerichts­ barkeit. Ares ist Tyrann, wie Timotheos sagt, aber Pindar zufolge ist das Recht König über alle Din­ ge“ (XLII. 8). Auf Demetrius geht L’Hospital in seiner Rede vom 13.12.1560 (Anm. 1) unmittelbar nach der zitierten Stelle ausdrücklich ein: Demetrius roy de Macedoine perdit son royaume, pour refuser l’audience a ses subjects [...]; ebd. Vgl. zur Biographie neben Petris: La plume et la tribune (Anm. 1) Seong­Hak Kim: Michel de L’Hôpital. The Vision of a Reformist Chancellor during the French Religious Wars. Kirksville 1997; Denis Crouzet: La sagesse et le malheur. Michel de l’Hospital, chancelier de France. Seyssel 1998. Jacques Amyot: Les vies des hommes illustres grecs et romains, comparées l’une avec l’autre par Plutarque [...] translatées de grec en français. Paris 1559; die Passage lautet (hier zit. nach der Aufl. Paris 1593/94. Bd. 2. S. 635): [...] Roy Philippus estoit doux & benin en telles choses [en tant que justicier], & comment un iour ainsi comme il passoit par la rue, une pauvre vielle femme le tira par la robe, en le supliant instamment par plusieurs fois de la vouloir escouter: il lui respondit qu’il n’avoit pas le loisir pour l’heure, & lors la bonne femme se prit à crier haut & clair, Ne vueilles donc point estre Roy. Ceste parole le touscha si vivement au cœur, & y pensa bien, qu’il s’en retourna tout court en son logis, là où toutes autres choses mises en arriere, il ne fit rien par plusieurs iours, que vaquer à ouïr les plaintes & les requestes de ceux qui avoyent afaire à lui, en commençant à ceste pauvre vieillote. Vgl. René Sturel: Jacques Amyot, traducteur des vies parallèles de Plutarque. Paris 1908. insbes. S. 615–619. Vgl. etwa zum Einfluß der Amyotschen Übersetzung der Parallelviten auf Montaigne Joseph de Zangroniz: Montaigne, Amyot et Saliat. Étude sur les sources des Essais. Paris 1906. [Jean de Coras]: Petit discours des parties et office d’un bon et entier juge. Lyon 1596. S. 26. Zu Coras A. London Fell: Origins of Legislative Sovereignty. Bd. 1–2. Königstein/Ts. 1983; ferner Vit­

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ebenso lesen wie bei dem irenisch­katholischen Parlamentsrat Étienne Pasquier,8 der sich als Autor einer erfolgreichen französischen Nationalgeschichte einen Namen machte und später den politiques zugerechnet wurde.9 Man findet sie bei Pierre Charron,10 einem der bedeutendsten Vertreter des Neustoizismus in Frankreich,11 ebenso wie in einem aus der Regierungszeit Heinrichs IV. stammenden Traktat über die Reform des Justizwesens12 oder in Flugschriften aus Anlaß der Generalstände.13 Ein offenbar aus der Feder eines Jesuiten

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torio de Caprariis: Propaganda e pensiero politico in Francia durante le guerre di religione. Bd. 1: 1559–1572 [mehr nicht erschienen]. Neapel 1959. S. 428–433. In einer 1590 unter dem Titel L’Anti-Martyr de Frere Jacques Clement, de l’Ordre des Jacobins anonym erschienenen Schrift, die mit großer Wahrscheinlichkeit von Estienne Pasquier stammt, heißt es: C’est pourquoy le Roi Philippe print en fort bonne part ce que luy repliqua un jour une povre vieille, à laquelle il avait dit n’avoir le loisir de l’escouter. Ne sois donc Roy; zit. nach Doro­ thy Thickett (Hg.): Estienne Pasquier. Écrits Politiques (Textes littéraires français. Bd. 126). Genf 1966. S. 179–246, hier S. 199f. Vgl. zu Pasquiers politischem und schriftstellerischem Wirken George Huppert: Naissance de l’histoire en France: les „Recherches“ d’Etienne Pasquier. In: Annales. Économies, sociétés, civi­ lisations. 23. 1968. S. 69–105; Dorothy Thickett: Estienne Pasquier (1529–1615). The Versatile Barrister of 16th­century France. London/New York 1979; Suzanne Trocmé Sweany: Estienne Pas­ quier (1529–1615) et nationalisme littéraire. Paris 1985; Paul Bouteiller: Recherches sur la vie et la carrière d’Étienne Pasquier, historien et humaniste du XVIe siècle. Paris 1989; Corrado Vivanti: „Les Recherches de la France“. In: Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire. Bd. 2. Paris 1997. S. 2245–2300; Myriam Yardeni: La Pensée politique des „Politiques“. Étienne Pasquier et Jacques­ Auguste de Thou. In: Thierry Wanegffelen (Hg.): De Michel de L’Hospital à l’édit de Nantes. Politique et religion face aux Églises. Clermont­Ferrand 2002. S. 495–510. Pierre Charron: De la sagesse [livres trois]. Zuerst Bordeaux 1601. Texte revu par Barbara Negroni (Corpus des œuvres de philosophie en langue française). Paris 1986. III/16 (Devoir des souverains & des sujets). S. 713: Tiercement le prince est debiteur de justice à tous ses subjects, et doibt mesurer sa puissance au pied de la justice. C’est la propre vertu du prince vrayement royale et principesque, dont justement fust dict par une vieille au roy Philippe, qui dilayoit luy faire justice, disant n’avoir le loysir, qu’il desistast donc et laissast d’estre roy. Mais Demetrius n’en eust pas si bon marché, qui fust despouillé de son royaume par ses subjects, pour avoir jetté du pont en bas en la riviere plusieurs leurs requestes sans y avoir respondu et faict droict. Vgl. zu Charron etwa Alfred Soman: Pierre Charron. A revaluation. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance. 32. 1970. S. 57–79; Mathias Schmoeckel: Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht bei Charron und Montaigne. In: Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.– 18. Jh.). Hg. von Angela de Benedictis/Karl­Heinz Lingens (Studien zur europäischen Rechtsge­ schichte. Bd. 165). Frankfurt a. M. 2003. S. 111–139. Dort heißt es: Philippe, roy de Macédonie, le recognut bien [que le premier et principal office des roys est de faire justice], quand une pauvre vieille s’estant adressée à luy pour luy faire une plaincte et demander justice, luy ayant doulcement respondeu qu’il avoit pour lors aultres affaires et ne pouvoit escouter, la vieille s’escriant, luy dict hault et clair: Cessez donc, Philippe, d’estre roy, et quittez la place à ung aultre. Der Traktat wurde irrig Kanzler L’Hospital zugeschrieben; er ist gedruckt bei P[ierre] J[oseph] S[piridon] Dufey (Hg.): Œuvres inédites de Michel de l’Hospital etc. suivies d’un tableau de la législation française au seizième siècle et accompagnées de notes his­ toriques. 2 Bde. Paris 1825/26. ND Genf 1968. Bd. I. S. 3–406 und Bd. II. S. 1–316, hier I, S. 29f. Vgl. zu Autorschaft und Entstehungszeitraum Sylvia Neely: Michel de l’Hospital and the Traité de la Réformation de la Justice: A case of Misattribution. In: French Historical Studies. 14. 1986. S. 339–366. Anon.: Des Estats Generaux de France. Avec ouverture des moyens d’une bonne reformation, pour le bien du service du Roy & de son estat, utilité, commodité & soulagement de son peuple & pour l’execution des ordonnances. o.O. 1615. S. 30f.: on dict de Philippes Roy de Macedonne que

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stammender mystizistischer Traktat erwähnt sie ebenso zustimmend14 wie eine Schrift des den christlichen Offenbarungsglauben ironisch dekonstruierenden Skeptikers François La Mothe Le Vayer über die Erziehung des Dauphins.15 Auch nach 1640 gehörte die dargestellte Episode aus der makedonischen Geschich­ te zum Allgemeinwissen historisch gebildeter Franzosen. Sie wurde weiter erzählt, ja im 18. Jahrhundert scheint der Kreis jener, die diese Episode kannten, noch deutlich gewachsen zu sein – jedenfalls findet man sie in zahllosen Publikationen, in Wörterbü­ chern, in biographischen und historiographischen Werken, aber auch in Zeitschriften;16 in d’Alemberts und Diderots Encyclopédie wird die Geschichte ebenfalls erzählt.17 Al­ lerdings scheint sich der Stellenwert der Geschichte nach 1640 verschoben zu haben; während sie bis dahin meist der Illustration verfassungspolitischer Aussagen dient, wird sie nun in der Regel nicht mehr als politisches Gleichnis, sondern als allgemeingültiges Bildungsgut behandelt, das nur noch selten mit konkreten verfassungspolitischen Positi­ onen verknüpft wird.18

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comme une pauvre femme se fust un iour presentee à luy, pour luy demander iustice & sur ce qu’il la vouloit remettre a une autrefois s’excusant de n’avoir loysir pour l’heure, elle luy dist franchement qu’il cessast doncques de reigner, ou rendist iustice, parolle qui le toucha si vivement au cœur que toutes choses mises en arriere il fist iustice sur le champ à ceste pauvre femme, & ne cessa dela en avant de pourvoir sur toutes autres plainctes de ceux qui avoient à faire a luy. Anon.: Les Extases du vray chrestien. Par lesquelles l’on pourra avoir la vraye cognoissance de Dieu, & quitter les vanitez du monde. Rouen 1612. S. 38: Oyez toutes les plaintes, & non pas toutes les flateries, faites plus d’estat d’une requeste, que d’un present, afin que vous ne soyez comme Philippe de Macedoine, suiet à la censure d’une femme. Das Zitat zeigt, daß die Geschichte als allgemein bekannt vorausgesetzt wurde. François La Mothe Le Vayer: De l’instruction de Monseigneur le Dauphin, au cardinal duc de Richelieu (1640). Hier zit.: Ders.: Œuvres de François de La Mothe Le Vayer, conseiller d’État, &c. Nouvelle édition revue et augmentée. 14 Bde. Dresden 1756–1759. Bd. 1, 2. Paginierung. S. 32f.: Quoiqu’il en soit, les Princes ne participent en rien tant de cette Divinité qu’ils nous representent ici bas, qu’en l’exercice de la Justice par la distribution des peines & recompenses. [...] Ce n’est donc pas merveille, si ceux qui se sont humiliez devant les Puissances souveraines pour obtenir quelque acte de cette Justice, n’ont pû s’empêcher de témoigner de grands ressentimens lors qu’elle leur a été refusée. Philippe de Macedoine, & depuis lui les Empereurs, Trajan & Hadrien, souffrirent en de telles rencontres la liberté de quelques personnes, qui leur dirent hardiment qu’ils doivent donc cesser de regner, s’ils ne vouloient pas prendre la peine de leur faire Justice. Vgl. etwa Nicolas Lenglet de Fresnoy: Méthode pour étudier l’histoire [...]. Paris 1714. Bd. 1. S. 356; Bibliothèque raisonnée des ouvrages des savans de l’Europe. 13. 1734. S. 115f.; Richard de Bury: Histoire de Philippe et d’Alexandre le Grand, rois de Macédonie. Paris 1760. S. 189; Honoré Lacombe de Prezel: Dictionnaire des portraits historiques, anecdotes et traits remarquables des hommes illustres. Bd. 3. Paris 1768. S. 103. Jean Le Rond d’Alembert/Denis Diderot (Hg.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers [...]. Bd. 12. Paris 1765. S. 265 (s.v. Pella). Eine Ausnahme im 18. Jahrhundert ist ein Werk des jansenistischen Abbé Pierre Barral: Maximes sur le devoir des rois et le bon usage de leur autorité, tirée de differens auteurs. 2 Bde. o.O. 1754. Bd. 2. S. 11: Philippe Roi de Macédonie, avoit la coutume de dire ce beau mot: ‘Qu’il est au pouvoir des Rois de se faire aimer ou haïr’. Il faisoit paroître beaucoup de modération, lors même qu’on lui parloit d’une maniére choquante & injurieuse, & ce qui n’est pas moins admirable, lorsqu’on lui disoit ses vérités: grande qualité pour bien régner! Une pauvre femme se présentoit souvent devant lui pour lui demander audience, & pour le prier de vouloir bien terminer son procès. Il lui répondit toujours qu’il n’avoit pas le tems. Rebutée de ces refus réitérés tant de fois, elle

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Das Gleichnis von König Philipp nimmt ein zentrales, in ganz unterschiedlichen Kon­ texten und Epochen begegnendes Problem im Gefolge jeglicher Form der Machtkonzent­ ration in den Blick: das Problem des Zugangs zu Macht­ und Herrschaftsträgern und deren Fähigkeit und Bereitschaft, Informationen über ihren jeweiligen Machtbereich und die Le­ bensumstände der Menschen zur Kenntnis zu nehmen und in ihrem politischen Handeln zu berücksichtigen. Dieses Problem stellt sich desto nachdrücklicher, je stärker Macht und Herrschaftsrechte bei einer Person oder einem kleinen Personenkreis konzentriert sind.19 Im Folgenden soll es freilich nicht darum gehen, dieses Problem in allgemeiner Weise zu reflektieren. Ziel dieses Beitrags ist es vielmehr zu klären, wie die Frage des Zugangs zum Monarchen im Frankreich der Jahrzehnte zwischen 1560 und etwa 1640 thematisiert wur­ de, um so die spezifische politische Bedeutung der intensiven Verwendung des Gleich­ nisses von König Philipp näher zu bestimmen. Dabei wird es zunächst um jene politische Vorstellungswelt gehen, der das Ideal des zugänglichen, seinen Untertanen jederzeit Gehör schenkenden Monarchen entstammt (I.), sodann um Faktoren, die dazu führten, daß dieses Ideal seit der Mitte des 16. Jahrhunderts als gefährdet galt (II). In einem dritten Abschnitt sollen dann längsschnittartig die wichtigsten Phasen der Debatte um die Zugänglichkeit des Königs vorgestellt werden (III.). Ein kurzes Resümee (IV.) schließt den Beitrag ab.

I. Wenn seit 1560 in Frankreich das Gleichnis von König Philipp und der alten Frau auf die zeitgenössische politische Praxis bezogen wurde, geschah dies meist im Kontext von Aussagen über die Rolle des französischen Königs als Richter.20 Dabei wurde meist der Topos des grand justicier21 evoziert, eine Idealvorstellung, die im französischen Monar­

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répliqua un jour avec émotion: ‘mais si vous n’avez pas le tems de me rendre justice, cessez donc d’être Roi.’ Il sentit toute la force de cette plainte, qu’une juste indignation avoit arrachée à cette pauvre femme; & loin de s’en choquer, il la satisfit sur le champ, & devint dans la suite plus exact à donner ses audiences. Il reconnut qu’en effet, être Roi & être Juge, c’étoit la même chose. Von den im 18. Jahrhundert vorherrschenden Verwendungen dieser Geschichte unterscheidet sich Barrals Fassung durch die explizite Schlußfolgerung, die auf eine konkrete Norm abzielt. Mit Blick auf das 20. Jahrhundert hat Carl Schmitt dieses Problem prägnant zusammengefaßt: „Je mehr die Macht sich an einer bestimmten Stelle, bei einem bestimmten Menschen oder einer Gruppe von Menschen wie in einer Spitze konzentriert, um so mehr verschärft sich das Problem des Korridors und die Frage des Zugangs zur Spitze“; Carl Schmitt: Gespräche über die Macht und den Machthaber – Gespräch über den Neuen Raum. Berlin 1994. S. 19. Vgl. zu dieser Problematik nun grundlegend: Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spani­ schen Kolonialherrschaft. Köln u.a. 2009. S. 31–71. Für diesen Beitrag nicht mehr berücksichtigt werden konnte der Aufsatz von Marie­Karine Schaub: Avoir l’oreille du roi. L’ambassade de Pierre Potemkin et Simeon Roumiantsev en France en 1668. In: Stefano Andretta et al. (Hg.): Paroles de négociateurs: l’entretien dans la pratique diplomatique de la fin du Moyen âge à la fin du XIXe siècle. (Collection de l’École française de Rome. Bd. 433). Rom 2010. S. 213–229. Vgl. etwa die in Anm. 10, 12, 13 und 15 zitierten Aussagen. Vgl. noch immer Ernest Désiré Glasson: Le Roi, grand justicier. In: Nouvelle revue historique du droit français et étranger. Série 3. 26. 1902. S. 711–737; 27. 1903. S. 76–94; ferner Claude Gau­

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chiediskurs des Spätmittelalters schon deshalb breite Resonanz gefunden hatte, weil sich die Herrschaftsgewalt der französischen Könige dieser Zeit „vorzugsweise im letztins­ tanzlichen Richterspruch verwirklichte“.22 Entsprechend häufig findet man in einschlägigen Texten des 16. und frühen 17. Jahrhun­ derts Aussagen, in denen die Ausübung der Richtergewalt als Hauptaufgabe des Monarchen bezeichnet wurde. Un bon Roy doit sur tout maintenir la Iustice, dichtete etwa Joachim de Bellay, einer der Köpfe der Pléiade.23 Kaum ein Text über die Herrschaftsordnung Frank­ reichs bezeichnete die administration de la justice nicht als Hauptaufgabe des Königs24 oder als Kern seines Amtes, aus dem sich alle anderen Verpflichtungen ableiten ließen.25 Auch die Stilisierung des Monarchen als Sonne, der später zentrale Bedeutung in der absolutistischen Herrschaftsmetaphorik und ­ikonographie zukam,26 begegnet bis zur Mitte des 17. Jahrhundert fast ausschließlich im Zusammenhang mit seiner Stellung als oberster Richter und Garant der justice. Sie diente nicht zuletzt dazu, das Eingriffsrecht des Königs in reguläre Gerichtsverfahren zu illustrieren27 oder im Zusammenhang mit

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vard: L’image du roi justicier en France à la fin du Moyen Age d’après les lettres de rémission. In: La Faute, la répression et le pardon. Actes du 107e Congrès national des sociétés savantes. Brest 1982. Section de philologie et d’histoire jusqu’à 1610. Bd. 1. Paris 1984. S. 165–192; Jacques Krynen: L’empire du roi. Idées et croyances politiques en France, XIIIe–XVe siècle. Paris 1993. S. 252–255; zum Fortleben der Vorstellung im 16. und 17. Jahrhundert etwa Emmanuel Le Roy Ladurie: Réflexions sur l’essence et le fonctionnement de la monarchie classique (XVIe–XVIIIe siècles). In: Henri Mechoulan (Hg.): L’Etat baroque. Regards sur la pensée politique de la France du premier XVIIe siècle. Paris 1985. S. Xf. Vgl. zum Folgenden ferner Lothar Schilling: Normset­ zung in der Krise. Zum Gesetzgebungsverständnis im Frankreich der Religionskriege (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Bd. 197). Frankfurt a. M. 2005. S. 43–50. So Helmut Quaritsch: Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806 (Schriften zur Verfassungsgeschichte. Bd. 38). Berlin 1986. S. 32. Hier nach einer aus Gedichten Ronsards und Bellays zitierenden Flugschrift: Anon.: Franc & libre Discours ou Advis aux Deputez des trois Estats, pour la Reformation d’iceux. Par B. L. D. l’un des Esleus pour le tiers Estat. Paris 1614. S. 23. So formulierte etwa der Sprecher des Adels bei den Generalständen von Orléans: la principale partie de votre état [...] est d’être équitable & faire justice à tous; Rede des Jacques Silly, seigneur de Rochefort bei der séance royale am 1. Januar 1561 (n.s.), mehrfach zeitgenössisch gedruckt; hier zit. nach Charles Joseph Mayer (Hg.): Des Etats généraux et autres Assemblées nationales. 18 Bde. Paris 1788–1789. Bd. 10. S. 402–414, hier S. 409. In einer 1614 in mehreren Auflagen gedruckten Flugschrift heißt es an die Adresse Ludwigs XIII.: Et voici un abrégé des occupations à quoi votre charge vous oblige: faire iustice et iugement, en ces deux mots tout est compris; [Jacques Gillot]: Le Caton François. Au Roi. o.O. 1614; hier zit. nach: Anon.: Recueil des principaux traitez escrits et publiez pendant la tenue des Estats generaux du Royaume assemblez à Paris l’an 1614 & 1615. o.O. 1615. S. 5–69, hier S. 16; vgl. dazu Denis Richet: La polémique politique en France de 1612 à 1615. In: Ders./Denis Richet (Hg.): Représen­ tation et vouloir politiques: autour des États généraux de 1614 (Recherches d’histoire et de sciences sociales. Bd. 4). Paris 1982. S. 151–194, hier S. 176; ähnlich: Anon.: Seianus françois. Au Roy. o.O. 1615. S. 11: Aussi leur office [l’office des rois] n’est autre que de faire iugement & iustice. Vgl. zur (ihrerseits komplexen und keineswegs statischen) Verwendung der Sonnensymbolik in der Herrscherikonographie Ludwigs XIV. Gérard Sabatier: Versailles ou la figure du roi. Paris 1999. S. 47–242. In diesem Zusammenhang war das Bild seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geläufig; vgl. etwa Pierre Belordeau: Les Coustumes Generales des Pays et Duché de Bretagne. Avec la Para­

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den Generalständen seine Bereitschaft zu unterstreichen, Frieden zu stiften und den Un­ tertanen Gerechtigkeit zu gewähren.28 Denn dem sonnengleichen König wurde die Fähig­ keit zugeschrieben, allein schon mit seinem Blick alles Übel zu vertreiben, wenn er sur le siege de justice saß.29 Aus der Stellung als oberster Richter wurde stets auch eine umfassende Verantwortung des Monarchen für das Gemeinwohl und die Wahrung der Rechtsordnung hergeleitet. Dies schloß die Pflicht ein, persönlich dafür zu sorgen, daß allen Untertanen Gerechtig­ keit widerfuhr. Der König war débiteur de justice30 – auch diese aus dem Krönungseid

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phrase et Explication literale & Analogique, sur tous les Articles d’icelles. 3. Aufl. Paris 1635. Titel 1. Art. 26: Les juridictions prennent leur principe & origine du Prince souverain, c’est de luy que les autres Seigneurs, Ducs, Comtes, Barons & Marquis ont l’auctorité & la puissance sur leurs sujets & iusticiables & avec charge & necessité de rendre la justice. Le Prince tient cette puissance de Dieu, & proprio iure, & les autres du Prince, & par concession, & principis beneficio, ce sont comme les rayons de son soleil, qui doivent par leur vertu & exemple eclairer les autres (S. 44). In ähnlichem Sinne appellierte 1614 der cahier général des Klerus an den König; er beklagte l’autorité que se donnent sur les lieux les plus puissans d’opprimer les plus foibles quand ils sont éloignez du Soleil de la Justice und forderte die regelmäßige Abhaltung außerordentlicher, vom König auto­ risierte Gerichtstage (grands jours); Art. 247; Druck: Lalourcé/Duval: Recueil des cahiers généraux des trois ordres aux États généraux. 4 Bde. Paris 1789. IV. S. 128. Vgl. die Rede L’Hospitals vom 13.12.1560 (Anm. 1), S. 71 und S. 384: Et comme nous voyons, a un jour obscur et plein de nuées et brouillars, que le soleil, a sa venue, rompt et dissipe la nuée et rend le temps clair et serein, ainsi le visage de nostre jeune roy a percé jusques au fond des coeurs des princes du sang et aultres seigneurs, a chassé et osté tous suspeçons, passions et affections qu’ils pouvoient avoir, les a pacifiez, liez et unis tellement ensemble qu’il n’y a maison privée ou les freres soient si bien unis, accordans et obeissans a leurs peres, comme sont lesdits princes et seigneurs avec le roy leur seigneur et entr’eux, n’ayans aucune autre chose devant les yeux que de bien et fidelement servir ledit seigneur luy obeir et a la roine sa mere. Etwas anders akzentuierte L’Hospitals Nachfolger Montholon dieses Bild bei seiner Rede zur Eröffnung der Generalstände von Blois am 16.10.1588: L’experience nous apprend que le soleil, créature de Dieu, tient un ordre en la revue de tous les endroits du monde où il procède de telle justice et égalité, qu’il voit et se communique à toutes choses, soit qu’elles soient grandes ou petites, et ne dédaigne rien pour si bas, vil ou foible qu’il puisse être. La même bonté et sollicitude a affectionné le roi notre souverain de désirer la convocation de cette assemblée. Druck: Lalourcé/Duval (Hg.): Recueil de pièces origi­ nales et authentiques, concernant la tenue des États généraux. 9 Bde. Paris 1789. IV. S. 58–79, hier S. 59. So [Pierre de Belloy]: De l’Authorité du roy, et crimes de leze Majesté, qui se commettent par ligues, designation de successeur, & libelles escrits contre la personne & dignité du Prince. o.O. 1587. Deckblatt: Le Roy seant sur le siege de Iustice dissipe tout mal par son regard. Die Aussage ist dem Alten Testament entlehnt (Sprüche Salomos, 20,8). Mehrfach begegnen Adaptionen dieser Formel etwa bei Jean Juvénal des Ursins; vgl. etwa A, A, A, nescio loqui, Druck: Peter Shervey Lewis/Anne­Maire Hayez (Hg.): Ecrits politiques de Jean Juvé­ nal des Ursins. 2 Bde. Paris 1978/85. Bd. I. S. 437–551, hier S. 513, wo von der justice que le roy doit a tout son peuple die Rede ist. Auch in Gesetzestexten wurde die Formel verwendet; so heißt es etwa in einer Deklaration König Ludwigs XII. vom 13. Juli 1498: nous sommes débiteur de justice à nos sujets [...]; J.M. Pardessus (Hg.): Ordonnances des rois de France de la troisième race, recueillis par ordre chronologique. Bd. 21. Paris 1849. ND Farnborough 1968. S. 56; vgl. ferner Krynen: L’empire (Anm 21). S. 252; Michel Reulos: La notion de justice et l’activité administrative du roi en France (XVe–XVIIe siècles). In: Histoire comparée de l’administration (IVe–XVIIIe siècles). Actes du XIVe colloque historique franco­allemand de l’Institut Historique Allemand de Paris. Hg. von Werner Paravicini/Karl Ferdinand Werner (Francia. Beiheft 9). München 1980. S. 33–46; Jean Barbey: Être roi. Le roi et son gouvernement en France de Clovis à Louis XVI. Paris 1992. S. 165–170.

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hergeleitete,31 seit dem Spätmittelalter regelmäßig begegnende Formel wurde im 16. Jahr­ hundert immer wieder mit dem eingangs zitierten Exempel verknüpft.32 Der König war nicht nur Gott gegenüber verpflichtet, Gerechtigkeit walten zu lassen, er schuldete sie jedem einzelnen seiner Untertanen. Die Verpflichtung des Monarchen als oberster Richter und Wahrer der Rechtsord­ nung wurde dabei nicht selten unmittelbar aus der Einrichtung des Königtums hergelei­ tet. Kanzler L’Hospital unterstrich dies 1560 bei der Eröffnung der Generalstände von Orléans: Les rois ont esté esleus, premierement pour faire la justice, et n’est acte tant royal faire la guerre que faire justice33 – eine Einschätzung, die sich in den cahiers der Generalstände ebenso findet34 wie in den Remonstranzen königlicher Amtsträger,35 aber auch in dem zuerst 1612 erschienenen, mehrfach neu aufgelegten Handbuch des könig­ lichen conseiller L’Hommeau über die Maximen des französischen Rechts.36 Auch mit der seit der Mitte des 16. Jahrhunderts wiederbelebten Vorstellung einer gegenseitigen Verpflichtung zwischen Herrscher und Volk (mutua obligatio) und mit der Gehorsams­ pflicht der Untertanen wurde die Pflicht des Königs als débiteur de justice verknüpft.37 31

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Vgl. etwa Jean Bodin: Methodus, ad facilem historiarum cognitionem. Zuerst 1566. In: Pierre Mesnard (Hg.): Œuvres philosophiques de Jean Bodin (Corpus général des philosophes français, Auteurs modernes. 5.3). Paris 1951. S. 101–473, hier S. 187: Princeps ante Pontifices per Deum immortalem iurat, se omnibus ordinibus debitam legem ac iustitiam redditurum. Vgl. in Anm. 10 die Aussage Charrons. Auch Pasquier betont unmittelbar vor der oben in Anm. 8 zitierten Stelle: Le prince doibt justice à ses sujets. Rede L’Hospitals vom 13.12.1560 (Anm. 1). S. 74 und S. 386. Der Kanzler stellt in diesem Zusam­ menhang faire la guerre und faire justice einander gegenüber – offensichtlich eine Anspielung auf den schon im Spätmittelalter häufig zitierten ersten Satz der Einführungskonstitution der Instituti­ onen (Imperatoriam maiestatem non solum armis decoratam, sed etiam legibus oportet armatam), auf die L’Hospital auch bei anderer Gelegenheit anspielte. Vgl. etwa den cahier des Dritten Standes für die Generalstände von Orléans, in dem es zu Beginn des Abschnitts über die justice heißt (Art. 198): il est certain que, de tous temps, les monarchies ont pris leur origine sur la justice, et qu’au premier établissement des règnes, les puissances étoient déférées aux personnes que l’on connoissoit plus capables de la pouvoir bien distribuer, en sorte qu’il est connu que le seul moyen de maintenir les potentats a été toujours celui par lequel ils ont été établis, qui est la distribution de la justice; Druck: Lalourcé/Duval: Recueil des cahiers géné­ raux (Anm. 27). I. S. 336. Vgl. etwa [Pierre Belordeau]: Remonstrance au Roy contenant un bref discours des miseres de la Province de Bretagne, de la cause d’icelles, & du remede que sa Maiesté y a apporté par le moyen de la paix, par P. B. A. Lyon 1598. B 3: Les Roys ont esté premierement ordonnez pour rendre la Iustice au peuple. Pierre de L’Hommeau: Les Maximes generalles du droict françois, divisees en trois livres […] par M. Pierre Delommeau, sieur du Verger. Rouen 1612. S. 11: la iustice [...] est une marque principale des Rois, qui ne sont establis pour autre chose que pour faire iustice; auch in der Auflage von 1665 blieb diese Passage unverändert: Ders.: Maximes Generales du Droict François. Divisées en trois livres. Avec les Notes & Observations de Me. Paul Challine Advocat en Parlement, sur les 285 der­ nieres Maximes, sçavoir depuis la 161. Maxime du Troisième Livre iusques à la 445. & derniere. Paris 1665. S. 7. In einer 1564 veröffentlichten hugenottischen Flugschrift heißt es in diesem Sinne: puis qu’il a pleu à Dieu vous constituer en ce tant florissant Royaume, son Ministre, pour commander selon sa sainte volonté aux François, il y a entre vous & eux une réciproque obligation, laquelle ne se peut ou doit enfraindre; c’est que le peuple à vous commis est débiteur envers Vostre Majesté, d’honneur, révérence & de toute obéissance; & de vostre part, il appartient à vostre Dignité Royale, de

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Frankreich aber galt nach einem bereits im Spätmittelalter weitverbreiteten Topos als ein Herrschaftsverband, der sich von anderen europäischen Reichen nicht nur durch den Gehorsam seiner Untertanen, sondern auch durch die Offenheit der zwischen Monarch und Untertanen gepflegten Kommunikation hervortat, was wiederum dazu führte, daß es über besonders gute Gesetze und eine ausgezeichnete Gerichtsbarkeit verfügte. Das Ideal des zugänglichen und deshalb gute Gesetze erlassenden, jedem Untertanen sein Recht verschaffenden Monarchen wurde deshalb gerade in Krisenzeiten angesprochen, wenn an den Patriotismus der Franzosen appelliert, der Zusammenhalt des Gemeinwesens be­ schworen oder umgekehrt die Bedrohung durch lothringische, italienische oder spanische Einflüsse unterstrichen werden sollte.38 Aus der Rolle des solchermaßen für Gerechtigkeit sorgenden Königs ergab sich nicht zuletzt die Verpflichtung, gegebenenfalls im Rahmen der justice retenue39 selbst Recht zu sprechen oder persönlich bzw. durch seinen conseil in den Gang der justice ordinaire einzugreifen. In diesem Sinne äußerte etwa Heinrich IV. die Hoffnung, gegen Ende sei­ nes Lebens Gelegenheit zu haben, zwei­ bis dreimal wöchentlich im parlement Recht zu sprechen40 – und 1614 forderte der cahier général des Dritten Standes, der König solle wie einst Ludwig der Heilige seinen Untertanen zweimal wöchentlich Audienz gewähren

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luy faire distribuer & administrer la Justice, autant au plus povre, comme au plus riche, & autant au foible, comme au fort, sans aucune exception ou distinction de personne. Anon.: Remonstrances présentées au Roy […] par les Nobles & gens du Tiers Estat de ce Royaume, contre la Requeste des Ecclésiastiques, tendant afin de pouvoir retirer leurs biens vendus par vertu de l’Edit dudit Seigneur […], Druck: Denis­François Secousse (Hg.): Mémoires de Condé, servant d’éclaircissement et de Preuves à l’Histoire de M. de Thou [...]. 6 Bde. London 1743–1745. V. S. 6–17, hier S. 6f. Ähnlich argumentiert zur selben Zeit eine ultrakatholische Flugschrift: Les Rois sont Auteurs de Justice, & escrivent les Loix qu’ils posent sur le peuple; mais quand ils renient Justice, & désobéissent aux Loix, ils font chose indigne de leur Royale Majesté; car comme le peuple d’une sorte est obligé au Roy, aussi le Roy d’une autre sorte est obligé au peuple: le peuple doit en toute chose rendre obéissance à son Prince, & le Prince doit en toute chose garder équité à son peuple. Anon.: Sentence re­ doutable, & Arrest rigoureux du Jugement de Dieu, à l’encontre de l’impiété des Tyrans, recueillies tant des Saintes Escriptures, comme de toutes autres Histoires. A Très­haut & très­excellent Prince Charles de Lorraine, Duc de Guyse. Lyon 1564; hier zit. nach: Secousse (Hg.): Mémoires (wie oben). V. S. 56–85, hier S. 63. Vgl. zum bereits im 15. Jahrhundert geläufigen Hinweis auf den (vor allem im Vergleich zu Eng­ land bemerkenswerten) unbedingten Gehorsam der Franzosen gegenüber ihrem König Peter Sher­ vey Lewis: Jean Juvénal des Ursins and the common Literary Attitude toward Tyranny in Fifteenth Century France. In: Medium Aevum. 34. 1965. S. 103–121, hier S. 103; Jacques Krynen: Naturel. Essai sur lʼargument de nature dans la pensée politique française à la fin du moyen âge. In: Journal des Savants. Avril–juin 1982. S. 169–190, hier S. 177–180; Gilbert Gadoffre: La révolution cultu­ relle dans la France des humanistes. Guillaume Budé et François Ier. Genf 1997. S. 38f.; zum Bild Frankreichs als Mutterland der unbestechlichen Gerichtsbarkeit und der guten Gesetze Schilling: Normsetzung (Anm. 21). S. 31–33 (mit zahlreichen Belegen). Vgl. zur Bedeutung der justice retenue allgemein James Hosea Kitchens: The Parlement of Paris During the Ministry of Cardinal Richelieu, 1624–1642. Ph. D. Diss., The Louisiana State Uni­ versity Baton Rouge 1974. 2 Bde. Ann Arbor 1981. S. 54–58; Pierre Goubert/Daniel Roche: Les Français et l’Ancien régime. 2 Bde. Paris 1984. Bd. I. S. 281–285. Die betreffende Äußerung des Königs ist (freilich ohne Datumsangabe) wiedergegeben bei Georges Marie René Picot: Histoire des États généraux considérés au point de vue de leur influence sur le gouvernement de la France de 1355 à 1614. 4 Bde. Paris 1872. Bd. 4. S. 35. Anm. 2.

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und ihre Beschwerden entgegennehmen, pour [...] leur faire administrer Justice.41 Selbst die strikt auf Wahrung ihrer Stellung bedachten Obergerichte anerkannten das Recht der Untertanen, sich an den regulären Gerichten vorbei direkt an den König als obersten Richter zu wenden.42 Das Recht der Untertanen, dem König Bittschriften vorzulegen, und dessen Verpflich­ tung, gegebenenfalls seine richterliche Gewalt selbst auszuüben, wurden somit als im natürlichen und göttlichen Recht verankerte Prinzipien und als unmittelbarer Ausfluß der Stellung des Monarchen als oberster Richter gedeutet. Vor diesem Hintergrund erhellt sich die Bedeutung der Verpflichtung, den Untertanen Gehör zu schenken. Denn der Kö­ nig konnte nur dann Gerechtigkeit gewähren, Ordnung schaffen (mettre de l’ordre) oder für Heilung bzw. Linderung sorgen (remedier), wenn er für seine Untertanen zugänglich war, ihre Lebensbedingungen und ihre Beschwerden möglichst genau kannte und zumal über Mißstände und Probleme Bescheid wußte43. Das Recht der Untertanen, beim König Gehör zu finden, sei es persönlich, oder indem sie ihm oder Mittelsleuten requêtes, remontrances, supplications, plaintes, doléances, placets oder articles übergaben, in denen Mißstände beklagt, Kritik an der Amtsfüh­ rung von Amtsträgern geübt, vor Gefahren gewarnt und Reformvorschläge unterbreitet werden konnten, lag freilich auch im vitalen Interesse der Krone, denn es eröffnete die Chance, unabhängig von den örtlichen Amtsträgern Informationen über die Verhältnisse im Königreich und zumal über lokale Probleme zu gewinnen44 und gegebenenfalls zu in­ 41

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Cahier des Dritten Standes, Art. 192; Druck: Lalourcé/Duval: Recueil des cahiers généraux (Anm. 27). IV. 323. Bernard de La Roche Flavin etwa, Verfasser eines Standardwerks über die Obergerichte und selbst Parlamentsrat, vertrat die Auffassung, kein Gericht dürfe einem Untertanen das Recht verweigern, sich mit einer requête an den König zu wenden, da dies nicht nur inhuman sei, sondern auch die die Souveränitätsrechte des Königs verletze. Bernard de La Roche Flavin: Treze livres des Parlemens de France. [...]. Bordeaux 1617. XIII/9. Nr. 3. S. 687: [il serait] trop dur & inhumain d’oster la voye de requeste au subiet envers son Prince, qui est de droit divin & naturel, ains aussi ce seroit faire un preiudice à la Majesté souveraine. Vgl. etwa D[avid] d[u] R[ivault] Fl[e]urance: Les Estats. Esquels il est discouru du Prince, du Noble et du Tiers Estat, conformément à nostre temps [...]. Lyon 1596. S. 108: par ce moyen [le fait de prêter libre audience], le Prince est avertý des comportemens de tous ses subiects: il cognoist les meurs, conditions, & façons de faire, & aprent comme il y doit mettre seurement ordre; [Gillot], Le Caton François (Anm. 25). S. 17, zu den Hauptaufgaben des Königs: Donner ordre que iustice soit tendue a vostre peuple. Ouir leurs plaintes sur les abus qui y sont commis; Anon.: Le Conseil­ ler fidele à son Roy. o.O. o.D [1614/15]. S. 33f.: Or pour establir un bon ordre à la Iustice, il me semble estre besoin que vostre Majesté soit familiairement informée des choses iniustement commises dedans toutes les parts de son Royaume: [...] pour avoir cette cognoissance parfaicte (autant à desirer que le Royal Diademe) vostre Majesté se doit assujectir par chacun jour, à l’honneste loisir d’une heure certaine, à laquelle son audience soit librement ouverte à toutes personnes, sans l’entremise d’autruy: pour aprendre les diverses plaintes de ses subjects (& de leurs propres bouches) les divers advis, de ce qui se pense dedans ses villes ou Provinces & les divers conseils de ceux, qui auront plus aprofondy les causes des desordres. Dieser Aspekt ist von der Forschung zunächst vor allem mit Blick auf Ständeversammlungen be­ tont worden; vgl. grundsätzlich Gerhard Oestreich: Ständetum und Staatsbildung in Deutschland. In: Ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin 1969. S. 277–289, hier S. 280f.; Wil­ lem Pieter Blockmans: A typology of representative institutions in late medieval Europe. In: Journal of Medieval History. 4. 1978. S. 189–215, hier S. 208; Robert Jütte: Sprachliches Handeln und

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tervenieren. Offenheit und Zugänglichkeit des Königs für die Anliegen seiner Untertanen waren also nicht zuletzt in der Perspektive einer allmählichen Herrschaftsverdichtung und Zentralisierung durchaus attraktiv. Die in zahlreichen requêtes und remontrances begegnende Behauptung, man wolle den König über Zustände informieren, die dieser sicherlich nicht kenne, war fraglos mehr als ein Topos.45 Tatsächlich hat die Krone das Recht der Untertanen, sich an den Monarchen zu wenden, seit dem Spätmittelalter syste­ matisch gefördert und zum Ausbau ihrer Machtstellung genutzt. Zugleich diente Vertre­ tern der Krone das Ideal des allen Gehör schenkenden obersten Richters auch noch im 16. und 17. Jahrhundert zur Verdeutlichung des Herrschaftsanspruchs des Königs, der über alle feudalen Zwischengewalten hinweg reichte.46

II. Als Glaubensspaltung, Bürgerkrieg und Konflikte um Regentschaft und Thronfolge in Frankreich eine schwere innere Krise verursachten, wurde das Ideal des zugänglichen Königs als akut gefährdet, ja als in der Herrschaftspraxis weitgehend wirkungslos dar­ gestellt. Viele Texte dieser Zeit deuteten die Unzugänglichkeit des Königs direkt oder indirekt als Symptom, sogar teilweise als Ursache der Krise. Dabei waren sie sich über die Ursache des Problems weitgehend einig: die Abhängigkeit des Monarchen von seinen Beratern und – schlimmer noch – von Höflingen und Schmeichlern. Nicht umsonst wur­ den im Zusammenhang des eingangs vorgestellten Exempels nicht selten den armen, ein­ fachen Untertanen, die der König (er)hören müsse, die flatteurs gegenübergestellt, deren Schmeicheleien er keine Aufmerksamkeit schenken dürfe.47 Nur der direkte Kontakt mit

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kommunikative Situation. Der Diskurs zwischen Obrigkeit und Untertanen am Beginn der Neuzeit. In: Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Wien 1992. S. 159–181, hier S. 164; in kommunalistischer Perspektive: Peter Blickle (Hg.): Gemeinde und Staat im Alten Eu­ ropa (HZ. Beiheft 25). München 1998; darin besonders den Beitrag von Beat Hodler: Doléances, Requêtes und Ordonnances. Kommunale Einflußnahme auf den Staat in Frankreich im 16. Jahrhun­ dert. S. 23–67. Vgl. für das 14. Jahrhundert Sophie Petit­Renaud: Faire loy au royaume de France de Philippe VI à Charles V (1328–1380). Paris 2003, die nachweist, daß in ca. 19 % der 1685 von ihr untersuchten, zwischen 1328 und 1380 ergangenen königlichen Akte ausdrücklich erwähnt wird, daß der König auf konkrete Informationen hin gehandelt habe (S. 308–316). Es wäre freilich falsch, aus diesen Zahlen zu schlußfolgern, daß in 81 % der Fälle keine konkrete Information zugrunde lag. Sie legen vielmehr den Schluß nahe, daß der Erwähnung der vorausgegangenen Information eine legitimati­ onssteigernde Wirkung zugeschrieben wurde. Vgl. in diesem Sinne die in Anm. 42 zitierte Aussage La Roche Flavins; zum Grundsätzlichen Al­ bert Rigaudière: Issues at Stake in the Development of the State. Devising and Drafting the Law in Fourteenth­Century France. In: Antonio Padoa­Schioppa (Hg.): Legislation and justice (The origins of the modern state in Europe, 13th to 18th Centuries. Theme C). Oxford 1997. S. 73–101, hier S. 76–90; für die Frühe Neuzeit Roland Mousnier: La participation des gouvernés à lʼactivité des gouvernants dans la France des XVIIe et XVIIIe siècles. Zuerst 1962/63. In: Ders.: La plume, la faucille et le marteau. Institutions et société en France du moyen âge à la Révolution. Paris 1970. S. 230–262, hier S. 231–248; Schilling: Normsetzung (Anm. 21). S. 126f. Vgl. etwa den in Anm. 14 zitierten Text aus dem Jahre 1612.

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den Untertanen erlaubte dem König demnach jene authentischen Erfahrungen, auf denen seine zuallererst als richterliche Tätigkeit konzeptualisierte Regierung beruhen sollte. Der König durfte nur seinen eigenen Augen und Ohren trauen. So ermahnte Pierre de Ronsard, einer der führenden Mitglieder der Pléiade, in einem 1561 publizierten Lehr­ gedicht den gerade erst für volljährig erklärten König Karl IX.; er werde lernen müssen, selbst zu befehlen, den Untertanen Gehör zu schenken, sich mit ihnen zu treffen und sie zu befragen, sie (wie der biblische gute Hirte) namentlich zu kennen und ihnen Gerech­ tigkeit widerfahren zu lassen. Diesem Ideal stellte er jene Könige gegenüber, die sich allein auf ihre Amtsträger, Minister und Höflinge stützten, deshalb die Lage ihres Volkes nicht mit eigenen Augen, sondern par les yeux d’autrui sähen und lediglich par l’oreille d’un flat[t]eur mensonger erführen, wie es um die Untertanen bestellt sei.48 Der Kontakt des Königs zu den Untertanen wurde somit als Grundlage eines auf eigener Anschauung, Erfahrung und Landeskenntnis beruhenden, von den Einflüsterungen der Räte, Minister und Höflinge unabhängigen Regiments verstanden. Andererseits bot der verbreitete Topos vom gefährlichen Einfluß der Berater, Schmeich­ ler und Höflinge auch die Chance, Unordnung und Ungerechtigkeit, Mißstände und Kri­ sen auf die Störung des Zugangs zum König zurückzuführen – ein Argument, das umso beliebter war, als es erlaubte, Mißstände zu kritisieren, ohne dem Monarchen die unmit­ telbare Verantwortung dafür anzulasten. Während der krisenhaften Jahrzehnte vom Aus­ bruch der Religionskriege bis in die Anfangsjahre der Ära Richelieu wurde vielfach ge­ klagt, Untertanen und selbst Amtsträger könnten ihrem Monarchen keine Beschwerden vortragen,49 kein Stand verfüge über voix ni audience,50 ,manʻ sei taub für die Klagen von 48

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Pierre de Ronsard: Institution pour l’adolescence du Roy très chrestien Charles neufviesme de ce nom, […], zuerst 1561. Toulouse 1562. Unpaginiert: Il fauldra de vous mesme aprendre à commander, A oyr vos subiects, les voir, & demander, Les cognoistre par nom, & leur faire Iustice, Honorer la vertu & corriger le vice. Malheureux sont les Roys qui fondent leur apuy Sur l’ayde d’un commis: qui par les yeux d’autruy Voyent l’estat du peuple, & oyent par l’oreille D’un flateur mensonger qui leur conte merveille. Dasselbe Motiv findet sich auch in der Rede L’Hospitals vom 13.12.1560 (Anm. 1). S. 75 und S. 388: la pluspart des rois ne voyent que par les yeux d’autruy, ne jugent que par le jugement et arbitrage d’autruy. Et, au lieu qu’ils deussent mener les autres, se laissent mener. Auch Théo­ dore de Bèze klagte über die sich der Einberufung von Generalständen verweigernden, von ihren conseillers und Favoriten abhängigen französischen Könige, qui ne voient que par leurs yeux, et n’oient que par leurs aureilles; Théodore de Bèze: Du droit des magistrats sur leurs subiets. Traitté tres­necessaire en ce temps, pour advertir de leur devoir, tant les magistrats que leurs Subiets [...], zuerst 1574. Hier zit. nach dem ND der Ausgabe 1574: Introduction, édition et notes par Robert M. Kingdon. Genf 1970. S. 41. [Jean de Coras]: Question politique, s’il est licite aux subiets de capituler avec leur prince. 2. Aufl., avec additions. Poitiers 1569. S. 13: auiourd’huy tout moyen est osté au peuple de donner à entendre à son Prince ses doleances. Dass. hg. von Robert M. Kingdon. Genf 1989. S. 9. So [Lambert Daneau]: Response au cruel et pernicieux conseil de Pierre Charpentier, chiquaneur, tendant à fin d’empescher la paix, & nous laisser la guerre. Traitté duquel on apprendra en quel cas il est permis à l’homme Chrestien de porter les armes. Par Pierre Fabre. A Monsieur de Lomanie,

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Untertanen, die durch Unrecht und Steuerlasten auf den Tod bedroht seien.51 Auch wenn durchaus umstritten war, wie weit sich der französische König in seiner Herrschaftspraxis vom Ideal des allseits zugänglichen Monarchen entfernt hatte – daß er diesem Ideal über weite Strecken nicht entsprach, war weithin Konsens. Vor der Mitte des 16. Jahrhunderts hingegen waren solche Beschwerden weitgehend unbekannt gewesen. Wie kann man ihr Aufkommen erklären? Bei der Suche nach Erklärungen sollte man zunächst bedenken, daß Klagen über man­ gelndes Gehör unterschiedliche politische Ziele verfolgen konnten. Die im Diskurs meist im Vordergrund stehende Zugänglichkeit des Königs für die individuellen Anliegen ein­ facher Untertanen war nur eine Facette der um die Frage der audience geführten Aus­ einandersetzung. Für die Krone politisch weit gefährlicher als die mangelnde Zugäng­ lichkeit des Königs für einfache Untertanen war es, wenn Angehörige der schwert­ oder amtsadligen Eliten den Eindruck gewannen, nicht ausreichend Gehör zu finden. Erstere verfügten an sich ohnehin über das Vorrecht, jederzeit beim König vorgelassen zu wer­ den; letztere hatten häufig vermöge ihres Amtes das Recht (ja die Pflicht), dem König Beschwerden und Einwände mitzuteilen. Nicht selten diente die allgemeine Klage über mangelndes Gehör Angehörigen des Amts­ oder Schwertadels (und ganz besonders den hochadligen ducs et pairs) dazu, Parti­ zipation und Einflußnahme einzufordern – und dies zumal in Phasen, in denen die Krone (wie während der Religionskriege) schwach war. Schließlich wurde die Notwendigkeit, audience zu ermöglichen, stets angeführt, wenn es um die Partizipation von Repräsenta­ tivversammlungen oder ­organen, zumal von Generalständen, Notablenversammlungen oder königlichem Rat, an den Regierungsgeschäften ging – auch dies ein Problem, das in Schwächephasen der Krone besonders virulent war. Mit der Frage des Gehörs war also die Frage der politischen Integration der Eliten eng verknüpft, wobei auch Rivalitäten innerhalb der Eliten – die Konkurrenz zwischen Amts­ und Schwertadel, aber auch Ani­ mositäten gegen die unmittelbare Umgebung des Königs – eine wichtige Rolle spielten. Insofern ist es unverzichtbar, die Regierungspraxis der französischen Könige und ihr Verhältnis zu den Eliten in den Blick zu nehmen. Im Spätmittelalter hatte sich in Frankreich eine Regierungspraxis ausgebildet, die von der zeitgenössischen Literatur meist als gouvernement par grand conseil bezeichnet wird.52 Neben dem parlement entwickelte sich vor allem der aus der curia regis hervor­ gegangene königliche Rat zum wichtigsten Organ der – nicht selten auf Beschwerden

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Baron de Terride, & de Seriniac. Traduit du Latin. o.O. o.D. [1575]. S. 20: nul estat n’a voix ni audience. Diese Behauptung bildet eines der Argumente, mit denen der Autor Widerstand rechtfer­ tigt (siehe unten Anm. 91). So Anon.: Advis, remonstrances et requestes aux Estats Generaux tenus à Paris 1614. Par six pai­ sans. o.O. 1615. S. 7: on est sourd à nos plaintes pendant que nous sommes aux derniers traits de la mort. Vgl. zum Folgenden Lothar Schilling: Krisenbewältigung durch Verfahren? Zu den Funktionen konsensualer Gesetzgebung im Frankreich des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. In: Barbara Stoll­ berg­Rilinger (Hg.): Vormoderne politische Verfahren (Zeitschrift für historische Forschung. Bei­ heft 25). Berlin 2001. S. 449–491, hier S. 460–467; Ders.: Normsetzung (Anm. 21). S. 139–149; Petit­Renaud: Faire loy (Anm. 45). S. 324–341.

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und Eingaben zurückgehenden, meist vom Kanzler und juristisch gebildeten Assessoren (maîtres des requêtes) vorbereiteten – Beratungen. Die Zusammensetzung des conseil du roi wie auch die Anzahl seiner Mitglieder unterlagen Schwankungen. In der Regel gehör­ ten ihm neben den Prinzen von Geblüt und den hochadligen pairs vom König bestellte Prälaten und Adlige, der Kanzler und die übrigen grands officiers de la couronne sowie juristisch ausgebildete Räte an.53 Der conseil du roi war also Repräsentativorgan und Mitarbeiterstab des Königs zu­ gleich. Er war im Grundsatz mit sämtlichen Fragen befaßt, die der König zu entscheiden hatte, und bildete überhaupt erst den Rahmen, in dem diese Entscheidungen getroffen werden konnten. Der conseil war, wie Emanuel Le Roy Ladurie dies mit Blick auf die Regierung der vier letzten Könige des Spätmittelalters formulierte, „un ,roi collectif‘ réu­ ni en présence et sous la direction du souverain, [qui] s’occupe de tout“54. Der königliche Rat war nur ein Konsultativorgan: der König holte die Voten der conseillers ein, um nach eigenem Willen und Gutdünken zu entscheiden; in der Praxis folgte er jedoch meist den Empfehlungen (avis) seines Rates.55 Welches Gewicht der Beratung durch den conseil beigemessen wurde, wird im übrigen daran deutlich, daß sie in den Präambeln und den Schlußformeln56 der auf ihrer Grundlage ergangenen Rechtsakte fast immer ausdrücklich erwähnt wurde. Die Berufung in den conseil stellte für die Krone eine wichtige Möglichkeit dar, ein­ flußreiche Personen an den König zu binden und sich ihrer Unterstützung zu versichern. Tatsächlich zeigt ein Blick auf die Regierungspraxis, daß auch starke Monarchen wie Lud­ wig XII. bestrebt waren, einen conseil um sich zu versammeln, in dem die wichtigsten Adelsfamilien und die einflussreichsten Würdenträger der Kirche ebenso vertreten waren wie erfahrene Juristen und Administratoren. Nach dem Regierungsantritt Franz’ I. (1515) setzte sich in Frankreich freilich rasch ein zunehmend autokratischer Regierungsstil durch.57 Die Bedeutung des königlichen 53

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Die Forschung zum königlichen conseil im Spätmittelalter ist lückenhaft; vgl. noch immer Noël Valois: Le conseil du roi aux XIVe, XVe et XVIe siècles. Nouvelles recherches suivies d‘arrêts et de procès­verbaux du conseil. Paris 1888. ND Genf 1975; Robert Holtzmann: Französische Ver­ fassungsgeschichte von der Mitte des Neunten Jahrhunderts bis zur Revolution. München/Berlin 1910. S. 195–198 und S. 205–211; ferner Ferdinand Lot/Robert Fawtier: Histoire des institutions françaises au moyen âge. 3 Bde. Paris 1957–62. Bd. II. S. 75–85; zur Zusammensetzung am Ende des Mittelalters Mikhaël Hargor: Recherches sur le personnel du conseil du roi sous Charles VIII. et Louis XII. 4 Bde. Paris 1980; zur Rolle des conseil bei der Gesetzgebung ferner überblicksartig François Olivier­Martin: Les lois du roi (Cours d’histoire du droit public, diplôme d’études supé­ rieures). Typoskript Paris 1945–1946. S. 220–227. So zusammenfassend Emmanuel Le Roy Ladurie: LʼÉtat royal, 1460–1610. Paris 1987. S. 127; vgl. ferner den Überblick bei David Potter: A History of France 1460–1560. The Emergence of a Nation State. Houndsmill/Basingstoke/ London 1995. S. 57–109. Der Begriff avis ließ offen, welcher Grad an Verbindlichkeit den so bezeichneten Stellungnahmen und Empfehlungen zukam. Gewiß – der König als Adressat konnte nicht gezwungen werden, ihnen zu folgen. Daß er den avis des conseil konsequent zuwiderhandelte, war freilich ebenfalls undenkbar. Vgl. zu den Schlußformeln Hélène Michaud: La grande chancellerie et les écritures royales au XVIe siècle. Paris 1967. S. 221f. Die Bedeutung der autokratischen Tendenzen unter Franz I. und Heinrich II. für die Debatten der zweiten Hälfte des Jahrhunderts betont Arlette Jouanna: Le devoir de révolte. La noblesse française

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Rates als der politischen Integration der Eliten dienendes Repräsentativorgan wurde nun zunehmend in Frage gestellt. Franz I. beriet wichtige Entscheidungen in einem zeitweise nur fünf bis sechs Mitglieder umfassenden Rat.58 Sein Nachfolger machte diesen Schritt zwar rückgängig, stützte sich jedoch in der Regel ebenfalls nicht auf seinen gesamten conseil, sondern auf einen kleineren, meist als conseil des affaires bezeichneten Rat, dem nur wenige ihm eng verbundene Personen angehörten.59 Hinter beiden Ansätzen stand das Problem, daß der traditionelle, umfassende conseil du roi angesichts seiner nicht klar abgegrenzten und von Fall zu Fall variierenden Mitgliederzahl nur begrenzt in der Lage war, die Vielfalt der ihm obliegenden Geschäfte zu bewältigen. Die beiden Könige stützen sich deshalb meist auf einen kleinen Beraterkreis, der im Unterschied zum traditionellen conseil du roi kein Repräsentativorgan war, sondern ka­ binettartige Züge trug und ganz auf ihre Person zugeschnitten war. Dies führte zur Aus­ bildung einer abgeschirmten, geheimen Sphäre um den Fürsten – eine Entwicklung, die mit dem tradierten Ideal des zugänglichen, offen entscheidenden Monarchen schwerlich vereinbar war.60 Dennoch stießen die skizzierten Veränderungen in der Regierungspraxis zunächst kaum auf öffentliche Kritik. Offenbar überstrahlten der Glanz und die Erfolge Franz’ I. mögliche Bedenken gegen die Abkehr von der Praxis des gouvernement par grand conseil. Dies änderte sich, als unter Heinrich II. militärische Mißerfolge das Ansehen des Kö­ nigs zu belasten begannen und das Königtum wegen der allmählichen Erschöpfung seiner finanziellen Ressourcen, aber auch aufgrund der Generalisierung der Ämterkäuflichkeit immer weniger in der Lage war, ein zweites – neben der politischen Integration über den königlichen Rat zunehmend unverzichtbares – Verfahren der Einbindung der Eliten fort­ zusetzen: ihre auf Gewährung von Ämtern, pensions und Geschenken beruhende, Loya­ lität ohne Partizipation sichernde Klientel­ und Patronagepolitik. Zusätzlich geschwächt wurde die Integrationskraft der Krone durch den Konfessionskonflikt, in dessen Kontext nun erstmals der Vorwurf begegnet, einige wenige hingen stets am Ohr des Königs, um ihn zu überzeugen, daß der reformierte Glaube jegliche Fürstenherrschaft untergrabe. 61

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et la gestation de lʼEtat moderne, 1559–1661. Paris 1989. S. 332–334; vgl. auch dies.: Die Debatte über die absolute Gewalt im Frankreich der Religionskriege. In: Ronald G. Asch/Heinz Duchhardt (Hg.): Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West­ und Mitteleuropa (ca. 1550–1700) (Münstersche Historische Forschungen. Bd. 9). Köln/Weimar/Wien 1996. S. 57–78, hier S. 59; Dies.: Art. Absolutisme. In: Jacqueline Boucher u. a.: Histoire et diction­ naire des guerres de religion. Paris 1998. S. 630–632. Vgl. Roger Doucet: Les institutions de la France au XVIe siècle. 2 Bde. Paris 1948. Bd. I. S. 138. Zum Folgenden ferner Jean­Louis Thireau: Le Conseil du Roi au XVIe siècle. In: Revue administ­ rative. 52. 1999. Numéro spécial 3. S. 10–19. Vgl. zur Herausbildung dieses engeren conseil Doucet: Les institutions (Anm. 58). Bd. I. S. 140– 144, zur weiteren Ausdifferenzierung des königlichen Rates ebd. S. 144–152. In diesen Kontext gehört auch die Entstehung der secrétaires d’état; dazu grundlegend Nicola Mary Sutherland: The French Secretaries of State in the Age of Catherine de Medici (University of Lon­ don Historical Studies. Bd. 10). London 1962. Insbesondere S. 7–94. Der angesprochene Vorwurf wird in einer auf Nachrichten aus Frankreich beruhenden Darstellung des frühen Protestantismus in Frankreich erhoben: Théodore de Bèze: Histoire ecclésiastique des églises réformées au royaume de France depuis lʼan 1521 jusquʼen 1563. Zuerst Genf 1580. Hier zitiert die Ausgabe Antwerpen 1580. Bd. 1. S. 68: Ces trois [Charles de Guise, Montmorency, Jean

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Eine krisenhafte Zuspitzung des skizzierten Problems ergab sich, als König Hein­ rich II. am 10. Juli 1559 an den Folgen einer bei einem Turnier erlittenen Verletzung starb.62 Heinrichs ältester Sohn, Franz II., war zu diesem Zeitpunkt erst 15 Jahre alt. Er war damit zwar volljährig, aber weder willens noch fähig, allein zu regieren – und dies umso weniger, als die politische Lage alles andere als einfach war: Frankreich hatte ge­ rade in Cateau­Cambrésis die spanische Hegemonie anerkannt, zudem waren die öffent­ lichen Finanzen in einem prekären Zustand. Franz II. reagierte wie nicht wenige europäische Monarchen des späten 16. und 17. Jahr­ hunderts; entgegen den bis dahin üblichen Traditionen der Regierungspraxis betraute er ihm nahestehende Personen mit der Wahrnehmung der wichtigsten Regierungsgeschäfte:63 Die Führung aller militärischen Angelegenheiten übertrug er Herzog Franz von Guise, dessen Bruder, Kardinal Karl von Guise, die Sanierung der Finanzen des Königreichs. Da­ mit erhielten die beiden einer Linie des lothringischen Herzogsgeschlechts entstammen­ den Onkel der jungen Königin Maria Stuart, die gegen Ende der Regierung Heinrichs II. in Mißkredit geraten waren, die faktische Führung der Regierung des Landes – und sie taten, was auch spätere Favoriten in Frankreich von Joyeuse und Épernon über Concini und Luy­ nes bis hin zu Richelieu und Mazarin getan haben: sie nutzten die Gunst des Königs, um Angehörige ihrer Klientel in Schlüsselpositionen als Gouverneure, Festungskommandan­ ten, Parlamentsräte usw. zu bringen – und um den Zugang zum König zu kontrollieren und alle möglichen Rivalen von ihm fernzuhalten. Ayans geigné lʼoreille de ce jeune prince, so klagt eine Flugschrift, [ils] se saisirent du gouvernement de Royaume.64 Bei der Mehrheit der französischen Eliten stießen die Guise freilich auf Vorbehalte. Dies lag nicht nur daran, daß ihnen wegen der Krise der königlichen Finanzen nur be­ grenzte Mittel zur Loyalitätssicherung durch Gewährung von Ämtern, Pensionen und

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dʼAlbon] estant toujours à lʼoreille de Roy pour lui persuader […] que la Religion réformée était ennemie de toute monarchie. Vgl. zum Einflußverlust der Krone: James Russell Major: The loss of royal initiative and the decay of the estates general in France 1421–1615. In: Album Helen Maud Cam (Études présentées à la commission internationale pour lʼhistoire des assemblées dʼétats. Bd. 24). Bd. 2. Paris/Löwen 1961. S. 247–259; Ders.: From Renaissance Monarchy to Absolute Monarchy. French Kings, Nobles & Estates. Baltimore/London 1994. S. 108–112; Robert R. Hard­ ing: Anatomy of a Power Elite. The Provincial Governors of Early Modern France. New Haven/ London 1978. S. 68–87. Vgl. zum Folgenden Henri Naëf: La conjuration dʼAmboise et Genève. Genf/Paris 1922; Lucien Romier: La Conjuration dʼAmboise. LʼAurore sanglante de la liberté de conscience; le Règne et la mort de François II. 3. Aufl. Paris 1923; Louis­Henri Lefèvre: Les Français pendant les guerres de religion. Le Tumulte dʼAmboise. Paris 1949; Nicola Mary Sutherland: Calvinism and the Conspir­ acy of Amboise. In: History. 47. 1962. S. 111–138; Corrado Vivanti: La congiura dʼAmboise. In: Yves­Marie Bercé/Elena Fasano Guarini (Hg.): Complots et conjurations dans lʼEurope moderne. Actes du colloque international organisé par lʼEcole française de Rome, lʼInstitut de recherche sur les civilisations de lʼOccident moderne de lʼUniversité de Paris­Sorbonne et le Dipartimento di storia moderna e contemporanea dellʼUniversità degli studi di Pisa. Rom 1996. S. 439–450. Vgl. zum Grundsätzlichen Ronald Asch: „Lumine solis“. Der Favorit und die politische Kultur des Hofes in Westeuropa. In: Michael Kaiser/Andreas Pečar (Hg.): Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten der Frühen Neuzeit. Berlin 2003. S. 21–38. So [François Hotman]: Lʼhistoire du tumulte dʼAmboyse, advenue au mois de mars, MDLX. […]. o.O. 1560. S. 4.

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Geschenken zur Verfügung standen. Vielmehr wurde den vielfach als ,Ausländerʻ eti­ kettierten lothringischen Herzögen vorgeworfen, sich ihren Rang als ducs et pairs, ihren Einfluß und erst recht die Favoritenstellung mit unredlichen Mitteln erschlichen zu ha­ ben, während es Prinzen von Geblüt gab, die einen höheren Rang beanspruchen konnten und somit nach einer verbreiteten Auffassung weit eher berufen waren, als ,Tutorenʻ des jungen Königs zu fungieren: zu allererst die beiden ranghöchsten Prinzen von Geblüt, König Antoine I. von Navarra und sein jüngerer Bruder Ludwig I. von Condé, beide aus dem Hause Bourbon. Mit dem Gegensatz zwischen Guise und Bourbonen verknüpft war der konfessionelle Gegensatz zwischen den Verteidigern der alten Kirche und den Anhängern der im Frank­ reich der 1550er Jahre gerade im Adel zunehmend Zulauf findenden neuen Lehre Cal­ vins. Zwar waren die Guise 1559/60 noch nicht jene intransigenten Ultra­Katholiken, als die sie später in die Geschichte eingehen sollten, doch führten sie die von Heinrich II. initiierte Verfolgungspolitik gegenüber Protestanten im Wesentlichen fort. Antoine von Navarra und Ludwig von Condé hingegen standen im Rufe, der protestantischen Sache nahezustehen. So ist zu verstehen, daß unter protestantischen Adligen die Gegnerschaft gegen die Guise besonders ausgeprägt war. Zu beobachten ist aber auch, daß mancher unzufriedene Adlige sich den Reformierten zuwandte. Letztlich haben die Guise den Pro­ testanten sogar einen Gefallen getan, denn zu Lebzeiten Heinrichs II. war es schwergefal­ len, die Legitimität der Verfolgung in Zweifel zu ziehen – nun, angesichts ,ausländischerʻ Favoriten ohne kapetingisches Geblüt, die anstelle des Königs die Regierungsgeschäfte führten, war dies möglich.65 In diesem Kontext entstand im Sommer 1559 in protestantischen Kreisen der Plan, die Guise vom Hof zu entfernen. Würde es gelingen, bei Franz II. Gehör zu finden, dann wäre es, so die Überlegung, sicher ein Leichtes, den jungen König zum Verzicht auf die Protestantenverfolgung zu bewegen. Aus diesem Plan entwickelte sich die „Verschwö­ rung von Amboise“, der Versuch einer Gruppe protestantischer Adliger, im März 1560 das Loire­Schloß zu überfallen, in dem sich Franz II. und sein Hof aufhielten, um – wie es in zeitgenössischen Flugschriften hieß – den König aus der Gewalt der Guise zu befrei­ en.66 Dieser Versuch, dessen zum Teil bis heute unklare Hintergründe hier ausgeblendet 65

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So die Einschätzung von Arlette Jouanna: Le temps des guerres de Religion en France (1559–1598). In: Boucher u. a.: Histoire et dictionnaire (Anm. 57). S. 1–446, hier S. 56. Vgl. auch das Urteil der kurz zuvor zur Regentin der spanischen Niederlande bestellten Margarathe von Parma, einer auf­ grund der konfessionellen Spannungen im eigenen Land sehr aufmerksamen Beobachterin. Sie urteilte im Oktober 1560, die verbreitete Unruhe in Frankreich habe nicht nur mit der religiösen Frage zu tun, sondern mehr noch mit dem mescontentement universel [...] de messieurs de Guyse, denen von den Prinzen von Geblüt und allen anderen Großen des Landes vorgeworfen werde, quʼils ayent empris le gouvernement si absolu sans adjunction quelconque de nul autre. Schreiben vom 7.10.1560 an König Philipp II. von Spanien, zit. nach Jouanna: Die Debatte (Anm. 57). S. 61. Anm. 12. Vgl. etwa Anon.: Les Estats de France opprimez (1560). Druck: Secousse (Hg.): Mémoires (Anm. 37). Bd. I. S. 405–410, hier S. 406, wo betont wird, man habe in Amboise zu den Waffen ge­ griffen, um den König und sich selbst gegen la cruauté de ceux qui sont auprès de vostre personne zu verteidigen. Ähnlich auch die zwei Jahre später vorgetragene Argumentation in: Anon.: Discours sur la liberté ou captivité du Roy (1562). Druck: ebd. Bd. III. S. 374–384; vgl. Myriam Yardeni:

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werden können, scheiterte bekanntlich – unter anderem deshalb, weil die mit den Protes­ tanten sympathisierenden Prinzen von Geblüt jede offene Unterstützung vermieden und weil die Verschwörung an die Guise verraten wurde. Im Hinblick auf die hier behandelte Fragestellung interessant ist die gescheiterte Ver­ schwörung von Amboise nicht zuletzt deshalb, weil der Ablauf der Ereignisse eher zu verstehen ist, wenn man den Vorstellungshorizont der ,Verschwörerʻ berücksichtigt. Tat­ sächlich hat die Forschung lange gerätselt, weshalb sich die den Sturz der Guise be­ absichtigenden Adligen vor dem entscheidenden Schlag gegen die königliche Residenz nicht formierten, sondern zwischen dem 10. und 19. März 1560 einzeln oder in kleinen Trupps von den königlichen Garden aufgegriffen wurden, gegen die sie in der Regel kei­ nerlei Widerstand leisteten. Gewiß mag hier die mangelnde logistisch­strategische Vorbe­ reitung durch den Anführer, Jean de La Renaudie, der kein Hochadliger war und deshalb womöglich auch über zu wenig Einfluß verfügte, eine wichtige Rolle gespielt haben.67 Doch hat die Forschung in jüngerer Zeit gezeigt, daß es den ,Verschwörernʻ zunächst und in erster Linie darum ging, zum König vorgelassen zu werden68 – ein Recht, das ihnen als Adligen nach traditioneller Vorstellung an sich zustand, das einzufordern dem­ nach keinen Akt des Widerstands darstellte. Es spricht also manches für die These, daß die meisten ,Verschwörerʻ sich über den gewaltsam­militärischen Charakter ihrer Aktion nicht klar waren und darauf setzten, beim König Gehör zu finden und ihn im Gespräch von der Notwendigkeit der Entlassung der Guise zu überzeugen.

III. Trotz des Mißerfolgs folgte auf den coup d’Amboise eine vorläufige Wende der inneren Politik Frankreichs (wobei offenbleiben kann, ob sie tatsächlich durch Amboise verur­ sacht wurde). Diese Wende betraf bezeichnenderweise gerade die Frage der politischen Integration der Eliten und – damit verknüpft – der Zugänglichkeit des Königs. Tatsäch­ lich kann man beobachten, daß die für die ersten Monate der Regierung Franz’ II. kenn­ zeichnende, ausschließlich auf die Guise setzende Politik, von März 1560 an durch eine auf breiteren Konsens abzielende Linie abgelöst wurde. Maßgeblich für diese neue Linie war anfänglich vor allem die Königinmutter, Katharina von Medici, die durch die Stel­ lung der Guise ihren eigenen Einfluß gefährdet sah, seit Juni 1560 auch der neu ernannte, ursprünglich der Guise­Klientel entstammende, dann aber bald zu einem entschiedenen Antipoden der Guise werdende Kanzler Michel L’Hospital.69

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La conscience nationale en France pendant les Guerres de religion (1559–1598) (Publications de la faculté des lettres et sciences humaines de Paris­Sorbonne. Bd. 59). Paris/Löwen 1971. S. 123–128; Arlette Jouanna: La France du XVIe siècle. 2. Aufl. Paris 1997. S. 397–399. Vgl. Elizabeth A. R. Brown: La Renaudie se venge. Lʼautre face de la conjuration dʼAmboise. In: Bercé/Guarini (Hg.): Complots et conjurations (Anm. 62). S. 451–474. Vgl. Jouanna: Le temps des guerres de Religion (Anm. 65). S. 65f. Zur Biographie siehe Anm. 3.

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Als erstes Indiz für eine neue, stärker konsensuale Linie der französischen Politik seit März 1560 kann gelten, daß zwar die Anführer der Verschwörung von Amboise hinge­ richtet wurden und zudem (letztlich erfolglos) der Versuch unternommen wurde, den bei­ den Bourbonen eine Beteiligung an der Aktion nachzuweisen, daß aber andererseits die in den Wäldern um das Loireschloß aufgegriffenen Bewaffneten fast durchweg begnadigt wurden70. Weithin sichtbar durchsetzen konnte sich die neue Linie, als der erweiterte kö­ nigliche Rat im August über Möglichkeiten der inneren Befriedung beriet.71 Bei dieser Gelegenheit argumentierte der Erzbischof von Valence, Charles de Maril­ lac, die generelle Mißachtung der Gesetze stelle in Frankreich derzeit das Hauptübel dar. Deshalb sei es notwendig, Generalstände (die in Frankreich seit 1484 nicht mehr getagt hatten) einzuberufen und auf der Grundlage der von ihnen vorzulegenden cahiers de doléances eine umfassende ordonnance zur Beseitigung der Mißstände zu erlassen. Obwohl der König der einzige Gesetzgeber sei, komme einem unter Beteiligung der Stände erlas­ senen Gesetz doch größeres Gewicht zu. Das Volk folge ihm um so eher, als es erkenne, daß es dem advis de plusieurs entspreche. Berate sich der König hingegen nur mit weni­ gen, werde unterstellt werden, das betreffende Gesetz sei selon la passion d’aucuns er­ lassen worden. Frankreich verdanke der breiten Beteiligung von Repräsentativversamm­ lungen seine tausendjährige Existenz. Unter Hinweis auf das Reich, Spanien, England, Schottland, Dänemark, Schweden, Böhmen und Ungarn vertrat er zudem die Auffassung, es gebe kein wohlgeordnetes Königreich, in dem man nicht Ständeversammlungen ab­ halte.72 Unterstützt von Marillac und dem Bischof von Valence, Jean de Montluc, setzten 70

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Die Begnadigungsedikte sind mehrfach gedruckt: [François II, roi de France]: Édict du Roy sur la grâce et pardon à ceux qui ont esté aux assemblées et en armes ès environs la ville dʼAmboise. Paris 1560; [Ders.]: Edict déclaratif de la grand clémence et bonté du Roy, portant pardon et abolition à tous ceux qui, sʼestant trouvez en armes es environs de la ville dʼAmboise et acheminez pour y aller, se seront retirez suyvant le commandement dudict seigneur, avec permission aux dessusdicts de députer et envoyer vers ledict sieur leurs requestes et remonstrances. Paris 1560. Vgl. zu diesen Beratungen, an denen 54 Personen teilnahmen, weshalb in der Literatur nicht selten auch von einer Notablenversammlung die Rede ist, Picot: Histoire des États généraux (Anm. 40). Bd. I. S. 12–20; Romier: La Conjuration (Anm. 62). S. 197f., 202, 206. Rede vom 23.8.1560; Druck bei Louis seigneur de Regnier de la Planche: Histoire de lʼestat de France, tant de la Republique que de la religion; sous le regne de François II. Zuerst 1576. Hg. von Édouard Mennechet. 2 Bde (Histoire de France, par les écrivains contemporains. Bd. 1–2). Paris 1836. Bd. I. S. 373–394, hier S. 389f.: la corruption [a] tant gaigné, que les loix ne retiennent plus leur vigueur. Car combien que le roy soit seul autheur de la loy, et qu’à luy seul appartienne de commander, toutesfois ce qu’il ordonne en telles assemblées a plus de force, et le peuple s’y rend d’autant plus obéissant, qu’il voit ceste ordonnance estre conforme à l’advis de plusieurs. Ou, quand peu de gens y ont esté appelés, on vient à interpréter que la loy a esté forgée selon la passion d’aucuns, et sans examiner les raisons qu’eussent peu alléguer les absens, s’ils eussent esté ouys. En cette sorte la maison de France s’est maintenue environ onze cens ans, et n’y a royaume bien ordonné, qui ne suive ceste ancienne et saincte coustume d’assembler les estats, comme l’on voit en l’empire, où l’on tient les diètes, et d’ailleurs aux royaumes d’Espagne, d’Angleterre, d’Ecosse, de Danemarch, Suède, Bohesme, Hongrie, et partout ailleurs. [...] Reste à répondre à ceux qui ne peuvent trouver bonne telle assemblée, alléguant que c’est chose dès long-temps discontinuée [...]. Si ceux qui mettent avant la discontinuation de convoquer les estats, examinoyent les maux et les biens qui en sont depuis provenus, certes ils trouveroyent que si telle observance eust eu lieu, l’on ne fust tombé en tant de calamitez que nous voyons en ce temps, d’autant qu’on n’eust

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sich die Königinmutter und L’Hospital schließlich mit der (nolens volens auch von den Guise­Brüdern übernommenen) Auffassung durch, allein durch die Einberufung von Ge­ neralständen werde es möglich sein, die gestörte communication zwischen Monarch und Untertanen wieder herzustellen und die drängenden Probleme der inneren Ordnung nicht zuletzt gesetzgeberisch zu überwinden. Aus der Sicht der Krone boten Generalstände zudem den Vorzug, den Vorwurf mangelnden Gehörs zu entkräften und zugleich die Par­ tizipationsansprüche der hochadligen Eliten ,einzurahmenʻ. Als am 13. Dezember 1560 tatsächlich Generalstände zusammentraten, übernahm Kanzler L’Hospital in seiner bereits erwähnten Eröffnungsrede die Aufgabe, die Grund­ lagen und die Programmatik der von ihm entscheidend mitgeprägten neuen Linie der inneren Politik vorzustellen: einer Politik, die nicht nur die Sonderstellung der (durch den Tod Franz’ II. am 5. Dezember 1560 ihrer wichtigsten Stütze beraubten) Guise vorläufig beendete, sondern auch den Versuch, durch eine auf Ausgleich und breiten Konsens ab­ zielende Politik zur Befriedung des Landes beizutragen. Solange die Glaubensspaltung nicht überwunden war, sollten durch gute Gesetze und eine unbestechliche Rechtspre­ chung wenigstens die dringenden Ordnungsprobleme beseitigt werden. Auf diese Weise hofften L’Hospital und seine Mitstreiter, die konfessionelle Aufladung genuin politischer Spannungen zu unterbinden und so den inneren Frieden trotz der konfessionellen Spal­ tung zu erhalten. Um dies zu erreichen, sollte die als Hauptursache der Krise identifizierte Störung der Kommunikation zwischen dem König und seinen Untertanen durch eine besonders inten­ sive Form der Informationsübermittlung im Rahmen der Generalstände beseitigt werden. So erläuterte L’Hospital in seiner Eröffnungsrede, Aufgabe dieser Versammlung sei es, dem König zu ermöglichen, [de] donner audience generale a ses sujets et [de] faire justice a chacun. Zudem vermittelten, so seine Erwartung, die Generalstände dem Monarchen ein authentisches Bild der Lage in seinem Land, ja sie brächten die durch die königlichen serviteurs oftmals bewußt verborgene ,Wahrheitʻ ans Licht.73 Die Begriffe audience und communication sowie das traditionelle Motiv des Königs als débiteur de justice bildeten den konzeptionellen Kern des von Katharina von Medici, L’Hospital und ihren Mitstrei­ tern vertretenen politischen Projekts. Diesen Kern suchte der Kanzler mit der griffigen Erzählung von König Philipp und der Bittstellerin zu verdeutlichen.

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permis la corruption procéder si avant, sans y remédier en tout ou en partie. Dass. bei Lalourcé/ Duval: Recueil de pièces originales (Anm. 28). Bd. I. S. 76–99, hier S. 94f.; Auszüge bei Griffith (Hg.): Representative Government (Anm. 1). S. 138–142; vgl. zu dieser Rede Pierre de Vaissière: Charles de Marillac. Ambassadeur et homme politique sous les règnes de François Ier, Henry II et François II, 1510–1560. Thèse Paris 1896. ND Genf 1971. S. 381–395. Rede L’Hospitals vom 13.12.1560 (Anm. 1). S. 74 bzw. S. 387: les rois, tenans les Estats, oyent la voix de la vérité qui leur est souvent cachée par leurs serviteurs. Ähnlich auch François Grimaudet: Remonstrance faite par M. François Grimaudet, advocat du Roy à Angiers, aux Estatz d’Anjou, assemblez dernierement audit lieu. Lyon 1561. Unpaginiert: La puissance duquel [du monarque] est supportée par justice [...]. Ce que le prince ne peut faire, sans soy communiquer à ses sujets, pour entendre d’eux leurs requestes, demandes et doléances, à ce que sur icelles il leur départe justice [...].

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Diese Linie, die nicht nur zu den Generalständen von Orléans74 (und der nachfolgen­ den Ständeversammlung von Pontoise) 75 führte, sondern auch zum Religionsgespräch von Poissy im Sommer 156176 und zum die Protestanten grundsätzlich anerkennenden Januaredikt des Jahres 1562, griffen L’Hospital und Katharina von Medici trotz des mit dem Ersten Religionskrieg verbundenen Rückschlags nach dessen Beendigung erneut auf. So brach der junge König Karl IX. Anfang 1564 mit seiner Mutter und einem immen­ sen Gefolge zu einer mehr als zweijährigen Reise durch ganz Frankreich auf – einem Unternehmen, dessen Dauer und Inszenierung sich deutlich von den in den Jahrzehnten zuvor gepflegten Traditionen abhoben.77 Die Reise sollte dem jungen König im Sinne der Ermahnungen Ronsards eine möglichst detaillierte und authentische Kenntnis des von ihm regierten Landes vermitteln und ihm erlauben, die Beschwerden seiner Untertanen entgegenzunehmen, um Ordnung zu schaffen und Fehlentwicklungen zu korrigieren – und sie sollte weithin sichtbar machen, daß der König keine Mühe scheute, um allen seinen Untertanen Gehör zu schenken. Tatsächlich betrieb der Kanzler in diesen Jahren eine auf Partizipation und breiten Konsens abstellende Politik – die drei großen, jeweils auf Beratungen von Repräsentativversammlungen zurückgehenden und nach einer ver­ breiteten zeitgenössischen Auffassung als Antwort des Königs auf die Klagen seiner Un­ tertanen verstandenen ordonnances de réformation der Jahre 1561, 1563 und 156678 sind fraglos das wichtigste, weit über diese Zeit hinaus nachwirkende Ergebnis dieser Politik. 74

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Vgl. Picot: Histoire des États généraux (Anm. 40). Bd. 2. S. 9–62; James Russel Major: The Es­ tates General of 1560. Princeton 1951. ND Princeton 1970; Martin Gosman: Les sujets du père. Les rois de France face aux représentants du peuple dans les assemblées de notables et les États généraux 1302–1615. Paris u. a. 2007. S. 253–259; ferner Schilling: Krisenbewältigung (Anm. 52). S. 468–472; zum Verfahren der Generalstände Gerrit Walther: Der andere Körper des Königs? Zum politischen Verfahren der französischen Generalstände. In: Stollberg­Rilinger (Hg.): Vormoderne politische Verfahren (Anm. 52). S. 417–447. Vgl. Paul van Dyke: The Estates of Pontoise. In: English Historical Review. 28. 1913. S. 472–495; Noël Valois: Les États de Pontoise. In: Revue dʼhistoire de lʼéglise de France. 29. 1943. S. 237– 256; James Russell Major: The Third Estate in the Estates General of Pontoise, 1561. In: Speculum. 29. 1954. S. 460–476. Vgl. zu diesem letzten großen Religionsgespräch (mit weiteren Literaturhinweisen) Wolfgang Reinhard: Glaube, Geld, Diplomatie. Die Rahmenbedingungen des Religionsgesprächs von Poissy im Herbst 1561. In: Gerhard Müller (Hg.): Die Religionsgespräche der Reformationszeit. Gütersloh 1980. S. 89–116; Jouanna: Le temps des guerres de Religion (Anm. 65). S. 87–91. Vgl. zu dieser Reise im einzelnen Jean Boutier/Alain Dewerpe/Daniel Nordman: Un tour de France royal. Le voyage de Charles IX (1564–1566). Paris 1984. Druck: Pierre Néron/Estienne Girard (Hg.): Recueil dʼedits et dʼordonnances royaux sur le fait de la justice et autres matieres les plus importantes [...], augmenté sur lʼédition de Mes Pierre Neron & Etienne Girard dʼun très­grand nombre dʼordonnances & de quantité de notes, conférences & commentaires. 2 Bde. Paris 1720. Bd. I. S. 368–423, 424–430 und S. 444–490; Isambert/Jourdan/ Decrusy (Hg.): Recueil général des anciennes lois françaises, depuis lʼan 420 jusquʼà la révolution de 1789 [...]. 29 Bde. Paris 1821–1833. Bd. XIV. S. 63–98, 160–169 und S. 189–212. Zu den ordonnances de réformation als Antworten des Königs auf die Beschwerden seiner Untertanen vgl. Lothar Schilling: Gesetzgebung als Kommunikation. Zu symbolischen und expressiven Aspekten französischer ordonnances de réformation des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. In: Helmut Neu­ haus/Barbara Stollberg­Rilinger (Hg.): Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas.

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L’Hospital und andere der Krone nahestehende Autoren zeichneten derweil unter Be­ zugnahme auf antike Vorlagen das Bild eines heraufziehenden goldenen Zeitalters, in dem es dem jungen König und seiner Mutter aufgrund ihrer Kommunikationsfähigkeit, ihrer Vernunft und ihrer Sprachmacht gelingen würde, alle Ungerechtigkeit und alle Zwie­ tracht zu überwinden.79 Der als Übersetzer der Politik des Aristoteles zu Ruhm gelangte Louis Le Roy etwa lobte den König, er habe sich Mühen und Gefahren ausgesetzt, um sich im Detail in die affaires du Royaume einzuarbeiten, die Sitten und Gebräuche seiner Untertanen kennenzulernen, deren Beschwerden zu hören, alle Probleme und Konflikte der bestmöglichen Lösung zuzuführen und den einzelnen Landesteilen Erleichterung zu verschaffen.80 Tatsächlich wird in der Herrscherpanegyrik der 1560er Jahre, in den Re­ den L’Hospitals, in Texten Le Roys, Charondas Le Carons,81 Brantômes,82 Ronsards83 und anderer französischer Renaissanceautoren das Idealbild des seinen Untertanen stets Gehör leihenden Monarchen und das renaissance­humanistische Vertrauen in die Kraft der Sprache und der Vernunft verknüpft – in dem hier propagierten, Konsens und weit­ gehenden Herrschaftsanspruch, die traditionelle Vorstellung des débiteur de justice und renaissancehafte Herrscherüberhöhung auf originelle Weise verknüpfenden Herrscheri­ deal nahmen Zugänglichkeit und Mitteilsamkeit, audience und communication, einen zentralen Platz ein. Die Attraktivität der Leitvorstellung des allgemein zugänglichen, persönlich Recht sprechenden und für Gerechtigkeit sorgenden Monarchen für die Krone und ihre Pro­

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Festschrift Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres […] (Historische Forschun­ gen. Bd. 73). Berlin 2002. S. 133–165. Vgl. im einzelnen Denis Crouzet: Langages de l’absoluité royale, in: Lothar Schilling (Hg.): Ab­ solutismus, ein unersetzliches Forschungskonzept? Eine deutsch­französische Bilanz. München 2008. S. 107–139. Vous avez exposé vostre Maiesté à ces labeurs & dangers, pour entendre par le menu les affaires du Royaume: cognoistre les meurs des subiectz, ouïr les plaintes & y remedier: reduire au meilleur estat que pourriez les desordres advenus durant les autres troubles: reigler la religion, restablir la iustice, soulager les païs affligez. Le Roy adaptierte in diesem Text ähnlich wie schon L’Hospital bei seiner Rede in Orléans die Eingangsformel der Institutionen: Ce n’est pas tout que dresser par terre grosses & puissantes armees […]: Mais pourvoir à l’utilité des subiectz, remedier à leurs maulx, les relever d’oppressions, exactions & pilleries induës: se rendre facile à ouir les requestes & plainctes des inferieurs, equitable & modéré es responses, prompt à distribuer le droit à chacun. Louis Le Roy: Enseignements d’Isocrates et Xenophon. Pour bien regner en paix & en guerre. Tra­ duit de Grec en français par Loys Le Roy dict Regius. Paris 1568. S. 5f. (Vorwort). Vgl. zu Leben und Werk Werner L. Gundersheimer: The Life and Works of Louis Le Roy. Genf 1966; Abraham Henri Becker: Un humaniste au XVIe siècle: Loys Le Roy (Ludovicus Regius). Paris 1896. ND Genf 1969; Thomas Nicklas: Pouvoir, raison, comparaison. Histoire et politique des origines en France au XVIe siècle. In: Armelle Lefebvre (Hg.): Comparaisons, raisons, raisons d’État. Les Politiques de la république des lettres au tournant du XVIIe siècle. München 2010. S. 27–36, hier S. 32–34. Louis Charondas Le Caron: Panegyrique ou Oraison de loüange, au roy Charles VIIII. nostre sou­ verain seigneur. Presenté à la Royne, mère du Roy. Paris 1566; vgl. zu diesem Juristen Donald L. Kelley: Louis Le Caron Philosophe. In: Edward P. Mahoney (Hg.): Philosophy and Humanism. Renaissance Essays in Honor of Paul Oskar Kristeller. New York 1976. S. 30–49. Brantômes ,Panégyriqueʻ ist abgedruckt bei S. A. C. Buchon (Hg.): Brantôme. Œuvres complètes de Pierre de Bourdeille, abbé séculier de Brantôme […]. Paris 1838. Bd. 2. S. 113–134. Vgl. etwa das in Anm. 48 zitierte Gedicht.

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pagandisten dürfte nicht zuletzt damit zu erklären sein, daß sie in verfassungsrechtlicher Hinsicht alles andere als präzise war. So legten die geläufige Rede von der den Unter­ tanen seitens des Königs zu gewährenden audience und selbst der im Zusammenhang mit den Generalständen immer wieder beschworene Topos von der communication den König nicht ausdrücklich auf die Gewährung institutionell und verfahrensrechtlich ab­ gesicherter Beratungs­ oder gar Partizipationsrechte fest. Die Frage, auf welchem Wege der König den an ihn herangetragenen Bitten und Forderungen Rechnung trug, blieb offen – die idealisierende Deutung von audience und communication als Ausdruck des Zusammenhalts und der harmonie des Gemeinwesens und des amour paternel des Kö­ nigs diente der Krone nicht selten dazu, rechtlich verbindliche Aussagen zu vermeiden. Ungeachtet der Suggestionen des von der Krone propagierten Herrscherbildes haben sich bekanntlich die mit L’Hospitals Politik des Ausgleichs verknüpften Hoffnungen nicht erfüllt, denn es gelang der Krone nicht, der Verquickung des Konfessionskonflikts mit der allgemeinen Unzufriedenheit durch eine auf breiter Konsultation beruhende, der réformation du royaume verpflichtete Gesetzgebung zu begegnen – wohl nicht zuletzt deshalb, weil der junge König nur sehr eingeschränkt in der Lage war, die ihm zugeschriebene Rolle auszufüllen. L’Hospital hat sein Scheitern im September 1568, beim Ausbruch des Dritten Religionskrieges, erkannt und sich aus seinem Amt zurückgezogen; spätestens in der Bartholomäusnacht (23./24. August 1572) ist der skizzierte ,Renaissancetraumʻ84 eines durch Vernunft, Sprachmacht und Kommunikation wiederherzustellenden inneren Frieden endgültig geplatzt. Tatsächlich trat der die Rolle des Königs und der Königinmutter überhöhende Opti­ mismus seit den späten 1560er Jahren und erst recht nach der Bartholomäusnacht in den Hintergrund. Die Klage über mangelnde audience beim König indes lebte neu auf. Im Kontext einer für die politische Ideengeschichte ungemein einflußreichen Zuspitzung der politischen und verfassungsrechtlichen Debatte, in der die Theorie des Widerstandsrechts entscheidende Impulse erfuhr,85 die Lehre von den Fundamentalgesetzen grundgelegt wurde86 und Bodin sein Konzept der Souveränität vorlegte,87 wurde auch die Frage nach den verfassungsrechtlichen Implikationen der Frage der audience klarer gestellt und prä­ ziser beantwortet als bis dahin üblich. Unterschiedliche Positionen wurden vor allem im Hinblick auf die Bedeutung der Ge­ neralstände als Form der communication zwischen Monarch und Untertanen formuliert. 84

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So treffend Denis Crouzet: La nuit de la Saint­Barthélemy. Un rêve perdu de la Renaissance. Paris 1994. Vgl. die Zusammenstellung der wichtigsten Texte bei Jürgen Dennert (Hg.): Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen. Übersetzt von Hans Klingelhöfer (Klassiker der Politik. Bd. 8). Köln/Opladen 1968; ferner Ralph E. Giesey: The Monarchomach Triumvirs: Hotman, Beza and Mornay. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance. 32. 1970. S. 41–56. Vgl. André Lemaire: Les lois fondamentales de la monarchie française d‘après les théoriciens de lʼAncien Régime. Paris 1907. ND Genf 1975; Heinz Mohnhaupt: Von den ,leges fundamentalesʻ zur modernen Verfassung in Europa. Zum begriffs­ und dogmengeschichtlichen Befund (16.–18. Jahr­ hundert). In: Ius Commune. 25. 1998. S. 121–158; Schilling: Normsetzung (Anm. 21). S. 370–416. Vgl. etwa Simone Goyard­Favre: Jean Bodin et le droit de la république. Paris 1989; Olivier Beaud: La puissance de lʼÉtat. Paris 1994. S. 53–130.

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Einerseits wurde auch weiterhin in idealisierender Weise betont, die französischen Köni­ ge liebten ihre Untertanen wie eigene Kinder und strebten schon deshalb Generalstände an, weil diese ihnen eine benigne & paternelle communication ermöglichten.88 Ähnlich argumentierte auch Bodin als Verfechter der uneingeschränkten Souveränität des Mon­ archen. Er vertrat die Auffassung, bei den Generalständen kommuniziere man über die den gesamten politischen Körper wie auch dessen einzelne Glieder betreffenden Ange­ legenheiten, hier höre der Fürst die berechtigten Klagen der Untertanen, die ihm andern­ falls niemals zu Ohren kämen, und hier werde der Betrug aufgedeckt, der im Namen des Königs verübt werde, ohne daß dieser davon erfahre. Im übrigen sei das Volk zufrieden zu sehen, daß der König den Ständen vorsitze, und stolz, Zugang zu ihm zu haben.89 Zugleich deutete er die Generalstände wie vor ihm LʼHospital, Charles de Marillac und andere als die Macht und die Reputation des Königs stärkende Versammlung; allerdings spielte bei ihm der noch 1560 anklingende traditionelle Zusammenhang von Rat und Hilfe keine Rolle mehr. Nicht die Beratung und das Urteil von plusieurs war maßgeb­ lich für die Abhaltung von Generalständen, sondern die konkrete Unterstützung, die sie dem Fürsten gewährten, und die Tatsache, daß sie den Gehorsam der sujets gegenüber dem Monarchen zum Ausdruck brachten, warfen sich nach seiner Darstellung doch die princes, die großen seigneurs und – repräsentiert durch die Deputierten – un peuple innumerable de toutes sortes & qualités dʼhommes dem König zu Füßen, um ihm die Ehre zu erweisen.90 88

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Anon.: Remonstrance d’un bon Catholique François, aux Trois Estats de France, qui s’assembleront à Blois […]. o.O. 1576. S. 13: ceste Monarchie de France a esté de tout temps submis à la domination d’un Roy & Prince souverain, qui tousiours à maintenu & conservé l’estat de ce Royaume en une bonne Police & Iustice [...] usant aussi par louable coustume de l’advis des estats generaux, par une benigne & paternelle communication avec les subiects, lesquels nos Roys ont tousiours cheris & aymez comme bons peres leurs enfans, dominans sur eux plustost par le sceptre de la raison & equité que par la crainte & force. Ähnlich anläßlich der zweiten Generalstände von Blois auch Guy Coquille: Discours des Estats de France & du droit que le Duché de Nivernois a en iceux. Zuerst 1588. Erneut in: Ders.: Les Œuvres de Maistre Guy Coquille, Sieur de Romenay […]. 2 Bde. Bordeaux 1703. Bd. I. S. 276–285, hier S 276: c’est un honneur qu’il [le roi] fait à son peuple, de se communiquer à luy, & luy proposer ses affaires. Jean Bodin: Les six livres de la République. Zuerst 1576. Erneut Paris 1583. ND der Ausgabe von 1583 Aalen 1961. Kap. III/7. S. 500: là [aux états généraux] on communique des affaires touchant le corps universel de la Republique, et des membres d’icelle: là sont ouïes & entendues les iustes plaintes & doleances des povres subiects, qui iamais autrement ne viennent aux oreilles des Princes: là sont descouverts les larcins, concussions, & voleries qu’on fait sous le nom des Princes qui n’en sçavent rien. Mais il est incroyable, combien les subiects sont aises de voir leur Roy presider en leurs estats: combien ils sont fiers dʼestre veus de luy: & sʼil oit leurs plaintes, & reçoit leurs requestes. Ebd. Kap. II/1. S. 263: quel contrepoids de puissance populaire peut estre en lʼassemblee des trois estats, voire de tout le peuple, sʼil pouvoit estre en un lieu, qui supplie, requiert, & revere son Roy? tant sʼen faut que telle assemblee diminuë la puissance dʼun Prince souverain, que par icelle sa maiesté est de beaucoup accreuë & relevee. Car il ne peut estre eslevé en plus haut degré d’honneur, de puissance, & de gloire que de voir un nombre infini de Princes & grands seigneurs, un peuple innumerable de toutes sortes & qualités dʼhommes, se iette à ses pieds, & faire hommage à sa maiesté: veu que lʼhonneur, la gloire & la puissance des Princes ne gist en lʼobeissance, hommage & service des subiects.

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Verfechter einer gemischten, partizipativen Monarchie unterstrichen hingegen die ver­ bindliche Verpflichtung des Monarchen, Ständeversammlungen einzuberufen. So erinner­ te 1574 Innocent Gentillet, ein hugenottischer, den malcontents um François d’Alençon nahestehender Jurist, der wenig später mit seinem Anti-Machiavel für Furore sorgte, in einer Flugschrift an die einem Fürsten geziemende Devise audi partem und begründete die Forderung nach der Einberufung der Generalstände mit dem an den Grundsatz quod omnes tangit angelehnten Argument, bei Angelegenheiten, die alle angingen, müsse al­ len Gehör gegeben und die Gelegenheit zu Einwendungen eingeräumt werden.91 Andere gingen noch weiter und unterstrichen, es gehe nicht nur um die Bereitschaft des Königs, sich über die Lage in seinem Land zu informieren und Beschwerden und Gesuche ent­ gegenzunehmen, sondern auch um die Beteiligung von Repräsentativversammlungen an der Beantwortung und Regelung der Probleme92. Schließlich argumentierten protestantische Monarchomachen, wo den Untertanen kei­ ne audience gewährt werde oder die für audience und communication unverzichtbaren 91

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[Innocent Gentillet]: Briève rémonstrance à la noblesse de France sur le faict de la Declaration de Monseigneur le Duc d’Alençon. o.O. 1576, S. 66f.: il est raisonnable que les choses que [qui] touchent chacun soyent entendues de chacun & que tout le monde ait audience, pour remonstrer ce qu’il voudra. Gentillet deutet den Grundsatz quod omnes tangit des mittelalterlichen kanonischen Rechts lediglich im Sinne der Gewährung von audience; die Formel geht zurück auf den Codex Iustinianus, 5.59.5.2: Quod omnes similiter tangit, ab omnibus comprobetur; vgl. zur Bedeutung der Formel in der politischen Theorie des Spätmittelalters etwa Yves Congar: Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet. In: Revue d’Histoire Diplomatique. 36. 1958. S. 210–259; Constantin Fasolt: Quod omnes tangit ab omnibus approbari debet: the words and the meaning. In: Steven B. Bowman/Blanche E. Cody (Hg.): In iure veritas. Studies in memory of Schafer Williams. Cincinnati 1991. S. 21–55; Francis Oakley: Legitimation by Consent. The Question of the Medi­ eval Roots. In: Ders.: Politics and eternity. Studies in the history of medieval and early­modern political thought. Leiden u. a. 1999. S. 96–137; zur Rezeption im Frankreich des 16. Jahrhunderts Jouanna: Le devoir de révolte (Anm. 57). S. 286f. (sie deutet die Gentillet­Stelle freilich im Sinne einer Zustimmung aller); ferner Eberhard Isenmann: Widerstandsrecht und Verfassung in Spätmit­ telalter und früher Neuzeit. In: Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg­Rilinger (Hg.): Menschen und Strukturen (Anm. 78). S. 37–69, hier S. 66. Besonders deutlich wird dies bei [Coras]: Question politique (Anm. 49). S. 12–14, der die communication zwischen Fürst und Untertanen gleichsetzt mit Verhandlungen, deren als Gesetz verab­ schiedetes Ergebnis auch für den König verbindlich sein soll: Telles negociations & capitulations apportoyent un bien infini au Royaume, puis que par icelles les Princes & subietz communiquans les uns avec les autres, s’en alloyent contens & reconciliez de tous leurs differens. […] Et nous avons veu en ce tems combien proffiterent les estatz tenuz à Orleans, sur lesquelz ont esté faites plusieurs Ordonnances salubres au Royaume, & ouverts plusieurs moyens pour l’acquit du Roy & pour l’utilité publique […]. Comme aussi nous avons tesmoignage certain tant par les histoires que par les expeditions mises en lumiere, du fait & utilité qu’apporterent au Royaume les estatz tenuz à Tours […]. Et pleust a Dieu que telles assemblées fussent plus frequentes qu’elles ne sont: car elles esteindroyent toutes les guerres & contentions civiles, quand il seroit donné bonne audience au subiet par son Prince comme à present elle luy est du tout deniée. Ie di d’avantage […] que l’establissement de ce Royaume ayant si bien commencé, il a encores mieux continué par quelques siecles. Car avec les estatz, ou quelques-fois sans iceux noz Rois avoyent accoustumé de convoquer les Princes, Barons, Seigneurs & les sages de leur Royaume: (laquelle convocation ils appeloyent Parlement) avec lesquels ils communiquoyent toutes les affaires d’estatz, accordoyent & capituloyent d’icelles avec eux (S. 12–14, hier S. 9f.). Capituler bzw. capitulation ist hier (wie im deut­ schen Begriff der Wahlkapitulation) im Sinne von einen Vertrag schließen zu verstehen.

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Ständeversammlungen verweigert würden, müsse der betreffende Monarch als Tyrann gelten, gegen den Widerstand gerechtfertigt sei.93 Die von Katharina von Medici und Kanzler L’Hospital betriebene verfassungspolitische Aufladung der Frage der audience gewann nun unverkennbar an Eigendynamik, denn das Ideal des zugänglichen Königs wurde nun verknüpft mit verfassungsrechtlichen Forderungen, die auf eine vom König nicht nur freiwillig zu gewährende, sondern seiner Verfügung entzogene, grundgesetzlich garantierte Partizipation von Repräsentativorganen abzielten. Ganz unabhängig davon, ob daraus ein Widerstandsrecht abgeleitet wurde, waren For­ derungen, die aus dem (auch weithin unumstrittenen) Recht auf Gehör die Verpflichtung des Königs zur Einberufung von Generalständen oder anderen Repräsentativversamm­ lungen ableiteten, für die Krone schwerlich akzeptabel. Solche Versammlungen mochten (wie die 1576 nach Blois einberufene Ständeversammlung)94 eine Option der königlichen Politik sein; Forderungen, die auf das von den Generalständen regelmäßig geforderte Prinzip periodisch einzuberufender Ständeversammlungen95 hinausliefen, lehnte die Kro­ ne hingegen stets ab.96 Heinrich III., der letzte Valois auf dem französischen Thron, suchte sich von den Geis­ tern, die L’Hospital und seine Mitstreiter 1560 gerufen hatten, zu befreien und der extre­ men verfassungspolitischen Aufladung der Frage der audience entgegenzutreten. Er ver­ deutlichte bei vielen Gelegenheiten, welch große Bedeutung er dem individuellen Recht auf Gehör beimaß – ganz offensichtlich, um Partizipationsansprüchen des Hochadels und Forderungen nach regelmäßiger Einberufung von Ständeversammlungen, die jeweils als Maßnahmen zur Verbesserung der Zugänglichkeit des Königs begründet wurden, entge­ genzuwirken. So bestätigte er in der großen ordonnance de Blois von 1579 ausdrücklich das Recht eines jeden Einzelnen, ihm persönlich Beschwerden vorzulegen97 – ein Recht, 93

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Die erstere Argumentation bei [Daneau]: Response (Anm. 50). S. 20–22; die zweitere Argumenta­ tion, der zufolge die Abhaltung von Repräsentativversammlungen (und damit die Konsultation des Volkes) einen Bestandteil des ius gentium darstellt, dessen Mißachtung den betreffenden Monar­ chen zum Tyrannen macht und somit Widerstand legitimiert, bei Hotman: […] cum […] gentium ac nationum omnium commune hoc institutum semper fuerit, quae quidem regio ac non tyrannico imperio utentur […]: perspicuum est, non modo praeclaram illam communis concilii habendi libertatem partem esse iuris gentium, verum etiam Reges qui malis artibus illam sacrosanctam libertatem opprimunt, quasi iuris gentium violatores, & humanae societatis expertes, iam non pro Regibus, sed pro tyrannis habendos esse. François Hotman: Francogallia. Zuerst 1573. Hg. und übers. von Ralph E. Giesey/J. M. H. Salmon (Cambridge Studies in the History and Theory of Politics). Cam­ bridge 1972. S. 316. Vgl. zu Vorgeschichte und Verlauf Picot: Histoire des États généraux (Anm. 40). Bd. II. S. 297– 376; ferner Edmond Charleville: Les États généraux de 1576. Le fonctionnement d’une tenue des États. Paris 1901; Manfred Orlea: La noblesse aux États généraux de 1576 et 1588. Étude politique et sociale. Paris 1980; Gosman: Les sujets du père (Anm. 74). S. 260–265. Vgl. die Einzelnachweise bei Schilling: Normsetzung (Anm. 21). S. 171 und S. 402; ferner den tabellarischen Überblick über die verfassungspolitischen Forderungen der Ständeversammlungen von 1560 bis 1577 und wichtiger Pamphlete bei Jouanna: Le devoir (Anm. 57). S. 301. Die betreffenden Forderungen der Generalstände wurden von den jeweiligen Königen stets igno­ riert; vgl. Schilling: Normsetzung (Anm. 21). S. 171. Art. 89: [Nous] déclarons nostre vouloir et intention estre ès jours, où nos affaires le pourront permettre, donner audience ouverte et publique a ceux de nosdits sujets qui se voudront présenter pour

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das er offenbar tatsächlich über viele Jahre gewissenhaft achtete, indem er wöchentlich zwei­ bis dreimal Bittsteller empfing.98 Parallel dazu versuchte er, ein Gegengewicht ge­ gen die mächtigen ducs et pairs zu schaffen, indem er einzelne, ihm gegenüber bedin­ gungslos loyale Adlige aus dem ,zweiten Adelʻ (seconde noblesse) als Favoriten begüns­ tigte und zugleich versuchte, im Alltag bei Hofe den Zugang zu beschränken.99 Heinrich III. ist mit dieser Politik bekanntlich gescheitert – den Guise gelang es gegen Ende der 1580er Jahre, die zunehmende Radikalisierung erheblicher Teile der katholi­ schen Bevölkerung für sich zu nutzen. Wieder wurde (nun von Seiten radikaler Katholi­ ken) argumentiert, das Hauptübel liege darin, daß Untertanen und Amtsträgern durch die als mignons verunglimpften Favoriten Heinrichs III. der Zugang zum König versperrt sei.100 Und wieder versuchte der König, durch die Einberufung von Generalständen die politische Initiative wiederzugewinnen.101 Durch eine Rufmordkampagne ungesehenen Ausmaßes verunglimpft,102 geriet Heinrich III. freilich derart unter Druck, daß er den einzigen Ausweg in einem Auftragsmord an den beiden führenden Guise erblickte. Die Folge war seine Vertreibung aus Paris und wenige Monate später seine Ermordung durch einen fanatisierten Dominikanermönch. Am Beispiel Heinrichs III., eines an sich intel­ lektuell wie rhetorisch hochbegabten Monarchen, wird deutlich, wie grausam ein franzö­ sischer König scheitern konnte, wenn es ihm nicht gelang, audience und communication erfolgreich zu handhaben und zur politischen Integration und zur Sicherung öffentlicher Unterstützung zumal seitens der Eliten zu nutzen. Anders als sein unglücklicher Vorgänger stand Heinrich IV. über weite Strecken seiner Regierungszeit im Ruf der Zugänglichkeit, der Jovialität, ja der Volkstümlichkeit, obwohl

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nous faire leurs plaintes et doléances, afin d’y pourvoir et de leur faire administrer justice; Isambert u. a. (Hg.): Recueil (Anm. 78). Bd. XIV. S. 403. So das Urteil des (freilich Heinrich III. insgesamt positiv bewertenden, der bourbonischen Klien­ tel zugehörigen) Historikers André Favyn: Histoire de Navarre, Contenant l’Origine, les Vies & Conquestes de ses Roys, depuis leur commencement iusques a present. Paris 1612. S. 952: Auparauant les menées de la Ligue, deux fois par sepmaine, & trois bien souuent, il [Henri III] se tenoit apres disner à sa table, receuoit les plaintes & doleances de ses subiects, auec les placets de ses Officiers qui luy demandoient recompense. A quoy ayant vacqué tant qu’il y auoit de suppliants, il emportoit toutes leurs requestes & placets en son Cabinet, les lisoit & respondoit luy mesme la plus part de sa main. Vgl. zuletzt Nicolas Le Roux: La Faveur du Roi. Mignons et courtisans au temps des derniers Valois (vers 1547–vers 1589). Seyssel 2001; zu Heinrichs Hofhaltung Jeroen Duindam: Vienna and Versailles. The Courts of Europeʼs Dynastic Rivals 1550–1780. Cambridge 2003. S. 161f. So etwa der Parlamentsrat Nicolas Rolland du Plessis, der wenig später als Mitglied des radikal­ katholisch­ligistischen Pariser Stadtrats, der seize, zu (trauriger) Berühmtheit gelangte; [Nicolas Rolland du Plessis]: Remonstrances tres­humbles au Roy de France et de Pologne Henry troisiesme de ce nom, par un sien fidelle Officier et subiect, sur les desordres et miseres de ce Royaume, causes d’icelles, et moyens d’y pouruoir à la gloire de Dieu et repos uniuersel de cet Estat […]. o.O. 1588. S. 76: Mais quoy? Nostre mal est là, que la porte est fermee à toutes remonstrances, vos Officiers des compagnies n’ont plus d’audience. Vgl. zum Folgenden Pierre Chevallier: Henri III. Roi shakespearien. Paris 1985. S. 651–704; Jean­ Marie Constant: La Ligue. Paris 1996. S. 186–212; ferner noch immer Picot: Histoire des États généraux (Anm. 40). Bd. 3. S. 83–151; Gosman: Les sujets du père (Anm. 74). S. 265–272. Vgl. u. a. David Potter: Kingship in the Wars of Religion. The Reputation of Henri III of France. In: European History Quarterly. 25. 1995. S. 485–528.

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er den Großen des Landes im königlichen Rat nur sehr begrenzte Partizipationschancen einräumte und abgesehen von einer Notabelnversammlung 1596/97 keine Repräsentativ­ versammlungen einberief.103 Die Volkstümlichkeit dieses Monarchen beruhte zweifellos nicht zuletzt auf seiner persönlichen Ausstrahlung. Heinrich vermochte es immer wieder, Menschen für sich zu gewinnen, an sich zu binden und ihre Loyalität zu wahren. Er war schlagfertig, sprachgewandt und hatte offenbar einen Sinn für einprägsame Formulierun­ gen; leutselig, offen und unkompliziert im Umgang, ließ er gleichwohl nie einen Zwei­ fel an seiner Entschiedenheit, seiner Autorität und der Würde seines Amtes aufkommen. Kurzum: Er verkörperte die Erwartungen vieler Franzosen an einen König, der seinem Volk nahe und dennoch erhaben war. Zu seiner Popularität trug nicht unerheblich bei, daß er anders als seine Standesgenossen bis in die 1590er Jahre kaum in einer höfischen Um­ gebung gelebt hatte. Als hugenottischer Heeres­ und Verhandlungsführer war Heinrich vielmehr ständig auf Reisen gewesen und hatte dabei auch eine ausgezeichnete Kenntnis des Landes erworben, das er vielfach zu Pferde durchquert hatte, ehe er es regierte. Als Herrscher suchte Heinrich konsequent den Eindruck zu vermeiden, er verschlie­ ße sich grundsätzlich gegenüber Beschwerden und Klagen. Als sich in der Schlußphase der Religionskriege viele der durch die Kriegseinwirkungen besonders hart betroffenen Bauern in der Aufstandsbewegung der Croquants (1594/95) zusammentaten, empfing er einen Vertreter der Bauern namens La Saigne, dem er auch recht weitreichende Zusagen machte – konsequent umsetzen wollte (oder konnte) er diese Zusagen zwar nicht; doch hatte er erreicht, daß die Bauern sich in ihren Anliegen ernstgenommen fühlten.104 Die Beendigung des Krieges sorgte zusammen mit günstigen Wetterbedingungen in den fol­ genden Jahren bis zum Tode des Königs dafür, daß es den Bauern tatsächlich deutlich besser ging, so daß Heinrich IV. bis heute als in besonderem Maße um die Bauern be­ sorgter Monarch gilt. Heinrich IV. war sich im übrigen der grundlegenden Bedeutung jener Formen materi­ eller Loyalitätssicherung gegenüber den adligen Eliten bewußt, derer sich seine Vorgän­ ger bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts mit großem Erfolg bedient hatten.105 Nach seiner Krönung und seinem Einzug in Paris (Februar/März 1594) zog er es trotz der inzwischen erreichten militärischen Überlegenheit und ungeachtet der angespannten finanziellen Lage der Krone vor, die Loyalität der verbliebenen, meist dem Hochadel entstammenden Gegner zu erkaufen. Er nahm große Kredite auf (was angesichts der leeren Kassen nur zu hohen Zinsen möglich war), um nach und nach alle Führer der katholischen Partei in Einzelverhandlungen an sich zu binden. Nachdem er dies erreicht hatte, tolerierte Hein­ rich IV. freilich keine politischen Eigenmächtigkeiten mehr. Insgesamt gelang es Heinrich IV. fraglos, zwei verfassungsrechtliche Elemente von­ einander zu trennen, die zu Beginn der Religionskriegszeit (auch von Vertretern der Krone) miteinander verknüpft worden waren, deren Verknüpfung dann aber eine für die 103 104

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Vgl. zum Folgenden Jean­Pierre Babelon: Henri IV. Paris 1994. Vgl. Yves­Marie Bercé: Histoire des Croquants. Étude des soulèvements populaires au XVIIe siècle dans le sud­ouest de la France. 2 Bde. Paris 1974; zur Behandlung La Saignes auch Ders.: La nais­ sance dramatique de l’absolutisme. 1598–1661. Paris 1991. S. 31f. Vgl. zum Folgenden Jouanna: Le temps des guerres de Religion (Anm. 65). S. 395–400.

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Krone bedrohliche Eigendynamik entwickelt hatte: einerseits die für das Funktionieren der Monarchie unverzichtbare Zugänglichkeit des Königs für Bitten und Beschwerden von Untertanen und lokalen Körperschaften – und andererseits Verfahren der adligen oder ständischen Partizipation, die darauf hinausliefen, hochadligen Eliten oder Stän­ deversammlungen als Mittlern der communication zwischen König und Untertanen und letztlich als Repräsentanten des politischen Körpers garantierte Partizipationsrechte einzuräumen. Nach Heinrichs Ermordung (14. Mai 1610) wiederholte sich indes das bereits skiz­ zierte, für Phasen der Schwäche der Monarchie typische Szenario in wesentlichen Tei­ len erneut.106 Heinrichs Witwe Maria von Medici, die für ihren minderjährigen Sohn die Regentschaft übernahm, setzte wiederum auf einen nicht dem französischen Hochadel zugehörigen Favoriten, den aus ihrer Heimat stammenden Concino Concini. Sie sahen sich bald, Anfang 1614, einer Rebellion des Hochadels unter der Führung Heinrichs II. von Condé gegenüber. Die Hochadligen warfen der Königinmutter und Concini vor, die Klagen des Volkes unterdrückt und die Beschwerden der Obergerichte und anderer Amts­ träger ignoriert zu haben – ebenso wie den als Rückzug vom Hof inszenierten Protest Condés und anderer Hochadliger.107 Erneut wurde der Widerstand der hochadligen Eliten als Störung der politischen Kommunikation zwischen Krone und Untertanen, als von der ausländischen Königinmutter, deren ebenfalls ausländischem Favoriten und anderen Höf­ lingen zu verantwortenden Unzugänglichkeit des Königs für die berechtigten Anliegen und Beschwerden des Volkes, dargestellt. Auch die ,Lösungʻ des Problems folgte dieser Deutungslogik. In dem die Adels­ revolte beendenden Vertrag von Sainte­Menehould vom 15. Mai 1614 wurde neben der bei solchen Gelegenheiten üblichen Zahlung einer ,Entschädigungʻ an Condé die Einberufung von Generalständen festgelegt, die sich unmittelbar nach Erreichen der formalen Volljährigkeit seitens des Königs im Oktober desselben Jahres versammeln sollten – ein Plan, der im Umfeld Marias bereits während des Aufstands erwogen wor­ den war.108 In der Zwischenzeit unternahm Maria von Medici mit ihrem noch minder­ 106

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Vgl. zum Folgenden noch immer Berthold Zeller: Louis XIII, Marie de Médicis, chef de Conseil [...]. États généraux. Mariage du Roi. Le prince de Condé (1614–1616). Étude nouvelle dʼaprès les documents florentins et vénitiens. Paris 1898; den aktuellen Forschungsstand bietet Jean­François Dubost: Marie de Médicis. La reine dévoilée. Paris 2009. S. 295–570. So die Argumentation im Manifest Condés vom 21.2.1614; Druck: [Henri de Bourbon, duc de Condé]: Lettre de Monseigneur le Prince à la Royne. o.O. 1614. S. 4: i’ay creu […] que les plaintes que les peuples ont baillé à leurs Deputez, que les remonstrances des Parlemens, & la clameur du publiq arresteroient le cours de leurs pernicieux desseins [des mauvais conseilleurs du roi]. Il[s] ont mesprisé mon mescontentement, suprimé les pleintes des peuples, eludé les deliberations des Deputez, negligé les remonstrance[s] des Parleens, & estouffé les clameurs du pupliq qui gemist voyans la ruyne prochaine & division de ce Royaume […]. Zu den Überlegungen im Vorfeld der Einberufung dieser Generalstände vgl. ein Memorandum Vil­ leroys, gedruckt bei J. Nouillac (Hg.): Avis de Villeroy à la reine Marie de Médicis, 10 mars 1614. In: Revue Henri IV. 2. 1907/08. S. 79–89; ferner James Russell Major: Representative Govern­ ment in Early Modern France. New Haven/London 1980. S. 402f.; Nachweis des die Einberufung der Generalstände stipulierenden Vertrags von Sainte­Menehould bei Isambert u. a. (Hg.): Recueil (Anm. 78). Bd. XVI. S. 45; vgl. zu den Generalständen neben Picot: Histoire des États généraux (Anm. 40). Bd. III. S. 327–410; J. Michael Hayden: France and the Estates General of 1614. Cam­

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jährigen Sohn eine Reise durch Frankreich, die nicht nur dazu diente, den weiterhin rebellischen Herzog von Vendôme zur Aufgabe zu überreden, sondern vor allem darauf abzielte, die Lage des Landes zu erkunden und den Vorwurf der Unzugänglichkeit des Königs zu entkräften. Maria von Medici scheint dieses Ziel weitgehend erreicht zu haben, denn als die Generalstände sich im Oktober versammelten, brachten die (ansonsten nur in weni­ gen Punkten einigen) Deputierten aller drei Stände fast unisono ihre uneingeschränkte Loyalität zur Krone und ihre Kritik an den Ambitionen des Hochadels zum Ausdruck. Dem Argument der Hochadligen, einer allgemeinen Unzufriedenheit der Bevölkerung Gehör verschaffen zu müssen, war damit zumindest kurzfristig die Grundlage entzo­ gen. James Russell Major charakterisiert die Versammlung von 1614 denn auch tref­ fend als die einzigen Generalstände seit den Zeiten Ludwigs XI., die der Regierung gewogen waren.109 Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, daß im Kontext dieser Generalstände die Frage der audience fast ausschließlich in idealisierend­harmonisierender Weise behan­ delt wurde. So betonte etwa eine Flugschrift, es zeichne Frankreich vor allen anderen Monarchien aus und beweise die harmonie des Estats, daß die französischen Könige sich stets ihren Untertanen wie Väter mitgeteilt hätten, um ihre Beschwerden entgegenzuneh­ men.110 Mit ähnlicher Tendenz erläuterte eine andere Flugschrift, die Generalstände seien das sanfteste und gerechteste Mittel, um die maladies violentes des Gemeinwesens zu kurieren, denn sie böten den Untertanen die Chance, ihre Beschwerden vorzubringen und so die Geschwüre aufzuzeigen, von denen der politische Körper befallen sei, damit der König das remède convenable verordnen könne – ein Verfahren, durch das, wie der Text zusammenfaßte, le Prince daigne bien communiquer en quelque façon son authorité à ses subiects.111 Obwohl auch jetzt wieder über die Periodizität der Generalstände diskutiert

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bridge 1974; Roger Chartier/Denis Richet (Hg.): Représentation et vouloir politiques. Autour des Etats généraux de 1614 (Recherches d’histoire et de sciences sociales. Bd. 4). Paris 1982; Gosman: Les sujets du père (Anm. 74). S. 285–322. Major: The loss of royal initiative (Anm. 61) beurteilt sie als „the only Estates General favorable to the government since the reign of Louis XI“ (S. 255); vgl. auch Klaus Malettke: Krone, Ministeriat und höfischer Adel zur Zeit Ludwigs XIII. In: Ursula Fuhrich­Grubert/Angelus H. Johansen (Hg.): Schlaglichter Preußen – Westeuropa. Festschrift für Ilja Mieck zum 65. Geburtstag (Berliner Histo­ rische Studien. Bd. 25). Berlin 1997. S. 235–258, hier S. 240. Anon.: Advis, remonstrances et requestes (Anm. 51). S. 22: Nous sçavons bien que le Roy ne tient que de Dieu & de son espee, que sa puissance est absoluë & souveraine. Ainsi nous parlons avec toute humilité & reverence tenant les Estats, mais c’est en cela que nos Roys ont surpassé tous les autres. Car par une assemblée legitime ils se sont toujours communiquez à leurs peuples comme peres, non comme seigneurs seulement, pour ouyr les plaintes: c’est la plus excellente harmonie des Estats & formes de gouvernement qui soient au Monde. [Gillot]: Le Caton François (Anm. 25). S. 61f.: Les Rois vos predecesseurs, Sire, n’ont point trouvé de moyen plus prompt pour remedier aux maladies violentes de leur Estat, que d’user de ce remede comme le plus doux & le plus iuste, de tant plus qu’il doit estre sans violence & sans contraire, & qu’en icelui tous les membres du corps dont vous estes le chef, peuvent librement representer leurs ulceres, faire leurs plaintes & doleances, pour sur icelles leur estre pourveu de remede convenable pour leur bien & guerison. Or, Sire, [...] en ceste action le Prince daigne bien communiquer en quelque façon son authorité à ses subiects.

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wurden, spielte nun, anders als in der Zeit der Religionskriege, die Frage der audience bei der Begründung weitreichender verfassungsrechtlicher Forderungen keine entscheidende Rolle mehr. Auch nach 1614 wurde die Frage der audience nicht mehr zu einem zentralen Thema der politischen Auseinandersetzung. Zwar geriet die Krone nach dem Tod Ludwigs XIII. (1643), ähnlich wie nach 1559/60 und nach 1610, erneut in eine durch die Minderjährigkeit des jungen Königs, die Regentschaft einer landfremden Königinmutter und den Einfluß eines landfremden Favoriten gekennzeichnete, tiefe Krise, die in einer großen, vor allem vom Hochadel und den Obergerichten getragenen Erhebung, der Fronde (1648–1653), gipfelte.112 Doch Forderungen nach audience spielten bei dieser letzten großen Aufstands­ bewegung vor der Revolution nurmehr eine nachrangige Rolle – und wo sie aufgegriffen wurden, geschah dies nicht selten in gebrochener Form. Wenn etwa eine der zahllosen, den verhaßten Kardinal aufs Korn nehmenden Mazarinades als fiktive supplique des Kar­ dinals an die Pariser Bevölkerung,113 eine andere als Bericht über den Besuch einer Dele­ gation Plutons, des Gottes der Unterwelt, bei demselben daherkamen,114 zielten sie nicht auf Überwindung von Mißständen durch audience und communication, sondern auf die Verhöhnung des Kardinals – ebenso wie die satirischen requêtes einfacher Untertanen, die sich in beträchtlicher Zahl unter den Mazarinades finden.115 Die Überzeugung, die politische Krise lasse sich in erster Linie durch eine Verbesserung der Zugänglichkeit des Monarchen lösen, teilte in der Zeit der Fronde kaum mehr jemand – ein Befund, der nicht nur den veränderten Gebrauch des eingangs vorgestellten historischen Exempels verständlich zu machen vermag, sondern auch insofern nicht verwundert, als das (zu kei­ nem Zeitpunkt präzise umrissene) Ideal einer partizipativen Monarchie im Frankreich der Mitte des 17. Jahrhunderts bereits weitgehend verblaßt war, weshalb es der Fronde im üb­ rigen auch zu keinem Zeitpunkt gelang, jenseits der Feindschaft gegenüber Mazarin eine auch nur ansatzweise kohärente Programmatik zu entwickeln. Nach der Fronde war der Versuch des Hochadels, sich als Garant der Zugänglichkeit des Königs zu präsentieren, ebenso obsolet wie die Vorstellung, communication zwischen Monarch und Untertanen sei am ehesten im Rahmen von Repräsentativversammlungen möglich. Die skizzierte Entwicklung bedeutet keineswegs, daß in der zweiten Hälfte des 17. Jahr­ hunderts im Zeichen eines wie auch immer zu definierenden ,Absolutismusʻ das Recht auf Gehör in Frage gestellt worden wäre oder die Vorlage von Bitt­ und Beschwerdeschriften

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Vgl. zum Folgenden Ernst H. Kossman: La Fronde. Leiden 1954; Hubert Méthivier: La Fronde. Paris 1984; Michel Pernot: La Fronde. Paris 1994. Anon.: La Supplication de Mazarin faicte aux Parisiens leur demandant pardon. Paris 1649. Vgl. zu den Mazarinades allgemein Christian Jouhaud: Mazarinades. La Fronde des mots. Paris 1985; Hubert Carrier: La presse de la Fronde (1648–1653). Les Mazarinades. Bd. I: La conquête de l’opi­ nion. Bd. II: Les hommes du livre. Genf 1989/91. Anon.: Ambassade burlesque envoyée à Mazarin de la part de Pluton, où se voit, par dialogue, comme l’Enfer lui reproche l’énormité de ses crimes. o.O. o.D. Vgl. etwa Anon.: Requête des peuples présentée à son Altesse Royale. o.O. o.D.; Anon.: Deuxième et dernière requête présentée à son Altesse Royale, dimanche dernier 30 juin 1652, par les bourgeois et habitants de la ville et faubourgs de Paris, sur le sujet des affaires présentes. Paris 1652.

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an Bedeutung verloren hätte. Diese Form der Kommunikation bildete vielmehr bis ins 18. Jahrhundert ein wichtiges Element der Herrschaftspraxis der französischen Monarchie. Wie unsinnig es wäre, die auf Überhöhung des Monarchen abzielenden ,absolutistischenʻ Vorstellungen und Ansätze der Zeit in einen Gegensatz zur Zugänglichkeit des Fürsten und zu seiner Offenheit für Anregungen und Beschwerden zu setzen, zeigt etwa ein Blick auf die Zusammenstellung unverzichtbarer Herrschertugenden, die Jacques Bénigne Bos­ suet in der aus seiner Tätigkeit als Prinzenerzieher am Hofe Ludwigs XIV. hervorgegan­ genen Schrift Politique tirée des propres paroles de l’écriture sainte zusammengetragen hat. In diesem Tugendkatalog vertritt er in Übereinstimmung mit den Klugheitsregeln älterer Fürstenspiegel und Regimentstraktate die Auffassung, ein guter Fürst müsse nicht nur die Rechtsordnung seines Landes genau kennen, die zur Entscheidung anstehenden Sachverhalte genau ergründen und sich stets über die Lage inner­ und außerhalb sei­ nes Königreichs auf dem laufenden halten, sondern auch über Menschenkenntnis und eine genaue Kenntnis seiner selbst verfügen, sich der Sprache und der Rede zu bedienen wissen, aufmerksam sein, zuhören und Rat annehmen. Nur ein wacher, jederzeit für die Anliegen seiner Untertanen offener Monarch war demnach ein guter Monarch.116 Auch Ludwig XIV. betrieb – die Tradition seiner Vorgänger fortsetzend – nicht nur eine im Vergleich zu anderen europäischen Monarchen bemerkenswert offene Hofhal­ tung, die neben Höflingen auch Schaulustigen und vor allem Bittstellern Zugang zu ihm ermöglichte117, sondern schenkte auch der Frage seiner Zugänglichkeit für einfache Untertanen große Aufmerksamkeit. In seinen Memoiren betonte er, er habe durch kla­ rere Regelungen für die Entgegennahme von Bittschriften (placets) eine „Verbesserung der Justiz“ erreicht,118 und unterstrich, welch ungeheuren Nutzen er aus deren Lektüre zog.119 Tatsächlich hat Ludwig XIV. das traditionelle Recht der einfachen Untertanen, sich direkt an den König zu wenden, „reglementiert, zugleich aber auch gefördert“120 – Bittgesuche konnten einmal wöchentlich zu festgesetzten Terminen überreicht werden; 116

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Jacques­Bénigne Bossuet: Politique tirée des propres paroles de l’Ecriture sainte. Edition critique avec introduction et notes par Jacques Le Brun. Genf 1967. Kap. V/1/9 bis V/II/3. S. 127–151. Zu Bossuets politischer Theorie zuletzt (mit weiteren Nachweisen) Lothar Schilling: Bossuet, die Bibel und der ,Absolutismusʻ. In: Andreas Pečar/Kai Trempedach (Hg.): Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne (HZ. Beiheft 43). München 2007. S. 349–370. Vgl. Duindam. Vienne and Versailles (Anm. 99). S. 308 u.ö. Je réformai aussi dans le même temps la manière dont j’avais moi-même accoutumé de rendre la justice à ceux qui me le demandaient immédiatement: car je ne trouvais pas que la forme en laquelle j’avais jusque là reçu leurs placets fût commode ni pour eux ni pour moi. Et, en effet, comme la plupart des gens qui ont des demandes ou des plaintes à me faire ne sont pas de condition à obtenir des entrées particulières auprès de moi, ils avaient peine à trouver une heure propre pour me parler, et demeuraient souvent plusieurs jours à ma suite, éloignés de leurs familles et de leurs fonctions. C’est pourquoi je déterminai un jour de chaque semaine, auquel tous ceux qui avaient à me parler ou à me donner des mémoires avaient la liberté de venir dans mon cabinet, et m’y trouvaient précisément appliqué à écouter ce qu’ils désiraient me dire. Jean Longnon (Hg.): Mémoires de Louis XIV. Paris 1927. S. 222. (Eintrag zum Jahr 1667). Ebd. S. 24f. (Eintrag zum Jahr 1661). So Klaus Malettke: Ludwig XIV. von Frankreich. Leben, Politik und Leistung. Göttingen/Zürich 1994. S. 75 f.

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in den 1660er Jahren war Ludwig dabei nicht selten auch persönlich anwesend. Er hat zudem immer wieder die Gelegenheit genutzt, um – ausgehend von solchen Gesuchen – in den Gang der Justiz einzugreifen und seine Amtsträger zu kontrollieren und zu maßregeln.121 Schließlich zielte auch die flächendeckende Einführung der Provinz­Intendanten – wie seit jeher der Einsatz kommissarischer Amtsträger – darauf ab, Bitten und Beschwerden möglichst systematisch zu erfassen, um Mißbräuche der lokalen Amtsträger zu unterbin­ den und dem König und seinen Ministern eine möglichst detailgenaue Kenntnis des Lan­ des zu vermitteln. Die Instruktionen der Provinz­Intendanten schlossen deshalb (wie die Instruktion der meisten kommissarischen Amtsträger seit dem 13. Jahrhundert)122 stets den Befehl ein, d’ouïr les plaintes de nos sujets.123 Vermöge der Intendanten sollten auch noch Entwicklungen im entferntesten Winkel Frankreichs dem König zu Ohren kommen.

IV. Versucht man abschließend, die Bedeutung der Auseinandersetzungen um die Zugäng­ lichkeit des Königs im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts zusammenzufassen, er­ scheint es sinnvoll, die eingangs eingeführte Unterscheidung zwischen den individuellen Anliegen einfacher Untertanen oder lokaler Körperschaften, dem Einfluß der Eliten und der Partizipation von Repräsentativorganen und ­versammlungen aufzugreifen. Was erstere anbelangt, dürfte deutlich geworden sein, daß die Offenheit des Königs für die Anliegen seiner Untertanen als Norm in der hier in Frage stehenden Zeit nie zur Debatte stand. Doch auch der praktische Nutzen, ja die Unverzichtbarkeit dieser Form der audience für die Krone und für das Funktionieren der Monarchie war den politischen 121

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Einen eindrücklichen Fall berichtet etwa Robert Challe, der als écrivain du roi des Königs am Hofe weilte; vgl. Frédéric Deloffre/Jacques Popin (Hg.): Robert Challe. Mémoires, Correspondance complète, Rapports sur l’Académie et autres pièces. Genf 1996. S. 223f. Schon den maîtres des requêtes, enquêteurs und réformateurs d’État des Spätmittelalters wurde als eine der Hauptaufgaben aufgetragen, Beschwerden entgegenzunehmen, ihnen nachzugehen und Mißbräuche zu bestrafen. Vgl. André Guillois: Recherches sur les maîtres des requêtes de l’hôtel du roi, des origines à 1350. Paris 1909; Adriana Petracchi: I ,Maîtres des Requêtesʻ. Genesi dellʼamministrazione periferica di tipo moderno nella monarchia francese tardo­medioevale e rina­ scimentale, in: Annali della fundazione italiana per la storia amministrativa. 1. 1964. S. 190–241; Maité Etchechoury: Les maîtres des requêtes de lʼhôtel du roi sous les derniers Valois (1553–1589) (Mémoires et documents de lʼÉcole des Chartes. Bd. 33). Paris 1991. S. 19–23; ferner Jacques Revel: Knowledge of the Territory. In: Science in Context. 4. 1992. S. 133–161, sowie noch immer Holtzmann: Französische Verfassungsgeschichte (Anm. 53). S. 205–207. Vgl. Marcel Marion: Dictionnaire des institutions de la France aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris 1923. ND Paris 1968. S. 293–299, hier S. 294; Françoise Hildesheimer: Centralisation, pouvoir local et diplomatique. Les ordonnances des intendants. In: Bibliothèque de l’école des chartes. 136. 1978. S. 37–68. Belegt ist auch, daß Intendanten zeitweise Umfragen unter der Landbevölke­ rung durchführten; vgl. Pierre de St. Jacob (Hg.): Documents relatifs à la communauté villageoise en Bourgogne du milieu du XVIIe siècle à la Révolution. Paris 1962; ferner Hodler: Doléances, Requêtes und Ordonnances (Anm. 44). S. 54.

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Akteuren der Zeit bekannt – sie erklärt, weshalb seitens der Krone immer wieder versucht wurde, die Übermittlung der Bitten und Beschwerden einzelner Untertanen oder lokaler Körperschaften (etwa durch die Systematisierung der placets) zu fördern. Dem von der Krone angestrebten, möglichst ungehinderten Informationsfluß zwischen Untertanen und Monarch standen freilich nicht allein verkehrs­ und kommunikations­ technische, sondern auch politische Hindernisse entgegen, die unmittelbar mit der stän­ dischen Ordnung der französischen Gesellschaft zusammenhingen. Denn aus dem Ideal der Zugänglichkeit des Königs ließen sich Ansprüche und Forderungen ableiten, die aus Sicht der Krone problematisch waren, insbesondere der Anspruch der Eliten, aufgrund ihres Ranges bevorzugt Gehör zu finden, um Mitsprache oder (nicht selten ersatzweise) materielle Vorteile zu erlangen, und die Forderung nach obligatorischer Beteiligung der den politischen Körper repräsentierenden Versammlungen oder Organe an politischen Entscheidungen. Die letzteren Forderungen sind bekanntlich langfristig gescheitert, vor allem deshalb, weil die drei Stände bei den betreffenden Versammlungen untereinander derart zerstrit­ ten waren, daß sie nicht nur die Erwartungen der Krone auf fiskalische Unterstützung enttäuschten, sondern auch als Forum politischer Meinungsbildung kaum Wirkung zu entfalten vermochten.124 Die in den 1570er Jahren entwickelten Forderungen nach Stän­ deversammlungen als grundgesetzlich garantierten Foren einer auf Partizipation abzie­ lenden politischen communication haben sich damit letztlich erübrigt. Als Foren der Inszenierung der Leutseligkeit und Zugänglichkeit des Monarchen wiederum verloren Notabelnversammlungen und Generalstände in dem Maße an Bedeutung, wie es der Kro­ ne im Laufe des 17. Jahrhunderts gelang, die mediale Vermittlung der Monarchie und die „cérémonies de l’information“ auszubauen125. Die Ansprüche aristokratischer Eliten, beim König bevorzugt Gehör zu finden, blieben indes langfristig wirksam. Zwar verloren einzelne Gruppen ihre besonderen Einflußmög­ lichkeiten – so vor allem der Hochadel (der seine Mitgliedschaft im conseil endgültig einbüßte) und die Obergerichte (deren Remonstranzrecht beschnitten wurde). Doch da­ für wuchs der Einfluß des Hofadels. Vor allem aber gelang es den nach 1682 Versailles kaum mehr verlassenden Königen nicht, ihre Kenntnis der Lebensbedingungen und der Verwaltungspraxis in ihrem Land nennenswert zu verbessern. Denn auch die Intendanten arrangierten sich langfristig mit den lokalen Eliten und erwiesen sich als nicht sonderlich emsig bei der Weiterleitung von Beschwerden.126 Auch die letzten drei französischen Kö­ nige nahmen also ihr Land fast ausschließlich avec les yeux d’autrui, mit den Augen (und Ohren) ihrer Amtsträger und ihrer höfischen Eliten wahr. Die Usurpation der königlichen Sinnesorgane münzten die Eliten nicht nur in materielle Vorteile wie Steuerprivilegien 124 125

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Vgl. François Bluche: LʼAncien Régime. Institutions et société. Paris 1993, S. 37. Vgl. Michèle Fogel: Les cérémonies de l’information dans la France du XVIe au milieu du XVIIIe siècle. Paris 1989; Joseph Klaits: Printed Propaganda under Louis XIV. Absolute Monarchy and Public Opinion. Princeton 1977; Stéphane Haffemayer: L’information dans la France du XVIIe siècle. La Gazette de Renaudot de 1647 à 1663. Paris 2002. Vgl. François­Xavier Emmanuelli: Un mythe de lʼabsolutisme bourbonien: Lʼintendance, du mi­ lieu du XVIIe siècle à la fin du XVIIIe siècle (France, Espagne, Amérique). Aix­en­Provence 1981; Anette Smedly­Weil: Les intendants de Louis XIV. Paris 1995.

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und die Erblichkeit ihrer Ämter um;127 sie erreichten auch, daß ihren Interessen entge­ genstehende Informationen von der königlichen Politik nur sehr bedingt zur Kenntnis genommen wurden. Auf der Grundlage dieses Kompromisses gelang dem französischen Königtum nach der Fronde zwar die politische Integration der Eliten; zu deren (langfris­ tig bekanntlich ruinösen) Kosten gehörte freilich, daß das Problem der Zugänglichkeit des Königs ungelöst blieb.

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Vgl. Katia Béguin: Louis XIV et l’aristocratie: coup de majesté ou retour à la tradition? In: Histoire, économie et société. 19. 2000. S. 497–512.

Imprimis Politico necessarium, ut cum hominibus aliquid honoris gradu conversari. Informationelle und kommunikative Dimensionen der deutschen Politikwissenschaft des 17. Jahrhunderts Wolfgang E. J. Weber 1. Einleitung Im Hinblick auf die Ende des 16. Jahrhunderts entstandene und bis in das 18. Jahrhundert hinein blühende, akademisch institutionalisierte, neuzeitlich erste Variante einer Wissen­ schaft der Politik bzw. Politikwissenschaft – Selbstbezeichnung: Politica – möchte ich die diesen Sammelband leitende Frage nach dem Verhältnis von Macht und Kommuni­ kation in doppelter Weise auffassen. Erstens als Frage danach, welche Rolle diese Wis­ senschaft im zeitgenössischen Komplex von Macht, Information und Kommunikation selbst einnahm; zweitens, ob und gegebenenfalls wie und unter welchen Perspektiven die Politica diesen Komplex selbst thematisierte.1 Auf eine systematische Definition der Leitbegriffe Macht oder Herrschaft und Information bzw. Kommunikation sei allerdings verzichtet. Die wichtigsten Dimensionen dieser Elemente und Verhältnisse sind im Allge­ meinen und spezifisch für das Reich in der Forschung bereits erarbeitet worden, wiewohl Differenzierungs­ und Präzisierungsbedürfnisse unzweifelhaft nach wie vor bestehen.2 1

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Der Beitrag knüpft an eine Reihe vorausgehender Studien an, die zum größten Teil in den nachfol­ genden Fußnoten genannt werden. Er verdankt seine Perspektiven außerdem dem DFG­Graduier­ tenkolleg Wissensfelder der Neuzeit. Entstehung und Aufbau der europäischen Informationskultur, das zwischen 1998 und 2008 am Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augs­ burg bestand. Als derartige wichtigste Dimensionen ist einerseits die Dimension des Verhältnisses von Herrscher zu Untertanen anzusehen, aufgefasst zumeist unter den Perspektiven der Repräsentation und jüngst des politischen Aushandelns, andererseits damit in Zusammenhang stehend die Dimension der po­ litischen Massenkommunikation und der wie immer definierten politischen Öffentlichkeit unter besonderer Berücksichtigung des Drucks bzw. des Pressewesens. Vgl. zuletzt u. a. Johannes Arndt/ Esther­Beate Körber (Hg.): Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750). Göttingen 2010; Johannes Frimmel/Michael Wögerbauer (Hg.): Kommunikation und Information im 18. Jahrhundert. Das Beispiel der Habsburgermonarchie. Wiesbaden 2009; Wim Blockmans u. a. (Hg.): Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900. Aldershot 2009; Klaus­Dieter Herbst/Stefan Kratochwil (Hg.): Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. u. a. 2009; ferner noch immer Esther­Beate Körber: Öffentlichkei­ ten der frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kom­ munikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618. Berlin 1998, mit der Unterscheidung von

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Was grundsätzlich noch weitgehend aussteht, ist freilich eine Systematisierung des Kom­ plexes eben von der Politica her; der vorliegende Beitrag versucht, hier wenigstens einige zentrale Befunde zusammenzustellen.3

2. Die Politica im Reich des 17. Jahrhunderts: Entstehung, Erscheinungsformen, informationelle und kommunikative Funktionen 2.1 Grundlagen Wie anderorts bereits mehrfach ausgeführt, verdichteten sich die theoretische Erfassung, Durchdringung und Bewältigung der das letzte Drittel des 16. Jahrhunderts bestimmen­ den demographischen, sozioökonomischen und konfessionell­politischen Krisenerschei­ nungen im Reich und an seinen Rändern um 1580/90 zu zwei je länger desto deutlicher auseinandertretenden Diskursen, die schon bald akademisch­disziplinären Charakter ge­ wannen.4 Der bekanntere Diskurs, nämlich die Reichspublizistik als Öffentliches Recht des Reiches (Jus publicum Imperii Romano-Germanici), nahm die seit der Reformation

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drei Öffentlichkeiten, nämlich der Öffentlichkeit der Macht, derjenigen der Bildung und derjenigen der Information, sowie schließlich Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994. Sowohl konzeptionell als auch teilweise inhaltlich für den hier einschlägigen Komplex wichtig ist auch Michael North (Hg.): Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Köln u. a. 2009, bes. S. 163–227: Herrschaftsvermittlung als kultureller Austausch. Leider nicht das Reich behandeln die durchgehend innovativen Bände der Reihe Groningen Studies in Cultural Change, vgl. z. B. Martin Gosman/Joop W. Koopmans (Hg.): Selling und Rejecting Politics in Early Modern Europe. Leuven u. a. 2007. Vgl. zu den bisher vorliegenden Arbeiten die nachstehenden Fußnoten; die in Anm. 2 genannten Studien gehen auf die Politica durchweg nicht ein. Auch die gängigen Handbücher, z. B. Micha­ el Lanzinner: Konfessionelles Zeitalter 1555–1618. Gerhard Schormann: Dreißigjähriger Krieg 1618–1648 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 10). Stuttgart 2001, einschließlich derjenigen zur Bildungsgeschichte – selbst Notker Hammerstein: Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. München 2003, und Anton Schindling: Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650–1800. München 2010 – erwähnen das Fach entweder gar nicht, nur bei­ läufig oder lassen auf andere Weise seine zentrale Bedeutung nicht erkennen. Wolfgang Weber: Potestas et Potentia Imperii. Bemerkungen zum Bild des Reiches in der deutschen Politikwissenschaft des 17. Jahrhunderts. In: Rainer A. Müller (Hg.): Bilder des Reiches. Sigma­ ringen 1994. S. 97–122, hier S. 98–102; Wolfgang E. J. Weber: Justus Lipsius und das Politikver­ ständnis seiner Zeit. In: Alois Schmidt (Hg.): Justus Lipsius und der europäische Späthumanismus in Oberdeutschland. München 2008. S. 3–36; Ders.: „Das ärgste Hindernus einer Sache ist die Unwissenheit“. ‚Wissen‘, ‚Information‘ und Informationsbeschaffung in der Politikwissenschaft des 17. Jahrhunderts. In: Arndt Brendecke u. a. (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Berlin 2008. S. 259–276. Zur europaweiten politisch­ideengeschichtlichen Produktivität, die die Hugenottenkriege zeitigten, vgl. tiefschürfend Cornel Zwierlein: Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006.

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entstandenen Probleme des Reichssystems als Rechtsprobleme wahr und versuchte diese Probleme in entsprechend rechtlich zu lösende Fragen zu transformieren. Die Formalisie­ rung, Systematisierung und damit tendenzielle oder teilweise Entschärfung der vielfach in den offenen Bürgerkrieg umgeschlagenen, also in der Tat existenziellen Konflikte, die ihm dabei gelangen, sind längst erkannt und als geradezu welthistorische Errungenschaf­ ten gewürdigt worden. Ebenso ist hinlänglich bekannt, dass diese Lösungen die fast bis heute anhaltende Vorherrschaft der Juristen in Politik und Staat sowie die weitgehende juristische Imprägnierung des politischen Denkens in Deutschland bewirkten, ohne dass durchgehend auch deren Nachteile kritisch thematisiert worden wären.5 Anders verhält es sich demgegenüber mit der Wahrnehmung und Würdigung des wei­ teren Diskurses, der aus dem Überschneidungsbereich von Moralphilosophie, Geschichte und Philologie entstandenen Politica. Diese einerseits aus einer zunehmend empirisch­ praktischen Auffassung und Fortentwicklung des aristotelischen Politikdenkens, ande­ rerseits aus ursprünglich machiavellischen, empirisch­technisch erfolgsorientierten Poli­ tikansätzen entstandene Politikwissenschaft fasste die umwälzenden Krisen ihrer Zeit als Probleme der Durchsetzung und Bewahrung Ruhe und Sicherheit verbürgender öffentli­ cher Ordnung auf.6 Von dieser Prämisse der Notwendigkeit eines nicht nur im Krisenfall, sondern grundsätzlich ordnungs­ und friedenserzwingenden, entsprechend stabilen poli­ tischen Systems – heute historiographisch: des frühmodernen Staates – her entwickelte sie eindrucksvolle, zukunftsweisende Legitimierungs­ und praktische Optimierungsleh­ ren für alle Bedürfnisse der Staatsbildung, also sowohl für das europäisch vorherrschende monarchische als auch das insgesamt weniger häufige aristokratisch­oligarchische bzw. republikanische Modell: Machtlegitimierungs­ bzw. Monopolisierungs­ und Kompeten­ zausweitungslehren für den mit Bodin erstmals so genannten Souverän, insbesondere gegen Kirche und Adel; Selbstdisziplinierungs­ und Rollenoptimierungslehren für sämt­ liche Herrschende, also den Souverän und seine Helfer; Fremddisziplinierungslehren im Hinblick auf die Untertanen; Umsturzverhütungs­ und ­niederschlagungslehren; Steu­ 5

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Grundlegend noch immer Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts. Bd. 1: Reichspub­ lizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München 1988, sowie die einschlägigen Beiträge in Ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt a. M. 1990. Vgl. ferner z. B. Diethelm Klippel/Elisabeth Müller­Luckner (Hg.): Natur­ recht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts. München 2006, und zum als Meilenstein angesehenen Augsburger Religionsfrieden 1555 Carl A. Hoffmann u. a. (Hg.): Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Regensburg 2005, sowie zur Kri­ tik die entsprechenden Beiträge in Herfried Münkler u. a. (Hg.): Deutschlands Eliten im Wandel. Frankfurt a. M./New York 2005. Keine Berücksichtigung kann hier die zwischen den beiden Groß­ richtungen Politica und Jus publicum angesiedelte Policeywissenschaft finden, vgl. Peter Nitschke: Von der Politeia zur Polizei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Polizei­Begriffs und sei­ ner herrschaftspolitischen Dimensionen von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für historische Forschung 19. 1992. S. 1–27. Vgl. außer den in Anm. 4 genannten einschlägigen Ausführungen Horst Dreitzel: Politische Phi­ losophie. In: Helmut Holzhey/Wilhelm Schmidt­Briggemann (Hg.): Die Philosophie des 17. Jahr­ hunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Nord­ und Ostmitteleuropa. Basel 2001. S. 609 und S. 747, sowie korrektur­ und ergänzungsbedürftig Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München 2001. S. 32–90, schließlich die entsprechenden Teile bei Cornel Zwierlein/Annette Meyer (Hg.): Machiavellismus in Deutschland. München 2010.

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erdurchsetzungslehren; Lehren für erfolgreiche Außenpolitik und Kriegsführung usw. Was dabei überwog, war allerdings ein Komplex soziopsychischer Rollenoptimierung und Konditionierung sowie fallweiser herrschaftlicher Intervention, während der Insti­ tutionenbildung, die Lösung der Zukunft, erst nur sekundäre Bedeutung zugesprochen wurde.7 Den Kern des Programms der Disziplin machte demzufolge eine höchst modern anmutende Professionalisierung der Politik aus. Dem politisch­staatlichen Experten, dem Politicus als artifex Reip. perficiundae8, den sie auszubilden bestrebt war, wurde sogar ein eigener Teildiskurs gewidmet. Wie die Medizin den Medicus und die Rechtswissenschaft den Juristen formte, so beanspruchte also die Politica, den gelehrten Politiker hervorzu­ bringen. Das Geschäft der Politik sollte zu einer akademischen Profession transformiert werden. Auf das Delegitimierungs­ und Bedrohungspotential, das aus diesem Ansatz für den Geburtsadel als quasi natürlichen Herrschaftsstand erwuchs, habe ich an anderer Stelle hingewiesen.9 Wo war die solchermaßen beschaffene Politica im herrschaftlich­informationell­ kommunikativen Gefüge positioniert, welche einschlägigen Aktivitäten entwickelte sie? Träger der ideengeschichtlich maßgebend von Aristoteles einerseits, Machiavelli, wie bereits angesprochen Jean Bodin, Giovanni Botero und Justus Lipsius andererseits gestifteten neuen Wissenschaft, als deren Maxime sich fortschreitend deutlicher eine zwischen allgemeiner Klugheit des praktischen Lebens der politischen Eliten und dezi­ dierter Staatsräson changierende Konzeption einer Herrschaftsklugheit – prudentia gubernatoria – herausbildete, waren Universitätsprofessoren vor allem der Artistischen und Juristischen Fakultät, hohe bürgerliche Beamte in fürstlichen, adeligen und städtischen Herrschafts­ und Verwaltungszentren, sowie Adelige, die das politische Studium als Standesstudium angeboten erhielten und mehr oder weniger konsequent betrieben.10 Sie führten den politikwissenschaftlichen Diskurs untereinander, unter grundsätzlichem Ein­ bezug auch der Herrscher selbst, weshalb in Anlehnung an eine in speziellerem Kontext gewonnene Charakterisierung Wolfgang Burgdorfs zurecht von einem „intergouverne­ mentalen Diskurs“ gesprochen werden kann.11 Dass die breitere Untertanenschaft weder 7

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Daher wurde der Hauptprotagonist der wichtigsten herrschaftsoptimierenden Richtung, des Politi­ schen Neustoizismus oder besser: Lipsianismus, Justus Lipsius (1547–1606), in der politikwissen­ schaftlichen Politischen Ideengeschichte auch weitgehend vergessen, vgl. als Ausnahme Wolfgang Weber: J. Lipsius. Politicorum sive civilis doctrina libri sex (1589). In: Theo Stammen u.a. (Hg.): Hauptwerke der Politischen Theorie. Stuttgart 1997. S. 273–277. Jacob Bornitz: Politicus, id est brevis designatio et declaratio artifices, & officii Politici, ubi quid Politicus, qui finis, quae munia & adminicula ejus […] investigatur […]. Görlitz 1606. S. A2 u. ö. Wolfgang E. J. Weber: Die Erfindung des Politikers. Bemerkungen zu einem gescheitertem Pro­ fessionalisierungskonzept der deutschen Politikwissenschaft des ausgehenden 16. und 17. Jahrhun­ derts. In: Luise Schorn­Schütte (Hg.): Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. München 2004. S. 347–370, bes. S. 367f. Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen Politischen Wissenschaft des 17. Jahrunderts. Tübingen 1992; Merio Scattola: Dalla virtù alla Scienza. La fon­ dazione e la trasformazione della disciplina politica nellʼ età moderna. Mailand 2003. Wolfgang Burgdorf: Der intergouvernementale publizistische Diskurs. Agitation und Emanzipati­ on, politische Gelegenheitsschriften und ihre Bedeutung für die Entstehung politischer Öffentlich­ keit im Alten Reich. In: Arndt/Körber: Mediensystem (Anm. 2). S. 75–98. (mit Schwerpunkt auf der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts).

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einbezogen war noch einbezogen werden sollte, ergibt sich u. a. aus dem Festhalten an der lateinischen Gelehrtensprache. Die Politica betrachtete ihr sich zunehmend von ihren Mutterdisziplinen emanzipierendes und professionell spezialisierendes Wissen mithin als für die politischen Eliten – regentes bzw. ‚öffentliche Personen‘– reserviertes Wissen. Arkan sollte dieses Wissen gegenüber allen nicht an der Regierung Beteiligten, sondern zum Gehorsam Verpflichteten – subditi, oboedientes, privati – bleiben.12

2.2 Formen und Funktionen im universitär­akademischen System Der universitäre Ort der Formierung der Politica war die Artistische Fakultät. Dass dort, also in der Eingangsfakultät, die zuerst propädeutische Leistungen für die höheren Fa­ kultäten erbringen sollte, der Versuch unternommen wurde, das Geschäft der Politik zu professionalisieren, hatte auch mit den dortigen Aufstiegs­ bzw. Gleichstellungsbestre­ bungen zu tun. Zu beachten ist freilich, dass die tüchtigsten, erfolgreichsten und am bes­ ten vernetzten Artisten auch immer die Chance hatten, in eine der höheren Fakultäten aufzusteigen, und dortige Lehrstelleninhaber es sich vielfach nicht nehmen ließen, auch an der Artistischen Fakultät zu lehren bzw. für ein dort angesiedeltes Lehrgebiet Publika­ tionen zu verfassen. In welchem Bezugsbereich sich der professionelle Politicus als Zielperspektive von Fächern der Artistischen Fakultät bewegte, wird so aus dessen Definition deutlich: Politicum appello non qui Platonis aut Aristotelis dogmata tantum teneat; non qui juris civili privati tantum particulam delibavit; non eum, qui aliquali rerum experientia valet; non qui, ut vulgos opinatur, astute simulare & dissimulare sciat, quod vix viri boni esse arbitror; non qui in conversatione hominum, praesertim in aulis moribus decoris, in sermone & gestu utatur, quem verius Ethicum appelles; non qui obiter tantum historiam hanc vel illam percurrerit, non eum, qui externas nationes transeuntur viderit; & linguas exoticas calleat: Verum illum, qui sit vir bonus, & prudentiam civilem theoria & praxi obfirmatam sibi comparaverit, eandemque dextre ad fundationem & conservationem Reipubl. accomodare sciat, seu ut explicatius dicam, qui vera arte politica imbutus, historiis & peregrinatione Rerumpublicarum, atque tandem praxi Imperii, Iudicii, Consilii, legationis exercitatus sit, ex quibus solidam prudentiam imbiberit, eamque congruenter ad usum transferre possit.13 12

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Grundlegend bereits Michael Stolleis: Arcana Imperii und Ratio status – Bemerkungen zur po­ litischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts. Göttingen 1980; Astrid Blome: Historia et vendi­ tio – Zeitungen als ‚Bildungsmittel‘ im 17. und 18. Jahrhundert. In: Arndt/Körber: Mediensystem (Anm. 2). S. 207–226, hier S. 208, mit Verweis auf die These E.­B. Körbers, dass es sich hier um die ‚Öffentlichkeit der Macht‘ handele. – Die ebenfalls um 1600 einsetzende Gattung deutschsprachi­ ger ‚Politiken‘ wurde durchweg von nicht an der Universität tätigen, teils ‚freien‘ Autoren verfasst, blieben inhaltlich weit hinter dem Angebot der lateinischen Werke zurück, waren meist normativ­ christlich orientiert und erzielten keine breite Wirkung, schon wegen geringer Auflagen bzw. des Ausbleibens weiterer Auflagen, vgl. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts (Anm. 5). S. 112. Jacob Bornitz: Discursus politicus de Prudentia politica comparanda. Erfurt 1602. S. 122f.; Bornitz: Politicus (wie Anm. 8). S. 3 u. ö.

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Als professioneller Politiker kann weder der bloße politische Theoretiker noch der blo­ ße Praktiker gelten. Auch der lediglich im Privatrecht bewanderte Jurist, der Anpasser oder Weltläufige, insbesondere der Sprachgewandte, darf sich diese Bezeichnung nicht aneignen. Vielmehr muss es sich um einen moralisch standfesten, politikwissenschaftlich wie praktisch­politisch orientierten und beschlagenen Mann handeln, der sein Wissen und Können den Erfordernissen der Gründung und Erhaltung des Staates anzupassen weiß und tatsächlich widmet. Zum Studium der Politica, das insbesondere Geschichte, Geographie, Sprachen aber auch das Öffentliche Recht zumindest in den Grundzügen einschließt, muss also die durch Reisen und politische Praxis erworbene konkrete Erfahrung treten. Schon mit diesem Programm, das naturgemäß mit diversen allgemeineren intellek­ tuellen und moralischen Qualifikationen sowie der Erfordernis bestimmter körperlicher Vorzüge verknüpft wird, sind also zentrale Elemente der Informationsbeschaffung und Informationsverarbeitung sowie der Kommunikation verbunden. Mehr noch, das gesam­ te Fach ist auf derartige Komponenten abgestellt, wie seine insbesondere aus den vorlie­ genden Fachpublikationen zu rekonstruierende Praxis erhellt. Eine erste Gruppe dieser Publikationen bilden die Studienanweisungen oder Lehrbrie­ fe. Diese Studienhandreichungen oder Studienführer definierten und bewarben das poli­ tikwissenschaftliche Studium, beschrieben dessen Aufbau und Anforderungen und boten vor allem Zusammenstellungen des in seinem Rahmen geforderten Lesestoffs. Besonders bekannt und mehrfach neu aufgelegt wurde die Epistola de studio politico ordinando des Altdorfer Geschichts­ und Politikprofessors Christoph Coler (1572–1640/51).14 Diese und andere einschlägige Einführungen wurden auch in allgemeinere Studienanleitungs­ kollektionen aufgenommen, darunter einen umfangreichen Sammelband des berühmten Amsterdamer Druck­ und Verlagshauses Elzevir.15 1705 erschien sogar eine zeitgenös­ sische Bibliographie dieses Schrifttums, der Prodromus Bibliothecae Politicae, in quo de bibliotheca politica ordinanda scriptoribus […] itemque methodibus studii politica agitur des Wittenberger Theologen (!) Johann Georg Joch (1676–1731).16 Der empfoh­ lene Lesestoff zielte auf den Erwerb sowohl von Normen­ als auch Faktenwissen sowie Klugheitsregeln. Das Normenwissen setzte sich aus den christlichen Geboten und der antiken Moral zusammen; entsprechend ging es um die Bibel, die Kirchenväter und je nach Konfession jüngere theologische Autoren und Werke, dann vor allem Platon, Aris­ toteles und Cicero. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert schrumpften die Anteile dieser Bestände jedoch zugunsten des Naturrechts und frühaufgeklärter Ideen. Ein ähnlicher Wandel lässt sich beim Faktenwissen beobachten. Anfangs herrschen die antiken Histo­ riker, Geographen usw. vor. Dann treten jüngere Autoren und Werke, z. B. Philippe de Commynes, an ihre Seite. Schließlich tritt das antike Wissensgut in den Hintergrund und es gelten nur noch die jüngsten bis zeitgenössischen Beiträge.17 14

15 16 17

Vgl. zu ihm Weber: Prudentia (Anm. 10). S. 13, und die Angaben bei Wolfgang Mährle: Academia norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hochschule in Altdorf (1575–1623). Stuttgart 2000. S. 527 u. ö. Dissertationes de studiis instituendis. Amsterdam 1645, der auch den Studienbrief Colers enthält. Jena 1705. Das Werk ist nunmehr im Internet (googlebooks) verfügbar. Weber: Erfindung (Anm. 9). S. 360f.

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Die Historiographie diente aber auch als wesentliche Quelle für das zu erwerben­ de politische Klugheitswissen. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts verstärkte sich die Tendenz, entsprechend je spezifische, d. h. für das politische Lernen optimierte Trakta­ te anzufertigen und in den Studienbetrieb einzubringen. Der empirisch­faktographische Zweig davon in Gestalt der Landeskunden und frühen Statistik ist bekannt.18 Viel weniger sind dies dagegen die Handbücher zur politischen Klugheit, die unterschiedliche Gestalt annehmen konnten. Noch recht konventionell erscheint das 1660 erschienene ‚Handbuch der Fürsten und fürstlichen Beamten, worin der Kern der politischen Klugheit aus den vornehmsten verschiedenen neuen Lateinischen als Französischen Politischen Schrei­ bern kurz zusammengezogenʻ des gebürtigen Kölners Wilhelm Adolf von Feist, über den sonst nichts bekannt ist. Weil es sich nicht nur als Studienbuch und Fachtraktat verstand, sondern auch als praxisbegleitendes Handbuch und zudem bereits frühaufgeklärte Ten­ denzen aufnahm, wurde es in deutscher Sprache vorgelegt. Dem Autor, der ausdrücklich eben sowol dem zu] leiste[n] als den Gelehrten beabsichtigte, lag aber dennoch daran, nicht erkannt zu werden, Einfältigen Leser, der etwa in Politicis unerfahren ist, ein genügen [weshalb er seinem Werk lediglich die ersten Buchstaben seines Namens als Auto­ renangabe voranstellte, wiewohl seine Ausführungen eine mittlere Argumentationsebene vertraten, d. h. eigentliche Herrschaftsgeheimnisse nicht offen gelegt wurden.19 Anders das Gründungswerk dieses speziellen Zweiges des Diskurses um die politische Klugheit, die ,De arcanis rerum publicarum libri VI‘ (zuerst 1605) des Altdorfer Historikers, Politikwissenschaftlers und Juristen Arnold Clapmar (1574–1604).20 Zwar wird hier noch normativ korrekt zwischen erlaubten Herrschaftsgeheimnissen oder ­techniken und laster­ haften Praktiken (flagitia) unterschieden. Letztlich ist jedoch alles Denken und Handeln der Erfolgsräson des Herrschens bzw. des Staatsbetriebs in den drei Staatsformen Monarchie, Aristokratie und – eher der wissenschaftlichen Systematik geschuldet – Demokratie un­ terstellt. Eine Leitperspektive bildet die Unterscheidung von zulässiger und unzulässiger Heuchelei und Verstellung (simulatio & dissimulatio). Die Notwendigkeit und Zulässigkeit 18

19

20

Justin Stagl/Mohammed Rassem (Hg.): Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, vornehm­ lich im 16.–18. Jahrhundert. Paderborn u. a. 1980; Diess. (Hg.): Geschichte der Staatsbeschreibung: Ausgewählte Quellentexte. Berlin 1994; Daniel Schmidt: Statistik und Staatlichkeit. Wiesbaden 2005, besonders S. 15–37; vgl. jetzt auch Barbara Segelken: Bilder des Staates. Kammer, Kas­ ten und Tafel als Visualisierungen staatlicher Zusammenhänge. Berlin 2010. Zu den frühesten, im Rahmen des politikwissenschaftlichen Unterrichts entstandenen Werken zählen Johann Andreas Bose: Introductio generalis in notitiam rerum publicarum orbis universi. Jena 1676, und Hermann Conring: Examen rerum publicarum potiorum totius orbis. Göttingen 1730 (illegaler Vorabdruck bereits 1675, vgl. unten mit Anm. 23). W. A. v. F.: Handbuch der Fürsten und fürstlichen Beamten […]. Bremen 1660. Zitat S. 4. Kapitel X begründet und beschreibt dennoch ausführlich die Notwendigkeit, zumindest bestimmte Wissens­ bereiche und Maßnahmen der Herrschaft geheim zu halten (S. 182–208). Bremen 1605; hier benutzte Ausgabe u.d.T. De Arcanis imperii, magnam partem correctus, auctus et castigatus per Martinum Schoockium. Frankfurt a. O. 1672. Der Editor und Fortsetzer, niederlän­ discher Philologe, Historiker und Philosoph gab das Werk als brandenburgischer Historiograph he­ raus; man darf es also mit der preußisch­brandenburgischen politischen Kultur in Zusammenhang bringen; eine entsprechende Analyse bereite ich vor.

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der verborgenen Herrschaftstechniken werden in erster Linie auf Unvernunft, Wankelmut, Unzivilisiertheit, Brutalität und existenzielle Gefährlichkeit der breiten Volksmasse (vulgus) für Staat und Herrschaft zurückgeführt. Eben deshalb befleißigt sich der europaweit verbreitete Traktat auch des elitären Latein, obwohl sich zur Zeit der letzten, erheblich vermehrten Ausgabe 1672 im Herausgeber­ und Rezeptionsumfeld bereits starke frühauf­ geklärte Tendenzen bemerkbar machten. Der Editor dieser Ausgabe war im Übrigen einer der wesentlichen akademischen Lehrer desjenigen späteren Politiktheoretikers, der den preußisch­brandenburgischen Absolutismus entscheidend legitimierte und voranbrachte.21 Während Clapmars Studien­ und Praxishandbuch für die politische Elite entsprechende Klugheitsregeln darstellte, die je nach Bedarf anhand bevorzugt älterer historischer Exem­ pla illustriert und konkretisiert wurden, gingen einzelne andere Abhandlungen noch wei­ ter, indem sie ausgesuchte Fälle vor allem aus der Zeitgeschichte als zu lösende Probleme darlegten und dann die per richtig gewählter und richtig umgesetzter politischer Klugheit gefundenen, erfolgreichen Lösungen präsentierten, also die konkrete Praxis reflektierten. Eines dieser Werke waren die ,Disquisitiones politicae. Id est, Sexaginta casus Politici ex omni historia selecta‘ des Leidener Philologen, Historikers und Politologen Marcus Zueri­ us van Boxhorn (1602/12–1653), gedruckt zuerst 1650 in Den Haag. An dessen schnell be­ kannt gewordenen Konzept knüpfte u.a. die anonyme englische Ausgabe ,Arcana Imperii detecta: Or Diverse Select Cases in Government‘ von 1701 an, die den Anwendungsaspekt nochmals verstärkte, aber offenkundig auch das breitere politisch interessierte Publikum aufzuklären trachtete. Gleichzeitig unterstreicht das Werk die Komplexität der Materien und Probleme, indem es bei der Erörterung der Lösung ausführlicher als zuvor die „Argu­ ments Pro and Con, with Replications and Rejoynders“ zur Sprache kommen lässt.22 Doch auch für die wissenschaftliche Praxis des Faches, aus dem diese für die prakti­ sche Politik wesentlichen, bis heute in der Forschung kaum gewürdigten Ratgeber her­ vorgingen, lassen sich wichtige informationelle und kommunikative Aspekte feststellen. Der Unterricht vollzog sich in der zeitgenössisch üblichen Weise. Seine Hauptform war die Vorlesung (lectio), die teils durch schriftliche Ausführungen des Dozenten vorbereitet und begleitet, teils durch Mitschriften von Studierenden ergänzt wurde, teils ohnehin aus der mehr oder weniger kommentierenden Lektüre eines entsprechenden Lehr­ oder Fachbuches bestand. In Einzelfällen lässt sich ein Druck von Vorlesungen anhand von Professorenteiltexten und studentischen Niederschriften auch gegen den Willen des Pro­ fessors nachweisen.23 Häufiger war der posthume Druck eines professoralen Manuskripts durch einen Nachkommen. 21

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Es handelt sich um den Hobbesianer Johann Christoph Beckmann, vgl. Wolfgang E. J. Weber: Wissenschaft im Übergang: Johann Christoph Bec[k]mann (1641–1717). In: Reinhard Blänkner (Hg.): Europäische Bildungsströme. Die Viadrina im Kontext der europäischen Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit (1506–1811). Schöneiche bei Berlin 2008. S. 121–152, hier S. 123. Marcus Zuerius Boxhorn: Disquisitiones politicae […]. Den Haag 1650, weitere lateinische Ausga­ ben 1651, 1655, 1664 und 1667; 1669 erschien je eine französische und eine niederländische Editi­ on. Die Ausgabe von 1655 ist nunmehr auch im Internet erhältlich (BSB München). Arcana Imperii detecta: Or Diverse Select Cases […]. London 1701, ND Milton Keynes 2010. Zitat Vorwort [A2b]. Z. B. Johann Heinrich Boecler: Notitia S.R. Imperii. Straßburg 1672, autorisierte Ausgaben 1674 und 1681; Ph. A. Oldenburger: Thesaurus rerum publicarum. Genf 1675, war die apokryphe Aus­

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Die zweite Hauptform des Unterrichts war die Disputation, die zunehmend formeller durchgeführt und regelmäßig mit der Publikation entsprechender Vorlagen und thesen­ oder traktatförmiger Berichte verbunden wurde.24 Die Politica hat eine bis heute nicht vollständig statistisch erfasste, außerordentlich hohe Zahl derartiger, mehr oder weniger auch vom jeweiligen professoralen Betreuer mit verfasster Qualifikationsschriften her­ vorgebracht. Einer der wenigen Experten auf diesem Feld, der Augsburger Privatdozent Michael Philipp, geht von rund 3 000 Titeln allein an den protestantischen Hochschulen des Reiches aus, die zwar oft nur in geringer Anzahl gedruckt wurden, aber ein wichtiges Medium des sozialen Austauschs und der inhaltlichen Kommunikation in der politischen Elite des Reiches und weit darüber hinaus darstellten. Aus den Widmungsadressen, den biographischen Angaben zu den Beteiligten und den sich erst allmählich abzeichnenden Mustern der Aufbewahrungs­ bzw. Überlieferungsorte lässt sich eine dichte Erfassung sowohl der bürgerlichen und adeligen protestantischen Eliten des west­ und nordeuro­ päischen Raumes als auch wesentlicher Teile vor allem des ostmitteleuropäischen Adels, etwas weniger deutlich und quantitativ noch unklar auch katholischer Adels­ und Bürger­ söhne nachweisen.25 Thematisch fächert sich dieser Niederschlag des akademischen Politikstudiums, erbracht auch sehr häufig in Verbindung mit anderen, verwandten Fächern, wie die Charakterisie­ rungen Dissertatio politico-historica, politico-philologica, politico-juridica usw. belegen, beeindruckend weit auf. Nicht nur das gesamte Spektrum der politischen Theorie im enge­ ren Sinne ist abgedeckt, also etwa die Frage nach dem Charakter und Zweck des Faches, Fragen der Staatsform bzw. welche Staatsform warum vorzuziehen sei, was unter bonum commune, ratio status, eben dem Politicus, usw., zu verstehen sei. Vielmehr kommen auch insbesondere die zeitgenössisch aktuellen Probleme der konfessionellen Einheit eines Staa­ tes, des Bürgerkriegs und dessen Verhütung oder Überwindung, der Außenpolitik usw., ferner der diversen Amts­ oder Berufsrollen des Politicus im Herrschafts­ und Staatsappa­ rat, also des Ministers, Rates bzw. Consiliarius, Sekretärs, Diplomaten, Offiziers und des öffentlich­rechtlich tätigen Richters, etc. zur Erörterung.26 Gewiss handelt es sich bei diesen Drucken in erster Linie um Beiträge zum akademisch­fachlichen Diskurs; zugrundegelegt und verhandelt werden also vor allem aus bereits vorliegendem anderem, einschlägigen Schrifttum gewonnene Argumente. Doch der Praxis­ oder Empiriebezug bleibt dabei mehr oder weniger deutlich stets erhalten. Eine akademische Diskussion im schlechten Sinne, also realitätsfern und theoretisch­wolkig, lässt sich so gut wie nicht feststellen.

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gabe der landeskundlichen Vorlesung von H. Conring (s. o.), vgl. Harm Klueting: Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der „politischen Wissenschaft“ und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert. Berlin 1986. S. 47. Jetzt maßgeblich ist der Sammelband Marion Gindhart (Hg.): Disputatio 1200–1800. Form, Funk­ tion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Berlin u. a. 2010. Michael Philipp: Politica und Patronage. Zur Funktion von Widmungsadressen bei politischen Dis­ sertationen des 17. Jahrhunderts. In: Gindhart: Disputatio (Anm. 24). S. 231–267. Eine systemati­ sche Gesamtanalyse steht noch aus. Vgl. die bei Philipp: Politica (Anm. 25) genannten Beispiele sowie die einschlägigen Titel in dessen Webdokumentation http://www.philhist.uni­augsburg.de/de/lehrstuehle/geschichte /fruehneuzeit/ forschung/philipp/Forschungsprojekte.html

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Dies gilt auch für das weitere, nicht oder weniger unmittelbar mit der Lehre verbunde­ ne, also eigentliche wissenschaftliche Schrifttum, dessen Gattungsvielfalt und inhaltliche Systematik höchst modern anmuten. An die bereits vorgestellte Studieneinführungs­ und ­anleitungsliteratur schließen konzeptionelle Einführungen wie die ,Idea sive exegesis universi studii politici‘ des Juristen und Reichshofrats Otho Melander (gestorben 1640) von 1599, der 1602 erschienene ,Discursus politicus de prudentia politica comparanda‘ des Juristen und Verwaltungsbeamten Jakob Bornitz (gestorben 1625), die ,Disputatio de natura et optimis autoribus civilis prudentiae‘ des Hauptes der Helmstedter neuaristoteli­ schen politikwissenschaftlichen Schule Hermann Conring (1606–1681) von 1639, später die ,Diatribae isagogicae de prudentia et eloquentia civili‘ des Jenenser Historikers und Politologen Johann Andreas Bose (1626–1674) von 1671 und und auch die ,Introduc­ tio in philosophiam civilem quam vocant Politicam‘ des Kieler Philosophen Friedrich Gentzken (1688–1757) von 1721 an. 1725 gingen diese und alle weiteren entsprechenden Traktate in den ,Entwurff einer Staats­Bibliothek nebst der gantzen Politischen Klugheit‘ des Bibliothekars und Rektors des Gymnasiums des Reichsfürstentums Blankenburg To­ bias Wagner ein.27 Damit ist als weitere umfangreiche Gattung bereits die Fachbibliographie erwähnt, vertreten etwa durch die ,Dissertatio de autoribus Politicis‘ Hermann Conrings von 1660, dann des Rostocker Philosophen, Philologen, Theologen und Bibliothekars Carl Arnd (1673–1721) ,Bibliotheca politico­heraldica selecta‘ (1705) und den einschlägigen Teil der 1704 erstmals publizierten, 1706 neu aufgelegten und 1740 wesentlich erweiterten ,Bibliotheca philosophica‘ des Jenenser Polyhistors und Juristen Johann Burkhard Gott­ helf Struve (1671–1738).28 Viele dieser Bibliographien waren von rezensierend­literatur­ berichtendem Charakter; auch diese Gattungen waren also bereits vorhanden. Aber auch fachliteraturgeschichtliche Traktate entstanden, deren Bedeutung für die später entste­ hende ,Historia Literaria‘ offenkundig noch nicht untersucht worden ist. Als Beispiele genannt seien Magnus Hesenthalers ,Antesignanus Politicus, sive de Studii Politici Ortu & Progressu, Dissertatio‘ von 1652 und Christian Gottfried Hoffmanns ,Dissertatio poli­ tica de fatis studii Politici praesertim in Academiis‘ von 1715.29 Alle Gattungsvertreter verzeichnen eine enorme Autoren­ und Werkmenge, die mit der Antike einsetzt, das Mittelalter nur sehr punktuell berücksichtigt und die eigenen, früh­ neuzeitlichen Jahrhunderte zunehmend in den Vordergrund rückt. Die gleiche Entwick­ lung lässt sich für die systematischen, kompendiösen und je speziellen Fachdarstellungen 27

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O. Melander: Idea sive exegesis […]. Frankfurt a. M. 1599, weitere Auflagen 1600 und 1618; J. Bornitz: Discursus politicus […]. Erfurt 1602, Neuauflage Wittenberg 1604; H. Conring: Dispu­ tatio de natura […] civilis prudentiae. Helmstedt 1639 u. ö.; J. A. Bose: Diatribae isagogicae […]. Jena 1671; F. Gentzken: Introductio […]. Kiel 1721; T. Wagner: Entwurff […]. Blankenburg 1725; vgl. zu allen diesen Titeln und ihren Verfassern Weber: Prudentia (Anm. 10). S. 9–80. H. Conrings kommentierte Bibliographie erschien in Helmstedt; Carl Arnds Bibliotheca in Ros­ tock, Struves Bibliographie zunächst in Jena, die Ausgabe 1740 in Göttingen. M. Hesenthaler: Dissertatio de Studii Politici […]. Tübingen 1662, der Verfasser war Historiker und Politikwissenschaftler. Ch.G. Hoffmann: Dissertatio […] de fatis […]. Leipzig 1715; Hoffmann war Jurist und Politologe. Vgl. Martin Mulsow, Helmut Zedelmaier (Hg.): Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743). Tübingen 1998.

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notieren, auf die hier nur kurz einzugehen ist. Unterschieden werden Werke bzw. scriptores dogmatici oder methodici, von denen zwölf als für das 17. Jahrhundert maßgebend gelten; Historici, Autoren historisch­politisch exemplarischer Geschichten; philologici; florilegici; juridici; discursorii; consultatores, also Verfasser von consilia, rescripta u. ä.; statistici, die Autoren der ratio status; geographico-politici; strategici, also militärisch­ politische Autoren, und andere mehr.30 Bei unserer frühneuzeitlichen Politica handelt es sich mithin um ein außerordentlich produktives, diskurs­ bzw. kommunikations­ und kritikfreudiges Fach in einer spezifi­ schen Position zwischen Theorie und Praxis sowie der „Öffentlichkeit der Macht“, der „Öffentlichkeit der Bildung“ und der „Öffentlichkeit der Information“, um die analytische Begrifflichkeit Esther­Beate Körbers aufzunehmen.31 Als unverzichtbare Quellen für den Erwerb professioneller politischer Kompetenz gaben die Vertreter des Faches durchweg ausdrücklich neben der vor allem über die Lektüre vermittelten Theorie (doctrina) und der Praxis (usus) den Austausch (conversatio, communicatio) mit den Praktikern und den praktisch Erfahrenen an. Mehr noch, auch die Kommunikation mit den Untertanen war eingeschlossen: Imprimis Politico necessarium, ut cum hominibus in honoris aliquid gradu conversari, ac colloqui non refugiat.32 Ständische Exklusionen oder Vorbehalte wurden mithin dezidiert zurückgewiesen. Der professionelle Politicus sollte und musste im Kom­ plex der Herrschaft, Information und Kommunikation nicht nur eine, sondern die zentrale Stellung einnehmen. Mit der Konkretisierung der Tätigkeitsfelder des Politicus im fürstli­ chen Rat, an der exekutiv­administrativen Spitze und im diplomatischen Dienst wird diese zentrale Stellung zwar wieder funktional differenziert. Das in der textlichen, bildlichen und performativen Herrscherdarstellung gegenüber der breiteren Untertanenschaft viel beschworene Monopol des ‚absoluten‘ Monarchen, alles zu wissen und nach Belieben mit allen kommunizieren zu können, ist im Kreis der politischen Elite(n) auf doppelte Weise zumindest relativiert, wenn nicht aufgebrochen: ein einzelner Mensch, und damit auch der Souverän, kann gar nicht alles wissen und überall präsent sein; das kann allenfalls Gott. Dem Herrscher zuzuschreiben ist deshalb zunehmend nur noch ein Grundwissen (cognitio architectonica). Damit ist der Souverän jedoch vom Detailwissen, dem Rat und der Zuar­ beit seiner obersten Helfer, eben der professionellen Politici, abhängig, und seine Berück­ sichtigung der von diesen eingebrachten Informationen und Ratschläge, gegebenenfalls in Form schriftlicher Consilia, wird zur Legitimitätsfrage des Monarchen.33 30

31 32

33

Vgl. hierzu meine Ausführungen in Weber: Prudentia (Anm. 10). S. 73–80; diese Studie erfasst und analysiert die o.a., aus der Sicht der Zeit selbst als am wichtigsten erachteten opera systematica sive compendiosa. Noch unerforscht ist die Rolle der Politica im Hinblick auf die Entstehung des Zeitungswesens; dass diese bedeutsam war, signalisiert z. B. der Titel der ersten Ausgabe des ‚hin­ kenden Boten‘: Quasi vero: Der hinckende Bott hat sich wohl, sive Novellae politico­morales […]. S. l. 1715. Vgl. oben Einleitung mit Anm. 2. J. A. Bose: Diatribae isagogicae (Anm. 27). S. 1f., unter Betonung der Wichtigkeit der praeceptores vivi; Breviarium politicorum, seu Arcana politica Card. Jul. Mazarini. Multis locis auctius. s.l. [1708]. S. 2 (Zitat); bei den meisten der dem französischen Kardinal und Premierminister zuge­ schriebenen Texten handelte es sich um pseudonyme Werke der Politica. Die Beispiele ließen sich unschwer vermehren. Zusammenfassend Weber: Erfindung des Politikers (Anm. 9). S. 363–369.

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2.3 Information und Kommunikation als Themen der Politica Der professionelle Politiker kann seine Aufgabe nur erfüllen, wenn er über das dazu erfor­ derliche Wissen verfügt. Dieses unerlässliche Wissen lässt sich in Anlehnung an die Quel­ lensprache als cognitio rerum, cognitio causarum und cognitio officiorum bezeichnen. Zum Wissen über die grundlegenden Beschaffenheiten und Dinge zählen zentrale Elemen­ te des zeitgenössischen Bildungswissens, wie sie die einschlägigen Kataloge derjenigen politikwissenschaftlichen Traktate und Werkteile, die eine Akteursperspektive pflegen, aufführen: die Kenntnis der natürlichen Landesverhältnisse einschließlich des Klimas, der Geschichte des Landes, der Quantität und Qualität der Bevölkerung insgesamt und seiner Teile, der staatlichen Verhältnisse der Infrastruktur, der Wirtschaft, der zeitgenössisch vor­ waltenden Probleme und Tendenzen. Der Politiker muss sich diese Kenntnisse beschaffen mittels Reisen und entsprechender Beobachtung, Visitationen, Befragung von Experten und Repräsentanten, durch die bereits angesprochene Lektüre von Lehrwerken und Ak­ ten, durch Nutzung von Karten und Objekten wie z. B. Stadtmodellen, usw. Besonderes Augenmerk hat er auf die führenden Dynastien und Familien sowie die besonders aufsäs­ sigen Bevölkerungselemente zu legen. Hinzu kommt die Lage des eigenen Landes im sich ständig wandelnden Mächtegefüge.34 Erst recht in den Bereich des politischen Professionswissens dieser Art fällt die Kennt­ nis der finanziellen Verhältnisse und der zumeist wechselnden Stimmung in der Bevöl­ kerung gegenüber Herrschaft und Staat. Wie diese Informationen zu erlangen seien, ist Gegenstand einer Vielzahl je problemspezifischer Erörterungen, während eine grund­ sätzliche, ausdrückliche Konzeptionalisierung der Informationsbeschaffung, ­fixierung, ­aufbereitung und ­auswertung noch fehlt. So begegnen die Forderung nach Nutzung von Spitzeln bzw. die Einrichtung eines Geheimdienstes, die Optimierung diplomatischer Informationsbeschaffung, das gezielte Sammeln und Auswerten von Pasquillen, Flug­ blättern und Zeitungen, obwohl an deren Wahrheitsgrad sehr gezweifelt wird – dieses Kriterium der ‚Wahrheit‘ wird noch lange angelegt –, fortschreitende Verbesserung der Finanzverwaltung einschließlich von Registratur und Archiv, und wird schließlich gele­ gentlich die Installierung einer umfassenden Nachrichten­ und Datensammlungsbehörde nach dem Vorbild des römischen Zensus bzw. der römischen Zensur angedacht.35 Dass die Debatte an dieser Stelle stehen bleibt, hat offenkundig auch mit der verbreiteten Un­ fähigkeit oder Unwilligkeit zu tun, den Bereich der cognitio rerum von demjenigen der cognitio causarum trennen zu können. Erst im ausgehenden 17. Jahrhundert wird die Unterscheidung des Diesseitig­Empirisch­Nichtnormativen vom Jenseits­Normativen schärfer. Zunächst ist die cognitio rerum in das Wissen um die Ursachen (cognitio causarum) als Gesamtkontext der göttlichen Ordnung und des göttlichen Willens integriert. 34 35

Weber: „Hindernus“ (Anm. 4). S. 266f. Ebd. S. 270f. Zur Verwerfung der Zeitungen als wenig brauchbar mangels Korrektheit vgl. auch Friedrich Wilhelm Bierling (Praes.)/Gerhard Patje (Resp.): Dissertatio de Pyrrhonismo historico, oder Von Ungewissheit der Historie. Hannover 1707. S. 27: Die Novellen, Mercurien usw. der heu­ tigen Zeit (hodie) corrumpunt studium historicum potius quam promovent und treffen damit einen wesentlichen Stützpfeiler der Politica.

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Der Politiker muss über die Verhältnisse von Ursache und Wirkung in der göttlichen Ordnung im Allgemeinen und der von Gott geschaffenen diesseitigen Welt im Besonde­ ren verfügen. Die hier häufig zitierte Erkenntnis Francis Bacons „Vere enim scire est, per causas scire“ wird also zunächst theologisch­christlich aufgefasst. Der Erwerb und die ständige Bereithaltung des Wissens darüber, welche Rolle und Optionen Gott dem Men­ schen im Allgemeinen und in seiner je politisch­herrschaftlichen Position im Speziellen zugedacht hat, hat über Erziehung, Studium, Konsultation der einschlägigen Bücher, vo­ ran der Bibel, sowie Experten, also der Kirchenvertreter und sonstiger, frommer Leute zu erfolgen. Die wichtigsten Mittel, dies zu erreichen, sind das Gebet und praktische pietas. An diesen christlich­religiösen Horizont lagert sich das Wissen um Moral und Anstand, Recht und Unrecht an, zu erwerben auf die gleichen Weisen, unter besonderer Betonung der Praxis. Eine wachsende Sonderrolle spielten seit um 1660 die Kenntnis und Klugheit der Anwendung des Naturrechts und der Leges fundamentales des Landes; gerade für sie wird konsequenterweise auch ein sekundäres bzw. ergänzendes Rechtsstudium gefor­ dert.36 Zunehmend wird allerdings mit der Kenntnis der anthropologischen und sozialen Voraussetzungen des individuellen und kollektiven Verhaltens als Ursachen politischer Prozesse umgegangen. A notitia affectuum rectum imperium ist die Grundüberzeugung der Kernrichtungen der Politica als Herrschaftslehre. Was damit gemeint ist, sind auch die Konstitutions­ oder Charaktertypen, denen die jeweiligen Adressaten angehören, da­ neben naturgemäß die Dynamiken und Mechanismen der Affektauslösung, ­steigerung, ­dämpfung, ­disziplinierung usw., einschließlich der Möglichkeiten, Affekte zu verheim­ lichen oder vorzutäuschen. Hinsichtlich des Erwerbs dieser Wissensbestände und prakti­ schen Befähigungen wird wieder auf die Kombination von Lektüre, Expertengesprächen und praktischer auch mittels entsprechender experimenteller Beobachtungen verwiesen. In den Vordergrund rückt jedoch entschieden eben die Erfahrung, die sogar zunehmend gegen die Theorie oder das Lernen durch Lesen in Position gebracht wird.37 Indem die cognitio rerum und die cognitio causarum aus dem allgemeinen Bildungs­ horizont in das politische Feld gerückt werden, wandeln sie sich zur cognitio officiorum, zur spezifischen politischen Rollen­ und Funktions­ bzw. Amtskenntnis. Die Frage des Konstitutionstyps ist beispielsweise mit den Anforderungen des je spezifischen Amtes als Rat, Minister, Verwaltungsfachmann, Diplomat oder Offizier in Bezug zu setzen. Heiß­ sporne eigenen sich nicht für den Umgang mit Akten und Protokollen. Die Qualifikatio­ nen eines Politikers sind in wachsendem Maße nicht mehr mit den Neigungen und Mög­ 36

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Die wichtigste zusammenfassende Darstellung einschließlich der angesprochenen Veränderungen bildet die enzyklopädisch kommentierte Lipsius­Ausgabe des sächsischen und preußisch­branden­ burgischen Hofhistorikers und Politikdenkers Johann Friedrich Reinhard: Theatrum Prudentiae elegantioris ex Justi Lipsii libris politicorum erectum. 2 Bde. Wittenberg/Berlin 1702. Hier auch S. 965 das Bacon­Zitat und dessen Anwendung. Weber: „Hindernus“ (Anm. 4). S. 264–266, Zitat S. 265. Vgl. als Quelle zur Herrschaftspsycho­ logie im engeren Sinne Christian Thomasius: Wissenschafft das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wieder ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen. Halle 1691, sowie Johann Georg Walch: Commentatio de arte aliorum animos cognoscendi. Jena 1733. Am Ende der ersten Blüte der Politica steht demzufolge die tendenzielle Absprengung der akademischen politi­ schen Theorie zugunsten der am Hof zu erwerbenden Erfahrung.

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lichkeiten eines stillen Frommen vereinbar. Der erfolgreiche Diplomat als Subtypus des Politikers muss im Auftreten, seiner Sprachgewandtheit, psychologischem Einfühlungs­ vermögen usw. glänzen. Auch an dieser Stelle rückt die praktische Erfahrung als wich­ tigstes Kompetenz­ und Wissenserwerbsmittel rasant nach vorne, während Fachlektüre, Aktenstudium, Anhörung, Konversation, schriftliche Befragung, Protokollierung usw. zunehmend als Berufsvorbereitung und ­begleitung angesehen werden. Noch eher diffus, kommen nunmehr auch Ideen organisierten Erfahrungserwerbs zum Tragen, voran die Bewährung in Junior­ oder Assistenzrollen, dann die Lösung allmählichen Aufrückens, also des Bewährungsaufstiegs oder der Laufbahn.38 Fasst man den Komplex der Kommunikation zusammen, so ergeben sich sowohl die bereits angesprochenen als auch neue Perspektiven. Die wichtigste Kommunikations­ form ist das Gespräch unter Anwesenden, das man sich mehr oder weniger reflektiert als Zufallsgespräch, Dialog, formalisierter Mehrfachdialog oder Ansprache in verschiede­ ner Art vorstellt. Der formalisierte Mehrfachdialog wird insbesondere im Hinblick auf den Austausch im Staatsrat durchdacht: In welcher Reihenfolge sollen sich die Räte und Minister zunächst äußern, wie sollen nach den einzelnen Stellungnahmen Gegenvorstel­ lungen oder Zustimmung eingebracht werden, welche Sprachlichkeit ist einzusetzen, wie kann oder soll sich der Souverän beteiligen, soll protokolliert werden, wenn ja was und wie, usw. Ein zweiter, am stärksten reflektierter Bereich ist der Zweierdialog beim Austausch eines Höhergestellten mit einem Untergebenen. Noch eher allgemein bleiben die Präzepte im Hinblick auf die Ansprache eines Staatsvertreters, auch des Souveräns, an die Masse. In diesem Fall sind für die Politiktheoretiker naturgemäß auch Kleidung, Körpersprache, Gestik, Stimme usw. wichtig. Ebenfalls Erwähnung findet der Umgang mit Petitionen, Suppliken, Delegationen usw. seitens von Untertanen, deren Konditionie­ rung zu respektvollem Verhalten, Gehorsam und ähnlichem mehr ohnehin großen Raum einnimmt. Dem Untertaneneid und dessen Zeremoniell sind eigene Traktate gewidmet.39 Neben der Kommunikation unter Anwesenden nimmt die Erörterung derjenigen un­ ter Abwesenden, konkret vor allem der politische Briefverkehr, entsprechend Raum ein. Teils unspezifisch, teils spezifisch insbesondere in diplomatisch­außenpolitischer Hin­ sicht, werden die Formen, Ausdrucksweisen und Inhalte der einschlägigen Texte sowie deren Versand, Übergabe u. ä. diskutiert, wobei die Debatte sich allerdings schon bald in den Spezialdiskurs um den Sekretarius und seine Aufgaben auslagert. Die politisch­herr­ schaftliche Schrift­ und Druckkommunikation im Allgemeinen wird grundsätzlich diffe­ renziert nach internem und externem Gebrauch. Während die Frage der Realisierung und 38

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Zusammenfassend Weber: Erfindung (Anm. 9). Ein häufig zitierter Satz zur Laufbahnlösung ist Francis Bacons Feststellung: Princeps promoveat servos per gradus, non per saltus, vgl. z. B. Rein­ hard: Theatrum (Anm. 36). S. 1184. Eine wichtige einschlägige Quelle, die auch das zeitgenössi­ sche Misstrauen gegenüber der Zeitung als Informationsträger belegt: Anton Wilhelm Ertl: Idea theoretico­practica De modo & ratione Referendi in summis Bavariae Dicasteriis usitata. s. l. 1679. Weber: Prudentia (Anm. 10). S. 173–198 u. ö. Aus den Quellendrucken seien wenigstens genannt Christian Mascov: Exercitatio academica de eloquentia Principum. Regensburg 1700, und Johann Christoph Beckmann: Disertatio de Pietate subditorum erga Principem. Frankfurt a. O. 1684; vgl. auch die Hinweise bei Bose: Diatribae (Anm. 27). Heinrich Uffelmann: Disputatio Politica de Ho­ magio sive iureiurando quo subditi Imperantibus in republica obligantur. Helmstedt 1675.

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Verbesserung angemessener herrschaftlich­staatlicher Repräsentanz und Autorität stets mit behandelt wird, kann sich die Politica des 17. Jahrhunderts jedoch noch kaum dem Komplex der Massenkommunikation und Massenpropaganda per Flugblatt, Flugschrift und Zeitung öffnen. Das ist dann eine zentrale Thematik des 18. Jahrhunderts, obwohl die Praxis der Propaganda bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert, dann erst recht mit dem Dreißigjährigen Krieg, einsetzt. Anknüpfungspunkte und gelegentliche Bemerkun­ gen fehlen freilich nicht, es sind einerseits die Rezepte der kalkulierten Schmeichelei, der Erzeugung von Verachtung gegenüber Gegnern usw., kurz die conciliatio animorum, der Erwerb der Zuneigung der Seelen der Untertanen für sich, gegebenenfalls in bewusster Absetzung gegenüber Dritten. Andererseits taucht aber auch der Komplex öffentlicher Rechenschaftsablegung auf, so in dem Postulat, Steuererhebungen und Steuerausgaben nachvollziehbar zu begründen.40 Nach dieser kurzen Skizze der informationell­kommunikativen Herrschaftslogik und ­dynamik, welche die Politica in ihrem Kern entwickelt, wird es Zeit, abschließend auf die Bedeutung der Kommunikation für die allgemeine Staats­ und die Verfassungstheorie in der Politica einzugehen. Als großem erratischen Block begegnen wir dort dem Werk von Johannes Althusius, das als föderal­republikanischer Gegenentwurf zum dominie­ renden monarchischen Modell nach der Hinrichtung Karls I. von England 1649 in Miss­ kredit geriet, aber unverkennbar dennoch weiter wirkte. Nach der soeben erschienenen Studie von Philipp A. Knöll beruhte das gesamte von dem calvinistischen Juristen und Politikdenker Althusius in dessen ,Politica digesta‘ (zuerst 1603) entworfene politische System auf einem ursprünglich von Gott gestifteten sozialen Zusammenschluss, der durch beständige, vor allem im persönlichen Gespräch zu realisierende Kommunikati­ on aufrechterhalten und fortentwickelt werden sollte, bis er in eine ideale Gesellschaft weitgehend ohne obrigkeitlich­staatliche Strukturen münden kann.41 Kommunikati­ on bzw. quellengeschichtlich: communicatio mutua gilt als „wechselseitige Mitteilung und Gewährung von Sachen, (Dienst­) Leistungen und Rechten als zentrale Bedingung menschlicher Vergemeinschaftung“.42 Tatsächlich befasst sich das althusianische System auf allen Ebenen mit den Bedingungen, Formen und Möglichkeiten derartiger Kommu­ 40

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Adam Contzen: Politicorum libri decem. Köln 1621, betont auf S. 533–538 die Notwendigkeit durchgehender Schriftlichkeit der Verwaltung und kennt neben den Briefen und sonst üblichen admi­ nistrativen Textgattungen sogar Zähler (numerarii) und Tabellenführer (tabellarii) bzw. Tabellen als entsprechende Beamte. Die Sekretariatstraktate, auf die verwiesen wird, sind beispielsweise Adam Pisecki: Kriegs­Secretarius. Nürnberg 1683, und Conrad Hofmann von Hohenegg: Der Hochteut­ sche Secretarius. Nürnberg 1694. Auch Kaspar von Stieler: Der Allzeitfertige Secretarius. Nürnberg 1680 u. ö., wird gelegentlich genannt, obwohl diese Anleitung sich in erster Linie auf den außer­ politischen Gebrauch bezieht. Höchst ausführlich auch zur Schriftlichkeit der Diplomatie äußert sich Hermann Kirchner: Legatus, ejusque iura, dignitas et officium. Marburg 1614. Zur Necessitas populo exponere (tributum), also der Steuer, bzw. noch klarer Setze den Keyser uf die Seite und gib Rechenschafft, wohin der Tribut verwendet worden, siehe Weber: Prudentia (Anm. 10). S. 261 (mit Nachweisen). Ph. A. Knöll: Staat und Kommunikation in der Politik des Johannes Althusius. Berlin 2011. Der Autor versteht seine Studie „als Beitrag zur Grundlagenforschung“, die „gleichsam vorgelagert“ sei „zu kontextuellen ideengeschichtlichen und systematischen Forschungsperspektiven“ (S. 7). Wie vorhergehende Anmerkung.

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nikation. Der hierarchisch­herrschaftliche Aspekt wird mithin in einem ersten Durchgang stark zurückgenommen, im Hintergrund steht der Umgang der Menschen miteinander in christlicher Brüderlichkeit. Insbesondere die dezentral­föderalistische Staatsstruktur, erdacht unverkennbar nach dem Modell des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Na­ tion, hat demzufolge in zentralstaatskritischen Phasen des Politikdenkens, wie sie auch heute wieder vorherrscht, zu einer ausgeprägten Althusiusrezeption mit geradezu euphe­ mistischen Zügen geführt. Selbst die Gestaltung des künftigen vereinigten Europa wird althusianisch durchdacht.43 Auf der Gegenseite steht allerdings der Tatbestand, dass auch der calvinische Theolo­ ge, Jurist und Politologe auf Herrschaft und Zwang zumindest in casu neccessitatis nicht verzichten kann. Obwohl von ihm auch eine lange vergessen gewesene Darstellung zur Konversationskunst stammt, die in die Politiktheorie gehört, kann zudem nachgewiesen werden, dass die Beratungs­ und Rätetheorie als zentrale Komponente des politischen Systems des Althusius zwar tatsächlich besonders ausführliche Behandlung erfährt, ef­ fektive kommunikativ­konsensuelle Entscheidungsfindung im obersten Staatsorgan je­ doch nicht plausibel zu machen versteht. Eine kommunikativ­konsultative Partizipation der breiten Bevölkerung ist im Übrigen ebenfalls nicht vorgesehen. Lediglich ein freies Beschwerde­, Klage­ und Petitionsrecht wird zugestanden. Letztlich orientiert sich damit auch Althusius an der Staatsgewalt und erweist sich seine Kommunikationstheorie eher als Mittel zur Legitimationsbeschaffung.44 Ungeachtet der Tatsache, dass nicht nur Althusius, sondern die gesamte neuaristoteli­ sche Politiktheorie naturgemäß die aristotelische Grundmaxime der Gemeinschafts­ und Kommunikationsanlage jedes menschlichen Individuums rezipiert und mehr oder weni­ ger im je eigenen Entwurf berücksichtigt, und des Weiteren ungeachtet der Tatsache, dass der gesprochenen Kommunikation in der aus Italien stammenden, in der Politica breit re­ zipierten Konversationslehre zwecks Herstellung bürgerlicher concordia eminente politi­ sche Bedeutung zugesprochen wurde: von einer frühen Gesellschafts­ oder Politiktheorie auf kommunikativer Grundlage, wie sie zahlreiche jüngere Politikdenker propagieren, kann keine Rede sein.45 Immerhin bleibt festzuhalten, dass dieser Ansatz des Althusius 43

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Stefan Hohberger: Vergleich der politischen Theorie und der politischen Systeme des Althusius mit der EU. Berlin 2008; Frederick S. Carney u. a. (Hg.): Jurisprudenz, politische Theorie und politi­ sche Theologie. Beiträge des Herbonner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius (1603–2003). Berlin 2004; Thomas O. Hüglin: Early modern concepts for a late modern world. Althusius on community and federalism. Waterloo/Ont. 1999; Giuseppe Duso: Konsens und Konsoziation in der politischen Theorei des frühen Föderalismus. Berlin 1997. Wolfgang E. J. Weber: Potestas consilio & auxilio juvandi. Bemerkungen zur Beratungs­ und Rä­ tetheorie bei Althusius. In: Emilio Bonfatti u. a. (Hg.): Politische Begriffe und historisches Um­ feld in der Politica methodice digesta des Johannes Althusius. Wiesbaden 2002. S. 185–210; vgl. auch in diesem Sammelband die Ausführungen zu Althusiusʼ Konversationsstudie, basierend auf J. Althusius: civilis conversationis libri duo. Hanau 1601 u. ö. Dieses Werk wurde 1650 unter dem bezeichnenden Titel Ethicus Althusianus in Hanau neu aufgelegt. Von den zeitgenössischen, unmittelbar auf Guazzo aufbauenden, politisch adaptierten Konversati­ onslehren entsprechend wichtig ist etwa Stephani Guazzi De civili conversatione dissertationes po­ liticae, enucleatae […] ab Elia Reusnero. Leiden 1650. Sämtliche o. a. Studienanleitungsschriften verweisen auf diesen Ansatz. Die einschlägige Darstellung von Emilio Bonfatti: La „civil conver­

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über seinen wichtigsten Schüler Bartholomäus Keckermann (1571–1609) in der Politica feste Verwurzelungen fand und dort tatsächlich das Element der Pflicht von Herrscher, Beamten und Untertanen zum wechselseitigen, freilich auch immer je ständisch­stan­ desehrlich differenziert ausgestalteten Austausch entscheidend stärkte: Seine Definition der Herrschaft als cura pro subditis schließt das gegenseitige Anhören und Gespräch ebenfalls ein; entsprechend schätzte er – wie andere Theoretiker ebenfalls – das Verbot von honestae conventus & congregationes und die Verweigerung des Umgangs mit den Untertanen als Zeichen der Tyrannei ein.46

3. Fazit Prüfen wir zum Abschluss noch, ob im Machtbegriff, den die Politica entwickelte und von dem sie ausging, Information und Kommunikation direkt oder indirekt enthalten sind. Ganz allgemein wird potentia mit Cicero als facultas […] ad sua conservanda, & aliena obtinenda, idonearum rerum bezeichnet. Als res idoneae sind opes, arma, consilia, foedera & felicitas ausgewiesen, wobei als opes erwartungsgemäß Geld, Bevölke­ rung und Wirtschaft gelten.47 Information und Kommunikation werden also auf dieser Ebene nicht genannt. Sekundär sind diese Komplexe dennoch angesprochen, insofern eben auch die Befähigungen, diese Grundmittel der Macht zu erschließen und zu mo­ bilisieren, in dieser oder jener Art einbezogen werden. Die erste und wichtigste Befä­ higung ist aber, entsprechende Kenntnis zu erlangen, diese Kenntnis richtig abzuwägen und effektiv einzusetzen. Princeps ignarus […] miser est gilt nicht nur in Bezug auf seine Geldmittel, sondern generell. Die entscheidenden Kenntnisse können aber eben nur per Kommunikation erlangt werden. Der Herrscher hat deshalb vor allem mit dem Adel und seinen Beamten ständige Konversation und sonstigen Umgang zu pflegen, das Land zu bereisen und sich die Beschwerden der einfachen Untertanen anzuhören und dergleichen mehr, dieser Pflichten­ und Funktionsbereich war bereits angesprochen.48 Auch auf dieser Argumentationsebene bleibt es also dabei: wie der Komplex Informa­ tion, so wurde auch der Komplex Kommunikation in der deutschen Politica des 17. Jahr­ hunderts nicht eigenständig oder systematisch­differenziert konzeptualisiert, sondern je

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sazione“ in Germania. Udine 1979, unterschätzt den politisch­politikwissenschaftlichen Zusam­ menhang. Sämtliche kommunikativ­kommunitaristische Theorien der Gegenwart gehen vom Indi­ viduum als gesellschaftlich­politischer Grundeinheit aus, was bei Althusius und dessen Richtung keineswegs der Fall ist. B. Keckermann: Systema disciplinae. Hannover 1613. S. 423f., vgl. Friedrich Goedeking: Die „Politik“ des Lambert Danaeus, Johannes Althusius und Bartholomäus Keckermann. Diss. theol. Heidelberg 1972. S. 287–351. Reinhard: Theatrum (Anm. 36). S. 119f., vgl. zusammenfassend Weber: Prudentia (Anm. 10). S. 331f. Contzen: Politicorum libri (Anm. 40). S. 564; der Jesuit widmet dem Komplex der potentia ein gan­ zes Buch (Liber octavus: S. 548–620), spricht Information und Kommunikation bezeichnenderwei­ se jedoch vor allem im Liber nonus: De internis reipublicae malis, d. h. primär über den Aufstand und Bürgerkrieg, an (S. 621–737).

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aspektbezogen bis beiläufig thematisiert. Ihre zentrale Bedeutung, die unter den Verhält­ nissen unserer Gegenwart augenfällig ist, wurde mithin noch nicht erkannt. In der an­ schließenden Phase des deutschen Politikdenkens änderte sich an diesem Befund wenig: Kameralismus und Merkantilismus, das Staatsdenken von den finanziell­wirtschaftlichen Bedürfnissen des Staates her, waren (und sind) nicht per definitionem mit einer entschei­ denden Stärkung der informationellen und kommunikativen Perspektive verbunden.

Dilettantismus versus Wissenschaft? Kulturgeschichte und die Formierung der Geschichtswissenschaft als ‚akademischer Zunft‘ im späten 19. Jahrhundert in Deutschland Silvia Serena Tschopp Von einem „Bankrott des kulturgeschichtlichen Programms“ hat der Freiburger Mediä­ vist Georg von Below in der Rückschau auf den historischen Methodenstreit, der zwei Jahrzehnte zuvor die Gemüter so mancher deutscher Historiker erhitzt hatte, in der ihm eigenen pointierten Art gesprochen.1 In seiner 1916 erschienenen Studie über ‚Die deut­ sche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen‘, in der es, wie der Untertitel verrät, auch und zentral um das Verhältnis zwischen ‚Geschichte‘, ver­ standen als politische Geschichte, und ‚Kulturgeschichte‘ geht, zollt von Below zwar ein­ zelnen Kulturhistorikern „von höherem Stil“ seinen Respekt, distanziert sich jedoch klar von jener Position, die der streitbare Wissenschaftler bereits in seinen in den 1890er Jah­ ren veröffentlichten, gegen Karl Lamprecht gerichteten Invektiven vehement bekämpft hatte:2 Er rühmt die „gemütvollen und feinsinnigen Schriften Riehls“,3 konzediert Gustav Freytags ‚Bilder[n] aus der deutschen Vergangenheit‘, „nicht ohne Grund die beste deut­ sche Kulturgeschichte genannt“ worden zu sein4 und spendet außerdem Jacob Burck­ hardt, dessen ‚Kultur der Renaissance in Italien‘, wie Below schreibt, „stets als Edelstein der deutschen historischen Literatur gelten wird“, ein vergiftetes Lob.5 Zugleich jedoch macht er unmissverständlich klar, dass die Bestrebungen einer jüngeren Generation von Kulturhistorikern, „durch die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die geschichtliche Betrachtung die bisher dilettantische Geschichte zum Rang einer Wissen­ schaft zu erheben, damit die politische Geschichte durch die Kulturgeschichte zu ersetzen 1

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Georg von Below: Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. Geschichte und Kulturgeschichte. Leipzig 1916. S. 81–83. Below: Die deutsche Geschichtsschreibung (Anm. 1). S. 69. Below: Die deutsche Geschichtsschreibung (Anm. 1). S. 69. Below: Die deutsche Geschichtsschreibung (Anm. 1). S. 70–72. Below: Die deutsche Geschichtsschreibung (Anm. 1). S. 72–77. Burckhardts ‚Kultur der Renais­ sance in Italien‘ sei ein „eigenartige[s] Buch“ (S. 77), dessen Meriten von Below vor allem in der Tatsache erkennt, dass es Anlass zu kritischen und im Ergebnis erhellenden Kontroversen geboten habe. Wesentlich schärfer lautet sein Urteil über Burckhardts ‚Griechische Kulturgeschichte‘: Der Basler Historiker trage darin „recht viel Unhaltbares vor, was gar nicht wundernehmen kann, da er aus zweiter und dritter Hand schöpft“ (S. 75).

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und ein neues Zeitalter großer Geschichtschreibung heraufzuführen“, gänzlich geschei­ tert seien.6 Neuere Studien haben diese Einschätzung relativiert, indem sie an den nach 1900 ein­ setzenden Institutionalisierungsschub gerade der kulturgeschichtlichen Forschung Lam­ prechtscher Prägung erinnerten und die anhaltende Relevanz kulturhistorischer Ansätze etwa im Bereich der Landesgeschichte hervorhoben.7 Dennoch ist kaum zu bestreiten, dass es den Verfechtern einer in der Tradition des Historismus verankerten, staatszent­ rierten Geschichtswissenschaft im Zuge der die 1890er Jahre prägenden Auseinanderset­ zungen um das theoretische und methodische Fundament der Geschichtswissenschaft, welche als ‚historischer Methodenstreit‘ in die Wissenschaftsgeschichtsschreibung Ein­ gang gefunden haben, gelungen ist, die Kulturgeschichte – zumindest in der Form, wie Lamprecht sie vertreten hat – innerhalb des Fachs zu isolieren. Die Gründe dafür sind so umstritten wie komplex: Lamprechts Auffassung historischer Analyse weise, so eine These, erhebliche konzeptionelle Defizite auf und hätte sich deshalb, ungeachtet der sie leitenden zukunftsweisenden Ideen im wissenschaftlichen Diskurs, nicht durchzusetzen vermocht.8 Dem ist entgegenzuhalten, dass sich von Belows gegen Lamprecht gerich­ tete Schriften, wie Hans Cymorek zu Recht betont hat, eher durch rhetorischen Furor als durch argumentative Stringenz auszeichnen.9 Eine auch nur oberflächliche Lektüre der Rezensionen und Abhandlungen, in denen sich die um die Mitte der 1890er Jahre kulminierende Kontroverse materialisiert, macht deutlich, dass Lamprecht, dem seine Gegner nicht ohne Grund handwerkliche Mängel vorwarfen und dessen Versuch einer Neubestimmung des Fundaments moderner Geschichtswissenschaft auch innerhalb der Kulturgeschichte Kritik erfuhr, als in theoretischer Hinsicht versierter gelten darf als die meisten seiner Kontrahenten. In der jüngeren Forschung ist dessen Modell historischer Analyse denn auch als innovative und intellektuell ambitionierte Antwort auf die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts abzeichnende Krise der historistischen Geschichtsauf­ fassung gewürdigt worden.10 Wenn nun allerdings der von Below behauptete ‚Bankrott‘ der Kulturgeschichte nicht primär theoretisch­methodischer Unzulänglichkeit geschuldet 6 7

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Below: Die deutsche Geschichtsschreibung (Anm. 1). S. 83. Vgl. v. a. Stefan Haas: Historische Kulturforschung in Deutschland 1880–1930. Geschichtswis­ senschaft zwischen Synthese und Pluralität. Köln/Weimar/Wien 1994 (Münstersche Historische Forschungen. Bd. 5). S. 186–267. Schon Gerhard Oestreich hat die Auffassung vertreten, Lamprecht selbst habe „durch seine oft un­ zulängliche Geschichtsschreibung und seine wenig konsequenten Theorien“ die heftigen Angriffe seiner Gegner provoziert (vgl. Gerhard Oestreich: Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialge­ schichtlichen Forschung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift. 208. 1969. S. 320–363, hier S. 363). Vgl. Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. Stutt­ gart 1998 (Vierteljahrschrift für Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte, Bd. 142). S. 220–225. Belows Streitstil ist allerdings, wie Haas überzeugend herausgestellt hat, nicht ungewöhnlich, son­ dern findet in den Texten anderer zeitgenössischer Historiker eine Entsprechung (vgl. Haas: Histo­ rische Kulturforschung (Anm. 7). S. 149–154). Die umfassendste Darstellung der Position Lamprechts bietet immer noch Louise Schorn­Schütte: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik. Göttingen 1984 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 22). S. 110–207.

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ist, stellt sich die Frage, weshalb nicht nur zeitgenössische Beobachter zum Schluss ge­ langen konnten, mit dem Ende des ‚Lamprecht­Streits‘ sei zugleich die Niederlage der Kulturgeschichte besiegelt gewesen.11 Es ist diese Frage, die im Mittelpunkt meiner nun folgenden Ausführungen stehen soll. Dabei konzentriere ich mich auf zwei Aspekte, die mir mit Blick auf die Kategorien ‚Macht‘ und ‚Kommunikation‘, welche den durch den Band, in dem dieser Beitrag erscheint, abgesteckten thematisch­konzeptionellen Rahmen meiner Überlegungen bilden, von besonderem Interesse erscheinen. Zum einen soll die bisweilen in der Forschung formulierte These, der Ausgang des historischen Methoden­ streits erkläre sich aus dem prekären institutionellen Status der Kulturgeschichte, der es nicht gelungen sei, sich an den deutschen Universitäten zu etablieren, einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Von der Annahme ausgehend, dass der ‚Sieg‘ von Lam­ prechts Gegnern weniger einem ‚institutionellen Vorteil‘ als vielmehr einer sich auch und wesentlich in Habitus und Kommunikationsverhalten manifestierenden Strategie der fachlichen Schließung und damit verbunden der Inszenierung der eigenen Gruppe als akademischer Elite geschuldet ist, wird zum anderen diskutiert, auf welche Weise die Beteiligten darum bemüht waren, sich selbst in den Rang wissenschaftlicher Experten zu erheben und zugleich ihre Gegner aus der ‚scientific community‘ zu verbannen. Mein besonderes Augenmerk gilt dabei dem Schlagwort des ‚Dilettanten‘, das, von den Reprä­ sentanten der universitären Geschichtsforschung als Gegenentwurf zum Fachhistoriker perhorresziert, in der Auseinandersetzung zwischen Politik­ und Kulturgeschichte zu ei­ nem zentralen Kampfbegriff avancierte und deshalb exemplarisch einer Erhellung der hier interessierenden Mechanismen szientifischer Inklusion bzw. Exklusion dienen kann. Aus dem vorgängig Dargelegten ergibt sich die Gliederung der nun folgenden Aus­ führungen: In einem ersten Schritt werde ich den für die Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts konstitutiven Professionalisierungsschub skizzieren und in diesem Zu­ sammenhang einige Entwicklungen andeuten, ohne deren Berücksichtigung die Ausei­ nandersetzungen zwischen den verschiedenen historiographischen Richtungen um 1900 nicht adäquat zu verstehen sind, bevor ich in einem zweiten Schritt den Ort der Kulturge­ schichte innerhalb der Universität als maßgeblicher wissenschaftlicher Institution erörte­ re. In einem dritten Schritt schließlich gehe ich der Frage nach, mittels welcher Rhetorik die gegen Lamprecht argumentierenden Exponenten einer sich auf Ranke berufenden historistischen Geschichtswissenschaft versucht haben, sich als die alleinigen Repräsen­ tanten wissenschaftlicher Exzellenz zu behaupten.

I. Wenn der in Göttingen und später an der Universität zu Berlin lehrende Historiker Ge­ org Waitz 1859 selbstbewusst betont, „[w]ir dürfen mit einem gewissen Stolz und mit 11

So spricht etwa Hans­Josef Steinberg von einer „regelrechten Abschlachtung“ Lamprechts durch Below, die den Streit beendet habe (vgl. Hans­Josef Steinberg: Karl Lamprecht. In: Hans­Ulrich Wehler (Hg.): Deutsche Historiker. Bd. 1. Göttingen 1971. S. 58–68, hier S. 60).

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freudiger Zuversicht sagen, daß unsere Wissenschaft sich in gedeihlicher Entwickelung befindet“,12 verweist er, durchaus zu Recht, auf die Fortschritte, welche das Fach, zu dessen prominentesten Vertretern er zählte, bis in seine Gegenwart erzielt hatte. Tatsäch­ lich ist die Geschichtsforschung in Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert durch einen bemerkenswerten Aufschwung gekennzeichnet und durchläuft – getragen von einer wesentlich bürgerlich geprägten Geschichtskultur – seit der Jahrhundertmitte einen Pro­ fessionalisierungsprozess, der erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 ein vor­ läufiges Ende finden sollte.13 Ermöglicht wurde diese von Waitz gerühmte „gedeihliche Entwickelung“ durch Voraussetzungen, die hier nur angedeutet werden können: Erstens verfügte die Geschichtsforschung mit dem von Barthold Georg Niebuhr entwickelten quellenkritischen Verfahren nach 1800 über ein methodisches Instrumentarium, mit­ tels dessen sich ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit plausibel begründen ließ. Wenn Leopold von Ranke in der Vorrede zu seinen 1824 erstmals erschienenen ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker 1494–1514‘ die „[s]trenge Darstellung der Thatsache, wie bedingt und unschön sie auch sei“, fordert und im selben Zusammen­ hang betont, die im Modus historischer Analyse zu gewinnende „Einheit“ der Geschich­ te verdanke sich nicht einer vom Geschichtsschreiber jeweils geschaffenen poetischen Kohärenz, sondern einem realen, aus den Quellen hermeneutisch ermittelbaren Zusam­ menhang, der im Zuge methodisch bewusster Operationen sichtbar zu machen sei,14 for­ muliert er nicht nur das für die historistische Befassung mit Geschichte maßgebliche me­ thodologische Programm, sondern hebt zugleich den rationalen und damit szientifischen Charakter der modernen Historiographie hervor.15 Als Indikatoren für den die historis­ tische Geschichtsforschung kennzeichnenden Verwissenschaftlichungsprozess hat Hans Schleier allerdings nicht nur die „Gewinnung von Methoden für die Geltungssicherung“ von Forschungsergebnissen bestimmt, sondern auch die „sukzessive Verfachlichung und Verselbständigung der historischen Disziplinen im akademischen Leben“.16 In der Tat und zweitens gelang es der Geschichtswissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts, ihre institutionelle Basis kontinuierlich zu erweitern: Von Belang sind in diesem Zusammen­ hang zunächst die universitären Strukturen, an denen sich der Aufstieg der Geschichte von einer Hilfswissenschaft, als die sie noch im späten 18. Jahrhundert gelehrt wurde, zu 12

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Georg Waitz: Falsche Richtungen. Schreiben an den Herausgeber von Georg Waitz. In: Historische Zeitschrift 1. 1859. S. 17–28, hier S. 18. Vgl. die knappe, aber dichte Darstellung von Stefan Grüner: Die Entfaltung der modernen Ge­ schichtswissenschaften im 19. Jahrhundert und die Probleme historischer Erkenntnis. In: Andre­ as Wirsching (Hg.): Oldenbourg Geschichte Lehrbuch: Neueste Zeit. München 2006. S. 297–316 [dort weiterführende Literatur]. Vgl. Leopold von Ranke: Sämmtliche Werke [sic!]. Bd. 33: Geschichten der romanischen und ger­ manischen Völker 1494–1514. Leipzig 1874. S. VII [Vorrede zur ersten Ausgabe. Oktober 1824]. Zur ‚disziplinären Matrix‘ der historistischen Geschichtswissenschaft vgl. die knappe Darstellung in Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. Eine Einführung. München 1992. S. 41–66. Hans Schleier: Fragen zum Verwissenschaftlichungsprozeß der modernen Geschichtswissenschaft. Kommentar zu Horst Walter Blanke. In: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.): Ge­ schichtsdiskurs. Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens. Frankfurt a. M. 1994. S. 67–72, hier S. 68.

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einer eigenständigen akademischen Disziplin besonders eindrücklich ablesen lässt. Die Einrichtung einer stetig wachsenden Zahl historischer Lehrstühle und die Gründung von geschichtswissenschaftlichen Instituten an Hochschulen bildet allerdings nicht den einzi­ gen Indikator für die hier behauptete institutionelle Verdichtung historischer Forschung. Die zunehmende Bedeutung einer wissenschaftlich fundierten Befassung mit Historie ist außerdem ablesbar an der Reorganisation des Archivwesens und in diesem Zusammen­ hang der Errichtung staatlicher Archive, deren zentrale Aufgabe in der systematischen Sammlung und Erschließung wichtiger Quellenkorpora bestand, der Schaffung neuar­ tiger Forschungsplattformen innerhalb der wissenschaftlichen Akademien, die sich vor allem in der Durchführung langfristig angelegter Editionsvorhaben bewährten – zu erin­ nern wäre hier etwa an die 1858 von Heinrich von Sybel ins Leben gerufene Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften –, den aus der 1819 in Berlin gegründeten Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde hervorgegangenen Monumenta Germaniae Historica, welchen die Herausgabe groß angelegter Sammlun­ gen mittelalterlicher Quellen oblag, oder der Gründung wissenschaftlicher Bibliotheken, in denen die rasant wachsende Zahl historiographischer Publikationen aufbewahrt und zugleich der Forschung zugänglich gemacht werden konnte. Mit den hier genannten strukturellen Reformen ging die Herausbildung einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit einher, die ihre hauptsächlichen Foren in den vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte zahlreich gegründeten historischen Fachzeitschriften fand und die maßgeblich zur For­ mierung einer Diskursgemeinschaft der Fachhistoriker beitrug. Schließlich und drittens gründet der Siegeszug der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert in jenem gesell­ schaftlichen Resonanzraum, der sich der zeittypischen, keinesfalls nur für bildungs­ bürgerliche Milieus charakteristischen Begeisterung für die primär national fokussierte Vergangenheit verdankte. Der damit verbundene Geltungsgewinn der Beschäftigung mit Historie fand nicht zuletzt in der Gründung wissenschaftsaffiner Institutionen Ausdruck, welche der Generierung und Vermittlung geschichtsbezogenen Wissens außerhalb einer im engeren Sinne akademischen Historikerschaft dienten. Zu nennen wären hier etwa die Historischen Vereine, deren Leistungen im Bereich der Landesgeschichte auch innerhalb der universitären Geschichtswissenschaft Anerkennung fanden, oder die im 19. Jahrhun­ dert gegründeten meist kommunalen Historischen Museen, die eine nicht unbedeutende Rolle bei der Popularisierung geschichtlichen Wissens spielten. Als weiterer Beleg für ein gesteigertes öffentliches Interesse an Historie kann außerdem die Einführung des Ge­ schichtsunterrichts an Volks­ und Realschulen sowie an Gymnasien gelten, der zugleich den an den Universitäten in immer größerer Zahl ausgebildeten Historikern ein neues Berufsfeld erschloss. Der für die historistische Geschichtsforschung konstitutive Prozess sukzessiver Pro­ fessionalisierung nun generierte ein immer ausdifferenzierteres Gefüge von Institutionen und Akteuren, welches für das disziplinäre Profil der Geschichtswissenschaft nicht ohne Folgen blieb: Der stetig wachsenden Zahl der Historiker und der räumlichen Ausdehnung entsprechend, entwickelte sich Geschichte zu einem hinsichtlich seiner Gegenstände, seiner ideologischen Inanspruchnahmen und seiner theoretisch­methodischen Prämis­ sen zunehmend heterogenen Forschungsfeld: Die Gliederung in die epochenspezifischen

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Abteilungen ‚Alte‘, ‚Mittelalterliche‘ und ‚Neuere‘ Geschichte und die Herausbildung bereichsbezogener ‚Spezialgeschichten‘ wie etwa der Wirtschaftsgeschichte sind hier an erster Stelle zu nennen. Erwähnung verdienen außerdem die immer sichtbareren Bruch­ linien zwischen den konfessionell und politisch divergierenden Gruppierungen innerhalb der Historikerschaft. So standen den wortmächtigen Repräsentanten der borussischen Historiographie jene katholischen Fachvertreter gegenüber, die sich mit der Dominanz einer preußisch­protestantischen Perspektive nicht abfinden wollten, und die Verfechter politisch konservativer, liberaler oder (sozial)demokratischer Positionen sahen sich – etwa mit Blick auf die gegen Ende des 19. Jahrhunderts erneut an Bedeutung gewinnende Soziale Frage – in bisweilen heftige Kontroversen verwickelt. Und schließlich bestanden, wie der das erkenntnistheoretische Fundament historischer Forschung thematisierende Methodenstreit der 1890er Jahre eindrücklich vor Augen führt, innerhalb des zunehmend weiten Felds der Geschichte grundlegende theoretisch­methodische Differenzen. Das hier knapp umrissene komplexe Zusammenspiel zahlreicher Akteure und die da­ mit einhergehende konzeptionelle Vielstimmigkeit stellten insbesondere für die univer­ sitäre Geschichtswissenschaft eine Herausforderung dar, schienen sie doch das vor dem Hintergrund eines sich verschärfenden Wettbewerbs um ökonomische Ressourcen und symbolisches Kapital immer lauter geforderte klare Profil der eigenen Disziplin zu bedro­ hen. Der Prozess der Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft wird deshalb gegen Ende des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße durch gegenläufige Tendenzen konter­ kariert, die auf eine schärfere institutionelle und inhaltliche Konturierung zielen. So zeigt die akademische Elite eine offenkundige Tendenz, sich sowohl von den staatlich alimen­ tierten Berufshistorikern, namentlich den Archivaren, den wissenschaftlichen Bibliothe­ karen und vor allem den Gymnasialprofessoren, als auch von jener breiten Gruppe von Amateuren, die sich vor allem in den Historischen Vereinen organisierten, abzukoppeln.17 Die sich daraus ergebende Hierarchisierung war übrigens durchaus erwünscht, entsprang das Bestreben der an deutschen Universitäten lehrenden und forschenden Historiker, in­ nerhalb des Kreises jener, die sich wissenschaftlich mit historischer Vergangenheit be­ schäftigten, eine Führungsrolle einzunehmen, doch nicht nur der Hoffnung, sich materi­ elle und immaterielle Vorteile zu verschaffen, sondern auch der Einsicht, dass sie nur als gut organisiertes und wissenschaftlich potentes Kollektiv in der Lage sein würden, sich gegen die an Bedeutung und Einfluss gewinnenden Naturwissenschaften zu behaupten.18 Der Anspruch der akademischen Geschichtswissenschaft auf eine Vorrangstellung ist ohne Zweifel auch und wesentlich dem Bewusstsein geschuldet, dass es im Kampf um finanzielle Zuwendungen galt, die besondere Dignität und, daraus abgeleitet, die beson­ dere Förderungswürdigkeit der eigenen Gruppe herauszustellen, indem man nicht nur 17

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Zur sozialen Zusammensetzung der Historischen Vereine vgl. Georg Kunz: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewusstsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Bd. 138). S. 68–74. Zu den Gründen für den Aufstieg der Naturwissenschaften und zur Rolle Deutschlands als einer im Bereich der Naturwissenschaften international führenden Wissenschaftsnation vgl. Frank Linhard: Zur Situation der Naturwissenschaften in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Ulrich Muhlack (Hg.): Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahr­ hundert. Berlin 2003 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel. Bd. 5). S. 159–174.

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deren hervorgehobenen Status legitimierte, sondern zugleich die an außeruniversitären Institutionen tätigen Konkurrenten in die zweite Reihe verwies. Die im 19. Jahrhundert stetig wachsenden universitären Mittelzuflüsse19 waren jedoch nicht primär durch die ebenfalls aus dem öffentlichen Haushalt alimentierten Archive, Bibliotheken und höhe­ ren Bildungsanstalten gefährdet; größer noch erschien die Bedrohung durch die Aufse­ hen erregenden Erfolge der Naturwissenschaften, welche aufgrund ihres hohen Investi­ tionsbedarfs einen wachsenden Anteil an den Universitätsbudgets beanspruchten.20 Die durch den auf die Gründerkrise folgenden wirtschaftlichen Aufschwung und die deutsche Kolonialpolitik begünstigte rasante Entwicklung im Bereich der Naturwissenschaften, der Technik und der Medizin stärkte nun allerdings nicht nur deren Position im Wissen­ schaftsgefüge; indem sie die Resultate der in den naturwissenschaftlichen Disziplinen gängigen methodischen Verfahren eindrucksvoll vor Augen führte, stellte sie zugleich das epistemologische Fundament historischer Analyse in Frage.21 Es ist deshalb kein Zu­ fall, dass mit Wilhelm Diltheys ‚Einleitung in die Geisteswissenschaften‘ (1883), Wil­ helm Windelbands ‚Geschichte und Naturwissenschaft‘ (1894) oder Heinrich Rickerts ‚Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft‘ (1899) innerhalb von nicht einmal zwei Jahrzehnten gleich mehrere Werke erscheinen, deren hauptsächliches Ziel darin besteht, ein philosophisches Modell wissenschaftlicher Erkenntnis zu entwickeln, mittels dessen sich die Gleichrangigkeit von Natur­ und Kulturwissenschaften begründen lässt. Und es liegt in der Logik der Zeitverhältnisse, wenn eine Mehrheit der Historiker, im Bemühen den szientifischen Charakter geschichtlicher Forschung herauszustellen, unter Berufung auf Leopold von Ranke eine Auffassung von Historiographie vertrat, in deren Zentrum die Forderung nach einer individualisierenden Geschichtsbetrachtung, einem hermeneu­ 19

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Zur finanziellen Situation der deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert vgl. Charles McClel­ land: State, Society, and University in Germany 1700–1914. Cambridge 1980. S. 203–217 und S. 300–313. In ihrer Studie zum deutschen Universitätssystem im 19. Jahrhundert untersucht Marita Baum­ garten die Lehrstuhlentwicklung und hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass die Zahl der Ordinariate seit 1800 in den Geistes­ und Naturwissenschaften zunächst in vergleichbarem Umfang stieg. Nach der Reichsgründung erlebte insbesondere die Berliner Universität im Bereich der Na­ turwissenschaften einen rasanten Ausbau: Zwischen 1874 und 1888 wurden zehn neue Lehrstühle mit eigenen Instituten eingerichtet und damit der planmäßige Lehrkörper verdoppelt (vgl. Marita Baumgarten: Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes­ und Naturwissenschaftler. Göttingen 1997 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Bd. 121). S. 79). Zwar profitierten in Berlin auch die Geisteswissenschaften von dieser Gründungs­ welle, wurden doch nach einer längeren Phase der Stagnation zwischen 1872 und 1877 sieben neue Lehrstühle geschaffen, bevor der Ausbau der Berliner Geisteswissenschaften sein vorläufiges Ende fand (Baumgarten: Professoren und Universitäten. S. 47f.). Zu bedenken ist allerdings, dass mit der Einrichtung eines naturwissenschaftlichen Lehrstuhls bzw. Instituts in der Regel ein weit höherer Finanzbedarf verbunden war, hing deren wissenschaftliche Leistungsfähigkeit doch von kostspieli­ gen und personalintensiven Infrastrukturen ab. Nicht zufällig flossen beispielsweise in Heidelberg zwischen 1850 und 1860 97 % der staatlichen Mittel für Neuinvestitionen an der Universität in das chemische Institut (Baumgarten: Professoren und Universitäten. S. 67). Vgl. Otto Gerhard Oexle: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne. In: Ders. (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max­Planck­Instituts für Ge­ schichte. Bd. 228). S. 11–116, hier S. 55f.

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tischen Zugriff auf historische Phänomene, einer Privilegierung der Ideen zulasten der so­ zioökonomischen Strukturen sowie dem Primat der politischen Geschichte stand.22 Eine derart definierte Form historischer Analyse ließ sich nicht nur in Einklang bringen mit der insbesondere von Windelband vertretenen Auffassung historischer Reflexion als ‚idiogra­ phischer‘, auf das Individuelle, geschichtlich Einmalige zielender Modus der Erkenntnis, sie ermöglichte es zugleich, die Inkompatibilität von Geistes­ und Naturwissenschaften zu behaupten.23 Es dürfte so gesehen kaum überraschen, dass Positionen, welche die ide­ alistischen Prämissen eines derartigen Programms konterkarierten und eine Brücke zu den Naturwissenschaften zu schlagen in der Lage waren – zu nennen wären hier etwa der Positivismus, der philosophische Materialismus oder der biologische Evolutionismus –, bei den Exponenten einer historistischen Auffassung geschichtlicher Forschung ebenso auf Ablehnung stießen wie die von den sich formierenden Sozialwissenschaften zur Dis­ kussion gestellten, auf eine strukturalistische und kollektivistische Betrachtung zielenden Theoreme.24 Auf die Krisenerscheinungen, denen sie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus­ gesetzt sah, hat die akademische Geschichtswissenschaft demzufolge mit einer mehre­ re Ebenen umfassenden Strategie der Schließung reagiert: Im Zuge berufsständischer Selbstvergewisserung kam es, wie bereits erwähnt, erstens zu einer Ausgrenzung der außerhalb der Hochschulen tätigen Historiker sowie zu einer Marginalisierung politi­ scher oder religiöser Minoritäten.25 Die soziale Schließung ging, auch darauf habe ich bereits hingewiesen, zweitens mit einer theoretisch-methodischen Einhegung einher, die nicht nur ein klares wissenschaftliches Profil gewährleisten sollte, sondern außerdem und drittens eine disziplinäre Schließung legitimierte, welche ursprünglich auch im Rahmen historischer Institute bearbeitete Forschungsfelder zunehmend in andere Fächer wie etwa die Nationalökonomie oder die im Entstehen begriffene Soziologie bzw. die Ethnologie abdrängte. Nicht unerwähnt bleiben soll viertens die offenkundige Tendenz zur nationalen Abschottung, die für die akademische Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristisch erscheint. Deren Repräsentanten, und dies gilt auch für diejenigen unter ihnen, die persönliche Beziehungen zu ausländischen Kollegen un­ terhielten, verstanden sich in der Regel zuallererst als Vertreter einer spezifisch deutschen Geschichtswissenschaft, deren besondere Leistungsfähigkeit durch das internationale Ansehen, das sie genoss, ihre Bestätigung erfuhr. 22

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Silvia Serena Tschopp/Wolfgang E. J. Weber: Grundfragen der Kulturgeschichte. Darmstadt 2007. S. 61. Zum Gegensatz zwischen ‚idiographischen‘ Geisteswissenschaften und ‚nomothetischen‘, d. h. einem auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten zielenden Erkenntnismodus verpflichteten Naturwissen­ schaften vgl. Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rek­ torats der Kaiser­Wilhelm­Universität Strassburg gehalten am 1. Mai 1894. 3.Aufl. Straßburg 1904. Tschopp/Weber: Grundfragen (Anm. 22). S. 62. Betroffen waren nicht nur sozialdemokratische und katholische, sondern auch jüdische Historiker (vgl. Lutz Raphael: Historikerkontroversen im Spannungsfeld zwischen Berufshabitus, Fächerkon­ kurrenz und sozialen Deutungsmustern: Lamprecht­Streit und französischer Methodenstreit der Jahrhundertwende in vergleichender Perspektive. In: Historische Zeitschrift. 251. 1990. S. 325– 363, hier S. 359.

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Bedingung für den Erfolg einer derartigen Strategie der Schließung nun war nicht nur die Verständigung über Kriterien, anhand derer die Zuordnung zur Gruppe der wissen­ schaftlich ‚Berufenen‘ vorgenommen werden konnte, es galt zugleich und vor allem, jene Fachvertreter, die diesen Klärungsprozess maßgeblich vorantrieben und darüber entschieden, wer sich zur wissenschaftlichen Elite zählen durfte, mit einer sowohl in­ stitutionell als auch diskursiv legitimierten Autorität auszustatten. Dass dies nicht ohne Konflikte ablief, zeigt der historische Methodenstreit, dessen Dynamik zwar in erster Linie aus divergierenden theoretisch­methodischen Positionen der Beteiligten erwuchs, der jedoch zugleich vor Augen führt, welche Widerstände die Selbstermächtigung der Universitätshistoriker als akademische Körperschaft auch innerhalb der eigenen Reihen erzeugte. Die sich um die Mitte der 1890er Jahre zuspitzenden historischen Kontroversen nicht primär hinsichtlich der in ihnen zutage tretenden theoretisch­methodischen Anta­ gonismen, sondern unter der Perspektive der Autorisierung hierarchischer Verhältnisse und der diese Autorisierung ermöglichenden kommunikativen Strategien noch einmal in den Blick zu nehmen, scheint so gesehen ein lohnendes Unterfangen. Nicht zuletzt des­ halb richte ich in meinen folgenden Überlegungen den Fokus weniger auf die bereits gut erforschten ideengeschichtlichen Implikationen der Debatte um die ‚richtige‘ Methode geschichtlicher Forschung als vielmehr auf die für diese Debatte konstitutiven institutio­ nellen Rahmenbedingungen und Modi wissenschaftlicher Kommunikation. Der Soziologe Richard Münch hat das „Machtfeld der Wissenschaft“ kürzlich als ago­ nalen, vom „Kampf zwischen Machthabern und Herausforderern“ bestimmten Raum be­ schrieben.26 Wem die Rolle des ‚Machthabers‘ bzw. des ‚Herausforderers‘ im historischen Methodenstreit zukommt, ist angesichts der Tatsache, dass die hegemoniale Stellung der Historiker Rankescher Prägung weniger die Voraussetzung als vielmehr das Ergebnis der um die Mitte der 1890er Jahre kulminierenden Kontroversen darstellt, nicht ohne weiteres zu entscheiden. In neueren wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen herrscht eine Sichtweise vor, welche den Exponenten einer von idealistischen Prämissen ausge­ henden Politikgeschichte den Primat zuerkennt. Die sich seit den späten 1880er Jahren immer lauter zu Wort meldenden Verfechter kulturhistorischer Positionen, allen voran Karl Lamprecht, werden demgegenüber als Vertreter einer von der historiographischen Norm abweichenden Minorität präsentiert, der es zwar in öffentlichkeitswirksamer Weise gelang, die Dominanz der Politikgeschichte in Frage zu stellen, die jedoch die von ihr propagierte methodische Erneuerung innerhalb der Geschichtswissenschaft nicht durch­ zusetzen vermochte.27 Auch wenn das hier gezeichnete Bild, wie ich in meinen einleiten­ den Bemerkungen betont habe, der Korrektur bedarf, gibt es gute Gründe, den Fokus auf das Verhältnis zwischen den vorgängig genannten Protagonisten, also der Politik­ und der 26

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Richard Münch: Die akademische Elite. Zur sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz. Frankfurt a. M. 2007. S. 30. Gerhard Oestreichs Aufsatz über ‚Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen For­ schung in Deutschland‘, in dem der Verfasser zum Schluss gelangt, der historische Methodenstreit habe die Isolierung Lamprechts und die Ächtung der kulturgeschichtlichen Forschung in Deutsch­ land bewirkt, dürfte hier von maßgeblichem Einfluss gewesen sein (vgl. Oestreich: Die Fachhisto­ rie (Anm. 8). Passim).

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Kulturgeschichte, zu richten, um das sich im historischen Methodenstreit manifestieren­ de Spannungsfeld von Macht und Kommunikation auszuloten. Da wissenschaftliche In­ teraktion in einem institutionellen Gefüge stattfindet, das deren Regeln bestimmt, werde ich im Folgenden zunächst den akademischen Kontext, in dem die hier interessierenden Statuskämpfe von Historikern zum Austrag kamen, in den Blick nehmen und nach der Verankerung der Politik­ und der Kulturgeschichte an deutschen Universitäten fragen, bevor ich die sich mit diesen Statuskämpfen verbindenden kommunikativen Strategien einer genaueren Betrachtung unterziehe.

II. Es ist sicher kein Zufall, dass ‚Macht‘ eine, wenn nicht die zentrale Kategorie in Pierre Bourdieus Analyse der Universität darstellt. In seiner erstmals 1984 unter dem Titel ‚Homo academicus‘ publizierten Studie zum französischen Hochschulsystem untersucht der fran­ zösische Kultursoziologe die vielfältigen Spielarten des Machterwerbs, Machterhalts und Machtverlusts im akademischen Feld, dessen Struktur er bestimmt als „nichts anderes als der zu einem jeweiligen Zeitpunkt vorliegende Stand des Kräfteverhältnisses zwischen den Akteuren oder, genauer, zwischen den Machtformen, über die sie jeweils persönlich und vor allem vermittels der Institutionen verfügen, denen sie angehören.“28 Macht, so Bourdieu, ist nicht losgelöst zu denken von jenen Institutionen, denen sie ihre Sichtbarkeit verdankt. Dabei bilden diese keinesfalls nur den materiellen Rahmen, innerhalb dessen sich Machtansprüche artikulieren können, ihnen kommt außerdem – und dies scheint mir entscheidend – eine zentrale Funktion bei der Begründung von Macht zu. Institutionen stellen demnach zum einen Mittel zur realen Machtausübung zur Verfügung und sie ge­ nerieren und bekräftigen zum anderen die symbolische Macht der in ihnen Handelnden als jene „Macht, die in dem Maße existiert, wie es ihr gelingt, […] sich Anerkennung zu verschaffen.“29 Wenn Macht sich in Institutionen bildet und durch sie legitimiert wird, ist von Belang, welcher Status einem Akteur innerhalb eines institutionellen Gefüges, in dem und durch das er Macht gewinnen will, zukommt. Übertragen auf den hier interessie­ renden Prozess wissenschaftlicher Autorisierung bzw. Ausgrenzung historischer ‚Schulen‘ bedeutet dies, dass es zunächst gilt, den institutionellen Ort der Politik­ und der Kulturge­ schichte innerhalb der deutschen Universitäten einer näheren Betrachtung zu unterziehen, bevor die diesen Prozess konstituierenden Kommunikationsstrategien in den Fokus ge­ rückt werden. In meinen nun folgenden Ausführungen werde ich mich vorrangig mit der Frage nach dem akademischen Institutionalisierungsgrad kulturhistorischer Forschung be­ fassen und in diesem Zusammenhang drei Aspekte thematisieren, welche als Indikatoren für eine starke Einbindung in das wissenschaftliche Milieu gelten können: erstens die Zahl 28 29

Pierre Bourdieu: Homo academicus. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt a. M. 1988. S. 213. Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht enthüllen. In: Ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur I. Hg. von Margareta Steinrücke. Aus dem Französischen von Jürgen Bolder. Hamburg 2005. S. 81–86, hier S. 82.

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kulturhistorischer Professuren an deutschen Hochschulen um 1900, zweitens die Teilhabe von Kulturhistorikern an den die Prozesse akademischer Selbstverwaltung maßgeblich be­ stimmenden Netzwerken und drittens deren Zugang zu den historischen Fachzeitschriften als den relevanten Foren öffentlicher wissenschaftlicher Interaktion. Er habe, so Georg Steinhausen in einer 1925 erschienenen autobiographischen Skizze, zeit seines Lebens ebenso engagiert wie erfolglos darum gekämpft, dass an den Uni­ versitäten Professuren für Kulturgeschichte eingerichtet würden.30 Nun trifft zwar zu, dass die Kulturgeschichte von der mit der Etablierung der Geschichtswissenschaft als universitärem Fach verbundenen Vermehrung historischer Lehrstühle nicht zu profitie­ ren vermochte und die Zahl der Lehrstühle mit explizit kulturgeschichtlicher Denomi­ nation gering blieb;31 daraus zu schließen, für die Kulturhistorie habe es innerhalb der deutschen Universitäten keinen Raum gegeben, wäre jedoch voreilig. Zu bedenken ist zunächst, dass – darauf hat Stefan Haas zu Recht hingewiesen – kein Anlass bestand, die von Steinhausen geforderten Professuren einzurichten, solange eine Mehrheit der theo­ retisch ambitionierten Geschichtsforscher Kulturgeschichte nicht als historische Teildis­ ziplin mit eigenem Gegenstandsbereich, sondern als methodisches Konzept definierte.32 Außerdem dürfen jene Historiker nicht übersehen werden, die, wie Karl Lamprecht, kul­ turgeschichtliche Schwerpunktsetzungen vornahmen, obwohl das Profil ihres Lehrstuhls dies nicht nahelegte.33 Der von Steinhausen beklagte Mangel an kulturhistorischen Or­ dinariaten hat zweifellos Traditionsbildungen verhindert, welche der Kulturgeschichte einen auf Dauer angelegten institutionellen Ort an deutschen Hochschulen hätten sichern können und damit wesentlich zum Geltungsverlust kulturhistorischer Forschung im 20. Jahrhundert beigetragen, er kann jedoch kaum als Beleg für eine vollständige Verdrän­ gung der Kulturgeschichte aus dem akademischen Bereich gelten. Das in der Forschung bisweilen entworfene Bild der Kulturgeschichte als randständigem Deutungsansatz und der Kulturhistoriker als akademischer Außenseiter ist denn auch zumindest ungenau.34 30

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Georg Steinhausen: Georg Steinhausen. In: Sigfrid Steinberg (Hg.): Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Leipzig 1925. S. 233–274. Vgl. Hans Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung. Bd. 1: Vom Ende des 18. bis Ende des 19. Jahrhunderts. Waltrop 2002 (Wissen und Kritik. Bd. 24). S. 936f. sowie Ders.: Kulturgeschichte neben und zwischen Seminaren und Fakultäten. In: Werner Freitag (Hg.): Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. Beiträge des Kolloquiums ‚125 Jahre Histori­ sches Seminar an der Universität Halle‘ am 4./5. November 2000. Halle/S. 2002. S. 93–107, hier S. 95–97. Zur Entwicklung der Zahl der historischen Ordinariate vgl. Wolfgang Weber: Priester der Klio. Historisch­sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970. 2., durchgesehene und durch ein Vor­ wort erg. Aufl. Frankfurt a. M. u. a. 1987. S. 53. Vgl. Haas: Historische Kulturforschung (Anm. 7). S. 258–262. Vgl. die Hinweise auf Friedrich von Bezold und Alfons Dopsch in Haas: Historische Kulturfor­ schung (Anm. 7). S. 259. In größerer Zahl als an deutschen, fanden sich allerdings an österrei­ chischen und schweizerischen Universitäten Geschichtsprofessoren mit erkennbarer kulturhistori­ scher Ausrichtung (vgl. Schleier: Kulturgeschichte neben und zwischen Seminaren und Fakultäten (Anm. 31). S. 95). Die Randständigkeit der Kulturgeschichte, der die „Rolle des Außenseitertums“ zugedacht gewe­ sen sei, hat insbesondere Hans Schleier betont (vgl. z. B. Schleier: Geschichte der deutschen Kul­ turgeschichtsschreibung (Anm. 31). S. 1089).

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So hat die Ablehnung, die Lamprechts Konzeptualisierung kulturhistorischer Analyse bei vielen seiner Kollegen erfuhr, dessen geradezu mustergültige akademische Karriere nicht nachhaltig zu beschädigen vermocht: Bereits der 1890 erfolgte Ruf auf eine ordentliche Professur für Mittelalterliche Geschichte an die Universität Leipzig zeugt von der hohen wissenschaftlichen Anerkennung, die der noch junge Lamprecht in Fachkreisen genoss, zählte die Alma Mater Lipsiensis doch zu den angesehensten Hochschulen Deutschlands.35 Da sich die Beziehungen zwischen Lamprecht und seinen Leipziger Institutskollegen aufgrund persönlicher und wissenschaftlicher Differenzen zunehmend schwierig gestal­ teten, kam es 1908 zu einer Reorganisation des Historischen Seminars, die Lamprecht im darauffolgenden Jahr die Gründung eines unter seiner Leitung stehenden eigenstän­ digen ‚Instituts für Kultur­ und Universalgeschichteʻ ermöglichte.36 Als Ordinarius, als Direktor einer bedeutenden Lehr­ und Forschungseinrichtung und zeitweiliger Rektor der Leipziger Universität verfügte Lamprecht über eine starke Stellung, die nicht zuletzt da­ durch gerechtfertigt wurde, dass es ihm bereits früh gelungen war, auch außerhalb seines engeren akademischen Arbeitsumfeldes vielfältige Funktionen wahrzunehmen. Bereits 1881 hatte er in Bonn als frisch Habilitierter die Gesellschaft für rheinische Geschichts­ kunde mitbegründet,37 und seit 1893 bemühte er sich intensiv und letztlich erfolgreich um die Einrichtung einer Sächsischen Kommission für Landesgeschichte, der er dann bis zu seinem Tod als geschäftsführendes Mitglied vorstand.38 Er gehörte zu den wenigen renommierten Professoren, die von Anfang an die seit 1893 stattfindenden Historikerta­ ge unterstützten und sowohl zu deren Organisation als auch zu deren programmatischer Ausrichtung einen aktiven Beitrag leisteten.39 Als erster Vorsitzender der Gesellschaft 35

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In der Rangfolgeordnung der rund zwanzig Universitäten des Deutschen Reiches nahm Leipzig den dritten Platz ein (vgl. Baumgarten: Professoren und Universitäten (Anm. 20). S. 272). Vgl. auch Markus Huttner: Disziplinentwicklung und Professorenberufung. Das Fach Geschichte an der Universität Leipzig im 19. Jahrhundert. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte. 71. 2001. S. 171–238, hier v. a. S. 206 und S. 225. Zu den Spannungen zwischen den Leipziger Ordinarien vgl. Ulrich von Hehl: Das Fach Geschichte an der Universität Leipzig vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ende des „Dritten Reiches“. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte. 141/142. 2005/2006. S. 369–392 passim. Die Gründe für die Aufspaltung des Historischen Instituts in Leipzig diskutiert Matthias Middell in seiner dreibän­ digen Monographie zur Geschichte des Instituts für Kultur­ und Universalgeschichte ausführlich (vgl. Matthias Middell: Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professio­ nalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur­ und Universalgeschichte 1890–1990. 3 Bde. Leipzig 2005 (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert. Bd. 6/1–3). S. 152–215). Zur Gründungsgeschichte des Leipziger Instituts für Kultur­ und Universalgeschichte vgl. auch Matthias Middell: Lehre und Forschung im Gebiet der Kultur­ und Universalgeschichte instituti­ onalisieren? Das Beispiel Leipzig. In: Matthias Middell/Gabriele Lingelbach/Frank Hadler (Hg.): Historische Institute im internationalen Vergleich. Leipzig 2001 (Geschichtswissenschaft und Ge­ schichtskultur im 20. Jahrhundert. Bd. 3). S. 85–110. Schorn­Schütte: Karl Lamprecht (Anm. 10). S. 44–52. Vgl. Gerald Wiemers: Die Anfänge der Sächsischen Kommission für Geschichte. In: Reiner Groß (Hg.): Geschichtsforschung in Sachsen. Von der Sächsischen Kommission für Geschichte zur His­ torischen Kommission bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, 1896–1996. Stuttgart 1996. S. 13–43. Schorn­Schütte: Karl Lamprecht (Anm. 10). S. 235–246. Zu Lamprechts Rolle in der Frühphase der Historikertage vgl. Matthias Middell: Die ersten Historikertage in Deutschland 1893–1913. In:

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für Hochschulpädagogik setzte er sich außerdem für die Zusammenlegung der von ihm präsidierten Vereinigung mit dem Deutschen Hochschullehrertag ein und entfaltete in diesem Zusammenhang weitreichende wissenschaftsorganisatorische Aktivitäten, deren Ziel – eine grundlegende Universitätsreform – sich allerdings als unerreichbar erweisen sollte.40 Und schließlich tat sich Lamprecht als Herausgeber historischer Fachzeitschrif­ ten hervor: Von 1881 bis 1891 war er Mitherausgeber der ‚Westdeutsche[n] Zeitschrift für Geschichte und Kunst‘; nachdem er vergeblich versucht hatte, sich als Nachfolger Heinrich von Sybels, des Herausgebers der ‚Historischen Zeitschrift‘, in Stellung zu bringen, übernahm er 1896 für zwei Jahre die Redaktion der ‚Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft‘. Wenn Roger Chickering die akademische Biographie Karl Lamprechts als „heroische Tragödie“ eines Hochbegabten imaginiert, der die „Patriarchen der historischen Zunft“ herausfordert und daraufhin mit vollständiger Ächtung bestraft wird,41 zeichnet er ein zwar einprägsames, jedoch, wie er selber einräumt, eindimensionales Bild des Leipziger Gelehrten. Dem aufmerksamen Betrachter präsentiert sich Lamprecht nicht als randstän­ dige Figur, sondern als in die Netzwerke universitärer Interaktion vielfältig eingebun­ dener Wissenschaftler, der die Instrumente akademischer Geltungssicherung in beein­ druckend souveräner Weise beherrschte. Seine schier unerschöpfliche Energie und sein organisatorisches Talent, das ihm das prekäre Lob eines „Klingelbeutelgenies“ eintrug,42 dürften dabei ohne Zweifel von großem Nutzen gewesen sein. Dass Lamprechts Umtrie­ bigkeit nicht nur der Befriedigung seiner ihm von Gegnern unterstellten Eitelkeit diente,43 sondern wissenschaftliche Früchte trug, war bereits den Zeitgenossen bewusst. Seine Bemühungen um eine Modernisierung und Professionalisierung der landeshistorischen Forschung verschafften ihm innerhalb der Historikerschaft Respekt; das von ihm gegrün­ dete Institut für Kultur­ und Universalgeschichte zog zahlreiche Studierende und Wis­ senschaftler aus dem In­ und Ausland nach Leipzig und ermöglichte zugleich innovative Forschungsvorhaben; die große Zahl von Promotionen schließlich, an denen Lamprecht in Leipzig als Betreuer beteiligt war,44 macht deutlich, dass er auf eine jüngere Historiker­

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Gerald Diesener/Matthias Middell (Hg.): Historikertage im Vergleich. Leipzig 1996. S. 21–43, hier S. 33f. Schorn­Schütte: Karl Lamprecht (Anm. 10). S. 263–268. Roger Chickering: Ein schwieriges Heldenleben. Bekenntnisse eines Biographen. In: Gerald Die­ sener (Hg.): Karl Lamprecht weiterdenken. Universal­ und Kulturgeschichte heute. Leipzig 1993. S. 207–222, hier S. 213. Auch an anderer Stelle zeichnet Chickering mit Blick auf Lamprecht in undifferenzierter Weise das Bild eines aus dem wissenschaftlichen Fachzusammenhang völlig Verbannten (vgl. Roger Chickering: Karl Lamprecht. A Historianʼs History. In: David Wetzel/Theo­ dore S. Hamerow (Hg.): International Politics and German History. The Past Informs the Present. Westport/CT 1997. S. 75–86, hier S. 79). Friedrich Meinecke in einem Brief an Walter Goetz vom 6. September 1916 (Friedrich Meinecke: Ausgewählter Briefwechsel. Hg. von Ludwig Dehio und Peter Classen. Stuttgart 1962. S. 86). So spricht etwa Friedrich Meinecke mit Blick auf Lamprecht von „geschmackloser Eitelkeit“ (vgl. Meinecke: Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 42). S. 15 [Brief an Georg von Below vom 1. De­ zember 1897]). Gerald Diesener spricht von 361 Dissertationen, die Karl Lamprecht begutachtet habe, und betont in diesem Zusammenhang, dass zwischen 1891 und 1914 keine nennenswerte Schwankung in der Zahl der Promotionsverfahren, an denen Lamprecht beteiligt war, zu konstatieren ist (vgl. Ge­

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generation zu wirken vermochte. Nun mag man einwenden, Lamprechts Fall sei singulär, der Umfang seiner akademischen Verpflichtungen und Funktionen nicht repräsentativ für die um 1900 tätigen Kulturhistoriker. Tatsächlich war es nur wenigen unter ihnen vergönnt, hohe universitäre Ämter zu bekleiden und in den Genuss jener akademischen Ehren zu gelangen, die Lamprecht in reichem Maße zu Teil wurden.45 Die Gründe dafür dürften allerdings nicht allein und nicht einmal primär in einer systematischen Ausgren­ zung durch die universitären Gremien liegen: Als Verkörperung der ‚scientific commu­ nity‘ verfügten Letztere zwar über weitreichende Möglichkeiten der Selbstorganisation, da die Hochschulen jedoch formal den Wissenschaftsministerien unterstellt waren, kam der Kultusbürokratie bei der Ausgestaltung akademischer Angelegenheiten eine biswei­ len entscheidende Rolle zu. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das Beispiel Friedrich Theodor Althoffs, der als leitender Beamter im Berliner ‚Ministerium der geist­ lichen­, Unterrichts­ und Medizinalangelegenheiten‘ die preußische Hochschul­ und Wissenschaftspolitik zwischen 1882 und 1907 nachhaltig bestimmte.46 Obwohl er über ein weit gespanntes akademisches Beziehungsnetz verfügte, das er etwa in Berufungs­ fragen zu Rate zog,47 traf Althoff hochschulpolitische Weichenstellungen in durchaus ei­ genständiger Weise. Bestätigt wird dies nicht zuletzt durch die Förderung, die er gleich mehreren Kulturhistorikern angedeihen ließ. Neben Lamprecht, für den sich Althoff wiederholt und bemerkenswert engagiert einsetzte,48 gehörten auch der bereits erwähnte

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rald Diesener: Karl Lamprecht und die Leipziger Universität. In: Diesener (Hg.): Karl Lamprecht weiterdenken (Anm. 41). S. 17–30, hier S. 21f.). Offenkundig hat der historische Methodenstreit zunächst keine Auswirkungen auf Lamprechts Lehrtätigkeit in Leipzig gezeitigt, nach 1900 führte das gespannte Verhältnis Lamprechts zu seinen Instituts­ und Fachkollegen allerdings in einigen Fällen zu Nachteilen für dessen Doktoranden (vgl. Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik. Stuttgart­Bad Cannstatt 1991 (Fundamenta Historica. Bd. 3). S. 456–474). So wurde Karl Lamprecht 1906 zum Ehrenmitglied der American Historical Association ernannt und Ehrendoktor der Universitäten Columbia/New York (1904), St. Andrews/Edinburgh (1911) sowie Kristiania/Oslo (1911) (vgl. Bernhard vom Brocke: Karl Lamprecht. In: Neue Deutsche Bio­ graphie. Hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 13: Krell­Laven. Berlin 1982. S. 467–472, hier S. 471). Zu Friedrich Theodor Althoff vgl. Bernhard vom Brocke (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Wis­ senschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive. Hildes­ heim 1991 sowie Ralph­Jürgen Lischke: Friedrich Althoff und sein Beitrag zur Entwicklung des Berliner Wissenschaftssystems an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Berlin 1990 (Berliner Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik. Bd. 11). Bernhard vom Brocke hat das „kunstvoll ausgebaute Geflecht offizieller und offiziöser persönlicher Beziehungen“, die der preußische Kultusbeamte zu bedeutenden Gelehrten unterhielt, als konstitu­ tives Merkmal, ja als „Hauptcharakteristikum“ des „Systems Althoff“ hervorgehoben (vgl. Bern­ hard vom Brocke: Hochschul­ und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907: das „System Althoff“. In: Peter Baumgart (Hg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs. Stuttgart 1980 (Preußen in der Geschichte. Bd. 1). S. 9–118, hier S. 69f.). Dem jungen Privatdozenten, der ihm von unterschiedlicher Seite empfohlen worden war, schreibt Althoff 1884, er dürfe seiner „wärmsten Sympathien sicher sein“ und er werde gerne alles für ihn tun, was in seinen Kräften stehe (Schorn­Schütte: Karl Lamprecht (Anm. 10). S. 52). In der Tat erhielt Lamprecht in der Folge auf Grund persönlicher Intervention Althoffs, mit dem er über viele Jahre in brieflichem Kontakt stand, zunächst ein Stipendium und schließlich eine Anstellung als Extraordinarius in Bonn, bevor er, wiederum mit Althoffs tatkräftiger Unterstützung, an die Uni­ versität Marburg berufen wurde (vgl. Schorn­Schütte: Karl Lamprecht (Anm. 10). S. 54 und S. 73).

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Steinhausen sowie Eberhard Gothein zu den von Althoff Begünstigten. So bedankt sich Ersterer in einem Brief vom 4. Januar 1894 mit warmen Worten beim „Hochverehrte[n] Herr Geheime[n] Oberregierungsrath“ für einen Zuschuss, den dieser für die ‚Zeitschrift für Kulturgeschichte‘ bewilligt hatte,49 während Letzterer seinem Fürsprecher im preußi­ schen Kultusministerium die Berufung auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie an der Universität Bonn verdankt.50 Ganz offenkundig hat der preußische Hochschuldezernent sich systematisch darum bemüht, auch im Bereich der Geschichtswissenschaft einseiti­ gen Schulbildungen bzw. Machtkonzentrationen entgegenzuwirken und innerhalb eines „konstitutionellen Grundkonsenses“ eine große „Bandbreite historiographischer Positio­ nen“ zuzulassen.51 Althoffs Beispiel ist allerdings nicht nur deshalb interessant, weil es verdeutlicht, in welchem Maße politische Intentionen die Organisation universitärer Wissenschaft be­ stimmen konnten und damit die Grenzen akademischer Autonomie aufzeigt, sondern auch, weil das von Althoff etablierte System der Patronage belegt, dass Kulturhistoriker von der inneruniversitären Netzwerksbildung nicht notwendigerweise ausgeschlossen bleiben mussten. Lamprecht beispielsweise hätte ohne die Empfehlung durch einfluss­ reiche Gelehrte kaum jenen akademischen Status erreicht, der es ihm ermöglichte, seine unorthodoxen Ansichten öffentlich zu verbreiten;52 Lamprechts Gegner Georg von Below wiederum musste erfahren, dass seine Ambitionen auf einen Berliner Lehrstuhl nicht zu­ letzt am erbitterten Widerstand des mit kulturhistorischen Positionen sympathisierenden Nationalökonomen und Historikers Gustav Schmoller scheiterten, der als enger Bera­

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Zum Verhältnis zwischen Althoff und Lamprecht vgl. auch Roger Chickering: Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856–1915). Atlantic Highlands 1993. S. 85–87. Althoff hatte, wie dem Schreiben zu entnehmen ist, der von Steinhausen herausgegebenen Zeit­ schrift eine außerordentliche Beihilfe von 300 Reichsmark gewährt, vgl. Lars Deile: Kulturge­ schichte als Kulturkritik. Nachfragen bei Georg Steinhausen. München 2008. S. 103. Bereits 1891 hatte Althoff sich bemüht, Steinhausen eine Anstellung in der Königlichen Bibliothek in Berlin zu verschaffen, ein Angebot, das dieser allerdings ablehnte, vgl. Lars Deile: Drei Niederlagen und ein Neuanfang. Georg Steinhausen (1866–1933). In: Matthias Steinbach/Michael Ploenus (Hg.): Ketzer, Käuze, Querulanten. Außenseiter im universitären Milieu. Jena/Quedlinburg 2008 (manuskript. Archiv zur Bildungs­ und Wissenschaftsgeschichte. Bd. 5). S. 249–262, hier S. 249f. Zu Gotheins Berufung nach Bonn vgl. Michael Maurer: Eberhard Gothein (1853–1923). Leben und Werk zwischen Kulturgeschichte und Nationalökonomie. Köln/Weimar/Wien 2007. S. 131–133. Wolfgang Neugebauer: Wissenschaftsautonomie und universitäre Geschichtswissenschaft im Preu­ ßen des 19. Jahrhunderts. In: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910. München 2010 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. Bd. 76). S. 129–148, hier S. 148. So hat etwa der Verfassungshistoriker Carl von Noorden seinen Schüler Lamprecht ungeachtet wissenschaftlicher Differenzen 1880 mit dem Hinweis auf dessen glänzende Begabung Heinrich von Sybel anempfohlen (Schorn­Schütte: Karl Lamprecht (Anm. 10). S. 39) und auch der zu den engsten Beratern Friedrich Althoffs zählende Gustav Schmoller, dem Lamprecht in seinem Denken in vielfältiger Weise verpflichtet ist, hat aus seinen Sympathien für die maßgeblich von Kultur­ historikern verteidigten ‚neuen Richtungen‘ in der Geschichtswissenschaft keinen Hehl gemacht. Sie seien, wie er in einer Rede über Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke hervorhebt, ebenso wenig „unberechtigt“ wie „die weitere Spezialisierung der Forschung und die Wendung zu einer noch realistischeren Behandlung der Geschichte in Darstellung und Kausalerklärung“ (Gus­ tav Schmoller: Charakterbilder. München/Leipzig 1913. S. 189–221, hier S. 220).

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ter Althoffs die preußische Besetzungspolitik maßgeblich mitgestaltete.53 Von den nicht nur die preußischen Universitäten charakterisierenden akademischen Mechanismen der Ämter­ und Mittelvergabe – Theodor Mommsen spricht 1894 in einem Brief an seinen Schwiegersohn, dem ebenfalls von Althoff protegierten Altphilologen Ulrich von Wila­ mowitz­Möllendorff von „Willkürregiment“ und „Favoritenwirtschaft“54 – hat demnach nicht allein die Politik­, sondern auch die Kulturgeschichte profitiert. Dass das Verhältnis zwischen den beiden hier interessierenden ‚Schulen‘ osmo­ tischer war als bisweilen dargestellt, dass die oft eher auf persönlicher Sympathie als auf inhaltlicher Kongruenz beruhenden akademischen Beziehungssysteme diskursiv er­ zeugte Gräben zu überbrücken vermochten, zeigt auch der Blick auf die um 1900 in Deutschland erscheinenden historischen Fachzeitschriften: Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts markiert die Herausbildung eines auffällig dynamischen wissenschaftlichen Zeitschriftenmarkts und in deren Gefolge die Etablierung einer Reihe von historischen Fachjournalen nicht nur in Deutschland.55 Neben allgemeinhistorischen Periodika wie der 1859 gegründeten ‚Historischen Zeitschrift‘ sind in diesem Zusammenhang Fach­ organe mit geographischer Fokussierung zu erwähnen, etwa die landesgeschichtlichen Zeitschriften oder die programmatisch auf die deutsche Historie ausgerichtete ‚Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft‘, sowie jene historischen Fachjournale, die sich auf ein spezifisches Forschungsfeld konzentrierten, wie etwa die ‚Zeitschrift für Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte‘.56 Zu letzteren ist auch die seit 1894 erscheinende, von Ge­ org Steinhausen herausgegebene ‚Zeitschrift für Kulturgeschichte‘ – später umbenannt in ‚Archiv für Kulturgeschichte‘ – zu zählen.57 Sie stand insbesondere kulturhistorisch orientierten Geschichtsforschern offen, war jedoch keinesfalls die einzige publizistische Plattform, deren sich diese bedienten. So hat Lamprecht Beiträge in so unterschiedlichen Journalen wie der ‚Westdeutschen Zeitschrift für Geschichte und Kunst‘, den ‚Jahrbü­ 53 54 55

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Vgl. Cymorek: Georg von Below (Anm. 9). S. 52–55. Vgl. Stefan Rebenich: Theodor Mommsen. Eine Biographie. München 2002. S. 146. Vgl. dazu die Studie von Margaret F. Stieg: The Origin and Development of Scholarly Historical Periodicals. Alabama 1986. Zur ‚Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft‘ vgl. Stieg: Scholarly Historical Periodicals (Anm. 55). S. 85–102 sowie v. a. Cathrin Friedrich: „…daß die gegenwärtige Lage der histori­ schen Wissenschaften den Fortbestand zweier allgemeiner historischer Zeitschriften als dringend wünschenswert erscheinen lässt.“ Die Rolle der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft / Historischen Vierteljahrsschrift in der deutschen Geschichtswissenschaft. In: Matthias Middell (Hg.): Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich. Leipzig 1999 (Geschichtswissen­ schaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert. Bd. 2). S. 93–132. Zur ‚Zeitschrift für Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte‘ – die nach kurzem Unterbruch seit 1903 als ‚Vierteljahrschrift für Sozi­ al­ und Wirtschaftsgeschichte‘ erschien – vgl. Stieg: Scholarly Historical Periodicals (Anm. 55). S. 103–123 sowie v. a. Wolfgang Zorn: „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ und „Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte“. Zwei Zeitschriften in der Vorgeschichte der VSWG 1863–1900. In: Vier­ teljahrschrift für Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte. 72. 1985. S. 457–475. Die ‚Zeitschrift für Kulturgeschichte‘ hat sich erst nach mehreren Anläufen als ernst zu nehmendes historisches Fachorgan etabliert. Zur Vorgeschichte sowie zu Georg Steinhausens Tätigkeit als He­ rausgeber der Zeitschrift vgl. v. a. Deile: Kulturgeschichte als Kulturkritik (Anm. 49). S. 83–136 und Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung (Anm. 31). S. 597–630 und S. 931–961.

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chern für Nationalökonomie und Statistikʻ, den ,Preußischen Jahrbüchern‘, den ‚Histori­ schen Jahrbüchern‘, der ‚Deutschen Literaturzeitung‘, der ‚Deutschen Zeitschrift für Ge­ schichtswissenschaft‘ oder der ‚Historischen Zeitschrift‘ veröffentlicht, während er nur vereinzelt als Verfasser von Aufsätzen und Rezensionen in Zeitschriften mit explizit kul­ turhistorischer Orientierung in Erscheinung trat.58 Immerhin hat er den ersten Band der ‚Zeitschrift für Kulturgeschichte‘ mit einem längeren Artikel über ‚Deutsches Geistesle­ ben im späteren Mittelalter‘ eröffnet und 1898/99 außerdem einen zweiteiligen Beitrag ‚Ueber die Entwickelungsstufen der deutschen Geschichtswissenschaft‘ beigesteuert.59 Er gehört damit zu einer Reihe mehr oder weniger namhafter Universitätsprofessoren, die deren Herausgeber an sein Periodikum zu binden vermochte. Steinhausens intensive Bemühungen um akademisch arrivierte Autoren erklärten sich aus den weitreichenden Ambitionen, die er mit seinem Projekt verband. Im programmati­ schen Geleitwort, das er dem ersten von ihm verantworteten Jahrgang voranstellt, betont er die Bedeutung der ‚Zeitschrift für Kulturgeschichte‘ als eines Organs „für die große und in aufsteigender Entwickelung begriffene Wissenschaft der Kulturgeschichte“ und verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, als deren Herausgeber dazu beitragen zu können, die „Zersplitterung“ der Kulturgeschichte zu beseitigen und „dieser Wissenschaft dieje­ nige äußere Geltung zu verschaffen, die man ihr bisher noch verweigert“.60 Tatsächlich gelang es Steinhausen, für die ersten der unter seiner Ägide erscheinenden Jahrgänge wissenschaftlich ausgewiesene Beiträger zu gewinnen. Neben mehreren Geschichtsordi­ narien wie etwa Friedrich von Bezold (Bonn), Ernst Bernheim (Greifswald), Jacob Caro (Breslau) oder Henry Simonsfeld (München), gilt es auch den Nationalökonomen Eber­ hard Gothein oder den an der Universität Berlin lehrenden Literaturhistoriker Richard M. Meyer zu erwähnen; ein nicht unerheblicher Teil der Beiträge stammte außerdem aus der Feder von Archivaren, Bibliothekaren und Museumsleuten.61 Zwar hat Steinhausen seine Autoren nur zum Teil aus dem Kreis der universitären Historiker rekrutiert, dennoch sticht der vergleichsweise hohe Anteil an Hochschullehrern und Archiv­, Bibliotheks­ und Museumsdirektoren ins Auge. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Blick auf die ‚Historische Zeitschrift‘: Die den Jahrgang 1894 konstituierenden Bände 72 und 73 enthalten Aufsätze von angesehenen Ordinarien wie Max Lenz, dem Althistoriker Robert Pöhlmann oder Reinhold Koser sowie eine Festrede Heinrich von Sybels und einen Bei­ trag des damals noch nicht habilitierten Mitherausgebers Friedrich Meinecke, daneben 58

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Vgl. die allerdings unvollständigen bibliographischen Verzeichnisse in Schorn­Schütte: Karl Lam­ precht (Anm. 10), S. 342–345 und Haas: Historische Kulturforschung (Anm. 7). S. 517–523. Vgl. Karl Lamprecht: Deutsches Geistesleben im späteren Mittelalter. In: Zeitschrift für Kultur­ geschichte. Neue (4.) Folge der Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte. Hg. von Georg Stein­ hausen. Bd. 1. Berlin 1894. S. 5–49 und Ders.: Ueber die Entwickelungsstufen der deutschen Ge­ schichtswissenschaft. In: Zeitschrift für Kulturgeschichte. 5. 1898. S. 385–420 sowie Zeitschrift für Kulturgeschichte. 6. 1899. S. 1–45. Georg Steinhausen: Zur Einführung. In: Zeitschrift für Kulturgeschichte. 1. 1894. S. 1–4, hier S. 1. Stellvertretend sollen hier der seit 1892 am Staatsarchiv Magdeburg tätige spätere Archivdirektor Georg Winter, der an der Bibliotheca Paulina in Münster als Bibliothekar wirkende Paul Bahlmann sowie Theodor Eduard Hampe, seit 1893 Mitarbeiter am Germanischen Nationalmuseum in Nürn­ berg, genannt werden.

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finden sich allerdings auch längere Beiträge wie diejenigen des preußischen Diplomaten Theodor von Bernhardi, des Berliner Archivrats Paul Bailleu, des seit 1890 als freier wissenschaftlicher Autor tätigen Historikers Martin Philippson sowie Adolf Schaubes und Karl Wittichs.62 Der Vergleich zwischen der in den 1890er Jahren bereits auf eine Jahrzehnte lange Tradition zurückblickenden ‚Historischen Zeitschrift‘ und der noch jun­ gen ‚Zeitschrift für Kulturgeschichte‘ offenbart, dass es zwischen den beiden Periodika hinsichtlich des Autorenprofils zunächst kaum Unterschiede gab.63 Es ist so gesehen we­ nig überraschend, wenn die überwiegende Mehrheit der Historiker in unterschiedlichen Zeitschriften publizierte. Dies gilt nicht nur für Lamprecht, sondern auch für einige der vorgängig genannten Autoren der ‚Historischen Zeitschrift‘, wie der Vergleich mit der ‚Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft‘ – später umbenannt in ‚Historische Vierteljahrsschrift‘ – bestätigt: So haben Reinhold Koser, Robert Pöhlmann, Martin Phi­ lippson oder Adolf Schaube zu Beginn der 1890er Jahre sowohl in der ‚Historischen Zeitschrift‘ als auch in der ‚Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft‘ Aufsätze veröffentlicht.64 In Letzterer sind übrigens auch längere Beiträge von Autoren der ‚Zeit­ schrift für Kulturgeschichte‘ erschienen, so etwa von Friedrich von Bezold, Ernst Bern­ heim oder Henry Simonsfeld.65 Nicht nur mit Blick auf die Autoren, auch in Bezug auf die Herausgeber allgemein­ historischer Fachzeitschriften offenbaren die Verhältnisse um 1900 eine bemerkens­ werte Durchlässigkeit. Friedrich Meinecke, der sich als Herausgeber der ‚Histori­ schen Zeitschrift‘ gegen seinen Konkurrenten Lamprecht durchgesetzt hatte,66 stand in freundschaftlicher Beziehung zu dessen Nachfolger in Leipzig, Walter Goetz, der seit 1911 als Mitherausgeber des ‚Archivs für Kulturgeschichte‘ tätig war; Georg von Below wiederum, der zwischen 1889 und 1890 gleich zwei Artikel zu der später von Lamprecht betreuten ‚Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaftʻ beigesteuert 62

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Zum beruflichen Status der beiden letztgenannten Autoren habe ich keine näheren Angaben finden können. In Wolfgang Webers Studie zu den an deutschen Universitäten tätigen Historikern werden sie nicht genannt, vgl. Weber: Priester der Klio (Anm. 31). In seinen Ausführungen über die ‚Zeitschrift für Kulturgeschichte‘ bzw. das ‚Archiv für Kulturge­ schichte‘ verweist Lars Deile auf die zahlreichen Archivare, Bibliothekare und Gymnasialprofesso­ ren, welche Beiträge für das Periodikum verfasst hätten, und erkennt darin einen Indikator für die Außenseiterposition der Kulturgeschichte (vgl. Deile: Kulturgeschichte als Kulturkritik (Anm. 49). S. 111f.). Einer derartigen Interpretation ist entgegenzuhalten, dass für die historischen Fachzeit­ schriften um 1900 generell gilt, dass ihr Autorenstamm sich nicht allein aus dem universitären Bereich rekrutierte. Vgl. die diesbezügliche Tabelle in Friedrich: Die Rolle der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (Anm. 56). S. 109–111. Friedrich: Die Rolle der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (Anm. 56). S. 109–111. Matthias Middell hat rekonstruiert, wie geschickt und zugleich skrupellos Friedrich Meinecke agiert hat, um Karl Lamprecht, den sowohl der Verleger der ‚Historischen Zeitschrift‘, Friedrich August Oldenbourg, als auch die Erben Heinrich von Sybels als möglichen neuen Herausgeber in Betracht gezogen hatten, auszubooten und sich selber in Position zu bringen (vgl. Middell: Weltge­ schichtsschreibung (Anm. 36). S. 119–121). Lamprechts Bemühungen um die Herausgeberschaft der ‚Historischen Zeitschrift‘ dokumentiert der im Anhang zu Theodor Schieder: Die deutsche Ge­ schichtswissenschaft im Spiegel der Historischen Zeitschrift. In: Historische Zeitschrift. 189. 1959. S. 1–104 abgedruckte Briefwechsel der Beteiligten (vgl. S. 80–96).

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hatte,67 fungierte seit 1903 als Mitherausgeber der ‚Vierteljahrschrift für Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte‘.68 Dies ist insofern bemerkenswert, als das Fachorgan sich ei­ nem Feld – der Sozialgeschichte – widmete, dessen Wurzeln tief in die Kulturgeschich­ te reichten69 und außerdem eine Zeitschrift beerbte, welche von sozialdemokratischen Historikern – Ludo Moritz Hartmann und Stephan Bauer – mitbegründet worden war. Ungeachtet inhaltlicher und politischer Differenzen erwies sich die Zusammenarbeit zwischen dem konservativen Below und Hartmann und Bauer, die auch als Herausge­ ber der ‚Vierteljahrschrift für Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte‘ in Erscheinung traten, als konstruktiv und nachhaltig. 1910, im selben Jahr, in dem eine von ihm mitverant­ wortete Briefedition im ‚Archiv für Kulturgeschichte‘ erschien, wurde Below überdies in das Herausgebergremium der ‚Historischen Zeitschrift‘ aufgenommen.70 Wie Matthias Middell zu Recht hervorgehoben hat, bilden historische Zeitschriften zentrale Elemente wissenschaftlicher Institutionalisierung, bieten sie doch einen fes­ ten und allseits anerkannten Rahmen für die Kommunikation zwischen den Angehö­ rigen der ‚scientific community‘ und ermöglichen sie die Herausbildung von Regeln für ebendiese Kommunikation. Ob sie allerdings, wie Middell gleichfalls betont, „der Sichtbarmachung von hierarchischen Beziehungen zwischen den Forschern“ dienen, scheint angesichts des vorgängig Dargelegten fraglich.71 Dass wissenschaftliche Fach­ organe auf „Techniken der Exklusion“ – Middell nennt in diesem Zusammenhang das Rezensionswesen und die Regularien der Manuskriptannahme72 – zurückgreifen konn­ ten, soll hier nicht bestritten werden; die für die Konstitutionsphase des geschichtswis­ senschaftlichen Zeitschriftenmarktes charakteristische Dynamik, die sich nicht nur in zahlreichen Gründungen von Periodika, sondern auch im wiederholten Wechsel der Herausgeber und, dadurch bedingt, in Modifikationen des inhaltlichen Profils manifes­ tierte, macht es jedoch schwierig, das Ausmaß und die Art der Mitarbeit an historischen Fachjournalen als Indikator für den Status eines Forschers innerhalb des akademischen Feldes zu interpretieren. Auch wenn es, wie im Falle der ‚Historischen Zeitschrift‘, deren Herausgeber zunächst Georg von Belows äußerst kritische Rezension zu Lam­ prechts ‚Deutscher Geschichte‘, welche den Auftakt zu dem die deutsche Histori­ kerschaft um die Mitte der 1890er Jahre zunehmend polarisierenden Methodenstreit 67

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Es handelt sich um folgende Mitteilungen: „Die Kölner Richerzeche“ (Deutsche Zeitschrift für Ge­ schichtswissenschaft. 1 1889/I. S. 443–448) und „Zum Ursprung der Deutschen Stadtverfassung“ (Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 1. 1890/II. S. 112–120). Vgl. Cymorek: Georg von Below (Anm. 9). S. 225–230. Vgl. Wolfgang Zorn: „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ und „Sozial­ und Wirtschaftsge­ schichte“. Zwei Zeitschriften in der Vorgeschichte der VSWG 1863–1900. In: Vierteljahrschrift für Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte. 72. 1985. S. 457–475 passim. Bei der erwähnten Briefedition handelt es sich um den Beitrag von Georg von Below/Marie Schulz: Briefe von K[arl] W[ilhelm] Nitzsch an W[ilhelm] Maurenbrecher (1861–1880). In: Archiv für Kulturgeschichte. 8. 1910. S. 305–366 und S. 437–468. Zu Below als Mitherausgeber der ‚Histori­ schen Zeitschrift‘ vgl. Schieder: Die deutsche Geschichtswissenschaft (Anm. 66). S. 19. Matthias Middell: Vom allgemeinhistorischen Journal zur spezialisierten Liste im H­Net. Gedan­ ken zur Geschichte der Zeitschriften als Elementen der Institutionalisierung moderner Geschichts­ wissenschaft. In: Middell: Historische Zeitschriften (Anm. 56). S. 7–31, hier S. 22. Middell: Historische Zeitschriften (Anm. 56). S. 23.

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bildete,73 in Auftrag gaben und in der Folge Lamprecht nur unter restriktiven Bedingun­ gen die Möglichkeit einer Stellungnahme einräumten,74 zu massiven Einflussnahmen von Seiten einzelner Verantwortlicher gekommen ist, bot die um 1900 bereits stark ausdifferenzierte Zeitschriftenlandschaft Ausweichoptionen. Da außerdem die Repu­ tationsunterschiede zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Periodika ange­ sichts der Tatsache, dass auch renommierte Geschichtsordinarien in unterschiedlichen Fachorganen veröffentlichten, nicht allzu groß gewesen sein dürften, spricht Vieles da­ für, dem Publikationsort historiographischer Veröffentlichungen keine übermäßige Be­ deutung zuzusprechen. Auch im Umfeld der um 1900 verschärften innerdisziplinären Debatten, so das Fazit, bildeten Fachzeitschriften in der Regel nicht die uneinnehmbare Bastion einer bestimmten Schule. Wenn, wie im Fall der ‚Historischen Zeitschrift‘, die sich vorübergehend als kämpferische Plattform der Politikgeschichte gerierte, ein Fachorgan primär einer spezifischen, konzeptionell homogenen Gruppierung zur Ver­ fügung stand, boten sich für die Ausgeschlossenen Alternativen an. Der Blick auf den publizistischen Markt um 1900 zeigt denn auch, dass von einer vollständigen Verban­ nung kulturhistorischer Positionen aus dem akademischen Diskursraum nicht die Rede sein kann; vielmehr ist zu konstatieren, dass ein dichtes Gefüge mehr oder weniger spezialisierter Fachzeitschriften gerade im Bereich der Geschichtswissenschaft eine vielstimmige Auseinandersetzung um Themenfelder und Methoden historischer For­ schung gewährleistete. Die bisherigen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass die Wahrnehmung der Kulturgeschichte als einer sich im Abseits akademischer Interaktion bewegenden „Oppositionswissenschaft“75 der Revision bedarf. Auch wenn mein knapper und selekti­ ver Blick auf ausgewählte wissenschaftliche Institutionen und Netzwerke die Ansprüche 73

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Zur Vorgeschichte besagter Rezension vgl. Cymorek: Georg von Below (Anm. 9). S. 195–198. Cymorek erwähnt in diesem Zusammenhang, dass die in der Rezension formulierte Unterstel­ lung, Lamprecht sei ein „Anhänger der jetzt blühenden materialistischen und physiologischen Geschichtsbetrachtung“, nicht vom Verfasser der Rezension stammte, sondern vom Herausgeber, Heinrich von Sybel, ohne Wissen Belows eingefügt worden war (vgl. Cymorek: Georg von Below (Anm. 9). S. 196). Vgl. beispielsweise den 77. Band der ‚Historischen Zeitschrift‘ (1896), in dem Max Lenz eine ebenso umfangreiche wie kritische Rezension zum 5. Band von Lamprechts ‚Deutscher Geschich­ te‘ veröffentlichte (S. 385–447), während Lamprecht für seinen in die Rubrik ‚Miscellen‘ verbann­ ten Beitrag ‚Zum Unterschiede der älteren und jüngeren Richtungen der Geschichtswissenschaft‘ (S. 257–261) nicht mehr als fünf Seiten zugestanden wurden. Auf Lamprechts Beitrag folgte um­ gehend eine „Erwiderung“ des Herausgebers (vgl. S. 262–266). Nachdem Georg von Below im 81. Band der ‚Historischen Zeitschrift‘ (1898) unter dem Titel ‚Die neue historische Methode‘ eine weitere scharfe Abrechnung mit Lamprechts kulturgeschichtlichem Ansatz veröffentlicht hatte (S. 193–273), verhinderte Friedrich Meinecke, wie er in einem Brief an Below bestätigt, eine aus­ führliche Entgegnung Lamprechts. Dem Leipziger Kollegen wurde immerhin eine kurze Antwort erlaubt, weil – so Meineckes Begründung – ‚auf einen so schweren und wuchtigen Angriff wie der Ihrige dem Angegriffenen, wenn er auch wie hier sein Schicksal reichlich verdient hat, doch wenigstens ein kurzes Wort der Entgegnung gegönnt werden kann, und damit in den Augen minder orientierter Leser auch der Schein einer einseitigen Totschlägerei vermieden werde‘ (Meinecke: Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 42). S. 16). Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung (Anm. 31). S. 1089.

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systematischer Analyse nicht zu erfüllen vermag, genügt er doch, um die These einer in­ stitutionellen Schwäche kulturhistorischer Forschung zu relativieren. Zwar trifft zu, dass es nicht gelungen ist, Kulturgeschichte durch die Schaffung entsprechender Professuren als eigenständige universitäre Subdisziplin auf lange Sicht zu etablieren, dennoch steht fest, dass um 1900 auch die Verfechter kulturhistorischer Ansätze Zugang zu universi­ tären Ämtern, akademischen Netzwerken und wissenschaftlichen Zeitschriften hatten. Dass ihnen die Verankerung in einer überregional vernetzten Organisation fehlte – Karl Biedermanns Versuch, einen gesamtdeutschen Verein für Kulturgeschichte zu gründen, war kein nachhaltiger Erfolg beschieden –,76 dass es ihnen, nicht zuletzt aufgrund der nicht nur von Steinhausen beklagten ‚Zersplitterung‘ nicht gelang, zu einem methodi­ schen Konsens zu finden,77 oder dass ihre Forschungen nicht selten den Eindruck einer gewissen methodischen Unbekümmertheit erweckten,78 hat deren Partizipation an wissen­ schaftlicher Kommunikation nicht prinzipiell verhindert. Dies dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass auch nicht wenige jener Historiker, welche im Staat den Angel­ punkt historischer Reflexion erkannten, ihrem Beruf in Archiven, Bibliotheken, Muse­ en oder Gymnasien nachgingen, dass auch sie durchaus unterschiedliche methodische Ansätze vertraten79 und dass auch ihre Veröffentlichungen bisweilen von theoretischem 76

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Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung (Anm. 31). S. 567–569. Die Ziele, die Biedermann mit der von ihm initiierten Vereinsgründung verband, hat er 1857 in einem pro­ grammatischen Aufsatz dargelegt, (vgl. Karl Biedermann: Die Stellung der Kulturgeschichte in der Gegenwart mit besonderer Hinsicht auf die Idee eines kulturgeschichtlichen Vereins. In: Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte. 2. 1857. S. 67–73). Auch Steinhausens Versuch, eine ‚Gesellschaft für deutsche Kulturgeschichte‘ zu gründen, fand keine nachhaltige Resonanz (vgl. Haas: Histori­ sche Kulturforschung (Anm. 7 ). S. 266). Die auch und wesentlich durch die Vereinzelung der Kulturhistoriker begründete konzeptionelle Heterogenität der Kulturgeschichte – Steinhausen spricht in diesem Zusammenhang von der Kul­ turgeschichte als „ein[em] umstrittene[m] Gebiet“ (Steinhausen: Die Geschichtswissenschaft in Selbstdarstellungen (Anm. 30). S. 233) – ist in der Forschung wiederholt hervorgehoben worden. So unterscheidet Hans Schleier, der an einer Stelle von der „Buntscheckigkeit“ der Kulturgeschich­ te spricht (Hans Schleier: Deutsche Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts. Über Gegenstand und Aufgaben der Kulturgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft. 23. 1997. S. 70–98, hier S. 74), eine Vielzahl teilweise in Widerspruch zueinander stehender Leitideen (vgl. Hans Schleier: Kul­ turgeschichte im 19. Jahrhundert: Oppositionswissenschaft, Modernisierungsgeschichte, Geistes­ geschichte, spezialisierte Sammlungsbewegung. In: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs. Bd. 3: Die Epoche der Historisierung. Frankfurt a. M. 1997. S. 424–446, hier S. 427–429) und Gangolf Hübinger konkretisiert den hier interessierenden Befund, indem er zwischen unterschiedlichen ‚Typen‘ und ‚Phasen‘ der Kulturgeschichte differenziert (Gangolf Hü­ binger: Konzepte und Typen der Kulturgeschichte. In: Wolfgang Küttler (Hg.): Geschichtsdiskurs. Bd. 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880–1945. Frankfurt a. M. 1997. S. 136–152). Zu den verschiedenen ‚Phasen‘ der Kulturgeschichte vgl. auch die konzise Darstellung in Hans Schleier: Historisches Denken in der Krise der Kultur. Fachhistorie, Kulturge­ schichte und Anfänge der Kulturwissenschaften in Deutschland. Göttingen 2000 (Essener Kultur­ wissenschaftliche Vorträge. Bd. 7). S. 49–71. Tschopp/Weber: Grundfragen der Kulturgeschichte (Anm. 22). S. 58. So weist beispielsweise Harald A. Wiltsche: „…wie es eigentlich geworden ist“. Ein wissenschafts­ philosophischer Blick auf den Methodenstreit um Karl Lamprechts Kulturgeschichte. In: Archiv für Kulturgeschichte. 87. 2005. S. 251–284, hier S. 258f. auf unterschiedliche Richtungen innerhalb der politischen Geschichte hin.

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Desinteresse und methodischer Unbedarftheit zeugten. Wenn nun aber der von Below im Rückgriff auf den Ausgang des historischen Methodenstreits behauptete ‚Bankrott‘ kul­ turhistorischer Forschung weder mit konzeptionellen noch mit institutionellen Defiziten zu erklären ist, bedarf es einer anderen Begründung für den triumphalen Gestus, mit dem Lamprechts Gegner nach 1900 das Scheitern der Kulturgeschichte verkünden konnten. Die Durchsetzung einer sich auf historistische Positionen berufenden „disziplinären Matrix“80 und die damit verbundene, von Historikern wie Below, Max Lenz, Felix Rach­ fahl und Hermann Oncken betriebene oder zumindest behauptete Marginalisierung kul­ turhistorischer Forschung um 1900 kann, dies gilt es zu betonen, nur als multikausales Geschehen adäquat verstanden werden.81 Dass die Kulturgeschichte, oder zumindest jene Richtungen, welche sich erkühnten, der „idealistische[n] Geschichtswissenschaft“ einen „selbstbewusste[n] nackte[n] Empirismus“ entgegenzusetzen,82 im Zuge des historischen Methodenstreits nicht nur in den Augen der beteiligten politischen Historiker ins Hinter­ treffen geriet, hängt allerdings wesentlich mit jener von Bourdieu postulierten „Rhetorik des Setzungs­Diskurses“ zusammen, mittels derer sich Sprecher regelmäßig als autori­ sierte und autoritative Instanzen zu positionieren versuchen.83 Die komplexen Wechsel­ beziehungen zwischen den Verfechtern der Politik­ bzw. der Kulturgeschichte spiegeln in exemplarischer Weise die Mechanismen gelingender und verfehlter Selbstautorisierung und die Rolle, die öffentlicher Kommunikation in diesem Zusammenhang zukommt. Von der Hypothese ausgehend, dass es weniger die Kraft der Argumente als vielmehr die auf wissenschaftliche Selbstermächtigung zielenden Kommunikationsmodi waren, welche den sich der Politikgeschichte zurechnenden Professoren zu ihrer dominierenden Stellung verhalfen, untersuche ich deshalb im dritten und letzten Teil meines Beitrags, welcher rhetorischer Strategien sich die Repräsentanten einer politisch orientierten His­ toriographie bedienten, um ein Reputationsgefälle zu plausibilisieren, das ihren besonde­ ren Status zu begründen in der Lage war. Dabei konzentriere ich mich auf einen für die Formierung der Historikerschaft als akademische Zunft zentralen, jedoch bislang in der Forschung merkwürdig unterbelichteten Begriff – denjenigen des ‚Dilettanten‘ bzw. des ‚Dilettantismus‘ –, dessen Gebrauch beispielhaft veranschaulicht, wie die Exponenten einer auf den Staat als Telos der Geschichte fokussierten Historiographie versucht haben, sich dadurch als akademische Elite zu autorisieren, dass sie ihren Antipoden die szienti­ fische Dignität absprachen.

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Jaeger/Rüsen: Geschichte des Historismus (Anm. 15). S. 41. Vgl. dazu die immer noch maßgebliche Studie von Haas: Historische Kulturforschung (Anm. 7). Below: Die deutsche Geschichtschreibung (Anm. 1). S. 84. Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Übersetzt aus dem Französischen von Hella Beister. Wien 1990. S. 75.

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III. Der Begriff des ‚Dilettanten‘ ist keine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts, sondern reicht in die Aufklärung zurück. Im Deutschen seit den 1760er Jahren belegt,84 erfährt er um 1800 im Kontext der Ausprägung einer neuen, um das ‚Genie‘ zentrierten Ästhetik eine erste Konjunktur und findet in der Folge Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs. So insistiert etwa Adolph Schmidt, der verantwortliche Redakteur der von 1844 bis 1848 erscheinenden ‚Zeitschrift für Geschichtswissenschaft‘ im Vorwort zum ersten Jahrgang auf der Notwendigkeit, dem ‚wissenschaftlichen Dilettantismus‘ entgegenzusteuern: Ge­ schichtswissenschaft, so die Mahnung, sei zu einem Tummelplatz von Liebhabern der Historie geworden, „der Dilettantismus, und in seinem Gefolge die Fabrikationssucht, [seien] über die Geschichte gekommen und die Wissenschaft dien[e] Vielen entweder zum Kinderspiel oder zum Zeitvertreib, oder zu Speculationen und feilem Gewerbe. […] Statt des Goldes bekommen wir Schlacken, der ächte Reinigungsprocess durch die Be­ rufenen wird behindert und erschwert, der Gewinn verwandelt sich in Verlust und die Kunst der Forschung gerät in Misscredit“.85 Als remedium empfiehlt Schmidt die „Kritik“, mithin jenes Mittel, das es erlaube, zwischen wissenschaftlich fundiertem und dilettanti­ schem Geschichtsstudium zu unterscheiden.86 Leitender Gesichtspunkt dieser Kritik habe die „Wahrheit der Thatsachen und der Gedanken“ zu sein, eine Wahrheit, die sich, wie Schmidt betont, nie im Besitz einer einzigen Person oder Schule befinden dürfe, sondern das Ergebnis eines aufrichtigen Ringens Vieler nach Erkenntnis darstelle, ein Ringen, das auch den Zweifel, den „ewigen Trieb der Wissenschaft“ zulassen müsse.87 Adolph Schmidts frühe Auseinandersetzung mit dem Problem des Dilettantismus findet ihr Echo in Georg Waitzʼ programmatischen Überlegungen im ersten Jahrgang der ‚Historischen Zeitschrift‘: Waitz, wie Schmidt ein Schüler Rankes, begrüßt in seinem an den Heraus­ geber gerichteten Schreiben durchaus, dass die Zeitschrift nicht ausschließlich „gelehrte Specialuntersuchungen“ bieten wolle, sondern sich als ein Periodikum verstehe, das ihren Gegenstand so behandeln müsse, „daß auch andere als die Männer von Fach daran theil­ nehmen können“.88 Zugleich jedoch warnt er vor dem Übel des Dilettantismus, unter dem, wie er meint, die Geschichte wie wohl keine andere Wissenschaft zu leiden habe. Nament­ lich die „provinciellen historischen Vereine“ sind ihm ein Dorn im Auge, da sie zwar durch Quellenveröffentlichungen „für die specialhistorische Forschung Erhebliches“ leisteten, jedoch weder fähig noch befugt seien, sich jenen Fragen zu widmen, die das genuine Ar­ beitsfeld der akademischen Historiographie bildeten.89 In unserem Zusammenhang beson­ ders aufschlussreich sind Waitzʼ Ausführungen deshalb, weil sie eine Kongruenz zwischen der Abwehr des Dilettantismus und dem Kampf gegen ‚falsche Richtungen‘ innerhalb der 84

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Vgl. Laurenz Lütteken/Stephan Brakensiek: Dilettant. In: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 2: Beobachtung–Dürre. Stuttgart/Weimar 2005. Sp. 1021–1025, hier Sp. 1021. Adolph Schmidt: Vorwort. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 1. 1844. S. III–XII, hier S. VII. Schmidt: Vorwort. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 1. 1844. S. VIII. Schmidt: Vorwort. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 1. 1844. S. VIIIf. Waitz: Falsche Richtungen (Anm. 12). S. 18. Waitz: Falsche Richtungen (Anm. 12). S. 20f.

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Geschichtswissenschaft insinuieren und damit eine argumentative Strategie antizipieren, deren sich später auch Lamprechts Gegner bedienen sollten. Obwohl Waitz in ähnlicher Weise, wie dies Adolph Schmidt getan hatte, ein pluralistisches Wissenschaftsverständnis vertritt, zieht er nämlich eine klare Grenze zwischen den ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Auffas­ sungen historischer Forschung: „Aber wenn wir auch fern davon sind, zu behaupten, daß nur Ein Weg der rechte sei und nur in Einer Weise der Wissenschaft gedient werden könne, so müssen wir uns doch sehr entschieden dagegen verwahren, daß alle möglichen Wege berechtigt sein sollen, daß alles, was sich unter dem Namen und einem gewissen äuße­ ren Schein der Wissenschaft einführt, auch wirklich dieser zugerechnet werden dürfe“.90 Die „krankhaft[en] und verderblich[en]“ Richtungen nun seien „offen, entschieden, rück­ sichtlos“ zu bekämpfen, und dabei dürfe sich auch die neu gegründete Zeitschrift „nicht scheuen, mit dem Schwerte dreinzuschlagen, […] Unkraut auszujäten, und wenn sie einen ordentlichen Haufen beieinander hat, ein lustiges Feuer davon zu machen“.91 Es ist der hier legitimierte Duktus des „Ausschließens und Verwerfens“,92 der den Kommunikationsmodus einiger jener Autoren kennzeichnet, die sich gut drei Jahrzehnte später in der ‚Historischen Zeitschrift‘ zu Wort melden sollten, um Lamprechts ‚Natura­ lismus‘93 einer radikalen Kritik zu unterziehen. Dabei schwingt in der Denunziation des von Lamprecht vertretenen kulturgeschichtlichen Ansatzes als einer ‚falschen Richtung‘ implizit und bisweilen auch explizit der Vorwurf des Dilettantismus mit. So hält Ge­ org von Below in ‚Die neue historische Methode‘ fest, die Geschichtswissenschaft habe „nächst der Wissenschaft der neueren Literaturgeschichte und der Nationalökonomie die größte Zahl solcher Mitarbeiter, die auf der Grenze der wissenschaftlichen Thätigkeit und des reinen Dilettantismus stehen“, um gleich anzufügen: „Aus deren Kreise ist Lamp­ recht der lauteste Beifall zu Theil geworden“.94 Nur wenige Jahre später stellt Max Weber – auch er ein Kritiker Lamprechts – dessen „stark dilettantische[n] kunsthistorische[n] Konstruktionen“ die „nüchterne Gewissenhaftigkeit“ des Nationalökonomen und Leh­ rers Lamprechts Wilhelm Roscher entgegen.95 Der Vorwurf des Dilettantismus trifft kei­ nesfalls nur den Leipziger Mediävisten; er bildet vielmehr einen konstitutiven Bestand­ teil der gegen die Kulturgeschichte gerichteten Argumentarien. Bereits Dietrich Schäfer hatte in seiner den historischen Methodenstreit inaugurierenden Tübinger Antrittsvorle­ sung über ‚Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte‘ der Kulturgeschichte die wis­ senschaftliche Daseinsberechtigung abgesprochen und die Erforschung der „Gebräuche und Bedürfnisse des tagtäglichen Lebens“ als Liebhaberei deklariert,96 und Friedrich 90 91 92 93 94

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Waitz: Falsche Richtungen (Anm. 12). S. 19. Waitz: Falsche Richtungen (Anm. 12). Waitz: Falsche Richtungen (Anm. 12). S. 28. Vgl. Below: Die deutsche Geschichtschreibung (Anm. 1). S. 98. Georg von Below: Die neue historische Methode. In: Historische Zeitschrift. 81. 1898. S. 193–273, hier S. 194. Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winckelmann. 3. Aufl. Tübingen 1968. S. 1–145, hier S. 25 Anm. 5. Vgl. Dietrich Schäfer: Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte. Akademische Antrittsrede ge­ halten den 25. Oktober 1888. Jena 1888. S. 28f.

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Meinecke betont noch im Geleitwort zum 100. Band der ‚Historischen Zeitschrift‘ 1908, Gegenstand historischer Analyse hätten „Staat und Nation“ zu sein, da andernfalls die Geschichtswissenschaft „einem vagen Dilettantismus verfallen“ würde.97 Die vorgängig zitierten Stellen dürften deutlich gemacht haben, dass ‚Dilettantismus‘ weniger einen klar definierten Tatbestand darstellt, als vielmehr als beliebig einsetzbares Schlagwort fungiert. Kaum einer der Autoren, die den Begriff ins Feld führen, hat sich denn auch die Mühe gemacht, ihn systematisch zu erläutern. Waitz spricht im bereits erwähnten Brief an den Herausgeber der ‚Historischen Zeitschrift‘ ohne weitere Präzi­ sierung von „Halbkundigen“, deren Zugang zur Historie „meist unkritisch, unwissen­ schaftlich“ erfolge,98 und Max Weber erkennt im Dilettanten den Liebhaber der Wissen­ schaft, der sich vom Fachmann dadurch unterscheide, dass ihm „die feste Sicherheit der Arbeitsmethode fehlt“.99 Dem Dilettanten, so hatte schon Below mit Blick auf Wilhelm Riehl stellvertretend für die „dilettantische[n] Kulturhistoriker“100 hervorgehoben, stehe „die Sicherheit der wissenschaftlichen Methode nicht zur Verfügung“,101 ein Vorwurf, der immer im Raum stand, wenn von Kulturgeschichte die Rede war. Zu deren Lasten wirkte sich außerdem der Verzicht auf einen begrenzten, scharf umrissenen Gegenstandsbereich aus, wie die Zitate Schäfers und Meineckes belegen. Dilettantismus, so die noch von Jacob Burckhardt kritisch reflektierte,102 unter politischen Historikern jedoch verbreitete Auffassung, droht dort, wo das Studium der Geschichte sich in inhaltlicher und metho­ discher Hinsicht als zu wenig fokussiert erweist, wo also nicht ‚der Staat‘, sondern ‚die Kultur‘, nicht die ‚Nationalgeschichte‘, sondern die ‚Universalgeschichte‘ im Zentrum der Forschungsbemühungen stehen und wo neben der historisch­kritischen Methode An­ sätze aus anderen Disziplinen in die Analyse einbezogen werden. Die tragenden Säulen einer als szientifisch zu bezeichnenden Historiographie bilden, so die vorherrschende Auffassung, zum einen ein anerkanntes methodisches Fundament und zum anderen kon­ sequente Spezialisierung, wobei allerdings meist unklar bleibt, ab welchem Punkt der sichere Boden solider Methodik und das ‚eigentliche‘ Arbeitsfeld der Geschichtswis­ senschaft als überschritten zu gelten haben. Das Selbstbewusstsein, mit dem um 1900 Historiker gegen die Dilettanten in ihren eigenen Reihen polemisierten, darf nicht darü­ ber hinwegtäuschen, dass der Begriff ‚Dilettantismus‘ letztlich opak blieb. Er diente als 97

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Friedrich Meinecke: Geleitwort zum 100. Bande der Historischen Zeitschrift. In: Historische Zeit­ schrift. 100. 1908. S. 1–10, hier S. 6. Waitz: Falsche Richtungen (Anm. 12 ). S. 21. Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Ders: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Anm. 95). S. 582–613, hier S. 590. Below: Die deutsche Geschichtschreibung (Anm. 1). S. XI [Inhaltsverzeichnis]. Below: Die deutsche Geschichtschreibung (Anm. 1). S. 69. Burckhardt räumt zwar ein, dass man „[i]n den Wissenschaften […] nur noch in einem begrenzten Zweige Meister sein [könne], nämlich als Specialist“, warnt jedoch davor, „die Fähigkeit der all­ gemeinen Übersicht“ einzubüßen und empfiehlt dem Geschichtsforscher, „auf eigne Rechnung, zu Mehrung der eigenen Erkenntnis und Bereicherung an Gesichtspuncten“ immer auch Dilettant zu sein, weil er sonst „in Allem was über die Specialität hinausliegt, ein Ignorant und unter Umständen im Ganzen ein roher Geselle“ bleibe (Jacob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. Der Text der ‚Weltgeschichtlichen Betrachtungen‘ auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften. Hg. von Peter Ganz. München 1982. S. 253).

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Kampfbegriff, der sich, gerade weil es ihm an begrifflicher Schärfe mangelte, in unter­ schiedlichen Kontexten und gegen Gegner aller Art Verwendung finden konnte. Dass der Vorwurf des Dilettantismus dennoch schwer wog, zeigt das wiederholte Be­ mühen von Kulturhistorikern, die Wissenschaftlichkeit ihrer Forschungstätigkeit her­ auszustellen. Zu nennen ist hier vor allem Georg Steinhausen, der die Notwendigkeit einer hinsichtlich ihres Gegenstands und ihrer Methode systematisch begründeten Kul­ turhistorie immer wieder betont hat. Im bereits erwähnten programmatischen Geleitwort des ersten Jahrgangs der ‚Zeitschrift für Kulturgeschichte‘ beschreibt er diese gleich zu Beginn als ein „Organ, das freilich den Dilettantismus verbannen muß“,103 und in einem zeitgleich veröffentlichten Forschungsbericht, in dem er auf das von ihm ver­ antwortete Fachorgan hinweist, hebt er als „[c]harakteristisch für die neue Zeitschrift […] die Ausschließung des Dilettantismus und das Bestreben, ernste Wissenschaft­ lichkeit mit ansprechender Darstellung zu verbinden“ hervor.104 Steinhausens Verlaut­ barungen zur Kulturgeschichte lassen deutliche Absetzungsbewegungen gegenüber je­ nen „unzulängliche[n] Dilettanten“ und „bloße[n] Kompilatoren“105 erkennen, welche durch ihr Wirken kulturhistorische Forschung in Verruf gebracht hätten. Steinhausens unermüdliche Publikationstätigkeit zielt, wie er in seiner autobiographischen Skizze of­ fenbart, denn auch wesentlich darauf, der Kulturgeschichte wieder „diejenige Achtung erkämpfen [zu] helfen, die ihr zum Teil durch einen auf diesem Gebiete wuchernden Dilettantismus verloren gegangen“ sei.106 In ihrem defensiven Gestus machen Steinhausens Bemühungen um eine wissenschaft­ liche Rehabilitierung der Kulturgeschichte nicht nur deutlich, dass Kulturhistoriker sich dem Verdacht mangelnder Wissenschaftlichkeit in erhöhtem Maße ausgesetzt sahen, sie verraten zugleich das Dilemma, in dem sich die Kulturgeschichte seit dem 19. Jahrhun­ dert befand. Ihre unbestrittene Popularität107 eröffnete Kulturhistorikern auch außerhalb akademischer Institutionen Betätigungsfelder und rief zugleich eine größere Zahl von Adepten auf den Plan, die sich als Lokalhistoriker, Journalisten oder Sammler mit kul­ turgeschichtlichen Themen befassten. Welche Folgen sich daraus für die akademischen Repräsentanten kulturhistorischer Forschung ergeben konnten, führt der Fall Wilhelm Heinrich Riehls exemplarisch vor Augen. Obgleich seit 1859 Ordinarius für Kulturge­ schichte an der Universität München, seit 1862 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und 1873/74 sowie 1883/84 Rektor seiner Alma mater haftete Riehl, der sich zunächst vor allem als Journalist einen Namen gemacht hatte und auch nach seiner Berufung nach München als belletristischer Autor und gefeierter Vortragsredner 103

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Steinhausen: Zur Einführung (Anm. 60). S. 1. Im selben Kontext findet sich zudem folgende op­ timistische Einschätzung: „Nun herrscht außerdem auf unserem Gebiete [der Kulturgeschichte, A.d.V.] in neuerer Zeit eine erfreuliche Thätigkeit; der Dilettant weicht auf diesem Gebiete mehr und mehr streng wissenschaftlicher Forschung“ (S. 2). Georg Steinhausen: Allgemeine Kulturgeschichte. In: Jahresberichte der Geschichtswissenschaft. 16. 1893. S. IV, 8­48, hier S. IV, 8. Steinhausen: Die Geschichtswissenschaft in Selbstdarstellungen (Anm. 30). S. 234. Steinhausen: Die Geschichtswissenschaft in Selbstdarstellungen (Anm. 30). S. 253. Zum Erfolg der Kulturgeschichte in weiten Kreisen Geschichtsinteressierter vgl. Deile: Kulturge­ schichte als Kulturkritik (Anm. 49). S. 156–189.

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einem breiten bildungsbürgerlichen Publikum bekannt war, stets der Ruf eines Dilet­ tanten an.108 Dies ist umso bemerkenswerter, als keinesfalls nur Kulturhistoriker die Resonanz, welche die Beschäftigung mit der Vergangenheit bei geschichtsbegeisterten Zeitgenossen fand, zu ihrem Vorteil zu nutzen versuchten. So hat etwa Heinrich von Sy­ bel für die ‚Historische Zeitschrift‘, die doch, wie er im ersten Jahrgang im Vorwort des Herausgebers schreibt, „vor allem eine wissenschaftliche sein“ sollte,109zunächst gezielt versucht, Beiträge von literarisch erfolgreichen ‚Dilettanten‘ wie Alfred von Reumont, Ferdinand Gregorovius oder Karl Hillebrand einzuwerben, um seinem Fachjournal eine breitere Leserschaft zu erschließen.110 Dennoch traf das Verdikt des ‚Dilettantismus‘ in erster Linie die Kulturgeschichte, die nicht ohne Grund in stärkerem Maße mit der im Kontext des Historismus aufblühenden Geschichtskultur in eins gesetzt wurde als die politische Geschichte. Der Stellenwert der Kulturgeschichte innerhalb der zahlreichen historischen Vereine, der sich in hohen Auflagen spiegelnde Publikumserfolg kulturhis­ torischer Werke, der Zulauf zu kulturgeschichtlichen Vorlesungen und Vorträgen, das Interesse an kulturhistorischen Ausstellungen und Museen konnten all jenen als Indi­ katoren für den dilettantischen Charakter der Kulturgeschichte dienen, die, wie Georg Waitz, mit Argwohn bemerkten, wie in deren Umfeld „durch Eifer und Rührigkeit Kräf­ te und Mittel“ gewonnen würden, die nicht im Sinne einer „strenge[n] Wissenschaft“ Verwendung fänden.111 Die hier angedeutete Gleichsetzung von öffentlichem Geschichtsinteresse und Kul­ turgeschichte klingt im historischen Methodenstreit nach und dürfte maßgeblich dafür verantwortlich sein, dass sich mit kulturgeschichtlichen Ansätzen sympathisierende Wis­ senschaftler auch um 1900 gegen die Unterstellung, dilettantische Auffassungen und Praktiken zu verteidigen, wehren mussten. Zumal sie, wie der Fall Lamprechts zeigt, weiterhin mit besonderer öffentlicher Unterstützung rechnen durften. So wurde das Leip­ ziger Institut für Kultur­ und Universalgeschichte nicht allein durch staatliche Mittel er­ möglicht, sondern auch aus privaten Spenden finanziert,112 Lamprechts Vorlesungen fan­ den bei zahlreichen Hörern Anklang,113 seine Bücher waren beim Publikum beliebt – die von Below inkriminierte ‚Deutsche Geschichte‘ etwa erlebte ungeachtet ihres Umfangs 108

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Vgl. Jasper von Altenbockum: Wilhelm Heinrich Riehl 1823–1897. Sozialwissenschaft zwischen Kulturgeschichte und Ethnographie. Köln/Weimar/Wien 1994 (Münstersche historische Forschun­ gen. Bd. 6). S. 64 und S. 69f. Heinrich von Sybel: Vorwort. In: Historische Zeitschrift. 1. 1859. S. III–V, hier S. III. Vgl. Stieg: Scholarly Historical Periodicals (Anm. 55). S. 28. Auch Martin Nissen hebt hervor, dass die ,Historische Zeitschrift‘ in ihren Anfängen eine über die engeren fachwissenschaftlichen Grenzen hinausgehende Leserschaft erreichen wollte und spricht in diesem Zusammenhang von ei­ nem „Oszillieren der Zeitschrift zwischen Öffentlichkeitsbezug und Spezialisierung, Politisierung und disziplinärer Abgrenzung“ (Martin Nissen: Wissenschaft für gebildete Kreise. Zum Entste­ hungskontext der ‚Historischen Zeitschrift‘. In: Sigrid Stöckel/Wiebke Lisner/Gerlind Rüve (Hg.): Das Medium Wissenschaftszeitschrift seit dem 19. Jahrhundert. Verwissenschaftlichung der Ge­ sellschaft – Vergesellschaftung der Wissenschaft. Stuttgart 2009 (Wissenschaft, Politik und Gesell­ schaft. Bd. 5). S. 25–44, hier S. 27). Waitz: Falsche Richtungen (Anm. 12). S. 21. Vgl. Haas: Historische Kulturforschung (Anm. 7). S. 230f. Vgl. z. B. Schorn­Schütte: Karl Lamprecht (Anm. 10). S. 105–107.

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fünf Auflagen –114 und seine Beiträge erschienen in vielgelesenen Journalen. Die Ambi­ valenz derartiger Popularität belegt beispielhaft die Mitarbeit des Leipziger Mediävisten an Maximilian Hardens ebenso umstrittener wie erfolgreicher kulturpolitischer Wochen­ zeitschrift ‚Die Zukunft‘.115 Allein in den Jahren 1895 bis 1897 hat Lamprecht über zehn längere Artikel für ‚Die Zukunft‘ beigesteuert, darunter gleich mehrere, in denen er seine Position im Methodenstreit darlegt.116 Ganz offensichtlich hat der innerhalb des Fachs zu­ nehmend unter Beschuss geratene Lamprecht die ihm von Harden angebotene publizisti­ sche Plattform dazu benutzt, seine Auffassung kulturhistorischer Analyse einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln und sich deren Rückhalt zu sichern.117 Damit jedoch bot er seinen Gegnern eine Angriffsfläche, die diese zu ihren Gunsten zu nutzen wussten. Below versäumt es denn auch nicht, seinen Leipziger Kollegen zu disqualifizieren, indem er das „überschwängliche Lob“ herausstreicht, das diesem „in populären und halbpopulären Journalen“ zu Teil würde,118 und Hans Delbrück fordert Lamprecht 1897 in den von ihm herausgegebenen ‚Preußischen Jahrbüchern‘ polemisch auf, endlich seinen Anspruch, Wissenschaftler zu sein, aufzugeben, seine Professur niederzulegen und in die Redaktion der ‚Zukunft‘ einzutreten, wo er „nach Wissenschaftsbetrieb wie Gemüthsart am rechten Platze sein und der ihm gebührenden Anerkennung niemals entbehren“ werde.119 Karl H. Metzʼ These, Lamprechts Konzept von Kulturgeschichte sei vornehmlich da­ ran gescheitert, dass es zugleich „das weltanschauliche Orientierungsbedürfnis weiter Kreise der Öffentlichkeit“ zu erfüllen und „fachwissenschaftliche Neuerungen durchzu­ setzen“ trachtete,120 ist, so problematisch sie auch sein mag, zumindest in einer Hinsicht Recht zu geben: Die Professionalisierung der Historiographie seit dem frühen 19. Jahr­ hundert und der damit einhergehende Wandel von einer in der öffentlichen Geschichts­ kultur verankerten hin zu einer spezialisierten, primär in akademischen Milieus prakti­ zierten Geschichtsforschung stürzte das Fach in ein Dilemma, auf das die politischen und die Kulturhistoriker, so scheint es, auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichem Erfolg reagiert haben. Zentral ging es um die Frage, wie das Verhältnis zu jenem breiten 114 115

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Vgl. Schorn­Schütte: Karl Lamprecht (Anm. 10). S. 108. Zu Maximilian Harden und seiner Zeitschrift vgl. B. Uwe Weller: Maximilian Harden und die Zukunft. Bremen 1970 (Studien zur Publizistik. Bd. 13). Beispielhaft sollen hier die Artikel „Die geschichtswissenschaftlichen Probleme der Gegenwart“ (Die Zukunft. 17. 1896. S. 247–255 und S. 300–311), „Der Ausgang des geschichtswissenschaft­ lichen Kampfes“ (Die Zukunft. 20. 1897. S. 195–208) sowie „Meine Gegner“ (Die Zukunft. 21. 1897. S. 109–121, 199–208 und S. 240–252) genannt werden. In einem Brief an den Bruder Hugo begründet Karl Lamprecht seine Zusammenarbeit mit dem ihm durchaus suspekten Harden 1895 mit der Möglichkeit, zu einem in die Tausende gehenden Publi­ kum sprechen zu können (vgl. Chickering: Karl Lamprecht. A German Academic Life (Anm. 48). S. 193). Georg von Below: [Rezension zu] Deutsche Geschichte. Von Karl Lamprecht. In: Historische Zeit­ schrift. 71. 1893. S. 465–498, hier S. 465. Hans Delbrück: Lamprechts Deutsche Geschichte. In: Preußische Jahrbücher. 90. 1897. H. 3. S. 521–524, hier S. 524. Vgl. auch Chickering: Karl Lamprecht. A German Academic Life (Anm. 48). S. 239. Karl H. Metz: Der Methodenstreit in der deutschen Geschichtswissenschaft (1891–99): Bemerkun­ gen zum sozialen Kontext wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. In: Storia della Storiografia. 6. 1984. S. 3–20, hier S. 18.

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Strom Geschichtsbegeisterter gestaltet werden sollte, deren Enthusiasmus die Relevanz der Befassung mit historischer Vergangenheit immer neu bekräftigt und der Geschichts­ wissenschaft zu finanziellem und symbolischem Kapital verholfen hatte.121 Sich von öf­ fentlicher Geschichtskultur abzukoppeln hieß, der Vorteile verlustig zu gehen, die sie für die akademische Forschung brachte; sich mit ihr zu identifizieren hieß, den wissen­ schaftlichen Status der Historiographie zu gefährden. Auf den insbesondere von den Na­ turwissenschaften ausgehenden Spezialisierungsdruck haben die sich als Repräsentanten einer historistischen Geschichtsauffassung gerierenden Historiker geantwortet, indem sie ihren akademischen Habitus und ihren Rang als Experten hervorhoben und damit zumindest rhetorisch eine klare Trennlinie zwischen öffentlicher Geschichtskultur und universitärer Geschichtswissenschaft zogen. Dass ausgerechnet ein derart berühmter, mit akademischen Weihen ausgestatteter Kulturhistoriker wie Lamprecht sich der von sei­ nen Kontrahenten postulierten Abschottung verweigert hat, eröffnete dessen Gegnern die Möglichkeit, ihre Position im akademischen Feld zu stärken. So innovativ einige der um 1900 entwickelten kulturhistorischen Ansätze aus heutiger Sicht auch anmuten mögen, so rückwärtsgewandt erschien die Kulturgeschichte in den Augen ihrer Kritiker, fügte sie sich, so der Vorwurf, doch nicht mit der notwendigen Konsequenz den Forderungen eines sich modernisierenden Wissenschaftsbetriebs. Daraus ergab sich, wie Delbrücks Aufforderung an Lamprecht, seine Professur niederzulegen, zeigt, dass Kulturhistori­ ker, die nicht bereit waren, den Primat der ‚wissenschaftlichen‘ im Sinne der politischen Geschichte anzuerkennen, den Anspruch verwirkten, sich zum Kreis der Fachhistoriker zählen zu dürfen. Dabei spielte es offenbar kaum eine Rolle, dass sich unter denjenigen, die mit professoraler Attitüde gegen Lamprechts Thesen anschrieben, mehrere Privatdo­ zenten befanden, oder dass Below, der die Mitarbeit des Leipziger Ordinarius an Hardens ‚Zukunft‘ moniert hatte, wenig später als politischer Publizist hervortrat und damit sel­ ber den engen Bereich wissenschaftlicher Praxis sprengte.122 Entscheidend war vielmehr, dass Historiker wie Below, Lenz, Oncken oder Rachfahl gemeinsam das Ziel verfolgten, sich ungeachtet der erheblichen Differenzen, die zwischen ihnen bestanden, als, in den Worten Friedrich Meineckes, geschlossene „Berufsgenossenschaft der deutschen Histo­ riker“ zu präsentieren, deren „korporative Zusammengehörigkeit“ durch „gleichartige wissenschaftliche Erziehung und gemeinsame große Traditionen“ legitimiert erschien.123 Die Frontstellung gegenüber der Kulturgeschichte hat zum Erfolg dieses Vorhabens entscheidend beigetragen. Indem sie diese als in institutioneller und methodischer Hin­ 121

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Nicht zufällig kreisten die ersten deutschen Historikertage, wie Matthias Middell gezeigt hat, im­ mer wieder um das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Gesellschaft bzw. die Frage, welche Rolle der nichtakademischen historischen Öffentlichkeit im Kontext der Formierung der ‚wissen­ schaftlichen‘ Historiker als ‚Fachgenossenschaft‘ zukommen soll, vgl. Middell: Die ersten Histori­ kertage (Anm. 39). Passim. Vgl. Cymorek: Georg von Below (Anm. 9). S. 239–267. Vgl. auch Christoph Cornelißen: Poli­ tische Historiker und deutsche Kultur. Die Schriften und Reden von Georg v. Below, Hermann Oncken und Gerhard Ritter im Ersten Weltkrieg. In: Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1996. S. 119–142. Meinecke: Geleitwort (Anm. 97). S. 3.

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sicht randständig, als Betätigungsfeld von Einzelkämpfern, die sich nicht der „echten Wissenschaft“,124 sondern dem Dilettantismus verschrieben hätten, klassifizierten, konn­ ten die Vertreter der politischen Geschichte zugleich den sich aus der institutionellen Verankerung im universitären Betrieb ergebenden korporativen Charakter und den wis­ senschaftlichen Anspruch der eigenen Gruppe in umso hellerem Licht erstrahlen las­ sen. Der diskursiv konstruierte Antagonismus zwischen der politischen Geschichte als Zusammenschluss hochspezialisierter, rigiden wissenschaftlichen Regeln gehorchender Fachhistoriker und der Kulturgeschichte als lockerer Verbund von Geschichtsforschern, die, einer unzeitgemäßen historischen Hermeneutik verpflichtet, notwendigerweise dilet­ tantisch agieren mussten, ist deshalb als gezielte Kommunikationsstrategie zu verstehen, mittels derer die Gegner Lamprechts sich selbst als die maßgeblichen Vertreter einer zünf­ tigen Historie inszenierten. Der Vorteil eines derartigen Vorgehens bestand nicht zuletzt darin, dass durch die kontrastive Gegenüberstellung von Politik­ und Kulturgeschichte deren Gemeinsamkeiten überspielt werden konnten. Dass die Historikerzunft keinesfalls so exklusiv und zugleich homogen war, wie sie von Gegnern Lamprechts dargestellt wur­ de, dass in methodischer Hinsicht auch im Bereich der politischen Geschichte keine unité de doctrine herrschte und dass auch jene Historiker, die der Kulturgeschichte skeptisch gegenüber standen, von der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Arbeit überzeugt waren und den Kontakt zur Öffentlichkeit suchten, schien angesichts der Probleme, welche die Kulturgeschichte aufwarf, von allenfalls sekundärer Bedeutung. In der Wahrnehmung der politischen Historiker und einer von ihnen beeinflussten Leserschaft blieb die Vorstellung einer ‚dilettantischen‘, den Gegenentwurf zur streng wissenschaftlichen Geschichtsfor­ schung verkörpernden Kulturgeschichte dominierend. Der historische Methodenstreit um 1900, so das Fazit, hat nicht nur den Gegenstand und die Methoden einer sich seit dem 19. Jahrhundert professionalisierenden Geschichts­ wissenschaft in grundlegender Weise zur Diskussion gestellt, er diente zugleich als we­ sentlicher Katalysator im Prozess der Formierung der ‚Historikerzunft‘ als berufsständi­ schem Zusammenschluss akademischer Geschichtsforscher. Der Kulturgeschichte kam dabei die Rolle zu, den „Rationalitätsmythos“125 der politischen Geschichte dadurch zu legitimieren, dass sie das Andere, den ‚Dilettantismus‘ und damit das ‚Nicht­Rationale‘ repräsentierte. Ungeachtet der faktisch äußerst komplexen, gleichermaßen durch Ant­ agonismen und Kooperation geprägten Verhältnisse im Bereich der Geschichtswissen­ schaft wurde im Modus einer ebenso aggressiven wie subtilen rhetorischen Strategie ein Gegensatz aufgebaut, aus dem sich die eigene wissenschaftliche Exzellenz begründen ließ. Dass der Gegner, in diesem Falle Lamprecht und mit ihm implizit und explizit die Kulturhistorie generell, weder in institutioneller noch in konzeptioneller Hinsicht derart 124

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Meinecke: Geleitwort (Anm. 97). S. 3. Friedrich Meinecke hat die Bedeutung der ‚Historischen Zeitschrift‘ für die Selbstwahrnehmung der Historiker als ‚Zunft‘ klar erkannt, betont er doch, sie habe die Existenz einer korporativ organisierten Gemeinschaft von Historikern in besonderem Maße zum Ausdruck gebracht. Richard Münch definiert Rationalitätsmythen als Strategien, „eine gegebene bzw. in Erzeugung befindliche Praxis als makellos rational und ohne Alternative“ erscheinen zu lassen (Münch: Die akademische Elite (Anm. 26). S. 30).

Kulturgeschichte und die Formierung der Geschichtswissenschaft

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marginalisiert war, wie dargestellt, erweist die von einer kleinen, jedoch gut vernetzten und publizistisch aktiven Gruppe von politischen Historikern praktizierte Selbstermäch­ tigung als ein symbolisches Konstrukt, mittels dessen sich die Akteure im akademischen Feld Vorteile zu verschaffen hofften. Inwieweit ihnen dies gelungen ist, bleibt strittig. In der Forschung wurde in der Regel betont, dass die einer dem Historismus verpflichteten Auffassung von Geschichtswissenschaft huldigenden politischen Historiker siegreich aus der Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte hervorgegangen seien und den histori­ schen Diskurs auf lange Sicht monopolisiert hätten.126 Aus der Sicht jener Historiker, die sich gegen Lamprecht engagierten und wie Below glaubten, von einem ‚Bankrott‘ der Kulturgeschichte sprechen zu können, mag dies zutreffen; dem unbefangenen Betrachter bietet sich ein differenzierteres Bild, das die von Hans Schleier wiederholt behauptete Sonderstellung der Kulturgeschichte innerhalb des akademischen Feldes als höchst prob­ lematische Setzung erscheinen lässt.127 Der Schluss, der sich aus diesem Befund ergibt, ist bemerkenswert: Der Erfolg der um 1900 in der ‚Historischen Zeitschrift‘ offensiv gegen Lamprecht und seine Auffassung kulturhistorischer Analyse argumentierenden politischen Historiker bestünde dann we­ niger darin, dass es ihnen gelungen wäre, das disziplinäre Gefüge, in dem sie agierten, nachhaltig zu beeinflussen, als vielmehr darin, durch ihre Selbstinszenierung als homoge­ ne akademisch legitimierte Körperschaft, die ihren Hegemonieanspruch gegen eine Mi­ norität unwissenschaftlich verfahrender Opponenten durchzusetzen vermag, die Wahr­ nehmung der Nachgeborenen geprägt zu haben. Die Vorstellung der Kulturgeschichte als einer von der politischen Geschichte majorisierten ‚Oppositionswissenschaft’ist dabei paradoxerweise nicht nur von deren aus dem Bereich der jüngeren Politik­ und Sozialge­ schichte stammenden Kritikern kolportiert worden, sondern auch und in wohl noch stär­ kerem Maße von ihren Verteidigern. So bestärken etwa Roger Chickerings Deutung Karl Lamprechts als eines heroischen Einzelkämpfers128 oder Lars Deiles die persönlicher Frustration über berufliches Scheitern geschuldete Resignation Georg Steinhausens eher reproduzierende als relativierende Einschätzung der Situation nach 1900129 das Bild ei­ ner marginalisierten, um wissenschaftliche Anerkennung stetig kämpfenden, wenn auch letztlich scheiternden Kulturhistorie. Bis in die jüngste Zeit hat sich damit eine Vorstel­ 126

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So folgert etwa Stefan Grüner, dass der Lamprecht­Streit „wesentlich dazu beigetragen [habe], die Fronten zu verhärten und Ansätze zu sozial­, mentalitäts­ oder gesellschaftsgeschichtlichen For­ schungen in Deutschland noch auf Jahrzehnte hinaus in ihrer Entfaltung zu hemmen“ (Grüner: Die Entfaltung der modernen Geschichtswissenschaften (Anm. 13). S. 314). Vgl. beispielsweise Schleiers Einschätzung, die Kulturgeschichte habe an den Universitäten nur eine Nebenrolle spielen können, zwischen ihr und der Fachhistorie hätte eine zunehmende Kluft bestanden (Hans Schleier: Kulturgeschichte und Historismus in Deutschland während des 19. Jahr­ hunderts. In: Horst Walter Blanke/Friedrich Jaeger/Thomas Sandkühler (Hg.): Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 1998. S. 263–274, hier S. 265). Vgl. Chickerings prägnante Beschreibung von Lamprechts „tragic heroism“ in Chickering: Karl Lamprecht. A Historianʼs History (Anm. 41). S. 79. In seiner ansonsten differenzierten Darstellung kommt Deile zum Schluss, die Kulturgeschichte, der der „Modergeruch des Dilettantismus“ anhaftete (S. 162), sei nach 1900 „geächtet“ gewesen, vgl. Deile: Kulturgeschichte als Kulturkritik (Anm. 49). S. 203.

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lung gehalten, die, wenn nicht den Zeitgenossen, so doch, wie Hans Cymorek formuliert, „eine[r] mythengläubige[n] Nachwelt“130 als Rahmen für die Beurteilung des wissen­ schaftlichen Rangs der Kulturgeschichte diente. Die von Below und seinen Mitstreitern gewählte Strategie einer rhetorisch bewerkstelligten Delegitimation konkurrierender kul­ turhistorischer Ansätze mag bei den Zeitgenossen nur bedingt verfangen haben; auf die Perzeption späterer Historikergenerationen hat sie, so scheint es, nachhaltig gewirkt.

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Cymorek: Georg von Below (Anm. 9). S. 202.

Zur Rettung des Landes1 – Kommunikative Machtzuschreibungen an die Erziehung Eva Matthes

Vorbemerkung Zu Beginn des Textes ist zunächst zu klären, wie zentrale Begriffe im Folgenden verstan­ den sein wollen: Der Erziehungsbegriff wird weit gefasst; er meint die – für jede Kultur konstitutive – Vermittlung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Einstellungen/Haltungen. Der in den Texten manchmal vorkommende Bildungsbegriff wie auch der Unterrichts­ begriff ist unter dieses weite Erziehungsverständnis zu subsumieren. Macht wird im Fol­ genden nicht in der Definition Max Webers gebraucht, sondern als Wirkungsmächtigkeit verstanden, im speziellen als Wirkungsmächtigkeit erzieherischer Einflussnahme. Dass dabei indirekt doch wieder der Machtbegriff Max Webers ins Spiel kommt, soll nicht bestritten werden. Den Erziehungsträgern wird in diesem Denkhorizont ja durchaus die Chance zugesprochen, innerhalb der pädagogischen Beziehung ihre Absichten durchzu­ setzen, idealiter allerdings gedacht mit Zustimmung der Educandi durch das bestehende Vertrauensverhältnis. Die Machtzuschreibungen erfolgen in den folgenden Fallbeispielen als mediengebundene Kommunikation, über Zeitungsartikel, Denkschriften und sonstige Publikationen, oder als interpersonale Kommunikation in Form von Vorträgen und Re­ den, die allerdings zeitnah oder später ebenfalls in publizierter Form vorliegen. Als Fallbeispiele wurden jeweils eine militärische und politische Katastrophe (unter­ schiedlichen Ausmaßes) und die sich daran anknüpfenden Rettungserwartungen an die Erziehung gewählt.

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Denselben Titel wählte Barbara Schulte für ihre Publikation über ,Bildung und Beruf im China der Republikzeitʻ (2008).

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Erstes Fallbeispiel: Repräsentanten der ,Preußischen Reformenʻ Nach seiner verheerenden Niederlage gegen das napoleonische Heer in den Schlachten bei Jena und Auerstedt (1806) und dem schmählichen Frieden von Tilsit (7. Juli 1807) lag Preußen darnieder. Es hatte ca. die Hälfte seines Staatsgebiets und fast die Hälfte seiner Bevölkerung verloren; eine am 12. Juli in Königsberg unterzeichnete Zusatzkonvention machte zudem die Räumung der dem Königreich Preußen verbliebenen Gebiete durch die französischen Truppen von der Zahlung der Kriegsentschädigungen, deren Höhe erst noch errechnet werden sollte, abhängig. Die Forderungen beliefen sich schließlich auf 154,5 Millionen Francs; die Preußen hatten mit 20 Millionen gerechnet. Auf Fürsprache des russischen Zaren hin wurden die Kontributionen auf 120 Millionen Francs festge­ legt, die in 30 Monatsraten zu zahlen waren, die besetzten Gebiete wurden weitgehend geräumt, die Stärke des preußischen Heeres wurde auf 42 000 Mann begrenzt.2 Preußen war als europäische, ja sogar als deutsche Großmacht ausgeschieden, war zu einer Macht dritten Ranges herabgesunken. Vor diesem Hintergrund sah der Reformflügel innerhalb der preußischen Beamtenschaft und des Offizierkorps seine Chance für grundlegende Reformen, die ihm als einzige Mög­ lichkeit für die Wiederaufrichtung Preußens und die erstmalige Schaffung eines starken preußischen Einheitsstaats mit der Überwindung divergierender, nur Einzelinteressen verfolgender Mediat­, häufig faktisch eben Gegengewalten erschienen. An die Zeit der ,Vorreformenʻ – Stichwort: Preußisches Landrecht (1794) – wurde zwar angeknüpft, aber nur insofern, als die steckengebliebenen, halbherzigen Reformen nun zur Vollendung, Um­ setzung und damit zu Wirksamkeit geführt werden sollten. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. war hierbei keine treibende Kraft, er war hierfür zu zögerlich; da er aber nach Tilsit erkannte, dass Preußen durch geistige Kräfte ersetzen müsse, was es an physischen verloren habe, ließ er den Reformern innenpolitisch weitestgehend freie Hand.3 Für alle initiierten Reformen – von der Heeres­ über die Regierungs­ und Verwal­ tungs­ bis hin zur Verfassungsreform – wurde seitens der Reformer der Erziehung eine Schlüsselrolle zugesprochen. Letztendlich ist es die ,neue Erziehungʻ, die zur Befrei­ ung Preußens bzw. der deutschen Lande insgesamt von dem napoleonischen Joch führen sollte. Dass es hierbei aber im Selbstverständnis der Reformer doch um mehr ging als um die bloße Instrumentalisierung der Erziehung zur Wiedergewinnung der Freiheit und Größe Preußens bzw. der Schaffung eines deutschen Nationalstaats,4 dass durchaus auch 2

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Vgl. etwa Max Braubach: Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß. (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 14). 8. Aufl. München 1987. S. 86f.; Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1998. S. 16f. und S. 21; Renate Hinz: Pestalozzi und Preußen. Ein Versuch zur historischen Bestimmung des bildungspoli­ tischen Diskurses. In: Pädagogische Rundschau. 48. 1994. S. 81–105, hier S. 85. Vgl. etwa Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866 (Anm. 2). S. 33; Braubach: Von der Fran­ zösischen Revolution bis zum Wiener Kongreß (Anm. 2). S. 112. Vgl. hierzu vor allem Fichtes ,Reden an die deutsche Nationʻ, 1807. Folgende exemplarische Aus­ sage sei aus den Reden hier angeführt: [...] ich hoffe, daß ich einige Deutsche überzeugen, und sie

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– harmonistisch zusammengedacht – die Förderung des einzelnen Individuums im Blick war, zeigt eindrucksvoll die ebenfalls 1807 erschienene Denkschrift des Geheimen Fi­ nanzrats Altenstein, der im selben Jahr Mitglied der Immediatkommission für die oberste Leitung der inneren und Finanzverfassung Preußens war (und 1817 erster Preußischer Kultusminister werden sollte), an den Staatsminister Freiherrn von Hardenberg. Es ging Altenstein in seiner Schrift darum, nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass nur durch eine einheitliche Leitidee der preußische Staat wieder auferstehen könne und nur durch jene die Expansionserfolge Napoleons gestoppt werden könnten. Diese Idee sah er in der Veredelung, der Humanisierung der Menschen.5 Nur das Ergreifen dieser Idee wird eine Nation bilden, d. i. eine Vereinigung von Menschen, von gleichem Geiste beseelt. Dieser Geist, der das gänzliche Hingeben jedes einzelnen für das Höchste der Menschheit in sich faßt, muß ungleich stärker werden als die bloß zum Zerstören, zum Raub und zur Sinnenlust geleitete Kraft [...] Im Innern des Staats, der die höhere Idee als Prinzip ergreift, wird eine neue Verfassung sich bilden. Der Individuen Kräfte werden für den Staat in höchsten Anspruch genommen werden, aber nicht als Werkzeuge anderer Individuen, s o n d e r n u m s i c h a u c h für sich die höchste Freiheit, den freiesten Gebrauch ihrer Kräfte zu Erlangung der höchsten Güter zu verschaffen [Hervorh. E. M.].6 Diese Idee könne nur durch Erziehung realisiert werden; deshalb müsse der Staat sich für seine Schulen verantwortlich fühlen; er bedürfe für diese einer Erziehungspolizei7.8 Die Sache ist für den Staat zu wichtig, um alles dem Zufall zu überlassen. Es ist bisher viel zu wenig hierunter geschehen. Der Zwang wird nicht nötig sein, wenn der Staat gehörige Anstalten für den Unterricht und die Erziehung trifft. Auch der Zwang erscheint minder auffallend, wenn ein richtiger Plan bei der Art des Unterrichts zugrunde liegt und nicht sowohl auf die Beibringung positiver Kenntnis als die Veredlung des Menschen hingearbeitet wird.9 Aufschlussreich und in gewisser Weise wegweisend sind noch die Hinweise Altensteins, dass nur der Zweck, das Ziel von Erziehung und Unterricht, vom Staat vorzugeben sei,

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zur Einsicht bringen werde, daß es allein die Erziehung sei, die uns retten könne von allen Übeln, die uns drücken [...]. Übernimmt der Staat die ihm angetragene Aufgabe, so wird er diese Erziehung allgemein machen, über die ganze Oberfläche seines Gebiets, für jeden seiner nachgebornen Bürger, ohne alle Ausnahme. Zitiert nach: Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. 5., durchges. Aufl. nach dem Erstdruck von 1808, mit neuer Einleitung von Reinhard Lauth. Hamburg 1808/1978. S. 180f. Vgl. Karl­Ernst Jeismann (Hg.): Staat und Erziehung in der preußischen Reform 1807–1819. Göt­ tingen 1969. S. 13f. Jeismann: Staat und Erziehung in der preußischen Reform 1807–1819 (Anm. 5). S. 14f. Der „Polizei“­Begriff ist hier noch im frühneuzeitlichen Verständnis zu interpretieren; es geht hier­ bei also um eine umfassende Erziehungsordnung und ­verwaltung. Jeismann: Staat und Erziehung in der preußischen Reform 1807–1819 (Anm. 5). S. 16. Jeismann: Staat und Erziehung in der preußischen Reform 1807–1819 (Anm. 5). S. 17.

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die inhaltliche und didaktische Konkretisierung jedoch den Lehrern auf der Basis ihres Studiums überlassen bleiben müsse.10 11 Auch die anderen Reformer sprachen der Erziehung eine Schlüsselstellung zu, da die Reformen darauf angewiesen waren, ihr Gelingen davon abhängig war, dass sich die Ein­ zelnen nicht mehr als Untertanen, sondern als Staatsbürger in enger Verbundenheit mit und in Verantwortung für den Staat verstanden. So war etwa die Kernidee der Heeresre­ former um Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz, die Armee auf die Kräfte der Nation, auf patriotische Motivation zu gründen und die Sonderstellung der Armee gegenüber der Gesellschaft zu beseitigen. Scharnhorst formulierte in einem Brief vom 27. November 1807: Man muß der Nation das Gefühl der Selbständigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß sie mit sich selbst bekannt wird, daß sie sich ihrer selbst annimmt; nur erst dann wird sie sich selbst achten und von anderen Achtung zu erzwingen wissen. Darauf hinzuarbeiten, das ist alles, was wir können.12 Als Vorsitzender der nach dem Tilsiter Frieden eingerichteten preußischen Militär­Reor­ ganisationskommission führte Scharnhorst vor jenem geistigen Hintergrund eine Neu­ konzipierung der Offiziersausbildung durch. Im Zentrum sollte die Ausbildung des Ver­ standes, die Schulung des Denkvermögens, die Erziehung zur Selbständigkeit stehen.13 Dieses Fallbeispiel kann nicht abgeschlossen werden, ohne auf eine oder gar die Schlüsselperson der Preußischen Reformen einzugehen, dem Freiherrn vom Stein. Bei Clemens Menze ist hierzu zu lesen: „Unter den zahlreichen Stimmen, die sich für das Ziel der Volkserneuerung auf der Grundlage der neuen Volksbildung einsetzen, kommt der von Stein ein besonderes Ge­ wicht zu; denn bei Freund und Feind gilt er als die treibende Kraft der Reform, und in seinen Äußerungen sieht man mehr als folgenlose Proklamationen. Ihm geht es bei der Verfolgung seiner politischen Ziele nicht zuletzt um die ‚Vervollkommnung der Unter­ richtsanstalten, besonders der Landschulenʻ, weil er in ihrer Verbesserung eine entschei­ dende Möglichkeit sieht, die Nation aus der Trostlosigkeit des aktuellen Zustandes her­ auszuführen und ihre Renaissance zu fördern“.14 Doch lassen wir Stein noch selbst mit seiner ,Nassauer Denkschriftʻ zu Wort kommen. Diese verfasste er, nachdem er nach der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt am 3. Januar 1807 vom König aus dem preußischen Staatsdienst entlassen worden war, auf seinem Besitz in Nassau im Juni 1807. Die ,Nassauer Denkschriftʻ enthielt sein Pro­ 10 11

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Vgl. Jeismann: Staat und Erziehung in der preußischen Reform 1807–1819 (Anm. 5). S. 17. Als Preußischer Kultusminister (1817–1840) hat Altenstein versucht, seine Überlegungen in die Tat umzusetzen. So dehnte er etwa die Schulpflicht auf das ganze Staatsgebiet aus, führte 1837 den Normallehrplan ein, richtete Provinzialschulkollegien ein und gründete 38 Schullehrerseminare sowie 30 000 Volksschulen. Vgl. Reinhard Lüdicke: Die Preußischen Kultusminister und ihre Be­ amten im ersten Jahrhundert des Ministeriums 1817–1917. Stuttgart/Berlin 1918. S. 4. Karl Linnebach (Hg.): Scharnhorsts Briefe. Bd. 1: Privatbriefe. München/Leipzig 1914. S. 334. Vgl. Heinz Stübig: Bildung, Militär und Gesellschaft in Deutschland. Studien zur Entwicklung im 19. Jahrhundert. Köln u. a. 1994. S. 54ff. Clemens Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Hannover u. a. 1975. S. 155.

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gramm einer Erneuerung des preußischen Staates durch Beteiligung von zu Bürgern er­ zogenen Untertanen an öffentlichen Aufgaben – nicht zuletzt, um Preußen für den Befrei­ ungskampf gegen Napoleon zu stärken. Aus diesen grundlegenden Überlegungen leiteten sich alle seine Vorschläge – etwa zur Umbildung der obersten Staatsbehörden und zur Einrichtung neuer Institutionen – ab. Stein legte in der Denkschrift dar, welche Bedeu­ tung er der pädagogischen Arbeit in den Schulen bei den beabsichtigten Veränderungen in Staat und Gesellschaft beimaß. Jene müssten das Interesse an den Belangen des Staa­ tes wecken und eine geistige Wachheit erzeugen. Die Bürger sollten keine egoistischen Einzelinteressen entwickeln, sondern sich am Gemeinwohl orientieren.15 Sie sollten über eine Mitwirkung bei den National-Angelegenheiten an den Staat gebunden werden.16 Nachdem Stein nach dem Frieden von Tilsit am 30. September 1807 nunmehr als lei­ tender Minister wieder in die preußische Regierung berufen worden war, konnte er einige seiner grundlegenden Reformen umsetzen. Da Stein auf eine Erhebung gegen Napole­ on hinarbeitete, drängte dieser auf seine Entlassung, die der preußische König am 24. November 1808 vollzog. Kurz zuvor hatte Stein sein ,Politisches Testamentʻ verfasst, in dem er Rechenschaft über seine Amtszeit gab und ein politisches Programm für die Zukunft entwarf. Die Forderung nach einer Erneuerung der Erziehung steht auch in die­ ser Schrift im Zentrum – immer mit der Intention, dass sich die Bürger mit dem Staat identifizieren können: Am meisten aber hierbei, wie im Ganzen, ist von der Erziehung und dem Unterrichte der Jugend zu erwarten. Wird durch eine auf die innere Natur des Menschen gegründete Methode jede Geisteskraft von innen heraus entwickelt und jedes edle Lebensprinzip angereizt und genährt, alle einseitige Bildung vermieden, und werden die bisher oft mit seichter Gleichgültigkeit vernachlässigten Triebe, auf denen die Kraft und Würde des Menschen beruht, Liebe zu Gott, König und Vaterland sorgfältig gepflegt, so können wir hoffen, ein physisch und moralisch kräftiges Geschlecht aufwachsen und eine bessere Zukunft sich eröffnen zu sehen.17 18 15

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Karl vom Stein: Briefe und amtliche Schriften. Bd. 2/Teil 1. Neubearbeitet von Peter G. Thielen. Stuttgart 1959. S. 391. Vom Stein: Briefe und amtliche Schriften. S. 391. Karl vom Stein: Briefe und amtliche Schriften. Bd. 2/Teil 2. Neubearbeitet von Peter G. Thielen. Stuttgart 1960. S. 992. Wie sehr die Preußischen Reformer von dem Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi geprägt waren, wie sie ihn rezipierten und sich auf ihn bezogen, weist detailliert Renate Hinz in ihrer Dissertati­ on ,Pestalozzi und Preußenʻ (1991) nach (vgl. auch Heinz Stübig: Pädagogik und Politik in der preußischen Reformzeit. Studien zur Nationalerziehung und Pestalozzi­Rezeption. Weinheim/Ba­ sel 1982). Die Preußischen Reformer und Pestalozzi stimmten in der Priorisierung der Erziehung, dem Primat des Pädagogischen gegenüber dem Politischen überein. Pestalozzi fasste seine Position prägnant in seiner Schrift ,An die Unschuld, den Ernst und den Edelmuth meines Zeitalters und meines Vaterlandesʻ (1815) zusammen: Es ist für den sittlich, geistig und bürgerlich gesunkenen Welttheil keine Rettung möglich, als durch die Erziehung, als durch die Bildung zur Menschlichkeit, als durch die Menschenbildung! (Artur Buchenau/Eduard Spranger/Hans Stettbacher (Hg.): Pesta­ lozzi. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 24A: An die Unschuld. 1815 (Text). Bearb. von Emanuel Dejung. Zürich 1977. S. 165).

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Die Preußischen Reformer ­ Reformer also, die ganz auf Erziehung und ihre Wirkmäch­ tigkeit setzten, einer Erziehung, die die Voraussetzungen schafft zum engen Schulter­ schluss mit dem – keinesfalls demokratisch zu denkenden! – Staat durch Mitwirkung an demselben als Alternative zu Revolution. Auch der zeitgenössische Begriff einer ,Revo­ lution von obenʻ scheint mir die Intentionen der Reformer nicht wirklich zu treffen, ich spreche dann lieber mit Nipperdey von einer „erziehende[n] Reform“,19 die allerdings an ökonomische, politische und soziale Grenzen gestoßen ist.

Zweites Fallbeispiel: Preußische Kulturpolitiker in der Weimarer Republik Erneut hatte Preußen im Kontext des gesamten deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg eine verheerende Niederlage hinnehmen müssen. Erneut auch verlor Preußen Teile seines Gebietes; so erhielt etwa Polen den größten Teil der Provinzen Westpreußen und Posen sowie das industrielle Zentrum Schlesiens. Zudem wurden im Versailler Vertrag hohe Reparationszahlungen festgelegt. Die Stimmungslage bei der Bevölkerung war gedrückt, die Menschen fühlten sich gedemütigt, die politischen Spaltungen, die durch die Bevöl­ kerung gingen, waren immens.20 Nach einer im November 1918 vom Vollzugsrat der Berliner Arbeiter­ und Bauernräte eingesetzten Revolutionsregierung aus SPD und USPD wurde in Preußen im März 1919 eine Regierung aus SPD, Zentrum und DDP gewählt; von 1920 bis zum Papenschen Preußenschlag 1932 war der Sozialdemokrat Otto Braun – mit kurzer Unterbrechung 1921 und 1925 – Preußischer Ministerpräsident der genannten Koalitionsregierung (1921–1924 noch mit DVP; in dieser Zeit war deren Mitglied Otto Boelitz preußischer Kultusminister). Durch Braun unterstützt,21 sprachen die preußischen Kultusminister und ­beamten der Erziehung im Preußen der Weimarer Republik, wenn auch mit durchaus unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung, eine Schlüsselrolle zu. Erster Kultusminister war der Sozialdemokrat Konrad Haenisch22, der stark von der Reformpädagogik geprägt 19 20

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Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866 (Anm. 2). S. 34. Vgl. etwa Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik. München 1984. S. 1–53; Andreas Wirsching: Die Weimarer Republik. München 2. Aufl. 2008. V. a. S. 1–15. In Aufzeichnungen im Februar 1919 schreibt der Ministerialrat im preußischen Kultusministerium Carl Heinrich Becker über den damaligen Landwirtschaftsminister Braun: Er ist sehr für Cooperation mit uns, weil er die Erziehungsaufgaben weit über das Landwirtschaftliche hinaus ausdehnen will (Carl Heinrich Becker: Internationale Wissenschaft und nationale Bildung. Ausgewählte Schriften. Hg. und eingeleitet von Guido Müller. Köln 1997. S. 264). Die 1922 eingerichteten ,Aufbauschulenʻ zur spezifischen Förderung begabter Dorf­ und Kleinstadtkinder fanden Brauns besondere Zustimmung. Haenisch (MSPD) amtierte nach der Revolution 1918 zunächst gemeinsam mit Adolph Hoff­ mann (USPD), nach dessen Rücktritt Anfang 1919 allein als Minister für ,Wissenschaft, Kunst und Volksbildungʻ; als selbiger wurde er auch nach der Wahl vom 25. März 1919 bestellt (bis zum 21. April 1921) (vgl. Acta Borussica: Neue Folge. 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat. Abteilung I. Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934).

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war und deren Glaube an eine neue Erziehung zur Schaffung einer neuen Gesellschaft teilte. Einer seiner Berater war der Reformpädagoge Gustav Wyneken. In einem Erlass vom 27. November 1918, der in einigen Formulierungen durchaus an Überlegungen und Aussagen der Preußischen Reformer erinnert und wohl weitgehend von Wyneken formu­ liert war, sprach Haenisch von der Erziehung eines neuen Menschen, der Heranbildung eines Geschlecht[es] von hohem Opfermut und Adel der Gesinnung, von unbestechlicher Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, von unerschütterlichem Mut und Idealismus23, wobei die Jugend in Selbstverantwortung und Freiheit an der Neuordnung des Volkslebens be­ teiligt werden solle. In einem in vieler Hinsicht aufschlussreichen Band aus dem Jahr 1921, der unter anderem einen tiefen Einblick in sozialdemokratisches Selbstverständnis zu Beginn der Weimarer Republik ermöglicht, gibt Haenisch einen rückblickenden Über­ blick über preußisch­sozialdemokratische Kulturpolitik nach 1918; er formuliert darin auch den Satz: In der Tat ist die ganze Frage des deutschen Wiederaufstiegs – auf eine letzte Formel gebracht – schließlich eine Erziehungsfrage24 und spricht von diese[m] arme[n], am Boden liegende[n] Deutschland, dem andere Waffen als die des Geistes ja überhaupt nicht mehr geblieben sind.25 In diesen Gedanken wusste er sich einig mit (dem parteilosen)26 Carl Heinrich Be­ cker, seit 1916 zunächst leitender Ministerialbeamter, dann und zwischendurch Staats­ sekretär, 1921 für einige Monate und 1925 bis 1930 preußischer Kultusminister27, der eine entscheidende Rolle, vielleicht die Schlüsselrolle im Preußischen Kultusministe­ rium der Weimarer Republik spielte. Becker sah sich sehr stark in der Kontinuität der Preußischen Reformer. Auch für ihn waren Fichtes ,Reden an die deutsche Nationʻ eine seiner entscheidenden geistigen Grundlagen. So formulierte er 1919 im ,Pädagogischen Zentralblattʻ: Für den Kulturpolitiker gibt es kaum ein aktuelleres Buch als Fichtes ‚Re­ den an die deutsche Nationʻ. Fichte hatte einen Zusammenbruch des deutschen Volks erlebt, der dem wohl vergleichbar ist, dessen Zeugen wir sind.28 Er weist dann darauf hin, dass er eine Wiederaufrichtung nur in einer neuen Erziehung sah29 und fährt fort: Auch wir brauchen eine neue Erziehung; denn unser Zusammenbruch ist noch sehr viel tiefer in unserem geistigen und seelischen Zustande begründet als der unserer Vorfahren vor einem Jahrhundert. S o w i r d d i e E r z i e h u n g z u m w i c h t i g s -

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Bd. 1/Teil 1: Die Behörde und ihr höheres Personal. Darstellung. Berlin 2009. V. a. S. 44). Ich spreche im Text verkürzt vom ,preußischen Kultusministerʻ. Zitiert nach Jürgen Reulecke: Jugend und ,junge Generationʻ in der Gesellschaft der Zwischen­ kriegszeit. In: Dieter Langewiesche/Heinz­Elmar Tenorth (Hg.): Handbuch der deutschen Bil­ dungsgeschichte. Bd. V: 1918–1945. München 1989. S. 86–110, hier S. 95. Konrad Haenisch: Neue Bahnen der Kulturpolitik. Aus der Reformpraxis der Deutschen Republik. Stuttgart/Berlin 1921. S. 28. Haenisch: Neue Bahnen der Kulturpolitik (Anm. 24). S. 29. Becker war von nationalliberaler Grundeinstellung. Zu Beckers Leben und Wirken insgesamt vgl. die detaillierte Studie von Guido Müller: Weltpoliti­ sche Bildung und akademische Reform. Carl Heinrich Beckers Wissenschafts­ und Hochschulpoli­ tik 1908–1930. Köln u. a. 1991. Becker: Internationale Wissenschaft und nationale Bildung (Anm. 21). S. 276. Vgl. Becker: Internationale Wissenschaft und nationale Bildung (Anm. 21). S. 276.

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ten Heilmittel der gegenwärtigen Krise, wichtiger selbst als alle politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen; denn diese sind doch nur Notkonstruktionen, die wohl oder übel so lange halten müssen, bis die Gesundung von innen heraus durch eine neue Gesinnung erfolgt. Diese hat aber eine n e u e E r z i e h u n g z u r Vo r a u s s e t z u n g [Hervorh. E. M.].30 Wie die Preußischen Reformer forderte er eine einheitliche Idee für das Bildungssys­ tem, die dann wiederum Volkseinheit schaffen solle.31 Carl Heinrich Becker wurde ge­ rade in den Anfangsjahren der Weimarer Republik nicht müde, in vielen Vorträgen und Publikationen das Thema der neuen Erziehung zu erörtern.32 Seine in der Einleitung zur aus vorangegangenen Zeitungsartikeln33 entstandenen Publikation ,Gedanken zur Hochschulreformʻ (1918/19) formulierte Zeitdiagnose klingt wie diese der Preußischen Reformer 1806/7: Der furchtbare Zusammenbruch, dessen Zeugen wir sind, macht alles problematisch, was wir bisher für unantastbaren materiellen oder geistigen Besitz gehalten haben. Wir sind nicht nur mit den Waffen geschlagen, wir sind in unserer moralischen und geistigen Struktur erschüttert. Es fehlte uns in entscheidender Stunde an nationaler Disziplin, an männlicher Würde, an vom Vertrauen des Volkes getragener Führerkraft. Unser Wirtschaftsleben hat nicht versagt, versagt haben die maßgebenden Faktoren unseres geistigen Seins.34 Der Erziehung wird von Becker die Macht zugesprochen, gemeinsame geistige Werte, eine gemeinsame Leitidee hervorzubringen, die wiederum eine eigene, nicht zu unter­ schätzende Macht darstelle gegenüber militärischer und wirtschaftlicher Macht.35 In sei­ ner Denkschrift ,Kulturpolitische Aufgaben des Reichesʻ (1919) heißt es wörtlich: Nötiger wie je braucht Deutschland jetzt eine bewußte Kulturpolitik. Wenn der Deutsche seiner Natur nach nicht von selbst danach greift, so muß er eben dazu erzogen werden. Unser ganzes Erziehungs- und Bildungsproblem muß unter diesen Gedanken gestellt werden. All die Faktoren, die dem Einheitsgedanken des Volkes dienen, müssen betont und gepflegt werden.36 In seinem konkreten bildungspolitischen Handeln konzentrierte sich Becker auf die neue Erziehung in der Volksschule durch an – maßgeblich von ihm initiierten – ,Pädagogischen Akademienʻ ausgebildete Volksschullehrer, die sich sozusagen als Lehrer der Nation und 30 31 32 33

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Becker: Internationale Wissenschaft und nationale Bildung (Anm. 21). S. 276. Vgl. Becker: Internationale Wissenschaft und nationale Bildung (Anm. 21). S. 278f. Vgl. Becker: Internationale Wissenschaft und nationale Bildung (Anm. 21). Becker hatte 1918/19 sechs Artikel zur Hochschulreform in der ,Deutschen Allgemeinen Zeitungʻ, dem wichtigsten bildungsbürgerlich­liberalen Diskussionsforum der Berliner Tageszeitungen für bildungspolitische Fragen, veröffentlicht. Becker: Internationale Wissenschaft und nationale Bildung (Anm. 21). S. 181. Vgl. Becker: Internationale Wissenschaft und nationale Bildung (Anm. 21). S. 227. Becker: Internationale Wissenschaft und nationale Bildung (Anm. 21). S. 228.

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zur Nation verstehen sollten. Gleich zu Beginn seiner 1926 erschienenen Publikation ,Die Pädagogische Akademie im Aufbau unseres nationalen Bildungswesensʻ betont er deren Relevanz: Die Neuordnung der Lehrerbildung in Preußen ist ein kulturpolitisches Ereignis von so großer Tragweite, daß alle Gebildeten sich damit beschäftigen sollen; denn es handelt sich hierbei um die Zukunft unserer gesamten nationalen Volksbildung schlechthin.37 Für das Scheitern der euphorischen Hoffnung auf Erziehung ist wohl symptomatisch, dass die Pädagogischen Akademien sehr schnell unter ökonomischen Druck kamen. Von den 15 bis 1930 errichteten Akademien wurden 1932 bereits acht vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise wieder geschlossen. Der Rest wurde dann im Mai 1933 von den Nationalsozialisten als ,Hochschulen für Lehrerbildungʻ gleichgeschaltet.38 Aller Glaube an die Wirkmächtigkeit der Erziehung wurde von der Macht der Ökonomie und der Po­ litik überrollt.

Drittes Fallbeispiel: Hessische und niedersächsische Kulturpolitiker nach dem Zweiten Weltkrieg In einem Ausmaß wie nie zuvor und mit einer Schuld wie nie zuvor lag Deutschland 1945 nach der bedingungslosen Kapitulation am 8./9. Mai 1945 danieder. Insgesamt hatte der von Deutschland initiierte Krieg ca. 45 Millionen Menschen das Leben gekostet. In Deutschland selbst waren über fünf Millionen Menschen, darunter mehr als eine halbe Mil­ lion Zivilisten im Luftkrieg, umgekommen. Die Anzahl der Deutschen, die in Ostdeutsch­ land, Ostmittel­ und Südosteuropa durch die Flucht vor der Roten Armee und später durch die von den neuen Machthabern (Polen, Tschechen) durchgeführte Vertreibung ihre Hei­ mat verloren, liegt bei 12 Millionen; zwei Millionen kamen während oder im Gefolge der Flucht und Vertreibung ums Leben. Mehrere Millionen Deutsche, meist aus den westlichen Reichsgebieten, waren ‚entwurzeltʻ, da sie aus den vom alliierten Bombenkrieg besonders betroffenen Gebieten evakuiert worden waren. Durch die Zerstörung bzw. Beschädigung von ca. 3,3 Millionen Wohnungen waren 7,5 Millionen Menschen obdachlos geworden. Viele Städte glichen einem Trümmerfeld. Die Menschen richteten sich in Kellern und Ru­ inen ein. Die Masse des Volkes hungerte. Auch und nicht zuletzt moralisch stand das deut­ sche Volk vor einem Scherbenhaufen.39

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Carl Heinrich Becker: Die Pädagogische Akademie im Aufbau unseres nationalen Bildungswesens. Leipzig 1926. S. 7. Sebastian Müller­Rolli: Lehrer. In: Dieter Langewiesche/Heinz­Elmar Tenorth: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. V. 1918–1945. München 1989. S. 240–258, hier S. 242. Vgl. etwa Hermann Glaser: 1945. Ein Lesebuch. Frankfurt a. M. 1995; Karl Dietrich Erdmann: Das Ende des Reiches und die Neubildung deutscher Staaten (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 22). 6. Aufl. München 1988. S. 122ff.

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Mit der Einsetzung des Alliierten Kontrollrates für Deutschland, bestehend aus den vier Oberbefehlshabern der Besatzungsmächte, mit Sitz in Berlin, und mit der Verkün­ dung der ,Berliner Deklarationenʻ vom 5. Juni 1945 übernahmen die Siegermächte of­ fiziell die Regierungsgewalt in Deutschland. Zugleich kündigten die Alliierten die voll­ ständige Abrüstung und Demilitarisierung Deutschlands an und legten die Grenzen der Besatzungszonen fest.40 Einigkeit bestand darüber, dass es kein Land Preußen mehr ge­ ben solle: der Alliierte Kontrollrat beschloss am 25. Februar 1947 seine Auflösung. Die Besatzungsmächte gründeten neue Länder; die Amerikaner zum Beispiel Bayern, Würt­ temberg­Baden, Bremen und Hessen, die Engländer Hamburg, Nordrhein­Westfalen und Niedersachsen. Auch nach dem fundamentalen Niedergang Deutschlands durch NS­Zeit und Zweiten Weltkrieg wurde wiederum von deutschen Verantwortungsträgern Erziehung als Heil­ mittel beschworen. Als Beispiele sollen uns hessische und niedersächsische (Kultur)Po­ litiker dienen. Der von den Amerikanern eingesetzte erste hessische Ministerpräsident Karl Geiler (1945–1946) maß der Erziehung eine sehr hohe Bedeutsamkeit zu und wählte hierfür als pädagogischen Kronzeugen – wie die Preußischen Reformer! – J. H. Pestalozzi. Geiler richtete als ersten feierlichen Akt der Staatsregierung am 8. Februar 1946 in Wiesbaden eine Feier zum 200. Geburtstag von Pestalozzi aus. In seiner Ansprache formulierte er unter anderem: Vor uns Deutschen liegt eine Erziehungsaufgabe, wie sie uns kaum zu irgend einer Zeit auferlegt gewesen ist. Es gilt eine geistig-seelische Umformung unseres Volkes herbeizuführen.41 Orientieren könne man sich hierbei an Pestalozzi als einem der größten Erzieher der Menschheit.42 Dies waren vielfach anzutreffende Schlüsselsätze, man könnte auch sagen: Zauberwortsätze dieser Zeit. Besonders aufschlussreich sind die vielen einschlägigen Reden des Christdemokraten Erwin Stein,43 der von 1947–1951 hessischer Kultusminister war. Die gedankliche Kon­ tinuität (zu Positionen etwa Carl Heinrich Beckers) bei verkündeter Diskontinuität wird

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Vgl. Rolf­Dieter Müller/Gerd R. Ueberschär: Kriegsende 1945. Die Zerstörung des Deutschen Rei­ ches. Frankfurt a. M. 1994. S. 110. Karl Geiler: Geistige Freiheit und soziale Gerechtigkeit im neuen Deutschland. Wiesbaden 1947. S. 64. Vgl. Geiler: Geistige Freiheit und soziale Gerechtigkeit im neuen Deutschland (Anm. 41). S. 64. Erwin Stein hat in der Nachkriegszeit eine sehr wichtige Rolle in den bildungspolitischen Diskur­ sen gespielt; für die Pädagogik war er auch insofern von Bedeutung, als er Anfang der 50er Jah­ re mit Unterstützung der Amerikaner die Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung (heute: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung) mit Sitz in Frankfurt a. M. gründete. Er galt in der Nachkriegszeit als einer der Bildungsr e f o r m e r. Die ihm zugeschriebene Bedeutsamkeit wird auch u. a. daran deutlich, dass in der Publikation des amerikanischen Wissenschaftlers Brian M. Puaca ,Learning Democracy. Education Reform in West Germanyʻ (2009) immer wieder auf Erwin Stein Bezug genommen wird, da er einen neuen Erzie­ hungsgeist propagiert habe und für (gemäßigte) strukturelle Reformen offen gewesen sei (vgl. Bri­ an M. Puaca: Learning Democracy. Education Reform in West Germany, 1945–1965. New York/ Oxford 2009. S. 13ff.).

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besonders bei seinen Ausführungen zu dem Gesetzesentwurf über den Aufbau des Schul­ wesens vom 30. Oktober 1948 deutlich. Er betont zunächst die Diskontinuität: Der Neubau der Erziehung und der Schule kann nicht da fortgesetzt werden, wo er im Jahre 1933 unterbrochen worden ist. Die praktische Schulreform der zwanziger Jahre sah das eigentliche Ziel in der Einheit der Bildung und des nationalen Kulturbewußtseins [...] Man dekretierte, daß die deutsche Nationalerziehung, wie sie Fichte gefordert hat, oberstes Ziel sein müßte. Aus diesen um ein Jahrhundert verspäteten deutschen Idealismus erwuchs so das Idealbild des deutschen Menschen [...] Die so über der Zeit schwebende idealistische Welt erlag in der nationalsozialistischen Herrschaft nur allzu leicht den andringenden ungeistigen Mächten der Zeit.44 Anders als Becker nach dem Ersten Weltkrieg grenzt er sich von Fichte ab, nicht nur von ihm, sondern auch von der Gleichsetzung der Gegenwart mit der preußischen Niederlage 1806/07 und der Niederlage nach dem Ersten Weltkrieg: Heute handelt es sich nicht wie in den Jahren 1805 [sic!] und 1918, in denen nach dem Zusammenbruch gleichfalls eine Schulreform versucht wurde, um eine Katastrophe des deutschen Staates, sondern des kulturellen und sozialen Lebens in allen seinen Bereichen.45 Aber genau so, nämlich dass es sich um Letzteres handele, hatten die Preußischen Refor­ mer wie auch die Bildungspolitiker in der Weimarer Republik argumentiert! So sind uns denn auch die nachfolgenden Sätze Steins bereits aus früheren zitierten Texten von der Tendenz her vertraut: Was deshalb heute not tut, ist eine in die Breite des Volkes gehende Hebung des geistigen und sittlichen Niveaus, eine Bildung des Charakters und Stärkung der Verantwortung des einzelnen [...] Die Rettung und Zukunft des deutschen Volkes werden daher wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, seine Jugend in einem neuen Geiste zu erziehen, sie zu sittlich gefestigten, selbständig denkenden und verantwortungsbewußt handelnden Menschen zu bilden, die sich freiwillig eingliedern in die Gemeinschaft des Volkes und der Menschheit. [...] Bildung und Erziehung erweisen sich nur dort als echt, wo sie aus einer Einheit des Denkens, Fühlens und Handelns erwachsen, im Bewußtsein der Stellung des Menschen innerhalb des Volkes, der Welt und ihrer Forderungen. So haben Bildung und Erziehung nicht nur einen kulturbewahrenden Auftrag. Sie sind auch die Vorwegnahme und Wegbereiter einer neuen Gesellschaft46 44

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Zitiert nach Klaus­Jörg Ruhl (Hg.): Neubeginn und Restauration. Dokumente zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949. 3. Aufl. München 1989. S. 318. Ruhl: Neubeginn und Restauration (Anm. 44). S. 318. Wie ernst ihm dieser Gedanke war, wird auch daran deutlich, dass Stein das ihm im September 1945 angetragene Amt des Generalstaatsanwalts in Hessen in einem Brief an den Präsidenten der Justizabteilung der Deutschen Regierung des Landes Hessen mit folgender Begründung ablehnte: Die Schaffung einer gerechten Ordnung ist mir […] in erster Linie Aufgabe der Erziehung (zitiert nach Helmut Fetzer: Erwin Stein – Eine Bio­Bibliographie. In: Peter A. Döring (Hg): Der Neube­ ginn im Wandel der Zeit. Frankfurt a. M. 1995. S. 175–284, hier S. 186). Deshalb wolle er sich derselben widmen (vgl. ebd. S. 186).

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und haben die Aufgabe, die inneren Hemmungen zu beseitigen, die sich den neuen Werten entgegenzusetzen drohen [Hervorh. E. M.].47 In seiner Rede ,Die neue Erziehungʻ, gehalten bei der Landesversammlung der hessischen Erzieher in der Frankfurter Paulskirche am 21. Mai 1948, hatte er bereits den Lehrern als Aufgabe, als ,Missionʻ zugeschrieben, zum entscheidenden Mitgestalter eines neuen Zeitalters zu werden,48 und ,Vom Berufe unserer Zeit zur Erziehungʻ hatte er in einer Rede bei der Arbeitsgemeinschaft CDU/CSU in Kassel am 20. Januar 1948 gesprochen. Bei Stein findet sich – ebenso wie etwa bei Becker – immer auch der Gedanke, dass bei allen notwendigen strukturellen Erziehungsreformen die innere Reform, die Schaffung eines neuen Erziehungsgeistes das Entscheidende sei. Die Einheit der neuen Erziehung kann im Grunde nur von innen her wachsen in Begegnung, Verständigung und Einigung.49 Neue Erziehung, neuer Mensch, neue Gesellschaft oder auch: geläutertes und geeintes Volk – es sind die alten Themen, die Stein anstimmt; er reiht sich damit ein in die zunächst von ihm gescholtenen Idealisten; er steht in einer klaren Kontinuitätslinie, wobei aller­ dings die Diskontinuität zum Nationalsozialismus durchaus akzentuiert werden muss. Bei Adolf Grimme, dem sozialdemokratischen niedersächsischen Kultusminister 1946 bis 1948, der von 1930 bis 1932 – auf Empfehlung Beckers – der letzte preußische Kul­ tusminister war,50 finden sich ganz ähnliche Aussagen wie bei Erwin Stein. Sehr deutlich wird das bereits in den ersten Vorträgen aus dem Jahr 1945. Ein Beispiel sei herausge­ griffen: Seine Rede zur Eröffnung der Pädagogischen Hochschule Hannover beginnt er folgendermaßen: Der größte Mitbürger der Hauptstadt unseres Landes Hannover, der zugleich der erste große deutsche Gelehrte von europäischer Weite gewesen ist, Gottfried Wilhelm von Leibniz, hat einmal gesagt: ‚Überlaßt mir die Erziehung, und in einem Jahrhundert ist Europa umgestaltet!ʻ Ein stolzes und ein selbstbewusstes Wort, ein Wort, in dem sich der Gedanke auffängt, daß die Erziehung im Dasein eines Volkes das wichtigste Geschäft ist.51 Ausgehend von dieser Überzeugung begründet Grimme anschließend sein Engagement für eine Lehrerbildung im neuen Geist. Dass er der Erziehung den ersten Rang, prioritäre

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Ruhl: Neubeginn und Restauration (Anm. 44). S. 318f. Erwin Stein: Die neue Erziehung. Rede des Hessischen Ministers für Kultus und Unterricht Dr. Erwin Stein bei der Landesversammlung der hessischen Erzieher in der Paulskirche zu Frankfurt am Main am 21. Mai 1948. Wiesbaden 1949. S. 27. Erwin Stein: Vom Berufe unserer Zeit zur Erziehung. In: Ders.: Wege zur Volksbildung. Wiesbaden 1949. S. 24–37, hier S. 34. Zu Grimme vgl. Kai Burkhardt: Adolf Grimme (1889–1963). Eine Biografie. Köln u. a. 2007. Wie Stein war Grimme Nazi­Gegner und religiöser Sozialist – auch wenn beide sich für unterschiedli­ che Parteien entschieden. Wie Stein besaß Grimme das Vertrauen der Besatzungsmacht und galt als Reformer. Bekannt ist Grimme wohl vor allem durch den Grimme­Preis im Kontext seiner Tätig­ keit als Generaldirektor des NWDR. Adolf Grimme: Selbstbesinnung. Reden und Aufsätze aus dem ersten Jahr des Wiederaufbaus. Braunschweig u. a. 1947. S. 36.

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Bedeutung zuschreibt, bekräftigt er zum Beispiel in einem Vortrag im Niedersächsischen Landtag im Januar 1948 über den ,Sinngehalt der Schulreformʻ, indem er ausführt, dass alle Fragen aller anderen Ressorts ihren letzten Sinn überhaupt erst vom Erziehungsressort her erhalten; denn was würde es nützen, wenn die Menschen allesamt in englischen Stoffen und russischen Juchten herumliefen und wohlgenährt unter eigenem Dach schliefen, aber wären nicht die Charaktere, die Deutschland und Europa für ihre Zukunft brauchen!52 Diese Charaktere muss und kann nach Grimme also die Erziehung schaffen. Deshalb ist nach ihm – wie wir es nun schon häufiger hörten – die Erziehung eine Sache von nationalpädagogischem Ausmaß, sie ist Volkssache,53 nicht auf ein Ressort oder einen gesell­ schaftlichen Teilbereich, ebenso nicht auf einen bestimmten Berufsstand zu beschränken. Sehr deutlich kommt seine Machtzuschreibung an die Erziehung auch durch folgende Aussage in einer Ansprache zur Einrichtung einer Hochschule für Politik im Dezember 1947 zum Ausdruck: Ich spreche nur eine Allerweltsweisheit aus, wenn ich daran erinnere, daß schließlich der demokratische Mensch nicht von selbst kommt, sondern daß Demokratie, ebenso wie der demokratische Mensch, nur als P r o d u k t der Erziehung und der Bildung in die Welt kommen kann [Hervorh. E. M.].54 Und ganz im selben Tenor heißt es in seinem Beitrag ,Erwachsenenbildung in der Renais­ sance des Menschenʻ: Muß ich ausführen, wie notwendig die Erziehung auch noch und gerade auch unserer erwachsenen Generation ist, damit sich der Prozeß der politischen Urteilsfindung in ihren Köpfen klärt und damit sie ihre politischen Entscheidungen stets so trifft, daß aus dem [demokratischen; E. M.] Mehrheitsprinzip nicht neues Unheil wie in der Weimarer Zeit erwächst?55 Wie Stein betont Grimme außerdem die Notwendigkeit der Erneuerung des Erziehungs­ geistes vor allen strukturellen Reformen.56 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für Stein wie für Grimme gilt, dass Erziehung mythisch überhöht bleibt, sie nach wie vor mit einer Heilserwartung verknüpft wird. Ihre Möglichkeiten und Grenzen werden nicht nüchtern betrachtet, Erziehung wird vielmehr mit Erwartungen überfrachtet, die sie so nie einlösen kann, da sie nur eine neben anderen kulturellen Praxen darstellt, die sich in wechselseitiger Abhängigkeit befinden.57 52 53 54 55 56 57

Adolf Grimme: Rettet den Menschen. Ansprachen und Aufsätze. Braunschweig u. a. 1949. S. 73. Grimme: Rettet den Menschen (Anm. 52). S. 104. Grimme: Rettet den Menschen (Anm. 52). S. 115. Grimme: Rettet den Menschen (Anm. 52). S. 149. Vgl. Grimme: Rettet den Menschen (Anm. 52). S. 89. Ohne dass hier ausführlicher auf die Reeducation­Programme der amerikanischen und britischen Besatzungsmächte eingegangen werden kann, da dies den Rahmen des Textes sprengen würde, ist darauf hinzuweisen, dass bei allem offensichtlichen Erziehungsoptimismus, der den Programmen zugrunde lag, die wechselseitige Verschränkung der einzelnen Handlungspraxen in den einschlägi­

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Ausblick Skizzenhaft, als erster Aufriss für ein geplantes größeres Forschungsprojekt, konnte an drei Fallbeispielen gezeigt werden, wie immer wieder nicht zuletzt seitens der Politik – also nicht nur seitens der Pädagogik selbst, deren kluge Vertreter immer wieder auch die Grenzen ihrer Wirksamkeit beton(t)en!58 – der Erziehung die Wirkungsmacht in Reden und Denkschriften nahezu beschwörend zugeschrieben wird, ein besiegtes Land/Volk zu retten, eine Niederlage quasi in einen zukünftigen militärischen und/oder humanen Sieg überführen zu können.

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gen Papieren durchaus gesehen wurde. So lesen wir etwa in dem ersten programmatischen amerika­ nischen Dokument zur Reeducation, dem ,Long­Range Policy Statement for German Re­educationʻ vom 5. Juni 1946, mit dessen Konzipierung im Mai 1945 im State Department begonnen wurde, Folgendes: 1. The re-education of the German people can be effective only as it is an integral part of a comprehensive programme for their rehabilitation. The cultural and moral re-education of the nation must, therefore, be related to policies calculated to restore the stability of a peaceful German economy and to hold out hope for the ultimate recovery of national unity and self-respect (zitiert nach Karl­Ernst Bungenstab: Umerziehung zur Demokratie? Re­education­Politik im Bildungswe­ sen der US­Zone 1945–1949. Düsseldorf 1970. S. 181). Der Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, General Lucius Clay, sprach der Er­ ziehungsreform innerhalb der Gesamtrehabilitation eine wichtige Rolle zu, aber – so zumindest der amerikanische Wissenschaftler Henry Kellermann – in der Reihenfolge seiner Prioritäten sei jene „hinter den politischen und wirtschaftlichen entschieden“ zurückgetreten. Deutlich würde dies an der finanziellen Prioritätensetzung Clays im äußerst kalten Winter 1946/47. Er habe gesagt, dass „Demokratie nicht vor leeren Mägen doziert werden“ könne (Henry Kellermann: Von Re­education zu Re­orientation. Das amerikanische Re­orientierungsprogramm im Nachkriegsdeutschland. In: Manfred Heinemann (Hg.): Umerziehung und Wiederaufbau. Die Bildungspolitik der Besatzungs­ mächte in Deutschland und Österreich. Stuttgart 1981. S. 86–102, hier S. 94). In einem Dokument der englischen Gruppe der German Educational Reconstruction aus dem Jahre 1944 ist zu lesen: Post-war educational reconstruction in Germany will be decisively determined by the social and political conditions under which and for which this educational work takes place. Certain ‘political solutions’ would exclude any kind of educational reconstruction as we understand it while others would endanger or hinder it very much (zitiert nach Günter Pakschies: Umerziehung in der Britischen Zone 1945–1949. Untersuchungen zur britischen Re­education­Politik. Weinheim/Basel 1979. S. 339). Doch soll auch folgende Feststellung von Robert Birley, dem Berater des englischen Militärgou­ verneurs in Erziehungsfragen, nicht unterschlagen werden, die er in einer Vorlesung an der St. An­ drews University 1963 äußerte: There are many signs in Western Germany today that democracy is more firmly rooted than most of us have believed possible in 1945 und seinen Vortrag mit den Worten beschließt: Perhaps we may allow some of the credit for this to the work of those French, American and British who, for a few years, were allowed as one of the results of military victory to influence the building up of new educational ideals in Western Germany (zitiert nach Kurt Jürgens­ en: Zum Problem der ,Political Re­educationʻ. In: Manfred Heinemann (Hg.): Umerziehung und Wiederaufbau. Die Bildungspolitik der Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich. Stuttgart 1981. S. 114–139, hier S. 138). Vgl. hierzu etwa Ulrich Herrmann (Hg.): ,Neue Erziehungʻ – ,Neue Menschenʻ. Ansätze zur Er­ ziehungs­ und Bildungsreform in Deutschland zwischen Kaiserreich und Diktatur. Weinheim/Basel 1987.

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Aber nicht nur als Retterin des Landes – vorgeschaltet aller Politik und Ökonomie und diese erst fundierend – wird die Erziehung gesehen, sondern auch als die Unglücksbrin­ gerin, die Zerstörerin. Dies soll hier abschließend noch kurz mit drei Beispielen belegt werden, stellt es doch die andere Seite der Medaille dar, da ja derselbe Glaube an die Wirkmächtigkeit der Erziehung dahinter steckt. Mein erstes Beispiel ist die Ansprache des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. an die Seminarlehrer (also die Erzieher der Volksschullehrer), die mit folgenden Sätzen beginnt: All das Elend, das im verflossenen Jahre [die Revolution von 1848 ist gemeint; E. M.] über Preußen hereingebrochen, ist Ihre, einzig Ihre Schuld, die Schuld der Afterbildung, der irreligiösen Menschenweisheit, die Sie als echte Weisheit verbreiten, mit der Sie den Glauben und die Treue in dem Gemüthe Meiner Unterthanen ausgerottet und deren Herzen von Mir abgewandt haben.59 Als zweites Beispiel wähle ich die Eröffnungsansprache Kaiser Wilhelms II. bei der Schulkonferenz von 1890, in der er die Ausbreitung sozialistischer Ideen beklagt, die das Wilhelminische Kaiserreich beschädigten und den Grund in der Erziehung der Jugend sieht, die nicht patriotisch genug sei.60 Mein drittes Beispiel stellen öffentliche Reakti­ onen auf die Hessischen Rahmenrichtlinien dar, die mit dem erklärten Ziel einer neuen gesellschaftskritischen Erziehung eingeführt wurden. Vor allem die Hessischen Rahmen­ richtlinien Gesellschaftslehre und die in ihnen enthaltene Darstellung der Familie stießen auf scharfe Kritik. So sprach etwa der Historiker und – wie er in diesem Kontext betonte – Sozialdemokrat Thomas Nipperdey in einem erstmals 1973 in der ,Frankfurter All­ gemeinen Zeitungʻ veröffentlichten Beitrag von der Auflösung der personalen Bindung durch Soziologisierung, und zwar mit pädagogischen Mitteln, mit dem totalen Informations- und Machtanspruch der Schule.61 Er kommt zu dem Fazit, dass der Mensch der Rahmenrichtlinien, der Jugendliche, planmäßig verunsichert [...], vom Unmittelbaren und Selbstverständlichen überfallartig distanziert, in Norm- und Wertvorstellungen erschüttert werden solle.62 In einem Gutachten zu den Rahmenrichtlinien prognostiziert er gesellschaftliche Unruhen: Die soziologisch-psychologische Distanzierung der Kinder von den Eltern ist die notwendige Folge, die Mobilisierung der Kinder gegen die Eltern die wahrscheinliche63.64 59

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Zitiert nach Berthold Michael/Heinz­Hermann Schepp: Die Schule in Staat und Gesellschaft. Dokumente zur deutschen Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen/Zürich 1993. S. 167. Zitiert nach Michael/Schepp: Die Schule in Staat und Gesellschaft (Anm. 59). S. 187. Thomas Nipperdey: Ist Konflikt die einzige Wahrheit der Gesellschaft? Mensch und Gesellschaft in den hessischen Rahmenrichtlinien. In: Bernhard Vogel (Hg.): Schule am Scheideweg. Die hessi­ schen Rahmenrichtlinien in der Diskussion. München/Wien 1974. S. 130–153, hier S. 144. Nipperdey: Ist Konflikt die einzige Wahrheit der Gesellschaft? (Anm. 61). S. 146. Thomas Nipperdey: Konflikt – Einzige Wahrheit der Gesellschaft? Zur Kritik der hessischen Rah­ menrichtlinien. Osnabrück 1974. S. 69. Vgl. hierzu auch Eva Matthes: Die Familie als Lerngegenstand in den ,Hessischen Rahmenricht­ linien Gesellschaftslehreʻ 1972 und 1973, in den zugelassenen Lehrmitteln und in der Unterricht­ spraxis. In: Eva Matthes/Carsten Heinze (Hg.): Das Schulbuch zwischen Lehrplan und Unterricht­ spraxis. Bad Heilbrunn/Obb. 2005. S. 179–190.

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Welche Wirkmächtigkeit wird der Erziehung zugesprochen, wenn von notwendige[r] Folge oder vom Produkt der Erziehung die Rede ist? Spielt der Glaube an die Freiheit des Menschen beim Thema Erziehung keine Rolle mehr? Wird Erziehung im öffentli­ chen Diskurs behavioristisch bzw. als wirkungsvollste, als mächtigste kulturelle Praxis gedacht? Um nicht missverstanden zu werden: Dieser Text ist kein Plädoyer für die Ohnmachts­ zuschreibung an Erziehung oder die Verkennung ihrer Bedeutsamkeit für kulturelle Kon­ tinuität und Transformation. Er impliziert allerdings die feste Überzeugung, dass es keine Erziehungsidee, wie auch immer sie ausfalle, aber auch keine Struktur des Erziehungs­ wesens, wie auch immer sie beschaffen sei, geben könne, die einen neuen Menschen oder eine neue Kultur oder Gesellschaft schaffen könnten, wenn nicht die anderen kulturellen Praxen den entsprechenden Zielsetzungen korrespondieren und die politische Praxis die entsprechenden Rahmenbedingungen hierfür schafft.

Sine vi humana, sed verbo. Macht und Aporien der religiösen Kommunikation von Ohnmacht Bernd Oberdorfer

Zu den auffälligsten Momenten der reformatorischen Bewegungen im 16. Jahrhundert gehört sicherlich die Machtkritik, genauer: die Kritik an der politischen Macht der Kir­ che, der – erheblich weniger deutlich – eine Kritik der religiösen Einflussnahme des Staates korrespondierte. Besonders plastisch artikulierte sich diese Machtkritik in der scharfen Ablehnung einer Personalunion von geistlicher und weltlicher Amtsgewalt in Gestalt der Fürstbischöfe. Potenziert galt dies natürlich auch für die Päpste, deren ver­ weltlichte Lebens­ und Amtsführung Luther schon in den 95 Thesen von 1517 kritisier­ te1 und deren politisches Selbstverständnis weithin als Widerspruch zu ihrem religiösen Autoritätsanspruch wahrgenommen wurde und auch entscheidend zum Plausibilitäts­ verlust dieses Anspruchs beitrug.2 Exemplarisch wurde die Forderung einer ‚gewaltfrei­ en‘ Amtsführung der Bischöfe formuliert im 28. Artikel der Confessio Augustana von 1530: Weil das Bischofsamt strikt auf die Aufgabe der Evangeliumsverkündigung und der evangeliumsgemäßen Spendung der Sakramente bezogen ist, sollen die Bischöfe ihr Amt sine vi humana, sed verbo ausüben.3 Diese viel diskutierte Formel4 schließt zum einen die Übernahme weltlicher Herrschaft durch Bischöfe aus; sie benennt aber zum an­ deren auch die Form evangeliumsgemäßer Autorität innerhalb der Kirche: Sowenig wie das Gegebensein eines durch Ordination übertragenen geistlichen Amtes eine qualitative oder quantitative Differenz in der durch die Taufe begründeten einen Christenheit kon­ stituiert – Pfarrer sind Christenmenschen wie alle anderen auch, haben nur eine spezifi­ 1

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Martin Luther: Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum / Disputation zur Erläuterung der Kraft des Ablasses (1517). WA 1. S. 233–238; Übersetzung in: Ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1982. S. 28–37. Vgl. beson­ ders die Kritik am weltlichen Reichtum des Papstes (Th. 86) und generell am Anhäufen „zeitlicher Schätze“ durch die Kirche (Th. 57). Indirekt gab die römische Kirche dieser Kritik – die ohnehin bei weitem nicht nur von den Refor­ matoren, sondern etwa auch von Humanisten wie Erasmus von Rotterdam formuliert wurde – fak­ tisch recht, indem die tridentinischen Reformen eine Neuakzentuierung des geistlichen Verständ­ nisses von Bischofsamt und Papsttum einschlossen. BSLK S. 120–133, hier S. 124,9f. Zu CA 28 vgl. ausführlich: Gunther Wenz: Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch­luthe­ rischen Kirche. Bd. 2. Berlin/New York 1998. S. 370–412 (mit weiterer Literatur).

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sche Funktion –, sowenig entsteht durch die Etablierung von überregionalen Leitungsin­ stanzen eine geistliche Hierarchie in der Kirche. Zugrunde liegt hier die reformatorische Überzeugung, dass das Evangelium sich zwar im Medium menschlicher Verkündigung, aber nicht kraft menschlicher Autorität Glauben wirkend Geltung verschafft, oder anders ausgedrückt: dass es sich und seine Wahrheit durch sich selbst erweist und dafür nicht angewiesen ist auf die Mittel menschlicher Interessendurchsetzung. Zwar ist die Aufgabe der ,Aufsichtʻ, der episkopé, die CA 28 den Bischöfen zuschreibt, durchaus eine geistliche Aufgabe. Sie kann aber genau deshalb nicht mit weltlichen Methoden erfüllt werden. Die Reformatoren verkennen nicht, dass die Kirche als geistliche Gemeinschaft zugleich auch eine irdisch­weltliche Institution mit organisationsförmigen Strukturen ist, mit klar zuordenbaren Funktionen und transparenten Entscheidungswegen. Aber die dafür not­ wendigen Funktionshierarchien sind nicht geistlicher Natur, sie sind iure humano, nicht iure divino.5 In dieser Hinsicht bildeten die Reformatoren ihre später sog. ,Zwei­Reiche­Lehreʻ6 auf die Kirche selbst ab. Diese Lehre besagt bekanntlich, dass Gott seine Welt in zwei unterschiedlichen Weisen regiert: in geistlicher Weise durch das von der Kirche ‚gewalt­ los‘ verkündigte, Glauben und Heil in den Herzen wirkende Wort des Evangeliums, in weltlicher Weise durch die notfalls mit Zwangsmitteln die äußere Ordnung herstellende und schützende weltliche Obrigkeit. Weil nun die Kirche als irdisch­weltliche Institution ebenfalls einer äußeren Ordnung bedarf, hatten die Reformatoren keine Probleme da­ mit, der weltlichen Obrigkeit eine aktive Bedeutung für die Kirchenleitung im Sinne der Gestaltung und Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung und der Organisationsstruktur zuzuschreiben7; das ,landesherrliche Kirchenregimentʻ wurde denn auch bis 1918 die übliche Organisationsform deutscher protestantischer Kirchen.8 Klar musste nur sein, dass diese äußere Ordnung dem Schutz des freien Vollzugs der Verkündigung des Got­ teswortes zu dienen hatte. Die Obrigkeit hatte also weder das Recht, auf die inhaltliche Bestimmtheit der Verkündigung Einfluss zu nehmen, noch fiel ihr die Aufgabe zu, mit ihren genuinen (Zwangs­) Mitteln die Ausbreitung des Evangeliums ins Werk zu setzen. Nicht nur für das Bischofsamt im Besonderen, sondern für die kirchliche Verkündigung im Allgemeinen sollte gelten: sine vi humana, sed verbo. Auch hier verstanden die Reformatoren Reformation als ,Re­formatioʻ, als Rückkehr zur ursprünglichen Gestalt, zum Ursprungsimpuls des Christentums. Und Überzeugungs­ kraft gewann die reformatorische Machtkritik gerade durch die im Volk wie unter den 5

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So Melanchthon im Blick auf das Papsttum; vgl. Tractatus de potestate papae (BSLK S. 469–498). Ähnlich Luther, wenngleich skeptischer hinsichtlich der Integrationskraft eines solchen Leitungs­ amts ‚menschlichen Rechts‘; vgl. Schmalkaldische Artikel. II. Teil. Art. 4 (BSLK S. 427–433). Vgl. dazu knapp Wolfgang Lienemann: Art. Zwei­Reiche­Lehre. In: EKL3. Bd. 4. 1996. Sp. 1408– 1419 und Eilert Herms: Art. Zwei­Reiche­Lehre/Zwei­Regimenten­Lehre. In: RGG4. Bd. 8. 2005. Sp. 1936–1941 (Lit.). So schon in Luthers Schrift ,An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Stan­ des Besserungʻ von 1520 (WA 6. S. 404–469, neudeutsch u. a. in: Bornkamm/Ebeling: Ausgewähl­ te Schriften Bd. 1 [Anm. 1]. S. 151–237). Vgl. dazu knapp Heinrich de Wall: Art. Kirchenregiment. In: RGG4. Bd. 4. 2001. Sp. 1292–1294 (Lit.).

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Gebildeten weit verbreitete Intuition, dass die Vermischung von geistlicher und weltli­ cher Gewalt den spezifisch religiösen Charakter der Kirche kontaminiere. Allerdings entstand an dieser Stelle sofort ein grundlegendes Dilemma. Denn die Kri­ tik an der weltlichen Macht der Kirche wurde selbst Teil und Mittel des Kampfes um die kommunikative Durchsetzung reformatorischen Gedankenguts – und diese Durch­ setzung war zugleich gebunden an und verbunden mit Motiven und Instanzen politischer Interessendurchsetzung. Bei genauerer Betrachtung erschließt sich also die dargestellte Konstellation als nur vermeintlich klar; sie enthält vielmehr starke Momente des Mehr­ deutigen, Polyvalenten, ja Paradoxen. Auf der historischen Ebene kann diese Beobach­ tung helfen zu verstehen, warum die Reformation zwar ‚überlebt‘, aber nicht auf ganzer Linie ‚gesiegt‘ hat. Systematisch lassen sich daran Paradoxien und Ambiguitäten der Kommunikation von Ohnmacht herausarbeiten. Beides will ich im Folgenden versuchen. Zunächst ist völlig klar, dass zu den Erfolgsbedingungen der Reformation von An­ fang an eine spezifische politisch­institutionelle Interessenkonstellation gehörte, die es für bestimmte politische Akteure und gesellschaftliche Schichten politisch und teils auch ökonomisch vorteilhaft erscheinen ließ, sich für die kirchliche Reformation einzusetzen, sie zu unterstützen und zu fördern. Dass dies nötig war, wird auch im Vergleich mit Kir­ chenreformern wie Valdes, Wyclif oder Hus deutlich, bei denen diese Rahmenbedingun­ gen fehlten und deren Ansätze daher letztlich entweder versickerten (Wyclif) oder nur in stark geschwächter Form fortdauerten, geschützt und gestützt durch ihr Eingehen in die historisch viel wirkmächtigere reformatorische Bewegung seit dem 16. Jahrhundert.9 Sie kamen offensichtlich zu früh (oder: zur falschen Zeit), um erfolgreich zu sein. Zu diesen Erfolgsbedingungen gehörte u. a. das komplexe Machtgefüge zwischen Partikularinstanzen und Zentralinstanz, also zwischen Territorialherrschern und Kaiser im Deutschen Reich – ohne welches etwa weder der Schutz Luthers durch die sächsi­ schen Kurfürsten noch die Unfähigkeit des Kaisers, die rechtsverbindlich festgelegten Maßnahmen gegen Luther und die ihn unterstützenden Stände durchzuführen, denkbar und möglich gewesen wären. In gewisser Weise war Luther immer auch eine Spielfigur im Selbstbehauptungskampf der Partikularmächte gegen die Zentralmacht. Ähnliches gilt für die Papstkritik, für die die verbreitete Aversion der deutschen Stände gegen die ökonomischen Forderungen der Kurie (,Gravaminaʻ) massiv resonanz­ und plausibili­ tätsverstärkend wirkte. Bei der Durchführung der Reformation in den Territorien spielte sicher auch das ökonomische Interesse der weltlichen Obrigkeiten an der Übernahme von ,Kirchengutʻ eine fördernde Rolle. Umgekehrt ist zu bedenken, dass die Reformatoren bei der öffentlichen Geltendma­ chung ihres reformatorischen Gedankenguts immer auch des Schutzes durch die politi­ sche Macht bedurften. In bestimmter Hinsicht war die ‚gewaltfreie‘ Verkündigung des Evangeliums also von Anfang an ‚machtgeschützt‘. Und es gibt Beispiele dafür, dass die Reformatoren die Macht auch instrumentalisierten, wenn es darum ging, bei der kommu­ nikativen Durchsetzung der reformatorischen Deutung des christlichen Glaubens ande­ 9

Wyclifs Ideen lebten allerdings über den von ihm stark beeinflussten Hus weiter. Zu Wyclif vgl. meinen Beitrag: John Wyclif. In: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Klassiker der Theologie. Bd. 1: Von Tertullian bis Calvin. München 2005. S. 224–240.

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re, widersprechende Deutungen zu bekämpfen. Klassisch ist die von Luther veranlasste Vertreibung Andreas Karlstadts von sächsischem Territorium. Karlstadt, ein früher För­ derer und Mitstreiter Luthers, hatte sich von diesem losgesagt und sich nach Orlamünde zurückgezogen, wo er eine Art Basisgemeinde etablierte, ohne deren überregionale Aus­ breitung anzustreben. Statt darauf zu vertrauen, dass sich gegen derartige von ihnen als Irrlehren qualifizierte Positionen ihre Deutung des Evangeliums durch sich selbst und ‚gewaltlos‘ durchsetzen werde, erwirkten die Wittenberger Reformatoren bei der säch­ sischen Obrigkeit 1524 die Ausweisung Karlstadts.10 Nach dem Ende des Bauernkriegs konnte Karlstadt zwar mit Zustimmung Luthers nach Kursachsen zurückkehren, nach­ dem er der Gewalt als Mittel der Ausbreitung der Reformation öffentlich eine Absage erteilt und seine theologischen Positionen als bloße „Diskussionsmeinung“11 relativiert hatte. Er behielt aber Predigt­ und Publikationsverbot und musste 1529 nach „Entde­ ckung seiner heimlich geführten Korrespondenz“12 erneut fliehen.13 Begründet wurden diese Maßnahmen nicht unmittelbar mit der religiösen Devianz selbst (sofern dieser nicht direkt Gewaltbereitschaft unterstellt werden konnte), sondern mit der Gefahr, die religiöse Uneinigkeit für die öffentliche Ordnung darstellte. Es war mithin ein ordnungspolitisches Argument, das die Reformatoren die Unterbindung der öffentlichen Artikulation abweichender religiöser Meinungen und Kultpraxen fordern ließ. Damit entsprachen sie zwar formal ihrer Unterscheidung von geistlicher und weltli­ cher Sphäre; faktisch aber waren die politischen Maßnahmen von religiöser Verfolgung nicht mehr unterscheidbar. Bekanntlich war Karlstadt nicht der Einzige. Generell praktizierten auch die re­ formatorisch gesinnten Obrigkeiten eine harte Politik gegenüber den sogenannten ,Wiedertäufernʻ, also den heute als ,linker Flügelʻ der Reformation apostrophierten Grup­ pen, die die christliche Botschaft radikal weltkritisch auslegten und daher eine Beteili­ gung an der Gestaltung der äußeren Ordnung ablehnten, wenn sie diese Ordnung nicht sogar – wie Thomas Müntzer oder die Münsteraner Täufer – militant bekämpften, um eine wahrhaft gottgemäße Ordnung herbeizuführen. Erst vor kurzem, im Jahr 2010, hat der Lutherische Weltbund sich im Namen der lutherischen Kirchen bei den Mennoni­ ten, einer sich auf die friedliche Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts zurückführenden protestantischen Friedenskirche, für die Verfolgung ihrer Vorfahren durch lutherische Christen im 16. Jahrhundert offiziell entschuldigt. Und zwar genau deshalb, weil aus heutiger Sicht diese Verfolgung als innerer Widerspruch, man könnte auch sagen: als per­ formativer Widerspruch erscheint, indem die Reformatoren ihre Botschaft von der freien 10 11 12 13

Zu Karlstadt Konflikt mit Luther vgl. knapp Reinhard Schwarz: Luther. Göttingen 1986. S. 141–144. Schwarz: Luther (Anm. 10). S. 143. Hans­Peter Hasse: Art. „Karlstadt“. In RGG4. Bd. 4. 2001. Sp. 820f., hier Sp. 821. Schwarz: Luther (Anm. 10). S. 144 verharmlost den Vorgang, wenn er Karlstadt „aus eigener Initi­ ative“ Sachsen verlassen lässt. Erst nach einer längeren Phase unsteten Wanderns fand Karlstadt in den reformierten Hochburgen Zürich (ab 1530) und Basel (ab 1535) eine sichere Bleibe und in Basel auch eine feste Anstellung als Universitätsprofessor. Dass dies nichts mit einer größeren Toleranz der Reformierten, sondern mit Karlstadts größerer theologischer Nähe zu den Basler und Züricher Reformatoren zu tun hatte, sei nur erwähnt. Drei Jahrzehnte später – um nur ein Beispiel zu nennen – wurde der Humanist und Calvinkritiker Sebastian Castellio aus demselben Basel vertrieben.

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Selbstdurchsetzung des Evangeliums durch repressive Zwangsmaßnahmen konterkarier­ ten. Aus den Verfolgten wurden Verfolger. Dies wird nicht durch den Hinweis relativiert, dass die reformatorischen Obrigkeiten in dieser Frage unter massivem Druck standen, weil sie sich bei einer laxen Handhabung dem Vorwurf der ‚römischen‘ Gegner ausge­ setzt hätten, eine Auflösung der Rechtsordnung hinzunehmen oder gar zu fördern. Denn dieser Hinweis macht nur noch einmal das gewissermaßen ‚objektive‘ Dilemma deutlich, dass die Reformatoren sich zur kommunikativen Verbreitung ihrer ‚gewaltfreien‘ Deu­ tung des Evangeliums gewaltförmiger oder jedenfalls gewaltaffiner Methoden bedienten und vielleicht sogar bedienen mussten, dass sie sich in einem Netzwerk polyvalenter In­ teressen bewegten, das zwar das Überleben der Reformation ermöglichte, zugleich aber ihre Motive in ein unvermeidliches Zwielicht rückte. In noch einmal etwas anderer Perspektive wird dies beleuchtet durch eines der dunklen Kapitel der Reformationsgeschichte, den Umgang mit den Juden.14 Luther hat sich bekannt­ lich am Anfang auffällig moderat über die Juden geäußert. Dies hing mit seiner Überzeu­ gung zusammen, dass das von den römischen ‚Entstellungen‘ gereinigte Evangelium nun die Leuchtkraft besitze, um seinen Weg auch zu den Juden zu finden. Doch als sich diese Hoffnungen nicht erfüllten, verschärfte er den Ton, sprach sich für eine Unterdrückung und Ausweisung der Juden aus, bis hin zur Forderung, ihre Synagogen zu verbrennen. Hier wird besonders drastisch deutlich, dass die reformatorische Leitidee der freien und ‚gewalt­ losen‘ Verkündigung des Evangeliums noch keineswegs die neuzeitliche Vorstellung von Toleranz einschloss; ,intolerantʻ in diesem Sinn waren die Reformatoren nicht weniger als ihre römischen Gegner. Jedoch auch fern von anachronistischen Erwartungen dokumen­ tieren Luthers antijüdische Aussagen einen inneren Widerspruch zu der gegenüber Rom und auch gegenüber innerreformatorischen Radikalisierungstendenzen konsequent geltend gemachten Forderung, die Gewissen der Einzelnen zu respektieren und nicht von außen unter Druck zu setzen, vielmehr alles dem freien Ergehen des Gottesworts zu überlassen.15 In zwei Richtungen lohnt sich an dieser Stelle das Weiterdenken: Zum einen kann man fragen, ob nicht in der Heilsbotschaft der Christenheit selbst ein aggressives Potenzial, eine aggressionsfördernde Potenz verborgen liegt, das bzw. die in Luthers antijüdischer Polemik nur besonders rabiat zum Ausbruch gekommen wäre. Zum anderen (und in ge­ wisser Weise gegenläufig dazu) kann man fragen, woher eigentlich die Intuition stammt, dass die gewaltförmige Kommunikation der christlichen Botschaft dem ursprünglichen und authentischen ,Geist des Christentumsʻ widerspreche. Die Antwort auf die zweite Frage fällt relativ leicht: Es ist die kommunizierte Bot­ schaft selbst, die auf den performativen Widerspruch aufmerksam macht. Anders ausge­ drückt: Die Kommunikation transportiert unvermeidlich ihr eigenes Kriterium mit. Damit 14

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Vgl. dazu etwa: Hans­Martin Barth: Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung. Gü­ tersloh 2009. S. 49–63. Vgl. dazu Luthers Invocavit­Predigten von 1522, in denen er sich gegen die (von Karlstadt und anderen ins Werk gesetzte) überstürzte Einführung der (von ihm in der Sache bejahten) liturgischen Reformen wandte, sofern dadurch die Gewissen der Gläubigen verunsichert würden: Acht Sermone D. Martin Luthers von ihm gepredigt zu Wittenberg in den Fasten. WA 10III. S. 1–64 (neudeutsch in: Luther Deutsch. Hg. von Kurt Aland. Bd. 4. 4. Aufl. Göttingen 1990. S. 61–94).

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scheint aber die erste Frage bereits eindeutig in dem Sinn beantwortet zu sein, dass von einem aggressionsfördernden Potenzial der christlichen Heilsbotschaft nicht gesprochen werden kann. Das ist aber nur bedingt der Fall. Denn das christliche Evangelium tritt mit einen Universalitätsanspruch auf – Christus ist der Heiland aller Völker –, der zur uni­ versalen Ausbreitung der Wahrheit verpflichtet, und schließt insofern eine Kritik anderer Heilswege ein. Allerdings wird ein Triumphalismus eigentümlich gebrochen durch den Inhalt der Heilsbotschaft selbst: Der Heiland ist ein Gekreuzigter, dessen „Reich nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36) ist. Nun wird man kaum sagen können, dass diese Gebrochenheit sich in der Geschichte der Christenheit durchgängig als prägend erwiesen hätte. Zwar führt der Versuch, die Chris­ tentumsgeschichte als ,Kriminalgeschichteʻ zu schreiben, in die offensichtliche Karikatur, die im Geist einer allumfassenden ,Hermeneutik des Verdachtsʻ noch in den vermeintlich menschenfreundlichsten Akten unlautere Motive unterstellen muss oder für wirklich men­ schenfreundliche Akte von Kirchenvertretern letztlich nur nicht­religiöse Gründe namhaft machen kann.16 Doch ziehen sich durch diese Geschichte unverkennbar starke Linien der triumphalen Selbstdurchsetzung, der Gewalt, der Unterdrückung, der Verfolgung und Aus­ grenzung: von der Bekämpfung heidnischer Kulte seit dem theodosianischen Dekret, das die christliche Kirche 380 faktisch zur römischen Staatsreligion machte, über die Zwangs­ christianisierungen z. B. im karolingischen Reich, die Ketzerverfolgungen und Kreuzzüge im Mittelalter, die Conquista in Südamerika, die Konfessionskriege im frühneuzeitlichen Europa bis hin zur kirchlichen Unterstützung autoritärer und totalitärer Gewaltregimes im 20. Jahrhundert (etwa in Spanien17) – um nur einige besonders plakative Beispiele zu nennen. Gleichwohl ist es nicht wirkungslos geblieben, dass in der kommunizierten Heils­ botschaft die Gebrochenheit der göttlichen Heilsdurchsetzung und mithin eine elementare Kritik der triumphalistischen Gewalt immer mitkommuniziert wurde. Damit war ein per­ manenter Reflexions­ und Legitimationsbedarf gleichsam in die Fundamente der christli­ chen Selbstverständigungsdiskurse eingesenkt: Die Beanspruchung weltlicher Zwangs­ mittel für die Durchsetzung religiöser Ziele wurde begründungspflichtig, und zwar nicht gegenüber einer von außen kommenden Instanz,18 sondern gegenüber den aus inneren Gründen als normativ anerkannten eigenen religiösen Überzeugungen. Für die Reformatoren galt dies sogar noch in erhöhtem Maße, hatten sie sich doch der Bindung an die gewachsenen kirchlichen Traditionen entledigt, die durchaus auch als Puffer gegen die normativen Zumutungen der Ursprungszeugnisse dienen konnte, und sich durch das emphatisch vorgetragene „Schriftprinzip“19 gleichsam selber unter 16

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Vgl. Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums. Bisher 9 Bände. Reinbek 1986– 2008. Vgl. dazu Walther L. Bernecker: Der katholische Klerus und das Franco­Regime. In: Bernd Ober­ dorfer/Peter Waldmann (Hg.): Die Ambivalenz des Religiösen. Religionen als Friedensstifter und Gewalterzeuger. Freiburg i. Br. 2008. S. 187–217. Für die Neuzeit kann man allerdings konstatieren, dass die Begründungspflichtigkeit sich massiv verstärkte durch die normativen Zumutungen der säkularen Vernunft. Vgl. dazu meinen Beitrag: Die Bibel als Offenbarungszeugnis und Geschichtsdokument. Theologi­ sche Hermeneutik angesichts der Herausforderungen der Moderne. In: Hubert Zapf (Hg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. III. Tübingen 2007. S. 235–255.

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normativen Druck gesetzt. Faktizität und Geltung waren nicht mehr deckungsgleich; das geschichtlich Gewordene musste sich der Frage stellen, ob es denn ‚schriftgemäßʻ sei. Auch das reformatorische Handeln selbst, die Neugestaltung des kirchlichen und generell des gesellschaftlichen Lebens der ‚nach Gottes Wort reformierten‘ Christenheit, stand unter diesem Vorbehalt. Eine besonders radikale Position vertrat hier Luther. Aufgrund seines apokalyptischen Zeitbewusstseins und seines Vertrauens in die Selbstdurchsetzungskraft des Evangeliums sperrte er sich mit großer Hartnäckigkeit gegen Versuche, dem Evangelium mit politisch­ militärischen Mitteln zum Durchbruch zu verhelfen. Den politisch­militärischen Bünd­ nisplänen der reformatorisch gesinnten Obrigkeiten begegnete er mit großer Skepsis. Sie standen für ihn in einer grundsätzlichen Spannung zu der Forderung des Evangeliums, sich nicht auf das eigene Planen und Handeln zu verlassen, sondern alles von Gott zu erwarten. Aufgabe der Reformation konnte in seinen Augen allein sein, dem Wort Gottes wieder jenen freien Lauf zu lassen, den ihm die römische Kirche durch die Apotheose von ‚Menschensatzungenʻ versperrt hatte. Für Christen erschien es ihm angemessener, um des Bezeugens des Evangeliums willen verfolgt zu werden und Gewalt zu erleiden, als bei der Ausbreitung des Evangeliums selbst Gewalt anzuwenden. Genau deshalb wandte er sich im Übrigen gegen die religiös begründeten Forderungen der Bauern im Bauernkrieg ebenso wie gegen die militanten Täufer und sogar gegen Zwinglis Teilnah­ me an dem Versuch, die Reformation in der Eidgenossenschaft mit militärischen Mit­ teln zu verteidigen und auszubreiten. Signifikant ist auch, dass die möglichen politischen Auswirkungen keinen Einfluss auf seinen Einsatz für die rechte christliche Lehre hatten. Dass sein Streit mit Zwingli um das rechte Abendmahlsverständnis das politisch hoch erwünschte Bündnis mit den Schweizern blockierte, hinderte ihn nicht daran, am als wahr Erkannten kompromisslos festzuhalten. Der grundsätzliche theologische Dissens machte umgekehrt auch einen politisch­pragmatischen Kompromiss unmöglich. Dass zu diesem apokalyptisch gestimmten Verzicht auf innerweltliche ‚Sorgeʻ, der den ‚Erfolgʻ der Verkündigung und auch das Ergehen der Verkündiger martyriumsbereit ganz Gott überlässt, das bereits erwähnte Vorgehen gegen religiöse Devianz in Spannung steht, ist offensichtlich. Wenn man Luther nicht einfach als ‚Mensch in seinem Widerspruchʻ stehen lassen will, muss man nach Erklärungen fragen, die ihm zu Gebote standen, um kognitive Konsonanz herzustellen. Und in dieser Hinsicht ist es dann nur konsequent, dass Luther die Verfolgung und Ausweisung der Täufer und der Juden ordnungspolitisch, ja – um es provokant zuzuspitzen – ‚verantwortungsethischʻ begründete. Denn, wie er­ wähnt, gehörte es für ihn zu den gottgegebenen Aufgaben der weltlichen Obrigkeit, die äußere Ordnung der Gesellschaft aufrecht zu erhalten – eine Aufgabe, die auch durch apokalyptisches Endzeitbewusstsein nicht relativiert wird20 –, und diese äußere Ordnung war nach seiner Überzeugung durch die konfliktträchtige Kopräsenz unterschiedlicher 20

Das Luther zu Unrecht zugeschriebene Wort von dem Apfelbäumchen, das er heute selbst dann noch pflanzen würde, wenn er wüsste, dass morgen die Welt untergeht, trifft trotz ihres apokryphen Charakters diese Haltung recht gut. Seine Hochzeit inmitten der apokalyptischen Wirren des Bau­ ernkriegs 1525 verstand Luther als demonstrativen Ausdruck der Treue zur gottgewollten Ordnung ,dieser Weltʻ.

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religiöser Gruppen gefährdet. Auch die Reformatoren vertraten das Prinzip der religiösen Homogenität auf Territorialebene, das später der Augsburger Religionsfriede von 1555 reichsrechtlich fixierte;21 besonders eklatant zeigt sich das im Übrigen bei Calvin, dessen hartnäckiger Eifer gegen ‚Abweichler‘ unterschiedlichster Couleur völlig missverstanden wäre, wenn man ihn als bloßen Ausdruck individueller Rechthaberei psychologisierte.22 Im Hintergrund stand (bei Calvin wie bei Luther) das ‚verantwortungsethische‘ Mo­ tiv, dass eine öffentliche Duldung strittiger religiöser Überzeugungen die Gewissen der Gläubigen verwirren könnte, was zu verhindern die Aufgabe christlicher Obrigkeit sei. Für Luther spielte dabei auch die elementare Unterscheidung von Christperson und Weltperson eine Rolle: Während der Christenmensch als Christperson für sich selbst auf die Wahrung des Eigeninteresses, des Selbstschutzes, ja der Selbstverteidigung verzichten und im realen wie übertragenen Sinn die andere Wange hinhalten kann und soll, muss er als Weltperson im Geist der Nächstenliebe für Andere Verantwortung übernehmen, für sie eintreten, sie fördern und zur Wahrung ihrer physischen wie geistig­seelischen Integrität sogar bereit sein, z. B. bei der Abwehr von Angriff und Gefahren Gewalt an­ zuwenden. Mit dieser Begründung machte Luther die Mitwirkung an den Aufgaben der staatlichen Obrigkeit (z. B. in Justiz, Polizei und Militär) zur Christenpflicht23; in diesem Licht konnte die täuferische Weltabkehr als Lieblosigkeit erscheinen, die in der trügeri­ schen Meinung, die Welt bereits hinter sich gelassen zu haben, den Sorgen und Nöten der real lebenden Mitmenschen keine Beachtung schenkte und sie in ihrer Bedrohung durch gefährdende Seinsmächte allein ließ.24 In seiner Schrift ‚Von der Freiheit eines Christenmenschenʻ25 stellte Luther sogar einen inneren theologischen, genauer: recht­ fertigungstheologischen Zusammenhang zwischen individuellem Gewaltverzicht und (notfalls gewaltbereiter) Nächstenliebe her: Weil dem Christenmenschen aufgrund des im Glauben angeeigneten versöhnend­erlösenden Heilswirkens Christi ohne eigenes Ver­ dienst bereits alles geschenkt ist, was er für sein unvergängliches Heil braucht, ist er von der Notwendigkeit und dem Zwang befreit, für sich selbst sorgen zu müssen, und kann seine ganze Kraft daher selbstlos in den Dienst der Nächsten stellen. Und im Rahmen von Luthers Berufs­Ethos schloss dies auch die Bereitschaft ein, die ‚Berufsrollen‘ in 21

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Die ,Paritätʻ in den Reichsstädten war die zähneknirschend hingenommene Ausnahme, nicht die gewünschte Regel. Vgl. Axel Gotthard: Der Augsburger Religionsfrieden. Münster 2004. S. 137– 143, bes. S. 143: „Was heute modern anmutet und klar formuliert zu sein scheint, war damals weder zeitgemäß noch fortschrittlich und hat zu den größten Verwicklungen geführt.“ Zur spannungs­ reichen Wirkung des Augsburger Religionsfriedens vgl. auch Ders.: Autonomie des Politischen? Über Befriedungsstrategien und Eskalationsmechanismen im Konfessionellen Zeitalter. In: Bernd Oberdorfer/Peter Waldmann (Hg.): Die Ambivalenz des Religiösen. Religionen als Friedensstifter und Gewalterzeuger. Freiburg i. Br. 2008. S. 339–356. Dieser Gefahr ist Stefan Zweig in seiner (gleichwohl eindrücklichen) Calvindeutung nicht entgan­ gen. Vgl. Ders.: Castellio gegen Calvin oder Gewissen gegen Gewalt (1936). Frankfurt a. M. 1983. Vgl. die klassisch­knappe Formulierung Melanchthons in CA 16. Pazifismus und Wehrdienstverweigerung wurden daher im deutschen Luthertum bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fast einhellig als egoistische Verweigerung der Nächstenliebe abgelehnt. Erst die Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs bewirkten hier ein Umdenken. Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520). WA 7. S. 20–38 (neudeutsch in: Bornkamm/Ebeling Bd. 1 [Anm. 1]. S. 239–263).

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dem jeweiligen bürgerlichen Stand, in den der Einzelne sich gesetzt sah, pflichtbewusst zu erfüllen.26 Ich rekapituliere diesen Gedankengang, um seine Pointen noch einmal zu verdeutli­ chen: Ausgegangen war ich von der These, dass die Beanspruchung weltlicher Gewalt für die Durchsetzung religiöser Ziele im Christentum deshalb begründungspflichtig ist, weil dessen normative Quellen einen Triumphalismus innerweltlicher Selbstdurchset­ zung grundsätzlich problematisieren, so dass die kirchliche Verkündigung in das kul­ turelle Gedächtnis immer wieder neu eine Kritik der Macht einspeist und dabei nolens volens auch der Kirche selbst den Spiegel vorhält. Und ich hatte darauf hingewiesen, dass dies für den Protestantismus wegen seiner emphatischen Hinwendung zu den normativen Quellen der Heiligen Schrift in erhöhtem Maße gilt. Besonders radikal insistierte Luther auf der Selbstdurchsetzungskraft des Evangeliums, weshalb er allen Bemühungen um politische, gar militärische Förderung der Reformation mit tiefem Misstrauen begegnete. Als umso erläuterungsbedürftiger erwies sich dann, dass Luther in exponierten Fällen gleichwohl den Einsatz weltlicher Zwangsmittel zur Bekämpfung religiöser Devianz be­ fürwortete. Luther griff hier auf das Modell der „Zwei­Reiche­Lehre“ zurück, das es ihm ermöglichte, die Verfolgung andersgläubiger Individuen und Gruppen als ordnungspoli­ tische Maßnahme zu deuten, die in der Verantwortung der Obrigkeit stehe, um Unruhe und Konflikte in der Gesellschaft zu verhindern und die Gewissen der Gläubigen vor Irritation zu bewahren. Dass Christen sich an derartigen Maßnahmen beteiligen können, ja müssen, begründete er mit dem Gebot der Nächstenliebe: Das Evangelium befreit zwar vom Zwang der Selbstsorge, macht aber gerade deshalb frei zum selbstlosen Einsatz für Andere, zu dem auch die Bereitschaft gehört, zur Wahrung einer lebensförderlichen Ord­ nung und zur Eindämmung des Bösen notfalls Gewalt einzusetzen. Zugespitzt gesagt: Gewaltlosigkeit und Gewaltbereitschaft widersprechen sich nicht, sondern bilden einen inneren Zusammenhang. Wohlgemerkt: Diese Überlegungen sollen die Maßnahmen reformatorischer Obrigkei­ ten gegen Täufer und Juden nicht legitimieren. Es gibt weiterhin gute Gründe, der Intuiti­ on zu trauen, dass die Reformatoren damit ihr Vertrauen in die Selbstdurchsetzungskraft des Evangeliums konterkarierten und so ihr reformatorisches Anliegen ins Zwielicht setzten und (zumindest längerfristig) der Akzeptanz der Reformation als authentischere Alternative zu ‚Rom‘ schadeten. Man kann im Übrigen sogar ohne Konsistenzproble­ me die theologischen Pointen der reformatorischen Verhältnisbestimmung von Glaube und Weltverantwortung weiterhin überzeugend finden und dennoch die geschichtlichen Konsequenzen, die daraus in den genannten Fällen gezogen wurden, kritisch beurteilen. Dass es zu den ordnungspolitischen Aufgaben der Obrigkeit gehöre, religionskulturelle Homogenität herzustellen, wird ja auch der nicht mehr ohne Weiteres behaupten wollen, der die Ordnungsfunktion des Staates aus theologischen Gründen bejaht.27 26

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Übrigens schrieb Luther an dieser Stelle der Askese eine legitime Funktion zu: Die Erfüllung der ‚Berufspflichtʻ impliziert eine ‚asketische‘ Zurückstellung der eigenen Neigungen und Interessen. Freilich bedurfte es langer Erfahrungen religiös begründeter Konflikte einerseits, friedlichen Zu­ sammenlebens unterschiedlicher Religionsgruppen andererseits, um diese Einsicht kulturell zu ver­ festigen. Im Blick auf die Juden war das noch lange hoch umstritten; vgl. dazu exemplarisch mei­

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Mir geht es aber noch um etwas anderes. Bewusst habe ich vorhin en passant die Berg­ predigt zitiert, als es um den Verzicht auf individuelle Selbstverteidigung und Interes­ senwahrung ging. Denn die Bergpredigt (Mt 5–7) ist natürlich ein zentraler Referenztext für jene Durchbrechung innerweltlicher Erfolgskategorien, die ein integrales Moment der christlichen Heilsbotschaft darstellt. Das beginnt – um nur einige Aspekte heraus­ zugreifen – bereits mit den einleitenden ‚Seligpreisungenʻ (Mt 5,3­10), die in paradoxer Umkehrung der eingespielten Erwartungen denjenigen Glückseligkeit zusprechen, die nach den gängigen Urteilsstandards von Glück und Wohlergehen ausgeschlossen sind: den geistlich Armen, den um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, den nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden.28 Die folgenden ,Antithesenʻ (Mt 5,21–48) radikalisie­ ren die allseits akzeptierten Verhaltensnormen, indem sie die dem Handeln vorgelagerte mentale Disposition ausleuchten, die Gebotsübertretung schon in der Gesinnung verorten und so eine bloß formale Gebotserfüllung als Heuchelei entlarven. Fordern sie zudem den freiwilligen Verzicht auf eigentlich zustehende Rechtsansprüche, so wird im Weiteren (Mt 6,19–34) generell mit Verweis auf die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde die übliche Daseinsvorsorge problematisiert im Namen eines rückhaltlosen Vertrauens auf jenen Gott, der seinen Kreaturen das schon geben wird, wessen sie bedür­ fen. Nicht zufällig gilt die Bergpredigt bis heute – und zwar bei Christen wie Nichtchris­ ten (Gandhi!) – als Inbegriff einer spezifisch christlichen Daseinshaltung, eines spezifisch christlichen Ethos. Schon der Evangelist Matthäus hat sie gleichsam als programmatische Musterpredigt Jesu komponiert, und es finden sich überall im Neuen Testament weitere Spuren dieser paradoxen ‚Umwertung aller Werte‘ – vom marianischen ‚Magnificatʻ in Lk 2 (Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhöht die Niedrigen) bis zur paulinischen Aussage, Gott habe nicht die Klugen und Mächtigen erwählt, sondern das, was vor der Welt als töricht, schwach, gering, ja nicht­seiend (wertlos) erscheint (1 Kor 1,26–29). Schon im Neuen Testament selber wird indes die Frage nach der Lebbarkeit dieses Ethos thematisiert. Als Jesus den reichen Jüngling mit der Forderung brüskiert, seinen Besitz zu verkaufen und den Erlös den Armen zu geben, fragen die Jünger konsterniert: Ja, wer kann dann selig werden? (Mt 19,25) Jesu Antwort –Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich (Mt 19,26) – verweist noch einmal zurück auf das in der Bergpredigt geforderte rückhaltlose Gottvertrauen und bietet also letztlich keine Vermittlung der radikalen Forderung mit der brüchigen Lebenswirklichkeit an.29 Gleichwohl ist dieser Wortwechsel ein frühes Beispiel für die Aufgabe, mit den die Ho­ rizonte der gegebenen Erwartungskultur provokativ durchbrechenden Zumutungen der Botschaft Jesu deutend­konstruktiv umzugehen. Vorgezeichnet ist damit die die ganze

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nen Beitrag: Sind nur Christen gute Bürger? Ein Streit um die Einbürgerung der Juden am Ende des 18. Jahrhunderts: Verheißungsvoller Ansatz für ein friedliches Zusammenleben oder erster Schritt zu den Nürnberger Gesetzen? In: KuD 44 (1998). S. 290–310. Die aktuellen Diskussionen um eine ‚christlicheʻ oder ‚jüdisch­christliche Leitkulturʻ zeigen, dass entsprechende Fragen im Blick auf den Islam erneut aufbrechen. In der Parallelfassung bei Lukas (Lk 6,20–22), die vielen Forschern als die ursprünglichere gilt, ist bezeichnenderweise nur von Armen und Hungernden die Rede, ist also primär eine Notlage der elementaren Lebensbedingungen angesprochen. Man könnte sogar sagen, dass sie eine solche Vermittlung konsequent verweigert.

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Christentumsgeschichte durchziehende hermeneutische Herausforderung, mit der durch die ‚sperrigen‘ Texte der Eigentradition – exemplarisch: durch die Bergpredigt – un­ vermeidlich mitkommunizierten permanenten ‚Selbstbeunruhigung‘ zurechtzukommen. Was dies bedeutet und welche ‚Strategien‘ dabei zum Vorschein kommen, will ich ab­ schließend in wenigen Strichen andeuten. Zunächst ist zu bemerken, dass das Christentum von Anfang an nicht prinzipiell weltverneinend und asketisch angelegt war. Jesus wurde als Fresser und Weinsäufer (Mt 11,19) geschmäht, und gerade in der Bergpredigt ist es ja der Schöpfer des Himmels und der Erde, auf dessen Fürsorge für Vögel, Lilien und Menschen die Jünger ihr gan­ zes Vertrauen setzen sollen. Wenn im 2. Jahrhundert die ‚katholischenʻ Christen in einer folgenreichen Entscheidung sich von dem gnostisch­esoterischen Dualismus distanzier­ ten, der die materielle Welt als verunglücktes Machwerk einer subalternen Seinsform der Gottheit denunzierte, und sich stattdessen zum Schöpfergott des Alten Bundes bekann­ ten, der am Ende des sechsten Schöpfungstags sah, dass alles sehr gut war (Gen 1,31), dann steht diese prononcierte Weltbejahung durchaus in Kontinuität zur jesuanischen Botschaft. Gewiss relativierte das apokalyptische Bewusstsein der frühen Christen, im Anbruch der von den Propheten verheißenen eschatologischen Heilszeit zu leben, die Bedeutung der irdischen Bindungen – das Wesen dieser Welt vergeht, schrieb Paulus (1 Kor 7) und riet angesichts dessen von der Ehe ab. Aber derselbe Paulus legte größten Wert darauf, dass die als unmittelbar bevorstehend erwartete Wiederkunft Christi nicht von der Aufgabe einer verantwortungsvollen Gestaltung der innerweltlichen Lebensfüh­ rung dispensierte: Dezidiert der irdische Leib galt ihm als Tempel des Heiligen Geistes, der nicht z. B. durch den Umgang mit Prostituierten verunreinigt werden darf (1 Kor 6,19 im Zusammenhang von 6,12–20). Allerdings nötigte das längere Ausbleiben dieser Wiederkunft (,Parusieverzögerungʻ) die Christen dazu, das Verhältnis von Weltdistanz und Weltgestaltung neu zu justieren.30 Die gegebenen irdischen Lebensverhältnisse ge­ wannen jetzt stärkere Bedeutung.31 Plakativ gesagt: Die Weltdistanz musste jetzt in die Weltgestaltung integriert, in der Weltgestaltung realisiert werden. In den ersten Jahrhunderten geschah dies weitgehend im Nahbereich der Familie und der Glaubensgruppe. Die Christen hatten keinen Anteil an der politischen Macht und suchten ihn auch nicht. Wenn überhaupt irgend jemals, dann verdankte sich in dieser Zeit ihr Missionserfolg der Attraktivität ihrer Botschaft, flankiert durch die Eindrücklichkeit ihrer religiösen Haltung und die Vorbildlichkeit ihrer Sozialfürsorge,32 und war kein Re­ sultat politischer Förderung. Freilich zeigen die Christenverfolgungen, dass gerade das 30

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Zur religiösen Dialektik von Weltdistanz und Weltgestaltung vgl. meinen Beitrag: Resakralisierung als Signum der Postmoderne? Chancen und Gefahren für den Frieden. In: Bernd Oberdorfer/Peter Waldmann (Hg.): Die Ambivalenz des Religiösen. Religionen als Friedensstifter und Gewalterzeu­ ger. Freiburg i. Br. 2008. S. 377–394. Erkennbar etwa in den ,Haustafelnʻ der deuteropaulinischen und der Pastoral­Briefe (vgl. Eph 5,22– 6,2; Kol 3,18–4,1; 1 Petr 2,18–3,7). Dass gerade sie ein verdecktes Sekundärmotiv für den Kirchenbeitritt sein konnte, ist zu vermuten – und wird bestätigt durch die relativ hohe Zahl derer, die in der Verfolgung, als die Mitgliedschaft keinen Vorteil mehr brachte, sich von der Kirche lösten.

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apolitische Selbstverständnis der Christengemeinden zumindest phasenweise33 als politi­ sche Bedrohung wahrgenommen werden konnte, die Machtabstinenz mithin als bedroh­ liche Macht erschien. Für die Christen hatte das die Konsequenz, dass sie sich – salopp gesagt – um die Dimension der Weltdistanz nicht eigens zu kümmern brauchten; die Welt selbst sorgte schon dafür. Dies änderte sich bekanntlich seit Konstantin dem Großen, der die Reichsreformpo­ litik seines Vorgängers Diokletian fortsetzte, dabei aber im Blick auf das Christentum eine entscheidende Wende vollzog: War Diokletians Versuch gescheitert, die ideologi­ sche Einheit des Reichs durch Elimination der Christen zu sichern, so strebte Konstantin dasselbe Ziel nun durch deren Integration an – und war erfolgreich. Die Christen waren jetzt – modern gesprochen – in der Mitte der Gesellschaft angelangt. Erstmals waren sie ein im Vollsinn anerkannter Teil der Gesellschaft und genossen vielfältige Förderung durch den Staat.34 Ich gehöre nicht zu denen, die darin den großen Sündenfall der Christentumsgeschichte erblicken – zu einer Verklärung der Verfolgungszeit besteht kein Anlass, und die neue Freiheit verbesserte natürlich auch eklatant die Möglichkeit, die universal angelegte Heils­ botschaft auch universal zu kommunizieren. Klar ist allerdings ebenso, dass die grundle­ gend neue Konstellation die Christenheit vor grundlegend neue Herausforderungen stellte: Sie war jetzt Teil der Macht, von der sie vorher bestenfalls geduldet wurde. Nicht nur musste sie dadurch massive Eingriffe des Staates in ihre inneren Angelegenheiten hinneh­ men – die Frage nach dem kirchlichen Proprium im Gegenüber zum Staat nahm hier ihren Anfang. Vielmehr drohte auch die Dimension der Weltdistanz ortlos zu werden. Nicht zufällig erfuhr in dieser Zeit das Mönchtum seinen entscheidenden Aufschwung. Christliche Askese hatte es vorher schon gegeben; aber jetzt wurde sie in Gestalt des anachoretisch­eremitischen oder koinobitisch­klösterlichen Mönchtums zu einer empha­ tischen Realisierungsgestalt christlicher Lebensführung, in der die Weltdistanz paradig­ matisch gelebt wurde und so den ‚Normalchristen‘ als gleichsam verobjektiviertes Ideal gegenübertrat – mit zugleich anspornender und entlastender Wirkung. Die Zumutung der Bergpredigt konnte jetzt gewissermaßen delegiert werden: Waren die Gebote (praecepta) des Dekalogs für alle Christen verbindlich, so folgten nur die Mönche zusätzlich den ‚evangelischen Rätenʻ (consilia) Armut, Keuschheit und Gehorsam und lebten dergestalt exemplarisch den radikalen Verzicht auf Selbstsorge und Selbstbestimmung. Mit Kritik an diesem Umgang mit sperriger Eigentradition ist man, zumal unter Pro­ testanten, schnell bei der Hand. Zu deutlich ist der Eindruck des ‚Outsourcings‘: Die Arbeit – genauer: die ‚Weltüberwindungsarbeit‘ – tun die andern. Wir sollten es uns aber nicht zu leicht machen. Denn zum einen hatte die sichtbare Präsenz des Mönchtums, wie 33

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Es verdient Beachtung, dass die Christen keineswegs ununterbrochen verfolgt wurden. Im Gegen­ teil genossen sie lange Phasen relativer Ruhe, die Zeiten offener Verfolgung waren im Vergleich dazu sogar eher kurz. Durchgängig war allerdings die Rechtsunsicherheit. Mit der Möglichkeit staatlicher Repressalien mussten die Christen immer rechnen. Vgl. dazu Peter Gemeinhardt: „Quid est imperatori cum ecclesia?“ Das Christentum in der Spätan­ tike und seine Geistlichen auf dem Weg in die Nähe der politischen Macht. In: Bernd Oberdorfer/ Peter Waldmann (Hg.): Machtfaktor Religion. Formen religiöser Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft. Köln u. a. 2012. S. 26–42.

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gesagt, eben auch anspornenden Charakter; ihr Vorbild sollte die ‚Normalchristen‘ zur Alltagsaskese anregen. Und zum anderen zahlten diese ‚Normalchristen‘ für die Entlas­ tung von den ,evangelischen Räten‘ einen nicht geringen Preis: eine erheblich reduzierte Heilssicherheit. Wer ganz sicher gehen wollte, musste schon ins Kloster gehen. Noch Luthers Reaktion auf den Stotternheimer Blitzschlag 1505 – der Eintritt in ein Kloster strenger Observanz – speist sich aus dieser Logik. Freilich ist auch die mönchische Existenz nicht gegen Mehrdeutigkeit gefeit. Fast un­ unterbrochen ist im Mittelalter die Kette der Klosterreformen, die durch erneutes Ein­ schärfen der geltenden Regeln oder radikalisierende Neugründungen den Geist der Welt­ distanz gegen Tendenzen der Saturierung und Verweltlichung neu zu erwecken suchten. Und fast sprichwörtlich ist zu Luthers Zeit die Rede von den feisten Mönchen, die im Kloster auf Kosten der Allgemeinheit eine Rundumversorgung genießen und also auf eine durchaus weltliche Art ‚sorglos‘ sein können – im Unterschied zum ‚Normalchris­ ten‘, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdienen muss. Wenn Luther nach seiner reformatorischen Wende (die auch eine Wende der biographischen Selbstbeurtei­ lung war) eine besondere Zeichenhaftigkeit des Mönchsstandes für die Ausrichtung auf das weltjenseitige Reich Gottes ablehnte, hatte er die Evidenz auf seiner Seite: Warum sollten die Mutter, die aufopferungsvoll ihre Kinder aufzieht, der Bauer, der mühsam die Nahrung für viele Menschen erzeugt, der Ratsherr, der sich im Dienst an der Allgemein­ heit aufarbeitet, die im Evangelium kommunizierte Dimension der Weltüberwindung und der Zurückstellung von Eigeninteressen nicht mindestens ebenso sinnenfällig repräsen­ tieren wie der Mönch? Das ‚Delegationsmodell‘ hatte seine Plausibilität eingebüßt. Die Reformatoren verwarfen konsequenterweise eine segmentäre Auslegung der Berg­ predigt. Sie galt nicht nur für eine religiöse Leistungselite, sondern für alle Christen. Freilich musste dann ein deutender Umgang mit den radikalen Verhaltenszumutungen der Bergpredigt entwickelt werden, der nicht schlicht die ganze Welt in ein Kloster ver­ wandelt, sondern die jesuanischen Forderungen in die differenzierte Lebenswirklichkeit zu integrieren erlaubt. Eine ‚Strategie‘ habe ich ja schon genannt: die Unterscheidung von Christperson und Weltperson, die die Forderung der Gewaltlosigkeit und des Verzichts auf Selbst­ schutz und Selbstdurchsetzung auf die Belange des frommen Individuums fokussiert und Gewaltanwendung zum Schutz des Nächsten legitimiert. Dies ist allerdings noch nicht hinreichend, da dadurch der Eindruck entstehen könnte, das fromme Individuum sei jedenfalls im Blick auf sich selbst durchaus fähig, jenen radikalen ‚Geist der Armut‘ tatsächlich lebensweltlich umzusetzen.35 Hier greift eine zweite ‚Strategie‘: die reformatorische Unterscheidung von ‚Gesetzʻ und ‚Evangeliumʻ. Im Zuge seiner Kritik des religiösen Leistungsdenkens (,Werkgerechtigkeitʻ) hatte Luther einen direkten Zusammenhang von Gebotserfüllung und Heilszueignung em­ phatisch bestritten. Das Heil ist im strikten Sinne ungeschuldete Gnade, für die menschli­ ches Handeln auch nicht unter noch so subtilen Einschränkungen Bedingung und Voraus­ 35

Ganz abgesehen von Abgrenzungsproblemen: Wo endet das ‚Recht auf Selbstlosigkeit‘? Wo scha­ det die individuelle Gewaltlosigkeit den Nächsten, für deren Wohl ich verantwortlich bin?

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setzung sein kann. Die göttlichen Gebote gewinnen dann die Funktion, den Menschen die Aussichtslosigkeit aller Versuche zu signalisieren, das Heil durch Eigenleistung ‚verdie­ nen‘ zu wollen. Sie halten den Menschen gleichsam den Spiegel vor, in dem sie erkennen müssen, dass sie den göttlichen Forderungen nicht gerecht geworden sind und daher ganz auf Gottes in Christus realisierte und im Evangelium kommunizierte Zuwendung ange­ wiesen sind. Wenn Jesus die alttestamentlichen Gebote nicht etwa ‚menschenfreundlich‘ aufweicht, sondern im Gegenteil noch radikalisiert, dann will er damit – so diese Deutung – gewissermaßen die versteckten Nischen der Werkgerechtigkeit ausleuchten und verhin­ dern, dass Leute, die dem Wortlaut nach die Gebote erfüllen, daraus einen Heilsanspruch gegenüber Gott ableiten. Anders ausgedrückt, die Bergpredigt deckt auf: Auch das frömms­ te Individuum steht vor Gott mit leeren Händen da. Wir sind allzumal Sünder. Dass bei dieser Deutung – ganz gegen die Intention! – Radikalisierung leicht umkip­ pen kann in Selbstimmunisierung, ist offensichtlich. Wenn ohnehin niemand die Gebote erfüllen kann, wird ihre Übertretung gleichgültig und werden auch alle qualitativen und quantitativen Differenzen in der Übertretung – jedenfalls sub specie aeternitatis – un­ wichtig. Die Bergpredigt gilt dann zwar für alle; aber ihre Normen verlieren ihre An­ wendungsprägnanz, wenn das negative Ergebnis von vornherein feststeht. Wenn unter­ schiedslos alle ‚unterm Strich‘ vor Gott ohnmächtig sind, dann spielt keine Rolle mehr, wie sie ‚überm Strich‘ agiert haben. In dieser Perspektive konnte gerade die radikalisier­ te Kommunikation der religiösen Ohnmacht als paradoxer Freibrief für innerweltliche Selbstdurchsetzung wirken. Man konnte über der Bergpredigt sozusagen zur Tagesord­ nung übergehen. Weltdistanz und Weltgestaltung brachen auseinander. Wohlgemerkt: Das entsprach mitnichten der Absicht der Reformatoren, und es ist bei weitem nicht alles und nicht einmal das Entscheidende, was über die ethosbildenden Effekte der Reformation und auch über die Wirkungsgeschichte der Bergpredigt im re­ formatorischen Christentum zu sagen wäre. Ich wollte aber auf diesen Punkt besonders hinweisen, um noch einmal zu verdeutlichen, dass auch die reformatorische Kritik der innerweltlichen Instrumentalisierung des Religiösen und der Vermischung von Religion und Macht den Ambiguitäten, Aporien und Paradoxien nicht entgeht, die bei der inner­ weltlichen Kommunikation von Weltdistanz unvermeidlich entstehen. Dies mag auch erklären, warum die Reformation sich nicht auf der ganzen Linie durchsetzte. Reforma­ torisches Christentum etablierte sich als ein Modell des Umgangs mit diesen Paradoxien, nicht als grundsätzliche Alternative dazu. Es wäre unter diesem Gesichtspunkt ergiebig, in der weiteren Geschichte des Protestantismus unterschiedliche Konstellationen der Ver­ hältnisbestimmung von Weltdistanz und Weltgestaltung herauszuarbeiten. Das aber muss weiteren Forschungen überlassen bleiben.36

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Vgl. dazu die Überlegungen in meinem Beitrag: Geistliche Identität und weltlicher Einfluss. Stel­ lung und Macht der christlichen Kirchen in Deutschland: Geschichtliche Beobachtungen, gegen­ wärtige Perspektiven. In: Bernd Oberdorfer/Peter Waldmann (Hg.): Machtfaktor Religion. Formen religiöser Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft. Köln u. a. 2012. S. 43–57.

Zur Signatur des Geschichtsdramas: Das Todesurteil bei Schiller, Kleist und Hebbel Mathias Mayer

Dass sich ‚Machtʻ über ein Feld von Kräften zu definieren versucht, zu denen das Vermö­ gen, die Stärke oder auch die Autorität gehören, etwas Mögliches wirklich zu machen,1 ist gerade denjenigen Autoren nicht entgangen, die im literarischen Bereich als Analytiker der Macht hervorgetreten sind. Auch wenn sie an so unterschiedlichen Erscheinungsformen der Macht Interesse gefunden haben, wie dies für den Historiker und Dramatiker Fried­ rich Schiller einerseits, für den Machtkritiker und Erzähler Franz Kafka andererseits gilt, so sind sie doch von der gemeinsamen Erkenntnis geprägt, wie sehr dieses Kraftfeld der Macht durch Strömungen – oder Hindernisse – der Kommunikation geprägt ist. König Philipp im ,Don Carlos‘ (1787) kann seine Macht nur durch Überwachung und Zeremoni­ ell sichern, Wallenstein wird zum Verlierer, weil er der Kommunikationstaktik seiner Geg­ ner unterlegen ist. Auf kaum einen anderen Theoretiker der Macht könnte man sich dabei stärker beziehen als auf Francis Bacon, der seine Interpretation der Macht in den Horizont des Wissens, seiner Mitteilung, Kanalisierung oder Verweigerung gestellt hat: Wenn „hu­ man knowledge and human power meet in one“,2 dann besteht die Ausübung von Macht vordringlich in der Verwaltung, in der Regulierung, und d. h. im entscheidenden Fall in der Unterdrückung von Wissen. Es bedarf dazu nicht allein der Verfahren politischer Zen­ sur oder religiöser Inquisition, sondern die Mikroprozesse der Macht lassen sich schon in unscheinbar aussehenden Vorgängen erfahren bzw. beobachten. Das Wissen als diejenige Form der Macht, die darüber verfügt, was realisiert oder was nicht realisiert, d. h. ver­ nichtet wird, wäre somit ein entscheidendes Moment des eingangs genannten Kraftfeldes. Das Wissen aber ist auf Mitteilung oder auf Verweigerung der Mitteilung hin ausgerichtet, denn wem Wissen zur Verfügung gestellt wird, gewinnt Anteil an der Macht, während der unwissend Gehaltene sich als ohnmächtig erfahren muss. Umgekehrt kann gelten, dass dort, wo Macht in ihrem Funktionieren und „Vermögen“ vorgeführt wird, die Verteilung und Lenkung des Wissens eine entscheidende Rolle spielen wird. Mit Foucault gesprochen gehört die Verteilung des Wissens zu den Technologien, zur Disziplin der Macht: 1

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Theo Kobusch/Ludger Oeing­Hanhoff: Macht. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Günder. Bd. 5. Darmstadt 1980. Sp. 585. Francis Bacon: Works. Bd. 4. London 1860. S. 47.

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„Disziplin ist im Grunde der Machtmechanismus, über den wir den Gesellschaftskör­ per bis hin zum kleinsten Element, bis hin zu den sozialen Atomen, also den Individu­ en, zu kontrollieren vermögen. Es handelt sich um Techniken der Individualisierung von Macht. Wie kann man jemanden überwachen, sein Verhalten und seine Eignung kontrollieren, seine Leistung steigern, seine Fähigkeiten verbessern? Wie kann man ihn an den Platz stellen, an dem er am nützlichsten ist? Darum geht es bei der Disziplin.“3 Diese Mikrophysik der Macht, die sie als Geflecht, als Netzwerk begreift, organisiert sich über Hierarchisierungen von Wissen. „Von jedem, der etwas weiß“, sagt Foucault, „kön­ nen wir sagen, dass er Macht ausübt“ – in Fortsetzung der Beobachtung Bacons. Statt sich auf die bloße Kritik daran zu beschränken, wird es erst interessant zu verfolgen, „wie die Maschen der Macht in einer Gruppe, einer Klasse, einer Gesellschaft funktionieren, das heißt, wo sie jeweils im Netz der Macht lokalisiert sind und wie sie Macht ausüben, sichern und weitergeben“.4 Diese These lässt sich indes dort einlösen, wo gleichsam im verborgenen Schatten der Macht, wie um sich ihrem zensierenden Zugriff möglichst zu entziehen, eine kritische und im emphatischen Sinn „interessante“ Analytik der Macht etabliert hat: gerade nicht als explizite politische Theorie, sondern im indirekten Medium öffentlicher Wahrnehmung, auf dem Theater. Es ist das sogenannte Geschichtsdrama, das hier als Ort einer Aufde­ ckung von Macht und Kommunikation angesprochen ist. Zu den Voraussetzungen gehört dabei, dass nicht nur Macht und Wissen als gleich ursprünglich gelten können, sondern dass die Geschichte selbst in Abhängigkeit von Wissen gedeutet wird: „Nicht die Vergan­ genheiten“, heißt es bei Droysen, „sind die Geschichte, sondern das Wissen des mensch­ lichen Geistes von ihnen“.5 Insofern kann sich gerade das Geschichtsdrama als günstiges Medium erweisen, um in seiner Engführung historischer Handlungen mit dramatischen Konfigurationen „eine Geschichtsauffassung eine aus geschichtlichem Stoff entwickelte Fiktion der Historizität“ formen zu lassen.6 Die Dramaturgie der Geschichte erweist sich dabei auch als eine Analytik der Macht und ihres Wissens. Die relativ zuverlässige Definition des Phänomens, die durch die Bezeichnung Ge­ schichtsdrama vorgegeben ist, scheint nicht ganz unverdächtig: Im selben Maß, wie man sich darüber verständigen kann, ein Geschichtsdrama sei eine dramatische Gestaltung eines realen (oder auch erfundenen) historischen Stoffes, beginnt vielleicht schon das Interesse zu erlahmen. Nach dem verkündeten „Ende der Geschichte“ im Rahmen des absurden wie des postdramatischen Theaters ist der Kredit der Dramatisierbarkeit von Geschichte auf­ gebraucht. Die Akten scheinen geschlossen. Solange man von ‚Geschichtsdramaʻ spricht, ist ja die Befürchtung nicht ganz zu bannen, dass es sich um historistische Reanimierungs­ versuche vergangener Schlachten oder Intrigen handelt, die oft genug in fünfhebigen Jam­ 3

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Vgl. dazu die Überlegungen in meinem Beitrag: Geistliche Identität und weltlicher Einfluss. Stel­ lung und Macht der christlichen Kirchen in Deutschland: Geschichtliche Beobachtungen, gegen­ wärtige Perspektiven. In: Bernd Oberdorfer/Peter Waldmann (Hg.): Machtfaktor Religion. Formen religiöser Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft. Köln u. a. 2012. S. 43–57. Foucault: Maschen der Macht (Anm. 3). S. 239. Johann Gustav Droysen: Historik. 2. Aufl. München/Berlin 1943. S. 187. Kurt Tetzeli von Rosador: Das englische Geschichtsdrama seit Shaw. Heidelberg 1976. S. 43.

Zur Signatur des Geschichtsdramas

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ben oder gar mit entsprechenden Kostümen ausgestattet werden, dass hier also eine Tradi­ tion bildungsbürgerlichen Geschichtsunterrichts auf der Bühne vorgeführt und fortgeführt wird. Damit hätte sich das Geschichtsdrama in seiner Überholtheit, in seiner verhängnis­ vollen Identifikation mit dem 19. Jahrhundert erledigt. Es sei denn, im Geschichtsdrama ginge es weniger um die Historie als um das Theater – statt vom Geschichtsdrama wäre vom Drama der Geschichte zu sprechen, von den Maskeraden, Intrigen und besonders den Verschwörungen der politischen Bühne, so dass dieses Drama dann als Modell politischer Theorie gelesen werden kann. Als politisches Theater verstanden ergeben nicht wenige der insofern unzureichend als Geschichtsdramen bezeichneten Texte erstaunliche Einblicke in Kommunikationsstrukturen der Macht, die in ihrer theatralischen Instrumentierung gerade die Undurchschaubarkeit dieses Netzwerkes bloßlegen. Das spezifische Gewicht solcher Dramatisierungen von Machtprozessen würde dann darin liegen, dass sie das dramatische Handeln als eine von Sprache, Kommunikation und Wissensregulierung geprägte Form der Machtbildung vorführen.7 Dazu gehört wesentlich, dass diese sprachliche Darstellung nicht deckungsgleich ist mit der geschichtlichen Wirklichkeit, denn diese konstituiert sich „erst zwischen, vor oder nach den sprachlichen Artikulationen, die auf sie zielen. […] was eine Geschichte sei, erweist sich immer erst ex post“.8 In der Nachträglichkeit der literari­ schen Aufbereitung liegt daher, zwischen den Positionen von res factae und res fictae, eine Chance ästhetischer Wahrheit.9

1. Forschungsstand Dass das Geschichtsdrama im Verdacht einer vergleichsweise eher unaufregenden Gattung steht, die man lange vorwiegend mit dem 19. Jahrhundert identifiziert hat, ist auch an der Forschungsgeschichte ablesbar. Bis in die jüngste Zeit hinein sind es Diskussionen über die Erstreckung, gleichsam die Reichweite der Gattung, die ausgefochten werden, so als ob über den Kern selbst Einverständnis erzielt worden wäre. Klassische Beiträge zur Gat­ tungsbeschreibung und Gattungsgeschichte10 werden durch eine Reihe von Sammelbän­ 7

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Vgl. dazu folgenden Band: Daniel Fulda/Silvia Serena Tschopp (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin 2002. Reinhart Koselleck: Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit. In: Ders.: Von Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. Herausggeben und mit einem Nachwort von Carsten Dutt. Berlin 2010. S. 80–95, hier S. 88f. Vgl. dazu Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth­Century Europe. 2. Aufl. Baltimore/London 1979 [dt. Übersetzung: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a. M. 1991]. Zur Kritik an White vgl. Wolfgang E. J. Weber: Hayden White in Deutschland. In: Storia della Storiographia. 25. 1995. S. 89–102, der die Gefahr einer Hypostasierung des Erzählbegriffs dadurch ausgeglichen sieht, dass der Faktizitätsanspruch des Historismus relativiert und eine Annäherung an die ältere, rhetorische Geschichtsschreibung möglich werde. Vgl. ferner Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin/New York 1996, bes. S. 5–48. Friedrich Sengle: Das historische Drama in Deutschland. Geschichte eines literarischen Mythos. 3. Aufl. Stuttgart 1974 (Erstdruck 1952); Fritz Martini: Geschichte im Drama – Drama in der Ge­

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den11 erweitert, bis hin zu Jürgen Schröders Darstellung unter dem Vorzeichen der „deut­ schen Misere“12. Bezeichnenderweise sind es zwei ertragreiche Monographien aus jüngster Zeit, die besonders die Grenzen des Geschichtsdramas in historischer Sicht problematisiert haben: zum einen Dirk Niefanger13 mit einer monumentalen Arbeit aus dem Jahr 2005, die außer einem systematischen Zugriff eine Vorverlagerung der solchermaßen bestimmten Gattung bis in die Frühe Neuzeit unternimmt; Goethes Götz ist hier nicht mehr, wie traditi­ onell die These, der shakespearisierende Anfang, sondern das Ende vom „Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495–1773“. Niefanger wirft der Forschung ein Befangensein in Mus­ tern vor, die den Blick auf die Kernzeit seit dem Sturm und Drang eingeschränkt hätte. Zum anderen legt Ingo Breuer14 2004 seine Marburger Dissertation über das deutschsprachige Geschichtsdrama seit Brecht vor, die mit einiger Fokussierung bis zu Heiner Müller und Elfriede Jelinek reicht. Dabei haben kulturwissenschaftliche Fragestellungen etwa aus der Gedächtnisforschung die Diskussion des Geschichtsdramas belebt. Eine gründliche Ausei­ nandersetzung ist aber im hier gesteckten Rahmen nicht möglich.

2. Problemstellung Nicht die Erstreckung, sondern die Perspektivierung dieser Gattung erweist sich als Aufgabe, wenn es darum geht, statt mimetisch­realistischer Abbildungen den letztlich ,philosophischerenʻ Gehalt der Literatur gegenüber der Geschichtsschreibung sichtbar zu machen, den Aristoteles in der ,Poetik‘ formuliert hat. So ist es nicht die Aufgabe des Dichters mitzuteilen, „was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr was geschehen könn­ te, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“.15 In diesem Möglichkeitssinn (Musil) der Dichtung ist indes, sofern es sich um Verar­ beitung historischer Vorgänge handelt, nicht nur ein philosophisches, sondern auch ein politisches Kapital angelegt, denn „was geschehen könnte“ ist sowohl ein ästhetischer Überschuss gegenüber dem Faktischen wie auch eine mögliche politische Alternative.

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schichte. Stuttgart 1979; Werner Keller: Drama und Geschichte. In: Beiträge zur Poetik des Dra­ mas. Hg. von Ders. Darmstadt 1976. S. 298–339. Elfriede Neubuhr (Hg.): Geschichtsdrama. Darmstadt 1980; Walter Hinck (Hg.): Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen. Frankfurt a. M. 1981; Wolfgang Düsing (Hg.): Aspekte des Geschichtsdramas. Von Aischylos bis Volker Braun. Tübingen 1998. Jürgen Schröder: Geschichtsdramen. Die „deutsche Misere“ von Goethes „Götz“ bis Heiner Mül­ lers „Germania“? Eine Vorlesung. Tübingen 1994. Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495–1773. Tübingen 2005. Vgl. aber die Ausführungen von Reinhart Koselleck zur Semantik der ‚Geschichteʻ, wenn er davon spricht, dass dieser „singuläre Leitbegriff“ um 1780 zu einer transzendentalen Kategorie geworden sei: „die Bedingungen möglicher Erfahrung von Geschichte und die Bedingungen ihrer möglichen Erken­ ntnis wurden unter denselben Begriff subsumiert“: Reinhardt Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979. S. 265. Ingo Breuer: Theatralität und Gedächtnis. Deutschsprachiges Geschichtsdrama seit Brecht. Köln/ Weimar/Wien 2004. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2008. S. 29.

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Insofern eignet dem Geschichtsdrama, als politischem Theater, eine machtkritische, nicht eine machtaffirmative Option. Das hängt nicht zuletzt mit dem spezifisch theatralischen Zeitgerüst des Dramas zusammen. Das Geschichtsdrama ist notwendigerweise auf Momente historischer Entscheidung fokussiert; Geschichte kann hier nicht episch ausgebreitet werden, sondern muss in ihrem Funktionieren dramatisch, pointiert, exemplarisch präsentiert werden, auch dort, wo ein chronikalischer Verlauf gezeigt wird. So hat man auch die Zeitgestalt – das präteritale Mo­ ment16 – genau reflektiert. Aber das dramatische Schlachtengemälde, die historische Bri­ sanz der militärischen Gewalt, von Sieg oder Niederlage, sie lassen sich nur bedingt mit ästhetischen Ansprüchen korrelieren. Wenn aber, mit Aristoteles und Lessing gesprochen, der Geschichtsdramatiker nicht dem Besonderen einer historischen Wirklichkeit verpflich­ tet ist, sondern der Möglichkeit eines allgemein gültigen Modells von Geschichte, dann sind es vor allem zwei Linien, die das zopfig scheinende Geschichtsdrama als Fallbeispie­ le politischer Theorie lesbar werden lassen: Zum einen der durch und durch theatralische Charakter der Geschichte, kulminierend in der Beobachtung, dass die Verschwörung die dramatische Keimzelle des Machtwechsels ist. Hier geht es um das maskierte Handeln, um Subversion durch Verstellung, um geschichtlich wirkungsmächtiges Rollenspiel. Die kommunikativen Strategien der Verschwörung, bei der es um Machterhalt wie um Anar­ chie gehen kann, sind vorwiegend Verdacht, Zweifel und Schwur. Indem sie die Freund­ Feind­Differenz zu unterlaufen versucht, zieht sie sich in die Unerkennbarkeit zurück, und im Fall des Attentats minimiert sie durch Zeitvernichtung die Gefahr der vorherigen Aufdeckung noch weiter.17 Diese leicht verletzliche Seite der Macht wäre die eine zentrale Chance, die das Geschichtsdrama nutzt, das dann, von Shakespeare an, der Verschwö­ rung einen prominenten Platz eingeräumt hat, der in Gestalt von Caesar und Catilina über Rienzi bis zu Wallenstein und Danton seine Darstellung gefunden hat. Zum andern, und diese zweite Linie kann ich hier nur skizzieren, stellt sich als ein Schlüsselszenarium der Machtanalyse auf dem Theater derjenige Vorgang heraus, bei dem historisches Handeln in seiner unmittelbar menschlichen Wirkung vorgeführt wird. Dafür eignet sich jener so prägnante wie prekäre Punkt, an dem nicht militärisch, aber politisch und moralisch über Leben oder Tod entschieden wird. Ich möchte daher die Unterschrift unter das Todesurteil als zentrale Probe des Geschichtsdramas lesen – als Modell einer dramatisch präsentierten politischen Theorie, bei der es um nichts weniger geht, als Gewalt und Recht miteinander zu verbinden – und gleichzeitig voneinander zu trennen: Das aber ist der Punkt, an dem der Souverän, als Herrscher über den Ausnahmezustand, Gewalt in Recht und Recht in Gewalt übergehen lässt – ein Gedanke, den zuletzt wohl Giorgio Agamben in Auseinandersetzung mit Walter Benjamin, Carl Schmitt und Jacques Derrida entwickelt hat.18 Es ist die Unter­ 16

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Vgl. dazu Klaus­Detlef Müller: Das Problem der Zeitebenen im modernen deutschen Geschichts­ drama. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres­Gesellschaft. 28. 1987. S. 211–226. Hellmut Pfeiffer: Die Macht der Verschwörung. Diskurs und Inszenierung zwischen Machiavelli und Shakespeare. In: Roland Galle/Rudolf Behrens (Hg.): Konfiguration der Macht in der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2000. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002 (ital. 1995).

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schrift unter das Todesurteil, die tödliche Signatur, die das Geschichtsdrama zu einer, wie ich meine, literarischen Erkenntnisform von Politik werden lässt. Das Todesurteil ist dabei zugleich der Punkt, an dem Macht und Kommunikation sowohl verknüpft wie getrennt werden: Geht es doch ebenso um den performativen Akt der Verkündigung, oder doch zumindest einer Entscheidung, die in der Regel, als Urteil, den Abschluss eines mehr oder minder gewaltsamen Kommunikationsprozesses darstellt, wie dann auch um den Moment der Vollstreckung, in welchem das Opfer seine Ohnmacht als Auslöschung erfährt. Die Macht präsentiert sich als letztlich tödliches Wissen, denn in der Verurteilung, die sie vor­ nimmt, steckt die Bestreitung der Lebensbedingung des Opfers, das mit dieser Form zer­ störerischen Wissens konfrontiert wird, ohne diese Verkündigung überleben zu können. Zugleich ist das Todesurteil, in der machtkritischen Analyse eines politisch denkenden Geschichtsdramas, die Frage nach der Legitimation der Gewalt, nach dem Ursprung der Autorität: Inwiefern verweist sie bei diesem kritischen Punkt, der Entscheidung über Le­ ben und Tod, auf ihre eigene Rechtmäßigkeit, und inwiefern kann diese Rechtmäßigkeit auf Momente von Gewalt verzichten – oder gerade nicht? Es sind solche Fragestellungen der Rechtsphilosophie, die im Geschichtsdrama, wo nicht beantwortet, so doch dramatisch präsentiert und erarbeitet werden.19

3. Beispielanalysen Unter einem solchen – zu erprobenden – Blickwinkel mag es sogar sinnvoll scheinen, die Grenzen der Gattung nicht zu eng zu ziehen. Der berühmte Schluss des 1. Aktes von Lessings ,Emilia Galotti‘ bietet einen messerscharfen Beleg für die Differenz zwischen Politik und Moral im Umgang mit dem Todesurteil. „Recht gern“ würde der Prinz ein solches noch unterschreiben, nur um schneller seinen amourösen Plänen nacheilen zu können, – aber sein Sekretär, von dieser Skrupellosigkeit entsetzt, enthält ihm das Do­ kument vor und kommentiert abschließend: „Recht gern? – Ein Todesurtheil recht gern? – Ich hätt’ es ihn in diesem Augenblicke nicht mögen unterschreiben lassen, und wenn es den Mörder meines einzigen Sohnes betroffen hätte. – […] Es geht mir durch die Seele dieses gräßliche Recht gern!“20 Von Lessing her wird klar: Das Urteil über Leben oder Tod, zwischen Gewalt und Recht, muss auch auf der Seite des Unterschreibenden vor der 19

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Zur juristischen Dimension vgl. Heinz Holzhauer: Die eigenhändige Unterschrift. Geschichte und Dogmatik des Schriftformelerfordernisses im deutschen Recht. Frankfurt a. M. 1973. Höchst pro­ blematisch erscheint das Buch von August Ohm: Das Todesurteil in seiner Auswirkung auf die Persönlichkeit. Ein Beitrag zu dem Problem der Todesstrafe. Stuttgart 1956. Das Vorwort beginnt folgendermaßen: „Die vorliegende Abhandlung ist erwachsen auf dem Boden von Erfahrungen und Beobachtungen, die bei der Betreuung von Hingerichteten im Staatsgefängnis Berlin­Plötzensee gesammelt wurden. Sie erstrecken sich über das Jahrzehnt von 1934–1945. Anfangs auf Einzelfälle beschränkt, wuchs die Zahl der Todesurteile mit dem Ausbruch und Fortgang des Krieges lawinen­ haft. Dabei verschwand die kleine Schar der Kriminellen immer mehr unter der großen Zahl der Politischen, die dem Scharfrichter überantwortet wurden“. (S. V) Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Historisch­kritische Ausgabe von Elke Monika Bauer. Tübingen 2004. S. 18.

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Seele legitimierbar sein. Es bedarf einer zumindest quasi­kommunikativen Legitimation, die der Prinz gerade nicht liefern kann. Das unbesehene „Recht gern“ offenbart die Halt­ losigkeit und Willkür eines solchen Urteils, das hier als ein Vorgang beschleunigter Kom­ munikationsverweigerung erscheint und damit die Schreckensherrschaft der ungehindert und stumm agierenden Macht als blanken Terror sichtbar macht. Konflikte aber zwischen Autorität und Legitimation, an denen das Funktionieren von Macht analysiert werden kann, sind wohl zentrale Muster der Schillerschen Dramatik, bis hinauf zum ,Demetrius‘­Fragment.21 Es ist daher nicht verwunderlich, dass Schiller auch der Szene politischer Souveränität zwischen Gewalt und Recht eine Interpretation gewidmet hat, die Maßstäbe gesetzt hat. Im Drama der zwei Königinnen lässt Schiller die einander aporetisch gegenüberstehenden Ansprüche der katholisch­schottischen und der protestantisch­englischen Seite unmittelbar einander gegenübertreten. Wo es, in der von Schiller erfundenen Szene in der Mitte des Stückes, zur direkten Konfrontation kommt, wird das Wissen Marias, die Anschuldigung ihrer nicht­legitimen Kusine, mit dem Tode bestraft. Zwar feiert Maria den Triumph rhetorischer Überwältigung, um dann aber doch von Elisabeth bestraft zu werden. Elisabeth von England glaubt vor ihrer Rivalin Maria Stuart nur Ruhe finden zu können, wenn sie sie „aus den Lebendigen vertilgt, / Frei bin ich, wie die Luft auf den Gebirgen“ (V. 3237f.).22 Schon mit der Feder in der Hand be­ denkt sie die politischen und juristischen Optionen: „Ein Bastard bin ich dir? – Unglückliche! Ich bin es nur, so lang du lebst und atmest. Der Zweifel meiner fürstlichen Geburt Er ist getilgt, sobald ich dich vertilge. Sobald dem Briten keine Wahl mehr bleibt, Bin ich im echten Ehebett geboren! Sie unterschreibt mit einem raschen, festen Federzug, läßt dann die Feder fallen, und tritt mit einem Ausdruck des Schreckens zurück. Nach einer Pause klingelt sie.“23 Dem Sekretär Davison händigt sie das unterschriebene Urteil aus, allerdings mit dem perfiden double bind, der die moralische Verantwortung auf den Untergebenen wälzt: „Unterschreiben sollt ich. / Ich habs getan. Ein Blatt Papier entscheidet / Noch nicht, ein Name tötet nicht“ (V. 3266/8). Schiller öffnet hier eine abgründige Perspektive auf den Apparat der Macht: Dem dem „Blutbefehl“ nicht gewachsenen Sekretär entreißt Burleigh das Dokument, um es sofort vollstrecken zu lassen. Der von beispielloser Anspannung beherrschte Fünfte Akt der ,Maria Stuart‘ führt die Verselbständigung des machtvollen 21

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Vgl. zuletzt Walter Müller­Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe. München 2009. Friedrich Schiller: Maria Stuart. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. von Julius Petersen und Hermann Schulich. Bd. 9: Maria Stuart. Die Jungfrau von Orleans. Hg. von Benno von Wiese und Lieselotte Blumenthal. Weimar 1948. S. 128f. Schiller: Maria Stuart (Anm. 22). S. 129.

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Geschehens vor Augen, das nicht mehr als (pseudo­)kommunikative Dialogbereitschaft beschrieben werden kann, sondern nur noch als Todverkündigung sich vollzieht. Das Wissen der Maria ist politisch ohnmächtig, ja im eigentlichen Sinn lebensgefährlich, denn Elisabeth weiß um die Brisanz von Marias Wissen und schneidet ihr mit der Unter­ schrift die Einsatzmöglichkeiten dieses Wissens ab. Insofern besteht die politische Be­ deutung von Schillers Tragödie nicht einfach in der Konjunktion von Macht und Wissen, sondern auch in der politischen Aufdeckung dessen, dass der Macht das Wissen der geg­ nerischen Seite gefährlich werden kann und dass sie es dann so schnell, so entschieden wie möglich unterdrückt. ,Maria Stuart‘ wäre daher nicht zuletzt eine Parabel der zer­ störerischen Konfrontation von Macht und Wissen, eine Demonstration jenes gewaltsa­ men Schweigens, das Jacques Derrida so präzise analysiert hat in seiner Schrift über die grund­lose Gewalt als Ursprung der Autorität.24 Die Grauzone von Gewalt und Recht zerstört aber schließlich selbst die Träger der Macht: Nach der Hinrichtung Maria Stuarts spielt Elisabeth ihre moralische gegen die politische und juristische Autorität aus, verur­ teilt ihre Getreuen, die angeblich ihrer immer noch möglichen Milde vorgegriffen hätten. Die tödliche Signatur exponiert somit die Frage nach der Legitimation, eigentlich nach der Unterschrift der Unterschrift: Wer verbürgt die souveräne Handlung, wo beginnt das politisch­juristische Handeln? Tötet ein Name? Höchst raffiniert zerlegt Schiller hier mit quasi medizinischem Blick die einzelnen Facetten einer Macht der Signatur, die am Ende noch die Unterzeichnende straft. Zugleich leistet Schiller einen Beitrag zur Gewaltentei­ lung, denn Maria beklagt schon früh den Schaden für das Opfer, „wenn derselbe Mund, / Der das Gesetz gab, auch das Urteil spricht!“ Und Elisabeth ist moralisch kaum entlastet durch die Tatsache, dass das Urteil von 42 Richtern gefällt wurde. Angesichts der öffent­ lichen Meinung und des Parlamentes ist sie eine Herrscherin des 18. Jahrhunderts. Aber die Legalität wird im Prozess ihrer gedehnten Verwirklichung geradezu zersetzt, bis am Ende die schiere Gewalt übrig bleibt. „Woher so viel Gewalt?“ – diese Frage aus Hof­ mannsthals politischem Geschichtsdrama ,Der Turm‘ erweist sich als Grundproblem im Drama der Geschichte.25 Nachdem Elisabeth die Vollstrecker ihres Willens als Ungetreue fallen lässt, hat sie sich mit der Vermengung von Gewalt und Recht selbst delegitimiert, ihr treuster Berater, Shrewsbury, zieht sich mit dem vernichtenden Wort von ihr zurück: „Ich habe deinen edlern Teil / Nicht retten können“ (V. 4028f.) Die Unterschriftszene der Elisabeth ist dabei die logische Konsequenz aus einer früh bei Schiller etablierten Schriftkritik, die in Karl Moors Verdikt des „tintenklecksenden Säkulums“ ihren Anfang nimmt und im ,Wallenstein‘ ausgestaltet wird, wo der Unterschriftenbetrug der Offiziere so wenig verfängt wie Wallensteins Weigerung, etwas Schriftliches von sich zu geben, ja Schiller pointiert den Schluss der Tragödie durch den auf andere Weise verräterischen Schriftzug „Dem Fürsten Piccolomini“. 24 25

Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“. Frankfurt a. M. 1991. S. 29. Hofmannsthals Stück kann, bis über die Auseinandersetzung mit Walter Benjamins ,Trauerspiel‘­ Buch hinaus, als eine Art Allegorie oder Metatheater des Geschichtsdramas beschrieben werden. Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von Rudolf Hirsch u. a. Bd. XVI, 1 und 2: Der Turm. Hg. von Werner Bellmann und Ingeborg Beyer­Ahlert. Frankfurt a. M. 1990 und 2000.

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„Ach, was ist Menschengröße, Menschenruhm!“26 Kleists bittere Einsicht in die La­ bilität menschlichen Anspruchs im ,Prinz von Homburg‘ höhlt die Möglichkeit des Ge­ schichtsdramas gewissermaßen aus: Es kann nicht mehr Forum einer idealistischen Hel­ denschau sein – in diesem Sinne hat es der unbegnadete Leser Wilhelm II. zu seinem Lieblingsdrama verflacht –, sondern es mutiert zur Vivisektion menschlicher Kleinheit. Nachdem der Prinz in seinem tagträumerischen Wesen den Schlachtbefehl nur unklar ver­ nommen hat und zu früh in den Kampf eingreift und den Sieg gefährdet, hat er, nach der Sicht des Kurfürsten, seine militärische Pflicht verletzt und wird zum Tod verurteilt. Als der Prinz das für unmöglich Geglaubte realisiert, an seinem offenen Grab vorbeikommt, „Das morgen mein Gebein empfangen soll“,27 bittet er die Kurfürstin und die geliebte Na­ talie um Vermittlung. Aber Kleist hat gar nicht das Interesse an der tödlichen Schrift. Sei­ ne Analyse des Souveräns, in der Ununterscheidbarkeit von Gewalt und Recht, von Akt und Potenz,28 erscheint nicht als Wiederholung der Elisabeth­Szene, sondern als grausa­ me Umkehr. Wir sehen, wie der Kurfürst auf Natalies Drängen die Begnadigung – nicht das Urteil! – unterschreibt, und diese dann durch Natalie dem Prinzen selbst zustellt: Der Prinz von Homburg lies’t. „Mein Prinz von Homburg, als ich Euch gefangen setzte, Um Eures Angriffs, allzufrüh vollbracht, Da glaubt’ ich nichts, als meine Pflicht zu thun; Auf euren eignen Beifall rechnet’ ich. Meint Ihr, ein Unrecht sei euch widerfahren, So bitt’ ich, sagt’s mir mit zwei Worten – Und gleich den Degen schick’ ich Euch zurück.“ Natalie erblaßt. Pause. Der Prinz sieht sie fragend an. Natalie mit dem Ausdruck plötzlicher Freude. Nun denn, da steht’s! Zwei Worte nur bedarf’s –! O lieber süßer Freund! sie drückt seine Hand. 29 Das Todesurteil wird hier auf Messers Schneide sistiert – aber nur um den Preis, dass das Opfer selbst dazu gebracht wird, das Todesurteil eben nicht als Gewalt, sondern als Recht zu akzeptieren. Nicht allein der Souverän, auch der Verlierer der Geschichte kann nicht umhin, die Legitimität des Urteils anzuerkennen, – die er doch zuvor, etwa im Gespräch mit dem Freund, dem Grafen Hohenzollern (III/1), vehement bestritten hatte. Damals, es sind erst 400 Verse verstrichen, schien ihm diese Strafe völlig unverhältnismäßig: „Um eines Fehls, der Brille kaum bemerkbar“.30 Indem nun der Souverän die Vollstreckung 26

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Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. In: Ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Frankfurt a. M. 2006. S. 99. Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg (Anm. 26). S. 89. Agamben. S. 57f. Kleist: Prinz von Homburg (Anm. 26). S. 108. Kleist: Prinz von Homburg (Anm. 26). S. 83.

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und die bloße Möglichkeit des Handelns zur Disposition stellt, zwingt er die Gegenseite selbst in die Paradoxie des Souveräns, der Gewalt und Recht ununterscheidbar werden. Erst als der Prinz über sich selbst bestimmen soll, sich nicht mehr gegen sein Urteil bloß wehrt, folgt er der Paradoxie und verwirft seine Begnadigung. Indem er die Rechtmäßig­ keit des Urteils bestätigt, unterschreibt er selbst gleichsam das eigene Todesurteil, und erst aus dieser Paradoxie kann dann die Wendung zur nicht mehr erwarteten Lösung und Begnadigung erfolgen. Die akzeptierte Gewalt führt zu ihrer Aufhebung, der der Prinz freilich auch nicht gewachsen ist, so dass sie ihn von anderer Seite ereilt. Die schon für die vermeintliche Hinrichtung verbundenen Augen, seine Ohnmacht und dann die bange Frage: „Ist es ein Traum?“31 zeigen an, dass Kleist mit der Zerbrechlichkeit einer solchen Lösung gerechnet hat. Friedrich Hebbel dürfte Kleists Schauspiel wohl etwas zu flüchtig gelesen oder doch voreilig vereinnahmt haben, wenn er in seiner Kritik des Stückes davon spricht, es sei dem Prinzen klar geworden, „daß der Krieg, ja der Staat selbst, auf dem Prinzip der Sub­ ordination beruht und daß der Führer erst in eigener Person leisten muß, was er von den Untergebenen fordern will“. Werfen wir noch einen Blick auf Hebbels ,Agnes Bernauer‘, das schwarze Schaf un­ ter den Geschichtsdramen des 19. Jahrhunderts, so soll nicht der Versuch unternommen werden, es von dem belastenden Verdacht weiß zu waschen: dass hier eine Geschichte der Sieger geschrieben wird, während von Götz bis Danton, von Don Carlos bis Galilei oder Romulus das Geschichtsdrama auf der Seite der Verlierer steht. Hebbel profiliert die schöne Baderstochter, die der Politik in die Quere kommt, als moderne Antigone, stattet sie also mit der höchsten tragischen Würde aus. Der junge Bayernherzog Albrecht heira­ tet gegen den Willen seines noch regierenden Vaters das ebenso schöne wie bescheidene Mädchen und wird daraufhin von der Thronfolge ausgeschlossen. Als aber der Ersatz­ thronfolger verstirbt, muss doch wieder Albrecht eingesetzt und – so der Herzog – Ag­ nes geopfert werden. Nicht direkt nach der Hochzeit, sondern erst Jahre später, als sich die politische Lage zugespitzt hat, greift der Herzog auf ein schon länger vorliegendes Urteil zurück, demzufolge Agnes „zur Abwendung schweren Unheils […] vom Leben zum Tode gebracht werden dürfe“.32 Der Herzog ist sich dessen bewusst, dass von einer Schuld der jungen Frau nicht die Rede sein kann, höchstens dass sie keinen Schleier trug und sich die Haare nicht abschnitt. Ihre Schönheit wird ihr in Hebbels tragischem Welt­ bild zum Verhängnis – der Herzog unterschreibt das Urteil, weil er ansonsten seinen Sohn weder zum Erben einsetzen noch politisch geschickt verheiraten kann; die Folge wäre, so der Herzog, ein alles vernichtender Bürgerkrieg, „alles ginge drunter und drüber“.33 Sein Entschluss lautet: „Es ist ein Unglück für sie und kein Glück für mich, aber im Namen der Wittwen und Waisen, die der Krieg machen würde, im Namen der Städte, die er in Asche

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Kleist: Prinz von Homburg (Anm. 26). S. 146. Friedrich Hebbel: Agnes Bernauer. Ein deutsches Trauerspiel in fünf Aufzügen. 1855. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Historisch­kritische Ausgabe. Hg. von Richard M. Werner. Bd. III: Dramen 1851–1858. Nachdruck Bern 1970. S. 133–235, hier S. 199. Hebbel: Agnes Bernauer (Anm. 32). S. 203.

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legte, der Dörfer, die er zerstörte: Agnes Bernauer, fahr hin!“34 und er unterschreibt, die junge Frau wird schließlich in der Donau ertränkt. – Der Skandal der Geschichte wird zu einem Skandal des Geschichtsdramas, weil Hebbel diesen Akt nicht als Skandal der Rechtssprechung aufdeckt, sondern ihn abschließend zwischen Vater und Sohn rechtfer­ tigt. Auf den Einwand des Sohnes, hier habe die Gewalt geherrscht, beruft sich der Vater auf die Ordnung der Väter und des Reiches, er sucht sich mit der Formel zu rechtfertigen, es sei „die Gewalt des Rechts“.35 An diesem Punkt lässt sich der Stab brechen über Hebbels Versuch, die Gewalt des Rechts noch im Rahmen des Tragischen zu verteidigen, zumal dieses schwarze Schaf sich unter braunem Vorzeichen großer Anerkennung erfreute. Gleichwohl ist aber dieser Skandal innerhalb einer Lesart politischer Theorie fassbar und aufschlussreich, als Mani­ festation eines geschichtlichen Widerspruchs von Legitimation und Delegitimation, von Gewalt und Recht. Hebbel hat sich etwas darauf zugute gehalten, dass er in diesem Stück nirgendwo „gegen die gesellschaftlichen Conventionen verstoßen hätte“,36 ja er hält eine Aufführung eben deshalb für unproblematisch, weil „nun der Staat, der das Menschenop­ fer bringt, bei’m Dichter Recht erhält“.37 Als er kurz darauf dem bayerischen König seine „Ansichten über die That seines Vorgängers“ auseinanderlegen soll, sträubte er sich „mit Hand und Fuß dagegen, daß sie nothwendig gewesen sey, und rief aus, als ich ihm dieß bewiesen hatte: nein, nein, das hätte ich nicht gekonnt, dazu hätte mir die Kraft gefehlt! Ich erwiederte lächelnd: und doch hätten Ew. Majestät müssen, wenn Sie an Regiment gewesen wären“.38 Die Signatur des Unrechts erweist sich als kritische Rechtssprechung des Geschichtsdramas. Selbst hier, wo es machthörig das Opfer fordert, zeichnet sich ihm der Skandal ein – die Signatur des Geschichtsdramas besteht nicht in der Sanktionierung, sondern in seiner Aufdeckung der Macht. Wie sehr auch ein konservativ scheinender Be­ obachter wie Franz Grillparzer solche Zusammenhänge durchschaut, einige Jahrzehnte vor Franz Kafkas ‚Schloß‘­Roman, demonstriert sein ‚Bruderzwist in Habsburg‘. Als der wahre Herrscher erweisen sich darin nicht die einander ablösenden Monarchen, sondern der kluge Politiker, Bischof Klesel, der schließlich allein durch die Unterschriften die Macht an sich bringt. Kaiser Rudolf dagegen, eine Figur Thomas Bernhardschen Maßes, erkennt in seinem „traurigen Wissen“, dass mit der Schrift, gar mit dem „Blut als Siegel“: „jede Wahrheit zur Lüge“ gestempelt werden kann.39 Hier zeichnet sich, im Verlauf des 19. Jahrhunderts, eine instrumentelle Form der Herrschaft ab, die sich über jede Form der Schriftkritik hinwegsetzt.

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Hebbel: Agnes Bernauer (Anm. 32). S. 204. Hebbel: Agnes Bernauer (Anm. 32). S. 232. Tagebuch Hebbels vom 24. Dezember 1851. In: Ders.: Sämtliche Werke. 2. Abteilung. Tagebücher. Bd. 3. S. 413. Hebbel an Franz Dingelstedt, 9. Januar 1852. In: Ders.: Sämtliche Werke. 2. Abteilung. Briefe. Bd. 4. S. 341. Hebbel an Christine Hebbel, 8. März 1852. In: Ders.: Sämtliche Werke. 2. Abteilung. Briefe. Bd. 4. S. 391. Franz Grillparzer: Ein Bruderzwist in Habsburg. Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Ders.: Dramen 1828–1851. Hg. von Helmut Bachmaier. Frankfurt a. M. 1987. S. 373–482, hier S. 437.

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Die platonische, aber auch paulinische Diskreditierung der Schrift – der Geist belebt, der Buchstabe tötet –, wird wohl noch vom Geschichtsdrama unterschrieben; aber es ist zugleich der Reflexionsort, an dem sich die Macht der Schrift als Herrschaft über Leben und Tod manifestiert.

4. Ergebnissicherung Die hier getroffene Auswahl bezeugt eine Perspektive auf das Drama der Geschichte, die seine Abhängigkeit von der historischen Authentizität reduziert, um dadurch verstärkt jenen allgemeinen Möglichkeits­ und Erkenntnisanspruch der Literatur reklamieren zu können, den schon Aristoteles beim Vergleich zwischen Geschichtsschreibung und Lite­ ratur sichtbar gemacht hatte. Damit einher geht die These, dass das Geschichtsdrama gar nicht auf historische Stoffe angewiesen ist, – auch erfundene Geschichtsdramen, etwa von Hofmannsthal (,Der Turm‘) oder Dürrenmatt (,Romulus der Große‘), können das leisten, was hier als Potenz der Gattung sichtbar gemacht werden sollte: Dass es die Li­ terarisierung, d. h. die dem Wirklichkeitspostulat entzogene Chance solcher Perspektiven ist, statt Faktizität nachzuerzählen, geschichtliches Handeln modellhaft zu theoretisie­ ren, indem es dramatisch veranschaulicht wird. Die hier kurz vorgestellten Szenen lassen sich als Belege einer dem Geschichtsdrama inhärenten politischen Theorie fassen, mit­ hin als Brückenköpfe einer These, wonach es gerade Eigenart und Chance ästhetischer Präsentation von Geschichte sein kann, zwischen getrennten Perspektiven zu vermitteln. Goethes Wort – „Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende“40 –, wird im Drama der Geschichte einer zunehmenden Verschärfung unterzogen, ganz in dem Sinn, den Nietzsche noch präzisiert hat, wenn er davon spricht, der Handelnde sei nicht nur gewissenlos, sondern geradezu wissenlos, unwissend. „Wie der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch wissenlos, er vergisst das Meiste, um Eins zu thun, er ist ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt und kennt nur Ein Recht, das Recht dessen, was jetzt werden soll“.41 Den Konflikt zwi­ schen Handeln und Wissen, zwischen Politik und Moral, veranschaulicht exemplarisch die Szene der Unterschrift. Der Dramatiker – aber das gilt auch im Ansatz für epische Geschichtsvermittlung – ist vom Historiker unterschieden, der nach Friedrich Schlegel ein umgekehrter Prophet ist, also nur nachträglich erkennen kann.42 Aber der Dramatiker ist ebenso wenig der Prophet selbst – vielmehr vermittelt er zwischen prophetischem Vorauswissen und historischer Rekonstruktion, nimmt also in der Mitte den Platz ein als 40

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Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen. Text der Ausgabe von 1907 mit den Erläute­ rungen und der Einleitung Max Heckers, Nachwort Isabella Kuhn. Frankfurt a. M. 1976. Nr. 241. S. 55. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. Mün­ chen 1988. S. 254. Friedrich Schlegel: Athenäums­Fragmente. Nr. 80. In: Ders.: Kritische Schriften. Hg. von Wolfdiet­ rich Rasch. 3. Aufl. München 1971. S. 34.

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derjenige, der am echten oder erfundenen historischen Stoff das Funktionieren der Ge­ schichte vorführen kann, im quasi­prophetischen Vorwissen um ihre Mechanismen und Wiederholbarkeiten, und im quasi­historischen Erkennen ihrer jeweiligen Bedingungen und Kontexte. Das Geschichtsdrama könnte als der eigentliche Grenzort zwischen Rea­ lität und Fiktion erscheinen, ist aber mehr noch der Umschlagplatz, an dem die Ununter­ scheidbarkeit von Geschichte und Drama sichtbar wird. Schon der Geschichtsschreiber habe es, so Nietzsche, nicht mit dem zu tun, „was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen : denn nur diese haben gewirkt“.43 Gerade das Geschichtsdrama transportiert damit einen erheblichen Anspruch literarischer Texte, den man nicht aufgeben oder einer bloß historisierenden Gattungsbeschreibung opfern soll­ te. Ich meine den Anspruch, dass hier Theorie und Anschauung, Modellcharakter und Fallanalyse zusammenkommen – Ansprüche gesellschaftlicher Wahrheit, auf die wir so schnell nicht verzichten sollten.

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Friedrich Nietzsche: Morgenröte. Nr. 307. In: Kritische Studienausgabe. Bd. 3. S. 224.

Ein „Greulsystem von Worten“. Zur sprachlichen Ausweitung des Krieges in Heinrich von Kleists ,Hermannsschlacht‘ Marion Schmaus

Heinrich von Kleists Drama ‚Die Hermannsschlacht‘, 1808 verfasst und 1821 aus dem Nachlass ediert, ist ein polarisierender Text. Nicht nur werden hier auf den ersten Blick klare rhetorisch­metaphorische Freund­Feind­Schemata aufgebaut, sondern es ist auch ein Text, der in der Rezeption zur Parteinahme aufruft und bis heute die Forschung spal­ tet. So wird einerseits das Drama durchaus mit einiger Berechtigung jener Gräuelpro­ paganda zugerechnet, die es zum Gegenstand hat. Jan Philipp Reemtsma diskutiert das Stück vor dem Hintergrund seiner Rezeption im Nationalsozialismus und kontextuali­ siert es mit einer „Auffassung von ‚Realpolitik‘“, der eine „Neigung zum Führerprinzip notwendig“ eingegeben sei.1 Andererseits wird es als Dokument des Partisanenkampfes der Befreiungsbewegung zugeordnet und insofern auch in seiner gewalttätigen Rhe­ torik legitimiert. Aus diskursanalytischer Perspektive hat Wolf Kittler 1987 an Kleists Stück ‚Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie‘ nachgezeichnet. In jüngs­ ter Zeit finden sich Beiträge aus postkolonialer Perspektive.2 Berufen kann sich diese Argumentation auf einen frühen Beitrag Ruth Klügers zur Diskussion, den sie 1977 unter ihrem damaligen Namen Ruth K. Angress publizierte. Klüger sieht in ‚Die Her­ mannsschlacht‘ nicht „politische Propaganda“ am Werke, sondern eine „dem Stück in­ newohnende Dialektik von Gemeinschaftsanspruch und persönlichen Gefühlen“. Mit Kleists Text betrete der „moderne Terrorist und Guerilla­Anführer“ die Bühne und das 1

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Jan Philipp Reemtsma: Blutiger Boden. Streifzüge durch ein Textgelände. In: Ortsvereinigung Hamburg der Goethe­Gesellschaft in Weimar e. V. (Hg.): Heinrich von Kleist – ein radikaler Klas­ siker? Dößel 2004. S. 61–114, hier S. 95. Anthony Stephens spricht von einer „Neutralisierung moralischer Werte in der ‚Hermannsschlacht‘“ und einer „Tilgung des Unterschieds zwischen phy­ sischer und sprachlicher Gewalt“, vgl. Anthony Stephens: „Gegen die Tyrannei des Wahren“. Die Sprache in Kleists ‚Hermannsschlacht‘. In: Eckehard Czucka (Hg.): „Die in dem alten Haus der Sprache wohnen“. Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Münster 1991. S. 175– 195, hier S. 177, 189; wiederabgedruckt in: Ders.: Kleist – Sprache und Gewalt. Freiburg i. Br. 1999. S. 229–252. Vgl. Pierre Kadi Sossou: Kleists ‚Hermannsschlacht‘ als literarisches Recycling. In: Beiträge zur Kleist­Forschung 17. 2003. S. 233–249; Ders.: Römisch­Germanische Doppelgängerschaft. Eine ,palimpsestuöseʻ Lektüre von Kleists ‚Hermannsschlacht‘. Frankfurt a. M. u. a. 2003.

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Stück biete bereits einen Vorschein des später von Franz Fanon traktierten „Problems des Anti­Imperialismus“.3 Auch das Folgende ist sich bewusst, der polarisierenden Kraft des dramatischen Textes ausgesetzt zu sein, es wird jedoch versucht, dies als Ausgangspunkt der Verstehensbemü­ hungen zu nehmen. Die Engführung von Gewalt und Hermeneutik ist in der Forschung schon als Eigenheit des Kleist’schen Werkes ausgewiesen worden.4 ‚Die Hermanns­ schlacht‘ ist ein Text, der diese Engführung in besonders drastischer Weise vornimmt und ausstellt. Die im Drama durch Sprachhandlungen vollzogene Ausweitung des Krieges lässt auch die um Verstehen Bemühten nicht mit heiler Haut davonkommen. Kleists ‚Hermannsschlacht‘ ist als Zeit­ und Tendenzstück aufgefasst worden und es war, der Äußerung des Autors zufolge, auch als ein solches konzipiert. Gegenüber dem preu­ ßischen Finanzminister spricht Kleist brieflich am 1.1.1809 von der ‚Hermannschlacht‘ als einem Stück, das in die Mitte der Zeit falle, im Brief an Collin heißt es am 22.2.1809 dies Stück sei mehr, als irgend ein anderes, für den Augenblick berechnet.5 Der ‚Augen­ blick‘, also die politischen Zeitumstände verhindern dann allerdings die Aufführung und Veröffentlichung der ‚Hermannsschlacht‘. Die in Wien erhoffte Aufführung des Stücks wurde durch den Sieg Napoleons über die Österreicher in der Schlacht bei Wagram im Juli 1809 unmöglich gemacht. Der Zeitbezug gestaltet sich in Kleists Drama in der Eng­ führung von Arminiusʼ Befreiungskampf gegen die römische Besatzungsmacht im Jahre 9 nach Christus mit der vom Autor anvisierten Volkserhebung ‚der Deutschenʻ gegen die französische Okkupation. In Kleists Text wird die Analogie zwischen Römern und Fran­ zosen deutlich genug gezogen, ebenso wie jene zwischen den zerstrittenen Cherusker­ fürsten und der deutschen Kleinstaaterei um 1800. Auf eine enge Verbindung zwischen diesem dramatischen Text und der preußischen Heeresreform des frühen 19. Jahrhunderts haben in der Forschung zuerst Richard Samuel und Wolf Kittler aufmerksam gemacht. Es gibt auffällige Übereinstimmungen zwischen der „literarischen Handlungsführung mit politischen Plänen für einen gesamtdeutschen Aufstand, die Gneisenau, Scharnhorst und vor allem der Freiherr vom Stein seit Juli 1808 entwickelten“ (1071).6 So findet die von 3

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Ihren in den ‚Monatsheften‘ erschienenen Beitrag ‚Kleist’s Treatment of Imperialism‘ hat Ruth Klüger erneut publiziert: Freiheit, die ich meine: Fremdherrschaft in Kleists ‚Hermannsschlacht‘ und ‚Verlobung in St. Domingo‘. In: Ruth Klüger: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttin­ gen 1994. S. 133–162, hier S. 133f., 137, 155. Vgl. Norbert Altenhofer: Der erschütterte Sinn. Hermeneutische Überlegungen zu Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘. In: David E. Wellbery (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Mo­ dellanalysen am Beispiel von Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘. 2. Aufl. München 1987. S. 39–53. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2: Dramen 1808–1811. Hg. von Ilse­Marie Barth/Hinrich C. Seeba. Frankfurt a. M. 1987. S. 1063f. Im Folgenden wird nach diesem Band im Haupttext zitiert. Samuel spekuliert sogar, bei Kleists Drama handle es sich nicht nur um ein in historischem Gewand auftretendes Tendenzstück, sondern „daß Kleist eine intime Kenntnis der Pläne des Triumvirates hatte“ und „nicht nur völlig von ihnen überzeugt, sondern auch aktiv in ihre Durchführung verwi­ ckelt war“, Richard Samuel: Kleists ‚Hermannsschlacht‘ und der Freiherr von Stein (1961). In: Walter Müller­Seidel (Hg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. Darmstadt 1980. S. 412– 458, hier S. 445, 449.

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Gneisenau im August 1808 perspektivierte Taktik der ‚verbrannten Erde‘ eine Entspre­ chung in Hermanns Kriegsplänen. In seiner Denkschrift ‚Auszug aus der Konstitution für die allgemeine Waffenerhebung des nördlichen Deutschlands gegen Frankreich‘ fordert Gneisenau zur Opferbereitschaft auf: „Alles vorrätige Getreide wird beim Vordringen des Feindes fortgeschafft und die Ge­ gend vor ihm verödet, die Mühlen der nötigsten Stücke beraubt und Frauen und Kin­ der flüchten sich nach Bezirken, deren der Norden so viele hat …“7 Eine Entsprechung findet diese Forderung in Hermanns Worten an die Fürsten: „Kurz, wollt Ihr, […] / Zusammenraffen Weib und Kind, / Und auf der Weser rechtes Ufer bringen, / […] Verheeren Eure Fluren, Eure Herden / Erschlagen, Eure Plätze niederbrennen.“ (461) Vorbild für die preußischen Heeresreformer war der spanische Befreiungskampf, dessen ‚kleiner Krieg‘ (guerilla) gegen Napoleon dem bislang ungeschlagenen französischen Heer empfindliche Niederlagen zufügte. Im Folgenden soll es darum gehen, Kleists dramatischen Text weder als ‚Wider­ spiegelung‘ der Tagespolitik des Jahres 1808, noch als „detaillierte Anweisungen zum Partisanenkrieg“8 wahrzunehmen. Kleists ‚Hermannsschlacht‘ soll vielmehr im Kontext eines von Foucault in ‚Vom Licht des Krieges‘ und ‚In Verteidigung der Gesellschaft‘ skizzierten historisch­politischen Diskurses betrachtet werden, der sich seit dem ausge­ henden 17. Jahrhundert gegen einen rechtlich­philosophischen Diskurs stellt und im Na­ men einer parteiischen Wahrheit Einspruch führt gegen die Universalitätsansprüche der Aufklärung: „Im Gegensatz zum philosophisch­juridischen Diskurs, der sich dem Problem der Souveränität und des Gesetzes verschreibt, ist dieser Diskurs, der die Fortdauer des Krieges in der Gesellschaft entziffert, ein wesentlich historisch­politischer Diskurs, ein Diskurs, in dem die Wahrheit wie eine Waffe in einem Partisanenkrieg funktio­ niert, ein dunkel kritischer und zugleich intensiv mythischer Diskurs.“9 Foucault kann in diesem Diskurs fast so etwas wie eine Diskursanalyse avant la lettre erkennen, denn der Krieg wird hier als „Erkenntnisraster“ gebraucht, als „Analysator der Geschichte und allgemeiner der gesellschaftlichen Beziehungen“.10 In diesem Diskurs tritt die für Foucaults Ansatz kennzeichnende, systemische Verbindung von Sprache und Macht besonders prägnant zu Tage:

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Zit. nach Samuel: ‚Hermannsschlacht‘ (Anm. 6). S. 423. Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege. Freiburg i. Br. 1987. S. 236. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76). Frankfurt a. M. 2001. S. 317; vgl. Ders.: Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Berlin 1986. Michel Foucault: Verteidigung (Anm. 9). S. 195, 317.

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„[D]er Diskurs – dies lehrt uns immer wieder die Geschichte – ist auch nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasje­ nige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.“11 Kleists Text ist in seiner parteiischen Diktion um 1800 also kein Solitär, sondern er lässt sich über weite Strecken als eine Auseinandersetzung mit diesen konfligierenden Dis­ kursformationen lesen, wenn zum einen mit Cicero und Kant die zentralen Namen ei­ nes philosophisch­rechtlich eingehegten Kriegsverständnisses anklingen, das mit Kants ‚Vom ewigen Frieden‘ in utopischem Vorgriff ans Ende geführt wurde, und wenn zum anderen ein moderner ‚totaler Krieg‘ durch Analogien zum zeitgenössischen spanischen Guerillakampf gegen Napoleon und zu Partisanenstrategien der preußischen Heeresre­ former ausgerufen wird. Dem Text ließe sich aus dieser Perspektive sogar Qualitäten einer Interdiskursivitätsanalytik zusprechen,12 indem er nicht allein parteiische Rede und mithin Gegendiskurs bleibt, sondern in der Zitation widerstreitender Diskurse auch ana­ lytische Distanz gewinnt und diese in Form einer Metareflexion auf ihre machtpolitischen und kommunikativen Grundlagen hin befragt.13

I. Revision historischer Legendenbildung Diese analytischen Aspekte von Kleists dramatischem Text lassen sich insbesondere in der Zitation und zumeist ironischen Kommentierung des historischen und literarischen Hermann­Mythos erkennen. Spricht Tacitus Arminius als „Führer zu Ruhm und Freiheit“ sowie „[u]nstreitig“ als „Befreier Germaniens“ an, der „im Kriege unbesiegt“14 geblieben sei, so sind es bei Kleist gerade diese Attribute, die mehrfach kommentiert und demen­ tiert werden. Noch in V,13 tituliert sich Hermann selbst gegenüber dem römischen An­ führer Septimius Nerva als „Germaniens Retter und Befreier“ (535, vgl. 461, 550, 552). Am Ende des Textes allerdings wird ihm dieser Titel von anderen germanischen Fürsten streitig gemacht und schließlich von seinem eigenen Gefolge abgesprochen. In ‚Korrektur‘ der historischen Legende hat Kleist sorgsam eine Episode eingespon­ nen, in der sich die germanischen Fürsten um den Ruhm streiten, den römischen Feld­ herren Varus zu töten. Während sich der Überlieferung nach Varus im Wissen um die verlorene Schlacht selbst tötete,15 entbrennt zwischen Hermann, Fust und Gueltar ein 11 12

13

14 15

Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Erw. Ausg. Frankfurt a. M. 1991. S. 11. Siehe hierzu Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs li­ terarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Diskurs­ theorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1988. S. 284–307. Als „praktische Diskurskritik“ hat bereits Raimar Zons Kleists ‚Hermannsschlacht‘ gelesen: Von der „Not der Welt“ zur absoluten Feindschaft. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. 109. 1990. S. 175–199, hier S. 199. Publius Cornelius Tacitus: Annalen I–VI. Stuttgart 1986. S. 60, 134f. Bei Tacitus wird berichtet, er habe sich „mit seiner unseligen Rechten […] selbst den Todesstoß beigebracht“, Tacitus: Annalen (Anm. 14). S. 62.

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Streit, der damit endet, dass Hermann im Kampf unterliegt, verwundet wird und Fust vom Gefolge der Ehrentitel ‚Befreier Germaniens‘ zugesprochen wird: „Triumph! Tri­ umph! Germaniens Todfeind stürzt! / Heil, Fust, Dir! Heil Dir, Fürst der Cimbern! / Der Du das Vaterland von ihm [Varus] befreit!“ (549). Wie so oft in Kleists Texten sind es das „Glück“ bzw. der in dieser Szene durch eine ausgefeilte Figura etymologica eingefügte Zufall, der den Protagonisten aber auch die Konzepte von Ruhm und Heldentod zu Fall bringen. So bezeichnet Gueltar gegenüber Varus die germanischen Fürsten als „Jäger, die Dich fällen wollen!“. Fust und Guel­ tar beanspruchen, Varus sei ihnen „verfallen“. Hermann hingegen spricht Fust als „[g] efallene[n] Sohn des Teut“ an, fordert ihn zum Kampf: „fallʼ aus und triff“, und gesteht seine Niederlage schließlich mit folgenden Worten: „Dein Schwert fällt gut.“ Varus wird sodann von Fust getötet: „Varus fällt. / VARUS Rom, wenn Du fällst, wie ich: was willst Du mehr?“ Und schließlich „fällt“ Fust Hermann entschuldigend um den Hals, er habe ihn verletzt: „das Blut des besten Deutschen fällt in Staub“, und ihm „den Siegskranz schelmisch […] geraubt“. Kleists Hermann nimmt allerdings diese Demontage der his­ torischen Hermann­Figur „lach[end]“ auf und verzichtet aktiv auf den Ruhm, Varusʼ Be­ zwinger zu sein, indem er einer ‚falschen‘ Legendenbildung Vorschub leistet: „Laß einen Herold gleich nur kommen, / Der Deinen Namen ausposaune“ (548ff.). Diese Szene dient nicht dem Vorantreiben der Handlung, sondern ihr kommt im dra­ matischen Text allein die Funktion reflexiver Kommentierung der Konzepte von Historie und Tragödie zu. Es handelt sich um eine Urszene der Übersetzung von Handlung in historische Überlieferung und sie nimmt darin konstruktiv die Wendung auf, mit der Taci­ tus seine Arminius­Geschichte beschließt und Historiographie als Geschichte der Sieger ausweist: „Die griechische Geschichtsschreibung, die nur die eigenen Taten bewundert, kennt ihn nicht, und bei den Römern spielt er nicht die ihm gebührende Rolle, da wir die alte Geschichte rühmend hervorheben und der neuen gleichgültig gegenüberstehen.“16 Mit den Momenten von Glück, Zufall und strategischer Verzerrung stellt Kleist in dieser wie in vielen anderen Szenen des Dramas im fiktiven Rahmen den Übergang von Handlung in Kommunikation, von Macht in Botschaft aus. Er verlagert in diesem Zuge Handlung weitgehend in Sprachhandlung und resignifiziert Krieg darin als ein kommu­ nikatives Geschehen, ein „Greulsystem von Worten“ (523). Dies kann noch einmal im Hinblick auf den Umgang mit dem Hermanns­Mythos veranschaulicht werden. Während etwa Tacitus vorrangig Arminiusʼ Schlachtengeschick festhält, tritt Hermann bei Kleist zwar als Militärstratege auf, der Intrige und List in seiner Bündnispolitik anwendet, mi­ litärische Guerillataktiken entwirft und, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, äußerst komplex strukturierte Botschaften an Verbündete und Gefolgsleute sendet, sich jedoch gerade nicht durch die von Tacitus gerühmte „Körperkraft“17 und sein Geschick in der Schlacht auszeichnet. Zur Hermanns­ respektive Varusschlacht kommt Hermann in Kleists Text zu spät. Ein gewisser, in Marbods Diensten stehender Brunold hat die Schlacht bereits entschieden (546). Die satirische Demontage des Protagonisten geht im 16 17

Tacitus: Annalen (Anm. 14). S. 135. Tacitus: Annalen (Anm. 14). S. 87.

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Text also weiter. Bevor Hermann in V,22 der Ruhm an Varusʼ Tötung aberkannt wird, er aufgrund mangelnder Körperkraft dem Fust unterliegt und verletzt wird, wird ihm zuvor schon der Schlachtensieg abgesprochen und an Marbod delegiert. Der Bote versichert dem Marbod: „Arminius selbst, / Er wird gestehn, daß Du die Schlacht gewannst!“ (547). Und schließlich weist Hermann in einem Akt der Selbstbescheidung das ihm von Marbod und den Fürsten angetragene Amt „König von Germanien“ zunächst ab im Hinblick auf eine zukünftige „Wahl“ in „der gesamten Fürsten Rat“ (552f.). Und noch ein weiteres von Tacitus überliefertes Attribut des Arminius gesteht Kleist seinem Protagonisten bewusst nicht zu, nämlich die rhetorische Eloquenz des Schlach­ tenführers, der sein Gefolge durch das Wort zum Kampf befeuern kann. So habe Armi­ nius, wie Tacitus in indirekter Rede wiedergibt, durch rhetorisches Geschick sein Gefol­ ge so gegen den römischen Feind aufgebracht und „begeistert“, dass sie die „Schlacht forderten“: „Sie sollten nur an ihre Habsucht, ihre Grausamkeit und ihren Hochmut denken: bleibe ihnen da noch etwas anderes übrig, als entweder ihre Freiheit zu be­ haupten oder zu sterben, ehe man sie zu Sklaven mache.“18 Dieser einfachen Form der Agitation und Propaganda der Schlachtenrede enthält sich Kleists Text gänzlich, wobei er eine deutliche Unterscheidung zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikati­ on macht. Die an eine geteilte zeitliche und räumliche Gegenwart gebundene mündliche Rede, die der kurzfristigen Überredung dienen kann, wird zugunsten komplexer schrift­ licher Kommunikationsformen abgewertet. So zeigt Kleists Text einen fassungs­ und sprachlosen Hermann kurz vor der Schlacht, der die Schlachtenrede und die Mitteilung des Schlachtplans an einen anderen delegieren muss: „Du, Bruder, sprich für mich, ich bitte Dich.“ (537) Es handelt sich für Hermann um einen Moment der Existenzkrise und Reflexion, ausgelöst durch das „Schlachtlied“ der Barden, nach denen Hermann mit fol­ genden Worten fragt: „Wo sind die süßen Alten / Mit ihrem herzerhebendem Gesang?“ (537) Kleist folgt hier laut Kommentar Klopstocks Missverständnis, „der die keltischen Bar­ den für germanische Sänger gehalten hat“ (1131) und in seiner ‚Hermanns Schlacht‘ (1769) den Schlachtliedern der Barden eine deutlich agitatorische Funktion zukommen lässt. Sie dienen dort der „Aufmunterung meiner lieben Cherusker unten im Walde, die da fechten werden, wo die Schlacht am Blutigsten seyn wird, und hernach für alle unsre Heere! Denn, sobald sich die Legionen unten im Thalʼ ausbreiten, tönt der Gesang hin­ unter in die Schlacht.“19 Klopstocks Drama ist gänzlich auf die Schilderung der Schlacht konzentriert. Das Geschehen wird weitgehend im Modus der Mauerschau aus der Per­ spektive der germanischen Barden geschildert, die auf einer Klippe über der Schlacht stehend kultische Handlungen vollziehen und durch martialische Gesänge den Kampf anfeuern. „Volk, das männlich ist und keusch, Es wüthe dein Herz, es tödte dein Arm! 18 19

Tacitus: Annalen (Anm. 14). S. 86, vgl. S. 62. Friedrich Gottlieb Klopstock: Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. VI. Leipzig 1844. S. 38–148, hier S. 15f.

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Die Lanze gerad’ in das Antliz der Römer, Gerad’ in das Herz!“20 Das Schlachtenlied in Kleists Drama stimmt eine ganz andere, elegische Tonart an und wendet in der 1. Strophe den Blick von der Gegenwart der Schlacht ab und der leidvollen Vergangenheit zu: „Wir litten menschlich seit dem Tage, / Da jener Fremdling eingerückt; / […] Wir übten, nach der Götter Lehre, / Uns durch viel Jahre im Verzeihn: / Doch end­ lich drückt des Joches Schwere, / Und abgeschüttelt will es sein!“ (537). Die 2. Strophe adressiert ausschließlich Hermann und führt so zur eigentümlichen Form eines Schlacht­ liedes, das sich als Zwiegespräch mit dem Heerführer gestaltet: „Du bist so mild, o Sohn der Götter, / Der Frühling kann nicht milder sein: / Sei schrecklich heut, ein Schlossen­ wetter, / Und Blitze laß Dein Antlitz spein!“ (538)21 Während Klopstocks Bardengesänge eine direkte Verlängerung des Gesangs über das Herz in den tötenden Arm der Germanen und der Lanze ins römische Herz suggerieren, baut Kleists Text Behinderungen und Ver­ zögerungen in die direkte Kommunikation ein, wie dies auch exemplarisch die beiden Strophen des Bardenchors veranschaulichen. Die erste Strophe lenkt den Blick von der Gegenwart der Schlacht zunächst ab, und kommt erst in den beiden letzten Versen zu dieser zurück. Wobei mit „menschlich“ und „Verzeihn“ für das Schlachtgeschehen eher hinderliche Reizworte ins Spiel gebracht werden. Ähnliches ließe sich zu Perspektive, Personen­ und Kommunikationsstruktur des Liedes konstatieren. In der 1. Strophe wird ein lyrisches Wir als Leidensgemeinschaft evoziert und durch des „Joches Schwere“ als Lasttier gezeichnet, das allerdings nicht direkt zur Tat aufgerufen wird, vielmehr wird diese im „abgeschüttelt will es sein!“ (537) anonymisiert. Mit dem angesprochenen ‚Fremdling‘ wird der römische Aggressor individualisiert und eigentümlich romantisiert, insofern dieser in romantischen Texten als Figuration des Dichters fungiert, und in dieser Figuration die Weltaneignung als Bewegung durch den Raum deutlich positiv konno­ tiert und als friedliche gezeichnet wird.22 Während Klopstocks Schlachtlied mit ‚Volk, das männlich ist und keusch‘ und ‚Römer‘ die kriegerischen Parteien klar benennt und unmissverständliche Handlungsanweisungen gibt, adressiert Kleists Bardengesang kein kämpferisches Kollektiv, enthält sich konkreter Aktionspläne und lässt ein klares Feind­ bild vermissen. In der zweiten Strophe wird im lyrischen Du dann mit Hermann zwar ein möglicher militärischer Akteur angesprochen, allerdings werden in den ersten sechs 20 21

22

Klopstock: Hermanns Schlacht (Anm. 19). S. 49. So erfüllt es gerade nicht die vergemeinschaftende Funktion, die ihm Thusnelda zuvor zugespro­ chen hatte: „So, so! Ein Kriegspanier! Sein Anblick hält / Die Scharen in der Nacht des Kampfs zu­ sammen? […] Wie jedes Land doch seine Sitte hat! / – Bei uns tut es der Chorgesang der Barden.“ (496) Im Hinblick auf den ‚Fremdling‘ kann allerdings auch auf den später noch ausführlicher angespro­ chenen Cicero verwiesen werden, der in ‚De officiis‘ die Milde dieses Begriffs für den Kriegsgeg­ ner anprangerte: „Dadurch, daß man einen Feind des Vaterlandes, der eigentlich perduellis heißen müßte, hostis nannte, hat man das Gehässige des Begriffes durch einen gelinden Ausdruck zu mil­ dern gesucht. Hostis nämlich hieß bei unseren Vorfahren der, den wir jetzt einen Fremden nennen. […] Läßt sich wohl eine größere Milde denken, als daß man den, gegen welchen man Krieg führt, mit einem so gelinden Namen benennt?“ Marcus Tullius Cicero: Von den Pflichten. Uebersetzt und erklärt von Dr. Raphael Kühner. 2. verbess. Aufl. Stuttgart 1873. I, 37.

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Versen im vierfach genutzten Stilmittel der Negation („nicht wanken“, „nicht weichen“, „nicht beschleichen“, „nicht milder“) zunächst Handlungshemmungen thematisiert, be­ vor in den Schlussversen Hermann als Blitze schleudernder Wotan stilisiert wird. Und selbst dieser vermeintlich klare abschließende Imperativ: „Und Blitze laß Dein Antlitz spein!“ (538) lässt sich noch im Sinn der vorangehend skizzierten, durch das Bardenlied bewirkten Diffusion verstehen, denn kulturhistorisch wird man als Blitzeschleuderer zu­ nächst Zeus bzw. Jupiter identifizieren. So hatte zuvor Varus im Drama seine Gefolgsleu­ te und mit ihm Kleist sein Publikum in die Ersetzungsverhältnisse griechisch­römischer und nordischer Mythologie mit folgenden Worten eingeführt: „Denn Wodan ist, daß Ihr’s nur wißt, Ihr Römer, / Der Zevs der Deutschen, Herr des Blitzes / Diesseits der Alpen, so wie jenseits der“ (492). Insofern lässt sich das mythische Schlussbild des Bardenge­ sangs durchaus in die hier vorgetragene These einordnen, dass Kleist das Schlachtlied in der ‚Hermannsschlacht‘ als Reflexionslyrik verwendet, die nicht der Agitation, son­ dern gerade umgekehrt der distanzierenden Meditation von Handlungshemmungen des Protagonisten dient. Der hybride Charakter Arminius/Hermann, römischer Feldherr und Cheruskerfürst in einem,23 verbindet sich sinnfällig mit dem mythologischen Zwitter des Blitze schleudernden Wotans. Überhaupt erweist sich der nahezu durchgängig und in al­ len Lebenslagen strategisch handelnde Hermann als würdiger Sohn Roms, insofern diese im Text zuvor als „Kinder des Betruges“ (456) apostrophiert wurden. Der Moment vor der Schlacht gehört zu jenen wenigen Stellen im Drama, an denen wir einen Hermann ge­ zeigt bekommen, der zwischen Antithesen gefangen, handlungsunfähig und sprachlos ist. Zum Medium der Selbstreflexion wird der Bardengesang, der ausschließlich Hermann adressiert, „Sie beginnen Dir das Schlachtlied schon!“ (537), und in seiner durch Dialog unterbrochenen Zweiteilung auch graphisch einen Moment der Unterbrechung markiert. Das solchermaßen paradox gestaltete Schlachtlied zeigt wirkungsästhetische Konsequen­ zen, der ansonsten eiskalt kalkulierende Stratege Hermann „sinkt, heftig bewegt, wieder an die Eiche zurück“ (537). Die Szene V,14 zeigt den Protagonisten in zwei Momenten der Gefühlsverwirrung. Der erste ausführlich geschilderte wird durch den Bardenchor ausgelöst, der zweite durch Egberts Anfrage, was mit den germanischen Söldnern und Verbündeten im römischen Heer zu geschehen habe. Hermann ist nicht bereit, diese als Feinde anzusehen. Und so gibt es in dieser Szene dann doch noch so etwas wie eine ‚Schlachtrede‘ Hermanns, die allerdings ebenso paradox anmutet wie das Schlachtlied der Barden: „Vergebt! Vergeßt! Versöhnt, umarmt und liebt Euch!“ (539) Gegenüber Egbert pointiert Hermann dann noch einmal, worum die gesamte Szene kreiste: „Verwirre das Gefühl mir nicht! Varus und die Kohorten, sagʼ ich Dir; Das ist der Feind, dem dieser Busen schwillt!“ (539) 23

Bei Tacitus heißt es: „Dabei gebrauchte er [Arminius] sehr viele lateinische Ausdrücke. Er hatte ja im römischen Feldlager als Führer seiner Landsleute gedient.“ Tacitus: Annalen (Anm. 14). S. 82f.

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Es ging durch Momente von Gefühlsverwirrung hindurch um die Bezeichnung des Fein­ des, der im eigenen Innern zu lauern schien, von dem die abtrünnigen Germanen ausge­ nommen werden und der schließlich in ‚Varus und die Kohorten‘ lokalisiert wird. Im Hinblick auf die Funktion des Bardenlieds im Text lohnt der Blick auf die weitere Nennung dieses Genres im Drama in Szene I,3. Auch hier wird es deutlich von Pro­ paganda, Agitation und kriegerischer Handlung abgerückt, ja es ließe sich vielmehr als Friedenslied bezeichnen: „Wenn sich der Barden Lied erfüllt, Und, unter einem Königszepter, Jemals die ganze Menschheit sich vereint.“ (459) In dieser kosmopolitischen Vision kann ein Anklang an die Utopie einer „Weltrepublik“,24 eines gemeinsamen befriedeten Völkerstaates des Königsberger Philosophen Kant in seiner Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ erkannt werden, die durch Hermanns weitere, im Verweis auf ‚jenen Latier‘ auf tagespolitische Aktualität zielende Rede deutlich von den kriegerischen Okkupationsbestrebungen Napoleons abgegrenzt wird. „So läßt, daß es ein Deutscher führt, sich denken, Ein Brittʼ ein Gallier, oder wer Ihr wollt; Doch nimmer jener Latier, beim Himmel! Der keine andre Volksnatur Verstehen kann und ehren, als nur seine.“ (459) Allerdings greift der hier formulierte Einspruch nicht allein Augustus respektive Napo­ leon an, sondern der Hinweis auf die nationale Bedingtheit des Verstehens thematisiert Grenzen der Verständigung, die auch die Vision vom befriedeten Völkerstaat nicht un­ angetastet lassen. Eine deutliche Skepsis gegenüber solchen Idealen lässt sich jedenfalls Hermanns weiterer Rede entnehmen: „Doch bis die Völker sich, […] / Gleich einer See, ins Gleichgewicht gestellt, / Kann es leicht sein, der Habicht rupft / Die Brust des Aars, die, noch nicht flügʼ, / Im Stillen Wipfel einer Eiche ruht.“ (459f.) Der ideelle Vorgriff auf den befriedeten Zustand befestigt womöglich bestehende Täter­Opfer­Verhältnisse bzw. Machtkonstellationen. Wie sich später noch an den Dialogen zwischen Hermann und Thusnelda zeigen wird, kann Kleists Drama tatsächlich in jenen von Foucault skizzierten historisch­politischen Diskurs eingeordnet werden, der sich in scharfer Abgrenzung von einem philosophisch­rechtlichen profiliert. Die im Näheren noch auszuführenden Formen einer Verallgemeinerung des Krieges in Kleists Text lassen diesen in äußersten Kontrast zu philosophisch­vertragsrechtlichen Staatskonzeptionen treten, wie sie von Rousseau bis Kant das ausgehende 18. Jahrhundert prägen. Kleists ‚Hermannsschlacht‘ kann als De­ menti von Kants ‚Zum ewigen Frieden‘ verstanden werden. Es ist ein Text, der die Wahr­ heit als parteiische konzipiert, von einer Wahrheit in Kampfstellung spricht. Mit Hermann und Thusnelda zeigt er zwei Protagonisten, die diese „Lektion“ (553) zu lernen haben. 24

Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. VI. Darmstadt 1964. S. 191–251, hier S. 213 (BA 38).

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Kommen wir zu dem eigentümlichen Helden der ‚Hermannsschlacht‘ und zu seiner, in einer vierfachen Geste gezeigten Demontage zurück: er erscheint weder als Schlach­ tenredner oder ­sieger, noch als Bezwinger des Varus oder als germanischer Oberherr. Der dramatische Text wird vielmehr durch Hermanns nihilistische und apokalyptische Visionen gerahmt, die von einer Verallgemeinerung des Krieges sprechen. In I,3 erläutert Hermann den germanischen Fürsten: „So weit im Kreise mir der Welt / Das Heer der munteren Gedanken reichet, / Erstrebʼ ich und bezweckʼ ich nichts, / Als jenem Römer­ kaiser zu erliegen“, und setzt gegenüber deren Irritation nach: „Jedoch, weil Alles zu verlieren bloß / Die Absicht ist“ (457f.). Er fährt fort: „Einen Krieg, bei Mana! will ich / Entflammen, der in Deutschland rasseln, / Gleich einem dürren Walde, um sich greifen, / Und auf zum Himmel lodernd schlagen soll! […] Schritt vor Schritt will ich das Land der großen Väter / Verlieren“ (460). „Tod und Verderben“ (504) bleibt Hermanns Parole im gesamten Stück. In seinen Schlussworten prolongiert Hermann das Kriegsgeschehen gegen die Römer für künftige Generationen in eine unabsehbare Zukunft, ohne dass am Ende der Kriegshandlungen ein Sieg oder eine Staats­ oder Nationengründung anvisiert wäre. „Denn ehʼ doch, sehʼ ich ein, erschwingt der Kreis der Welt Vor dieser Mordbrut keine Ruhe, Als bis das Raubnest ganz zerstört, Und nichts, als eine schwarze Fahne, Von seinem öden Trümmerhaufen weht!“ (554) Der Unterschied zwischen dem anfänglich proklamierten Erliegen und Verlieren und der Schlussvision liegt im Verzicht auf den eingangs erhofften „Ruhm“ und das „allein stehn“ (457). Hermanns Nihilismus wird im Text auch auf seinen Kontrahenten Varus ausgeweitet, insofern ihm eine germanische Alraune diese Lektion lehrt. Wiederum in episch­refle­ xiver Distanzierung vom Handlungsgeschehen, auf der Grenze von dramatischer Rea­ lität und Fiktion, begegnet dem im Wald verirrten römischen Feldherrn des Nachts eine „Alraune […] mit Krücke und Laterne“. Auf Varusʼ Fragen „Wo kommʼ ich her? Wo bin ich? Wohin wandrʼ ich?“ antwortet ihm diese: „Aus nichts“; „In’s Nichts“; „Zwei Schritt vom Grabʼ, Quintilius Varus, / Hart zwischen Nichts und Nichts!“ (525f.) Es ist in der Forschung bereits darauf hingewiesen worden, dass die dreifache Wiederholung des ‚Nichts‘ an dieser Stelle auf den Grundtext des romantischen Nihilismus, nämlich Bonaventuras ,Nachtwachen‘ verweist (1138), die Alraune wird auch durch das Attri­ but der Laterne mit der Figur des Nachtwächters enggeführt. Hermanns Nihilismus wird in dieser Szene gespiegelt und zugleich verallgemeinert, er wird so als eine spezifisch moderne Befindlichkeit lesbar. Apokalyptische Visionen rahmen die Dramenhandlung in ihren Anfangs­ und Schlussversen, zwar mit wechselnden germanischen und römischen Vorzeichen, allerdings ohne dass hier jemand aus diesem umfassenden Verlustgeschäft als Sieger hervorgehen würde oder diesem auch nur entkäme.

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„Es ist umsonst, Thuskar, wir sind verloren! (449) Und nichts, als eine schwarze Fahne, Von seinem öden Trümmerhaufen weht!“ (554)

II. Verallgemeinerung des Krieges Einerseits höhlt Kleists Drama ‚Hermansschlacht‘ durch diese Konturierung seines Pro­ tagonisten seinen Titel aus. Von einer Schlacht Hermanns kann eigentlich nicht die Rede sein, da er ja weder als Schlachtenredner oder ­führer in Erscheinung tritt, zur Varus­ schlacht zu spät kommt und seinen Ruhm an Fust, Brunhold oder Marbod abgeben muss. Andererseits wird durch eine Resignifikation des Schlacht­Begriffs das Werk seinem Ti­ tel gerecht. Denn mit ‚Schlacht‘ ist hier nicht eine einzelne militärische Auseinanderset­ zung gemeint, sondern der ‚totale Krieg‘ als moderne Existenzform, der die Konzepte von Wahrheit, Recht und Gesetz in Mitleidenschaft zieht. Hermanns Schlacht wird mehr­ fach und sie wird gerade nicht mit dem Schwert geführt, sondern mit anderen modernen militärischen Mitteln, mit Mitteln der Kommunikation. Die Grenzen zwischen privat/ öffentlich und Liebe/Krieg werden in diesem Zuge systematisch eingezogen. Gleich zu Beginn des Dramas, in der Jagdszene, werden Gewalt und Spielmetapho­ rik enggeführt – „In seine Forsten spielend führt er [Hermann] uns“ (449) – und mit Sprachwitz und Sexualität gekoppelt. In fortschreitender Verrohung und Ausweitung der Tiermetaphorik auf die menschliche Sphäre wird aus diesen Spielen dann blutiger, in der Bärenszene kulminierender Ernst. Bereits Stefan Börnchen ist aufgefallen, dass ‚Die Hermannsschlacht‘ im Sprachspiel um das Lippgestade einen besonderen zynischen Spaß treibt.25 In der Wechselrede der germanischen Fürsten in I,1 werden durch die Dop­ peldeutigkeit des ‚Strichs‘, Landstrich zum einen, Satzzeichen zum anderen, die Terri­ torialkämpfe mit Schriftzeichen, „förmliche[m] Vertrag“, Vertragsbruch und Betrug und mithin mit Kommunikation und den Grenzen der Verständigung assoziiert. Den Streit um das „Gestadʼ der Lippe“ zwischen Dagobert und Selgar schlichtet Thuiskomar mit fol­ genden Worten: „Laßt den Strich, ich bittʼ Euch, / Ruhn, an der Lippe“ (450f.). Durch die Mehrdeutigkeit der ‚Lippe‘, zum einen ein westfälischer Fluss, zum anderen ein mensch­ liches und im Weiteren ein weibliches Geschlechtsorgan werden Kampf und Sexualität überblendet. Insofern hier also die Verträge und Kämpfe um die ‚Lippe‘ ausgetragen werden, steckt im Sprachspiel zugleich eine soziopathologische These über den Zusam­ menhang von Gewalt und Liebe in der Triebstruktur, die bereits Penthesileas Einsicht grundierte: „So war es ein Versehen. Küsse, Bisse, / Das reimt sich“ (254). Ein weiteres handlungstragendes Sprachspiel findet sich im Text in der Verwechselung von „Pfiffikon“ und „Iphikon“: „Wars ein Versehn, daß man nach Pfiffi mich, / Statt Iphikon geführt“, wodurch Varusʼ Legionen in die Irre gehen. In strategischer Ausnüt­ 25

Vgl. Stefan Börnchen: Translatio Imperii. Politische Formeln und hybride Metaphern in Heinrich von Kleists ‚Hermannsschlacht‘. In: Kleist­Jahrbuch 2005. S. 267–284.

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zung der Vorurteile der Kolonialmacht gegenüber dem barbarischen „Greulsystem von Worten“ lässt Hermann durch seine Boten die römischen Legionen ins Verderben führen. „Pfiffikon! Iphikon! – Was das, beim Jupiter! / Für eine Sprache ist!“ (522f.) Es handelt sich um ein Kleist typisches Moment, dass hier nun ein ‚Versehen‘ oder, wie im Voran­ gehenden gezeigt, ein Zufall zum tragischen Verhängnis führt. Es ist das Sprachspiel, der Witz, der in Kleists Tragödien das Schicksal, die hamartia, die intellektuelle Fehlleistung oder die Wertekollision als Movens des tragischen Falls ablöst. Varus wird dies in Erin­ nerung an die Verwechselung von Pfiffikon und Iphikon kurz vor seinem Ende auf den Punkt bringen: „Da sinkt die große Weltherrschaft von Rom / Vor eines Wilden Witz zusammen, / Und kommt, die Wahrheit zu gestehn, / Mir wie ein dummer Streich der Knaben vor!“ (547). Darüber hinaus perspektiviert dieses Sprachspiel das koloniale Machtverhältnis als Hochmut des vermeintlich Zivilisierten gegenüber dem ‚Barbaren‘. Auch diese Opposi­ tion und der Begriff des Barbaren sind in den historisch­politischen Diskurs des ausge­ henden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts einzuzeichnen. Foucault sieht ihn in der französischen Geschichtsschreibung eines Boulainvilliers Gestalt annehmen und bis zu Marat reichen, als eine Figur, die ohne einen „zivilisatorischen Bezugspunkt“ nicht zu denken ist, „zu dem er in ein Verhältnis von Feindschaft und fortgesetztem Krieg tritt.“ Als Antipode zur Figur des Wilden, der im philosophisch­rechtlichen Diskurs beheimatet ist und mit Natur und Tausch assoziiert wird, verbindet sich mit dem Barbaren „Gewalt und Freiheit“. Der gute Wilde und der böse Barbar, diese Wertungen kristallisieren sich heraus: „Der Barbar […] ist der Mensch der Geschichte, der Plünderung und Brand­ schatzung, er ist der Mensch der Herrschaftsausübung.“26 Der Barbar wird zur Figur des Revolutionärs, und man kann sagen, dass Hermann durch die Nationalliteraturen über­ greifend prototypisch zur Figur des barbarischen Befreiungskämpfers wird.27 Der histori­ sche Diskurs versucht das Verhältnis von Revolution und Barbarei zu moderieren. Kleists ‚Hermannsschlacht‘ zeigt ein sehr genaues Sensorium für das Spannungsfeld zwischen Zivilisation und Barbarei und für die Funktion solcher diskursiven Zuschreibungen. Als „Barbar“ profiliert sich Hermann gegenüber dem römischen Gefangenen Septimius Ner­ va, der sich auf Hermanns „Siegerpflicht“ der Schonung wehrloser Gefangener bzw. auf sein „Gefühl des Rechts, / In Deines Busens Blättern aufgeschrieben!“ beruft. Der als Römer sozialisierte Arminius kontextualisiert diese Rede von Pflicht und (Natur­)Recht gut informiert mit Ciceros Kriegsethik: „An Pflicht und Recht! Sieh da, so wahr ich lebe! / Er hat das Buch vom Cicero gelesen“ (536), die als Lehre vom gerechten Krieg (bellum justum) kulturhistorisch bis in die Gegenwart bedeutsam geblieben ist und erst allmählich 26

27

Foucault: Verteidigung (Anm. 9). S. 232f., 235. Zur Figur des Barbaren siehe auch Gesa von Essen: Hermannsschlachten. Germanen­ und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Göttingen 1998. S. 19–56. So etwa in zahlreichen italienischen Opernlibretti, vgl. Arno Forchert: Arminius auf der Opern­ bühne. In: Günther Engelbert (Hg.): Ein Jahrhundert Hermannsdenkmal 1875–1975. Detmold 1975. S. 43–58; Paola Barbon/Bodo Plachta: ‚Chi la dura la vinceʻ – ‚Wer ausharrt, siegtʻ. Armi­ nius auf der Opernbühne des 18. Jahrhunderts. In: Rainer Wiegels/Winfried Woesler (Hg.): Armi­ nius und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur. 3. erw. Aufl. Paderborn u. a. 2003. S. 265–290.

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von einer Friedensethik abgelöst worden ist. Die bereits erwähnte Schrift Kants ‚Zum ewigen Frieden‘, die eine völkerrechtliche Friedenssicherung entwirft, wäre hier als be­ deutender Wendepunkt zu nennen. Mit Cicero und Kant alludiert ‚Die Hermannsschlacht‘ die markantesten Wegmarken eines philosophisch­rechtlichen Diskurses, den Hermann als zivilisatorischen Bezugspunkt aufruft, von dem er sich jedoch in aller, gerade in dieser Szene gezeigten Brutalität als Barbar absetzt. In ‚De re publica‘ und ‚De officiis‘, worauf Kleist sich mit dem Pflicht­Begriff insbesondere beziehen dürfte, handelt Cicero auch von den „Pflichten im Kriege“,28 die auf eine Eingrenzung des Krieges ausgelegt sind und diesen nur im Ausnahmefall als Mittel der Konfliktlösung legitimieren. Es werden gerechte Kriegsgründe wie der Verteidigungsfall, präventive Friedenssicherung oder die militärische Bestrafung von Unrecht angeführt, es wird das Verhalten gegenüber dem unterlegenen Besiegten reglementiert. So plädiert Cicero für die Schonung der Gefange­ nen, diejenigen seien zu „begnadigen, die im Kriege nicht grausam und nicht unmensch­ lich waren“, besonders aber seien „diejenigen auf[zu]nehmen, die nach Niederlegung der Waffen beim Schutzversprechen des Feldherrn Zuflucht gesucht hatten“.29 Auf diese Forderung scheint Septimius in Gemahnung an Hermanns ‚Siegerpflicht‘ anzuspielen. Dieser hat seinen Cicero allerdings auch gut gelesen und kann nun diesem Vertreter des römischen Weltreichs seinerseits Rechtsbruch vorwerfen, indem ein gerechter Grund zur Kriegsführung in Germanien gerade nicht vorgelegen habe: „Du weißt was Recht ist, Du verfluchter Bube, / Und kamst nach Deutschland, unbeleidigt, / Um uns zu unterdrü­ cken?“ (536) Das Recht wird hier auf der Seite der Sieger verortet. Der dramatische Text reißt eine Kluft zwischen römischem Kriegsrecht à la Cicero und römischer Kolonialpo­ litik auf. Hermann beendet diese ‚Rechtserörterung‘ mit Septimius auf einem Wege, der bereits bei Cicero vorgezeichnet ist, wenn es dort heißt: „Fremden Staaten gegenüber müssen insbesondere die Rechte des Krieges beobach­ tet werden. Es gibt nämlich zwei Wege einen Streit zu entscheiden, den einen durch Rechtserörterung, den anderen durch Anwendung von Gewalt; jener ist dem Men­ schen, dieser den Thieren eigen.“30 Mit seiner Anweisung: „Nehmt eine Keule doppelten Gewichts, / Und schlagt ihn tot!“, verfällt Hermann in die von Cicero angesprochene tierische Gewalt und Septimius kom­ mentiert in seinen Schlussworten dies Verhalten entsprechend: „Von Hunden in Germa­ nien zerrissen“ (536). Die im Drama detailliert ausgearbeitete Tiermetaphorik ist Instrument der kriegeri­ schen Auseinandersetzung und Agitation, sie ist gleichermaßen in den hier kollidierenden philosophisch­rechtlichen wie historisch­politischen Diskursen beheimatet und sie lässt sich u. a. auf die Auseinandersetzung mit Ciceros Philosophie des gerechten Krieges zu­ rückführen. So kann auch die bei Kleist vorgenommene Assoziation der Römer mit dem Löwen (459) auf ‚De officiis‘ sich berufen, wenn es dort heißt: 28

29 30

Cicero: Pflichten (Anm. 22). I, 41. Zur Auseinandersetzung mit Cicero siehe auch Sossou: ‚Her­ mannsschlacht‘ (Anm. 2). S. 233–241. Cicero: Pflichten (Anm. 22). I, 35. Cicero: Pflichten (Anm. 22). I, 34.

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„Man kann übrigens auf zweierlei Weise Unrecht thun, nämlich durch Gewalt oder durch List. Die List scheint das Wesen eines Fuchses zu sein, die Gewalt das eines Löwen; beides ist des Menschen ganz unwürdig; die List jedoch verdient noch mehr Abscheu. Im ganzen Bereiche der Ungerechtigkeit aber gibt es nichts Abscheuliche­ res, als wenn man gerade dann den Schein eines ehrlichen Mannes anzulegen sucht, wenn man einen Betrug ausübt.“ Nach Ciceros Maßstäben eines gerechten Krieges machen sich beide Parteien, die Römer und die germanischen Fürsten, in Kleists Text durch List und Gewalt, durch Verletzung der von Cicero eingeklagten „Gerechtigkeit gegen einen Feind“,31 durch Wort­ und Bünd­ nisbruch schuldig. Die Keule taucht in Kleists Texten häufig auf und sie bedeutet mehr als die Waffe des Barbaren. Auch am Ende des ‚Erdbeben in Chilis‘ wird sie ohne plausible Einführung zur Hand genommen, die Keulen in Kleists Texten bleiben ein Fremdkörper. Die Keule symbolisiert den Einbruch des Atavismus in die gesellschaftliche Ordnung und sie ist zu­ gleich das Zeichen, das die Ordnung der Zeichen zu Fall bringen will, indem sie versucht, in gewaltsamer Deformation der Materialität den Prozess der Signifikation endgültig zu beenden. Die Ambivalenzen des Rechts und der Sprache sollen so abschließend verein­ deutigt werden. Dies gelingt zwar keinem der in Kleists Werk gezeigten Gewaltexzesse, allerdings verfängt die Keule als ein bleibendes Zeichen für ein solches gewaltsames Begehren nach einem Jenseits hermeneutischer Uneindeutigkeit. Der von Hermann initiierte Gewaltexzess, gleich mit einer Keule ‚doppelten Gewichts‘, so als solle das Gegenüber laut Bernhard Greiner „völlig ungestalt“32 gemacht werden, hat seine Wiederholung und Steigerung in der von Thusnelda initiierten Zerfleischung des Ventidius. Dieses Mal wird allerdings durch die explizite Überblendung der ausge­ hungerten Bärin mit Thusnelda und schließlich mit dem deutschen Volk das Scheitern der gewaltsamen Vereindeutigung von Ambivalenz und Hybridität noch deutlicher aus­ gestellt. Unter dem pädagogischen Einfluss ihres Mannes wird Thusnelda zur „zottel­ schwarzen Bärin von Cheruska“ (543) gemacht. Im Hinblick auf das Schlachtverständnis des Kleistʼschen Textes und die hier vorge­ nommene Verallgemeinerung des Krieges avanciert die Hermann­Thusnelda­Handlungs­ achse zum dramatischen Hauptschauplatz. Allein in diesem Kontext spricht Hermann von seinem Sieg, den ihm niemand streitig machen kann. Und auch die Szenenfolge spricht für diese Deutung, denn die Varusschlacht wird im Botenbericht an den Rand des dramatischen Geschehens gedrängt, während die Bärenszene an ihre Stelle rückt. Die Zerfleischung des Ventidius ist Sinnbild für das Kriegsverständnis des Textes. Die vermeintlich privat­intimen Szenen zwischen den Eheleuten werden propagandistisch ausgestaltet, und Hermanns Erziehungsprojekt adressiert in seiner Frau ebenso das deut­ sche Volk. Es ließe sich sogar sagen, dass ‚Die Hermannsschlacht‘ in diesen Szenen ihre eigene Wirkungsabsicht ausstellt und analysiert, womöglich selbst destruiert. Hermann 31 32

Cicero: Pflichten (Anm. 22). I, 40, 41. Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen. Stuttgart 2000. S. 117.

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kämpft, wie wir bereits gesehen haben, gegen sich selbst und seine Verwirrung des Ge­ fühls, und Hermann kämpft zunächst und vor allem gegen seine Frau Thusnelda. Diese Schlacht gestaltet sich als eine Erziehung zu Rache und Kampfbereitschaft. Thusnelda wird durch Hermanns Lektionen Moralität und Humanität ausgetrieben. Thusnelda ist vom Beginn der Dramenhandlung an in Hermanns Kriegstaktik als Spielball einbezogen, sie soll, trotz mehrfacher abwehrender Bitte: „Laß mich mit die­ sem Römer aus dem Spiele“ (467, vgl. 474), den römischen Legaten Ventidius durch vorgetäuschte Gunstgewährung in Sicherheit wiegen und „mit Waffen des Betrugs“ (473) schlagen. Allerdings wird die Rationalität dieser Kriegstaktik im Hinblick auf Ventidius im gesamten Drama nicht recht entfaltet. Sehr klar herausgearbeitet wird hingegen die Rationalität dieses Spiels im Hinblick auf Thusnelda. Sie wird auf emotional­psychologi­ scher Ebene und auf rechtlich­sittlicher Ebene ihrer Naivität überführt. Sie soll erkennen lernen, dass dort, wo sie bei Ventidius wahrhafte Leidenschaft angenommen hatte, nur vorgetäuschte als Kriegstaktik zu finden ist. Darüber hinaus soll sie in Ventidius den wah­ ren Charakter der Kolonialmacht Rom begreifen und sich von ‚naiven‘ Konzepten von Sittlichkeit und Recht verabschieden. Dass Thusnelda in Analogie und Überblendung mit dem Volk in diesem Drama zum zentralen Adressaten von Propaganda und Agitati­ on wird, veranschaulicht einen Aspekt des verallgemeinerten Krieges. Während Ciceros bis in die Neuzeit wirksame Lehre vom gerechten Krieg gerade auch auf die personelle Eingrenzung des Krieges auf Soldaten in Abgrenzung von der Zivilbevölkerung gerichtet war, wird diese, werden Frauen und Kinder in der ‚Hermannsschlacht‘ nun ausdrücklich einbezogen. Thusnelda soll gleichsam zur idealen Guerillakämpferin ausgebildet wer­ den, seine Kinder schickt Hermann als Geiseln in Feindeslager. Die Familie, Liebe und Leidenschaft werden so von Anfang an in die Kriegsspiele der dramatischen Handlung einbezogen. Es geht Hermann darum, die vermeintlich zivilisierte Kolonialmacht Rom in ihrer Ge­ walttätigkeit zu zeigen, durch Lektionen, die Erfundenes und Wahres in propagandisti­ scher Absicht miteinander verbinden. So erzählt er Thusnelda die Geschichte von einer Ubierin, die von Römern auf offener Straße ihres Haares und ihrer Zähne wegen beraubt worden sei (486f.) und stellt diese extreme Form der Ausbeutung des menschlichen Kör­ pers in Kontinuität mit römischen Kolonialpraktiken: „Für wen erschaffen ward die Welt, als Rom? Nimmt August nicht dem Elefanten Das Elfenbein, das Öl der Bisamkatze, Dem Panthertier das Fell, dem Wurm die Seide? Was soll der Deutsche hier zum voraus haben?“ Die Degradierung des Kolonisierten zum Tier: „Eine Bestie, / Die auf vier Füßen in den Wäldern läuft!“ (488), das lehrt Hermann seine Gattin. Und im abgefangenen Brief des Ventidius wird Hermanns ‚Märchen‘ für Thusnelda zu grausamer Wirklichkeit, denn hier liest sie schriftlich, was sie in den Erzählungen ihres Mannes nicht glauben wollte, dass der römische Legat nicht in wahrhafter Leidenschaft für sie eine Haarlocke erbat, sondern als Probe für eine der Kaiserin Livia zugedachte Perücke (518).

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Thusnelda erscheint im Text zunächst als Stimme der Humanität und des Rechts, sie spricht im Hinblick auf Ventidius für die Differenzierung zwischen Individuum und Kol­ lektiv. Gegenüber Hermanns vereindeutigender, parteiischer Ideologie bleibt sie als un­ terscheidende Stimme der Vernunft hörbar. „THUSNELDA empfindlich Dich macht, ich sehʼ, Dein Römerhaß ganz blind. Weil als dämonenartig Dir Das Ganzʼ erscheint, so kannst Du Dir Als sittlich nicht den Einzelnen gedenken.“ (474) Dass der Nebentext hier ‚empfindlich‘ anstatt ‚empfindsam‘ bringt, was in gewisser Wei­ se der inhaltlich vorgebrachten Position angemessener wäre, verheißt für diesen Ein­ spruch für den einzelnen sittlich Guten schon nichts Gutes, denn die Aussage wird so psychologisiert und als Ausdruck der verletzten Eitelkeit Thusneldas lesbar, die pikiert darauf reagiert, dass ihr Ehemann ihrem Verehrer keine wahren Gefühle zutraut. Und so findet in dieser Passage ein eigentümlicher Chiasmus zwischen Gefühl und Aussage, Ursache und Wirkung statt. Während sich Thusnelda in ihrem Einspruch für Sittlichkeit und Unterscheidung gefühlsbetont, ‚empfindlich‘ zeigt, ist der Hermann zugesprochene Römerhass alles andere als ‚blind‘, sondern beruht in höchstem Maße auf strategischem Kalkül. Und an einer weiteren Stelle hält Thusnelda Einspruch gegen Hermanns Vernichtungs­ pläne. Nachdem er ihr den Hinterhalt gegen Varus und das gesamte römische Heer ent­ deckt hat, plädiert sie erneut für den einzelnen Guten: „Die Guten mit den Schlechten, rücksichtlos?“ Worauf Hermann antwortet: „Die Guten mit den Schlechten. – Was! Die Guten! / Das sind die Schlechtesten! Der Rache Keil / Soll sie zuerst, vor allen Andern, treffen!“ (514) Thusnelda gemahnt hier erneut an Hermanns „Gefühl“, hält ihm sein „grimmiges“ „Gemüt“ vor, fordert „Dankbarkeit“ (514f.) ein. Und sie erzielt für den Mo­ ment durch die Erzählung von einem heldenmütigen Centurio, der unter Lebensgefahr ein Kind aus den Flammen rettete, auch Wirkung.33 Ähnlich wie im Falle des Bardenlie­ des und der Gefühlsverwirrung in Szene V,14 verliert Hermann „glühend“ die Fassung: „Er sei verflucht, wenn er mir das getan! / Er hat, auf einen Augenblick, / Mein Herz ver­ untreut, zum Verräter / An Deutschlands großer Sache mich gemacht!“ (515) Die Abwehr der moralischen Gefühlsverwirrung erzielt Hermann durch zwei kommunikative Gesten: einmal wird das Geschehen durch den Konditionalis ins Ungewisse gesetzt (‚wenn er mir das getan‘) und durch das ‚mir‘ wird die Tat in ihrer Handlungsrichtung verkehrt, einmal wird die einzelne gute Tat durch das sie erst hervorbringende römische Unrecht gänzlich zunichte gemacht: „Warum setztʼ er Thuiskon mir in Brand?“ (515) Metonymisch wird hier der Retter vor dem Brand zum Brandstifter verkehrt, der Einzelne pars pro toto für das Kollektiv genommen. 33

Reemtsma verweist hier zurecht auf die Heldentat des jungen Tempelherrn in Lessings ‚Nathan der Weise‘, ein Text, der in Kleists Drama ebenso wie Kants ‚Zum ewigen Frieden‘ exemplarisch für die Abgrenzung von der Aufklärungsethik herangezogen wird, vgl. Reemtsma: Blutiger Boden (Anm. 1). S. 85f.

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Und in dieser Kommunikationsstrategie fährt Hermann fort. Der gesamte Dialog zwi­ schen den Ehegatten in Szene IV,9 ist strategisch, interessengeleitet. In ihrer folgenden Replik wird klar, dass Thusnelda im Gespräch keinen selbstlosen Einspruch für den ein­ zelnen Guten führt, sondern, nachdem ihre Logos­ und Ethos­Strategie der Überzeugung nichts fruchtet, mit „steigender Angst“, schließlich „weinend“ für das Leben des Venti­ dius bittet. Hermann hingegen beabsichtigt in dieser Szene dem ‚empfindlichen‘ „Kind“ (514) Thusnelda in einem Akt vollständiger Desillusionierung eine nachhaltige Lektion zu erteilen. Sie soll Ventidius als Personifikation römischer Kolonialmacht und in ihm die Grausamkeit dieser Kolonialmacht erkennen lernen. Zu diesem Zweck wird ihr von Her­ mann eine komplexe, aus einem materialen und einem Schriftzeichen zusammengesetzte Botschaft zu lesen gegeben: „Er gibt ihr den Brief, worin die Locke eingeschlagen.“ (517) Der von Hermann bereits zu Beginn der Szene „aus dem Busen“ (513) genomme­ ne Brief und die Haarlocke strukturieren als Dingsymbole die Szene und machen diese insgesamt zu einer Leseszene. Das vorangehende Gespräch dient nur der Vorbereitung der Leserin Thusnelda, die durch die Lektüre des Briefs zum Römerhass im Allgemeinen und zum Hass auf Ventidius im Besonderen gebracht werden soll. In dem Moment, in dem Hermann Thusneldas Bitte um Ventidiusʼ Leben nachkommt (und damit gleichsam im höchsten Moment ihrer libidinösen Bindung an die Kolonialmacht), holt er Locke und Brief hervor. Diesem materiellen Zeichen wird nun eine ganz andere Deutung zuteil als die zuvor von Thusnelda vorgebrachte, die ihr von Ventidius abgeschnittene Haarlocke stehe für seine wahre Leidenschaft für sie. Denn nun dient sie Hermann zum einen als Zeichen der Wahrhaftigkeit der Botschaft, dass es sich tatsächlich um den abgefangenen Brief des Ventidius an die Kaiserin Livia handelt, was bei der von Hermann im Stück praktizierten Manipulation der Zeichen durchaus bezweifelt werden darf. Zum anderen ist die Haarlocke nun „Probe Deiner Haare“ (516) für eine für die Kaiserin zu fertigen­ de Perücke. Locke und Brief machen Ventidius als brutalen, auch vor der körperlichen Ausbeutung der Kolonisierten nicht zurückschreckenden Kolonisator lesbar. Diese Bot­ schaft ist allerdings für Thusnelda trotz Lektüre der Schriftzeichen zunächst nicht lesbar: „Freund, ich verstehʼ kein Wort!“, sie erleidet einen Schock: „Die Sprache geht ihr aus“ (517f.). Am Ende der Szene ist Thusnelda noch nicht durch die Einflüsterungen Her­ manns oder die „Kriegsmusik draußen“ zur Partisanenkämpferin geworden, vielmehr nä­ hert sie sich ihrem Gatten an, indem sie in den ihm eigenen Nihilismus verfällt: „Verhaßt ist Alles, / Die Welt mir, Du mir, ich“ (519). In der nächsten Szene allerdings hat sie sich wieder „gefaßt“ (520) und will nun selbst zur Rachetat schreiten. Damit ist Hermanns Schlacht, seine einzige erfolgreiche Schlacht im Drama, geschlagen. In einer Klimax macht Hermann den Verweisungscharakter dieses Sieges deutlich: „Nun denn, so ist der erste Sieg erfochten! / Auf jetzt, daß ich den Varus treffe: / Roms ganze Kriegsmacht, wahrlich, scheuʼ ich nicht!“ (521) Zu den weiteren von Hermann anvisierten Schlachten kommt es dann im Stück gerade nicht, wie bereits vermerkt, sondern in V,15–19 wird die Varusschlacht durch die raum­ greifende Exekution des Ventidius ersetzt. In der Szenenfügung von V,14 und V,15 wird durch die Aufeinanderfolge der Überwindung von Hermanns Gefühlsverwirrung und sei­ nem Fanal: „Varus und die Kohorten, sagʼ ich Dir; / Das ist der Feind, dem dieser Busen

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schwillt!“ (539), sowie Thusneldas Racheplan an Ventidius die beiderseitige Handlung in der Formel „Rache der Barbaren“ (540) zusammengezogen. Thusnelda treibt die Iden­ tifikation mit ihrer Waffe der Rache, der Bärin, so weit, dass metaphorische Vertretung zu metonymischer Ersetzung werden soll. Ihre Rede: „Er hat zur Bärin mich gemacht!“ (540), schließt im unbestimmten Personalpronomen durchaus Hermann mit ein.34 In der sogenannten Bärenszene treibt der Text dann das Spiel der Identifikation und Ersetzung aus verschiedenen Perspektiven auf die Spitze. In den Augen ihrer Bedienten Gertrud wird Thusnelda in ihrer Rache an Ventidius zur „Furie, gräßlicher, als Worte sagen“, zum „Ungeheu’r“ (544). Ventidius letzte Worte bleiben durchgängig doppeldeutig und können sich sowohl auf Thusnelda als auch die Bärin beziehen: „Die zottelschwarze Bärin von Cheruska, / Steht, mit gezückten Tatzen, neben mir!“; „Weh mir! O Thusnelda!“ (543, 545). Thusnelda hingegen eignet sich konsequent in einem Vorgang der Selbstspaltung den Körper der Bärin an und redet in dieser die „Fürstin“, sich selbst in der dritten Person an: „Sagʼ ihr, daß Du sie liebst, Ventidius, / So hält sie still und schenkt die Locken Dir!“ (544f.). In diesem Zuge wird der Gewalt­ mit dem Liebesakt kurz geschlossen. Dass Her­ mann nach vollbrachter ‚Tat‘ seine Gemahlin als „Heldin“ empfängt, könnte als Indiz für die erfolgreiche Erziehung zum Römerhass gewertet werden, wären in diese Rede nicht wieder eigentümliche Ambivalenzen eingezeichnet: „HERMANN empfängt sie: Mein schönes Thuschen! Heldin, grüßʼ ich Dich! Wie groß und prächtig hast Du Wort gehalten?“ (550) Der Diminutiv ‚Thuschen‘ und ‚Heldin‘ sowie ‚groß‘ kollidieren miteinander und auch das Fragezeichen scheint hier fehl am Platze. Die an Hermann zuvor aufgezeigte De­ montage des Helden wird in der Figur Thusneldas weitergeführt. Das Sozialisierungs­ projekt Thusneldas zur „zottelschwarzen Bärin von Cheruska“ scheint nicht so eindeutig geglückt, denn es ist gleich in dreifacher Potenz eine Angleichung an den Aggressor: an Ventidius, an Hermann und die Römer. Der Bär wird in III,3 als römisches Feindbild für die Deutschen eingeführt, das Schwarze hingegen eben dort als dämonisches Zerrbild des Römischen. Und so destruiert der Text in seiner eigenen Symbolpolitik die Trennung zwischen Freund und Feind, Aggressor und Opfer, Sieger und Besiegtem, indem er durch und durch hybride Verhältnisse schafft und Gewalt­ und Liebesakt, Krieg und Sexualität überblendet. Was durch den Gewaltexzess eigentlich erreicht werden sollte, Eindeutig­ keit und klare Fronten, wird weder durch den von Hermann initiierten Keulenschlag noch durch die von Thusnelda angeleitete Tötung des Ventidius erzielt. Ein ähnlicher Befund einer in die Irre gehenden Propaganda ist im Hinblick auf die ‚deutschen Völker‘ zu konstatieren. Hermanns Manipulation von Thusnelda ist eine Paral­ lelaktion zu derjenigen des Volkes, das mit ähnlich komplexen Botschaften adressiert wird. Die Verweiskette reicht im Drama von Thusnelda zur „an einer Kette“ (540) geführten 34

Bereits zuvor, in III,3 hatte Herrmann seiner Frau das Bild „der Deutschen in der Römer Augen“ als das eines Bären, einer „Bestie“, eines zur Jagd frei gegebenen „Tieres“ gezeichnet, das „ausge­ weidet und gepelzt dann wird!“. Und er hatte sie zur widerständigen Verkörperung dieses Bildes aufgerufen: „Ja, liebste Frau, da hast Du recht! Beiß zu!“ (488f.).

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Bärin zu den „deutschen Völkern“, von denen im Anschluss an die Bärenszene berichtet wird: sie „hatten sich empört, / Und rissen heulend ihre Ketten los“ (546). Von Hermanns Gräuelpropaganda gegenüber den Germanen handeln ausführlich die Hallyszenen. Dass es kaum einen anderen dramatischen Text gibt, der Sexualität, Semiologie und Krieg in glei­ chem Maße und in gleicher Drastik engführt, zeigt sich insbesondere in der Szenenfolge V,4­6. Vor der großen Kulisse von Massenszenen, die „Volk jeden Alters und Geschlechts“ (506) zeigen, wird eine eigentümliche Form der Kriegspropaganda praktiziert, denn wie bereits im Vorangehenden im Hinblick auf Bardenlied und Schlachtenrede zu beobachten, wird auch hier nicht die direkte Mitteilung, die politische Rede als Manipulationstech­ nik genutzt, sondern es wird von der Entstehung einer komplexen atavistischen Botschaft gehandelt. Das Drama lenkt wie bei Thusneldas Haarlocke oder dem Brief an Marbod die „Aufmerksamkeit auf die Materialität der Zeichen“, so dass, wie Bernhard Greiner urteilt, der „Wahrheitsbeweis in die Materialität des Zeichens“35 verschoben wird. Aller­ dings steht diese Inszenierung der Wahrheit deutlich im Zwielicht, denn den Hallyszenen geht eine Klimax der Gräuelpropaganda voran, der jedes Mittel recht scheint, um den „Römerhaß“ in der Bevölkerung zu „entflammen“ (504). Nachrichten über Plünderungen und „Greueltat[en]“ (482) der römischen Besatzungsmacht werden von Hermann in über­ steigerter Verzerrung in Umlauf gebracht. Schließlich schreckt er nicht davor zurück, die eigenen Leute in „Römerkleidern“ „sengen[d], brennen[d], plündern[d]“ (483) durch das Land zu schicken. Die Gewalt dient an dieser Stelle instrumentell der Kommunikation: „HERMANN Ich aber rechnete, bei allen Rachegöttern, Auf Feuer, Raub, Gewalt und Mord, Und alle Greul des fessellosen Krieges! Was brauchʼ ich Latier, die mir Gutes tun? Kann ich den Römerhaß, ehʼ ich den Platz verlasse, In der Cherusker Herzen nicht Daß er durch ganz Germanien schlägt, entflammen: So scheitert meine ganze Unternehmung!“ (504) Es kommt schließlich der „Zufall“ (506) zu Hilfe, und das seltsame Spiel um die von Römern vergewaltigte und ob der Schande von ihrem Vater umgebrachte Tochter des Waffenschmiedes nimmt seinen Lauf. Hallys toter Körper wird schließlich von Hermann in 15 Teile zerteilt und diese werden als Botschaft der Rebellion an die 15 germanischen Stämme gesandt. Der Text handelt darin von Propaganda im Wortsinn, denn der zerteilte „Leib“ soll für „Rache“ „werben“ (511). Die Hallyszenen sind damit eine analytische Reflexion darüber, wie die Wahrheit zu Propagandazwecken zugerichtet werden muss. Dass es sich bei Hally um die Inszenierung eines Abstraktums – der Wahrheit – han­ delt, vermittelt das Drama in Nebentext und Handlungsführung deutlich genug. So ist von Cheruskern die Rede, welche „eine Person aufführen“ (560), und das Vokabular der Inszenierung wird weitergeführt, indem dieses von Geschlechtsmerkmalen befreite „We­ sen“ zusätzlich noch gänzlich verdeckt wird: 35

Greiner: Dramen (Anm. 32). S. 110, 112.

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„EINIGE STIMMEN Wer ist’s? Ein Mann? Ein Weib? DER CHERUSKER der die Person führt: Fragt nicht, Ihr Leute, / Werft einen Schleier über die Person!“ (507) Und das weitere Geschehen, die Tötung durch den Vater und die Zerteilung durch Her­ mann, wird an einer ins Abstrakte versetzten, gänzlich verschleierten Person exekutiert. Verschleierung, Tötung und Zerteilung sind dabei die als Klimax angeordneten Prozesse wie eine konkrete Existenz in Symbolpolitik überführt wird, wie aus Materialität Zeichen und schließlich Botschaft wird. Die besondere Version des Kleist’schen Signifikations­ prozesses ist es allerdings, dass er einen Rückkoppelungseffekt simuliert, indem die Ma­ terialität der Botschaft für eine erneute Pragmatisierung einstehen soll. Im Topos der Verschleierung nimmt Kleist das von Schiller und Novalis traktierte Bildnis der Göttin zu Sais auf, und die Hallyespisode wird – verfolgt man die in ihr eingearbeiteten intertextuellen Verweise – als Kontrafraktur des Wahrheitsdiskurses der Aufklärung lesbar. In seiner religionsgeschichtlichen Schrift ‚Die Sendung Moses‘ (1790) hatte Schiller das spätaufklärerische Wahrheitsverständnis an einen ägyptisch­jüdischen Monotheis­ mus rückgebunden, indem unter Verweis auf eine ‚uralte Inschrift‘ zu Sais36 die Meta­ phorik von Schleier und Licht in Verbindung gebracht wird. Er spricht dort davon, dass die „Erkennung einer vorher verborgenen Wahrheit mit dem Uebertritt aus der Finsterniß zum Lichte zu vergleichen ist“.37 In dieser Metaphorik von Entschleierung, Aufdeckung und Aufklärung wird die Wahrheit als Verborgenes, Vorfindliches imaginiert. Ein sol­ ches Wahrheitsverständnis bekundet sich auch noch einmal in Schillers Ballade ‚Das Bildnis zu Sais‘ (1795), wenn es dort heißt: „Was ists, / Das hinter diesem Schleier sich verbirgt? // ‚Die Wahrheit‘, ist die Antwort.“ Und im Weiteren wird die Wahrheit dort als „einzge, ungeteilte“38 vorgestellt, womit das in ‚Die Sendung Moses‘ eingeführte monotheistische Wahrheitsverständnis auf seine monistisch­pantheistischen Umformu­ lierungen um 1800 hingeleitet wird, die prägnant in Hegels Formel „das Wahre ist das Ganze“39 kulminieren. Und schließlich koppelt die Ballade gewaltsame Wissbegierde und Tabubruch in der abschließenden Warnung des Jünglings: „Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld, / Sie wird ihm nimmermehr erfreulich seyn.“40 Kleist negiert in mehrfachen, exzessiven Gesten in der Hallyepisode alle drei Attribute des aufkläreri­ 36

37 38

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40

Vgl. Friedrich Schiller: Die Sendung Moses. In: Ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 17. Hg. von Karl­Heinz Hahn. Weimar 1970. S. 377–397, hier S. 385: „Unter einer alten Bildsäule der Isis las man die Worte: ‚Ich bin, was da ist‘, und auf einer Pyramide zu Sais fand man die uralte merkwürdige Inschrift: ‚Ich bin alles, was ist, was war und was seyn wird; kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.‘“ Schiller: Moses (Anm. 36). S. 385. Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 1. Hg. von Julius Petersen und Friedrich Beißner. Weimar 1943. S. 254f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Bd. 3: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M. 1986, S. 24. Schiller: Werke (Anm. 38). S. 256.

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schen Wahrheitsverständnisses: Wahrheit als das Vorfindliche, Wahrheit als Ungeteiltes und Wahrheit befreit aus Schuldzusammenhängen. Bereits die erste ‚Aufführung‘ der Wahrheit in Gestalt Hallys wendet sich gegen die Lichtmetaphorik: „Hinweg die Fackeln“; „Seht Ihr nicht, daß die Sonne sich verbirgt?“ (507) Die Wahrheit wird als das zu Verschleiernde, zu Verhüllende und damit nicht als aufzudeckendes Vorfindliches, sondern in kommunikativ­zeichenhaften Prozessen Her­ vorzubringendes veranschaulicht. In der abschließenden, durch die Geminatio – der fünffachen Wiederholung der Fünfzehn –41 rhetorisch aufdringlichen Form wird in der Figuration des zerteilten Leibes der geschändeten Jungfrau die Wahrheit nicht als „einz­ ge, ungeteilte“, sondern als zu Propagandazwecken zerstückelte und parteiische darge­ stellt. Diese in einen politisch­historischen Diskurs eingelassene Wahrheit kann: „Bis auf die toten Elemente werben“ und „Freiheit! brüllen“ (511). Diese Wahrheit ist in Macht­ Wissenskonstellationen eingelassen, sie ist Waffe und Inszenierung. Der Nebentext von IV,4 ist diesbezüglich genau, indem er von „aufführen“, „geführt“ und zwei Mal „führt“ (506f.) spricht. Auch die in Neben­ und Haupttext nahezu durchgehende Bezeichnung Hallys als ‚Person‘ weist auf das Theatralische, etymologisch auf die Persona, die Maske des Schauspielers. Die restlose Verwertung von Hallys Körper, sein Aufgehen in politi­ scher Botschaft, ist dabei ein Gegenstück zu den in den Thusnelda­Hermann­Gesprächen skizzierten Praktiken kolonialer Ausbeutung des lebenden weiblichen Körpers. Und was Hermann mit Thusnelda durchexerziert, ihre Erziehung zur geistigen Haltung einer Parti­ sanenkämpferin, dass vollzieht Hermann materialiter an Hallys Körper, der erst als „ohnmächtig“ (506) vorgestellt und schließlich als politische Botschaft machtvoll reanimiert wird und nun „zur Rache […] werben“, „Freiheit! brüllen“ kann (511). In Thusnelda adressiert Hermann im inneren Kommunikationssystem des Dramas seine vom philo­ sophisch­rechtlichen Diskurs der Zeit ‚empfindlich‘ angekränkelte Gattin, im äußeren Kommunikationssystem durch sie exemplarisch die einzelnen, den einzelnen Zeitgenos­ sen. Durch Hally wird das Volk angesprochen, das sich als Gemeinschaft der Rache und der Befreiung konstituieren soll. Schließlich gestaltet Kleist die Handhabung der Wahrheit in den Hallyszenen als Kon­ tradiktion zur Warnung des Jünglings in Schillers Ballade. Nur durch mehrfache Schuld geht der Weg zur Wahrheit in diesem Drama. Bereits in den ersten Außenwahrnehmun­ gen der personifizierten Wahrheit wird diese als in Schuld verstrickt dargestellt. Und zwar in der eigentümlichen Form, dass hier das Opfer zwischen geschändet und selbst schul­ dig changiert. ‚Schuldlos schuldig‘, die Attribute tragischer Helden werden hier dieser Person zugeordnet. Als „Unglücksel’ge“ wird sie angesprochen, vor der „die Sonne sich verbirgt“: „DAS VOLK O des elenden, schmachbedeckten Wesens! Der fußzertretnen, kotgewälzten, An Brust und Haupt, zertrümmerten Gestalt.“ 41

„Wir zählen funfzehn Stämme der Germaner; / In funfzehn Stücke, mit des Schwertes Schärfe, / Teilʼ ihren Leib, und schickʼ mit funfzehn Boten, / Ich will Dir funfzehn Pferde dazu geben, / Den funfzehn Stämmen ihn Germaniens zu.“ (511)

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Und so werden konsequenterweise im Stück nicht allein ihre Vergewaltiger mit dem Schwert „durchbohrt“ (506f.), sondern auch sie selbst und zwar gleich dreifach von den Dolchen ihres Vaters und ihrer Vettern. „TEUTHOLD bohrt sie nieder: Stirb! Werde Staub! Und über Deiner Gruft Schlagʼ ewige Vergessenheit zusammen! Sie fällt, mit einem kurzen Laut, übern Haufen.“ (509) Dies ist die einzige Verlautbarung der Tochter des Waffenschmieds im gesamten Stück, und nichts rechtfertigt diese väterliche Verdammung. Ansatzweise schließen kann man diese Motivationslücke durch den Hinweis auf die zentralen Handlungskonflikte der bür­ gerlichen Trauerspiele im 18. Jahrhundert, in denen der Verlust der sexuellen Unschuld der Töchter die Ehre der Väter, die väterliche Autorität insgesamt bedroht. In diese Rich­ tung weist Teutholds abschließende Replik in IV,5: „Hally! Mein Einz’ges! Habʼ ich’s recht gemacht?“ (509), die nahe legt, er habe wie Lessings Vater Galotti gehandelt und eigentlich auf Wunsch der Tochter die Erdolchung vollzogen, die sich durch den Tod vor dem Verlust der Unschuld retten will. Lessing selbst hatte diesbezüglich auf den römischen Virginia­Stoff zurückgegriffen, in dem die politische Konnotation der Toch­ tertötung noch stärker als in ‚Emilia Galotti‘ ausgearbeitet ist, und worauf Kleist hier durchaus auch anspielen dürfte. In den antiken Erzählungen von Titus Livius und Diony­ sios von Halikarnass wird die Tötung der Tochter zum Fanal eines Volksaufstandes gegen Tyrannenherrschaft. Nicht die Unschuld der Tochter, sondern deren Freiheit steht hier im Vordergrund. Wenn Kleist den toten, zerstückelten Leib der „Jungfrau“ schließlich „Freiheit! brüllen“ (511) lässt, sind die Anklänge an den römischen, im 5. Jahrhundert vor Christus lokalisierten Virginia­Stoff, deutlich hörbar.42 Allerdings bleibt es nicht beim verwandtschaftlichen Gewaltexzess gegen Hally, und dieser wird auch nicht als Signal zum Volksaufstand wirksam, sondern es bedarf zu die­ sem Zwecke der von Hermann angeleiteten Weiterverarbeitung des toten Körpers zur Botschaft an die fünfzehn germanischen Stämme. Der Vollständigkeit halber sei ange­ merkt, dass sich auch diese Form der Symbolpolitik intertextueller Bezüge verdankt. Kleist bezieht sich hier auf Biblisches, auf Richter 19,22, wo ein Levit sein geschände­ tes Kebsweib „in zwelff stück“ zerschneidet und diese als Aufruf zur Erhebung „in alle grentze Jsraels“ an die zwölf Stämme sendet.43 Ebenso wird Hally als „des Vaterlandes Sinnbild, / Zerstückt in alle Stämme […] geschickt“ (551). 42

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Virginius Worte bei der Tochtertötung lauten bei Livius: „Tochter! sieh hier! Das einzige noch moegliche Mittel, deine Freiheit zu retten“, Titus Livius: Roemische Geschichte von Erbauung der Stadt an. Nach Drakenborchscher Ausgabe aus dem Lateinischen uebersetzt und mit Anmerkun­ gen versehen von Gottfried Große. Bd. 1. Halle 1789, S. 440. Diese zeitgenössische Übersetzung verweist hier auf Lessings Aufnahme der Szene in ‚Emilia Galotti‘ und betont die historische Di­ stanz zwischen den modernen „zaertlichen Vaetern“ und den „roemischen“, in „ununterbrochenen Kriegen des Menschenmordens gewohnteren“ Vätern, ebd. S. 441. Zu Lessings Bearbeitung des Virginia­Stoffes vgl. Monika Fick: Lessing­Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 3. Aufl. Stuttgart/ Weimar 2010. S. 378–380. Vgl. 1134 und ausführlicher Greiner: Dramen (Anm. 32). S. 115.

Zur sprachlichen Ausweitung des Krieges

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Damit zeigt sich an den Hallyszenen erneut, dass Kleists Text in seinen Untertönen ein klares Freund­Feind­Schema unterläuft, indem die streitenden Parteien einander durch motivisch­intertextuelle Bezüge und Strukturanalogien angenähert werden. Durch Teuthold den Waffenschmied und Hermann den Cheruskerfürst werden römisch­jüdische Strategien des Aufrufs zur Volkserhebung zitiert. Allenthalben finden sich also hybride Verhältnisse. Als Camouflage und Mimikry an die Kolonialmacht Rom ließe sich diese Kriegstaktik fassen. Und an diesen Szenen wird auch noch einmal ähnlich dem Barden­ gesang und dem Ausfall der Schlachtenrede deutlich, dass das Drama entgegen seiner Textform gleichsam auf eine epische, durch ‚Schriftzeichen‘ vermittelte Wirkung setzt. Wieder wird bei dieser Volksszene nicht auf die unmittelbare Wirkung direkter Rede vertraut – analog zum Virginia­Stoff hätte auch hier die politische Rede als Auslöser eines Aufstands inszeniert werden können –, sondern auf die mittelbare Wirkung einer „in Stücken“ (511) zerlegten Wahrheit, die nicht auf eine geteilte Gegenwart angewiesen ist und raumübergreifend wirksam werden kann. Ähnlich dem Brief an Marbod oder dem an Thusnelda umgeleiteten Ventidius­Brief handelt es sich um eine komplex stru­ kurierte Botschaft. Waren diese aus Schriftstück und Körperzeichen zusammengesetzt: Brief, Dolch und Hermanns Söhne in einem Fall, im anderen Fall Brief und Haarlocke Thusneldas, so ist Hermanns Botschaft an die germanischen Stämme nun auf das Kör­ perzeichen reduziert und damit fast um ihre Lesbarkeit gebracht. Denn verstehen kann dieses zerlegte Körperstück nur, wer die Geschichte seiner Genese kennt und das Teil metaphorisch zu „des Vaterlandes Sinnbild“ (551) ergänzt. Materialität des Zeichens und Gewalt können auch im Hinblick auf diese Botschaft nicht für Wahrhaftigkeit und Ein­ deutigkeit bürgen, sondern mit dem zur Propaganda umfunktionierten toten Frauenkörper liegt ein besonders vieldeutiges und darum ins Unleserliche ausfransendes Faktum vor. Die Verarbeitung Hallys ließe sich in den Schritten der Abstraktion von und Ersetzung des Konkreten, der Tötung und Zerteilung des Konkreten als Reflexion über den Gewalt­ charakter semiotischer Prozesse lesen. Die Hallyszenen lassen sich im Weiteren als In­ szenierung eines parteiischen Wahrheitsverständnisses deuten, wie oben geschehen, das sich dezidiert gegen den Wahrheitsdiskurs der Aufklärung positioniert und Wahrheit als kommunikativ­machtpolitischen Konstruktionsakt ausweist und diese dann im ‚Sinnbild des Vaterlands‘ national konkretisiert. Und schließlich profiliert Kleist seine Vorstellun­ gen von einem politischen Schriftsteller gerade über die Hallyepisode, denn der Zurück­ haltung in direkter Rede übende, auf Schriftlichkeit setzende und eine „in Stücken“ (511) zerlegte Wahrheit propagierende Hermann kann seinerseits als Sinnbild für einen solchen angesehen werden. Erfolg wird seiner politischen Botschaft im Drama zugesprochen, wenn es im vorletzten Auftritt heißt: „Hally, die Jungfrau, die geschändete, Die Du, des Vaterlandes Sinnbild, Zerstückt in alle Stämme hast geschickt, Hat unsrer Völker Langmut aufgezehrt. In Waffen siehst Du ganz Germanien lodern.“ (551)

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Allein als wirklich zielgerichtet wird die allgemeine Bewaffnung im dramatischen Text nicht gezeigt. So wie Hermann zur Hermansschlacht zu spät kommt, drohen die von der Hallybotschaft empörten „deutschen Völker“ in der Schlacht dem Varus zu „erlie­ gen“ (546). Erst das Erscheinen von Marbods Heer kann dies Schicksal wenden. Und der durch die politische Botschaft ins Volk getragene, verallgemeinerte Krieg, die „Greul des fessellosen Krieges“ (504) münden in den bereits konturierten, sich in umfassenden Bildern der Zerstörung ausdrückenden modernen Nihilismus. Die in der Forschung weitgehend einhellig vertretene These, es handle sich um ein für den Augenblick berechnetes Tendenzstück, sollte sich durch diese Befunde der Hel­ dendemontage, des Verzichts auf Propagandatechniken, die auf Überredung zielen wie Schlachtgesang und ­rede, der Ausstellung des Gewaltcharakters von Bedeutungsstiftung und einer nihilistischen Grundstimmung der dramatischen Handlung zumindest irritie­ ren lassen. Denn im Gegensatz zu anderen Kleist­Texten der Zeit wie etwa ‚Kriegslied der Deutschen‘ oder ‚Was gilt es in diesem Kriege?‘ und ‚Katechismus der Deutschen‘ handelt es sich bei der ‚Hermannsschlacht‘ nicht um einfache Propagandaliteratur, son­ dern um eine, die sich, wie Bernhard Greiner schreibt, „schonungslos“ auf ihre „Prämis­ sen hin befragt“. Sie macht auf die „grundlegende Paradoxie von ‚Gebrauchsliteratur‘ aufmerksam“,44 die auf Eindeutigkeit der Zeichen setzen muss, ohne diese sichern zu können. Die Gewaltexzesse des Textes stellen dieses Begehren und zugleich sein Schei­ tern aus. Jene Momente, wo die Gewalttat die diskursive Auseinandersetzung beenden soll oder die Materialität des Zeichens seine Vieldeutigkeit limitieren soll, sind zugleich jene Momente im Drama – wie exemplarisch an der Hallyepisode gezeigt –, die das sprachliche Geschehen durch intertextuelle Bezüge in kulturhistorische Tiefe öffnen.

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Greiner: Dramen (Anm. 32). S. 119.

Die Autoren

Prof. Dr. Wolfgang Kuhoff, Alte Geschichte, Universität Augsburg Prof. Dr. Eva Matthes, Lehrstuhl für Pädagogik, Universität Augsburg Prof. Dr. Mathias Mayer, Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Univer­ sität Augsburg Prof. Dr. Bernd Oberdorfer, Lehrstuhl für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Sys­ tematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen, Universität Augsburg Prof. Dr. Lothar Schilling, Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Augsburg Prof. Dr. Marion Schmaus, Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Phi­ lipps­Universität Marburg Prof. Dr. Silvia Serena Tschopp, Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg Prof. Dr. Gregor Weber, Lehrstuhl für Alte Geschichte, Universität Augsburg Prof. Dr. Wolfgang E. J. Weber, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg